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German Pages 244 Year 2017
Serina Heinen »Odin rules«
Religion und Medien | Band 3
Editorial Die Gegenwart der Religionen wird heute in starkem Maße durch die Formen ihrer medialen Repräsentationen geprägt. Aber auch Religionsgeschichte war immer schon Mediengeschichte. Medien sind zentral für die Vermittlung religiöser Ideen und ritueller Praktiken. Zudem sind Religionen in modernen Gesellschaften auch Gegenstand der dokumentarischen Berichterstattung und der Unterhaltung. Die Reihe Religion und Medien soll ein Forum für die kulturwissenschaftliche Erforschung der religionsspezifischen Nutzung von Medien und für die medienspezifische Analyse der Darstellung religiöser Sujets bieten. Ebenso sind theoretische und methodologische Abhandlungen willkommen, die zum Verständnis rezenter und historischer Medienphänomene im Feld der Religionen beitragen und die Vielschichtigkeit des Medienbegriffes diskutieren. Der offene Begriff der »Medien« bezieht sich in diesem Zusammenhang sowohl auf die klassischen Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften), auf die populäre Publizistik, Belletristik und Literatur, auf technische Bildmedien (Fotografie), auf Kommunikationsmedien wie dem Telefon und seinen Weiterentwicklungen, als auch auf neue Medien wie Radio, Film, Fernsehen und schließlich Internet und computergestützte Medienanwendungen. Die außerordentliche Dynamik des Feldes – man denke an die bereits einsetzende Konvergenz traditioneller Textmedien und audiovisueller Medien im Internet – spricht im Sinne einer »Archäologie der medialen Kommunikation« für die Berücksichtigung einer medienhistorischen Perspektive. Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Krüger in Verbindung mit Gregor Ahn, Peter Bräunlein, Christiane Brosius, Anne Koch, Jürgen Mohn, Hubert Mohr, Michael Schetsche, Joachim Trebbe und Isabel Laack.
Serina Heinen (M.A.), geb. 1987, promoviert am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Universität Freiburg, Schweiz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Verhältnis von Religion und Heavy Metal sowie die chinesische Religionspolitik.
Serina Heinen
»Odin rules« Religion, Medien und Musik im Pagan Metal
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1
Danksagung | 9
E INLEITUNG | 11
2 R ELIGION IN DER MODERNEN G ESELLSCHAFT | 15
2.1 2.2 2.3 2.4
Die unsichtbare Religion | 16 Die öffentliche Religion | 21 Die populäre Religion | 24 Synthese | 31
3 R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 33
3.1 3.2
Religion und Populärmusik | 40 Metal – eine Religion? | 47
4 »L ONG L IVE T HE L OUD « – H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 53
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Metal Studies | 53 Anfänge des Heavy Metal | 55 Charakteristika des klassischen Heavy Metal | 57 Ausdifferenzierung des Metal-Code | 64 Pagan, Viking und Folk Metal | 68
5 M ETHODISCHES V ORGEHEN | 75 5.1 5.2 5.3
Beobachtung | 75 Liedtextanalyse | 77 Coveranalyse | 78
5.4 5.5
Befragung | 79 Die erfundene Tradition | 80
6 D IE UNTERSUCHTEN B ANDS | 85 7 D IE F ESTIVALS | 99 7.1 7.2 7.3 7.4
7.5 7.6
Ablauf | 101 Am Anfang war der Ton – Die akustische Ebene | 101 Das Auge hört mit – Die visuelle Ebene | 103 »Ich will eure Haare sehen« – Aktion und Interaktion | 106 Das Publikum | 109 Zusammenfassung | 110
8 D IE L IEDTEXTE | 113
8.1 8.2 8.3 8.4
Inhalt der Liedtexte | 113 Kelten- und Germanenbild in den Liedtexten | 134 Produktionshintergrund | 136 Zusammenfassung | 138
9 D IE F RONTCOVER | 141
9.1 9.2 9.3
Inhalt der Frontcover | 142 Produktionshintergrund | 157 Zusammenfassung | 159
10 D IE P OSITIONEN UND K ONZEPTIONEN DER M USIKER IN B EZUG AUF RELIGIÖSE T RADITIONEN | 165
10.1 Terminologieklärung »Heidentum« und »Paganismus« | 165 10.2 Persönliche Einstellung zum Heidentum | 169 10.3 Persönliche Einstellung zum Neuheidentum | 177 10.4 Persönliche Einstellung zum Christentum | 180 10.5 Persönliche Einstellung zu Religion | 187 10.6 Zusammenfassung | 189
11 D AS RELIGIÖSE S ELBSTVERSTÄNDNIS DER M USIKER | 191 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Die Nichtreligiösen | 191 Die Heiden | 193 Die Romantiker | 195 Sonderfälle | 197 »Metalhead« als religiöses Selbstkonzept? | 199 Zusammenfassung | 200
12 S CHLUSSWORT | 203 12.1 Die Konstruktion der Kelten und Germanen im Pagan Metal | 203 12.2 Rezeption von Religion im Pagan Metal | 205 12.3 Pagan Metal und moderne Religion | 209 Quellenverzeichnis | 213 1 Literatur | 213 2 Abbildungsverzeichnis | 231 3 Liedtextverzeichnis | 232 4 Frontcoververzeichnis | 235 5 Befragtenverzeichnis | 240
!
Danksagung
Die vorliegende Monographie basiert auf meiner Masterarbeit, die ich im Jahr 2013 unter der Leitung von Prof. Oliver Krüger an der Universität Fribourg verteidigt habe. Seiner Ermutigung und Unterstützung ist die Publikation dieser theoretisch angereicherten und empirisch erweiterten Version zu verdanken. An dieser Stelle möchte ich mich zudem für seine Förderung während meines gesamten religionswissenschaftlichen Studiums herzlich bedanken. Weiterer Dank gilt Prof. Peter J. Bräunlein und Dr. Isabel Laack für ihre wertvollen theoretischen Hinweise und inhaltlichen Verbesserungen. Verbleibende Denkfehler und Inkonsistenzen sind mir alleine zuzuschreiben. An der Universität Fribourg unterstützten mich Kolleginnen und Kollegen mit konstruktiver Kritik, hilfreichen Kommentaren, Korrekturen des Manuskripts und ermutigenden Worten. Herzlichen Dank hierfür an: Judith Bodendörfer M.A., Géraldine Casutt M.A., Diletta Guidi M.A., Prof. Richard Friedli, Prof. François Gauthier, Maria Hämmerli M.A., Carla Hagen M.A., Brigitte Hirschi Lizzola M.A., Sylvia Hobbs M.A., Fabian Huber M.A., Dr. Magali Jenny, Dr. Ansgar Jödicke, Philipp Karschuck M.A., Prof. Karsten Lehmann, Rebecca Loder-Neuhold M.A., Gabriella LoserFriedli, Julia Marzoner M.A., Dr. Andrea Rota, Dr. Ricarda Stegmann, Maren Sziede M.A., Philipp Valentini M.A., Daniela Vaucher-Hayoz und Prof. Helmut Zander. Für die großzügigen Buchdruckkostenzuschüsse bin ich der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg und der Schweizerischen Gesellschaft für Religionswissenschaft (SGR) zu Dank verpflichtet. Danken
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möchte ich ferner dem Transcript Verlag, vor allem Frau Jennifer Niediek und Frau Anke Poppen, für die angenehme Zusammenarbeit. Besonderer Dank gebührt den Bands, Band-Managern, Festival-Organisatoren und Coverartisten, ohne deren Hilfsbereitschaft diese empirische Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Deshalb Horns up to: Andras, Eluveitie, Fimbulvet, Finntroll, Heidevolk, Korpiklaani, Kromlek, Negură Bunget, Powerwolf, Primordial, Slartibartfass, Sólstafir, Trollfest, Turisas und Voluspaa. Im Einzelnen möchte ich folgenden Personen meinen Dank aussprechen: Jarkko Aaltonen (Korpiklaani), Alan Averill (Primordial), Mark »Splintervuyscht« Bockting (Heidevolk), Joris »Boghtdrincker« (Heidevolk), Thomas Caser (Napalm Records), David Caracandas (Firebird Industries), Dario Dumancic (Century Media Records), »Mr.Seidel« John Espen (Trollfest), Florian Fink (Finkster Music), »Ghwerig« (Andras), »Chrigel« Christian Glanzmann (Eluveitie), »Matthew Greywolf« (Powerwolf), Kristof Hartmann (Rock the Nation), Kim Holm (Coverartist), »SgrA« Julian (Kromlek), »Vreth« Mathias Lillmåns (Finntroll), Oliver Macchi (ILT Music), »Negru« Gabriel Mafa (Negură Bunget), Rowan »Roodbaert« Middelwijk (Heidevolk), Mathias Nygård (Turisas), Guðmundur Óli Pálmason (Sólstafir), Samuli Ponsimaa (Finntroll), »Falk Maria Schlegel« (Powerwolf), Freddy Skogstad (Voluspaa), Thomas Söllner (Fimbul Festival), »PsychoTroll« Martin Storm-Olsen (Trollfest), Nasrin Vahdani (Century Media Records), »Mr. alphavarg« Christian Wolf (Kromlek) und Jan Yrlund (Coverartist). Es gab drei Musiker, die anonym bleiben wollten. Auch ihren Beitrag an diesem Buch weiß ich sehr zu schätzen. Meine Arbeiten Korrektur zu lesen, hat bei meinen Freundinnen Christina und Katja bereits lange Tradition, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Außerdem möchte ich mich bei meinem Bruder Samuel für seinen kreativen Einsatz bedanken. Er designte das Motiv auf dem Buchumschlag. Passend zum Pagan Metal vereinte er dabei »keltisch« anmutende Spiralenmuster, den Thorshammer und das Symbol des Heavy Metal: die E-Gitarre. Ein Dankeschön auch an meinen Partner Yangxin: . . » « . Zum Schluss möchte ich mich von Herzen bei meiner Mutter bedanken, der ich dieses Buch widme. Danke für deine stete Unterstützung, deine aufbauenden Worte und deinen unbeirrbaren Glauben an mich.
1 Einleitung
»SEID IHR HEIDEN?« – mit dieser Frage begrüßte Chrigel, Frontmann der Schweizer Metal-Band Eluveitie, sein Publikum am berühmten Pagan Metal-Festival, dem Ragnarök Festival, woraufhin die Fans enthusiastisch ihre Fäuste in die Luft stießen und mit einem tosenden »JA!« antworteten.1 Ohne diese Aktion unreflektiert als kollektives, neopaganes Glaubensbekenntnis interpretieren zu wollen, werde ich mich in der vorliegenden Studie unter anderem mit dem religiösen Selbstkonzept von Metallern auseinandersetzen. Berücksichtigung findet jedoch nicht die Konsumentenseite, d.h. die Metal-Fans, sondern die Produzenten und Performer der MetalMusik: Pagan, Viking und Folk Metal-Bandmitglieder. Pagan, Viking und Folk Metal2 zeichnen sich durch ihre Bezugnahme auf vorchristliche Kulturen wie beispielsweise keltische, germanische und slawische Volksgruppen aus. Das Rekurrieren auf deren religiöse Traditionen geschieht mithilfe verschiedener Medien. Unter Medien verstehe ich Mittel zur Übertragung und Speicherung von bildlichen, textlichen, akustischen sowie audiovisuellen Nachrichten.3 Konkret konzentriere ich mich auf folgende zentrale Medien des Pagan Metal: die Musik, das visuelle
1
Vgl. Eluveitie 2008a, 5’07”-05’11”.
2
Aus Gründen der Leserfreundlichkeit wird nachfolgend »Pagan Metal« als Oberbegriff für alle drei Subgenres (Pagan, Viking und Folk Metal) verwendet, wenn es um die Subgenres und Bands im Allgemeinen und die Musiker im Kollektiv geht. Im engeren Sinne wird der Begriff nur zur Genrebezeichnung einer bestimmten Band genutzt.
3
Vgl. Krüger 2012, 14-21, 41f.
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Auftreten der Metal-Bands während Konzerten, die Liedtexte und Frontcover. Der empirische Teil dieses Buches umfasst als Erstes die Analyse des Metal-Konzerts (Kap. 7) als bedeutender Bestandteil der Metal-Kultur. Die Ausführungen basieren auf Beobachtungen, die an vier Metal-Festivals durchgeführt wurden. Berücksichtigt werden die visuelle, akustische sowie performative Dimension von Pagan Metal, wobei die medial vermittelten, religionsbezogenen Elemente und die Repräsentation der Kelten und Germanen fokussiert werden. In Bezug auf die liedtextliche Dimension (Kap. 8) wird als Zweites untersucht, welche Themen von Pagan Metal-Bands besungen werden, wobei insbesondere die Rezeption germanischer und keltischer Mythologie sowie die Darstellung der entsprechenden Volksgruppen von Interesse sind. Als Drittes werden Frontcover (Kap. 9) als wichtiges Medium der visuell-ästhetischen Inszenierung der Bands durchleuchtet. Dabei werden die verwendeten Bildmotive, die eingesetzte Typografie und deren Bezugnahme auf vorchristliche Ethnien herausgearbeitet. Diese drei Bereiche werden durch einen vierten (Kap. 10 & 11) ergänzt, der auf Befragungen von Bandmitgliedern beruht. Hierbei stehen folgende Fragen im Zentrum: Wie stehen die Metal-Musiker zu den Religionsbezügen, die sie mit den genannten Medien schaffen? Wie konzipieren sie persönlich beispielsweise Heidentum? Wieso beschäftigen sie sich mit vorchristlichen Volksgruppen, ihrer Geschichte und Mythologie? Indem die Resultate der vier Themenblöcke zusammengeführt werden, soll im Schlusswort (Kap. 12.1 & 12.2) in einem ersten Unterkapitel herausgefunden werden, welches Bild der Kelten und Germanen im Pagan Metal vermittelt wird und in einem zweiten, ob möglicherweise eine Beziehung zwischen der Rezeption vorchristlicher Mythologie und dem religiösen Selbstverständnis der Musiker besteht, d.h. ob es sich allenfalls um eine religiöse Rezeption handelt. Dem empirischen Teil wird ein theoretischer Teil vorangestellt, der sich Schritt für Schritt dem Forschungsgegenstand Pagan Metal nähert. In Kapitel 2 wird die Untersuchung des Pagan Metal an den religionssoziologischen Fachdiskurs um die Entwicklung von Religion in der Moderne angeknüpft. Dabei werden drei für diese Debatte wichtige Theorien herangezogen: Thomas Luckmanns »unsichtbare Religion«, José Casanovas »öffentliche Religionen« und Hubert Knoblauchs »populäre Religion«. Vor diesem theoretischen Hintergrund soll die Beziehung zwischen Pagan Metal
E INLEITUNG | 13
und Religion im Schlusswort (Kap. 12.3) in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt werden. Kapitel 3 zeigt unterschiedliche Arten, wie das Verhältnis zwischen Religion und Populärkultur, Religion und Populärmusik sowie Religion und Metal von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmt wurde. Mit Bezug auf den Forschungsstand wird die eigene, teilweise alternative Sicht- und Vorgehensweise erläutert. Kapitel 4 führt in den Heavy Metal ein. Zuerst wird kurz die wissenschaftliche Erforschung des Heavy Metal angesprochen, im Anschluss daran wird näher auf die geschichtliche Entwicklung des Genres sowie auf zentrale akustische, textliche, visuelle und körperliche Charakteristika eingegangen. Im darauffolgenden Kapitel 5 wird das methodische Vorgehen in den vier Quellenbereichen (Konzerte, Liedtexte, Frontcover, Bandmitglieder) präsentiert und anschließend in Kapitel 6 die untersuchten Bands vorgestellt. Verweise auf Beobachtungsprotokolle werden in diesem Buch mit B1, B2, B3 oder B4 angezeigt. Liedtexte werden mit einem »L«, Cover mit einem »C« gekennzeichnet. Zusätzlich wird jedem Liedtext und jedem Cover eine Zahl zugewiesen, die der Position im Liedtext- bzw. Coververzeichnis entspricht. Wird aus einem ausgefüllten Fragebogen, einem transkribierten Interview oder einer E-Mail-Korrespondenz zitiert, so wird dies mit »Befragter«, Pseudonym oder Vornamen des Befragten und Jahr der Befragung angegeben. Genauere Angaben zu den Befragten sind im Befragtenverzeichnis zu finden. Drei Personen wurden auf ihren Wunsch hin mit »Befragter X/Y/Z« anonymisiert.
2 Religion in der modernen Gesellschaft Religionssoziologische Vorüberlegungen
In der modernen Gesellschaft begegnet uns Religion nicht mehr nur in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempeln, sondern ist immer häufiger auch in scheinbar profanen Kontexten anzutreffen, wie z.B. im Radio, in Filmen, in der Werbung, in Videospielen und in der Populärmusik. Erwartungsgemäß haben sich ihre Erscheinungsformen vervielfältigt. Neben ihrer klassisch-traditionellen Form präsentiert sich Religion dem Medium und Kontext entsprechend und wird dabei eventuell nicht einmal als Religion wahrgenommen. In diesem Buch will ich klären, in welcher Gestalt Religion im Pagan Metal auftritt und welche Schlüsse wir daraus für die Entwicklung von Religion in der heutigen Zeit ziehen können. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, sich mit den drei prägenden religionssoziologischen Theorien auseinanderzusetzen, die der Religion im Zuge der Modernisierung einen Wandel in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung attestieren: Thomas Luckmanns »unsichtbare Religion«, José Casanovas »öffentliche Religionen« und Hubert Knoblauchs »populäre Religion«. Vor dem Hintergrund der empirisch gewonnenen Erkenntnisse zum Pagan Metal sollen diese Theorien weitergedacht werden. Die Religionssoziologie interessiert sich seit einigen Jahrzehnten für die Frage, wie sich Religion in der Moderne entwickelt und welche Sozialformen sie annimmt. Waren Religionssoziologen in den 1960er Jahren noch vom Verschwinden von Religion überzeugt, haben sich in den Folgejahren alternative Erklärungsmodelle etabliert, die unter anderem eine Transfor-
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mation1, ein Fortbestehen oder auch eine Wiederkehr von Religion2 in der modernen Welt postulieren. Pickel nennt drei Ansätze, die seiner Ansicht nach im Zentrum der aktuellen religionssoziologischen Debatte um religiöse Entwicklungsprozesse stehen. Erstens führt er die Säkularisierungsthese an, die auf der Prämisse basiert, dass zwischen Modernisierung und Religion ein Spannungsverhältnis existiert. Laut Vertretern der Säkularisierungsthese folgt daraus der soziale Bedeutungsverlust von Religion sowie eine Abnahme der religiösen Vitalität in sich modernisierenden Gesellschaften.3 Gegen diese Annahme sprechen sich einerseits Vertreter der Individualisierungsthese aus, die zwar einen Rückgang der kirchengebundenen Religion feststellen, jedoch von einem Weiterbestehen der Religion in individualisierter, privatisierter Form ausgehen.4 Andererseits wird das Marktmodell der Religion ins Feld der religionssoziologischen Diskussion geführt. Gemäß diesem Ansatz fördern ein breites Angebot und der damit verbundene Wettbewerb das religiöse Leben, religiöse Monopole wirken dagegen hemmend.5 Dies steht im Gegensatz zur Säkularisierungsthese, laut der Pluralität und der damit einhergehende Verlust des Alleingeltungsanspruches zu einer Abnahme der Vitalität von Religion führt. Neben diesen drei dominierenden Ansätzen, gibt es weitere theoretische Auseinandersetzungen mit dem Schicksal der Religion in der Moderne, die laut Pickel jedoch nicht denselben Erklärungsgehalt erreicht haben und oftmals spezifische Aspekte von Religion behandeln.6
2.1 D IE UNSICHTBARE R ELIGION Thomas Luckmann (1927-2016) gilt als Vorreiter der Individualisierungstheorie in der Religionssoziologie.7 In seinem Buch The invisible religion (1967) kritisiert er das Vorgehen der damals von der Säkularisierungsthese
1
Vgl. z.B. Luckmann 1991.
2
Vgl. z.B. Riesebrodt 2001.
3
Vgl. z.B. Bruce 2002.
4
Vgl. z.B. Luckmann 1991.
5
Vgl. z.B. Stark/Finke 2000.
6
Vgl. Pickel 2011, 135f.
7
Vgl. Pickel 2011, 182.
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| 17
dominierten Religionssoziologie. Er beanstandet die Gleichsetzung von Kirche und Religion, eine nicht explizit gemachte Annahme, die anstelle einer systematischen Theorie die Grundlage für die empirische Forschung bildet. So führt diese Auffassung dazu, dass der Fokus der religionssoziologischen Forschung auf die Untersuchung von Pfarreien und Kirchgemeinden gelegt wird. Die dort konstatierte Abnahme der Kirchlichkeit wird als Zeugnis einer sich im Prozess der Säkularisierung befindenden Gesellschaft gedeutet. Luckmann differenziert hingegen institutionalisierte Religion und individuelle Formen der Religiosität und erachtet es somit als unzulässig, vom Relevanzverlust der traditionellen Kirchenreligion auf die gesellschaftliche Stellung der Religion insgesamt zu schließen.8 Neben der Fehleinschätzung des Zustands von Religion in der modernen Gesellschaft führt die innerhalb der Religionssoziologie vorherrschende Konzeption von Religion zur Vernachlässigung der zentralen Frage nach alternativen Sozialformen von Religion: Nimmt die Religionssoziologie unkritisch erst einmal wie selbstverständlich an, dass Kirche und Religion dasselbe seien, so beraubt sie sich selbst ihres wichtigsten Problems. Sie hat die Frage im voraus entschieden, ob in der modernen Gesellschaft andere sozial objektivierte Sinnstrukturen als die der traditionellen institutionalisierten religiösen Dogmen die Funktion der Integration alltäglicher Routinen und der Legitimation ihrer Krisen erfüllen.9
Luckmann beantwortet diese Frage positiv. So vertritt er die Ansicht, dass die gesellschaftlich immer stärker marginalisierte kirchengebundene Religion durch eine moderne, privatisierte Religion ersetzt wird und nimmt damit eine Gegenposition zur Säkularisierungsthese ein. Das in der Religionssoziologie verwendete substantielle, christlichabendländische Religionsverständnis ist laut Luckmann aus den oben genannten Gründen irreführend. Anstatt einer essentialistischen Definition, die zudem ideologisch befangen und ethnozentrisch ist, plädiert Luckmann für einen funktionalen Religionsbegriff. Er definiert Religion durch ihre universale soziale Funktion, »Mitglieder einer natürlichen Gattung in Handelnde innerhalb einer geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Ord-
8
Vgl. Luckmann 1991, 55-58.
9
Luckmann 1991, 61.
18 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
nung zu verwandeln«10. Indem sich der menschliche Organismus in Interaktion mit anderen von der eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Erfahrung löst und sich aus dem Blickwinkel seiner Mitmenschen wahrzunehmen beginnt, bildet er sein individuelles Selbst heraus. Dieses Transzendieren der biologischen Natur erachtet Luckmann als universales menschliches Phänomen und grundlegenden religiösen Prozess.11 Konsequenterweise konzipiert er Religion als eine anthropologische Konstante, die ungeachtet der strukturellen Veränderungen, die zur modernen Gesellschaft führen, nicht verschwinden kann, jedoch in neuer, privatisierter Sozialgestalt auftritt.12 Luckmann geht den Ursachen und dem Ablauf des Prozesses der Privatisierung nach, indem er zuerst unterschiedliche gesellschaftliche Formen von Religion und deren Entstehung erläutert. Als unspezifische Grundform von Religion bezeichnet er die »Weltansicht«, ein in allen Gesellschaften vorzufindendes, übergreifendes Sinnsystem, das Teil der sozial objektivierten Wirklichkeit ist.13 Sie liefert den historischen Rahmen für die Individuation und erfüllt somit eine wesentliche religiöse Funktion.14 Neben dieser unspezifischen Form können sich weitere deutlich fassbare religiöse Formen entwickeln. In »einfachen« Gesellschaften mit geringem Grad an institutioneller Differenzierung stellt der »Heilige Kosmos« die vorherrschende historische Sozialform der Religion dar. Es handelt sich dabei um eine Sinnschicht innerhalb der Weltansicht, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt und auf eine außeralltägliche Wirklichkeit verweist.15 Eine institutionalisierte Form von Religion kann entstehen, sobald sich ein Heiliger Kosmos aus der Weltansicht herauszuschälen beginnt, womit die Spezialisierung religiöser Institutionen einsetzt. Dies ist nur in »komplexeren« Gesellschaften möglich, die neben der Herauskristallisierung des Heiligen Kosmos, einen ausreichenden Grad an Technologisierung und eine genügend entwickelte Arbeitsteilung aufweisen. Wenn es die Produktionsverhältnisse erlauben, kann sich ein religiöses Expertentum bilden, das
10
Luckmann 1991, 165; vgl. Luckmann 1991, 77f.
11
Vgl. Luckmann 1991, 81-86.
12
Vgl. Luckmann 1991, 164.
13
Vgl. Luckmann 1991, 90.
14
Vgl. Luckmann 1991, 92f.
15
Vgl. Luckmann 1991, 98-100.
R ELIGION IN DER MODERNEN G ESELLSCHAFT
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sich, befreit von der Produktion, vollumfassend auf den Heiligen Kosmos spezialisiert. Die Differenzierung sozialer Rollen bestärkt wiederum die allmähliche Aufgliederung der Welt in unterschiedliche Sphären, in die der Alltagswelt und die des Heiligen Kosmos.16 Die schärfste Trennung des Heiligen Kosmos und der profanen Welt und die völlige institutionelle Spezialisierung der Religion sieht Luckmann (lediglich) in der abendländisch christlich-jüdischen Tradition realisiert.17 Im Rahmen der Sozialisation internalisiert der Mensch religiöse Repräsentationen des Heiligen Kosmos als »subjektives System ›letzter‹ Bedeutungen« und entwickelt auf diese Weise eine individuelle Religiosität, die stark vom »offiziellem« Modell der Religion geprägt ist.18 Das Ausmaß der Übereinstimmung von »offiziellem« Modell und dem verinnerlichten System nimmt mit der Zunahme der Komplexität der Sozialstrukturen ab.19 In Gesellschaften, die sich durch institutionell spezialisierte Religionen auszeichnen, kann es zu einem Missverhältnis zwischen dem »offiziellen« Modell und dem individuellen System kommen, was schlussendlich zur Säkularisierung des ersteren und zur Privatisierung des letzteren führt. 20 Die institutionalisierte Sozialform der Religion trägt somit die »Saat der Säkularisierung« bereits in sich.21 Als Gründe für diese Entwicklung führt Luckmann unter anderem die Distanz zwischen den Spezialisten des Heiligen Kosmos und den Laien an. Die religiösen Experten beschäftigen sich in einer differenzierten Sozialstruktur nun hauptberuflich mit dem Heiligen Kosmos und verlieren dadurch sukzessive den Bezug zur Alltagswelt der Laien. Der von ihnen vermittelte Heilige Kosmos weist aufgrund seiner theoretischen Natur nur noch wenige Berührungspunkte mit dem Leben der Laien auf.22 Zudem bringt die Modernisierung der Gesellschaft eine Umgestaltung der sozialen Bedingungen und neue Prioritäten mit sich, die auch einen Wandel in den subjektiven Systemen »letzter« Bedeutung bewirkt. Falls die institutionali-
16
Vgl. Luckmann 1991, 100-103.
17
Vgl. Luckmann 1991, 106f.
18
Vgl. Luckmann 1991, 112.
19
Vgl. Luckmann 1991, 119f.
20
Vgl. Luckmann 1991, 127.
21
Vgl. Luckmann 1991, 135.
22
Vgl. Luckmann 1991, 115f.
20 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
sierte Religion nicht schnell genug auf die Veränderungen reagiert und sich anpasst, wird die weltanschauliche Kluft zwischen religiöser Institution und den Individuen größer.23 Schließlich verliert das »offizielle« Modell seine Verbindlichkeit und die Institutionen ihren Einfluss auf die Konstruktion der individuellen Systeme »letzter« Bedeutung. Der Heilige Kosmos wird nicht mehr durch spezialisierte religiöse Institutionen vermittelt, sondern von den Individuen autonom im privaten Bereich konstruiert.24 Die strukturelle Basis dieser privatisierten Sozialform von Religion bilden nicht mehr spezialisierte Institutionen, sondern die Familie, Freunde und Cliquen.25 Nicht nur der Ort der Religion hat sich geändert, auch ihre Funktionen werden zunehmend von nicht-religiösen Strukturen übernommen.26 So stellen nicht-kirchliche, »›sekundäre‹ Institutionen« wie beispielsweise Ratgeberbücher, populärpsychologische Literatur und Pop-Musik Elemente »letzter« Bedeutung zur Verfügung.27 Außerdem verlagern sich die Inhalte im modernen Heiligen Kosmos von der außeralltäglichen Wirklichkeit hin zu Themen, die das individuelle Leben betreffen, wie z.B. Selbstverwirklichung.28 Luckmann erklärt, dass sich die moderne Sozialform der Religion eher negativ charakterisieren lässt und weniger durch das positive Vorhandensein bestimmter Kriterien: »Sie zeichnet sich durch das Fehlen allgemein glaubwürdiger und verbindlicher gesellschaftlicher Modelle für dauerhafte, allgemein menschliche Erfahrungen der Transzendenz aus.«29 Im Titel von Luckmanns Monographie wird der modernen Sozialform der Religion das Prädikat »unsichtbar« verliehen. Einerseits verliert sie an Sichtbarkeit durch ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre und die Aufgabe ihrer institutionalisierten Struktur. Ihre Unsichtbarkeit bezieht sich andererseits auf die subjektive Natur der religiösen Themen und den direkten und individuellen Zugang zum Heiligen Kosmos.30
23
Vgl. Luckmann 1991, 123.
24
Vgl. Luckmann 1991, 127, 146.
25
Vgl. Luckmann 1991, 149.
26
Vgl. Knoblauch in Luckmann 1991, 28.
27
Vgl. Luckmann 1991, 147.
28
Vgl. Luckmann 1991, 154-157.
29
Luckmann 1991, 182.
30
Vgl. Knoblauch in Luckmann 1991, 29-32.
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Hier gilt es anzumerken, dass die Bezeichnung »unsichtbare Religion« von Luckmann an keiner weiteren Stelle des Buches verwendet wird. So stammt sie auch nicht vom Autor selbst, sondern war ein marketingstrategischer Vorschlag der Verlagsredaktion.31 Luckmann führt diesbezüglich in einem Brief aus: »Ich habe den Titel akzeptiert, obwohl ich das später wegen der häufigen, ja überwiegenden Fehlrezeption (falls man bei halben Lesern und solchen, die nur den Titel gelesen haben, von Rezeption sprechen kann) manchmal bereut habe.« 32 Entsprechend beobachtet Krüger, dass der Buchtitel dazu einlud, »alles bisher nicht Wahrgenommene in der Religionsforschung nun als ›unsichtbare Religion‹ zu identifizieren, von Fußball über Pampers bis zum I-Phone-Kult.«33 Es wird nicht beabsichtigt, diese Liste angeblicher Manifestationen der unsichtbaren Religion mit dem Phänomen »Pagan Metal« zu ergänzen. Für die religionssoziologische Theorie ist die Frage nach der Bedeutung der Religion im Pagan Metal sowie die Schlüsse, die daraus für die Gestalt und Stellung der Religion in der heutigen Gesellschaft gezogen werden können, bereichernder. Dabei bietet sich die unsichtbare Religion besonders an, da Luckmann mit diesem Konzept darlegt, dass sich Religion nicht in seiner kirchlich-institutionalisierten Form erschöpft. So rückt dadurch der außerkirchliche Bereich als neue, potentielle Quelle für die Konstruktion individueller Systeme »letzter« Bedeutung ins religionssoziologische Blickfeld. Durch das Ablegen der kirchlich gefärbten Forschungsbrille können nun auch die oben erwähnten sekundären Institutionen, zu denen ebenfalls die Populärkultur zählt, in die Debatte um die Form und Position der Religion in der modernen Welt einbezogen werden. Ferner wird die individuelle Religiosität, die sich nicht mehr am kirchlichen Modell orientieren muss, aus dem toten Winkel der religionssoziologischen Forschung geholt.
2.2 D IE ÖFFENTLICHE R ELIGION Im Gegensatz zu Luckmann vertritt José Casanova die Auffassung, dass Religion seit den 1980er Jahren wieder vermehrt in die öffentliche Sphäre
31
Vgl. Krüger 2012, 126.
32
Brief von Luckmann an Krüger, 17.08.2002, zit. n. Krüger 2012, 126.
33
Krüger 2012, 126.
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eintritt. Zu dieser Neueinschätzung der Situation der Religion in der modernen Gesellschaft bewegen ihn verschiedene politische Ereignisse, an denen religiöse Traditionen zu unterschiedlichen Graden beteiligt waren: die islamische Revolution im Iran, die politische Wende in Polen, die nicaraguanischen Revolution sowie die Entstehung der politischen Bewegung der Moral Majority in den Vereinigten Staaten.34 Dies deutet Casanova als Indikatoren eines Vorganges, den er als »Entprivatisierung« bezeichnet: »By deprivatization I mean the fact that religious traditions throughout the world are refusing to accept the marginal and privatized role which theories of modernity as well as theories of secularization had reserved for them.«35 Ausgangspunkt von Casanovas Überlegungen bildet die theoretische Prämisse, dass »[...] what usually passes for a single theory of secularization is actually made up of three very different, uneven and unintegrated propositions [...]«36. Die Säkularisierungstheorie beschreibt somit drei unabhängige Prozesse, die fälschlicherweise als ein ganzheitliches Phänomen missverstanden werden. Die Hauptthese besagt laut Casanova, dass sich die gesellschaftliche Modernisierung als ein Vorgang der funktionalen Differenzierung und der Emanzipation des Staates, der Wirtschaft und Wissenschaft gegenüber der Religion gestaltet. An diesen Aspekt des Säkularisierungsparadigmas, den Casanova nach wie vor für valide hält, schließen sich zwei Unterthesen an. Beide befassen sich mit den angeblichen Folgen des Modernisierungsprozesses. Die erste Subthese behauptet den Rückgang religiöser Überzeugungen und Praktiken, was Casanova zufolge zwar auf viele europäische Länder zutrifft, jedoch keinen notwendigen Entwicklungstrend der Moderne darstellt. Bei der zweiten Unterthese handelt es sich um die unter anderem von Luckmann vertretene Privatisierungsthese, die Casanova nicht als Gegenthese zur Säkularisierungstheorie versteht, sondern als ein Element unter das Paradigma subsumiert. 37 Casanova spricht auch der Privatisierung als zwangsläufiges und einzig mögliches Ergebnis der Säkularisierung die universale Geltung ab: »[...] the privatization of religion is a historical option, a ›preferred option‹ to be sure, but an
34
Vgl. Casanova 1994, 3.
35
Casanova 1994, 5.
36
Casanova 1994, 211.
37
Vgl. Casanova 1994, 19f., 212f.
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option nontheless.«38 »Bevorzugt« ist die Privatisierung erstens aufgrund der Rationalisierung der modernen Religion, zweitens aufgrund der strukturellen Bedingungen der modernen Gesellschaft, die die Religion in die Privatsphäre drängen, und drittens aufgrund des Liberalismus, der das moderne westliche Denken prägt.39 Casanova verwirft die zwei Unterthesen somit nicht vollumfänglich, sondern stellt ihre scheinbar universale Gültigkeit in Frage, indem er im Rahmen von fünf Fallstudien das Wirken institutionalisierter Religionen, namentlich des Katholizismus und Protestantismus, in den öffentlichen Sphären der Länder Spanien, Polen, Brasilien und den USA aufzeigt. Beispielsweise legt er dar, wie die katholische Kirche zur Demokratisierung der drei erstgenannten Länder beitrug. Aus den untersuchten Fällen religiöser Mobilisierung leitet er drei Haupttypen der Entprivatisierung moderner Religion ab: Die erste Form umfasst religiöse Interventionen, die darauf abzielen, die traditionelle Lebenswelt vor Eingriffen des Staats und der Wirtschaft zu schützen. Zweitens werden öffentliche Religionen tätig, um die Prinzipien der staatlichen und wirtschaftlichen Systeme in Frage zu stellen und auf die Wichtigkeit traditioneller Wertorientierungen hinzuweisen. Drittens setzen sich Religionen öffentlich für gesellschaftlich geteilte Normen, also eine gemeinsame moralische Basis und den Erhalt des Gemeinwohls ein.40 Casanova konzipiert »Öffentlichkeit« in Anlehnung an Alfred Stepans Dreiteilung des politischen Systems in Staat, Politik und Zivilgesellschaft. Alle drei dieser Arenen weisen eine öffentliche Dimension auf, in der sich Religionen bewegen können. Folglich existierten theoretisch auch drei Arten von öffentlichen Religionen. Eine typische öffentliche Religion auf Staatsebene ist die Kirche »as a territorially organized, compulsory religious community coextensive with the political community or state«41 wie die Staatskirche im Falle Spaniens. In der öffentlichen Sphäre der Politik können Religionen in Form religiöser Bewegungen und politischer Parteien agieren. Zu ersteren zählen Versuche von protestantischer Seite, die amerikanische Verfassung zu christianisieren. Drittens sind Religionen auf dem
38
Casanova 1994, 39.
39
Vgl. Casanova 1994, 39, 215.
40
Vgl. Casanova 1994, 228f.
41
Casanova 1994, 62.
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Gebiet der Zivilgesellschaft öffentlich aktiv, wie dies die katholische Mobilisierung gegen die Legalisierung der Abtreibung durch den US Supreme Court 1973 beispielhaft zeigt.42 Casanova weist korrekterweise darauf hin, dass Religionen nicht vollumfänglich im Privaten verschwinden, sondern weiterhin eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit spielen werden. Allerdings diskutiert er diesen Umstand ausschließlich im politischen Kontext, so dass andere gesellschaftliche Bereiche, in denen Religion öffentlich Präsenz zeigt, unberücksichtigt bleiben. Pagan Metal, der Gegenstand dieses Buches, zeugt beispielsweise davon, dass Religion mithilfe der Massenmedien in der Unterhaltungsindustrie einen öffentlichen Charakter annimmt. Dieser Bereich sollte in die Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Moderne einbezogen werden. Genauso sollte auch der öffentlichen, nicht-institutionalisierten, individuellen Auseinandersetzung mit Religion auf dem Unterhaltungsmarkt Beachtung geschenkt werden, wie dies Knoblauch teilweise tut (siehe unten).
2.3 D IE POPULÄRE R ELIGION Wie Luckmann postuliert auch Hubert Knoblauch eine Transformation der Religion. Anstatt einer Privatisierung stellt er jedoch eine Popularisierung fest, aus der sich eine neue Form von Religion herausgebildet hat: die populäre Religion.43 Bei diesem Prozess schreibt Knoblauch den Medien und dem Markt eine zentrale Rolle zu.44 Da Religion sich vor allem kommunikativ vollzieht, kommt den Kommunikationsmedien eine besondere Bedeutung zu. Veränderungen in den Medien wirken sich auch auf die Religion aus. Der Wandel von mündlicher hin zu schriftlicher Überlieferung beispielsweise ermöglicht die Entwicklung von religiösen Spezialisten, die Schriften herstellen, interpretieren und weitergeben, was zu einem höheren Abstraktionsniveau führt. Durch die Erfindung des Buchdrucks und die damit einhergehende Medienindustrie wird der Zugang zu religiösen Texten für die breite Masse geöffnet, was indirekt die individuelle Auseinan-
42
Vgl. Casanova 1994, 61-63, 218f.
43
Vgl. Knoblauch 2009, 193.
44
Vgl. Knoblauch 2009, 200.
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dersetzung mit religiösen Inhalten fördert.45 Neben dem Beginn der »Massenkommunikation« markiert das Aufkommen der Druckerpresse auch die verstärkte Marktorientierung der Religion. Um als Unternehmen rentabel zu sein, müssen die Druckereien ihre Erzeugnisse profitabel vertreiben.46 Mit dem Aufkommen elektronischer Medien wie dem Fernsehen und dem Internet wird religiöse Kommunikation globalisiert. Zudem werden durch die Interaktionsmöglichkeiten der neuen Medien aus den »Massen« der Massenkommunikation einzelne aktive Subjekte. Die User können sich online über unterschiedlichste religiöse Traditionen informieren, beliebig Elemente daraus kombinieren, um z.B. ihr persönliches Ritual zu kreieren, das sie dann in Chatrooms und Foren mit anderen teilen. Das Internet fördert somit die individuelle, eklektische Beschäftigung mit religiösen Themen und den transnationalen Austausch darüber, so dass Knoblauch von einer »globalen Bricolage« spricht. Daneben nutzen auch die etablierten Kirchen das Internet, um ihre Glaubensinhalte zu verbreiten und neue Anhänger zu gewinnen. Die Transformation der »Massen« in isolierte Handelnde, die die Kommunikation aktiv gestalten, stellt gemäß Knoblauch einen Grund für die Ausbildung der populären Form von Religion dar.47 Neben der Verbreitung durch interaktive Massenmedien fußt die populäre Religion auch auf dem religiösen Markt, dessen Entwicklung in den USA eng mit den Medien verknüpft ist. Dort war religiöse Literatur zwischen dem 17. Jh. und 19. Jh. das wichtigste mediale Produkt. Seither werden auch Radio, Film und Fernsehen genutzt, um die religiöse Ware kommerziell zu vertreiben.48 Als Beispiel einer marktorientierten, sich den Massenmedien bedienenden populären Religion nennt Knoblauch die »electronic church«. Mit diesem Begriff ist die Vermittlung christlicher Inhalte über Fernsehund Radiokanäle, DVDs, das Internet usw. gemeint. Konkret kann dies beispielsweise die Ausstrahlung einer Fernsehpredigt des Teleevangelisten Billy Graham sein.49 Die Religion tritt hier laut Knoblauch in einer neuen,
45
Vgl. Knoblauch 2009, 210f.
46
Vgl. Knoblauch 2009, 212.
47
Vgl. Knoblauch 2009, 214-217.
48
Vgl. Knoblauch 2009, 227.
49
Vgl. Knoblauch 2009, 213.
26 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
eben populären Gestalt auf, die mehr Ähnlichkeit mit einer Fernsehshow als einer Messe aufweist.50 Da die Medien und der Markt wichtige Komponenten der populären Religion darstellen, handelt es sich keinesfalls um eine unsichtbare Religion, sondern um ein sehr sichtbares Phänomen, das Knoblauch einerseits mit Blick auf Luckmanns Privatisierungsthese und andererseits in Abgrenzung zu Casanovas Konzept der öffentlichen Religionen näher bestimmen will. 51 Laut Knoblauch enthält die Privatisierungsthese Luckmanns drei Aspekte. Der erste Aspekt beziehe sich auf die Ablösung der Glaubensinhalte und der religiösen Praxis von der lokalen Öffentlichkeit und die Verlagerung in den Entscheidungsbereich des Einzelnen. Als zweiten Aspekt nennt Knoblauch die Subjektivierung der religiösen Themen im Heiligen Kosmos. Unter Privatisierung verstehe Luckmann als drittes den Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit und den Verlust ihres Einflusses auf die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Institutionen.52 Casanovas Kritik ziele auf diesen letzten, die Funktion der Religion in der Interaktion mit den anderen Systemen betreffenden Aspekt ab. Religion sei keine Privatsache mehr, sondern habe sich zu einem wichtigen öffentlichen Akteur gewandelt. Knoblauch bejaht zwar die Bedeutung der Religion in der Öffentlichkeit, stellt jedoch in Frage, dass dieser Umstand Resultat eines Entprivatisierungsprozesses ist. So haben die institutionalisierten Religionen in Deutschland ihre öffentliche Funktion in den letzten Jahrzehnten recht konstant wahrgenommen. 53 Knoblauch beobachtet allerdings eine Veränderung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit in der religiösen Kommunikation. Digitale Medien wie das Mobiltelefon oder das Internet erlauben es dem Einzelnen, seine Privatsphäre öffentlich zu machen. Private religiöse Erlebnisse werden in sozialen Netzwerken, auf Blogs oder in Foren mit der Welt geteilt. Zuvor höchst private Erfahrungen und intimste Berichte werden für jede/n Interessierte/n zugänglich. Diese Entgrenzung des Privaten und Öffentlichen ist nach Knoblauch charakteristisch für die populäre Religion. Angesichts der sehr sichtbaren und öffentlichen Natur der populären Religion warnt Knoblauch davor, diese einfach
50
Vgl. Knoblauch 2009, 251.
51
Vgl. Knoblauch 2009, 201.
52
Vgl. Knoblauch 2009, 203.
53
Vgl. Knoblauch 2009, 204f.
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mit der öffentlichen Religion Casanovas gleichzustellen. Im Vergleich zur letzteren, die sich durch öffentliche Interventionen religiöser Institutionen unter anderem in der Zivilgesellschaft auszeichne, gehe es bei der populären Religion um medial vermittelte Öffentlichkeit, die durch den individualisierten Gebrauch technischer Medien und subjektivierte Kommunikation getragen werde.54 Meines Erachtens überschneidet sich die populäre Religion im Falle der »electronic church« gleichwohl mit der öffentlichen Religion. Es handelt sich dabei nämlich um eine traditionelle, institutionalisierte, christliche Religion, die sich der Kommunikationsformen der Populärkultur bedient, um öffentlich wirksam zu sein. So war beispielsweise der Begründer der oben bereits erwähnten »Moral Majority«, Jerry Falwell (1933-2007), ab den 1980er Jahren als Fernsehprediger tätig und nutzte – typisch für die populäre Religion – das Massenmedium Fernsehen, um seine christliche Botschaft zu verkünden. Gleichzeitig engagierte er sich damit politisch in der Öffentlichkeit, was Casanova dazu bewegte, die »Moral Majority« als ein Phänomen der Deprivatisierung moderner Religion zu nennen. 55 Trotz dieser Inkonsistenz in Knoblauchs Abgrenzungsversuch gegenüber der öffentlichen Religion sollte ein wichtiger Punkt, den er damit machen wollte, nicht vergessen werden: Während die öffentliche Religion traditionelle, religiöse Institutionen und Organisationen betrifft, umfasst populäre Religion nicht nur die Mediennutzung religiöser Institutionen, sondern auch den individualisierten Umgang Einzelner mit Medien und medial vermittelten religiösen Inhalten. Die populäre Religion zeichnet sich ferner durch ihren »populärkulturellen Grundzug« aus.56 Mit Populärkultur meint Knoblauch die »Kultur der einfachen Leute«, die als Arbeiterkultur in Großbritannien ihren Anfang nahm und sich (zunächst noch als Jugendkultur) dann weltweit ausbreitete. Sie liefert das gemeinsame Wissen, die geteilten kommunikativen Codes, die es den Menschen erlauben, sich über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssysteme zu verständigen. Da sie allen bekannt ist, bietet sie Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus, der Anwältin und dem Gärtner, die Möglichkeit, sich über gewisse Themen zu unterhal-
54
Vgl. Knoblauch 2009, 209f.; Knoblauch 2006, 24.
55
Vgl. Casanova 1994, 3; Krüger 2012, 354.
56
Vgl. Knoblauch 2009, 193.
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ten und dient somit als Kitt, um die Glieder der hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft zusammenzuhalten.57 Die populäre Religion charakterisiert sich laut Knoblauch durch Grenzüberschreitungen zwischen Religion, genauer der religiösen Kommunikation, und der Populärkultur: Wenn ich von populärer Religion auch im kirchlichen Raum rede, meine ich [...] jene Formen [der Kommunikation, die Autorin], die zwar das Religiöse thematisieren, aber eindeutig der weltlichen populären Kultur entlehnt sind. [...] Umgekehrt schließt sie jene Formen der religiösen Kommunikation ein, die in den ›Niederungen‹ der populären Kultur aufgenommen werden. [...] Schließlich impliziert die populäre Religion auch, dass religiöse Themen, die mit der religiös markierten kirchlichen Kommunikation verbunden sind, in großem Maße außerhalb religiöser Institutionen kommuniziert werden – häufig ebenso auf Weisen, die keineswegs die Formen der religiösen Kommunikation aufnehmen.58
Als Beispiel der zuletzt genannten Ausprägung der populären Religion führt Knoblauch den Tod an. Der Tod stellte Knoblauch zufolge ein Kernthema des Christentums dar, das mit der Modernisierung und dem Bedeutungsverlust der kirchlichen Religion aus der Öffentlichkeit der westlichen Gesellschaft verdrängt worden ist. Seit den 1970er Jahren beobachtet Knoblauch eine Enttabuisierung des Todes, die er dem Wirken der populären Religion zuschreibt. Zentral für diese Entwicklung war demnach insbesondere die Thematisierung und Popularisierung der Nahtoderfahrung. Selbsternannte Experten und Betroffene veröffentlichten Bücher mit Auflagenzahlen im sechsstelligen Bereich und hielten Vorträge. Dem Phänomen wurden ferner Artikel in Zeitschriften und in Boulevardzeitungen, Spielfilme, Talkshows und TV-Reportagen gewidmet. Die Kommunikation und Deutung von Nahtoderlebnissen erfolgte mehrheitlich in säkularen Medien und Veranstaltungen außerhalb des Hoheitsgebiets der Kirchen. War das Phänomen früher ein zentraler Gegenstand der christlichen Lehre, so wird es heute vom Großteil der Bevölkerung weder mit dem Christentum noch mit Religion assoziiert. Die Popularisierung des Todes findet laut Knoblauch auch in der Ratgeberliteratur zum Umgang mit dem Tod ihren
57
Vgl. Knoblauch 2009, 237-239.
58
Knoblauch 2009, 196f.
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Ausdruck.59 »Das Religiöse findet sich hier nur mehr im Verborgenen, die modernen Prediger sind Physiker, Psychotherapeuten oder Hospizbegleiter, und ihre Lehre schwankt zwischen einer säkularisierten Form der Religion und einer esoterisch-gnostischen Geistlehre [...].«60 Als Beispiel für die erstgenannte Ausprägung der populären Religion, die die Aufnahme kommunikativer Formen der Populärkultur auch in die organisierte Religion umfasst, nennt Knoblauch unter anderem »die Eventisierung der religiösen Zeremonie beim Papstbesuch«61 sowie die Verwendung »populärer religiöser Musik«. Konkret zählt er »Sakropop«, »New Age-Musik« und »satanistische Rockmusik« auf. Es wird allerdings weder genauer auf die religiösen Züge der Stilrichtungen eingegangen, noch erklärt, inwiefern insbesondere letztgenannter Musikstil »satanistisch« bzw. »religiös« ist. Hier vertraut Knoblauch den theologisch-normativen Ausführungen Malessas, dem es meines Erachtens nicht gelingt, die Relation zwischen Satanismus und Rockmusik zu klären. Anstatt diese systematisch zu untersuchen, diskutiert er den vermeintlichen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Rock-Musik und Delinquenz.62 Populäre Musik wie Punk, Gothic und Goa bieten gemäß Knoblauch Beispiele für den zweitgenannten Typ der populären Religion, der die Aufnahme von Formen religiöser Kommunikation in die Populärkultur betreffe.63 Knoblauch schreibt dieser Musik eine »religiöse Ladung« zu und will ihre religiösen Züge aufzeigen. Laut ihm handelt es sich bei der Verwendung von Todessymbolik in der Kultur und Musik des Gothic nicht nur um eine »populärkulturelle Ästhetisierung«, sondern auch um eine »Form der ›düster konnotierten Transzendenz‹«. 64 Die rein metaphorische Verwendung religionsbezogener Symbole scheint also nicht zu reichen, um ein Phänomen als populäre Religion zu identifizieren. Dies zeigt sich noch eindeutiger in einem früheren Aufsatz, in dem Knoblauch im Zusammenhang mit der Populärmusik folgende Einschränkung vornimmt: »Der Begriff der ›populären Religion‹ soll jedoch keine mit religiösen Motiven dekorierte
59
Vgl. Knoblauch 2009, 255-263.
60
Knoblauch 2009, 261.
61
Knoblauch 2009, 266.
62
Vgl. Knoblauch 2009, 248; Malessa 1992, 101-106.
63
Vgl. Knoblauch 2009, 196.
64
Knoblauch 2009, 250; vgl. Knoblauch 2009, 196.
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Populärkultur bezeichnen.«65 Diese Beschränkung fehlt in seiner drei Jahre später erschienenen Monographie. Dort gestalten sich die Äußerungen diesbezüglich widersprüchlich: Populäre Religion bedeutet aber auch, dass einst als sakral geltende Formen aus den religiösen Kontexten herausgehoben werden und in andere Kontexte versetzt werden, wie sich etwa an [...] den Subkulturen der populären Musik zeigt [...]. Weil es sich hierbei lediglich um eine bloße Aufnahme von Formen und Symbolen handelt, wurde die Behandlung solcher Phänomene unter dem Titel der Religion häufig und nicht zu unrecht als ›inflationäre‹ Ausweitung des Religionsbegriffs kritisiert.66
Ist populäre Musik, die Elemente mit bloß äußerlichem Religionsbezug rezipiert, bereits eine Form von populärer Religion oder würde dies die Definitionsgrenzen unzulässig dehnen? Muss die Musik »religiös geladen« sein oder reicht die Verwendung religionsbezogener Symbole? Qualifiziert sich Pagan Metal bereits durch die Rezeption »heidnischer« Motive als populäre Religion oder müsste die Aufnahme mythologischer Elemente eine bestimmte religiöse Qualität aufweisen? Diese Fragen müssen in Anbetracht der mangelnden Klarheit von Knoblauchs Aussagen unbeantwortet bleiben. Dies ist aber nicht weiter tragisch, da eine Bejahung oder eine Verneinung die Theorie der Religion in der modernen Gesellschaft nicht weiterbringen würde. Wertvoller ist es meines Erachtens, dem Verhältnis zwischen Medien, Populärkultur und Religion nachzugehen, dessen Komplexität Knoblauch mit seinen Ausführungen zur populären Religion deutlich machte. So interessiert mich zum einen vielmehr, wie Religionsbezüge im Pagan Metal medial vermittelt werden und welche intermedialen Wechselbeziehungen bestehen. Berücksichtigt werden dabei die akustische, vestimentäre und visuelle Kommunikation an Konzerten, die Liedtexte und die Frontcover. Zum anderen will ich herausfinden, welche Bedeutungen Pagan MetalMusiker den von ihnen geschaffenen Religionsbezügen zuschreiben, um daraus Schlüsse für das Verhältnis zwischen Religion und Populärkultur ziehen zu können.
65
Knoblauch 2006, 12.
66
Knoblauch 2009, 266.
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2.4 S YNTHESE Alle drei oben vorgestellten Theoretiker erörtern die Lage der Religion in der Moderne und attestieren ihr dabei einen Wandel in ihrem gesellschaftlichen Erscheinungsbild. Luckmann geht von einer Verdrängung der traditionell-kirchlichen Religion durch eine privatisierte Religiosität aus. Seine Ausführungen zum Konzept der unsichtbaren Religion zeigen die Relevanz des außerkirchlichen Bereichs für die Diskussion um das Verhältnis zwischen Religion und Moderne auf. So soll auch die nachfolgende Analyse des Pagan Metal zu dieser religionssoziologischen Debatte beitragen. Entgegen der Privatisierungsthese Luckmanns verzeichnet Casanova vermehrte Interventionen der institutionalisierten Religion in der politischen Öffentlichkeit. Pagan Metal zeugt davon, wie Religion in der Unterhaltungsindustrie und der Populärkultur öffentlich auftritt. Doch sagt der bloße Umstand, dass Religion öffentlich präsent ist, noch nichts darüber aus, welche Rolle sie im Leben der einzelnen Individuen spielt. Dies ist jedoch eine wichtige Frage in der religionssoziologischen Auseinandersetzung mit der Stellung der Religion in der modernen Gesellschaft und soll deshalb im Rahmen der Untersuchung von Pagan Metal adressiert werden. Auch Knoblauch weist auf die Sichtbarkeit der modernen Religion hin, die sie ihrer Markt- und Medienorientierung verdanke. Anders als Casanova betont er in Anlehnung an Luckmann die Rolle des Subjekts und seine Autonomie bei der Beschäftigung mit medial vermittelten religiösen Inhalten, fragt aber nicht nach der subjektiven Bedeutung dieses Vorganges. Anstatt nur die mediale Präsenz religiöser Symbole im Pagan Metal zu thematisieren, wird in der vorliegenden Studie auch die Bedeutung fokussiert, die die Musiker damit verbinden.
3 Religion und Populärkultur
Religion in der Moderne manifestiert sich nicht nur in Form traditioneller Gottesdienste, sondern kann auch in Gestalt eines Livekonzerts oder einer Fernsehshow auftreten. Wie im vorherigen Kapitel bereits angesprochen, bedient sich moderne Religion laut Knoblauch der Kommunikationsformen der Populärkultur und weist somit einen populärkulturellen Charakter auf. Zudem wandern religiöse Versatzstücke in Bereiche der Populärkultur, z.B. in Fernsehserien, Filme, Computerspiele, Comics, Spielzeug, in die Kleidermode und Populärmusik. Es macht deshalb Sinn im Rahmen einer religionssoziologischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Bedeutung und Form von Religion auch das Verhältnis von Religion und Populärkultur genauer zu betrachten. Die Analyse ihrer Interaktionen erlaubt es uns gemäß Forbes, »[to] learn more about widespread perceptions of religion, and the role religion plays in the everyday lives of people.«1 Bevor die Relationen zwischen Religion und Populärkultur diskutiert werden, möchte ich zunächst darauf eingehen, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Forschungsfeld von Religion und Populärkultur unter den beiden Begriffen verstehen. Erwartungsgemäß verweisen alle auf die Schwierigkeit, »Religion« allgemein gültig zu definieren. Lynch erörtert die Vor- und Nachteile von Religionskonzepten, mit denen in Studien zu Religion und Populärkultur bis anhin gearbeitet wurde und ermittelt dabei substanzialistische, phänomenologische und funktionalistische Ansätze. Substanzialistische, d.h. inhaltliche Bestimmungen orientierten sich an institutionalisierten Religionen und hätten den Vorteil, das Forschungsfeld relativ klar einzugrenzen:
1
Forbes 2005, 2.
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We know what falls within the study of religion and popular culture within this approach, because it will involve structures, symbols or practices relating to one or more of the substantive religions (e.g. the use of Hindu symbolism in Bollywood cinema, [...] or the development of kosher mobile phone products for ultra-Orthodox Jews).2
Mit einer solch engen Perspektive laufe man jedoch Gefahr, bestimmte religiöse Phänomene zu übersehen, namentlich die »unsichtbare Religion« Luckmanns. Vertreter eines phänomenologischen Zugangs wollten durch Nachempfinden fremden religiösen Erlebens universale Merkmale von Religion ermitteln. Dieser Ansatz bestimme Religion zwar auch inhaltlich, beschränke sich aber nicht auf religiöse Institutionen, sondern betrachte Kategorien wie Mythos, Ritual und das Numinose als universale Komponenten.3 Seine Offenheit ermögliche, »[...] as Mircea Eliade [...] suggested, that influential contemporary myths may be as likely to be found in the cinema as in the church, synague or temple.«4, weshalb Eliade laut Lynch von manchen Wissenschaftler als vielversprechend für die Erforschung religiöser Dimensionen in der Populärkultur eingestuft wurde. Die große Schwäche des phänomenologischen Zugangs sei jedoch die Nichtbeachtung historischer, kultureller und gesellschaftlicher Kontexte und deren Einfluss auf das Religionsverständnis. Funktionalistische Definitionen umfassen alle Phänomene, die eine religiöse Funktion erfüllen und geben der Religionsforschung viel Flexibilität. Gleichzeitig bestehe aber das Risiko »of imposing religious concepts and categories onto forms of cultural practice for which they do little useful analytical work and obscure more than they clarify.«5 Mazur & McCarthy legen anstelle einer Definition von Religion eine Reihe von Indikatoren fest, die auf eine religiöse Bedeutung des zu untersuchenden Phänomens hindeuten. Es handelt sich dabei um folgende Merkmale:
2
Lynch 2007, 129.
3
Lynch 2007, 128, 130.
4
Lynch 2007, 128.
5
Lynch 2007, 131f.
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[...] the formation of communities of shared meanings and values, the presence of ritualized behaviors, the use of language of ultimacy and transcendence, the marking of special, set-aside ›sacred‹ times and spaces, and the manipulation of traditional religious symbols and narratives.6
Mazur & McCarthy als auch einige ihrer Kolleginnen und Kollegen enthalten sich bewusst einer endgültigen Religionsdefinition und heben die Notwendigkeit eines breiten Religionsbegriffs, der auch »unconventional religions«7 einschließt, sowie die Unerlässlichkeit kontinuierlicher Aushandlungen und Überarbeitung des Konzepts hervor.8 Auch ich verzichte auf eine abschließende Religionsdefinition, da es mir in der vorliegenden Fallstudie darum geht, die Religionskonzepte der einzelnen Metal-Musiker zu analysieren. Es erstaunt nicht, dass man auch im Falle von »Populärkultur« vergebens nach einer allgemein anerkannten Definition sucht. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen sich dem Begriff zu nähern, indem sie ihn von »Hochkultur« und »Volkskultur« abgrenzen. Konkret würde dies bedeuten, dass die Oper zur »Hochkultur« gehört, das Rockkonzert Ausdruck von »Populärkultur« ist und das Jodelfest das »volkskulturelle« Pendant darstellt. Als Kriterien zur Unterscheidung der drei Kulturtypen dienen die Publikumsgröße und die Übermittlungsart. Hochkultur sei nur einer kleinen Elite zugänglich und werde oftmals schriftlich übermittelt (z.B. Orchesterpartitur zu einer Oper). Volkskultur werde hingegen mündlich an die Gemeinschaftsmitglieder weitergegeben (z.B. Volkserzählungen, regionale Bräuche), so dass ihre Überlieferung auf die lokale Gruppe beschränkt bleibe. Die Populärkultur schließlich bediene sich der Massenmedien und werde somit von einer großen Anzahl Personen konsumiert.9 Diese Konzeption bleibt nicht kritiklos. Einerseits wird beanstandet, dass die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur ein Werturteil impliziere. Sie fuße auf der elitären Meinung, dass Populärkultur aufgrund ihrer angeblichen Einfachheit und Anspruchslosigkeit im Vergleich zur Hochkultur eine minderwertige, der ungebildeten und unkultivierten Masse
6
Mazur/McCarthy 2011, 6.
7
Forbes 2005, 9.
8
Vgl. Forbes 2005, 8f.; Lyden 2015, 10.
9
Vgl. Forbes 2005, 3.
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vorbehaltene Kulturform darstellt. Verfechter der Hochkultur würden eine enge Konzeption von »Kultur« anwenden, die sich lediglich auf die Kultur der Elite beschränke und populärkulturelle Phänomene außen vor lasse. Die vorher erwähnte Oper würde dementsprechend als Kultur gelten, das RockKonzert jedoch nicht.10 Andererseits wird die Möglichkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen Hoch- und Populärkultur in Frage gestellt. Lyden argumentiert, dass Jazz-Musik ihren Anfang in Nachtclubs nahm und sich dann von einer populären hin zu einer anspruchsvollen Kunstform entwickelt hat, für die sich nur noch eine relativ kleine, oft akademische Gruppe interessiert.11 Welches Phänomen zu welchem Kulturtyp zählt, variiere folglich je nach zeitlichem und geographischem Kontext.12 Morgan und Possamai sind der Meinung, dass (zumindest heutzutage) zwischen Hoch- und Populärkultur keine klare Trennlinie gezogen werden kann.13 Metal-Bands wie Metallica kreieren gemeinsam mit Symphonieorchestern Musikalben und Künstler wie Andy Warhol brächten »imageries of popular culture (e.g. Marilyn Monroe, Superman, and a Campbell’s can of soup) to a ›high-art‹ canvas.«14 Zudem wird die Übermittlungsart als adäquates Unterscheidungsmerkmal in Zweifel gezogen. So sind manche Autorinnen und Autoren der Überzeugung, Populärkultur habe schon lange vor dem Aufkommen der Massenmedien existiert. Aufführungen von Aristophanes Komödien im antiken Griechenland böten hierfür ein historisches Beispiel. Folgt man der Auffassung, dass massenmediale Vermittlung kein notwendiges Kennzeichen von Populärkultur darstellt, dann verschwimmen oftmals die Grenzen zwischen Populär- und Volkskultur.15 Ferner wird kritisiert, dass der Entscheid, ein kulturelles Phänomen aufgrund seiner weiten Verbreitung als »populär« zu bezeichnen, eine gewisse Willkür impliziert: »Just how many people do I need to have involved in an activity before I can call it ›popular‹? It would seem foolish to
10
Vgl. Clark 2012, 6; Forbes 2005, 2; Lyden 2015, 13; Morgan 2007, 21, 23.
11
Vgl. Lyden 2015, 13.
12
Vgl. Forbes 2005, 4; Lyden 2015, 13.
13
Vgl. Morgan 2007, 23f.; Possamai 2005, 18f.
14
Possamai 2005, 18f.
15
Vgl. Forbes 2005, 3.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 37
refuse to call something popular just because the number of adherents drops below an arbitrary number.«16 Deshalb plädieren Forbes als auch Lyden für genügend Offenheit, um auch kulturelle Phänomene in die Untersuchung miteinzubeziehen, die zwar nicht zum Mainstream gehören, aber in einer spezifischen Subgruppe auf Anklang stoßen.17 Dementsprechend definiert Lyden »Populärkultur« vorsichtig als »a shared set of activities and meanings which have gained a certain prominence, for some populations, either through mass media or other means of communication.«18 Eine Definition wie die obige, die hauptsächlich auf die Beliebtheit und massenmediale Verbreitung von Populärkultur abstellt, vernachlässigt laut Clark aber einen wichtigen Punkt. Die Popularität gewisser Ideen und Praktiken sei nicht dem Zufall zuzuschreiben, sondern der bewussten, medialen Einflussnahme bestimmter Akteure. Clark versucht diesem Aspekt Rechnung zu tragen, indem er mit »Populärkultur« »widespread and well-liked products, practices, themes, and values that have achieved their popular status as a result of their dissemination through the vehicles of modern technology, including mass marketing [Hervorhebung im Original] strategies«19 bezeichnet. Abschließend kann festgehalten werden, dass kein Konsens bezüglich der Definitionen von »Religion« und »Populärkultur« besteht. Dies ist unter anderem wichtig, da mit den unterschiedlichen Konzeptionen auch verschiedenen Arten, die Interrelationen von Religion und Populärkultur zu deuten, einhergehen. Forbes unterscheidet vier verschiedene Arten, wie sich das Verhältnis von Religion und Populärkultur gestalten kann, wobei er diese nicht als einander ausschließende, sondern miteinander interagierende Kategorien auffasst. Sie stellen zugleich vier mögliche Forschungsperspektiven dar: Religion in Popular Culture, Popular Culture in Religion, Popular Culture as Religion, Religion and Popular Culture in Dialogue.20 Die erste Kategorie (Religion in Popular Culture) umfasst Studien bezüglich der Aufnahme re-
16
Lyden 2015, 14.
17
Vgl. Forbes 2005, 4.
18
Lyden 2015, 14.
19
Clark 2012, 8.
20
Vgl. Forbes 2005, 10, 17.
38 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
ligiöser Themen, Sprache, Symbole, Figuren und Narrative in die Populärkultur.21 Die zweite Perspektive (Popular Culture in Religion) fokussiert die Verwendung von Elementen der Populärkultur wie Marketingstrategien, populäre Musikstile und Filme durch religiöse Gruppen und Institutionen.22 So beobachtet Clark beispielsweise den Versuch etablierter Religionsgemeinschaften, durch den Rückgriff auf populärkulturelle Praktiken und Produkte ihrem Bedeutungsverlust unter der Bevölkerung entgegenzusteuern.23 Die dritte Kategorie (Popular Culture as Religion) basiert auf der Annahme, dass Populärkultur Funktionen wahrnimmt, die auch von Religion erfüllt werden, oder sogar als Religion fungieren kann. Hierbei spielt das angewandte Religionskonzept eine äußerst entscheidende Rolle.24 Eine solche Perspektive wird unter anderem von Lyden sowie Mazur & McCarthy eingenommen. So böten unter anderem Krimiserien, Disney und Hip-Hop Alternativen zur traditionellen Religion und populäre Filme übernähmen religiöse Aufgaben, »by providing narratives as expressions of worldviews (myths), moral frameworks, and rituals that connect the consumers of popular culture with a set of beliefs and values«25. Untersuchungen der vierten Kategorie (Religion and Popular Culture in Dialogue) legen ihren Schwerpunkt auf die von religiösen Gruppen eingenommenen Haltungen und geführten Diskussionen in Bezug auf die Populärkultur.26 Forbes spricht zwar von einem »Dialog«, übersieht aber die Positionierungen populärkultureller Akteure gegenüber Religion. In einer Fußnote diskutiert Forbes die Möglichkeit einer fünften Kategorie: Religion as Popular Culture. Der mittelalterliche Karnevalsbrauch vor der Fastenzeit sowie das Tragen von Symbolen wie Om- oder YinYang-Zeichen als Schmuck bieten Beispiele für diese Kategorie. Gleichzeitig könnte sie aber eine Erweiterung von Religion in Popular Culture dar-
21
Vgl. Forbes 2005, 10-12.
22
Vgl. Forbes 2005, 12f.
23
Vgl. Clark 2012, 9.
24
Vgl. Forbes 2005, 14f.
25
Lyden 2015, 16; vgl. Mazur/McCarthy 2011, 12.
26
Vgl. Forbes 2005, 15-17.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 39
stellen.27 Hier wird bereits klar, dass die Kategoriengrenzen nicht so scharf gezogen werden können. Forbes’ Kategorienkatalog erntet Kritik von Lyden, der die Trennlinie zwischen den ersten zwei Kategorien als »messy« bezeichnet. So könne ein Phänomen zugleich als populärkulturelle Repräsentationen von Religion und als Verwendung populärkultureller Elemente durch religiöse Akteure interpretiert werden. Beispielsweise gestalte sich die Zuordnung von Mel Gibsons Film »The Passion of Christ« schwierig. Werde der Schwerpunkt auf den ökonomischen Profit gesetzt, käme eher eine Deutung des Films als Ausprägung der ersten Kategorie zum Tragen. Werde die missionarische Intention fokussiert, so handle es sich eher um ein Phänomen der zweiten Kategorie.28 Des Weiteren kritisiert Moberg die durch Forbes’ Typologie implizierte Konzeption von Religion und Populärkultur als zwei getrennte Sphären. Dass dem in manchen Fällen nicht so ist, zeigt er am Beispiel des Christian Metal. Christian Metal ist Metal-Musik, die eine christliche Botschaft enthält und grundsätzlich von Christen für Christen produziert wird.29 Musik und Glaube greifen hierbei so umfassend ineinander, dass eine Trennung der beiden Bereiche kaum möglich sei. Entsprechend bezeichnet er Christian Metal als »a popular music-based alternative Christian community«30. Insbesondere die Kategorie Popular Culture in Religion versperre mit ihrem Fokus auf die bloße »Aneignung« (›appropriation‹) oder »Entlehnungen« (›borrowings‹) von Elementen der Populärkultur durch religiöse Akteure den Weg zu einem Zugang, der die Populärkultur als immer bedeutender werdende Ressource für die Gestaltung religiöser Identitäten berücksichtigt, und lasse das tatsächliche »Verschmelzen« (›merging‹) der beiden Sphären unbeachtet.31 Dass es sich bei Populärkultur und Religion nicht um zwei klar voneinander abgrenzbare Entitäten handelt, zeigt sich auch bei Possamai, der die Populärkultur als eine Inspirationsquelle für die Konstruktion religiöser Identität erachtet. Während sich manche Individuen durch Gelegenheits-
27
Vgl. Forbes 2005, 18f.
28
Vgl. Lyden 2015, 15f.
29
Vgl. Moberg 2009, 1.
30
Vgl. Moberg 2009, 2.
31
Vgl. Moberg 2009, 101f.
40 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
konsum von Populärkultur, beispielsweise eines Computerspiels wie »World of Warcraft«, spirituell inspirieren lassen, ohne ein in sich abgeschlossenes Glaubenssystem zu kreieren, bilden andere durch ihr aktives Konsumieren von Populärkultur neue Arten von Religiosität.32 Ein typisches Beispiel des Letzteren sei der Jediismus, eine von der Theologie der Jedi-Ritter aus den Star Wars Filmen inspirierte, vorwiegend internetbasierte, religiöse Bewegung.33 Es handle sich dabei um eine neue Form von Religion: eine »hyper-reale Religion«, die Possamai folgendermaßen definiert: »A hyper-real religion is a simulacrum of a religion created out of, or in symbiosis with, commodified popular culture which provides inspiration at a metaphorical level and/or is a source of beliefs for everyday life.«34
3.1 R ELIGION UND P OPULÄRMUSIK Ein für die vorliegende Studie besonders relevanter populärkultureller Bereich ist die Populärmusik. Ähnlich wie »Populärkultur« diente der Begriff »Populärmusik« manchen zur Bezeichnung jener Musikstile, die in Abgrenzung zu den Kategorien »Hoch-/Kunstmusik« und »Volks-/ethnische Musik« als zweitklassig galten.35 Eine solche normative Unterscheidung zwischen niedriger und hoher Musik nahm beispielsweise Theodor W. Adorno (1903-1969) vor. In Einleitung in die Musiksoziologie (1962) widmete er ein Kapitel der »leichten Musik«, die sich ihm gemäß in einer Phase des »ästhetischen Verfalls« befindet. Adornos kritische Haltung gegenüber Populärmusik wird im folgenden exemplarischen Ausschnitt ersichtlich: Spontaneität und Konzentration des Hörens dagegen werden von der leichten Musik, die das Bedürfnis nach Entspannung von den anstrengenden Arbeitsprozessen als ihre eigene Norm proklamiert, nicht gefordert, kaum nur geduldet. […] Die geförderte Passivität fügt dem Gesamtsystem der Kulturindustrie als einem fortschreitender Verdummung sich ein [sic!]. […] der fan [sic!], […] wird durchs Gesamtsys-
32
Vgl. Possamai 2012, 3, 7f.
33
Vgl. Possamai 2012, 1.
34
Possamai 2012, 20.
35
Vgl. Forbes 2005, 2f.; Laack 2011, 22f.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 41
tem der leichten Musik in einer Passivität geschult, die sich dann wahrscheinlich 36
auch auf sein Denken und seine gesellschaftlichen Verhaltensweisen überträgt.
Angesichts Adornos geringschätzigen Standpunktes erstaunt es nicht, dass für ihn und andere Vertreter derselben Position Populärmusik sowie andere Formen der Populärkultur keinen legitimen Forschungsgegenstand bildeten. Dies änderte sich mit dem Wandel des Kulturbegriffes in den Geistesund Sozialwissenschaften infolge der sogenannten kulturellen Wende, der sich in den 1960er und 1970er Jahre ereignete. Hierbei löste ein breiter gefasstes Kulturverständnis, das Kultur als Lebensweise konzipierte, das frühere, auf die »Hochkultur« beschränkte Konzept ab, so dass Aspekte des Alltagslebens normaler Menschen ins Forschungsinteresse gerieten. Zudem wies die soziologische Metatheorie des Sozialkonstruktivismus die Unterscheidung von Hoch- und Massenkultur als soziale Konstruktion aus.37 Seither hat sich Populärmusik zu einem beliebten Forschungsgebiet entwickelt. Studien zum Spannungsfeld von Religion und Populärmusik behandeln ein breites Spektrum an Musikstilen, -kulturen und religiösen Traditionen. Ebenso vielfältig sind die Fragestellungen, mit denen sich Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Disziplinen wie Soziologie, Anthropologie und Religionswissenschaft beschäftigen. Es folgt ein kurzer Überblick, der jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ein Themenschwerpunkt bilden Religionsbezüge in der Populärmusik. Der Großteil der Beiträge im von Gilmour herausgegebenen Sammelbands Call Me The Seeker. Listening to Religion in Popular Music (2005) fokussieren die religiösen Quellen von populärmusikalischen Produktionen wie beispielsweise die kabbalistischen Einflüsse in Bob Dylans Album »Infidels«. Zudem werden die besungenen religiösen Themen analysiert, z.B. die apokalyptischen Vorstellungen im Musical »Les Misérables«. Auch Gründer setzt sich mit religiösen Elementen in der Musik auseinander, indem er die Rezeption germanischer Mythologie in der Ritualmusik deutscher Asatru-Gruppen und im Neofolk vergleicht. Er stellt fest, dass es sich um zwei unterschiedliche Arten der Rezeption handelt: Im Neofolk werde primär über germanische Götter gesungen, während bei religiösen Neuheiden der Gesang der Anrufung und der Kommunikation mit den
36
Adorno 1962, 44f.
37
Vgl. Iggers 2007, 124; Kotarba/Vannini 2009, x, xi, 2.
42 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
Göttern diene.38 Ob dieses Ergebnis auch für den Pagan Metal gilt, wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen. Neben religiösen Anspielungen in der Populärmusik wird der Haltung und dem Umgang religiöser Akteure mit Populärmusik nachgegangen. Häger untersucht die Veränderungen in der Positionierung von »Livets Ord«, einer schwedischen, neupfingstlerischen Gemeinde gegenüber christlicher Rock-Musik. Was mit Akzeptanz und der Einbindung christlicher RockMusik in den Gottesdiensten begonnen habe, endete mit harscher Kritik, insbesondere am »säkularen Lebensstil« der Musiker, was die christliche Hardrock-Band »Jerusalem« zum Verlassen der Gemeinde bewegte.39 Ähnlich setzt sich Kahn-Harris mit zeitgenössischer jüdischer Musik und ihrer unterschiedlichen Aufnahme in der amerikanischen und britischen jüdischen Gemeinschaft auseinander. Während religiös-jüdische Populärmusik in amerikanischen Synagogen des liberalen Judentums zu einem etablierten Bestandteil der Liturgie wurde, reagierten jüdische Gemeinden in Großbritannien aufgrund institutioneller und kultureller Faktoren reservierter. 40 Larsson beschäftigt sich mit Yusuf Islam, dem vor seiner Konversion zum Islam als Cat Stevens bekannten Sänger, und seiner Stellung gegenüber Musik. Yusuf Islam blieb zwei Jahrzehnte der von ihm als gefährlich eingestuften Musikindustrie fern. Sein musikalisches Comeback Ende der 1990er zeugte von einem Wandel in seiner Einstellung. Musik konnte legitim sein, falls sie moralischen Normen entsprach und die Verehrung Allahs nicht beeinträchtigte.41 Wie die obigen Studien zeigen, können sich religiöse Akteure gegenüber Populärmusik in einem Spektrum von affirmativ bis hin zu ablehnend positionieren. Dasselbe gilt für Vertreter der Populärmusik, die Religion unterstützen oder auch kritisieren können. So untersucht Murphy nicht nur die Reaktionen der katholischen Kirche in Irland gegenüber der PunkBewegung, sondern auch wie sich Punk-Musiker Ende der 1970er Jahre in Liedtexten und während Interviews zur Kirche äußerten. Neben satirischen und polemischen Liedern und Aussagen gab es Punk-Musiker, die die Kirche und katholische Werte bejahten. Murphy stellte somit fest, dass »[...]
38
Vgl. Gründer 2010a, 233.
39
Vgl. Häger 2011, 16, 19-23.
40
Vgl. Kahn-Harris 2011, 82-87.
41
Vgl. Larsson 2011, 92f., 104.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 43
when it came to religion, the second-generation Irish who were active [in] the punk movement were literally not singing from the same hymn sheet.«42 Des Weiteren interessieren sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die Funktionen und Merkmale von Musik, einerseits als Medium religiöser Individuen und Gruppen, andererseits als ein autonomes, von der Religion sozusagen emanzipiertes Medium, das unter anderem religiöse Orientierungsfunktionen übernehmen kann. Neben der empirischen Untersuchung emisch-religiöser Konzepte zur Wirkung und Funktion von Musik beschäftigt sich Laack mit der Rolle von Musik in Konstruktionsprozessen kollektiver Identität und stellt die These auf, dass sich Individuen über körperlich intensiv erfahrbare Musik mit einer religiösen Tradition identifizieren können. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihren Inhalten könne demgegenüber sekundär sein. Dadurch komme die Musik zugleich menschlichen Bedürfnissen nach Gemeinschaft nach.43 Auch Spychiger schreibt Musik eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu. Außerdem könne Musik ähnlich wie Religion der persönlichen Emotionsregulierung und der Bewältigung von Problemen dienen und in Anlehnung an den Theologen Paul Tillich (1886-1965) eine »Dimension der Tiefe« aufweisen. Diese Gemeinsamkeiten bringen Spychiger zur Hypothese, dass Musik ein potentielles Religionssubstitut darstellt. In ihrer empirischen Studie stellt sie schließlich fest, dass einige Befragte der Musik eine spirituelle Bedeutung, eine Tillich’sche »Dimension der Tiefe« zuschreiben, andere wiederum eine klare Gegenposition einnehmen und in der Musik keine religiöse Dimension erleben. Musik übernehme folglich für manche nicht-religiösen Menschen die Rolle der Religion. Trotzdem will Spychiger Musik nicht mit Religion gleichsetzen, was sie jedoch nicht genauer elaboriert.44
42
Murphy 2015, 55.
43
Vgl. Laack 2011, 52-54, 625. Laack versteht ihre Studie als einen Beitrag für die Religionsmusikologie. Sie setzt sich dabei für die Etablierung dieses Forschungsbereichs als Subdisziplin der Religionswissenschaft ein. Vgl. Laack 2011, 46-51.
44
Vgl. Spychiger 2013, 187, 191-194, 196.
44 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
Ein anderer Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geht ähnlich wie Spychiger auf Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Religion ein. Resultat dieses Vergleichs ist allerdings eine Konzeptionalisierung von Musik als eine moderne oder auch postmoderne Form von Religion.45 Diese Perspektive liegt beispielsweise Sylvans Analyse von Populärmusik zugrunde: [...] the musical subculture provides almost everything for its adherents that a traditional religion would. In the heat of the music, it provides a powerful religious experience which is [...] an encounter with the numinous that is at the core of all religions. It provides a form of ritual activity and communal ceremony that regularly and reliably produces such experiences through concrete practices, something that all religions do. It provides a philosophy and worldview that makes sense of these experiences and translates them into a code for living one’s day-to-day life, somehting that all religions do. Finally, it provides a cultural identity, a social structure, and a sense of belonging to a community, something that all religions do. [...] Clearly, this is not religion in the form that one would normally expect to find it, but it is, I contend, religion nevertheless.46
Sylvan sowie andere Autorinnen und Autoren, die eine solche Deutung von Musik vertreten, ziehen Aspekte wie Erfahrung, Gemeinschaft, Identität, Ritual und Weltsicht heran, die nach ihrem Verständnis charakteristische Komponenten für Religion sind, und verwenden diese als Schablone, um Musik zu analysieren und ihr schließlich das Prädikat »religiös« zu verleihen. Um die religiöse Natur des zu untersuchenden Phänomens zu beweisen, wird häufig auf außergewöhnliche Erfahrungen während Konzerten und Tanzveranstaltungen verwiesen: The most conclusive pieces of evidence of spirituality and religion within EDMC [Electronic Dance Music Culture, d. Autorin] are the innumerable accounts of transcendent experiences described by clubbers themselves. [...] They recount, again and again, individual mystical experiences of transcendence and rapture.47
45
Vgl. Sylvan 2002, 4f.; Till 2011, 161.
46
Sylvan 2002, 4f.
47
Till 2011, 151.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 45
Jennings beschreibt die intensiven Hochgefühle, die er selber und von ihm interviewte Personen während des Besuchs des West Coast Blues & Roots Festivals erlebten, als »proto-religiös«: »Such experiences taking place in the WCBR can be classified generally as proto-religious phenomena. They are tastes of religion without some of the formal trappings of organised religion.«48 Religion muss nach Jennings eine institutionalisierte Form aufweisen, so dass Erfahrungen allein konsequenterweise noch keine Religion konstitutieren, aber die Basis für ihre Entstehung schaffen.49 Ferner interpretiert Jennings seine eigenen Konzerterlebnisse unter Rückgriff auf den Theologen Rudolf Otto (1869-1937) als Begegnung mit dem Numinosen: My field notes on Eric Burdon’s set at the WCBR record a deep experience of unity with the people around me and a loss of self-conciousness as I was swept away along with other participants in Burdon’s performance.50 This experience cannot really be explained, articulated or captured. It is too large and deep to be held by description and phrase. The significance of such an experience is also beyond comprehension. These characteristics fit with Otto’s ideas about the numinous experience [...].51
Forscherinnen und Forscher berufen sich außerdem auf Selbst- und Fremdzeugnisse, die von intensiven Gefühlen der Verbundenheit und Einheit sowie Liebe zwischen den Teilnehmenden an Konzert- und Tanzveranstaltungen berichten und legen diese als Erfahrungen von Victor Turners (1920-1983) »Communitas« und Émile Durkheims (1858-1917) »kollektiver Efferveszenz« aus. Da Gemeinschaftserleben und Gefühle von Ekstase gemäß Turner und Durkheim wichtige Bestandteile religiöser Rituale darstellen, werden diese als Indiz für das Vorliegen eines religiösen Phänomens gedeutet.52 Neben den Erfahrungen werden auch diejenigen Akteure, die solche stimulieren, also Musiker und DJs und deren Rolle beleuchtet. DJs an Raves legen nicht nur einfach Musik auf, sondern würden auch als
48
Jennings 2014, 171.
49
Vgl. Jennings 2014, 207.
50
Jennings 2014, 200.
51
Jennings 2014, 176.
52
Vgl. Jennings 2014, 133f., 153f.; Olaveson 2004, 87f.; Sylvan 2005, 102; Till 2011, 156.
46 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
»Technoschamanen« fungieren, die »the power to take [their] dancers on an ›ecstatic‹ journey«53 hätten.54 Auch beim australischen Sänger Xavier Rudd handelt es sich gemäß Jennings um einen Schamanen, der glaubt, durch seine Musik Geister zu channeln und der das Publikum in Trance versetzen könne: [...] the fact that he claims that spirits communicate to and through him confirms his status as a conduit to the spirit world, which is the role of the traditional shaman. His ability to excite devotion and ecstatic trance through his performance [...] is further evidence of Rudd’s shamanic status as one who mediates ecstasy and performs superhuman deeds.55
Als weiteren Beleg für den religiösen Charakter musikalischer Aktivitäten beziehen sich die Forschenden auf Ähnlichkeiten zwischen Raves und Besessenheitsritualen. Gemeinsame Merkmale seien rhythmische Musik als Stimulus, ausgedehntes Tanzen, Schlafentzug, Fasten und schließlich der veränderte Bewusstseinszustand. 56 Till sieht signifikante Ähnlichkeiten zwischen ethnomusikologischen Beschreibungen von Trance-Zuständen in afrikanischen Besessenheitsritualen und seinen eigenen Beobachtungen, die er während Raves von drogeninduzierten Zuständen der Clubbesucherinnen und -besuchern gemacht hat.57 Eine weitere Aktivität, der eine rituelle Dimension zugeschrieben wird, ist das Betreten des Clubs. So erklärt Till: »Queuing rituals provide a transition from the outside world to the fantasy world within, a sense of delineation between the profane or mundane outside and the sacred or special inside.«58 Das Eintreten in den Club bezeichnet Till entsprechend als Passageritus.59 Doch auch der Drogenkonsum gehöre zu den rituellen Praktiken der elektronischen Tanzmusik-Kultur, was »the
53
Takahashi 2005, 261.
54
Vgl. Takahashi 2005, 242.
55
Jennings 2014, 183.
56
Vgl. Takahashi 2005, 240; Till 2011, 153.
57
Vgl. Till 2011, 154.
58
Till 2011, 150.
59
Vgl. Till 2011, 149.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 47
rituals of finding drugs, smuggling them into clubs, taking them, discussing them and recovering from them«60 beinhalte. Das Vorgehen der oben erwähnten Autorinnen und Autoren ist in mehrerer Hinsicht problematisch. Jennings beispielsweise stützt sich überwiegend auf Selbstbeobachtungen, die er dann verallgemeinert. Die von ihm und Sylvan postulierte religiöse Erfahrung des »Numinosen« ist zudem intersubjektiv nicht nachvollziehbar und somit als Kategorie für die empirische Forschung unbrauchbar. Des Weiteren scheinen die Autorinnen und Autoren vergessen zu haben, dass die Frage, ob Musik und damit verbundene Aktivitäten »religiös« sind oder nicht, vom angewandten Religionskonzept entschieden wird. Je breiter der Begriff gewählt wird, desto eher fällt eine musikalische Aktivität darunter. Die Beurteilung eines Phänomens als religiös sagt uns schlussendlich mehr über das Religionskonzept der Forschenden aus, als dass es über die angeblich »wirkliche Natur« des Phänomens informiert, die gemäß sozialkonstruktivistischen Grundsätzen letztendlich nicht zugänglich ist. Was aber im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik durchaus erfassbar ist, sind die Interpretationen der Betroffenen, wie sie Musik und Religion verstehen. Diese alternative Perspektive liegt meinem methodischen Vorgehen zugrunde.
3.2 M ETAL – EINE R ELIGION ? Auch im Falle der Metal-Musik wird die Frage diskutiert, inwiefern sie ein religiöses Phänomen darstellt. In La religion metal. Première sociologie de la musique metal (2005)61 analysierte die beitragende Autorenschaft Metal aus religionssoziologischer Perspektive, dabei interessierten vor allem die sozialen Praktiken, das Rekurrieren auf religiöse Symbolik und Fragen nach der Religiosität von Metal. Insbesondere Mombelet, Walzer und Bobineau schlagen eine »religiöse« Lesart der sozialen Tatsache »Metal« vor.62 Mombelet, Soziologe und bekennender Metal-Fan, will beispielsweise nach dem Religiösen in den traditionellerweise nicht als religiös geltenden
60
Till 2011, 152.
61
Zeitschrift Sociétés Nr. 88, De Boeck.
62
Vgl. Mombelet/Walzer 2005, 10f.
48 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
Aktivitäten suchen und damit aufzeigen, dass Metal »éclats de religion«63 erzeugt und eine Religiosität bereitstellt.64 Diese »Ausbrüche von Religion« existieren unabhängig von den großen religiösen Traditionen und werden vor allem »dans les rassemblements communiels où se vit le sentiment d’un lien extraordinaire entre les participants«65 manifest. Mombelet fokussiert bei seiner Analyse das Metal-Konzert, das er als »rite contemporain« bezeichnet, worunter er »[…] l’ensemble des manières d’agir à la fois collectives et répétitives, qui renvoie à une transcendance […]«66 versteht. Die Bandmitglieder seien »figures charismatiques porteuses précisément d’un au-delà et relevant de fait de la transcendance«67 und vergleichbar mit dem Idealtypus des Propheten im Weber’schen Sinne. Die These, dass die Bandmitglieder eine Art Transzendenz repräsentieren, will er mit Zitaten belegen, in denen Fans ihre Musiker-Idole als »Götter« beschreiben. Ferner versteht er den Kauf von CDs, das Lesen von Metal-Magazinen, das Tragen von Bandshirts sowie die Mitgliedschaft in einem Fanklub als »culte voué aux prophètes du metal«.68 Außerdem will er die Imitation von Gesten (beispielsweise das Zeigen der Devil Horns69) der Bandmitglieder durch die Fans als imitatio dei verstehen und verweist dabei auf Mircea Eliade (1907-1986), der die Imitation Gottes als Voraussetzung für die Selbsterkenntnis des religiösen Menschen postuliere. Mombelet schlussfolgert: Par conséquent, les métalleux qui imitent leurs dieux le temps du concert, mais aussi par extension au travers de leurs comportements quotidiens (gestes, vêtements, discours) tendent à se sublimer, à se réaliser en tant qu’›hommes religieux‹, c’est-à-dire 70
en tant que fidèles de tel ou tel prophète.
63
Gemäß Mombelet wurde dieser Ausdruck von Françoise Champion geprägt.
64
Vgl. Mombelet 2005, 29.
65
Champion 2003, 179, zit. n. Mombelet 2005, 28.
66
Mombelet 2005, 31.
67
Mombelet 2005, 32.
68
Vgl. Mombelet 2005, 33.
69
Ein in der Metal-Kultur häufig anzutreffendes Handzeichen. Siehe Kap. 4.3.
70
Mombelet 2005, 44.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 49
Im Konzert könne ferner das Heilige 71 erfahren werden: Die Begegnung mit dem Propheten, »qui met en scène des conduites excessives et qui dévoile certains interdits ou ›impossibles à dire‹, tels que la mort, le mal ou le sexe«, verursache im Zuhörer ein zwischen Faszination und Entsetzen oszillierendes Gefühl. Das Heilige werde durch die Efferveszenz, die Durkheim bei Festen australischer Stämme konstatierte, auch während den Metal-Konzerten produziert. All diese Argumente sollen seine These stützen, dass es sich bei einem Metal-Konzert um ein »rite contemporain empreint de religiosité« handelt.72 Das Metal-Konzert erfülle zudem eine gemeinschaftsstiftende Funktion: »[…] les rites […] confortent le sentiment que le groupe social a de lui-même, ils entérinent une identité communautaire et religieuse.«73 Mombelet findet jedoch nicht nur im Metal-Konzert religiöse Dimensionen, sondern er interpretiert die in manchen Metal-Subgenres gängigen Bezüge zur (u.a. keltischen und skandinavischen) Mythologie als Wunsch der Metaller »[de] redonner un sens ainsi qu’une dimension magique à ce monde occidental marqué par la poursuite de la ›sortie de la religion‹«74. Letztendlich spricht Mombelet von einem je nach Individuum unterschiedlich ausgestaltetem »metallischen Glauben« (›foi métallique‹)75, den er jedoch in Anführungszeichen setzt. Ähnliche Überlegungen lassen sich bei der Soziologin Weinstein, die eine auffallende Ähnlichkeit zwischen religiösen Feiern und Zeremonien sowie Metal-Konzerten feststellt. Sie schreibt Metal-Konzerten mit einem Verweis auf Durkheim eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu, die auch religiöse Feiern erfüllen. Ähnlich entdeckt Heinisch in Metal-Konzerten viele Merkmale, die auch »dem Opferritual« (im Singular) eigen seien, wobei er von einem universalen, kulturunabhängigen Opferritual ausgeht. Die Interpretation des Metal-Konzertes als Zeremonie und der Verweis auf seine einigende Wirkung findet sich ferner bei Kosic, Historikerin und Religi-
71
Mombelet arbeitet mit dem Konzept des Heiligen des Soziologen und Philosophen Roger Caillois (1913-1978), der es mit ›[m]élange d’épouvante et de fascination‹ beschrieben habe. Vgl. Mombelet 2005, 45.
72
Vgl. Mombelet 2005, 45.
73
Mombelet 2005, 46.
74
Mombelet 2005, 48.
75
Mombelet 2005, 49.
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onswissenschaftlerin.76 Als kulturelles Symbolsystem im Geertz’schen Sinne biete Metal Identifikationsmöglichkeiten und wecke Sinnstiftungs- sowie Zugehörigkeitsgefühle beispielsweise durch die kollektive Performanz der Horngeste und die uniforme Kleidung. Sie stellt die Vermutung an, dass aufgrund dessen sowie angesichts des während Konzerten entstehenden Gemeinschaftsgefühls Metal quasi-religiöse Funktionen übernehmen kann.77 Weinstein und Heinisch meinen ferner Manifestationen des Heiligen während Metal-Konzerten zu erkennen.78 So nimmt Weinstein in ihrer Wesensbestimmung des Metal-Konzertes Bezug auf Eliades Hierophanie: »[…] metal concerts can be described as hierophanies in which something sacred is revealed. They are experienced as sacred, in contrast to the profane, everyday world.«79. Beim Konzerterlebnis handle es sich somit um eine religiöse Erfahrung. Darüber hinaus erörtert Höpflinger aus religionswissenschaftlichem Blickpunkt, ob die Black Metal-Szene als Neue Religiöse Bewegung erachtet werden kann und unterscheidet dabei eine emische, etische und öffentliche Perspektive. Aus ihren Interviews mit Black Metallern schließt Höpflinger, dass aus deren emischer Sicht »[…] ihr Handeln sowie ihr Weltbild, trotz aller inhaltlicher Relationen zu religiösen Traditionen, meist wenig oder gar nichts mit Religion zu tun«80 haben: Es zeigt sich im Gegenteil eine Tendenz, nicht nur das Christentum, sondern Religionen im Allgemeinen abzulehnen […] Die im Black Metal aufgenommen explizitreligiösen Elemente werden in dieser emischen Sicht als Interesse an der eigenen Kultur gedeutet oder als nicht-religiös wahrgenommen.81
In der Öffentlichkeit herrschten zwei Bilder des Black Metal vor. Einerseits werde »bisweilen eine lineare Verbindung zwischen Black Metal und Sata-
76
Vgl. Kosic 2011, 115.
77
Vgl. Kosic 2011, 109, 114, 118, 120f.
78
Vgl. Heinisch 2011, 416-419.
79
Weinstein 2000, 232.
80
Höpflinger 2010, 235.
81
Höpflinger 2010, 235.
R ELIGION UND P OPULÄRKULTUR | 51
nismus gezogen«82 und andererseits das Phänomen Black Metal »psychologisiert«, indem beispielsweise antichristliche Dimensionen »als nicht ernst zu nehmende jugendliche Provokation oder als Ventil für Frustrationen« 83 dargestellt werden. Als Vertreterin einer etisch-religionswissenschaftlichen Perspektive schlägt Höpflinger die offene Religionsdefinition von Fritz Stolz vor, mit der Black Metal erfasst werden kann: Umreiβt man Religion als umfassendes, Sinn generierendes Orientierungssystem, welches Spannung zwischen für die Menschen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Bereichen problematisiert, kann Black Metal durchaus mit dem Begriff religiös bezeichnet werden. […] zumindest aus Sicht der Befragten [spielt Black Metal] eine zentrale Rolle in nahezu allen Lebensbereichen und [nimmt] eine umfassende Orientierungsfunktion ein. Die Zugehörigkeit zu der Szene stiftet anhand der komplexen Erkennungs- und Abgrenzungsmechanismen Ordnung und Sinn. Es lassen sich eigene Wertvorstellung [sic!], eine eigene Sprache, eine bestimmte Art von Musik sowie eine spezifische Kleidung auffinden. Eine zentrale Stellung in der Repräsentation des Black Metal nehmen semantische Verweise auf traditionelle und neuere religiöse Strömungen ein, diese sind in der Regel in dem Zwischenbereich zwischen dem für die Menschen unkontrollierbaren und dem alltäglich-kontrollierbaren Bereich angesiedelt […]. Thematisiert werden beispielsweise Tod, Krieg, negative Emotionen sowie ethische und juristische Durchbrechungen gesellschaftlicher Re84
geln und Regulierungen.
Alle obigen Autorinnen und Autoren nehmen eine religiöse Dimension in der Metal-Kultur an, die Metal als (quasi-)religiöses Phänomen erscheinen lässt. Sie stellen somit Repräsentanten von Forbes dritten Typus Popular Culture as Religion dar. Es wird einerseits mit einer funktionalen Religionsdefinition argumentiert. So besitze Metal Funktionen, die auch Religion auszeichnen wie beispielsweise ihre gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion. Mit einem funktionalen Religionsverständnis läuft man jedoch Gefahr, nicht mehr zwischen religiösen und nicht religiösen Elementen unterscheiden zu können. Andererseits wird mit einem substanzialistischen Religionskonzept gearbeitet. Hierbei wird postuliert, dass das Heilige sich
82
Höpflinger 2010, 235.
83
Höpflinger 2010, 236.
84
Höpflinger 2010, 236f.
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im Metal-Konzert manifestiere oder erfahrbar sei. Da solche Aussagen mit empirischen Methoden nicht verifizierbar (und auch nicht falsifizierbar) sind, entziehen sie sich letztendlich religionswissenschaftlicher Kompetenz. Höpflinger kombiniert funktionale und substanzialistische Aspekte und legt konsistent dar, dass die Black Metal-Szene unter die Religionsdefinition von Stolz fällt. Da die Frage, ob ein Phänomen eine Religion ist, immer von der jeweiligen Religionsdefinition abhängt, stellt sich die Frage, welchen Nutzen wir aus einem solchen Ergebnis ziehen können. In einem Artikel von Höpflinger & Heesch wird ein anderes Verhältnis zwischen Populärkultur und Religion beschrieben. Hier wird Metal nicht als (quasi-)religiöses Phänomen betrachtet. Die religiösen Elemente werden entsprechend der ersten Kategorie von Forbes, Religion in Popular Culture, als ein Stilelement des Metal verstanden. Ein Pagan Metal-Festival ist für die beiden Autoren nicht ein »heidnisches Ritual« oder eine »EsoterikMesse«, sondern »zuallererst ein Ereignis, bei dem die Fans in der Gemeinschaft Gleichgesinnter ihre Lieblingsmusik hören«85. Schlussendlich findet sich keine absolute Antwort auf die Frage, ob Metal eine Religion ist oder nicht, da diese je nach Religionsdefinition anders ausfällt. Meines Erachtens sollte nicht nach dem vermeintlichen »Wesen« des Metal gefragt werden, sondern danach wie die einzelnen Individuen »Metal« konstruieren. Deshalb wird in Kapitel 11.5 das emische Verständnis der befragten Pagan Metal-Musiker dargelegt.
85
Heesch/Höpflinger 2011, 22.
4 »Long Live The Loud« – Heavy Metal: seine Geschichte, sein Code
4.1 M ETAL S TUDIES Die vorliegende Monographie leistet nicht nur einen Beitrag zum Forschungsbereich Religion und Populärkultur, sondern kann sich auch im jungen Feld der Metal-Forschung situieren, in dem religionswissenschaftliche Studien noch dünn gesäht sind.1 Erste Publikationen zu Metal erschienen in den 1980er Jahren, wobei es sich mehrheitlich um christliche Warnschriften gegen Heavy Metal handelte, die aber ab Ende der 1990er abnahmen. 2 Als wissenschaftliche Klassiker können Deena Weinsteins Heavy Metal. The Music and Its Culture (1991) und Robert Walsers Running with the Devil. Power, Gender, and Madness in Heavy Metal Music (1993) gelten. In der heutigen akademischen Welt ist ein regelrechter Boom hinsichtlich der Metal-Forschung zu verzeichnen.3 Im Jahr 2008 fand in Salzburg die erste globale Konferenz Heavy Fundametalisms – Music, Metal and Politics statt, auf die 2009 sowie 2010 zwei weitere gleichnamige Konferenzen folgten. Die Beiträge wurden in einem Sammelband als E-Book veröffentlicht. Zwischenzeitlich wurde 2009 die Metal and Gender Con-
1
Ein religionswissenschaftlicher Ansatz ist bei Höpflinger 2010 & 2011 zu finden.
2
Vgl. Hubert 2010, 195f.; Roccor 1998, 163.
3
Vgl. Hickam 2015, 6; Kahn-Harris 2009; Scott/Helden 2010, ix.
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ference in Köln ausgerichtet.4 Im deutschsprachigen Raum wurde im Juni 2010 an der HBK Braunschweig eine Konferenz unter dem Titel »Metal matters – Heavy Metal als Kultur und Welt« organisiert, worauf ein Jahr später die Publikation eines 28 Artikel schweren, gleichnamigen Bands folgte.5 Zwischen 2011 und 2015 trafen sich zudem jährlich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für das interdisziplinäre Arbeitsgespräch Hard Wired zusammen. Bei Hard Wired II standen die Methoden, die eine adäquate Erforschung der Musik und Kultur des Metal ermöglichen, im Zentrum der Beiträge. Hard Wired III im Juni 2013 ging der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Metal-Forschung nach.6 Im darauffolgenden Jahr wurde Theatralität, Inszenierung und Performativität im Heavy Metal diskutiert.7 Thema der fünften und aktuellsten Ausgabe von Hard Wired im Mai 2015 war das »Erlernen von und [den] Bildungsprozesse[n] rund um Heavy Metal sowie der Reflexion der Chancen und Herausforderungen solcher Prozesse«8. Heavy Metal Studies sind im Begriff sich als Forschungsgebiet zu etablieren. Dies zeigen nicht nur regelmäßig stattfindende Konferenzen, sondern auch die im Jahr 2011 ins Leben gerufene International Society for Metal Music Studies (ISMMS), deren Hauptziel es ist: […] to encourage and facilitate trans / interdisciplinary and international academic research regarding processes and phenomena related to heavy metal music and culture and to support the recognition of such research as a significant contribution to 9
academic communities.
Seit 2015 erscheint die von Mitgliedern der ISMMS gegründete Zeitschrift Metal Music Studies drei Mal pro Jahr.10
4
Vgl. Hill/Spracklen 2010, vii; McKinnon/Scott/Sollee 2011, ix; Scott/Helden 2010, ix.
5
Metal Matters o.J.
6
Vgl. Chaker 2012, 1.
7
Vgl. Hard Wired IV o.J.
8
Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik o.J.
9
International Society for Metal Music Studies o.J.
10
Vgl. Hickam 2015, 5-8.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 55
4.2 A NFÄNGE DES H EAVY M ETAL »Heavy Metal has many histories.«11 – Mit dieser Aussage von Weinstein soll hier zu Beginn betont werden, dass sich Autorinnen und Autoren weder über die Vorläufer, den Entstehungszeitpunkt, noch über die erste Heavy Metal-Band oder die Entwicklungsphasen einig sind.12 Auch die Herkunft des Begriffs »Heavy Metal« und wie er seinen Weg in die Populärmusik fand, ist nicht zweifelsfrei nachweisbar. Lange bevor »Heavy Metal« mit Populärmusik in Verbindung gebracht wurde, wurden damit Elemente in der Chemie bezeichnet, die sich durch ihre hohe Molekulardichte und Toxizität (bereits bei leichter Überkonzentration) charakterisieren. Diese Merkmale von Schwermetallen lassen Assoziationen mit Härte und Gefahr zu, die von den Autoren als ideal für die Beschreibung des Musikstils betrachtet werden.13 In der Literatur werden zwei unterschiedliche Musikjournalisten genannt, Lester Bangs und Sandy Pearlman, die erstmals »Heavy Metal« auf Populärmusik anwendeten. Dabei sollen sie sich auf das Werk Nova Express (1964) des amerikanischen Schriftstellers William Burroughs (19141997) berufen haben, in dem die Figur »Heavy Metal Kid« vorkam. Der Ausdruck taucht ferner 1968 im Lied »Born to Be Wild« von Steppenwolf auf. Der Verfasser des Liedtextes wählte die Formulierung »heavy metal thunder«, um das Erlebnis, mit einem lauten Motorrad oder PS-starken Auto auf der Autobahn zu fahren, einzufangen und die dabei erfahrene Schwere der Maschinen und den produzierten Lärm auszudrücken. Anfang der 1970er schließlich begann sich »Heavy Metal« als Genrebezeichnung zu etablieren.14 Musikalisch schöpfte Heavy Metal aus zwei Quellen: Blues Rock und Psychedelic Rock. Vorläufer des Heavy Metal wie The Yardbirds, Cream, Jeff Beck Group und Jimi Hendrix entwickelten den Blues von Musikern wie Muddy Waters und Howlin’ Wolf weiter und legten damit das musikalische Fundament für den Heavy Metal: kräftiges Schlagzeug, schwerer
11
Weinstein 2000, 14.
12
Vgl. Roccor 1998, 17; Walser 1993, 3; Weinstein 2000, 14.
13
Vgl. Christe 2004, 22; Roccor 1998, 29f.; Walser 1993, 8.
14
Vgl. Christe 2004, 22; Roccor 1998, 29f.; Walser 1993, 8; Weinstein 2000, 18-20.
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Bass, verzerrte Gitarre und energiegeladene Stimme. Auch strukturelle Elemente wie Progression und Gitarren-Riffs übernahm der Heavy Metal vom Blues Rock. Als weitere Einflussgrößen werden Psychedelic und Hard Rock-Bands wie Blue Cheer, Iron Butterfly, Steppenwolf und MC5 genannt. Blue Cheer beispielsweise schraubten die Lautstärke hoch, steigerten die Verzerrung und nutzten die akustische Rückkopplung als gewünschten Klangeffekt.15 Die Anfänge des Heavy Metal werden je nach Autor/in in die späten 1960er oder frühen 1970er zurückdatiert. Als Gründungsväter werden vorwiegend die englischen Bands Black Sabbath, Led Zeppelin und Deep Purple angeführt, wobei sie manchmal in Konkurrenz um den Titel »Erfinder des Heavy Metal« stehen. Deep Purple verstand sich selber jedoch nicht als Heavy Metal-Band. 16 Erst die zweite Generation des Heavy Metal, die während den 1970ern aktiv wurde, löste sich vollständig von den Hard Rock-Wurzeln und beanspruchte das Label »Heavy Metal« für sich. Hierzu gehörten unter anderem AC/DC, Judas Priest, Scorpions, Ted Nugent und Rainbow. Während Walser auch Kiss und Aerosmith dazuzählt, ordnet Weinstein die beiden amerikanischen Gruppen dem Hard Rock zu.17 In der zweiten Hälfte der 1970er erlitt der Heavy Metal-Plattenverkauf aufgrund der Popularität von Punk und Disco einen starken Rückgang. Heavy Metal schien dem Tode geweiht, doch während Punk-Bands wie Ramones und Sex Pistols im Scheinwerferlicht standen, wuchs Heavy Metal in deren Schatten weiter an, bis es am Ende der Blütezeit des Punk zur sogenannten New Wave of British Heavy Metal (NWoBHM) kam.18 Mit dem von Musikjournalist Geoff Barton geprägten Terminus »New Wave of British Heavy Metal« wurde das explosionsartige Aufkommen neuer Heavy Metal-Bands um die Jahrzehntwende bezeichnet. Iron Maiden, Motörhead, Saxon und Def Leppard bildeten die Speerspitze der NWoBHM-Bewe-
15
Vgl. Christe 2004, 28; Walser 1993, 9; Weinstein 2000, 16-18.
16
Vgl. Christe 2004, 22, 25; Kahn-Harris 2007, 2; Roccor 1998, 18f., 24f.; Walser 1993, 10; Weinstein 2000, 15. Gemäß einer kleinen Minderheit initiierten Iron Butterfly, Steppenwolf oder Blue Cheer das Heavy Metal-Genre.
17
Vgl. Christe 2004, 32, 35; Walser 1993, 10f.; Weinstein 2000, 20.
18
Vgl. Christe 2004, 40-42; Roccor 1998, 40-43, 46; Walser 1993, 11.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 57
gung. 19 Die Expansion der Metal-Szene in den 1980er führte zu einer enormen Ausdifferenzierung des Genres und zur Entstehung von zahlreichen Substilen wie beispielsweise Glam Metal, Speed/Thrash Metal, Black Metal, Death Metal, Power Metal, Progressive Metal, Symphonic Metal und Christian Metal.20
4.3 C HARAKTERISTIKA DES KLASSISCHEN H EAVY M ETAL Bevor auf die Fragmentierung des Metal-Genres eingegangen wird, in deren Verlauf auch Pagan, Viking und Folk Metal entstanden sind, sollen hier zuerst einige grundlegende Merkmale des Heavy Metal vorgestellt werden. Weinstein verwendet den Begriff »Heavy Metal-Code«, womit sie die akustischen, visuellen und textlichen Konventionen meint, die sich während des goldenen Zeitalters des klassischen Heavy Metal und seiner intensiven Wachstumsphase eingebürgert haben. Ungeachtet der heutigen Diversität des Genres habe sich im Zeitraum von 1976 bis 1983 ein Code herauskristallisiert, der den Kern von Heavy Metal ausmache. Gewisse Aspekte des Codes finden sich bereits vor der vollständigen Herausbildung des Genres und auch nach der Zersplitterung in viele eigenständige Subgenres, die manche Code-Elemente beibehielten, besonders betonten, andere hingegen umformten oder durch neue ersetzten.21 Dies werde ich konkret für den Pagan Metal zu zeigen versuchen. Ein Code ist nicht von Natur aus gegeben, sondern wird von Bands, Fans, Journalisten, der Musikindustrie und
19
Vgl. Christe 2004, 45, 47; Roccor 1998, 48; Walser 1993, 11f.; Weinstein 2000, 44.
20
Vgl. Dunn/McFadyen/Wise 2005, 35’30”-35’57”; Hein 2003, 136f.; Langebach 2007, 40f.; Roccor 1998, 57f.; Walser 1993, 13; Weinstein 2000, 21. Eine umfangreiche, empirische Studie über Christian Metal liefert Moberg 2009. Er fragt unter anderem nach der Funktion und Bedeutung des Christian Metal für Szenegänger. Aus der Perspektive der Musiker und Fans stelle Christian Metal eine alternative Form religiösen Ausdruckes, ein Mittel zur Verbreitung des Evangeliums und eine positive Alternative gegenüber säkularem Metal dar. Vgl. Moberg 2009, 299.
21
Vgl. Weinstein 2000, 21f.
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auch der Wissenschaft definiert und modifiziert. Es handelt sich somit um eine Konstruktion, die aber reale Auswirkungen hat. Verletzt eine Band den Code des Metal-(Sub)genres, kann dies zum Legitimitätsverlust unter den Fans führen. Im Folgenden sollen die akustischen, textlichen, visuellen und die den körperlichen Ausdruck betreffenden Charakteristika des klassischen Heavy Metal der späten 1970er und frühen 1980er präsentiert werden. Das zentrale akustische Kennzeichen von Heavy Metal ist laut Weinstein die hohe Lautstärke. Heavy Metal ist typischerweise laute Musik, deren klangliche Wucht nicht nur mit den Ohren gehört, sondern mit dem ganzen Körper wahrgenommen wird. Die Klanggewalt wird von Bands und Fans nicht als störend oder schmerzhaft sondern als vitalisierend empfunden. Um eine angemessen hohe Dezibel-Anzahl zu erreichen, werden elektronische Verstärker eingesetzt.22 Die E-Gitarre, deren Klang charakteristischerweise durch Effektgeräte verzerrt wird, stellt für Fabien Hein das »Symbol des Heavy Metal« dar. Ihre extreme Verzerrung war ursprünglich ein Störgeräusch, das im Heavy Metal aber absichtlich erzeugt wird und dadurch ein Gefühl der Intensität und Transgression vermittelt.23 Als LeadInstrument ist die E-Gitarre primär für die Melodie verantwortlich. Die im Heavy Metal fast obligatorischen Gitarrensolos unterstreichen ihre Bedeutung.24 Im Gegensatz zur E-Gitarre fungiert der E-Bass hauptsächlich als Rhythmusinstrument. Durch ihn wird Heavy Metal-Musik erst »heavy«.25 Das Heavy Metal-Schlagzeug zeichnet sich durch seine üppige Ausrüstung aus: große Trommel (oftmals mit Doppelpedale), kleine Trommel, Toms in unterschiedlichen Größen und diverse Becken (Ride, Crash, Hi-Hat). Während Metal-Musik zu Beginn eher langsam, fast schwerfällig war, erhöhten die Anfang der 1980er aufkommenden Speed/Thrash Metal-Bands die Schlagzahl deutlich.26 Ferner gehören starke Lungen und belastbare Stimmbänder zur instrumentalen Basisausstattung einer Heavy Metal-Band. Der
22
Vgl. Hein 2003, 140; Walser 1993, 44f.; Weinstein 2000, 23.
23
Vgl. Hein 2003, 138, 140; Walser 1993, 41f.
24
Vgl. Walser 1993, 50; Weinstein 2000, 23f.
25
Vgl. Hein 2003, 139; Weinstein 2000, 24.
26
Vgl. Hein 2003, 141f.; Weinstein 2000, 24.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 59
Sänger27 weist idealerweise eine kraftvolle Stimme auf, mit der er Emotionen wie Schmerz, Trotz, Wut und Begeisterung ausdrückt. Spezialgeräusche wie Schreie verleihen dem Gesang zusätzliche Intensität und lassen ihn aggressiver wirken. Aggressivität und starke Gefühle sind dabei erwünschte, authentisch geltende Eigenschaften. Sanfter, fragiler, klagender, zurückhaltender oder cooler Gesang hingegen widerspräche dem Heavy Metal-Code.28 Die textliche Dimension umfasst Bandnamen, Album- und Liedtitel sowie Liedtexte. Für den Bandnamen wird normalerweise nicht der zivile Name eines Mitglieds gewählt, was dem allgemeinen Rock-Code entspricht. Viele Bandnamen wirken unheilvoll wie beispielsweise Anthrax, Blue Murder, Death SS, Grim Reaper, Manowar, Mayhem, Megadeth, Nuclear Assault, Poison, Scorpions, Slayer, Trouble, Twisted Sister, Whitesnake, Vengeance und Venom. Nicht wenige weisen religiöse Anspielungen auf: Black Sabbath, Dark Angel, Exodus, Holy Moses, Judas Priest, Pentagram und Saint Vitus. Die große Mehrheit der Bandnamen besitzt eine bedrohliche Konnotation. Blumige oder glückverheißende Namen sucht man vergebens. Album- und Liedtitel folgen demselben Code.29 Die besungenen Themen teilt Weinstein in zwei Arten ein: den dionysischen und chaotischen Typus. Dionysische Lieder feiern das hedonistische und freiheitliche Lebensgefühl und extatische Erlebnisse wie Sex, Musikgenuss und Drogenrausch. Sex in Heavy Metal-Liedern hat nichts mit romantischer Liebe zu tun, sondern wird als rein physische Aktivität mit Spaß ohne Verpflichtungen und männlicher Potenz assoziiert. Die Frauen, oftmals als Groupies oder Prostituierte porträtiert, werden dabei auf ihre Rolle im sexuellen Vergnügen beschränkt.30 Wenn über Liebe gesungen wird, dann über die Liebe zur Heavy Metal-Musik. Zahlreiche Metal-Hymnen zelebrieren die Lautstärke, die Härte und Power der Musik. So huldigt das Lied »Long Live The Loud« von Exciter, das diesem Kapitel den Titel gab, voller Stolz die Power von Heavy Metal. Andere Lieder schwärmen von un-
27
Im klassischen Heavy Metal stellten männliche Sänger im Gegensatz zu weiblichen die Norm dar. Vgl. Heesch 2011, 61.
28
Vgl. Heesch 2011, 55f., 60; Hein 2003, 143; Walser 1993, 45; Weinstein 2000, 26.
29
Vgl. Weinstein 2000, 31, 33.
30
Vgl. Roccor 1998, 90; Weinstein 2000, 35f.
60 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
vergesslichen Live-Auftritten und loben ihre Fans für ihre Loyalität. Eine weitere dionysische Erfahrung ist der Drogenkonsum, der im Heavy Metal weitaus weniger thematisiert wird als im Psychedelic Rock und vorwiegend im Rahmen von Trinkliedern gepriesen wird.31 Liedtexte des chaotischen Typus befassen sich mit den unschönen Seiten des Lebens wie Gewalt, Katastrophen, Konflikten, Krankheit, Kriege, Tod und Verbrechen. Chaos bezieht sich nicht nur auf die alltägliche Unordnung, sondern auch auf übernatürliche Schreckensgespenster wie Monster und Zombies. Manche Songs üben ferner Kritik an der Gesellschaft, indem sie auf Entfremdung, Korruption, Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit eingehen. Der »chaotische« Diskurs in den Liedtexten umfasst zudem Rebellion, Widerstand, zivilen Ungehorsam und Befreiung von sozialen Zwängen. Das Singen über chaotische Themen dient nicht nur der Sozialkritik und Provokation, sondern auch der Selbstinszenierung. So suggeriert es das Bild eines knallharten Metallers, der die Grausamkeiten dieser Welt zur Kenntnis nimmt, anstatt angsterfüllt die Augen davor zu verschließen.32 Bemerkenswert ist außerdem, dass »Krieg« als Metapher für Heavy Metal verwendet wird. Diese metaphorische Gleichsetzung hat weniger mit Gewaltverherrlichung zu tun, als vielmehr mit der Stärkung des Gemeinschaftgefühls unter Metallern nach dem Motto »Wir gegen den Rest der Musikwelt«.33 Vom Metal-Code ausgeschlossen sind schließlich Lieder, die Idylle, Harmonie, Romantik, Optimismus oder Hoffnung vermitteln. 34 Metal-Bands lassen sich einerseits von literarischen und filmischen Werken aus Science Fiction, Fantasy insbesondere Sword&Sorcery und dem Horror-Genre inspirieren. Andererseits sind die apokalyptischen Visionen der christlichen Tradition sowie vorchristliche Religionen eine weitere Quelle.35 Aspekte der visuellen Dimension von Heavy Metal sind Band-Logos, Booklet-Artwork, Homepages der Bands, Merchandise-Artikel (BandShirts, -Caps, -Patches, -Buttons, -Poster, -Taschen, -Tassen, usw.), MetalMagazine, Konzertoutfits, Bühnengestaltung und Lichteffekte. Die BandLogos dienen der Wiedererkennung und der Präsentation eines bestimmten
31
Vgl. Roccor 1998, 92; Weinstein 2000, 36f.
32
Vgl. Roccor 1998, 92, 97-99; Weinstein 2000, 38f.
33
Vgl. Heesch 2011, 54.
34
Vgl. Roccor 1998, 90; Weinstein 2000, 35.
35
Vgl. Hein 2003, 153f.; Roccor 1998, 93; Weinstein 2000, 39f.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 61
Images. Als wichtiger Teil des Corporate Designs finden sich Bandlogos nicht nur auf Frontcovern, sondern auf allen möglichen Merchandise-Artikeln. Seit Ende der 1970er Jahre hat sich gemäß Zuch eine bestimmte Form von Bandlogos entwickelt, die sich durch ihre metallisch anmutenden und kantigen Buchstaben eindeutig als Metal-Bandlogo identifizieren lassen. Die silberne Farbe, Glanzeffekte und angedeutete Dreidimensionalität verleihen den Bandlogos ein Stahlfinish, das offensichtlich auf »Metal« anspiele. Zur Gestaltung von Bandlogo (und Albumtitel) werden zudem häufig aus vertikalen und diagonalen Strichen geformte Buchstaben verwendet. Als »metal-typische« Schriftart führt Zuch die Fraktur an. Auf runde Schriften wie Helvetica wird meistens verzichtet, da sie im Gegensatz zu gebrochenen Schriften »Weichheit« kommuniziert. Zudem verleiht ihr das Fehlen von Verzierungen einen neutralen, geordneten Charakter, der im Widerspruch mit dem Heavy Metal-Code steht.36 Auch in Bezug auf das Frontcover hat sich laut Krautkrämer&Petri und Weinstein Ende 1970er, Anfang 1980er eine gestalterische Konvention entwickelt, die bis in die 1990er relativ stabil blieb. Es habe sich zu jener Zeit ein visuelles MetalDispositiv etabliert, das noch heute die Zugehörigkeit zum Metal-Genre zuverlässig kommuniziere. Die Gestaltungsmittel, die dies bewerkstelligen, sind die bereits genannten gebrochenen Schriften, eine an der Mittelachse orientierte Komposition oftmals in Form einer emblemhaften Anordnung der Bildelemente, eine klare Trennung von Bandname, Albumtitel und Bild und eine direkte Bildsprache.37 In den frühen 1990ern begann eine neue Gestaltungsrichtung das Coverdesign von Metal-Bands zu beeinflussen: grunge typography. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Text- und Bildebene, die Bildsprache wird indirekt und uneindeutig. Anstatt der Typografie wird das Bildmotiv für die Assoziation mit dem Metal-Genre ausschlaggebend.38 Heavy Metal-Cover enthalten oftmals ominöse, beunruhigende Bildmotive wie Monsterfratzen, die aus dem Horror-Genre entlehnt sind. Die Covergestaltungen orientieren sich zudem an Stilen wie Science Fiction und Sword&Sorcery. Einige Bands kreieren eine Art Maskottchen, das meist durchgehend auf allen Covern abgebildet wird. So ziert »Eddie«,
36
Vgl. Krautkrämer/Petri 2011, 94-98; Weinstein 2000, 27f.; Zuch 2011, 73, 77f.
37
Vgl. Krautkrämer/Petri 2011, 93f., 97f.; Weinstein 2000, 29.
38
Vgl. Krautkrämer/Petri 2011, 99.
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ein zombieähnliches Wesen mit unheilvoll funkelnden Augen und fletschenden Zähnen die Cover von Iron Maiden.39 Während die Frontcover von Pop-Alben meistens die Musikerinnen und Musiker zeigen, sind im Heavy Metal Nahaufnahmen der Bands als Covermotive eher selten.40 Der Heavy Metal-Farb-Code erlaubt düstere Farben. Schwarz ist dabei die populärste Farbe, vor allem zur Gestaltung des Hintergrunds. An zweiter Stelle der Beliebtheitsskala steht Rot. Das Farbenarrangement wirkt weder harmonisch, ruhig, noch neutral, sondern ist von optischer Intensität und Kontrasten geprägt.41 Alle oben genannten visuellen Stilmittel dienen den Rezipienten zur musikalisch-stilistischen Orientierung. Doch da (insbesondere seit der Genre-Fragmentierung) manche Metal-Cover diesen Gestaltungsprinzipien nicht mehr folgen, wird eine klare Genre-Zuordnung verunmöglicht. Zuch verweist exemplarisch auf die Symphonic Metal-Band Nightwish und The Ocean, eine Progressive/Atmospheric Metal-Band, bei denen die erwähnten Metal-Codes fehlen, so dass ihre Cover nicht eindeutig als Metal-Cover erkennbar sind.42 Eine weitere wichtige visuelle Komponente des Heavy Metal ist das Bühnenoutfit der Bands. Die ersten Heavy Metal-Musiker hatten ein schlichtes optisches Auftreten: Jeans, Hemden oder T-Shirt, Turnschuhe oder Stiefel und die quasi-obligatorischen langen Haare. Mitte der 70er führten Judas Priest den Rocker-Look ein: mit Nieten und Ketten versehene, schwarze Lederkleidung. Eine dritte Option waren Kostüme nach dem Vorbild der Band Kiss, figurbetonende, glitzernde Elastanhosen, auffallende Frisuren und Make-up. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Genres in den 1980er entwickelten die unterschiedlichen Substile schließlich jeweils ihren eigenen ästhetischen Code.43 Schließlich gibt es bestimmte Arten des körperlichen Ausdrucks, die insbesondere während Heavy Metal-Konzerten zu beobachten sind. Die sogenannten Metal Horns oder auch Devil Horns gehören laut Kosic zu den bedeutsamsten Symbolen der Metal-Kultur und sind in allen Metal-Sub-
39
Vgl. Roccor 1998, 101f.; Krautkrämer/Petri 2011, 96; Zuch 2011, 78.
40
Vgl. Weinstein 2000, 29.
41
Vgl. Weinstein 2000, 29
42
Vgl. Zuch 2011, 72-75, 77, 79, 81f.
43
Vgl. Roccor 1998, 105f.; Hein 2003, 144; Weinstein 2000, 29f.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 63
genres anzutreffen. 44 Es handelt sich dabei um ein Handzeichen, wovon zwei Varianten existieren. Bei ersteren bilden Zeigefinger und kleiner Finger die Hörner, Mittel- und Ringfinger sind zur Handfläche geneigt und der Daumen wird über die beiden letzteren gelegt. Die zweite weniger verbreitete Hornvariante unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass der Daumen wie Zeige- und kleiner Finger absteht.45 Ronnie James Dio (19422010), Sänger bei Black Sabbath, behauptete von sich, die gehörnte Hand in den Heavy Metal eingeführt zu haben. Kenntnis davon erlangt habe er durch seine italienisch stämmige Großmutter, die die sogenannte »mano cornuta« zur Abwehr des Bösen Blicks verwendet habe. Neben Ronnie James Dio beansprucht ferner Gene Simmons (*1949), Bassist von Kiss, die Geste als sein Vermächtnis.46 Kosic schreibt ihr eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu: »Durch die gemeinsame Horns-Performanz [sic!] konsolidiert sich im Konzertpublikum der Eindruck einer, wenn auch vor allem situativen, kollektiven Identität.«47 Mit der Performanz der Horngeste signalisiere die betroffene Person den anderen Anwesenden ihre Zugehörigkeit. Sie diene der Integration in die Metal-Kultur und zugleich auch der Abgrenzung nach außen. Der Verwendung dieser Identifikationsgeste durch Nicht-Metaller könne innerhalb der Metal-Kultur mit Ablehnung begegnet werden.48 Ferner diene das Handzeichen der nonverbalen Kommunikation und drückt gemäß Weinstein Dankbarkeit, Freude und Wertschätzung aus. Weitere Ausdrucksformen sind Jubeln, Stampfen, Klatschen und Pfeifen.49 Ungezügeltes Weinen, das insbesondere von Fans an Pop-Konzerten bekannt ist, gehört nicht zum Verhaltenscode des Heavy Metal. Eine Tanzform, die häufig im Heavy Metal praktiziert wird, ist das Headbanging. Mit Headbanging ist nicht wörtlich das Schlagen des Kopfes gegen etwas Materielles gemeint, sondern der Begriff verweist auf das Schütteln des Kopfes im Rhythmus der Metal-Musik, wobei schnelle Schaukel- sowie Kreisbewegungen ausgeführt werden. Weit verbreitet ist
44
Vgl. Kosic 2011, 111f.
45
Vgl. Kosic 2011, 112.
46
Vgl. Dunn/McFadyen/Wise 2005, 37’52”-38’53”; Weinstein 2000, 322.
47
Kosic 2011, 113.
48
Vgl. Hein 2003, 148; Kosic 2011, 113f.
49
Vgl. Weinstein 2000, 227.
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ferner das »arm thrusting«, bei dem der Arm in einem Winkel von etwa 45 Grad mit einer Faustbewegung in die Luft gestossen wird.50 Im Zuge der Ausdifferenzierung des Heavy Metal wurden einige Tanzstile des (Hardcore-)Punk in den neu entstandenen Thrash Metal importiert, die gemäß Weinstein in anderen Subgenres nicht gängig sind. Beim sogenannten Pogo hüpfen die Tanzenden auf der Stelle. Der Ausdruck »Pogo« leitet sich von einem gleichnamigen alten englischen Kinderspielzeug ab, das aus einem senkrechten Stock und zwei seitlich fixierten Fußbrettern bestand. Die Spiralfeder am Ende des Stockes ermöglichte Hüpfbewegungen, die dem Tanzstil ähneln.51 Diese Tanzform hat sich zum Slamdancing und Moshing weiterentwickelt. Der genaue Unterschied zwischen den beiden wird aus der Literatur nicht ganz klar. Bei beiden werden die Mittanzenden absichtlich geschubst und gestossen, wobei der Körperkontakt bei ersterem brutaler sei. In manchen Fällen bildet sich dabei spontan ein Circle Pit, eine Art Kreistanz.52
4.4 A USDIFFERENZIERUNG DES M ETAL -C ODE Im Zuge der Herausbildung unterschiedlicher Subgenres entstanden auch subgenre-spezifische Codes. In den Jahren 1983-1984 hatten sich gemäß Walser und Weinstein zwei Hauptlager etabliert, die unterschiedliche Aspekte des klassischen Heavy Metal weiterpflegten und diese innerhalb der Grenzen des allgemeinen Metal-Code intensivierten. Die eine Gruppe, repräsentiert durch Bands wie Def Leppard, Mötley Crüe, Van Halen, Twisted Sisters, W.A.S.P. und Bon Jovi, betonten die Melodie und dionysische Themen, während sich das andere Lager, angeführt von Metallica, Megadeth, Anthrax und Slayer, auf den Rhythmus und den chaotischen Typus von Liedern konzentrierte. Die Melodie-orientierten Bands erfreuten sich großer Beliebtheit auch beim nicht-metallischen Publikum und erhielten vermehrt Airplay im Radio und auf MTV. Sie wurden als Glam Metal, Melodic Metal und Pop Metal bezeichnet, wobei »Glam« auf ihre farbenfrohen Bühnenkostüme und »Pop« auf ihre breite Popularität verwiesen.
50
Vgl. Philips/Cogan 2009, 110; Wicke/Wieland/Ziegenrücker 2007, 311.
51
Vgl. Wicke/Wieland/Ziegenrücker 2007, 538.
52
Vgl. Hein 2003, 147f.; Weinstein 2000, 228-230.
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Weinstein verwendet »Lite Metal« als neutralen Begriff, der auf »the removal of the thick bottom sound of traditional heavy metal« hindeuten soll. Walser versteht diesen jedoch als pejorativ, wie andere Ausdrücke, die von Vertretern des zweiten Lagers gewählt wurden, um Pop Metal-Bands zu delegitimieren. Mit »Poser Metal« wurde ihre Authentizität in Frage gestellt. »Hair Metal« und »Poodle Bands« spielten spöttisch auf die gestylten, meist hochtoupierten Haare der Musiker an. Das gegnerische Lager wurde als »Thrash Metal« oder auch »Speed Metal« bekannt. Sie verstanden sich als »Underground Metal« und verurteilten die in ihren Augen zu liberale und kommerzielle Natur und den Massencharakter des Pop Metal. Musikalisch zeichnen sie sich durch ihre extremere und aggressivere Spielweise aus, insbesondere das schnellere Tempo und der vermehrte Einsatz von Kehlgesang unterscheiden sie vom Pop Metal. Die musikalische Brutalität wurde durch die Selektion ausschließlich chaotischer Liedtexte frei von jeglichen dionysischen Elementen ergänzt.53 Aus dem Thrash Metal ging Mitte der 1980er mit Bands wie Death und Possessed das Subgenre Death Metal hervor. Die verbale Dimension des klassischen Heavy Metal erfuhr hier eine weitergehendere Einengung auf Themen wie Tod, Folter, Krankheit und Verfall. Die morbiden, vom Gore-Film inspirierten Texte sind aufgrund des stark verzerrten, gutturalen Gesangs praktisch unverständlich. Tief gestimmte E-Gitarren sorgen für die entsprechende düstere Atmosphäre.54 Ein weiterer Abkömmling des Thrash Metal ist der berühmt-berüchtigte Black Metal. Zusammen mit Death und Thrash Metal wird er oft unter dem Oberbegriff »Extreme Metal« subsumiert. Black Metal formierte sich in den frühen 1980er mit Venom aus England, Bathory aus Schweden, den Dänen Mercyful Fate und den Schweizern Hellhammer (spätere Neugründung als Celtic Frost). Black Metal-Bands richten ihr Konzept auf den Teufel und das Böse aus. Die provokative Verwendung der Figur des Teufels ist zwar keine Erfindung des Black Metal, sondern war bereits im Hard Rock und klassischen Heavy Metal gängige Praxis, wird im Black Metal
53
Walser 1993, 13f.; Weinstein 2000, 45-52.
54
Vgl. Hein 2003, 90-92; Kahn-Harris 2007, 3; Roccor 1998, 94; Weinstein 2000, 51.
66 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
aber auf die Spitze getrieben.55 Ende der 1980er entstand in Norwegen die sogenannte zweite Generation des Black Metal. Erst dann begannen sich musikalisch und auch optisch distinktive Black Metal-Konventionen zu entwickeln. Kern der norwegischen Szene bildeten Mayhem, Darkthrone, Burzum, Immortal und Emperor, die sich als »Black Circle« oder auch »Inner Circle« bezeichneten. Dieser exklusive Klub machte mit Grabschändungen, Kirchenbrandstiftungen und Morden Schlagzeilen. Er ging schließlich unter, als ein Teil seiner Mitglieder entweder Gefängnisstrafen verbüsste oder verstorben war. Nichtdestotrotz inspirierte der norwegische Black Metal ab Mitte der 1990er Metal-Bands weltweit.56 Akustisch zeichnet sich der Black Metal durch gutturalen Gesang meistens in Form von hohem Kreischen aus, im Vergleich zum tiefen Growling, das im Death Metal üblich ist. Typisch sind zudem Lo-Fi Produktionen, deren Klang »schmutzig«, »primitiv« wirkt. Die E-Gitarren werden im Gegensatz zum Death Metal nicht tiefergestimmt. Textlich wird im Black Metal Satan fokussiert, gegenüber dem eine affirmative Position eingenommen wird. Komplementär dazu werden antichristliche Motive verwendet. Pseudonyme sind in der Black Metal-Szene sehr beliebt und sollen zum geheimnisvollen Image der Musiker beitragen. Bei der Wahl der Pseudonyme, aber auch der Bandnamen lassen sich die Musiker von antiker Mythologie, apokalyptischen Schriften der jüdisch-christlichen Tradition, der Satanischen Bibel von Anton Szandor LaVey (1930-1997) oder auch J. R. R. Tolkiens (1892-1973) Werken inspirieren.57 Analog zur liedtextlichen Ebene zieren Pentagramme, umgedrehte Kreuze, die Zahl des Tieres (666) und der Baphomet Black Metal-Cover. So stellte H. R. Giger sein Werk »Satan I« kostenlos für das Albumcover »To Mega Therion« von Celtic Frost zur Verfügung. Anfang der 1990er wurde das ikonografische Repertoire um Naturdarstellungen, insbesondere Wälder und schneebedeckte, einsame Felder erweitert. Farblich ist eine reine Schwarzweiß-Gestaltung vorherrschend, die die gewünschte düstere, apokalyptische Atmosphäre verstärkt. Bandlogos sind oftmals nur sehr schwer lesbar, was gemäß Hein und Zuch
55
Mehr zu Teufelsdarstellungen in der Rock-Musik und im Heavy Metal siehe Trummer 2011a.
56
Vgl. Christe 2004, 282, 285-290, 296; Hein 2003, 61-64; Trummer 2011b, 431f.; Zuch 2011, 78.
57
Vgl. Hein 2003, 62; Kahn-Harris 2007, 4, 32, 38.
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dem mysteriösen Bild, das Teile der Black Metal-Szene von sich selber kultivieren, geschuldet ist.58 Der vestimentäre Black Metal-Code umfasst vorwiegend schwarze Kleidung, schwere Stiefel, eine mit Band-Aufnähern und/oder Nieten versehene Lederjacke, zuweilen einen Patronengürtel, Nietenarmbänder und Schmuck wie beispielsweise Pentagramme oder Petruskreuze. Während Konzerten und Fotoshootings ist ferner das sogenannte Corpsepaint (»Leichenbemalung«) oft anzutreffen. Es handelt sich dabei um eine Schminkart, bei der das Gesicht weiß und Augen- sowie Mundpartie schwarz bemalt werden. Darüber hinaus werden gelegentlich schwarze Muster wie beispielsweise ein verkehrtes Kreuz aufgetragen.59 Das Erscheinungsbild hat gemäß Höpflinger eine wichtige soziale Bedeutung, denn es grenzt die Black Metaller einerseits gegenüber einer von ihnen konstruierten Umwelt ab und dient andererseits als Erkennungsmerkmal unter Gleichgesinnten. Ferner würden Black Metaller ihre Kleidung als Kommunikationsmittel verstehen und dementsprechend einsetzen. So könne damit die eigene Einstellung und Weltsicht nach außen getragen werden. Laut den von Höpflinger befragten Black Metallern drücken sie auf diese Weise eine Abneigung gegenüber der Gesellschaft aus und fordern deren Werte heraus.60 Dass manche Black Metal-Bands mit dieser vestimentären Norm nicht konform gehen, zeigt Mikael Sarelin im Rahmen einer Gender-Studie. Er untersucht die Performanz von Männlichkeit während Black Metal-Konzerten und zeigt an Fallbeispielen, wie die heterosexuelle Matrix unter anderem vom Sänger von Enochian Crescent durch das Tragen eines weißen Korsetts, kniehohen Plateaustiefeln und grün lackierten Nägeln gebrochen wurde. Das Herausfordern des Dresscodes und der im Black Metal vorherrschenden Heteronormativität deutet er als ein Mittel, um zu provozieren sowie zu schockieren und um die im Black Metal hoch geschätzte Individualität zu bezeugen.61 Es gibt im Black Metal somit auch einen Code in Bezug auf Gender. So ist die Black Metal-Szene wie Heavy Metal im Allgemeinen stark männlich
58
Vgl. Christe 2004, 124; Hein 2003, 62; Leichsenring 2011, 293; Zuch 2011, 78f.
59
Vgl. Höpflinger 2010, 228, 232.
60
Vgl. Höpflinger 2010, 225, 227, 229f.; Höpflinger 2008, 72.
61
Vgl. Sarelin 2010, 63-65, 67.
68 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
geprägt. Zwar steigt der Anteil an Frauen insbesondere unter den Fans stetig, weibliche Bandmitglieder sind aber immer noch eine Ausnahme.62 Sarah Chaker untersuchte Frauenbilder im Black und Death Metal und stellte dabei fest, dass in beiden Subgenres zumeist auf die Darstellung von Frauen verzichtet wird. Das Weibliche werde in Texten und Albumikonographie allenfalls als »Femme fatale« und wesentlich häufiger als »Femme fragile« oder »Femme enfant« konstruiert. Entsprechend seien weibliche Fans und Musikerinnen unterrepräsentiert. Gründe für den kleinen Frauenanteil unter den Mitgliedern der Death und Black Metal-Szene sieht sie in den mangelnden Identifikationsmöglichkeiten, dem frauenfeindlichen Image des Black Metal und in einer geschlechtsspezifischen Sozialisierung.63 Es existieren aber auch andere Frauenbilder im Black-Metal, mit denen sich Frauen identifizieren können, wie Heesch anhand der rein weiblichen Black Metal-Band Astarte und ihrer Rezeption des Sirenenmythos zeigt. Astarte distanzieren sich mit ihrer Sirenendarstellung vom im Metal dominierenden Frauenbild, indem sie die Sirenen in den Texten und visuell auf dem Cover als gefährliche und machtvolle Todesdämoninnen darstellen und ihrem aggressiven und dämonischen Wesen mit Schreien und Growls musikalisch Ausdruck verleihen. Ihr Sirenenbild stehe für ›female power and strength‹.64
4.5 P AGAN , V IKING UND F OLK M ETAL Anfang der 1990er gehen schließlich die für dieses Buch relevanten Subgenres Pagan und Viking Metal aus dem Black Metal hervor. Als Initiator des Viking Metal wird in der Literatur übereinstimmend die schwedische Band Bathory angeführt. Mit dem Erscheinen des Albums »Blood, Fire, Death« im Jahre 198865 distanzieren sich Bathory vom Black Metal und verlagern ihren Schwerpunkt weg vom Teufel und der Hölle hin zur Wi-
62
Vgl. Helden 2013, 301, 305.
63
Vgl. Chaker 2007, 129, 137, 147.
64
Vgl. Heesch 2009, 389, 399-401.
65
Als einziger führt Bénard das Jahr 1987 an. Vgl. Bénard 2004, 56.
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kingerzeit.66 Gründer der Band, Thomas »Quorthon« Forsberg, erklärt die konzeptuelle Richtungsänderung folgendermaßen: It actually started with the decline of enthusiasm for yet another full length album packed with screams of satan etc., and all this due to the fact that I came to the personal conclusion that this whole satanic bit was a fake: A hoax created by another hoax - the Christian church, the very institution and way of life that we wanted to give a nice big fat ball breaker of a kick, by picking up the satanic and occult topics in our lyrics, in the first place. […] Since I am an avid fan of history, the natural step would be to find something in history that could replace a thing like the dark (not necessarily always the evil) side of life (and death). And what could be more simple and natural than to pick up on the Viking era. Great era, and great material for metal lyrics. Being Swedish and all, having a personal relation to, and linked by blood to […] And so that satan and hell type of soup was changed for proud and strong nordsmen, shiny blades of broadswords, dragon ships and a party- ‘til-you-puke type of living up there in the great halls... an image of my ancestors and that era not too far away from the romanticised and, to a great extent, utterly wrong image most people have of that period in time through countless Hollywood productions etc.
67
Eine weitere als besonders einflussreich eingestufte Viking Metal-Band sind Enslaved aus Norwegen, die zu den ersten gehören, die ihre Heimatsprache für die Liedtexte wählen.68 Pionierbands des fast zeitgleich entstandenen Pagan Metal sind gemäß Weinstein Primordial aus Irland und Amorphis aus Finnland. Auch die englischen Skyclad zählt Weinstein zum Pagan Metal, obwohl diese sich selber als »originators of ›Folk Metal‹«69 verstehen. Diese Zuordnung resultiert aus Weinsteins Verwendung von »Pagan Metal« als Oberbegriff, unter den sie Viking und Folk Metal subsumiert.70 Eine Unterscheidung zwischen Viking, Pagan und Folk Metal
66
Vgl. Bénard 2004, 55f.; Langebach 2007, 39f., 50; Helden 2010a, 257f.; Helden 2010b, 33f. Einzig Weinstein nennt das zwei Jahre später erschienene Album »Hammerheart« als Genre-begründend. Vgl. Weinstein 2013, 60.
67
Quorthon 1996.
68
Vgl. Bénard 2009, 66f.; Langebach 2007, 50f.; Helden 2010b, 34.
69
Homepage von Skyclad.
70
Vgl. Weinstein 2013, 60, 64f.
70 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
gestaltet sich schwierig und bezüglich der dafür notwendigen Kriterien besteht kein Konsens. Im Musikjournalismus sowie in der Wissenschaft werden Versuche unternommen, die drei einander verwandten und sich manchmal überlappenden Metal-Subgenres voneinander abzugrenzen. Weinstein erklärt, dass Pagan und Folk Metal von vielen Bands, Fans und Plattenfirmen als Synonyme gebraucht werden. Manchmal aber würden Bands als »Folk Metal« bezeichnet, um zu signalisieren, dass sie im Gegensatz zum Pagan Metal nicht aus dem Black Metal hervorgingen.71 Gemäß Wanzek unterscheidet sich Folk Metal von Pagan und Viking Metal unter anderem bezüglich der Instrumentierung. So zeichne sich der Folk Metal durch eine »Bereicherung des Klangbilds mittels folkloristischer Instrumente und/oder Melodien bzw. der Neueinspielung alter Lieder« aus.72 Beim Pagan sowie Viking Metal werde hingegen die inhaltliche Komponente betont.73 Genauso versteht Bénard den Viking Metal im Gegensatz zum Folk Metal als ein »concept lyrique«.74 Viking Metal beschäftige sich ausschließlich mit der nordischen Mythologie und der Wikingerzeit, wohingegen Pagan Metal den Fokus auf nicht-nordische Kulturen wie beispielsweise keltische oder slawische Mythologie lege.75 Manchmal werden die beiden Bezeichnungen auch synonym verwendet.76 Auch unter den Musikern existieren unterschiedliche Betrachtungsweisen. Während der Sänger von Enslaved die Liedtexte als entscheidend für die Etikette »Viking Metal« betrachtet, führt Alan von Primordial neben den Lyrics die Metaphorik, ästhetische Elemente und Motivationen als weitere wichtige Kriterien für die Genrezuteilung an.77 Einige der interviewten Personen erachten die Musik als genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als die inhaltliche Komponente, um die Genrezugehörigkeit zu bestimmen. Schließlich lehnen es viele Bands ab, sich einem bestimmten Subgenre zu-
71
Vgl. Weinstein 2013, 59, 74.
72
Vgl. Wanzek 2007a, 9.
73
Vgl. Helden 2010b, 34.
74
Vgl. Bénard 2004, 58, 60.
75
Vgl. Helden 2011b, 380.
76
Vgl. Heesch 2011, 70.
77
Vgl. Befragter Alan 2012, 8-10; Langebach 2007, 51.
H EAVY M ETAL : SEINE G ESCHICHTE , SEIN C ODE | 71
zuordnen und überlassen die Genrezuteilungen den Journalistinnen und Journalisten.78 Alle drei Subgenres weisen die akustischen Metal-Marker auf. Neben dem klassischen Equipment von E-Gitarre, Bass und Schlagzeug wird üblicherweise auch ein Keyboard und im Falle von Pagan und Folk Metal zudem volkstümliche Musikinstrumente eingesetzt. Im Viking Metal finden traditionelle Instrumente gemäß Bénard und Helden aber kaum Verwendung. Für die Melodie bedienen sich manche Bands lokaler oder überregionaler Volkslieder ihrer Herkunftsländer.79 Auf verbaler Ebene zeichnet sich Pagan Metal80 durch seine Sprachenvielfalt aus. Während im klassischen Heavy Metal Englisch die vorherrschende Sprache darstellte, gibt es viele Bands der drei Subgenres, die die Liedtexte in ihrer Landessprache verfassen. Auch für Bandnamen, Albumund Liedtitel wird oftmals die lokale Sprache gewählt.81 Als typische Motive des Viking Metal nennt Helden die nordische Mythologie, Landschaft und Geschichte, Alkohol und christliche Unterdrückung. Letzteres sei den Black Metal-Wurzeln der Bands zuzuschreiben. Außer dem Verweis auf die Thematisierung von mythologischen Figuren wie Odin, Loki und Heimdall in den Lyrics geht Helden nicht genauer auf die Art und Weise der Rezeption vorchristlicher Mythologie ein, was mit dem vorliegenden Buch nun geleistet werden soll.82 Eine exemplarische Textanalyse findet sich bei Bénard, der anhand des Albums »Tales From The Thousand Lakes« der finnischen Band Amorphis deren umfassende Rezeption des finnischen Epos, dem Kalevala, aufzeigt.83 Beim Artwork von Pagan MetalBands sind gemäß Helden und Bénard kriegerische Szenerien, Naturdarstellungen und Abbildungen von mythologischen Charakteren, Runen,
78
Vgl. Befragter Alan 2012, 25f.; Befragter Jarkko 2011, 190-194; Befragter Chrigel 2011, 9-13, 15-19; Befragter Freddy 2011, 34f.; Halupczok 2010, 29; Befragter Mathias 2011, 67f., 83-93; Befragter Z 2011, 8f.
79
Vgl. Bénard 2004, 58; Helden 2010a, 257; Helden 2010b, 36; Weinstein 2013, 65.
80
Im weiteren Verlauf dient »Pagan Metal« wiederum als Oberbegriff für die drei Subgenres.
81
Vgl. Bénard 2004, 59; Helden 2010b, 35; Weinstein 2013, 65-67.
82
Vgl. Helden 2011a, 120f.; Helden 2010a, 259f.; Helden 2010b, 36.
83
Vgl. Bénard 2004, 62f.
72 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
Drachenbooten und dem Thorshammer gängig.84 Eine tiefergehende Analyse von Liedtexten und Frontcovern oder auch eine breiter angelegte Studie, die über eine exemplarische Untersuchung hinausgeht und den keltischen Kulturraum miteinbezieht, fehlen meines Wissens bis heute. Kapitel 8 und 9 sollen hier Abhilfe schaffen. Visuelle und textliche Naturmotive, die heute einen wichtigen Marker für den Pagan Metal darstellen, waren vor den 1990er im Heavy Metal kaum anzutreffen. Viele Bands bestehen darauf, dass ihr Naturbezug nicht nur Teil ihres künstlerischen Konzepts, sondern auch ihrer Lebenshaltung ist. Diese Naturverbundenheit, die mit einer gewissen Abneigung zur modernen, als konsumorientiert, säkularisiert und urbanisiert wahrgenommenen Welt einhergeht, korrespondiert gemäß Leichsenring teilweise nicht mit dem Metal-Mainstream.85 Die akustische, textliche und visuelle Auseinandersetzung mit vorchristlichen Kulturen geht oftmals mit einer kulturellen Identifikation einher. So sieht sich laut Trafford & Pluskowski und Helden der Großteil der Viking Metal-Bands als Nachfahren der von ihnen besungenen Wikinger, wie das obige Zitat von Quorthon exemplarisch zeigt. Die Vorfahren werden dabei entsprechend dem Heavy Metal Code mit Heldentum, Mut, Männlichkeit und Freiheit assoziiert und als »bad boys« romantisiert.86 Die Vereinnahmung der Wikinger und ihrer Geschichte nehme bei gewissen Bands wie beispielsweise Burzum rassistische und nationalistische Züge an.87 Obwohl sich manche Viking Metal-Bands intensiv mit den Wikingern beschäftigen und dabei unterschiedliche Arten von Nationalbewusstsein entwickeln können, glaubt Helden nicht, dass Anspielungen auf vorchristliche Religionen im Viking Metal »religion-inspiring, like having religious groups« sein können, sondern geht davon aus, dass sie als Marketingstrategie fungieren.88 An anderer Stelle behauptet sie zudem: »With the exception of few examples in the metal scene, there is no close link between Nordic religions and black and viking metal respectively. Heathen religions li-
84
Vgl. Bénard 2004, 64f.; Helden 2010a, 260.
85
Vgl. Leichsenring 2011, 291-293.
86
Vgl. Helden 2010a, 258f.; Trafford/Pluskowski 2007, 58, 70.
87
Vgl. Helden 2010b, 38; Trafford/Pluskowski 2007, 64.
88
Vgl. Helden 2010b, 36.
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ke Odinism have never constituted a vital part of the viking metal scene.«89 Da hierzu jegliche Quellenangaben fehlen, bleibt unklar, wie Helden zu dieser Feststellung kommt. Zur Bedeutung von Religion im Pagan Metal deutet Weinstein lediglich an, dass es bei Pagan Metal-Bands nicht nur um Musik, sondern genauso um Religion und Politik gehe.90 Im Rahmen der vorliegenden Studie soll diese Thematik nun genauer unter die Lupe genommen werden.
89
Helden 2010a, 258.
90
Vgl. Weinstein 2013, 59.
5 Methodisches Vorgehen
Bei der vorliegenden Arbeit wurde ein exploratives Vorgehen gewählt, da es sich beim Untersuchungsgegenstand um ein zwar nicht unerforschtes aber sicherlich noch »unterforschtes« Terrain handelt und nur ein limitiertes persönliches Vorwissen in Bezug auf die Metal-Kultur bestand. Zur Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse dienten unterschiedliche Methoden, die im weiteren Verlauf vorgestellt werden. Der Zugang zum Feld wurde mir durch verschiedene »doorkeeper«1 erleichtert. Einerseits erhielt ich durch Thomas Söllner, den Veranstalter des Fimbul Festivals, Zugang zum Backstage-Bereich und somit zu den Bands. Andererseits ermöglichten die von mir kontaktierten Tourmanager Interviews mit den Bands vor Ort. Nur vereinzelt war eine direkte Kontaktaufnahme mit der Band möglich.
5.1 B EOBACHTUNG Um Einblick in den Ablauf eines Metal-Konzertes und zugleich in einen zentralen Bereich der Metal-Kultur zu erhalten, wählte ich die Methode der Beobachtung. Die Wahl der Festivals erfolgte einerseits nach pragmatischen Kriterien wie dem Datum und der geographischen Nähe und andererseits wurden jene Veranstaltungen berücksichtigt, die sich auf Pagan Metal spezialisieren. Laut Knoblauch existieren unterschiedliche Formen der Beobachtung: Im Gegensatz zu einer verdeckten Beobachtung klärt der Beobachter bei
1
Vgl. Knoblauch 2003, 82.
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der offenen Beobachtung die Untersuchten in Bezug auf seine Beobachtungsabsichten auf. Ferner wird zwischen einer systematischen und unsystematischen Beobachtung unterschieden, wobei erstere mit Hilfe von standardisierten Beobachtungsbögen durchgeführt wird. Während die forschende Person bei einer teilnehmenden Beobachtung an den Aktivitäten der Beobachteten teilnimmt, fehlt bei der nichtteilnehmenden Beobachtung die Partizipation.2 Dass die Grenze zwischen diesen Gegensätzen in der Realität fließend ist, zeigt sich im vorliegenden Fall. Denn obwohl ich mich für eine offene Beobachtung entschied und mit einem kleinen, schwarzen Notizbuch und einem Schreibstift ausgerüstet auch sichtbar als Forscherin auftrat, war den meisten Beobachteten aufgrund ihrer großen Anzahl und dem abgedunkelten Konzertsaal meine Forscherrolle nicht bekannt. Lediglich der Veranstalter des Fimbul Festivals, Thomas Söllner, und einige Tourmanager sowie Bandmitglieder wussten von meinen Forschungsabsichten. Darüber hinaus sprachen mich insgesamt zwei Festivalbesucher auf meine Tätigkeit an. Von einem allzu starken Einfluss meiner Beobachtung auf die Beobachteten kann also nicht ausgegangen werden. In Bezug auf die Strukturiertheit der Beobachtung wurde der Mittelweg gewählt. Ein abgeschlossener Beobachtungsbogen, in dem das Vorkommen von Beobachtungseinheiten markiert wird, hätte gemäß Mayring der explorativen Natur dieser Arbeit widersprochen. Doch auch eine völlig freie, unsystematische Beobachtung erachtet Mayring als nicht sinnvoll, weshalb im vorliegenden Fall eine halbstandardisierte Beobachtung durchgeführt wurde.3 So arbeitete ich mit einem Beobachtungsleitfaden, der beschrieb, was beobachtet werden sollte. Die bereits festgelegten Dimensionen wie vestimentäres Auftreten, Instrumentierung, Bühnenbild und Performanz wurden während der Beobachtung durch Technik und Publikum ergänzt. Ferner handelte es sich um eine passiv teilnehmende Beobachtung; meine Partizipation beschränkte sich auf gelegentliches rhythmisches Fußtippen, Kopfnicken und Beifall. Die während den Festivals festgehaltenen Kurznotizen und mentalen Notizen wurden in einem zweiten Schritt in einen vollständigen Beobachtungsbericht integriert.
2
Vgl. Knoblauch 2003, 73.
3
Vgl. Mayring 2002, 81.
M ETHODISCHES V ORGEHEN
| 77
5.2 L IEDTEXTANALYSE Ziel der Analyse der Liedtexte war es, die darin behandelten Themen herauszuarbeiten. Insgesamt wurden 94 Lieder von 19 Bands untersucht. Die Bands wurden bewusst ausgewählt. Angesichts der globalen Verbreitung von Metal musste eine geographische Einschränkung vorgenommen werden. Berücksichtigt wurden daher Mittel- und Nordeuropa sowie Irland und Frankreich. Der Einbezug der beiden letzten Länder garantierte, dass die Rezeption »keltischer« Thematiken nicht ausschließlich anhand der Schweizer Band Eluveitie untersucht wurde. Die interviewten Bands deckten bereits einen Teil des geographischen Gebietes ab und waren zur Zeit der Untersuchung aktiv. Ferner wurden schwedische und norwegische Bands in die Analyse einbezogen, da einige Pionierbands des Pagan und Viking Metal aus diesen beiden Ländern stammen. Aufgrund meiner spezifischen Sprachkenntnisse wurde zugunsten von Bands mit deutschen, englischen und französischen Liedtexten oder entsprechenden Übersetzungen selektioniert. Schlussendlich wurden Liedtexte von Eluveitie (CH), Excelsis (CH), Korpiklaani (FIN), Finntroll (FIN), Turisas (FIN), Fimbulvet (DE), Slartibartfass (DE), Kromlek (DE), Andras (DE), Negură Bunget (RO), Heidevolk (NL), Enslaved (N), Helheim (N), Primordial (IRL), Cruachan (IRL), Månegarm (S), Vintersorg (S), Heol Telwen (F) und Aes Dana (F) analysiert. Auch bei den Liedern handelte es sich um eine bewusste Auswahl. So wurde versucht, thematisch möglichst unterschiedliche Lieder aus dem Pool jeder Band zu wählen, denn entsprechend der qualitativen Natur der Analyse ging es um die Herausarbeitung der Liedthematiken und nicht um Häufigkeitsangaben oder Repräsentativität. Zudem wurden frühe wie auch späte Alben berücksichtigt. Die Liedtexte wurden in einem ersten Schritt auf die Frage »Was wird hier besungen?« hin durchgelesen und die relevant erscheinenden Begriffe notiert. 4 Dieser Teil der Untersuchung wurde abgeschlossen, sobald die theoretische Sättigung eintrat, d.h. sobald sich die Motive wiederholten und keine neuen Informationen mehr erhoben werden konnten. Anschließend wurden aus den notierten Begriffen thematische Gruppen und somit induktiv Kategorien gebildet. Des Weiteren wur-
4
Sehr kryptische Liedtexte wie beispielsweise manche Lieder von Negură Bunget verwehrten sich der Analyse, da auch keine diesbezüglichen Interviews vorgesehen waren.
78 | »O DIN RULES «: R ELIGION , M EDIEN UND M USIK IM P AGAN M ETAL
de untersucht, wie die Kelten und Germanen in den Liedern dargestellt werden. Hintergrundinformationen zur Liedtextproduktion wurden durch Interviews gewonnen. Von Interesse war einerseits, welche Quellen die Liedtextautoren verwenden und andererseits, welche Aspekte sie als wichtig ansehen.
5.3 C OVERANALYSE Die Coveranalyse zielte darauf ab, herauszufinden, welche Themen auf den Covern auf welche Weise visuell verarbeitet werden. Es wurde dabei nicht das gesamte Booklet-Artwork, sondern nur das Frontcover berücksichtigt. Insgesamt wurden 16 Bands und 76 Cover untersucht. Die Bands wurden mit denselben Überlegungen wie bei der Liedtextanalyse ausgewählt. Außerdem sollte die bewusste Auswahl der Cover eine möglichst diverse Stichprobe gewährleisten. In einem ersten Schritt wurden die Cover hinsichtlich dem Bildinhalt, den verwendeten Farben, den dargestellten Akteuren und Objekten, der Gestaltung des Bandnamens und Albumtitels und der Komposition beschrieben. In einem zweiten Schritt wurde den Gestaltungsmotiven der Cover Bedeutung zugewiesen. Die Bedeutungszuweisung stützte sich auf das eigene Vorwissen, den Albumtitel, Interviews und Liedtexte des untersuchten Albums. Für jedes Album wurde ein Begriff notiert, der die bildimmanente Bedeutung am besten umschreibt. Anschließend wurden die Begriffe nach Ähnlichkeit gruppiert und so Kategorien gebildet. Zusätzlich zur Analyse des Covers wurde der Produktionskontext untersucht. Hierbei war von Interesse, wer die Cover gestaltet, nach welchen Kriterien der Künstler ausgesucht und was bei der Gestaltung als wichtig erachtet wird. Dafür wurden Interviews mit den Bandmitgliedern, die am meisten mit dem Prozess der Covergestaltung zu tun haben, und Coverartists durchgeführt.
M ETHODISCHES V ORGEHEN
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5.4 B EFRAGUNG Befragungen wurden nicht nur durchgeführt, um den Produktionshintergrund der Liedtexte und der Covergestaltung zu erhellen, sondern auch, um Erkenntnisse über die Haltung der Bandmitglieder bezüglich der Religionsbezüge zu gewinnen, die sie textlich in ihren Liedern, durch die Coverikonografie und ihr visuelles Auftreten schaffen. So wurde nach den Positionen bezüglich Religion im Allgemeinen sowie dem Christentum, Heidentum und Neuheidentum im Besonderen gefragt. Ferner sollte das religiöse Selbstkonzept der Bandmitglieder durch die Frage nach der persönlichen Weltanschauung ermittelt werden, um schließlich die Art der Beschäftigung mit vorchristlichen Kulturen festzustellen. Es wurde ein aus offenen Fragen bestehender Fragebogen entwickelt. Befragt wurden Bands, die an den von mir besuchten Festivals auftraten. Einerseits konnte ich auf diese Weise davon ausgehen, dass die befragten Bands noch aktiv sind und andererseits bestand vor Ort die Möglichkeit eines Face-to-Face-Kontaktes, was die Wahrscheinlichkeit der Teilnahmebereitschaft erhöhen sollte. Somit handelte es sich um eine bewusste Auswahl. Beim ersten Festivalbesuch fand die Befragung nicht vor Ort statt, da eine umfassende Beobachtung der Konzerte durchgeführt wurde. Während der kurzen Pausen, in denen die Bühne umgebaut wurde, ging ich Backstage, um die Bands über mein Projekt zu informieren und um ihre Teilnahme zu bitten. Dieses Vorgehen ist mir zudem von Thomas Söllner empfohlen worden, der aufgrund seiner eigenen Forschung Erfahrung im Umgang mit Metal-Bands hat. Angesichts seiner Warnungen stellte ich mich auf schwierige Vorgespräche und Absagen ein und war umso überraschter, als alle Bands zustimmten, die ihnen per E-Mail zugeschickten Fragebögen zu beantworten. Geplant war, mehrere Mitglieder der Band zu befragen, um Vergleiche zwischen dem Liedtextverfasser und den übrigen Bandkollegen zu ziehen. Schlussendlich erhielt ich nach mehrmaliger Erinnerung lediglich sieben der 36 Fragebögen zurück, wobei Mitglieder aus fünf Bands anworteten. Da sich auch die Rücklaufquote meiner Follow-up-Fragen ähnlich gestaltete, entschied ich mich, im weiteren Verlauf Interviews vor Ort durchzuführen. Dabei handelte es sich insgesamt um zehn halbstandardisierte Leitfadeninterviews. Die Wahl fiel auf diese Form der Befragung, weil so einerseits die Vergleichbarkeit der Antworten gegeben ist, da sich alle Befragten zu denselben Themenbereichen äußern, und andererseits
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dennoch die Möglichkeit besteht, sich den situativen Anforderungen anzupassen, wie beispielsweise interessante Punkte zu vertiefen.5 Der ursprüngliche Fragebogen diente als Leitfaden. Befragt wurden Mitglieder von Eluveitie (CH), Korpiklaani (FIN), Finntroll (FIN), Turisas (FIN), Fimbulvet (DE), Slartibartfass (DE), Kromlek (DE), Andras (DE), Negură Bunget (RO), Heidevolk (NL), Trollfest (N), Voluspaa (N), Primordial (IRL) und Sólstafir (IS). Zur Datenaufbereitung wurde eine grobe Transkription in Anlehnung an Du Bois et al. durchgeführt. Alle Redebeiträge wurden mit einer Sigle eingeleitet, wobei der Anfangsbuchstabe des Vornamens der sprechenden Person verwendet wurde. Akustisch Unverständliches wurde mit »XXX« notiert, wo lediglich Unsicherheiten bestanden, wurden die gesprochenen Worte in einfache runde Klammern »( )« gestellt. Eigene Kommentare wurden in doppelten runden Klammern »(( ))« gesetzt. Passagen, die sich von der gewöhnlichen Lautstärke abhoben oder die Sprechqualität betrafen, wurden durch spitze Klammern angezeigt. Laut ausgesprochene Passagen wurden in »F>………