Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren: Dargestellt an ausgewählten Ermittlungsmaßnahmen [1 ed.] 9783428535842, 9783428135844

Das Ermittlungsverfahren stellt heute den entscheidenden Verfahrensabschnitt dar. Fehler der Strafverfolgungsorgane und

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Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren: Dargestellt an ausgewählten Ermittlungsmaßnahmen [1 ed.]
 9783428535842, 9783428135844

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Schriften zum Prozessrecht Band 225

Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren Dargestellt an ausgewählten Ermittlungsmaßnahmen

Von Ines Rohne

Duncker & Humblot · Berlin

INES ROHNE

Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

Schriften zum Prozessrecht Band 225

Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren Dargestellt an ausgewählten Ermittlungsmaßnahmen

Von Ines Rohne

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: werksatz ∙ Büro für Typografie und Buchgestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 978-3-428-13584-4 (Print) ISBN 978-3-428-53584-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83584-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Diese Untersuchung lag dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation vor. Die Arbeit wurde vor Drucklegung auf den Stand von Februar 2011 gebracht. Ich danke insbesondere meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Klaus Rogall, für die gewährte Freiheit in der Wahl und Ausgestaltung des Themas sowie die Unterstützung und wertvollen Hinweise bei der Anfertigung der Arbeit. Während der Zeit, die ich an seinem Lehrstuhl verbringen durfte, hat er mir stets den erforderlichen Freiraum gegeben und wissenschaftliches Arbeiten gelehrt. Herrn Prof. Dr. Klaus Hoffmann-Holland danke ich für die Übernahme und zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gilt meiner Familie, die in der gesamten Promotionszeit viel Geduld und Verständnis bewiesen und mich immer unterstützt und motiviert hat. Dresden, im März 2011

Ines Rohne

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Teil 1 Grundlagen

23

Kapitel 1 Recht auf Verteidigerbeistand nach der Strafprozessordnung

23

A.

Recht auf Verteidigerbeistand aus § 137 Abs. 1 S. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . .

23

B.

Rechtsstellung und Aufgaben des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

C.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

I.

Sinn und Zweck notwendiger Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

II.

Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Katalog des § 140 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schwere des Tatvorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verteidigungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 29 32 33 34 35 36

D.

A.

III. Wahl- und Pflichtverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

IV.

Beiordnung eines Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitpunkt der Verteidigerbeiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dauer der Verteidigerbeiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeit für die Verteidigerbeiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswahl des Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 38 38 39 40

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Kapitel 2 Recht auf Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention

42

EMRK und EGMR im deutschen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

10

Inhaltsverzeichnis I.

EMRK als einfaches Bundesgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II.

Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

III. Rechtsschutz vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

IV.

Bindungswirkung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtskraftwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Orientierungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 45 46

B.

Zeitlicher Geltungsbereich der Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . .

47

C.

Recht auf Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

I.

Recht auf Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

II.

Recht auf freie Verteidigerwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

III. Recht auf Verteidigerbeiordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

IV.

Gesamtbetrachtungslehre des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Kapitel 3 Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

58

A.

Verteidigerbeiordnung nach der StPO und der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

B.

Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren nach der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

D.

I.

Entscheidungen des 1. Strafsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. BGHSt 46, 93 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BGHSt 47, 172 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. BGH NStZ 2004, 450 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. BGH StV 2006, 566 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. BGH StV 2006, 567 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60 65 68 70 71

II.

Entscheidungen des 5. Strafsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. BGHSt 47, 233 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BGH NStZ 2004, 390 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 72 75

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

C.

Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren als Ausdruck des Rechts auf Beweisteilhabe i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung

77

D.

Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren versus Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

E.

Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren versus Autonomie des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

F.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Inhaltsverzeichnis

11

Teil 2 Verteidigerbeiordnung am Beispiel ausgewählter Ermittlungsmaßnahmen

93

Kapitel 1 Beschuldigtenvernehmung

93

A.

Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

B.

Verfahrensprägende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

C.

Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

I.

Verbotene Vernehmungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

II.

Falsche Geständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

III. Fehlerhafte Vernehmungsprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

D.

Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

E.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

I.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

II.

Richterliche, insbesondere haftrichterliche Beschuldigtenvernehmung

110

III. Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Beschuldigtenvernehmung . .

118

IV.

Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

V.

Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

VI. Bisherige Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

Kapitel 2 Zeugenvernehmung

127

A.

Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

B.

Verfahrensprägende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

C.

Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

I.

Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wiedergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 135 136 137

II.

Glaubhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

III. Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

D.

Recht auf Zeugenbefragung aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK . . . . . . . . . . . . . .

140

E.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Identifizierungsgegenüberstellung

147

A.

Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

B.

Verfahrensprägende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

C.

Durchführung der Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

D.

Anwesenheitsrecht des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

E.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

Kapitel 4 Augenscheinseinnahme, insbesondere Tatrekonstruktion

155

A.

Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

B.

Verfahrensprägende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

C.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Kapitel 5 Sachverständigenauswahl

161

A.

Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

B.

Verfahrensprägende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

C.

Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Kapitel 6 Zusammenfassung und Ergebnis

169

Teil 3 Verfahrensrechtliche Aspekte

172

Kapitel 1 Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

172

Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172

I.

Antragspflicht der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172

II.

Antragsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

A.

Inhaltsverzeichnis

13

B.

Bestellungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

C.

Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

D.

Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

E.

Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

F.

Ermittlungsunterbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

G.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Kapitel 2 Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen gegen die Bestellungs- oder Belehrungspflicht

197

Beweisverwertungsverbot bei Verstoß gegen die Bestellungspflicht . . . . . . .

197

I.

Lehren von den Beweisverwertungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtskreistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzzwecklehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten . . . . . . . . . . . . . 4. Abwägungslehre und normative Fehlerfolgenlehre . . . . . . . . . . . . .

197 198 199 200 201

II.

Anwendung der Lehren von den Beweisverwertungsverboten auf einen Verstoß gegen die Bestellungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

A.

III. Stellungnahme zu den Entscheidungen der Rechtsprechung . . . . . . . . 1. BGHSt 46, 93 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BGHSt 47, 172 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. BGH NStZ 2004, 450 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. AG Hamburg StV 2004, 11 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.

209 209 215 217 219

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

B.

Beweisverwertungsverbot bei Verstoß gegen die Belehrungspflicht . . . . . . .

222

C.

(Kein) Widerspruchserfordernis als Voraussetzung eines Beweisverwertungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

D.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Abkürzungsverzeichnis a. A. abl. a. F. AG Alt. AnwBl. AO AöR ArchKrim BayObLG BayObLGSt BbgVerfG Beschl. BGBl. BGH BGHSt BMJ BRAK BRAO BR-Drs. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BZRG CD

DAR DAV

anderer Ansicht ablehnend alte Fassung Amtsgericht Alternative Anwaltsblatt Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Kriminologie Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Brandenburgisches Verfassungsgericht Beschluss Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesministerium der Justiz Bundesrechtsanwaltskammer Bundesrechtsanwaltsordnung Drucksache des Bundesrates Drucksache des Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) Council of Europe – Conseil de l’Europe: Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights – Recueil des Décisions de la Commission Européenne des Droits de l’Homme (amtliche Sammlung der Entscheidungen der Kommission von 1960 bis 1974) Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltsverein

Abkürzungsverzeichnis ders. dies. DR

DRiZ DVBl. ECHR EGGVG EGH EGMR EKMR EMRK EuGRZ EuR FamRZ FG Fn. FS GA gem. GG gg. GrS GS GVG HansOLG h. M. HRLJ HRRS IGH InsO IPbpR IRG i. S. d. i. S. e. i.V. m. JA JGG

15

derselbe dieselbe oder dieselben Council of Europe – Conseil de l’Europe: European Commission of Human Rights – Commission Européenne des Droits de l’Homme, Decisions and Reports – Décisions et Rapports (amtliche Sammlung der Entscheidungen der Kommission von 1975 bis 1998) Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt European Convention on Human Rights Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Entscheidungen des Ehrengerichtshofs für deutsche Rechtsanwälte Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Fußnote oder Fußnoten Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegen Großer Senat Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Hanseatisches Oberlandesgericht herrschende Meinung Human Rights Law Journal Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (Online-Zeitschrift, abrufbar unter http://www.hrr-strafrecht.de) Internationaler Gerichtshof Insolvenzordnung Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen im Sinne des im Sinne eines in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz

16 JR Jura JurBüro JuS JW JZ KG KJ krit. L Ed 2d Lfg. LG m. Anm. MDR MRK MschKrim m.w. N. n. F. NJW NStZ NStZ-RR NVwZ ÖJZ OLG OLGSt o. V. Rep. RG RGBl. RGSt RiStBV Rn. RStPO RUDH RVG SchlHA SchwZStR

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Abkürzungsverzeichnis Series A

StGB StPO StraFo StV StVollzG

Urt. VerfGH RhPf VRS wistra WStG WÜK WVK ZaöRV ZAP ZPO ZRP ZSchwR ZStW zust.

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Publications of the European Court of Human Rights – Publications de la Cour Européenne des Droits de l’Homme (Series A: Judgements and Decisions – Série A: Arrêts et Décisions; amtliche Sammlung bis Ende 1995) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum Strafverteidiger Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) Urteil Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Verkehrsrechtssammlung Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wehrstrafgesetz Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (Wiener Konsularrechtsübereinkommen) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend

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Die englische und französische Originalfassung sowie die deutsche Übersetzung des Art. 6 EMRK sind auszugsweise in Anhang 1 abgedruckt. Die englische Originalfassung sowie die deutsche Übersetzung des Art. 36 WÜK sind in Auszügen in Anhang 2 wiedergegeben. Die Entscheidungen des EGMR sind in den Gerichtssprachen Englisch und Französisch abrufbar unter http://www.echr.coe.int/hudoc. Die zitierten Entscheidungen des EGMR werden alphabetisch geordnet (gegebenenfalls mit Parallelfundstellen) in Anhang 3 aufgeführt. Zur Abkürzung der beteiligten Vertragsstaaten werden die internationalen Länderkennzeichen verwendet.

Einleitung Der Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung (RStPO) von 1877 1 ging davon aus, dass im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft nur eine Stoffsammlung erfolgt, die lediglich die Entscheidung über die Anklageerhebung nach § 170 StPO vorbereitet. 2 Erst die Hauptverhandlung, in der die Grundsätze der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit gelten, sollte das „Kernstück des Strafverfahrens“ 3 darstellen. Die Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte des Beschuldigten konzentrierten sich daher auf die Hauptverhandlung. Vor allem die Untersuchung von Peters über die Fehlerquellen im Strafprozess machte dagegen die gewandelte Bedeutung des Ermittlungsverfahrens sichtbar: „Die Überprüfung der Dokumentation läßt den Schluß zu, daß Fehler und Mängel des Ermittlungsverfahrens in aller Regel in der Hauptverhandlung nicht mehr zu beseitigen sind. ... Wie das Hauptverfahren ausgeht, wie die Hauptverhandlung abläuft und wie das Urteil ausfällt, ist weitgehend durch das Vorverfahren bestimmt. In der Hauptverhandlung wiederholt sich die im Ermittlungsverfahren durchgeführte Beweisführung.“ 4 „Immer wieder stießen wir auf die Erkenntnis, daß weitgehend im Ermittlungsverfahren die Weichen auf das richtige oder falsche Urteil hin gestellt werden.“ 5

Die präjudizierende Wirkung des Ermittlungsverfahrens ist inzwischen allgemein anerkannt. 6 1

Strafprozeßordnung v. 01. 02. 1877, RGBl. 1877, S. 253. Vgl. Motive des Entwurfs bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 149. 3 So noch BVerfGE 39, 156, 167; 64, 135, 148; 74, 358, 372; 86, 288, 318. 4 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 195. 5 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 299. 6 Vgl. Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 27; Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 87 f.; Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 244 f.; Dahs sen. ZRP 1968, 17, 19; Dahs jr. NJW 1985, 1113, 1118; ders., Handbuch, Rn. 230; Deckers AnwBl. 1986, 60; Eisenberg NJW 1991, 1257, 1262; Fezer, GS Schröder, 407, 412 ff.; Herrmann StV 1996, 396, 401; Hirschberg, Fehlurteil, S. 102 f.; R. Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 7 ff.; LR-Erb Vor § 158 Rn. 7; Meier GA 2004, 441, 444; Mörsch, Rechtsstellung, S. 49 f.; E. Müller AnwBl. 1986, 50, 51; ders., in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 61, 64; Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1227 f.; Richter II NJW 1981, 1820, 1821; ders. AnwBl. 1985, 431, 434; Rieß, FS Schäfer, 155, 208; Rogall, in: 2

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Einleitung

Für den Betroffenen stellt regelmäßig bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens eine erhebliche psychische und soziale Belastung dar. 7 Die Strafverfolgungsbehörden können gegen den Beschuldigten grundrechtsrelevante Zwangsmaßnahmen 8 ergreifen; mitunter muss er auch rufschädigende Ermittlungen in seinem sozialen Umfeld erdulden. Gegen die Einleitung und Durchführung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens steht dem Beschuldigten nach herrschender Ansicht dennoch kein Rechtsschutz zu. 9 Da der Beschuldigte nicht bloßes Objekt der Untersuchung, sondern mit eigenen Rechten ausgestattetes Prozesssubjekt ist, 10 muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. 11 Hierzu bedarf der Beschuldigte in den meisten Fällen des Beistandes eines Verteidigers. Eine Verteidigung, die effektiv und wirksam sein soll, muss bereits in der Phase des Verfahrens ansetzen, in der die „Würfel fallen“. Vor allem muss einer einseitigen Festlegung der Ermittlungsergebnisse vorgebeugt werden, denn das zu frühe Festlegen auf die Richtigkeit einer Spur stellt einen der schwersten Aufklärungsfehler dar. 12 Eser / Kaiser (Hrsg.), Zweites deutsch-ungarisches Kolloquium, 75, 77; Roxin, FS Hanack, 1, 18; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 124 ff., 382; Wasserburg Kriminalistik 1993, 57, 64; Wolter, Aspekte, S. 35. Ähnlich schon Heinemann, in: Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses, 334, 340. 7 Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 42; Dahs jr., Handbuch, Rn. 248; Deckers AnwBl. 1986, 60; Eisenberg NJW 1991, 1257, 1262; ders. / Conen NJW 1998, 2241, 2242; Giehring, in: Hassemer / Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, 181, 187; Jahn, FS Strauda, 335, 338; Richter II AnwBl. 1985, 431 ff.; Rieß, FS Roxin, 1319, 1325; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 128 f. 8 Z. B. Untersuchungshaft (§§ 112 ff.), Durchsuchung (§ 102), Beschlagnahme (§ 98), körperliche Untersuchung und Blutentnahme (§ 81a), erkennungsdienstliche Behandlung (§ 81b StPO). 9 BVerfG NStZ 1982, 430; 1984, 228, 229; 2004, 447; OLG Jena NStZ 2005, 343 f.; OLG Karlsruhe NStZ 1982, 434, 435 m. zust. Anm. Rieß; Bottke StV 1986, 120, 121; Keller GA 1983, 497, 503; KK-Schoreit § 23 EGGVG Rn. 32; Meyer-Goßner § 23 EGGVG Rn. 9; Rieß, FS Geerds, 501, 502 ff. Dagegen Eisenberg / Conen NJW 1998, 2241, 2247 f.; Hamm AnwBl. 1986, 66, 68; Jahn, FS Strauda, 335, 341 ff.; Kölbel JR 2006, 322 ff.; LR-Erb § 160 Rn. 67 ff.; Nagel StV 2001, 185, 192; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 29 Rn. 12; Schulz StraFo 2003, 295, 297; SK-Wohlers § 160 Rn. 102. 10 Eingehend Rieß, FS Reichsjustizamt, 373 ff. 11 BVerfGE 9, 89, 95; 26, 66, 71; 39, 156, 168; 46, 202, 210; 63, 380, 390; 64, 135, 145; 65, 171, 174 f.; 66, 313, 318; 70, 297, 323; 110, 226, 253; BVerfG NJW 2007, 499, 500; BGHSt 38, 372, 374; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 414 ff.; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 2; Molketin, Schutzfunktion, S. 35; Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1207; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 59. 12 R. Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, S. 129; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 205.

Einleitung

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Die Einflussmöglichkeiten der Verteidigung auf Gang und Ergebnis des Ermittlungsverfahrens bestehen vor allem im Recht auf Akteneinsicht, Anwesenheits- und Fragerechten sowie dem Recht auf eigene Ermittlungen. Nach § 163a Abs. 2 StPO hat der Beschuldigte zudem das Recht, zu seiner Entlastung die Aufnahme von Beweisen zu beantragen. Diese sind zu erheben, wenn sie von Bedeutung sind. 13 Zwar ist inzwischen überwiegend anerkannt, dass sich hieraus ein Beweiserhebungsanspruch des Beschuldigten ergibt. 14 Die Nichterhebung der beantragten Beweise ist allerdings gerichtlich nicht überprüfbar. 15 Für eine effektive und wirksame Verteidigung ist es daher erforderlich, auf die bereits im Ermittlungsverfahren von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Beweiserhebungen Einfluss nehmen zu können. Während die überwiegende Zahl der Wahlverteidiger bereits im Ermittlungsverfahren beauftragt wird, erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers in diesem bedeutenden Verfahrensabschnitt nur selten. 16 Eine Verteidigung erst im Hauptverfahren kommt jedoch zu spät, wenn entscheidende Beweise bereits erhoben sind. Werden Beweiserhebungen in das Ermittlungsverfahren vorverlagert, können die in der Hauptverhandlung zum Schutz des Beschuldigten geltenden Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit nicht mehr zum Tragen kommen. 17 Einen Wendepunkt stellte daher die Entscheidung des BGH vom 25. 07. 2000 18 dar. Im Leitsatz des Urteils heißt es: „Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs. 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d 13

Der Beschuldigte hat ferner gem. § 166 Abs. 1 StPO das Recht, bei seiner richterlichen Vernehmung zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen. Der Richter hat diese, soweit er sie für erforderlich erachtet, (nur dann) zu erheben, wenn der Verlust der Beweise zu besorgen ist oder die Beweiserhebung die Freilassung des Beschuldigten begründen kann. 14 AK-Achenbach § 163a Rn. 8; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 555; HK-Zöller § 163a Rn. 11; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 4 Rn. 28; Krekeler NStZ 1991, 367, 371; LR-Erb § 163a Rn. 107; Nelles StV 1986, 74, 77; Schreiber, FS Baumann, 383, 386; SK-Wohlers § 163a Rn. 86; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 231 f. Dagegen noch Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 336; KK-Griesbaum § 163a Rn. 8; Meyer-Goßner § 163a Rn. 15. 15 Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 337; Fezer, GS Schröder, 407; HK-Zöller § 163a Rn. 14; LR-Erb § 163a Rn. 117; Perron ZStW 108 (1996), 128, 137; Quedenfeld, FG Peters, 215, 218; Schreiber, FS Baumann, 383, 387. Dagegen Stade, Stellung des Verteidigers, S. 242 ff. 16 Ca. 75 % der Wahlverteidiger werden schon im Laufe des Ermittlungsverfahrens beauftragt. Dagegen werden nur ca. 12 % der Pflichtverteidiger bereits während des Ermittlungsverfahrens bestellt, vgl. Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, S. 213, 232. 17 Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 27; Richter II NJW 1981, 1820, 1821. 18 BGHSt 46, 93 ff.

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Einleitung MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten Beschuldigten, vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist.“

In welchen weiteren Fällen die Beiordnung eines Verteidigers bereits im Ermittlungsverfahren notwendig ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Ausgehend von der derzeitigen Gesetzeslage zeigt die vorliegende Arbeit anhand der wichtigsten verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen auf, unter welchen Voraussetzungen dem unverteidigten Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen ist. In Teil 1 werden zunächst die Grundlagen des Rechts auf Verteidigerbeistand nach der StPO und der EMRK sowie der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren dargestellt. Teil 2 beschäftigt sich sodann mit den wichtigsten Ermittlungsmaßnahmen, die den weiteren Verlauf des Verfahrens prägen, und bei denen eine Verteidigerbeiordnung in Betracht kommt. Das betrifft die Vernehmung des Beschuldigten, die Vernehmung von Zeugen, die Identifizierungsgegenüberstellung, die Augenscheinseinnahme (insbesondere die Tatrekonstruktion) sowie die Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren. Dabei wird insbesondere die verfahrensprägende Bedeutung der jeweiligen Ermittlungsmaßnahme beleuchtet und die Frage einer notwendigen Verteidigerbestellung beantwortet. Anschließend werden in Teil 3 verfahrensrechtliche Aspekte einer notwendigen Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren erörtert. Dabei wird auf die Antragspflicht der Staatsanwaltschaft, das Antragsrecht des Beschuldigten, die Bestellungspflicht des Vorsitzenden, die Belehrung des Beschuldigten, seine Rechtsschutzmöglichkeiten, die Zuständigkeit für eine Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren und die Frage einer Ermittlungsunterbrechung bis zur Bestellung des notwendigen Verteidigers eingegangen. Zudem wird untersucht, ob aus Verstößen gegen die Bestellungs- oder Belehrungspflicht ein Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme folgt. Abschließend werden die Ergebnisse im Rahmen einer Schlussbetrachtung zusammengefasst.

Teil 1

Grundlagen Kapitel 1

Recht auf Verteidigerbeistand nach der Strafprozessordnung A. Recht auf Verteidigerbeistand aus § 137 Abs. 1 S. 1 StPO Da der Beschuldigte nicht bloßes Objekt des Verfahrens, sondern ein mit eigenen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter ist, muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dies verlangt eine gewisse verfahrensrechtliche „Waffengleichheit“ von Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem im Strafprozess. 1 Obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln haben (§§ 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO), bedarf der Beschuldigte zur effektiven Wahrnehmung seiner Rechte häufig der Unterstützung eines Verteidigers. Denn in der Praxis besteht eine Belastungstendenz, 2 die sich bereits aus dem bestehenden Tatverdacht ergibt, da es psychologisch schwierig (wenn nicht gar unmöglich) ist, gleichzeitig Tatverdacht zu hegen, aber Unschuld zu vermuten. Dem Beschuldigten fehlen regelmäßig nicht nur die zu einer effektiven Verteidigung erforderlichen Kenntnisse des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts, 3 sondern ihm fehlt vor allem auch die notwendige Distanz zur Beschuldigung. 4 Die meisten Beschuldigten sind außerdem nicht in der Lage, sich der Konfrontation mit den Strafverfolgungsbehörden zu stellen: 1

BVerfGE 38, 105, 111; 63, 45, 61; 110, 226, 253; BVerfG NJW 2007, 499, 500. Dahs jr., Handbuch, Rn. 4; Dohna, Das Strafprozeßrecht, S. 67; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 103; Hirschberg, Fehlurteil, S. 99 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 350; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 43; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 3 f., 227 f., 368. 3 So schon v. Kries, Lehrbuch, S. 232; Vargha, Vertheidigung, S. 290. 2

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Teil 1: Grundlagen „Die Aktenanalyse vermittelt somit das Bild von völlig passiven Angeklagten, die das Verfahren ohne jede Gegenwehr über sich ergehen lassen.“ 5

Das Recht des Beschuldigten, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und des daraus hergeleiteten Rechts auf ein faires Verfahren. 6 Es gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens 7 und zu den wichtigsten Rechten des Beschuldigten. 8 Dem Beschuldigten soll durch die Sachkunde und den professionellen Beistand eines Verteidigers die Möglichkeit gegeben werden, einen Ausgleich gegenüber den überlegenen Strafverfolgungsbehörden zu schaffen und seine prozessualen Rechte effektiv wahrzunehmen. 9 Die Möglichkeit der Verteidigerkonsultation dient insbesondere dazu, den Beschuldigten zu beraten, ob er aussagen oder schweigen soll. 10 Der Beistand eines Verteidigers sichert damit den Status des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens. 11 Das Recht auf Verteidigerbeistand findet seinen Ausdruck einfachgesetzlich in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO. Danach kann sich der Beschuldigte in jeder Lage 4 Dahs jr., Handbuch, Rn. 3; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 502 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 170; Neuhaus ZAP Fach 22, 147; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 52 f.; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 5 f.; Trechsel SchwZStR 96 (1979), 337, 354; Vargha, Vertheidigung, S. 290 f.; Welp ZStW 90 (1978), 101, 115 f. 5 Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, S. 293. 6 BVerfGE 26, 66, 71; 38, 105, 111; 39, 156, 163; 39, 238, 243; 63, 380, 390 f.; 66, 313, 318 f.; 68, 237, 255; 110, 226, 253; BGHSt 42, 15, 21; AK-Stern § 137 Rn. 16; Barton, Mindeststandards, S. 58 f.; Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 39 ff., 43; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 514; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 134; KK-Laufhütte § 137 Rn. 1; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 2; LR-Lüderssen / Jahn § 137 Rn. 2; Meyer-Goßner § 137 Rn. 2; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 149; Rzepka, Fairness, S. 390 f., 397; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 97; SK-Wohlers § 137 Rn. 2; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 7 ff., 198 ff. 7 BVerfGE 26, 66, 71. 8 BGHSt 38, 372, 374; 42, 15, 21. 9 Bernsmann StraFo 1999, 226, 229; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 502 ff.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 1; Klemke StV 2002, 414, 415; LR-Kühne Einl. J Rn. 103; K. Peters, Strafprozeß, S. 213; Rzepka, Fairness, S. 397 f.; Weigend ZStW 113 (2001), 271, 295. 10 BGHSt 38, 372, 373; 42, 15, 23; 47, 172, 174; BGH StV 2006, 579, 581; M. Amelung, FG Koch, 145; Beulke NStZ 1996, 257, 258; Eser ZStW 79 (1967), 565, 603; Gundlach, Vernehmung, S. 49; KK-Diemer § 136 Rn. 14; KMR-Lesch § 136 Rn. 35; LR-Gleß § 136 Rn. 40; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 340, 385; SK-Rogall § 136 Rn. 45; Strate / Ventzke StV 1986, 30, 32. 11 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 39 f.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 502 ff.; E. Müller NJW 1981, 1801, 1804; Rieß, FS Reichsjustizamt, 373, 404; ders., FS Schäfer, 155, 201; Rzepka, Fairness, S. 397; SK-Wohlers Vor § 137 ff. Rn. 28 ff.; Welp ZStW 90 (1978), 804, 811; Wohlers StV 2007, 376.

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. § 137 StPO gilt in allen Stadien des Strafverfahrens, mithin auch im Ermittlungsverfahren. Über dieses Recht ist der Beschuldigte gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO 12 vor seiner ersten Vernehmung zu belehren. Beschränkungen des Rechts auf Verteidigerbeistand ergeben sich durch die Begrenzung der Zahl der Wahlverteidiger auf drei gem. § 137 Abs. 1 S. 2 StPO, das Verbot der Mehrfachverteidigung gem. § 146 StPO und die Ausschließungsgründe nach §§ 138a, 138b StPO. 13

B. Rechtsstellung und Aufgaben des Verteidigers Der Verteidiger ist nach herrschender Auffassung unabhängiges Organ der Rechtspflege 14 und Beistand des Beschuldigten. Er untersteht nicht der Kontrolle des Gerichts. 15 Als Beistand ist der Verteidiger nicht Vertreter des Beschuldigten und auch von diesem unabhängig. 16 Er besitzt eigene Rechte und ist nicht 12

n. F.

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Ggf. i.V. m. §§ 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. S. auch § 114b Abs. 2 Nr. 4 StPO

Das Ausschließungsverfahren nach §§ 138a ff. StPO gilt auch für Pflichtverteidiger, vgl. BGHSt 42, 94, 97 = NStZ 1997, 46, 47 m. krit. Anm. Weigend; OLG Braunschweig StV 1984, 500, 501; OLG Düsseldorf JR 1989, 250, 251 m. Anm. Rogall; OLG Frankfurt StV 1992, 360, 361; KG NJW 1978, 1538 f.; AK-Stern § 138a Rn. 9; Dahs jr., Handbuch, Rn. 39; Dencker NJW 1979, 2176, 2179; Dünnebier NJW 1976, 1, 4; Haffke StV 1981, 471, 477; Hilgendorf NStZ 1996, 1, 5 f.; HK-Julius § 138a Rn. 3; Kett-Straub NStZ 2006, 361, 362; KK-Laufhütte § 138a Rn. 2; LR-Lüderssen / Jahn § 138a Rn. 4 ff.; Meyer-Goßner § 138a Rn. 3; Parigger, FG Koch, 199, 204 f.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 54; Seier, FS Hirsch, 977, 987 f.; Wolf, Strafverteidigung, S. 209 f. Anders noch BVerfGE 39, 238, 245; OLG Koblenz JR 1979, 36 m. abl. Anm. Rieß = AnwBl. 1978, 321 m. abl. Anm. Krekeler; OLG Köln NStZ 1982, 129; Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 247 f.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 169; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 473; Rüping, Das Strafverfahren, Rn. 121; Ulsenheimer GA 1975, 103, 109 f.; Welp ZStW 90 (1978), 101, 112. 14 Grundlegend EGH I, 140, 145; s. auch RG JW 1926, 2756 f. m. Anm. Alsberg; BVerfGE 34, 293, 300; 39, 156, 165; 39, 238, 245; 53, 207, 214; 63, 266, 284; 110, 226, 258; BGHSt 9, 20, 22; 12, 367, 369; 15, 326; 26, 221, 224; 38, 271, 274; 38, 345, 351; 46, 53, 60; Dahs sen. AnwBl. 1959, 171, 178; Dahs jr., Handbuch, Rn. 11; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 5; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 5; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 178; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; Mörsch, Rechtsstellung, S. 64; K. Peters, Strafprozeß, S. 213; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 430; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 10; Rüping, Das Strafverfahren, Rn. 118; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 95; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 117. Abweichend vor allem Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 164 ff., 200 ff. (eingeschränkte Organtheorie); LR-Lüderssen / Jahn Vor § 137 Rn. 33 ff., 89 ff. (Vertragsprinzip); Welp ZStW 90 (1978), 804, 817 (Interessenvertreter). 15 BVerfGE 34, 293, 302; 63, 266, 284; Dahs jr., Handbuch, Rn. 29; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 5; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 5, Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; ders., FS BGH u. a., 615, 629; K. Peters, Strafprozeß, S. 214; Vehling StV 1992, 86, 88.

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Teil 1: Grundlagen

an Weisungen des Beschuldigten gebunden. 17 Der Verteidiger wird aber nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines rechtsstaatlichen und justizförmigen Verfahrens tätig. 18 Er ist „rechtsstaatlicher Garant der Unschuldsvermutung für den Beschuldigten“. 19 Im Gegensatz zu Regelungen über die Aufgaben des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) und der Staatsanwaltschaft (§§ 152, 160 StPO) enthält die StPO keine ausdrückliche Aufgabenzuweisung für den Verteidiger. Eine umfassende Beschreibung gibt Wohlers 20: „Aufgabe und Funktion der Verteidigung als Institution ist es, den Beschuldigten bei der Wahrnehmung seiner materiellen Verteidigungsrechte zu unterstützen, insbesondere dadurch, dass er die beim Beschuldigten faktisch vorhandenen Defizite kompensiert. Im Einzelnen geht es darum, den als juristischen Laien und direkt Betroffenen in der Regel überforderten, darüber hinaus aber oft auch faktisch eingeschränkten, z. B. in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten in rechtlicher Hinsicht zu beraten, die Verfahrensführung der Strafverfolgungsorgane auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu kontrollieren und den Beschuldigten bei der aktiven Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte zu unterstützen.“

Der Verteidiger hat somit (einseitig) die Rechte und Interessen des Beschuldigten zu wahren (Beistandsfunktion), auf die Berücksichtigung der für den Beschuldigten günstigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu achten (Aufklärungsfunktion) und auf die Einhaltung eines rechtmäßigen Verfahrens hinzuwirken (Kontrollfunktion). 21 16 BGHSt 9, 356, 357; 12, 367, 369; 38, 111, 114; 39, 310, 313; 41, 69, 70; Dahs jr., Handbuch, Rn. 13; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 5; KMR-Hiebl § 137 Rn. 9; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; ders., FS BGH u. a., 615, 627; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 7; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 18 f. 17 BGHSt 38, 111, 114; 39, 310, 313; Dahs jr., Handbuch, Rn. 13; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 5; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 4 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 178; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; K. Peters, Strafprozeß, S. 214; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 430; Vehling StV 1992, 86, 88. 18 BVerfGE 15, 226, 234; 34, 293, 302; 39, 156, 165; 39, 238, 242; 45, 354, 358; BGHSt 29, 99, 106; 38, 111, 114; 46, 53, 55; Barton, Mindeststandards, S. 51; Dahs sen. NJW 1959, 1158, 1159; Dahs jr., Handbuch, Rn. 3; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 5; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 5; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 10; ders., FS Hanack, 1, 11; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 22. 19 Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 1. 20 SK-Wohlers Vor § 137 Rn. 29. 21 BGHSt 12, 367, 369; 15, 326, 327; Barton, Mindeststandards, S. 51; Burhoff, Handbuch, Rn. 1509; Dahs jr., Handbuch, Rn. 3; Danckert / Ignor, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 15, 18 f.; Gössel ZStW 94 (1982), 5, 30 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 153; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 4; Krüger Kriminalistik 1974, 392, 393; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 170; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 1; ders., FS BGH u. a.,

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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Zu den Aufgaben des Verteidigers gehören insbesondere die Beratung des Beschuldigten zu materiellen Rechtsfragen und prozessualen Möglichkeiten, die Äußerung für den Beschuldigten, die Ausübung prozessualer Rechte (z. B. Anwesenheits- und Fragerechte, Beweisantragsrechte), nur in Ausnahmefällen auch die Vertretung des Beschuldigten 22 sowie die Aufklärung des Sachverhaltes. 23 Die wichtigsten Rechte des Verteidigers sind das Recht auf Akteneinsicht (§ 147 StPO) und das Recht auf freien Verkehr mit dem Beschuldigten (§ 148 StPO). Auch das Recht des Verteidigers auf eigene Ermittlungen ist inzwischen anerkannt. 24 Der Verteidiger kann beispielsweise Auskünfte einholen, Behördenund Gerichtsakten einsehen, den Tat- oder Unfallort besichtigen, einen Privatdetektiv oder Sachverständigen beauftragen und auch Zeugen befragen. 25 Zudem ist eine Verständigung mit Gericht und Staatsanwaltschaft über den weiteren Verfahrensablauf und das Verfahrensergebnis in dem gesetzlich vorgegebenen Rahmen zulässig. 26 Zu den Pflichten des Verteidigers gehören die Fürsprachepflicht, die Verschwiegenheitspflicht und die Treuepflicht. 27 Nach herrschender Ansicht unterliegt der Verteidiger zudem der Wahrheitspflicht. 28 615, 629; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 24 f.; SK-Wohlers Vor § 137 Rn. 5; Welp ZStW 90 (1978), 804, 814. 22 Z. B. bei Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung gem. § 234 i.V. m. §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 232, 233, in der Hauptverhandlung im Privatklageverfahren gem. § 387 Abs. 1, in der Hauptverhandlung nach Einspruch im Strafbefehlsverfahren gem. § 411 Abs. 2 S. 1, in der Revisionshauptverhandlung gem. § 350 Abs. 2 S. 1 oder bei Nichtvorführung des inhaftierten Beschuldigten im Rahmen einer Haftprüfung gem. § 118a Abs. 2 S. 2 StPO. 23 Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 41 ff.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 149; K. Peters, Strafprozeß, S. 226 ff.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 60 ff. 24 BGHSt 46, 1, 4; 46, 53, 56; Baumann, Eigene Ermittlungen, S. 197; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 158; Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 38 ff.; Burhoff, Handbuch, Rn. 620; Dahs jr., Handbuch, Rn. 307 ff.; Jungfer StV 1981, 100, 103; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 4; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 24; König StraFo 1996, 98, 103; LR-Lüderssen / Jahn Vor § 137 Rn. 139; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 2; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 63; Rückel, FG Peters, 265, 267; SK-Wohlers Vor § 137 Rn. 57; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 268 ff.; Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 93. 25 Zur Zeugenbefragung durch den Verteidiger insbesondere Dahs jr., Handbuch, Rn. 216 ff.; Parigger StraFo 2003, 262 ff.; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 275 ff. 26 Dazu vormals BGHSt 43, 195 ff.; 50, 40 ff.; s. auch Meyer-Goßner Einl. Rn. 119 ff. m.w. N. Vgl. hierzu die mit Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2353, eingefügten §§ 160b, 202a, 212, 257b, 257c StPO n. F. 27 Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 44 ff.; Dahs jr., Handbuch, Rn. 3 ff., 44, 79; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 154; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 15.

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Teil 1: Grundlagen

C. Notwendige Verteidigung I. Sinn und Zweck notwendiger Verteidigung Dem Beschuldigten steht es grundsätzlich frei, einen Verteidiger zu wählen oder auf den Beistand eines solchen zu verzichten. Unter bestimmten Voraussetzungen sieht das Gesetz jedoch die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend vor. In diesen Fällen muss ein Verteidiger im Verfahren mitwirken (notwendige Verteidigung). Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung im Strafverfahren (§§ 140 ff. StPO) stellen Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens dar. 29 Die notwendige Verteidigung sichert das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und damit zugleich an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. 30 Sie ist Ausdruck der staatlichen Fürsorgepflicht. 31 Ist die Verteidigung notwendig, kann der Beschuldigte grundsätzlich nicht auf den Beistand eines Verteidigers verzichten. 32 Ist die Beiordnung eines Verteidigers allerdings von einem Antrag des Beschuldigten abhängig, 33 bleibt es 28

BVerfGE 38, 105, 119; Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 149 f., 201; ders., Strafprozessrecht, Rn. 164; Bottke ZStW 96 (1984), 726, 752 f.; Dahs jr., Handbuch, Rn. 43; KK-Laufhütte Vor § 137 Rn. 7; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 30; Meyer-Goßner Vor § 137 Rn. 2; Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 430; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 14; ders., FS Hanack, 1, 12 f.; Rüping, Das Strafverfahren, Rn. 141; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 101; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 115; Welp ZStW 90 (1978), 804, 818 f. Dagegen AK-Stern Vor § 137 Rn. 73, 76; E. Müller NJW 1981, 1801, 1804; Ostendorf NJW 1978, 1345, 1349; Paulus NStZ 1992, 305, 310. 29 BVerfGE 39, 238, 243; 46, 202, 210; 63, 380, 390 f.; 65, 171, 175; 70, 297, 323; BVerfG NJW 1998, 2205; 2001, 3695, 3696; BGHSt 48, 170, 172; AK-Stern Vor § 140 Rn. 4; Bringewat ZRP 1979, 248, 249 f.; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 6; Danckert / Ignor, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 15, 35; KK-Laufhütte § 140 Rn. 1; Meyer-Goßner § 140 Rn. 1; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 149; Rieß StV 1981, 460, 461; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 97. 30 BVerfGE 39, 238, 242; 65, 171, 174; 68, 237, 254; BVerfG NJW 1998, 2205; BGHSt 43, 153, 154; Barton, Mindeststandards, S. 93; Bringewat ZRP 1979, 248, 249; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 6; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 125 f.; Meyer-Goßner § 140 Rn. 1; Molketin, Schutzfunktion, S. 35; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 47; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 106; Wohlers StV 2007, 376, 379. Dagegen ausschließlich auf das Beschuldigteninteresse abstellend LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 15 ff.; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 23 ff. 31 BVerfGE 9, 36, 38; 110, 226, 261; AK-Stern Vor § 140 Rn. 37; Danckert / Ignor, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 15, 35; Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 217; Maiwald, FS Lange, 745, 759; Plötz, Fürsorgepflicht, S. 138; Rieß StV 1981, 460, 461; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 45; Schorn MDR 1966, 639, 640; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 97; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 121; Wasserburg GA 1982, 304; Wohlers StV 2007, 376, 379.

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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dem Beschuldigten unbenommen, den Antrag nicht zu stellen oder einen bereits gestellten Antrag zurückzunehmen. 34 II. Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung sind insbesondere im Katalog des § 140 Abs. 1 und der Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO geregelt. Daneben gibt es einige Sonderregelungen. 1. Katalog des § 140 Abs. 1 StPO Nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist die Verteidigung notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet bzw. stattfinden soll 35. Das Oberlandesgericht ist erstinstanzlich zuständig für die in § 120 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GVG genannten Staatsschutzdelikte. Das Landgericht ist gem. § 74 Abs. 1 S. 1 GVG in erster Instanz zuständig für alle Verbrechen, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts oder des Oberlandesgerichts gehören. Es ist nach § 74 Abs. 1 S. 2 GVG auch zuständig für alle Straftaten, bei denen eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder bei denen die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG Anklage beim Landgericht erhebt. Die Verteidigung ist nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO notwendig, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Gem. § 12 Abs. 1 StGB sind Verbrechen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bleiben für die Einstufung außer Betracht, § 12 Abs. 3 StGB. Nach bislang herrschender Ansicht war eine formalisierte Erklärung (Haftbefehl, Anklage, Eröffnungsbeschluss, Nachtragsanklage oder rechtlicher Hinweis) notwendig, wodurch dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wurde. 36 Die neuere Rechtsprechung nimmt eine notwendige 32

Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 33; Molketin, Schutzfunktion, S. 139; ders. Jura 1992, 120, 124; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 47. 33 Eine Verteidigerbeiordnung auf Antrag des Beschuldigten (bzw. seines gesetzlichen Vertreters) ist neben § 140 Abs. 2 StPO vorgesehen in § 350 Abs. 3 S. 1 (Revisionshauptverhandlung, zu der der inhaftierte Beschuldigte nicht vorgeführt wird), § 364a (Wiederaufnahmeverfahren) und § 364b Abs. 1 S. 1 StPO (Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens). 34 Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 33; H. Schmidt, Pflichtverteidigung, S. 47 f. 35 HK-Julius § 140 Rn. 5; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 21.

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Teil 1: Grundlagen

Verteidigung dagegen bereits dann an, wenn die „nicht entfernte Möglichkeit“ besteht, dass die Tat im Laufe des Verfahrens als Verbrechen beurteilt werden wird. 37 Die Verteidigung bleibt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Vorliegen eines Verbrechens notwendig. 38 Nach § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot (§§ 61 Nr. 6, 70 StGB) führen kann. Die Anordnung eines Berufsverbots ist die am tiefsten eingreifende nicht freiheitsentziehende Maßregel. 39 Für die Notwendigkeit der Verteidigung genügt es, wenn die Möglichkeit der Anordnung eines Berufsverbots nahe liegt. 40 Wird bereits im Ermittlungsverfahren ein vorläufiges Berufsverbot nach § 132a StPO ausgesprochen, ist die Verteidigung in jedem Fall notwendig. 41 Seit Inkrafttreten des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. 42 am 01. 01. 2010 ist die Verteidigung zudem notwendig, wenn gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Abs. 6 StPO vollstreckt wird. Die Verteidigung ist danach aber nur dann notwendig, wenn Untersuchungshaft tatsächlich vollzogen wird, nicht aber, wenn ein Haftbefehl sogleich mit der Verkündung außer Vollzug gesetzt wird. 43 Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist die Verteidigung notwendig, wenn sich der Beschuldigte mindestens drei Monate auf Grund richterlicher Anordnung 44 36 So noch OLG Düsseldorf StV 1984, 369, 370; KG StV 1985, 184; KK-Laufhütte § 140 Rn. 9; Meyer-Goßner § 140 Rn. 12; Pfeiffer § 140 Rn. 4. 37 HansOLG Bremen StV 1984, 13; ebenso AK-Stern § 140 Rn. 12; HK-Julius § 140 Rn. 6; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 24; Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, § 140 Rn. 13; krit. Burgard NStZ 2000, 242, 244. 38 BayObLG StV 1994, 65; OLG Düsseldorf StV 1984, 369, 370; OLG Oldenburg StV 1995, 345 f.; HK-Julius § 140 Rn. 6; KK-Laufhütte § 140 Rn. 9; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 25; Meyer-Goßner § 140 Rn. 12. 39 LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 26. 40 AK-Stern § 140 Rn. 14; HK-Julius § 140 Rn. 7; KMR-Haizmann § 140 Rn. 12; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 27; Meyer-Goßner § 140 Rn. 13; SK-Wohlers § 140 Rn. 9. 41 KMR-Haizmann § 140 Rn. 12; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 28; SK-Wohlers § 140 Rn. 9. 42 Eingeführt durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274. Dazu Bittmann NStZ 2010, 13 ff.; ders. JuS 2010, 510 ff.; Brocke / Heller StraFo 2011, 1 ff.; Deckers StraFo 2009, 441 ff.; Michalke NJW 2010, 17 ff.; Weider StV 2010, 102 ff.; Wohlers StV 2010, 151 ff. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO wurde zuletzt geändert durch Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v. 22. 12. 2010, BGBl. I 2010, S. 2300. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO a. F. wurde mit Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung v. 17. 05. 1988, BGBl. I 1988, S. 606, aufgehoben und sah die notwendige Verteidigung bei tauben, stummen und blinden Beschuldigten vor. Dafür wurde § 140 Abs. 2 S. 2 StPO eingeführt. 43 Brocke / Heller StraFo 2011, 1, 7; KMR-Wankel § 117 Rn. 30; KMR-Haizmann § 140 Rn. 16; Meyer-Goßner § 140 Rn. 14; Michalke NJW 2010, 17; SK-Wohlers § 140 Rn. 11; Wohlers StV 2010, 151, 152.

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oder mit richterlicher Genehmigung 45 in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Ein Zusammenhang mit der zur Aburteilung anstehenden Straftat ist nicht erforderlich. 46 Nach § 140 Abs. 3 S. 1 StPO kann die Verteidigerbestellung aufgehoben werden, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Notwendige Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO vor, wenn zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 StPO in Betracht kommt. Wegen der nach § 81 Abs. 1 StPO erforderlichen Anhörung des Verteidigers ist die Beiordnung bereits im Ermittlungsverfahren obligatorisch. 47 Die Verteidigung bleibt für das gesamte Verfahren notwendig, auch wenn eine Unterbringung nicht angeordnet wird. 48 Nach § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO ist die Verteidigung notwendig, wenn ein Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO durchgeführt wird. Bedeutung erlangt die Vorschrift nur für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§§ 61 Nr. 2, 64 StGB) oder die Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 61 Nr. 5, 69 StGB) durch das Amtsgericht. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung darf nach § 24 Abs. 2 GVG nicht vom Amtsgericht angeordnet werden, so dass bereits § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingreift. Wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann, ist die Verteidigung bereits nach § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO notwendig. Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der bisherige Verteidiger durch rechtskräftigen Beschluss 49 nach §§ 138a ff. StPO von der Mitwirkung im Verfahren ausgeschlossen ist und die Verteidigung nicht schon nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 oder § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist. Dem Beschuldigten, der sich für den Beistand eines Verteidigers entschieden hat, 44 Richterlich angeordnet sind Freiheitsstrafe (§ 38 StGB), Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB), Jugendstrafe (§ 17 JGG), Jugendarrest (§ 16 JGG), Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO), einstweilige Unterbringung (§§ 126a, 275a Abs. 6 StPO), Strafarrest (§ 9 WStG), Auslieferungshaft (§§ 15, 16 IRG), freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 1 bis 3 StGB), Unterbringung im Erziehungsheim bei Haftverschonung. 45 Richterlich genehmigt sind Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder, Unterbringung durch den Vormund bei gerichtlicher Genehmigung. Zur analogen Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bei Unterbringung in Langzeittherapie oder stationärer Drogentherapie (auch bei freiwilligem Aufenthalt) vgl. KK-Laufhütte § 140 Rn. 12; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 35 jeweils m.w. N. 46 LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 32. 47 AK-Stern § 140 Rn. 21; HK-Julius § 140 Rn. 9; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 43. 48 BGH NJW 1952, 797; AK-Stern § 140 Rn. 21; HK-Julius § 140 Rn. 9; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 44; Meyer-Goßner § 140 Rn. 18; SK-Wohlers § 140 Rn. 19. 49 Vor rechtskräftigem Abschluss des Ausschließungsverfahrens gilt § 138c Abs. 3 S. 4 StPO.

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Teil 1: Grundlagen

soll auch weiterhin ein Verteidiger zur Seite stehen, selbst wenn die Verteidigung sonst nicht notwendig wäre. 50 2. Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO Nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ist dem Beschuldigten in anderen Fällen auf Antrag oder von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann, namentlich, weil dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet 51 worden ist. Dem Antrag eines hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten ist zu entsprechen, § 140 Abs. 2 S. 2 StPO. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO fungiert dabei als Auffangtatbestand. 52 Entgegen einer früher vertretenen Ansicht gewährt die Vorschrift keinen Ermessensspielraum. 53 Vielmehr handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, 54 so dass allenfalls ein Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsseite der Norm besteht. Liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO vor, ist die Verteidigung notwendig. Dem unverteidigten Beschuldigten muss dann (auf Antrag oder von Amts wegen) ein Verteidiger bestellt werden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Bestellung eines Verteidigers über die in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO genannten Voraussetzungen hinaus von Ver50

LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 46. Gleiches gilt, wenn sich der Verletzte auf eigene Kosten des Beistandes eines Rechtsanwaltes bedient, vgl. OLG Hamm StraFo 2004, 242 f.; OLG Köln NStZ 1989, 542; OLG Saarbrücken NStZ 2006, 718; OLG Zweibrücken StV 2002, 237; 2005, 491; AK-Stern § 140 Rn. 77; HK-Julius § 140 Rn. 16; KK-Laufhütte § 140 Rn. 24; KMR-Haizmann § 140 Rn. 38; Meyer-Goßner § 140 Rn. 31; Rieß / Hilger NStZ 1987, 145, 146 f.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 22; SK-Wohlers § 140 Rn. 52; Weider StV 1987, 317, 319; Weigend NJW 1987, 1170, 1175 f. 52 LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 47; Molketin, Schutzfunktion, S. 36; ders. Jura 1992, 120, 121; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 150. 53 So noch BGH NJW 1963, 1114 f.; BayObLGSt 1994, 169, 170; OLG Düsseldorf AnwBl. 1984, 262; OLG Frankfurt StV 1992, 220; OLG Hamm AnwBl. 1981, 199; KG StV 1983, 186; 1985, 184, 185; AK-Stern § 140 Rn. 25; HK-Julius § 140 Rn. 12; Meyer-Goßner § 140 Rn. 22; Molketin, Schutzfunktion, S. 129; Pfeiffer § 140 Rn. 5; H.-W. Schmidt MDR 1958, 644, 646; Schorn NJW 1965, 713, 714. 54 Grundlegend Kappe GA 1960, 357, 370; ebenso Beulke, in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 170, 186; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 31 f.; KMR-Haizmann § 140 Rn. 25; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 77; Lantzke NJW 1971, 737, 738; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 47; Oellerich StV 1981, 434, 436; Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, § 140 Rn. 24; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 109 f.; SK-Wohlers § 140 Rn. 30; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 32. 51

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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fassungs wegen erforderlich, wenn die Ablehnung der Verteidigerbeiordnung den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren verletzen würde. 55 Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Würdigung aller Umstände das Vorliegen eines „schwerwiegenden Falles“ ergibt und der Beschuldigte die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufbringen kann. 56 a) Schwere des Tatvorwurfs Die Schwere des Tatvorwurfs beurteilt sich in erster Linie nach der Höhe der Strafe oder der Schwere der Maßregel, die der Beschuldigte konkret zu erwarten hat, aber auch den sonstigen Auswirkungen einer Verurteilung auf das Leben des Beschuldigten. 57 Nach überwiegender Ansicht ist notwendige Verteidigung ab einer Straferwartung von etwa einem Jahr Freiheitsstrafe anzunehmen, auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. 58 Richtigerweise ist die Mitwirkung eines Verteidigers jedoch in allen Fällen zu erwartender Freiheitsstrafe notwendig. 59 Ob die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, ist dabei unerheblich. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG dar. Gerade bei zu erwartender kurzer Freiheitsstrafe ist die Grenze zwischen Geldstrafe und Freiheitsstrafe bzw. zwischen Freiheitsstrafe mit oder ohne Strafaussetzung zur Bewährung zu ziehen. 60 Bei 55 BVerfGE 46, 202, 210; 63, 380, 391; ebenso KK-Laufhütte § 140 Rn. 6; Meyer-Goßner § 140 Rn. 32; Oswald JR 1979, 99, 100; Wasserburg GA 1982, 304, 318; krit. Heubel, Fair trial, S. 102 ff.; Niemöller / Schuppert AöR 107 (1982), 387, 430 f. 56 BVerfGE 46, 202, 210 f.; 63, 380, 391; s. auch Dahs jr. NJW 1978, 140 f.; Oswald JR 1979, 99 f. 57 AK-Stern § 140 Rn. 26; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 13; HK-Julius § 140 Rn. 13; KK-Laufhütte § 140 Rn. 21; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 51; Meyer-Goßner § 140 Rn. 23, 25; Molketin, Schutzfunktion, S. 49 ff.; ders. Jura 1992, 120, 121; Oellerich StV 1981, 434, 436 f.; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 116; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 18 f. 58 KK-Laufhütte § 140 Rn. 21 m.w. N. 59 AK-Stern § 140 Rn. 27; Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 59 (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 des Entwurfs); Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 167; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 76 f.; Hamm, FS Salger, 273, 287; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 126; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 79 f.; LR-Lüderssen, 25. Aufl., § 140 Rn. 64; Molketin, Schutzfunktion, S. 49 f.; Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1241; Oellerich StV 1981, 434, 437; K. Peters, Strafprozeß, S. 217; Rzepka, Fairness, S. 408; Eb. Schmidt MDR 1951, 1, 7; ders. JZ 1969, 316, 318; SK-Wohlers § 140 Rn. 33; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 321; Temming StV 1992, 221. Für notwendige Verteidigung ab einer Straferwartung von drei Monaten Freiheitsstrafe Wolter GA 1985, 49, 81 f. 60 Oellerich StV 1981, 434, 437.

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Teil 1: Grundlagen

diesen schwierigen Abgrenzungsfragen ist der Beschuldigte regelmäßig nicht in der Lage, sich selbst effektiv und wirksam zu verteidigen. Zum einen kennt er die gesetzlichen Strafzumessungsvorschriften und -gesichtspunkte nicht. Zum anderen sind auch die Voraussetzungen einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB unter Umständen schwierig zu beurteilen. Hier kann der Verteidiger bereits im Vorfeld zugunsten des Beschuldigten sprechende Umstände ermitteln, etwa dessen Bereitschaft zu einer Schadenswiedergutmachung oder zum Antritt einer Entziehungskur, die als geeignete Bewährungsauflagen bzw. Weisungen in Betracht kommen. Zudem besteht während der gesamten Bewährungszeit die Gefahr, dass die Strafaussetzung widerrufen wird und die Strafe vollstreckt wird. 61 Die Mitwirkung eines Verteidigers ist daher stets notwendig, wenn die Verhängung einer Freiheitsstrafe droht. Das gilt zumindest dann, wenn der Beschuldigte die Beiordnung eines Verteidigers beantragt. 62 Denn maßgeblich für eine Verteidigerbeiordnung ist die Interessenlage des Beschuldigten. Wünscht dieser den Beistand eines Verteidigers, weil er der Ansicht ist, sich selbst nicht hinreichend verteidigen zu können, auch wenn eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr zu erwarten ist, ist diesem Wunsch zu entsprechen. Als sonstige zu berücksichtigende Folgen im Falle einer Verurteilung kommen etwa die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Berufskraftfahrern, der Verlust der beamtenrechtlichen Stellung, ein drohender Widerruf der Bewährung in anderer Sache, die Schwere der Tatfolgen (z. B. fahrlässige Tötung, zivilrechtliche Schadenersatzansprüche), die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§§ 61 Nr. 2, 64 StGB) oder ausländerrechtliche Folgen in Betracht. 63 b) Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage Die Schwierigkeit der Sach- und / oder Rechtslage ist ebenfalls aus der Sicht des Beschuldigten zu beurteilen. 64 Entscheidend sind der Grad der Rechtskenntnisse des Beschuldigten, seine Allgemeinbildung und seine persönlichen Fähigkeiten. 65 61

400.

62

Etwa jede dritte Strafaussetzung wird widerrufen, vgl. Herrmann StV 1996, 396,

Dörr, Faires Verfahren, S. 153 f., 157; Herrmann StV 1996, 396, 400. KK-Laufhütte § 140 Rn. 21; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 59 ff.; Molketin, Schutzfunktion, S. 50 ff.; ders. Jura 1992, 120, 121 f.; SK-Wohlers § 140 Rn. 34 f. jeweils m.w. N. 64 OLG Celle NJW 1964, 877; OLG Düsseldorf AnwBl. 1984, 262, 263; OLG Köln wistra 1989, 157; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 68; Molketin, Schutzfunktion, S. 62; ders. Jura 1992, 120, 122; Oellerich StV 1981, 434, 437; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 118; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 16; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 37. 63

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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Die Sachlage ist vor allem dann schwierig, wenn die Beweisaufnahme besonders umfangreich oder kompliziert ist (Vielzahl von Taten, Mitangeklagten oder Zeugen, Kinder als Zeugen, sich widersprechende Zeugenaussagen), Sachverständigengutachten einzuholen oder zu beurteilen sind (insbesondere zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten oder zur Glaubhaftigkeit von Zeugen) oder Akteneinsicht durch einen Verteidiger erforderlich ist (umfangreiche Akten, Sachverständigengutachten, Protokolle oder Urkunden in den Akten). 66 Die Rechtslage ist insbesondere dann schwierig, wenn es auf nicht abschließend geklärte Rechtsfragen ankommt, die Möglichkeit unterschiedlicher Entscheidungen zweier Instanzen besteht, die Subsumtion problematisch ist oder sich materiell-strafrechtliche Auslegungs- oder Abgrenzungsfragen stellen (Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale oder von Begriffen des Wirtschafts-, Steuer- und Umweltstrafrechts, Vorliegen von Rechtfertigungsgründen, Voraussetzungen der Garantenstellung, des Versuchs und Rücktritts, Fragen der Schuldfähigkeit oder der Strafzumessung) oder sich prozessuale Probleme ergeben (Beweiserhebungen zur inneren Tatseite, Fragen zur Verwertbarkeit erhobener Beweise, Sachverständigengutachten, schwierige Beweiswürdigung). 67 c) Verteidigungsunfähigkeit Die Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, stellt auf die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten ab. 68 Entscheidend ist, ob der Beschuldigte die volle Bedeutung der Verteidigung erkennen und auch nach dieser Einsicht handeln kann. 69 Notwendige Verteidigung liegt vor, wenn nicht gesichert ist, dass der Beschuldigte dem Verfahren folgen und die zu seiner Verteidigung erforderlichen Handlungen (auch außerhalb der Hauptverhandlung) 70 vornehmen kann. 71 Für die Notwendigkeit der Verteidigung genügen begründete Zweifel am Vermögen des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen. 72 65

437.

66

AK-Stern § 140 Rn. 37; Molketin, Schutzfunktion, S. 62; Oellerich StV 1981, 434,

LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 72 ff.; SK-Wohlers § 140 Rn. 38 ff. jeweils m.w. N. LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 78 ff.; SK-Wohlers § 140 Rn. 42 ff. jeweils m.w. N. 68 OLG Karlsruhe NStZ 1991, 504; KG StV 1985, 448, 449; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 96; Molketin, Schutzfunktion, S. 111; ders. Jura 1992, 120, 123, Oellerich StV 1981, 434, 438; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 15. 69 M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 15; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 121; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 16. 70 Anders wohl OLG Düsseldorf StV 1992, 363. 71 AK-Stern § 140 Rn. 52; HK-Julius § 140 Rn. 16; KK-Laufhütte § 140 Rn. 24; Pfeiffer § 140 Rn. 7; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 42. 72 HK-Julius § 140 Rn. 16; KMR-Haizmann § 140 Rn. 38; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 98; Meyer-Goßner § 140 Rn. 30. 67

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Teil 1: Grundlagen

Verteidigungsunfähigkeit kann etwa vorliegen bei körperlichen oder geistigen Behinderungen des Beschuldigten, unterdurchschnittlicher Intelligenz, Analphabetismus, Mangel an kommunikativen Fähigkeiten, fortgeschrittener Schwangerschaft oder Drogenabhängigkeit. 73 Auch die Sprachunkenntnis ausländischer Beschuldigter ist hier zu berücksichtigen. 74 Die Verteidigungsunfähigkeit kann sich ferner aus der Inhaftierung des Beschuldigten ergeben, so dass dem Beschuldigten auch unterhalb der zeitlichen Grenze des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Verteidiger bestellt werden kann. 75 3. Sonderregelungen Sonderregelungen der notwendigen Verteidigung enthalten § 118a Abs. 2 S. 3 (mündliche Haftprüfung, zu der der inhaftierte Beschuldigte nicht vorgeführt wird), § 138c Abs. 3 S. 4 (Ausschließung des Verteidigers), § 145 Abs. 1 S. 1 (Ausbleiben des notwendigen Verteidigers in der Hauptverhandlung), § 231a Abs. 4 (Hauptverhandlung bei vorsätzlich herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit), § 350 Abs. 3 S. 1 (Revisionshauptverhandlung, zu der der inhaftierte Beschuldigte nicht vorgeführt wird), § 364a (Wiederaufnahmeverfahren), § 364b (Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens), § 408b (Strafbefehl mit Freiheitsstrafe), § 418 Abs. 4 StPO (Straferwartung von mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe im beschleunigten Verfahren), §§ 68, 104 Abs. 1 Nr. 10, 109 Abs. 1, 112 JGG (Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende) und § 34 Abs. 3 Nr. 1 EGGVG (Kontaktsperre). 76 III. Wahl- und Pflichtverteidigung Hat der Beschuldigte in den Fällen notwendiger Verteidigung selbst einen Verteidiger gewählt, ist dieser zugleich notwendiger Verteidiger. Ist der Beschuldigte dagegen unverteidigt, wird ihm von Amts wegen oder auf Antrag ein Verteidiger bestellt (Pflichtverteidiger). 77 Die Beiordnung ist Ausdruck der 73

LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 96 ff.; SK-Wohlers § 140 Rn. 49 f. jeweils m.w. N. Zum Streitstand LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 104 ff. m.w. N. 75 HK-Julius § 140 Rn. 16; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 99. 76 § 117 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. (ggf. i.V. m. §§ 126a Abs. 2 S. 1, 275a Abs. 5 S. 4 StPO a. F.) sah notwendige Verteidigung bei mindestens drei Monate andauernder Untersuchungshaft (bzw. einstweiliger Unterbringung) vor. Die Vorschrift wurde mit Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274, aufgehoben und stattdessen § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. eingeführt. 77 Die StPO kennt nur den Begriff der „notwendigen Verteidigung“. Der Begriff der Pflichtverteidigung entstand wohl aufgrund der Pflicht zur Übernahme der Verteidigung nach § 49 Abs. 1 BRAO, vgl. Oellerich StV 1981, 434 Fn. 2; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 3. 74

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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staatlichen Fürsorgepflicht. Neben einem Wahlverteidiger wird grundsätzlich kein Pflichtverteidiger bestellt. 78 Die Pflichtverteidigung ist damit gegenüber der Wahlverteidigung subsidiär. 79 Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach der StPO ist grundsätzlich unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Beschuldigten. Entscheidend ist allein, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und der Beschuldigte keinen Verteidiger wählt. Für den mittellosen Beschuldigten ist die Beiordnung eines Verteidigers aber auch Ausdruck des Sozialstaatsgedankens. 80 Durch die Beiordnung eines Verteidigers soll der Beschuldigte nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich gleichen Rechtsschutz erhalten wie ein Beschuldigter, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger wählt. 81 Der Beschuldigte, der sich einen Wahlverteidiger nicht leisten kann, erhält jedoch nur im Falle einer notwendigen Verteidigung einen Verteidiger beigeordnet. Außerhalb der notwendigen Verteidigung bleibt der mittellose Beschuldigte daher unverteidigt. 82

78 Die Bestellung eines sog. Sicherungs- bzw. Zwangsverteidigers neben dem Wahlverteidiger soll jedoch zulässig sein, wenn die Beiordnung im Interesse einer geordneten und reibungslosen Durchführung des Verfahrens erforderlich ist, vgl. EGMR, Croissant gg. D, Series A 237-B, §§ 27 ff.; BVerfGE 39, 238, 246 f.; 66, 313, 321; BGHSt 15, 306, 309; BGH NJW 1973, 1985; Hilgendorf NStZ 1996, 1, 2; KK-Laufhütte § 141 Rn. 8; Meyer-Goßner § 141 Rn. 1a; ders., FS BGH u. a., 615, 625; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 104 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 125 ff.; krit. Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 239 ff.; Bringewat JuS 1980, 867, 868 ff.; Haffke StV 1981, 471, 474 f.; HK-Julius § 141 Rn. 8; Künzel StV 1981, 464, 465; Neumann NJW 1991, 264, 265 f.; Rieß StV 1981, 460, 463; Römer ZRP 1977, 92, 96 ff.; Rudolph, FS Schmidt-Leichner, 159, 168; Schmidt-Leichner NJW 1975, 417, 421 f.; Welp ZStW 90 (1978), 101, 125 ff.; ders. ZStW 90 (1978), 804, 822 ff. 79 Bringewat JuS 1980, 867, 869; HK-Julius § 143 Rn. 2; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 35; Molketin, Schutzfunktion, S. 34; K. Peters, Strafprozeß, S. 220; Römer ZRP 1977, 92, 94; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 66 ff.; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 98; Welp ZStW 90 (1978), 101, 123; Wolf, Strafverteidigung, S. 96 ff. 80 Dahs sen. ZRP 1968, 17, 18; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 108; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 125; Müller-Dietz, FS Dünnebier, 75, 99; Rieß, FS Schäfer, 155, 201; ders. StV 1981, 460, 461; SK-Wohlers Vor § 137 ff. Rn. 36; Welp ZStW 90 (1978), 101, 105; ders. ZStW 90 (1978), 804, 821; Wohlers StV 2007, 376, 379. 81 BVerfGE 9, 36, 38; BVerfG NJW 2001, 3695, 3696; BGHSt 43, 153, 155. 82 Kritisch daher schon Dahs sen. ZRP 1968, 17, 18; Rieß, FS Reichsjustizamt, 373, 415.

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Teil 1: Grundlagen

IV. Beiordnung eines Pflichtverteidigers 1. Zeitpunkt der Verteidigerbeiordnung Nach § 141 Abs. 1 StPO wird dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 bis 8 und Abs. 2 StPO ein Verteidiger bestellt, sobald er gem. § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. Ergibt sich erst später, dass ein Verteidiger notwendig ist, wird er sofort bestellt, § 141 Abs. 2 StPO. Gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO kann der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Die Staatsanwaltschaft beantragt dies, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird, § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. 83 Im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. wird der Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung bestellt, § 141 Abs. 3 S. 4 StPO n. F. 84 Da dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden muss, sich mit seinem Verteidiger zu beraten, über diesen Akteneinsicht zu nehmen und gegebenenfalls Entlastungsbeweise zu beschaffen, ist der Verteidiger möglichst frühzeitig zu bestellen. 85 2. Dauer der Verteidigerbeiordnung Die Verteidigerbestellung erstreckt sich auf das gesamte Strafverfahren, gegebenenfalls einschließlich der Revisionseinlegung und -begründung, nicht jedoch auf die Revisionshauptverhandlung. 86 Dem nicht auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten, der keinen Verteidiger gewählt hat, wird nach § 350 Abs. 3 S. 1 StPO auf seinen Antrag ein Verteidiger für die Revisionshauptverhandlung bestellt, wenn er nicht zu dieser vorgeführt wird. Anderen Angeklagten kann für die Revisionshauptverhandlung – auch von Amts wegen – nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Verteidiger bestellt werden. 87 83

Zum Antragsrecht des Beschuldigten unten Teil 3 Kapitel 1 A. II. Eingeführt mit Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I, S. 2274. 85 KK-Laufhütte § 141 Rn. 3; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24a; Richter II NJW 1981, 1820, 1823; ders. AnwBl. 1985, 431, 438. 86 BVerfGE 46, 202, 209; BGHSt 19, 258, 259; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 128; KK-Laufhütte § 141 Rn. 10; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 117; Meyer-Goßner § 140 Rn. 8 f.; ders., FS BGH u. a., 615, 618; Oellerich StV 1981, 434, 435; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 464; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 28; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 144 ff., 147 f.; SK-Wohlers § 141 Rn. 23 ff.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 61 f. 84

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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Die Verteidigerbestellung endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens 88 oder der ausdrücklichen Rücknahme der Bestellung. Die Bestellung ist zurückzunehmen, wenn der Beschuldigte demnächst einen anderen Verteidiger wählt und dieser die Wahl annimmt, § 143 StPO. Ein Widerruf der Bestellung „aus wichtigem Grund“ ist zwar gesetzlich nicht vorgesehen, nach herrschender Ansicht aber zulässig, wenn der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu gewährleisten und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu sichern, ernsthaft gefährdet ist. 89 3. Zuständigkeit für die Verteidigerbeiordnung Über die Bestellung eines Pflichtverteidigers entscheidet gem. § 141 Abs. 4, 1. Halbsatz StPO n. F. der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig oder bei dem das Verfahren anhängig ist. Im Ermittlungsverfahren entscheidet der Vorsitzende des Gerichts, bei dem die Staatsanwaltschaft nach dem Stand der Ermittlungen beabsichtigt, Anklage zu erheben. 90 Ein Irrtum über die Zuständigkeit ist ebenso unbeachtlich wie die spätere Hauptverhandlung vor einem anderen Gericht. 91 Im Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 4 n. F. entscheidet das nach § 126 oder § 275a Abs. 6 zuständige Gericht, § 141 Abs. 4, 2. Halbsatz StPO n. F. 92 87 Vgl. BVerfGE 46, 202, 209; 65, 171, 174; BGHSt 19, 258, 259; Dahs jr. NJW 1978, 140, 141; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 128; LR-Hanack § 350 Rn. 11; Meyer-Goßner § 350 Rn. 7; ders., FS BGH u. a., 615, 618; Oellerich StV 1981, 434, 435; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 28; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 186 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 66 f. 88 KK-Laufhütte § 141 Rn. 10; SK-Wohlers § 141 Rn. 26; ggf. einschließlich eines Wiederaufnahmeverfahrens, vgl. M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 29; HK-Julius § 141 Rn. 15; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 128; LR-Gössel § 364a Rn. 3; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 28; Meyer-Goßner § 364a Rn. 2; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 464; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 28 m. Fn. 15; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 156; Wasserburg GA 1982, 304, 309. 89 BVerfGE 39, 238, 244 f.; BVerfG NStZ-RR 1997, 202; NJW 1998, 444; 2001, 3695, 3697; BGH NStZ 1990, 289, 290; HansOLG Hamburg NStZ 1998, 586, 587; OLG Frankfurt StV 1995, 11, 12; NStZ-RR 1997, 77; OLG Hamm NJW 2006, 2502, 2503; OLG Köln NStZ 1991, 248, 249; OLG Stuttgart MDR 1979, 780; KG JR 1982, 349; StV 2009, 572, 573 m. krit. Anm. Weigend; AK-Stern § 143 Rn. 6; Hilgendorf NStZ 1996, 1, 2 ff.; Kett-Straub NStZ 2006, 361, 363; KK-Laufhütte § 143 Rn. 4 f.; Malmendier NJW 1997, 227, 231; Meyer-Goßner § 143 Rn. 3 ff.; Niemöller / Schuppert AöR 107 (1982), 387, 436; Ulsenheimer GA 1975, 103, 109 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 134; Welp ZStW 90 (1978), 101, 112; krit. LR-Lüderssen / Jahn § 143 Rn. 7 f.; Weigend NStZ 1997, 47, 48. 90 KK-Laufhütte § 141 Rn. 12; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 16; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 222. 91 LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 16.

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Teil 1: Grundlagen

4. Auswahl des Pflichtverteidigers Vor der Bestellung eines Verteidigers soll dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen, § 142 Abs. 1 S. 1 StPO n. F. 93 Der Vorsitzende bestellt diesen, wenn kein wichtiger Grund entgegensteht, § 142 Abs. 1 S. 2 StPO n. F. Einen Anspruch auf die Beiordnung des benannten Verteidigers hat der Beschuldigte nach herrschender Auffassung allerdings nicht. 94 Beantragt der gewählte Verteidiger die Bestellung zum Pflichtverteidiger, 95 liegt darin regelmäßig die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung enden. 96 Die Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers ist in der Regel auch sachgerecht, da der Verteidiger in den Fall eingearbeitet ist und das Vertrauen des Beschuldigten genießt. 97

D. Zusammenfassung Als Prozesssubjekt muss dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen und sich hierbei des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Das Recht auf Verteidigerbeistand ist verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip 92 Angefügt durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274. Zuletzt geändert durch Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v. 22. 12. 2010, BGBl. I 2010, S. 2300. 93 § 142 Abs. 1 StPO neu gefasst durch Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 07. 2009, BGBl. I, S. 2280. 94 BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243; BVerfG NStZ 2006, 460, 461; BGHSt 39, 310, 312; 43, 153, 154; BGH NJW 1992, 849; OLG Hamm NJW 2006, 2502, 2503; OLG Köln NStZ 1991, 248, 249; KG JR 1957, 469, 470 m. Anm. Sarstedt; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 129; KK-Laufhütte § 142 Rn. 7; Meyer-Goßner § 142 Rn. 9; ders., FS BGH u. a., 615, 624; Pfeiffer § 142 Rn. 1; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 202; Welp ZStW 90 (1978), 101, 103 f. Dagegen AK-Stern § 142 Rn. 11 ff.; Barton, Mindeststandards, S. 210 f.; ders. StV 1997, 576, 577; Haffke StV 1981, 471, 477; KMR-Müller § 142 Rn. 1. 95 Dies kann zur Sicherung der Kostenforderung sinnvoll sein, da mit der Beiordnung ein Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse entsteht (§ 45 Abs. 3 S. 1 RVG). Auch kann der beigeordnete Verteidiger von der Staatskasse einen angemessenen Vorschuss fordern (§ 47 Abs. 1 S. 1 RVG). 96 BGH StV 1981, 12; NStZ 1991, 94, 95; OLG Düsseldorf StV 1986, 143; OLG Frankfurt StV 1983, 408; OLG Köln NStZ 1991, 248, 249; HK-Julius § 141 Rn. 6; KK-Laufhütte § 141 Rn. 1; KMR-Hiebl Vor § 137 Rn. 99; Meyer-Goßner § 142 Rn. 7. 97 Meyer-Goßner § 142 Rn. 7; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 206.

Kap. 1: Recht auf Verteidigerbeistand nach der StPO

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und dem daraus hergeleiteten Recht auf ein faires Verfahren verankert. Einfachgesetzlich findet es seinen Ausdruck in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO. Der Verteidiger ist unabhängiges Organ der Rechtspflege und Beistand des Beschuldigten. Er hat die Rechte und Interessen des Beschuldigten zu wahren, auf die Berücksichtigung der für den Beschuldigten günstigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu achten und auf die Einhaltung eines rechtmäßigen Verfahrens hinzuwirken. Dem Beschuldigten steht es grundsätzlich frei, einen Verteidiger zu wählen oder auf den Beistand eines solchen zu verzichten. Nur in besonderen Fällen sieht die StPO eine notwendige Verteidigung vor. Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung sind Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens. Die notwendige Verteidigung sichert das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Hinsichtlich der Notwendigkeit einer Verteidigung ist in erster Linie auf die Interessenlage des Beschuldigten abzustellen. Die Verteidigung kann insbesondere aufgrund der Schwere des Tatvorwurfs, der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder infolge der Verteidigungsunfähigkeit des Beschuldigten notwendig sein. Die Fälle des Katalogs des § 140 Abs. 1 stellen dabei Konkretisierungen der Generalklausel des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO dar. Hat der Beschuldigte in den Fällen der notwendigen Verteidigung keinen Verteidiger gewählt, wird ihm von Amts wegen oder auf Antrag ein Pflichtverteidiger beigeordnet. Die Verteidigerbeiordnung nach der StPO ist unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Beschuldigten. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist Ausdruck der staatlichen Fürsorgepflicht und für den mittellosen Beschuldigten auch Ausdruck des Sozialstaatsgedankens. Der Pflichtverteidiger ist möglichst frühzeitig zu bestellen.

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Teil 1: Grundlagen

Kapitel 2

Recht auf Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention A. EMRK und EGMR im deutschen Rechtssystem I. EMRK als einfaches Bundesgesetz Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 04. 11. 1950 98 hat in Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes 99 und ist am 03. 09. 1953 in Kraft getreten. 100 Eine Verletzung der EMRK kann nicht mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, da sie als einfaches Gesetz gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG nicht verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab sein kann. 101 Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK sind allerdings bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Auch die Rechtsprechung des EGMR dient dabei als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. 102 Da die EMRK nur einfaches Gesetz ist, müssten später erlassene Bundesgesetze als lex posterior vorgehen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Gesetze jedoch im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik auszulegen und anzuwenden, da nicht anzunehmen ist, dass der

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Zustimmungsgesetz v. 07. 08. 1952, BGBl. II 1952, S. 685, 953. BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 114; 111, 307, 317; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147; Ambos NStZ 2002, 628; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 1; Ehlers Jura 2000, 372, 373; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 868; Frowein / Peukert Einführung Rn. 7; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 6; KK-Schädler MRK Vorb Rn. 4; K. Kühl ZStW 100 (1988), 406, 408 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 29; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 39; Meyer-Goßner Vor Art. 1 MRK Rn. 3; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 33; Pache EuR 2004, 393, 400; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 2; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 3 Rn. 16; Satzger Jura 2009, 759; SK-Paeffgen EMRK Einl. Rn. 77; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 1; Weigend StV 2000, 384, 386. 100 Bekanntmachung v. 15. 12. 1953, BGBl. II 1954, S. 14. Bekanntmachung der Neufassung v. 22. 10. 2010, BGBl. II 2010, S. 1198. 101 BVerfGE 10, 271, 274; 34, 384, 395; 41, 126, 149; 64, 135, 157; 74, 102, 128; 111, 307, 317; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147. 102 Grundlegend BVerfGE 74, 358, 370; s. auch BVerfGE 82, 106, 115, 120; 111, 307, 317; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147; Ehlers Jura 2000, 372, 373; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 870; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 6; KK-Schädler MRK Vorb Rn. 4; K. Kühl ZStW 100 (1988), 406, 428; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 41; Masuch NVwZ 2000, 1266, 1268; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 33; SK-Paeffgen EMRK Einl. Rn. 77. 99

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Gesetzgeber von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will. 103 II. Auslegung der EMRK Für die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag gelten die Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention – WVK 104). 105 Nach Art. 31 Abs. 1 WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag ausgehend von der gewöhnlichen Bedeutung der verwendeten Begriffe im Textzusammenhang und im Lichte von Ziel und Zweck des Vertrages auszulegen. 106 Verträge, die in mehreren Sprachen festgelegt wurden, sind in jeder dieser Vertragssprachen gleichermaßen verbindlich (Art. 33 Abs. 1 WVK). 107 Ziel der EMRK ist die Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den Vertragsstaaten und deren Fortentwicklung. 108 Die EMRK als „living instrument“ will Rechte garantieren, die nicht „theoretical or illusory“, sondern „practical and effective“ sind. 109 Die EMRK ist damit ausgehend vom gleichermaßen verbindlichen englischen und französischen Originalwortlaut (vgl. Schlussformel der Konvention) so auszulegen, dass 103 Grundlegend BVerfGE 74, 358, 370; s. auch BVerfGE 111, 307, 317 f.; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 870; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 41 f.; K. Kühl ZStW 100 (1988), 406, 428; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 43; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 3; Satzger Jura 2009, 759, 760; Weigend StV 2000, 384, 387. 104 Zustimmungsgesetz v. 03. 08. 1985, BGBl. II 1985, S. 926. 105 EGMR, Golder gg. GB, Series A 18, § 29; Johnston gg. IRL, Series A 112, § 51; Loizidou gg. TK, Rep. 1996-VI, § 43; Mamatkulov u. Askarov gg. TK, Rep. 2005-I, § 111; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 80 f.; KK-Schädler MRK Vorb Rn. 5; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 52; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 35; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 17 f.; Satzger Jura 2009, 759, 760; Villiger ZSchwR 1985, 469, 510. 106 Art. 31 Abs. 1 WVK: „A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to the terms of the treaty in their context and in the light of its object and purpose.“ 107 Art. 33 Abs. 1 WVK: „When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail.“ 108 Grabenwarter, EMRK, § 5 Rn. 12; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 57. 109 EGMR, Airey gg. IRL, Series A 32, § 24; Artico gg. I, Series A 37, § 33; Cruz Varas u. a. gg. S, Series A 201, § 99; S gg. CH, Series A 220, § 48; Imbrioscia gg. CH, Series A 275, § 36; Allenet de Ribemont gg. F, Series A 308, § 35; Daud gg. P, Rep. 1998-II, § 38; Coëme u. a. gg. B, Rep. 2000-VII, § 98; Czekalla gg. P, Rep. 2002-VIII, § 60; Mamatkulov u. Askarov gg. TK, Rep. 2005-I, § 121; Öcalan gg. TK, Rep. 2005-IV, § 135; Hermi gg. I, § 95; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 89 ff.; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 58; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 37, 44; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 1.

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Teil 1: Grundlagen

ein effektiver Schutz der garantierten Rechte sichergestellt wird. 110 Die Auslegung ist autonom, d. h. unabhängig von nationalen Begrifflichkeiten. 111 III. Rechtsschutz vor dem EGMR Durch das am 01. 11. 1998 in Kraft getretene 11. Zusatzprotokoll 112 ist das Rechtsschutzsystem grundlegend reformiert worden. Die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) wurde (nach einer einjährigen Übergangszeit) aufgelöst. Der neue ständige Gerichtshof (Art. 19 EMRK) entscheidet nunmehr sowohl über die Zulässigkeit als auch über die Begründetheit einer Menschenrechtsbeschwerde. 113 Die Gerichtsbarkeit ist für alle Vertragsstaaten obligatorisch (vgl. Art. 33, 34 EMRK). 114 Einer besonderen Unterwerfungserklärung bedarf es nicht mehr. 115 Das Ministerkomitee überwacht nach Art. 46 Abs. 2 EMRK die Durchführung der endgültigen Urteile durch die Vertragsstaaten. Seit Inkrafttreten des 14. Protokolls 116 am 01. 06. 2010 kann das Ministerkomitee den Gerichtshof nach Art. 46 Abs. 3 EMRK n. F. anrufen, wenn die Überwachung der Durchführung eines endgültigen Urteils nach Auffassung des Ministerkomitees durch eine Frage betreffend die Auslegung dieses Urteils behindert wird. Der Gerichthof entscheidet dann selbst über diese Auslegungsfrage. Ist das Ministerkomitee der Ansicht, dass ein Vertragsstaat in einer Rechtssache, in der er Partei ist, sich weigert, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, entscheidet der Gerichtshof auf Antrag des Ministerkomitees, ob der Vertragsstaat seiner Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 nachgekommen ist, vgl. Art. 46 Abs. 4 und Abs. 5 EMRK n. F. Die EMRK sieht zwei Arten der Beschwerde vor: die Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) und die Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK). Letztere spielt heute eine weitaus größere Rolle als die Staatenbeschwerde. Mit der Individualbeschwerde kann nur die Verletzung eigener Rechte geltend gemacht werden. 117 110 A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 19; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 1. 111 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 79 f.; KK-Schädler MRK Vorb Rn. 5; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 33; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 55; Meyer-Goßner Vor Art. 1 MRK Rn. 5; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 44; Satzger Jura 2009, 759, 760; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 1. 112 Zustimmungsgesetz v. 24. 07. 1995, BGBl. II 1995, S. 578. 113 Zum neuen Beschwerdeverfahren vgl. Kieschke, Praxis des EGMR, S. 42 ff.; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 1999, 1165 f.; Schlette ZaöRV 56 (1996), 905, 935 ff.; ders. JZ 1999, 219, 222 ff.; Wittinger NJW 2001, 1238 ff. 114 Ehlers Jura 2000, 372, 381 m. Fn. 127; LR-Gollwitzer Einf. MRK Rn. 14. 115 Nach früherem Recht war hinsichtlich der Individualbeschwerde eine besondere Unterwerfungserklärung des Vertragsstaates erforderlich, vgl. Art. 25, 46 EMRK a. F. 116 Zustimmungsgesetz v. 21. 02. 2006, BGBl. II 2006, S. 138.

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Sie ist erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe 118 zulässig und muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingelegt werden, Art. 35 Abs. 1 EMRK. IV. Bindungswirkung der Urteile des EGMR 1. Rechtskraftwirkung Die Vertragsstaaten haben sich nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Der EGMR stellt lediglich die Konventionswidrigkeit einer innerstaatlichen Maßnahme fest. 119 Die Urteile haben keine kassatorische Wirkung. 120 Der betroffene Vertragsstaat ist jedoch verpflichtet, die Konventionsverletzung zu beseitigen und Wiedergutmachung zu leisten. 121 Die Wahl der Mittel bleibt dabei grundsätzlich dem Staat überlassen. 122 Gestattet das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Konventionsverletzung, spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädi117

Ehlers Jura 2000, 372, 381. Hierzu gehört auch die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG, vgl. Gusy JA 2009, 406, 407; KK-Schädler Art. 46 MRK Rn. 8; Meyer-Ladewig Einl. Rn. 17; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 34; Wittinger NJW 2001, 1238, 1239. 119 Frowein / Peukert Art. 46 Rn. 2 f.; Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 3; Gusy JA 2009, 406, 408; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 426; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 54, 57; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 16; Okresek EuGRZ 2003, 168, 169; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 227, 232; ders. EuGRZ 1996, 350; Satzger Jura 2009, 759, 760; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 15. 120 Da konventionswidrige Urteile ihre Rechtskraft behalten, wurde für das deutsche Strafverfahren der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 6 StPO eingeführt. 121 EGMR, Papamichalopoulos u. a. gg. GR, Series A 330-B, § 34; Clooth gg. B, Rep. 1998-I, § 14; Castillo Algar gg. E, Rep. 1998-VIII, § 60; Assanidze gg. GE, Rep. 2004-II, § 198; Haase gg. D, Rep. 2004-III, § 115; Prodan gg. MD, Rep. 2004-III, § 70; Scordino gg. I, § 246; Ehlers Jura 2000, 372, 382; Frowein / Peukert Art. 46 Rn. 4 f.; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 55; Kilian, Bindungswirkung, S. 200, 203; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 16 f.; Polakiewicz ZaöRV 52 (1992), 149, 164 f.; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 227, 233 f.; Sommer StraFo 2002, 309, 310; Villiger ZSchwR 1985, 469, 474 f. 122 EGMR, Marckx gg. B, Series A 31, § 58; Belilos gg. CH, Series A 132, § 78; Papamichalopoulos u. a. gg. GR, Series A 330-B, § 34; Clooth gg. B, Rep. 1998-I, § 14; Scordino gg. I, § 247; Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 3; Gusy JA 2009, 406, 408; Kilian, Bindungswirkung, S. 200; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 17; Okresek EuGRZ 2003, 168, 170; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 253; Polakiewicz ZaöRV 52 (1992), 149, 165; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 227, 234; Satzger Jura 2009, 759, 760; Villiger ZSchwR 1985, 469, 476. 118

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Teil 1: Grundlagen

gung zu, wenn dies notwendig ist (Art. 41 EMRK). Die Entschädigung besteht regelmäßig in Zahlung einer Geldsumme an den Betroffenen. Urteile des EGMR binden alle Staatsgewalten des verurteilten Staates, also Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit. 123 Nach der Rechtsprechung des BVerfG gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zur Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). 124 Die deutschen Gerichte sind zudem bereits durch den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung dazu angehalten, nationale Normen so auszulegen, dass sie im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik stehen. 125 Die Endgültigkeit der Urteile bestimmt sich nach den Vorschriften der Art. 42 und 44 EMRK. Urteile des Gerichtshofs erwachsen damit nach Art. 42, 44 in formelle und nach Art. 46 EMRK in (begrenzte) materielle Rechtskraft. 126 2. Orientierungswirkung Am Verfahren nicht beteiligte Vertragsstaaten sind nach Art. 46 Abs. 1 EMRK nicht an das Urteil des EGMR gebunden. Um künftige Beschwerden an den Gerichtshof zu vermeiden, ist es jedoch für alle Vertragsstaaten ratsam, eine konventionswidrige Gesetzeslage oder Rechtsanwendung zu beseitigen. Von den Entscheidungen des EGMR geht damit eine „Orientierungswirkung“ aus, die über den Einzelfall hinausreicht. 127 123

BVerfGE 111, 307, 316; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 591; Cremer EuGRZ 2004, 683, 692; Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 4; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 17; Polakiewicz ZaöRV 52 (1992), 149, 176; Satzger Jura 2009, 759, 760. 124 BVerfGE 111, 307, 323; BVerfG NJW 2007, 204, 205; s. auch Breuer NVwZ 2005, 412 ff.; Grupp / Stelkens DVBl. 2005, 133 ff.; krit. Cremer EuGRZ 2004, 683 ff.; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 17. Vgl. auch BGH NStZ 2010, 567, 568; NJW 2011, 240, 242. 125 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; BVerfG NJW 2007, 499, 500; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 591 f.; K. Kühl ZStW 100 (1988), 406, 428; Masuch NVwZ 2000, 1266, 1268; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 227, 247, 257 ff.; Sommer StraFo 2002, 309, 310; ders., in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 15. 126 BVerfGE 111, 307, 319 f.; BVerfG NJW 1986, 1425, 1427; Cremer EuGRZ 2004, 683, 690; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 59 f.; Kilian, Bindungswirkung, S. 115 ff., 125, 131 ff.; Meyer-Ladewig / Petzold NJW 2005, 15, 16; Ress, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 227, 231 ff. 127 Grundlegend Mosler, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 355, 366; s. auch BVerwGE 110, 203, 210 („normative Leitfunktion“); Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 839; Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 9; Gusy JA 2009, 406, 409 f.; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 69 ff.; KK-Schädler Art. 46 MRK Rn. 13; K. Kühl ZStW 100 (1988), 406, 422; Masuch NVwZ 2000, 1266, 1267; Okresek EuGRZ 2003, 168, 169;

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Die Auslegung der EMRK durch den EGMR ist daher auch bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen. 128

B. Zeitlicher Geltungsbereich der Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK Art. 6 Abs. 3 EMRK enthält besondere Garantien für das Strafverfahren und gewährleistet jeder „angeklagten Person“ das Recht auf frühzeitige Unterrichtung über die Beschuldigung (lit. a), das Recht auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung (lit. b), das Recht auf Verteidigung (lit. c), das Recht auf Zeugenbefragung (lit. d) und das Recht auf einen Dolmetscher (lit. e). Die Einzelgarantien des Art. 6 Abs. 3 sind Konkretisierungen des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. 129 Die Aufzählung ist nicht erschöpfend. 130 Die Rechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK gelten nach dem Wortlaut der deutschen Fassung für die „angeklagte Person“. 131 Nach § 157 StPO ist Angeklagter der Beschuldigte oder Angeschuldigte, gegen den die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist. Die Geltung der Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK im Ermittlungsverfahren war daher lange Zeit umstritten. 132 Der Begriff der „strafrechtlichen Pache EuR 2004, 393, 406; Ress EuGRZ 1996, 350; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 15; Stöcker NJW 1982, 1905, 1909. 128 BGHSt 45, 321, 328 f.; 46, 93, 97; 51, 150, 155; 52, 11, 19. 129 EGMR, Pakelli gg. D, Series A 64, § 42; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 39; Deweer gg. B, Series A 35, § 56; Artico gg. I, Series A 37, § 32; Goddi gg. I, Series A 76, § 28; Colozza gg. I, Series A 89, § 26; Bönisch gg. A, Series A 92, § 29; Unterpertinger gg. A, Series A 110, § 29; Asch gg. A, Series A 203, § 25; Brandstetter gg. A, Series A 211, § 42; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 43; Artner gg. A, Series A 242-A, § 19; Foucher gg. F, Rep. 1997-II, § 30; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 49; Krombach gg. F, Rep. 2001-II, § 82; Meftah u. a. gg. F, Rep. 2002-VII, § 40; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 596; Dörr, Faires Verfahren, S. 74; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 2, 278; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 159 f., 233; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 97; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 218; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 486; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 46; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 222; Rzepka, Fairness, S. 25 f., 57; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 2; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 125; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 631. 130 Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 2, 112; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 486; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 46; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 70; Meyer-Goßner Art. 6 MRK Rn. 16; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 223; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 127; Peukert EuGRZ 1980, 247, 248; Satzger Jura 2009, 759, 766; Schubarth ZSchwR 94 (1975), 465, 505; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 2; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 631. 131 Englischer Wortlaut: „everyone charged with a criminal offence“ und französischer Wortlaut: „tout accusé a droit“, vgl. Anhang 1.

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Teil 1: Grundlagen

Anklage“ ist jedoch autonom und unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften auszulegen. 133 Maßgeblich sind allein der englische und französische Originalwortlaut. Der EGMR definiert die strafrechtliche Anklage als die amtliche Bekanntgabe der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat zur Last gelegt wird. 134 Ebenso liegt nach der Rechtsprechung des EGMR eine strafrechtliche Anklage vor, wenn Maßnahmen gegen den Betroffenen durchgeführt werden, aus denen sich ein solcher Vorwurf ergibt und die erhebliche Auswirkungen auf die Situation des Betroffenen haben. 135 Zu derartigen Maßnahmen gehören u. a. die Festnahme wegen des Verdachts der Begehung ei132

Zum früheren Streitstand vgl. Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 138 ff. EGMR, Neumeister gg. A, Series A 8, § 18; Engel u. a. gg. NL, Series A 22, § 81; König gg. D, Series A 27, § 88; Deweer gg. B, Series A 35, § 42; Adolf gg. A, Series A 49, § 30; Campbell u. Fell, Series A 80, § 68; Öztürk gg. D, Series A 73, § 50; Imbrioscia gg. CH, Series A 275, § 36; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 25; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 166 ff., 192; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 150; IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 191; Jacobs / White / Ovey, ECHR, pp. 243, 279; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 28, 38; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 21; Satzger Jura 2009, 759, 766; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 118; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 540. 134 „... the official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence“, vgl. EGMR, Deweer gg. B, Series A 35, § 46; Eckle gg. D, Series A 51, § 73; Foti u. a. gg. I, Series A 56, § 52; Corigliano gg. I, Series A 57, § 34; Öztürk gg. D, Series A 73, § 55; Reinhardt u. Slimane-Kaïd gg. F, Rep. 1998-II, § 93; Hozee gg. NL, Rep. 1998-III, § 43; Escoubet gg. B, Rep. 1999-VII, § 34; Coëme u. a. gg. B, Rep. 2000-VII, § 133; I.J.L. u. a. gg. GB, Rep. 2000-IX, § 131; Włoch gg. PL, Rep. 2000-XI, § 144; s. auch Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 53; ders. StraFo 2003, 335, 339; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 41; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 211 f.; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 25; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 156; IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 204; Jacobs / White / Ovey, ECHR, p. 246; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 11; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 39; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 22; Rzepka, Fairness, S. 29; SK-Paeffgen Art. 6 Rn. 47; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 119; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 540; Weigend StV 2000, 384, 387. 135 „... other measures which carry the implication of such an allegation and which likewise substantially affect the situation of the suspect“, vgl. EGMR, Foti u. a. gg. I, Series A 56, § 52; Corigliano gg. I, Series A 57, § 34; Öztürk gg. D, Series A 73, § 55; Escoubet gg. B, Rep. 1999-VII, § 34; s. auch EGMR, Deweer gg. B, Series A 35, § 46; Eckle gg. D, Series A 51, § 73; Reinhardt u. Slimane-Kaïd gg. F, Rep. 1998-II, § 93; Hozee gg. NL, Rep. 1998-III, § 43; Coëme u. a. gg. B, Rep. 2000-VII, § 133; I.J.L. u. a. gg. GB, Rep. 2000-IX, § 131; Włoch gg. PL, Rep. 2000-XI, § 144; s. auch Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 55; ders. StraFo 2003, 335, 339; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 42; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 212; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 25; IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 204; Jacobs / White / Ovey, ECHR, p. 246; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 11; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 39; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 22; SK-Paeffgen Art. 6 Rn. 47; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 119; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, pp. 540 –541. 133

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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ner strafbaren Handlung oder sonstige strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchung und Beschlagnahme. 136 Unerheblich ist dabei, ob es tatsächlich zu einer formellen Anklageerhebung kommt oder das Verfahren bereits zuvor wegen Geringfügigkeit oder aus anderen Gründen eingestellt wird. 137 Damit entspricht der Begriff der „angeklagten Person“ in Art. 6 Abs. 3 EMRK vielmehr dem des „Beschuldigten“ i. S. d. StPO. 138 Die Garantien des Art. 6 Abs. 3 EMRK gelten daher grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren. 139 Das ist vor allem dann der Fall, wenn das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ansonsten ernsthaft oder unwiederbringlich präjudiziert wird. 140

C. Recht auf Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK „... to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require.“ 141

Der Beschuldigte hat nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen oder, 136 Vgl. EGMR, Wemhoff gg. D, Series A 7, § 19 (vorläufige Festnahme); Neumeister gg. A, Series A 8, § 18 (Untersuchungshaft); Eckle gg. D, Series A 51, § 75 (Durchsuchung und Beschlagnahme); Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 88 f.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 39; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, pp. 540 – 541. 137 Vgl. EGMR, Deweer gg. B, Series A 35, § 46; Adolf gg. A, Series A 49, § 33; Minelli gg. CH, Series A 62, § 32; Imbrioscia gg. CH, Series A 275, § 36; Frowein / Peukert Art. 6 EMRK Rn. 41; IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 207 f.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 39. 138 Zum Beschuldigtenbegriff der StPO vgl. Fincke ZStW 95 (1983), 918 ff.; Geppert, FS Schroeder, 675 ff.; LR-Gleß § 136 Rn. 4 ff.; LR-Erb § 163a Rn. 7 ff.; K. Peters, Strafprozeß, S. 200 ff.; Meyer-Goßner Einl. Rn. 76 ff.; Rogall, Der Beschuldigte, S. 20 ff.; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 9 ff. 139 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 187 ff.; IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 208; J. T. Müller, Das „right to counsel“, S. 99; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 136; Rzepka, Fairness, S. 30; Schroeder, FS Pötz, 205, 213; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 7; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 148 ff.; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, pp. 631 – 632. 140 EGMR, Imbrioscia gg. CH, Series A 275, § 36 („seriously prejudiced“); s. auch Murray gg. GB, Rep. 1996-I, § 62; Brennan gg. GB, Rep. 2001-X, § 45; Öcalan gg. TK, Rep. 2005-IV, § 131; Salduz gg. TK, § 50; Pishchalnikov gg. RUS, § 65; Dzankovic gg. D; Magee gg. GB, Rep. 2000-VI, § 44 („irretrievably prejudiced“); Ambos ZStW 115 (2003), 583, 611 f.; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 729. 141 Vgl. Anhang 1.

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Teil 1: Grundlagen

falls ihm die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. 142 Die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK sollen eine effektive und wirksame Verteidigung des Beschuldigten sichern. 143 Auch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gilt grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren. 144 Das gilt vor allem dann, wenn bereits im Ermittlungsverfahren Beweiserhebungen stattfinden, die in der Hauptverhandlung nur noch „reproduziert“ werden oder die den weiteren Verlauf des Verfahrens prägen. 145 I. Recht auf Selbstverteidigung Der Beschuldigte hat grundsätzlich das Recht, sich selbst zu verteidigen. Das ergibt sich bereits aus seinem Status als Subjekt des Verfahrens. 146 Dem Beschuldigten wird mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK aber kein unbeschränktes Recht eingeräumt, auf den Beistand eines Verteidigers zu verzichten. Ist die Verteidigung nach nationalen Vorschriften notwendig, ist dem unverteidigten Beschuldigten (unter Umständen auch gegen seinen ausdrücklichen Willen) von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen. Hierin liegt kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. 147 Zwar bleibt das Recht des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, auch neben der anwaltlichen Verteidigung grundsätzlich unberührt. 148 Hat der Beschuldigte aber einen Wahl- oder Pflichtverteidiger, ist es in erster Linie dessen 142

Vgl. auch Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR. EGMR, Artico gg. I, Series A 37, § 33; Pakelli gg. D, Series A 64, § 31; Goddi gg. I, Series A 76, § 27; S gg. CH, Series A 220, § 48; Imbrioscia gg. CH, Series A 275, § 38; Daud gg. P, Rep. 1998-II, § 38; Coëme u. a. gg. B, Rep. 2000-VII, § 98; Brennan gg. GB, Rep. 2001-X, § 58; Öcalan gg. TK, Rep. 2005-IV, § 135; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 451, 492; Jacobs / White / Ovey, ECHR, p. 291; SK-Wohlers Vor § 137 ff. Rn. 32. Vgl. auch BGHSt 48, 170, 172. 144 EGMR, Salduz gg. TK, § 50; Pishchalnikov gg. RUS, § 65; Dzankovic gg. D; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 452; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 292; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 252; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 219; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 532; Jacobs / White / Ovey, ECHR, p. 292; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 231; Rzepka, Fairness, S. 64; Schroeder, FS Pötz, 205, 211; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 147 f. 145 IntKomm-Vogler Art. 6 Rn. 207; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 148. 146 LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 192; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 46. 147 EGMR, Croissant gg. D, Series A 237-B, § 27; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 607; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 492; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 107; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 226; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 536; LR-Gollwitzer Art. 6 EMRK Rn. 194; Schubarth ZSchwR 94 (1975), 465, 508; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 137; krit. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 559 ff. 143

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Aufgabe, die Verteidigungsrechte wahrzunehmen. 149 Beschuldigter und Verteidiger üben die Verteidigungsrechte gemeinsam aus. 150 Es ist also ausreichend, wenn zumindest dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt oder die Ausübung von Anwesenheits- und Fragerechten ermöglicht wird. II. Recht auf freie Verteidigerwahl Nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hat der Beschuldigte zudem das Recht, sich des Beistandes eines Verteidigers seiner Wahl zu bedienen. Auch das Recht auf freie Verteidigerwahl gilt bereits im Ermittlungsverfahren. 151 Damit entspricht es dem Recht des Beschuldigten nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Zwar erweckten frühere Entscheidungen der Kommission und des Gerichtshofs zunächst den Eindruck, es handele sich nicht um ein absolutes Recht 152 und die Formulierung „wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“ gelte auch für das Recht auf freie Verteidigerwahl, so dass das Recht des Beschuldigten auf Beistand eines gewählten Verteidigers beschränkt werden könne, wenn der Beschuldigte in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. 153 Der EGMR hat jedoch inzwischen klargestellt, dass sich die entsprechende Formulierung des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nur auf die unentgeltliche Bestellung eines Verteidigers bezieht. 154 Der Beschuldigte hat damit ein absolutes und unbedingtes Recht, sich eines Verteidigers seiner Wahl zu bedienen. 155

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Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 293; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 194; Rzepka, Fairness, S. 65. 149 Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 293; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 537; Peukert EuGRZ 1980, 247, 265. 150 Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 279; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 539; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 194; Peukert EuGRZ 1980, 247, 259; Rzepka, Fairness, S. 57 f.; krit. Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 157 f. 151 Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 108; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 195; SKPaeffgen Art. 6 EMRK Rn. 138. 152 Vgl. EKMR, X gg. D, CD 9, 1, 3; X gg. A, CD 23, 31, 35; X gg. N, DR 3, 43, 44; X gg. A, DR 9, 50, 52; Ensslin, Baader u. Raspe gg. D, DR 14, 64, 114. 153 Vgl. EGMR, Engel u. a. gg. NL, Series A 22, § 91. Dagegen Trechsel SchwZStR 96 (1979), 337, 355 ff.; Triffterer / Binner EuGRZ 1977, 136, 142 f.; krit. auch Peukert EuGRZ 1980, 247, 265. 154 EGMR, Pakelli gg. D, Series A 64, § 31; ebenso Ambos ZStW 115 (2003), 583, 606; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 227; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 540 f.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 196; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 49; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 138; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 132. 155 Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 300; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 542; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 196; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 49; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK

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Teil 1: Grundlagen

Beschränkungen des Rechts auf freie Verteidigerwahl sind nur in engen Grenzen zulässig. 156 Die im Zusammenhang mit den RAF-Prozessen eingeführten Vorschriften 157 über die Begrenzung der Zahl der Wahlverteidiger (§ 137 Abs. 1 S. 2 StPO), das Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO) und den Verteidigerausschluss (§§ 138a ff. StPO) sind mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK vereinbar. 158 III. Recht auf Verteidigerbeiordnung Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt darüber hinaus dem Beschuldigten, dem die Mittel zur Bezahlung eines Wahlverteidigers fehlen, das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Da dem mittellosen Beschuldigten eine ebenso effektive Verteidigung gewährleistet werden soll wie dem Beschuldigten, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger wählt, gilt auch das Recht auf Verteidigerbeiordnung bereits im Ermittlungsverfahren. 159 Die Beiordnung eines Verteidigers nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hat zwei Voraussetzungen: die Mittellosigkeit des Beschuldigten und die Erforderlichkeit des Verteidigerbeistandes im Interesse der Rechtspflege. Beide müssen kumulativ gegeben sein. Der mittellose Beschuldigte erhält damit nur dann den Beistand eines Verteidigers, wenn das Interesse der Rechtspflege dies erfordert. Die autonome Auslegung des Begriffs der „Interessen der Rechtspflege“ kann sich nur am Originalwortlaut der englischen („interests of justice“) bzw. französischen Fassung („intérêts de la justice“) orientieren. In beiden Sprachen wird das Wort „justice“ aber sowohl für Gerechtigkeit als auch für Rechtspflege gebraucht. Daher muss auf Sinn und Zweck der Vorschrift abgestellt werden. Auch in den Fällen der Pflichtverteidigung hat der Beschuldigte Anspruch auf effektive und wirksame Verteidigung. 160 Der Begriff der „interests of justice“ umfasst daher vor allem die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten. 161 Die deutsche Übersetzung ist insoweit missverständlich. Rn. 152; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 71; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 131 f.; Trechsel SchwZStR 96 (1979), 337, 357. 156 SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 146. 157 Eingeführt mit Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts v. 20. 12. 1974, BGBl. I 1974, S. 3686. 158 EKMR, Ensslin, Baader u. Raspe gg. D, DR 14, 64, 88 f. = EuGRZ 1978, 314, 323 f.; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 547, 549 ff.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 200; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 66; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 147, 149. 159 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 604; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 476; ders. StraFo 2003, 335, 339; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 292, 301; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 171; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 150 f. 160 EGMR, Artico gg. I, Series A 37, § 33; Dörr, Faires Verfahren, S. 67; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 270 f.; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 70, 74, 150.

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Im Fall Quaranta machte der EGMR erstmalig eingehende Ausführungen zu den Voraussetzungen einer Verteidigerbeiordnung. 162 Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der in der Schweiz lebende italienische Beschwerdeführer war zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Während der Bewährungszeit geriet er in den Verdacht der Begehung von Drogendelikten. Bei seiner untersuchungsrichterlichen Vernehmung beantragte er die unentgeltliche Beiordnung eines Verteidigers. Der Antrag wurde abgelehnt. Beim erkennenden Gericht stellte er zwei weitere Anträge auf Beiordnung eines Verteidigers. Ein Verteidiger wurde ihm jedoch nicht beigeordnet. Der Beschwerdeführer wurde zu sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Gleichzeitig wurde die frühere Strafaussetzung widerrufen. Weder ein Verteidiger noch ein Vertreter der Anklage nahmen an der Hauptverhandlung teil.

Der EGMR nahm einen Verstoß gegen das Recht auf Verteidigerbeiordnung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK an und führte aus: „32. In order to determine whether the ‚interests of justice‘ required that the applicant receive free legal assistance, the Court will have regard to various criteria ... 33. In the first place, consideration should be given to the seriousness of the offence of which Mr Quaranta was accused and the severity of the sentence which he risked. He was accused of use of and traffic in narcotics and was liable to ‚imprisonment or a fine‘ ... According to the Government, there was nothing in the file to indicate that the Criminal Court was likely to impose a sentence exceeding eighteen months, the maximum for a suspended sentence. By sentencing the applicant to six months’ imprisonment, the court did not reach this limit, even if the sentence imposed in 1982 is taken into account ... The Court notes however that this was no more than an estimation; the imposition of a more severe sentence was not a legal impossibility. Under section 19 para. 1 of the Federal Misuse of Drugs Act, in conjunction with Article 36 of the Swiss Criminal Code, the maximum sentence was three years’ imprisonment ... In the present case, free legal assistance should have been afforded by reason of the mere fact that so much was at stake. 34. An additional factor is the complexity of the case. The Court agrees with the Government that the case did not raise special difficulties as regards the establishment of the facts, which the applicant had moreover admitted immediately at his only examination by the investigating judge. However, the outcome of the trial was of considerable importance for the applicant since the alleged offence had occurred during 161 Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 476; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 265, 564 ff.; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 230; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 554; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 203; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 57; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 73 f. 162 EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, §§ 32 ff.

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Teil 1: Grundlagen the probationary period to which he was made subject in 1982 ... The Criminal Court therefore had both to rule on the possibility of activating the suspended sentence and to decide on a new sentence. The participation of a lawyer at the trial would have created the best conditions for the accused’s defence, in particular in view of the fact that a wide range of measures was available to the Court. 35. Such questions, which are complicated in themselves, were even more so for Mr Quaranta on account of his personal situation: a young adult of foreign origin from an underprivileged background, he had no real occupational training and had a long criminal record. He had taken drugs since 1975, almost daily since 1983, and, at the material time, was living with his family on social security benefit. 36. In the circumstances of the case, his appearance in person before the investigating judge, and then before the Criminal Court, without the assistance of a lawyer, did not therefore enable him to present his case in an adequate manner.“

Die Erforderlichkeit des Beistandes eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege kann sich daher aus der Schwere des Tatvorwurfs („seriousness of the offence“) und der drohenden Strafe („severity of the sentence“), der Komplexität des Falles („complexity of the case“) sowie der persönlichen Situation des Beschuldigten („personal situation“) ergeben. 163 Die Begriffe sind extensiv auszulegen. 164 Für die Beurteilung ist maßgeblich auf die Interessenlage des Beschuldigten abzustellen. 165 Verteidigerbeistand ist nach der Rechtsprechung des EGMR im Interesse der Rechtspflege grundsätzlich erforderlich, wenn dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe droht. 166 Dabei geht der Gerichtshof allerdings nicht von der konkret zu erwartenden Strafe, sondern der gesetzlich zulässigen Höchststrafe („maximum sentence“) aus. 167 Auch kommt es nicht darauf an, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. 168 163 EGMR, Granger gg. GB, Series A 174, § 47; Quaranta gg. CH, Series A 205, §§ 33 ff.; Benham gg. GB, Rep. 1996-III, § 60; Boner gg. GB, Series A 300-B, §§ 41 ff.; Maxwell gg. GB, Series A 300-C, §§ 38 ff.; Twalib gg. GR, Rep. 1998-IV, §§ 52 f.; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 606; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 477 ff.; ders. StraFo 2003, 335, 339; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 301 ff.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 266 ff.; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 558; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 234; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 57; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 153; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 75 f.; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, pp. 642 – 643; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 725 f.; ders. StV 2007, 376, 377 f. 164 SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 153. 165 IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 554. 166 „... where deprivation of liberty is at stake, the interests of justice in principle call for legal representation“, vgl. Benham gg. GB, Rep. 1996-III, § 61; Hooper gg. GB, § 20; Lloyd u. a. gg. GB, § 134; Beet u. a. gg. GB, § 38. In diesen Fällen genügte dem EGMR bereits die Erwartung weniger Tage „Ersatzfreiheitsstrafe“, um die Erforderlichkeit anwaltlichen Beistandes zu bejahen.

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Die Komplexität des Falles betrifft die Schwierigkeit der Sach- und / oder Rechtslage. Der Beistand eines Verteidigers ist nach Ansicht des Gerichtshofs etwa dann erforderlich, wenn dem Gericht mehrere Sanktionsmittel zur Verfügung stehen, da in diesen Fällen erst die Mitwirkung eines Verteidigers eine effektive Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet. 169 Die Verteidigung ist zudem im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn nur ein Verteidiger in der Lage ist, entlastende Gesichtspunkte herauszustellen und den umfangreichen Erklärungen der Staatsanwaltschaft entgegenzutreten. 170 Daneben kann auch die persönliche Situation des Beschuldigten den Beistand eines Verteidigers erfordern. Hierbei können unter anderem die fehlende oder eingeschränkte Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten, seine soziale Herkunft, Drogenabhängigkeit, Sprachunkundigkeit oder ein drohender Bewährungswiderruf zu berücksichtigen sein. 171 Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt dem Beschuldigten ausschließlich das Recht, den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Eine Pflicht, dem Beschuldigten von Amts wegen (unter Umständen auch gegen seinen Willen) einen Verteidiger beizuordnen, enthält die EMRK dagegen nicht. 172 Verfügt der Beschuldigte über die finanziellen Mittel und wählt er dennoch keinen Verteidiger, gewährt die EMRK auch dann kein Recht auf Beiordnung eines Verteidigers, wenn die Verteidigung im Interesse der Rechtspflege erforderlich wäre. 173 Im Gegensatz zur StPO steht das Recht auf Verteidigerbeiordnung nach der EMRK damit nur dem mittellosen Beschuldigten zu. 174 Eine „notwendige“ Verteidigung i. S. d. StPO, unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Beschuldigten, gibt es nach der EMRK nicht. 167 EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, § 33; Benham gg. GB, Rep. 1996-III, § 61; vgl. auch Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 478; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 266; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 74; Wohlers StV 2007, 376, 377. 168 EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, § 33. 169 EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, § 34; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 479. 170 EGMR, Artico gg. I, Series A 37, § 34; Pakelli gg. D, Series A 64, § 38; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 479. 171 EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, §§ 34 f.; Twalib gg. GR, Rep. 1998-IV, § 53; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 479. 172 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 80; SK-Wohlers Vor § 137 ff. Rn. 38; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 74, 90; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 730. Anders Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 170; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 136. 173 IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 555; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 56. 174 Krit. daher Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 472; ders. StraFo 2003, 335, 339.

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Teil 1: Grundlagen

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt nach herrschender Auffassung jedoch keinen Anspruch auf endgültige Befreiung von den Kosten des Pflichtverteidigers. Nur wenn der Beschuldigte bei Geltendmachung der Kostenforderung immer noch mittellos ist, braucht er die Kosten nicht zu tragen. 175 IV. Gesamtbetrachtungslehre des EGMR Nach der Rechtsprechung des EGMR ist für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK entscheidend, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung, fair gewesen ist. 176 Der EGMR differenziert dabei in der Regel nicht zwischen den Rechten aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK. In diese Betrachtung bezieht der EGMR die Entwicklung des gesamten Verfahrens, also von Beginn des Ermittlungsverfahrens bis einschließlich der Rechtsmittelinstanz, ein. 177 Es kommt mithin darauf an, ob die Verletzung der Rechte des Beschuldigten so schwer wiegt, dass das Verfahren in seiner Gesamtheit als „unfair“ anzusehen ist.

175

EGMR, Croissant gg. D, Series A 237-B, §§ 35 ff.; BVerfG NJW 2003, 196; OLG Bamberg JurBüro 1986, 1057, 1058 m. zust. Anm. Mümmler; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 283; OLG Hamm NStZ-RR 2000, 160; OLG Koblenz MDR 1986, 779; OLG Köln JurBüro 1991, 855 f.; OLG München NJW 1981, 534; OLG Oldenburg JurBüro 1982, 742, 743 f.; OLG Stuttgart OLGSt MRK Art. 6 Nr. 4; OLG Zweibrücken NStZ 1990, 51; LG Osnabrück JurBüro 1991, 718 f. m. zust. Anm. Mümmler; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 265, 569 f.; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 307; Haefliger / Schürmann, EMRK, S. 233 f.; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 569; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 207; D. Meyer NJW 1974, 1175, 1176; ders. JurBüro 1991, 1031, 1034; Meyer-Goßner Art. 6 MRK Rn. 21; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 233; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 137; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 100; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 153. Dagegen OLG Düsseldorf NStZ 1982, 339; 1985, 370 ff. m. abl. Anm. Schikora; J. T. Müller, Das „right to counsel“, S. 104; H. Schmidt NJW 1974, 90; Spaniol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 86 ff. 176 EGMR, Barberà u. a. gg. E, Series A 146, § 68; Windisch gg. A, Series A 186, § 25; Asch gg. A, Series A 203, § 26; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 43; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 39; Delta gg. F, Series A 191-A, § 35; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 31; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 43; Edwards gg. GB, Series A 247-B, § 34; Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 67; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 48; Mantovanelli gg. F, Rep. 1997-II, § 34; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 50; Bernard gg. F, Rep. 1998-II, § 37; Teixeira de Castro gg. P, Rep. 1998-IV, § 34; Pélissier u. Sassi gg. F, Rep. 1999-II, § 45; Jalloh gg. D, § 95; dazu Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 162 ff., 428 ff.; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 64; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 96, 141; Schroeder GA 2003, 293 ff. 177 Vgl. Eisele JR 2004, 12, 15; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 113; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 96. Krit. zur sog. Gesamtbetrachtungslehre Ambos ZStW 115 (2003), 583, 613; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 860 f.; Rzepka, Fairness, S. 103 f.; Walther GA 2003, 204, 218 f.

Kap. 2: Recht auf Verteidigerbeistand nach der EMRK

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Die Verteidigungsrechte des Beschuldigten müssen jedoch bereits im Ermittlungsverfahren gewährleistet sein, wenn sich aufgrund einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens ergibt, dass andernfalls das Recht auf ein faires Verfahren ernsthaft oder unwiederbringlich präjudiziert wird.

D. Zusammenfassung Die EMRK hat in Deutschland den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Die Begriffe der EMRK sind autonom und unabhängig von nationalen Begrifflichkeiten so auszulegen, dass ein effektiver Schutz der gewährleisteten Rechte sichergestellt wird. Die EMRK will Rechte garantieren, die nicht nur theoretisch oder illusorisch, sondern wirksam und effektiv sind. Von den Entscheidungen des EGMR geht eine über den Einzelfall hinausreichende Orientierungswirkung aus. Die Gewährleistungen der EMRK in der Auslegung des EGMR sind auch im deutschen Strafverfahren zu berücksichtigen. Die Garantien des Art. 6 Abs. 3 sind Konkretisierungen des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und gelten grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren. Das gilt insbesondere dann, wenn andernfalls das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ernsthaft oder unwiederbringlich präjudiziert wird. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährleistet dem Beschuldigten das Recht, sich selbst zu verteidigen, auf seine Kosten einen Verteidiger zu wählen oder, falls dem Beschuldigten die finanziellen Mittel dazu fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Bezüglich der Erforderlichkeit einer Verteidigerbeiordnung im Interesse der Rechtspflege ist maßgeblich auf die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten abzustellen. Dabei sind vor allem die Schwere des Tatvorwurfs und die drohende Strafe, die Komplexität des Falles sowie die persönliche Situation des Beschuldigten zu berücksichtigen. Die EMRK gewährt dem Beschuldigten ausschließlich das Recht, den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn der Beschuldigte mittellos ist und eine Verteidigerbeiordnung im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Eine „notwendige“ Verteidigung kennt die EMRK dagegen nicht. Ob ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vorliegt, beurteilt der EGMR aufgrund einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung.

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Teil 1: Grundlagen

Kapitel 3

Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren A. Verteidigerbeiordnung nach der StPO und der EMRK Sowohl die StPO als auch die EMRK sind unmittelbar geltendes Bundesrecht, so dass die §§ 140, 141 StPO und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK grundsätzlich nebeneinander anwendbar sind. Dabei schließt die EMRK weitergehende Gewährleistungen des nationalen Rechts nicht aus. Denn nach Art. 53 EMRK ist die Konvention nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden (sog. Günstigkeitsprinzip). Die EMRK will also nicht zu einer Beschränkung national verankerter Menschen- und Grundrechte führen, die im Einzelfall ein höheres Schutzniveau gewährleisten. 178 Während die StPO unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere bei schwerem Tatvorwurf, zwingend den Beistand eines Verteidigers fordert und damit eine notwendige Verteidigung anerkennt, erfolgt eine Verteidigerbeiordnung nach der EMRK – auch bei gewichtigem Tatvorwurf – lediglich auf Antrag des (mittellosen) Beschuldigten. Für die Beiordnung eines Verteidigers ist nach beiden Gesetzen maßgeblich auf die Beschuldigteninteressen abzustellen, wobei vor allem die Schwere des Tatvorwurfs, die drohende Strafe, die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage und die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten zu berücksichtigen sind. Bislang wurde allerdings davon ausgegangen, dass die „Interessen der Rechtspflege“ i. S. d. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK hinreichend durch die Vorschriften der StPO zur notwendigen Verteidigung konkretisiert sind. 179 Die herrschende Ansicht zur Auslegung des Begriffs der „Schwere der Tat“ in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO, wonach die Verteidigung regelmäßig erst ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe notwendig ist, kann jedoch nicht überzeugen. Ihr steht die Rechtsprechung des EGMR entgegen, nach der eine Verteidigerbeiordnung im Interesse der Rechtspflege bereits dann erforderlich ist, wenn dem Beschuldigten überhaupt eine Freiheitsstrafe droht, auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. 180 § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ist daher (auch) im Lichte 178

Grabenwarter, EMRK, § 2 Rn. 14. Vgl. BVerfGE 9, 36, 39; Guradze Art. 6 EMRK Anm. 34; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 560; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 137 f.; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 67 f.; krit. J. T. Müller, Das „right to counsel“, S. 101 f. 179

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dahingehend auszulegen, dass notwendige Verteidigung bereits bei drohender Freiheitsstrafe anzunehmen ist – auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird – und der Beschuldigte die Bestellung eines Verteidigers beantragt. 181 Im Gegensatz zur Rechtsprechung des EGMR kann die maximal angedrohte Strafe im deutschen Strafverfahren jedoch nicht für die Beurteilung der Notwendigkeit der Verteidigung ausschlaggebend sein. Denn die Straftatbestände des deutschen Strafrechts sehen im Höchstmaß regelmäßig mehrere Jahre Freiheitsstrafe vor, so dass die Verteidigung stets notwendig wäre. Im deutschen Strafverfahren sollte daher weiterhin auf die konkrete Straferwartung abgestellt werden. Dies ist zum Schutz des jeweiligen Beschuldigten auch ausreichend. Nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ist weitere Voraussetzung einer Verteidigerbeiordnung die Mittellosigkeit des Beschuldigten. Ein vermögender Beschuldigter erhält nach der EMRK auch dann keinen Verteidiger beigeordnet, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich wäre. Demgegenüber kommt es nach der StPO für die Verteidigerbeiordnung auf die finanzielle Situation des Beschuldigten nicht an. Nach §§ 140, 141 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten (von Amts wegen oder auf Antrag) ein Verteidiger beizuordnen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. Insoweit sind die Gewährleistungen der StPO weitergehend. Nach dem Günstigkeitsprinzip kommt es daher im deutschen Strafverfahren für die Frage einer Verteidigerbeiordnung nicht auf die Vermögensverhältnisse des Beschuldigten an. Von der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK können dennoch wichtige Impulse zur Auslegung der Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung ausgehen. Mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wäre allerdings de lege ferenda eine Regelung vereinbar, wonach nur dem mittellosen Beschuldigten auf seinen Antrag ein Verteidiger zu bestellen ist. Im deutschen Strafverfahren kann daher grundsätzlich auf die Vorschriften der notwendigen Verteidigung nach §§ 140, 141 StPO abgestellt werden. Allerdings muss die Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf effektive und wirksame Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK bei der Auslegung der §§ 140, 141 StPO stärker berücksichtigt werden.

180 181

Krit. daher auch Weigend StV 2000, 384, 385 Fn. 24. Dazu bereits oben Teil 1 Kapitel 1 C. II. 2. a).

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Teil 1: Grundlagen

B. Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren nach der Rechtsprechung des BGH Der BGH hatte sich bereits mit der Notwendigkeit einer Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren zu beschäftigen. Die wichtigsten Entscheidungen sollen im Folgenden vorgestellt werden. I. Entscheidungen des 1. Strafsenats 1. BGHSt 46, 93 ff. Dem Urteil des 1. Strafsenats vom 25. 07. 2000 182 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Sexualdelikten (u. a. Vergewaltigung) zum Nachteil seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zentrales Beweismittel für die Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten war die Aussage seiner Tochter vor dem Ermittlungsrichter. Nachdem die Geschädigte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte, wurde der Ermittlungsrichter als Zeuge gehört. Der unverteidigte Angeklagte war bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung seiner Tochter nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen und nach § 168c Abs. 5 S. 2 StPO nicht vom Vernehmungstermin benachrichtigt worden. Ein Verteidiger war ihm vor der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung nicht bestellt worden.

Die Revision des Angeklagten hatte mit einer auf einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK i.V. m. § 141 Abs. 3 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg und führte zur Zurückverweisung an das Landgericht. Der Senat gibt zunächst die Rechtsprechung des EGMR zum Fragerecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK wieder. Danach ist die Garantie des Fragerechts eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens und wird – auch nach der Rechtsprechung des BGH 183 – der Verteidigung insgesamt gewährt. Die Ausgestaltung des Fragerechts ist dabei primär dem nationalen Recht überlassen. Allerdings muss das gesamte Beweisverfahren im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts gesehen werden. Die Vertragsstaaten müssen das Fragerecht daher entsprechend ausgestalten. 184 182 BGHSt 46, 93 ff. = NStZ 2001, 212 m. krit. Anm. Kunert = JZ 2001, 359 m. krit. Anm. Fezer. Dazu auch Eisele JA 2001, 100 ff.; Fezer, FS Gössel, 627 ff.; Franke GA 2002, 573 ff.; Gleß NJW 2001, 3606 f.; Hamm, FS Lüderssen, 717, 722 ff.; Klemke StV 2003, 413 ff.; Neuhaus JuS 2002, 18 ff.; Schlothauer StV 2001, 127 ff.; Sowada NStZ 2005, 1 ff.; Teuter StV 2005, 233 ff. Fortgeführt von BGHSt 51, 150 ff. = JR 2007, 300 m. Anm. Eisele. 183 Vgl. auch BGH StV 1996, 471.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Sodann führt der Senat aus, dass es für die Feststellung eines Konventionsverstoßes nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR darauf ankommt, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung, fair gewesen ist. Zwar soll die Beweisgewinnung grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung erfolgen. Zeugenaussagen müssen jedoch nicht stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden. Die Verwertung von im Vorverfahren gemachten Aussagen ist als solche nicht konventionswidrig. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährleistet weder ein Anwesenheitsrecht bei Zeugenvernehmungen im Vorverfahren noch ist eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen in jedem Fall zwingend geboten. 185 Allerdings muss eine Beschränkung des Fragerechts durch andere Maßnahmen ausgeglichen werden. Dem Angeklagten muss damit – entweder zum Zeitpunkt der Zeugenaussage oder in einem späteren Verfahrensstadium – eine angemessene und geeignete Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen entweder selbst zu befragen oder befragen zu lassen. Dabei reicht eine Befragung nur der Verhörsperson nicht aus, denn Zeuge im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist die originäre Auskunftsperson. Die Einschränkung des Fragerechts kann etwa dadurch kompensiert werden, dass wenigstens ein Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist und den Zeugen befragen kann. 186 Die Auslegung der EMRK durch den EGMR ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen. 187 Nach Auffassung des Senats führt eine konventionskonforme Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO dazu, dass dem unverteidigten Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden muss. 188 Zwar verlangt das Gesetz, wie sich aus § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ergibt, auch in den Fällen, in denen später im gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird, nicht ausnahmslos die Bestellung eines Verteidigers für das Vorverfahren. Nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO beantragt die Staatsanwaltschaft jedoch schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Verteidigers, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 StPO notwendig sein wird. 189 184 185 186 187 188 189

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

46, 46, 46, 46, 46, 46,

93, 93, 93, 93, 93, 93,

95. 95 f. 96 f. 97. Vgl. auch BGHSt 45, 321, 328 f.; 51, 150, 155; 52, 11, 19. 97. 98.

62

Teil 1: Grundlagen

Aus dem Gesetzeswortlaut „beantragt dies“ leitet der Senat eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages ab, wenn abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig werden wird. Der Senat begründet seine Auffassung zudem mit der Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 StPO. Die immer strenger werdende Formulierung von einer Kannüber eine Sollbestimmung bis hin zum heutigen Wortlaut „beantragt dies“ macht deutlich, dass der Gesetzgeber eine Antragspflicht aufstellen wollte. 190 Etwas anderes ergibt sich nach Ansicht des Senats auch nicht aus § 117 Abs. 4 S. 1 StPO (a. F.), wonach dem unverteidigten Beschuldigten für die Dauer der Untersuchungshaft ein Verteidiger bestellt wird, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte bzw. sein gesetzlicher Vertreter dies beantragen. Diese Vorschrift enthält nur eine Mindestgarantie, so dass die Staatsanwaltschaft mit der Antragstellung nicht stets drei Monate zuwarten darf. 191 Der 1. Strafsenat lässt in dieser Entscheidung ausdrücklich offen, ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen. 192 Zumindest dann, wenn ein wichtiger Belastungszeuge ermittlungsrichterlich vernommen werden soll und der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist, wird regelmäßig zu prüfen sein, ob dem unverteidigten Beschuldigten zuvor ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen ist, der die Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung wahrnimmt. Diese Prüfung obliegt in erster Linie der Staatsanwaltschaft. 193 Wird darüber hinaus der zentrale zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge ermittlungsrichterlich vernommen und der Beschuldigte aus Gründen der Beweissicherung von der Anwesenheit ausgeschlossen, reduziert sich das Ermessen bezüglich der Frage einer Verteidigerbestellung auf Null. Nur diese Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit den Vorgaben der EMRK vereinbar. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierte Fragerecht auch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht gewährleistet werden kann. 194 Der Ausschluss des Beschuldigten von der Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung und die nicht erfolgte Benachrichtigung vom Vernehmungstermin sind im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden. Die Beschränkung 190 191 192 193 194

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

46, 46, 46, 46, 46,

93, 93, 93, 93, 93,

98 f. 99. 99. 99. 99 f.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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des Fragerechts hätte jedoch durch die Bestellung eines Verteidigers für den unverteidigten Beschuldigten kompensiert werden müssen. Das Fragerecht wäre durch die Anwesenheit eines Verteidigers bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung gewährleistet gewesen. Die Staatsanwaltschaft wäre daher nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO verpflichtet gewesen, vor der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen. 195 Zum Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung war bereits abzusehen, dass im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO vorliegen würden. Dem Beschuldigten wurden zahlreiche Sexualverbrechen (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO) zur Last gelegt. Die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten hatte einen hohen Beweiswert. Der Haftrichter hatte daher dringenden Tatverdacht bejaht. Damit war abzusehen, dass in dem zu erwartenden gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung vorliegen würden. Die ermittlungsrichterliche Vernehmung der Geschädigten diente ersichtlich dem Zweck der Beweissicherung für den Fall, dass die Zeugin in der späteren Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, so dass eine Beeinträchtigung des Fragerechts des Beschuldigten zu besorgen war. 196 Nach Ansicht des Senats war die Staatsanwaltschaft daher nach konventionskonformer Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO im Hinblick auf das durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierte Fragerecht verpflichtet, die Bestellung eines Verteidigers (nicht nur für die einzelne Ermittlungshandlung) noch vor der Zeugenvernehmung zu beantragen. 197 Nach Auffassung des Senats hat die unterlassene Verteidigerbestellung das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung beeinträchtigt, so dass der Beweiswert des Vernehmungsergebnisses gemindert ist. Eine solche Beweiswürdigungs-Lösung ist nach Ansicht des Senats sachgerechter als ein Beweisverwertungsverbot. Bei der Beweiswürdigungs-Lösung darf der Ermittlungsrichter als Zeuge vernommen werden, dabei gelten jedoch – ähnlich wie beim anonymen Zeugen – besonders strenge Beweis- und Begründungsanforderungen. 198 Der Senat führt zunächst aus, dass auch das Beweisverwertungsverbot des § 252 StPO nicht uneingeschränkt gilt. Zwar kann der Rückgriff auf den Vernehmungsrichter ausgeschlossen sein, wenn die Benachrichtigungspflichten der §§ 168c, 224 StPO verletzt wurden. In seiner neueren Rechtsprechung habe der BGH bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten jedoch mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und daher eine Lösung auf der Ebene 195 196 197 198

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

46, 46, 46, 46,

93, 93, 93, 93,

100. 101. 101. 103. Vgl. auch BGHSt 51, 150, 157 f.

64

Teil 1: Grundlagen

der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll mit geringerem Beweiswert „herabgestuft“ wird. 199 Nach Ansicht des Senats ist für die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozessrechts ebenfalls eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens vorzunehmen. Das gesamte Beweisverfahren müsse im Lichte des Fragerechts gesehen werden. Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es dabei auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an. Unter diesem Aspekt stellt der EGMR zwar primär auf das Beweisverfahren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab. Jedoch wird im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die Beweiswürdigung berücksichtigt. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall abhängt, liege eine dem konkreten Fall gerecht werdende Lösung nahe. Das ist nach Auffassung des Senats mit der Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen; der Senat hält diese deshalb für vorzugswürdig. 200 Zwar erkennt der Senat, dass mit der Beweiswürdigungs-Lösung auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht mitwirken konnte. Insofern sei die Verteidigung aber in einer ähnlichen Lage wie bei dem „im Dunkel bleibenden“ anonymen Zeugen. Dort werde das Fragerecht häufig sogar noch stärker beeinträchtigt, weil nicht einmal die Person des Zeugen bekannt ist und auf bestimmte Fragen oft keine Antwort gegeben wird. Wenn daher die Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein konventionsgemäßer Ausgleich ist, müsse dies auch für den vorliegenden Fall gelten. 201 Nach Auffassung des Senats erweist sich die Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots zudem systemkonform mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem Konventionsverstoß aufgrund einer unzulässigen Tatprovokation. 202 Das fehlerhafte Zustandekommen des Vernehmungsergebnisses infolge unterlassener Verteidigerbestellung müsse daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere Beachtung finden. Auf die Aussage des Vernehmungsrichters könne eine Feststellung in der Regel nur dann gestützt werden, wenn dessen Angaben durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden. Zudem müsse eine solche „sorgfältigste“ Überprüfung der Angaben des Vernehmungsrichters in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil dargelegt werden. 203

199 200 201 202 203

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

46, 46, 46, 46, 46,

93, 93, 93, 93, 93,

104. 104. 104 f. 105. 105 f.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

65

2. BGHSt 47, 172 ff. Dem Urteil des 1. Strafsenats vom 22. 11. 2001 204 ging folgendes Geschehen voraus: Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Mordes verurteilt. Das Landgericht stützte die Verurteilung maßgeblich auf das Geständnis des Angeklagten, das dieser in seiner polizeilichen Vernehmung abgelegt hatte, sowie das Ergebnis der anschließenden Tatrekonstruktion. Ein Verteidiger war ihm weder vor seiner Vernehmung noch vor der Durchführung der Tatrekonstruktion bestellt worden. Bereits 1994 war der Angeklagte in Verdacht des Mordes an B. geraten und polizeilich als Beschuldigter vernommen worden. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Im Jahre 1999 nahm der Angeklagte von sich aus Kontakt zur Polizei auf und machte am 09. 12. 1999 Angaben, die ihn selbst und den Mittäter L. belasteten. Die dem Angeklagten vor der polizeilichen Befragung erteilte Belehrung war nicht vollständig; sie enthielt keinen Hinweis auf das Recht zur vorherigen Verteidigerkonsultation. Der am 10. 12. 1999 (Freitag) telefonisch informierte Oberstaatsanwalt ordnete an, nach dem Mittäter L. zu fahnden und diesen festzunehmen; Haftbefehl werde „sobald als möglich“ beantragt. Mit dem Angeklagten sollte eine weitere Detailabklärung erfolgen. Am 13. 12. 1999 (Montag) verfügte der Oberstaatsanwalt die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am gleichen Tag erklärte sich der Angeklagte zur Mitwirkung an einer Tatrekonstruktion bereit, welche auf Video aufgezeichnet wurde. Am 14. 12. 1999 stellte die Staatsanwaltschaft Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten und gegen L. 205

Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg. Zum einen rügte sie im Ergebnis erfolglos eine Verletzung von §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2 StPO, da der Angeklagte vor seiner geständigen Einlassung bei der Polizei und seiner Mitwirkung an der Tatrekonstruktion nicht über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden war. Der Senat schließt sich zwar den Ausführungen der Revision an, wonach die dem Angeklagten erteilten Belehrungen unvollständig und fehlerhaft waren. Dies führt nach Auffassung des Senats jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot, da der Angeklagte sein Recht auf Verteidigerkonsultation kannte. 206 Der Senat macht zunächst Ausführungen zum Beweisverwertungsverbot als Folge einer unterlassenen Belehrung über die Aussagefreiheit nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO. Auf sein Schweigerecht ist der Beschuldigte unabhängig davon hinzuweisen, ob er seine Rechte kennt oder nicht. Ausnahmen von der Beleh204 BGHSt 47, 172 ff. = JR 2002, 290 m. abl. Anm. Wohlers; dazu auch Beckemper JA 2002, 634 ff.; Franke GA 2002, 573 ff.; Klemke StV 2003, 413 ff.; Sowada NStZ 2005, 1 ff. 205 Insoweit abgedruckt in NJW 2002, 975. 206 BGHSt 47, 172, 173.

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Teil 1: Grundlagen

rungspflicht sind nicht vorgesehen. Denn auch derjenige, der mit der Rechtslage vertraut ist, bedarf wegen der besonderen Situation der Vernehmung im Ermittlungsverfahren des Hinweises, um „klare Gedanken“ fassen zu können. Der unterlassene Hinweis auf die Aussagefreiheit führt grundsätzlich zu einem Beweisverwertungsverbot. Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Beschuldigte seine Rechte kannte. Denn wer auch ohne Belehrung weiß, dass er nicht auszusagen braucht, ist nicht in gleichem Maße schutzwürdig wie derjenige, der sein Schweigerecht nicht kennt. Eine wertende Betrachtung ergibt, dass in einem solchen Fall das Interesse an der Sachaufklärung und der Durchführung des Verfahrens überwiegt. 207 Sodann überträgt der Senat diese Grundsätze auf die Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht. Denn die Pflicht zur Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation hat gegenüber dem Hinweis auf das Schweigerecht des Beschuldigten kein geringeres Gewicht. Beide Rechte stehen in engem Zusammenhang und sichern die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten. Die Verteidigerkonsultation dient gerade dazu, den Beschuldigten zu beraten, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch machen soll oder nicht. Da der Beschuldigte sein Recht auf Verteidigerkonsultation jedoch kannte, lehnte der Senat ein Verwertungsverbot ab. 208 Zum anderen machte die Revision geltend, dass dem Angeklagten bei einer am Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK – Beistand eines Verteidigers) orientierten Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO vor der Entgegennahme seiner weiteren geständigen Einlassung anlässlich seiner Mitwirkung an der Tatrekonstruktion ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen. Auch diese Rüge hatte keinen Erfolg. Der Senat führt hierzu aus, dass selbst wenn dem Beschuldigten ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen, dies nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Nach der dann vorzunehmenden Abwägung erfordere das Gewicht des Schutzbedürfnisses des Angeklagten angesichts der gegebenen Begleitumstände nicht die Annahme eines Verwertungsverbotes. 209 Zunächst macht der Senat Ausführungen zu einer Antragspflicht der Staatsanwaltschaft. Die sich unmittelbar aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ergebende Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages ist nach Auffassung des Senats jedenfalls zu dem Zeitpunkt begründet, zu dem gegen den Beschuldigten der dringende Tatverdacht eines Verbrechens besteht (vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO) und der Beschuldigte tatsächlich auch des Beistandes eines Verteidigers bedarf. 210 207 208 209

BGHSt 47, 172, 173. BGHSt 47, 172, 174. BGHSt 47, 172, 175 f.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

67

Im Anschluss an BGHSt 46, 93 ff. führt der Senat aus, dass sich aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages ergibt, wenn abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig werden wird. Hinsichtlich dieser Prognose steht der Staatsanwaltschaft ein Beurteilungsspielraum zu, der sich jedoch je nach Lage des Falles auf nur eine pflichtgemäße Entscheidung einengen kann. Die Staatsanwaltschaft darf einen Anfangsverdacht zunächst so weit abklären, dass sie eine tragfähige Grundlage für ihre Beurteilung gewinnt. 211 Nach Auffassung des Senats besteht eine Pflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrages jedenfalls dann, wenn der Tatverdacht von der Staatsanwaltschaft als dringend erachtet wird und der Beschuldigte zugleich aufgrund der Lage des Verfahrens tatsächlich des Beistandes eines Verteidigers bedarf. Beantragt die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls wegen eines Verbrechens, werde sie stets auch die Stellung eines Beiordnungsantrages „zu erwägen“ haben. 212 Nach Ansicht des Senats bestand bei der Entgegennahme des ersten Geständnisses am 09. 12. 1999 noch keine Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages, auch wenn der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt bereits die Stellung eines Beschuldigten hatte. Diese ersten Angaben waren für noch überprüfungswürdig gehalten worden. Zweifelsfrei begründet war die Antragspflicht jedoch am 14. 12. 1999, als die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen L. und den Angeklagten beantragte. Ob eine Antragspflicht für den Zeitpunkt vor Durchführung der Tatrekonstruktion am 13. 12. 1999 bestand, lässt der Senat ausdrücklich offen. 213 Der Senat lässt außerdem dahinstehen, ob sich aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO für die Staatsanwaltschaft nicht nur die Pflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrages ergibt, sondern daraus auch die Verpflichtung herzuleiten ist, mit weiteren Ermittlungen, welche die Mitwirkung des Beschuldigten erfordern, innezuhalten, bis ein Verteidiger bestellt ist und seine Tätigkeit aufgenommen hat. Dann wäre allerdings die weitere Entgegennahme des Geständnisses eines in Kenntnis seiner Rechte aussagebereiten Beschuldigten abzulehnen. Maßgeblich muss nach Auffassung des Senats stattdessen sein, wie sich der Beschuldigte nach korrekter Belehrung verhält. Dem Senat „erscheint vorstellbar“, dass eine Vernehmung fortgesetzt werden darf, wenn der Beschuldigte zuvor ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass ihm nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist. Bleibt der Beschuldigte sodann in Kenntnis dieses Umstandes und seiner sonstigen Rechte aussagebereit, spreche nichts dagegen, seine Angaben entgegenzunehmen und verwerten zu dürfen. 214 210 211 212 213

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

47, 47, 47, 47,

172, 172, 172, 172,

176. 176. 176 f. 177.

68

Teil 1: Grundlagen

Selbst wenn die Staatsanwaltschaft schon vor der Tatrekonstruktion einen Beiordnungsantrag hätte stellen müssen und mit der Tatrekonstruktion unter Mitwirkung des Angeklagten bis zur Aufnahme der Verteidigung durch einen bestellten Verteidiger hätte zuwarten müssen, ergibt sich nach Ansicht des Senats gleichwohl kein Verwertungsverbot bezüglich der Angaben des unverteidigten Beschuldigten. 215 Der Strafprozessordnung ist ein ausdrückliches Verwertungsverbot für den Fall eines Verstoßes gegen § 141 Abs. 3 S. 2 StPO nicht zu entnehmen. Die Entscheidung für oder gegen ein Beweisverwertungsverbot ist daher nach Auffassung des Senats aufgrund einer allgemeinen Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen. Aus § 136a Abs. 3 StPO ergebe sich, dass ein Beweisverwertungsverbot gravierende Verfahrensverstöße voraussetzt. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung hervorgehoben, das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens bezeichnet. Der Schutz des Gemeinwesens, der durch die Straftat Verletzten und möglicher künftiger Opfer, aber auch der generelle Anspruch des Täters auf ein richtiges und gerechtes Urteil setzten der Annahme von Beweisverwertungsverboten Schranken. 216 Bei der vorzunehmenden Abwägung komme es auch darauf an, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt und der Beschuldigte in besonderem Maße des Schutzes bedurfte. Bei einer unterstellten Verletzung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ist das Gewicht des Verfahrensverstoßes nach Ansicht des Senats angesichts der Kenntnis des Angeklagten von seinem Schweigerecht und dem Recht auf Verteidigerkonsultation nicht als schwer zu werten. Der Angeklagte wirkte aus freien Stücken an der Tatrekonstruktion mit und die Strafverfolgungsbehörden durften diese beim gegebenen Verfahrensstand auch als unaufschiebbar und eilbedürftig einstufen. Im Lichte dessen erscheint dem Senat das Schutzbedürfnis des Angeklagten nicht als in besonderem Maße ausgeprägt. 217 3. BGH NStZ 2004, 450 f. Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 18. 12. 2003 beruht auf folgendem Sachverhalt: 214 215 216 217

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

47, 47, 47, 47,

172, 172, 172, 172,

178 f. 179. 179 f. 180.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

69

Das Landgericht hatte den Angeklagten unter anderem wegen Raubes mit Todesfolge, wegen Bedrohung in vier Fällen und wegen unerlaubten Erwerbs von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Am 30. 04. 2002 war der unverteidigte Beschuldigte richterlich vernommen und der Haftbefehl gegen ihn eröffnet worden. Am 15. 05. 2002 wurde der weiterhin unverteidigte Beschuldigte polizeilich vernommen.

Die Revision machte ein Verwertungsverbot bezüglich der Angaben des Beschuldigten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 15. 05. 2002 geltend, da das Recht des Beschuldigten auf Zuziehung eines Verteidigers gem. §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2 StPO unzulässig beschränkt worden sei. Die Revision blieb ohne Erfolg. Der Senat zieht unter Bezugnahme auf seine Entscheidung in BGHSt 47, 172 ff. in Betracht, es als verfahrensfehlerhaft zu erachten, dass die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die richterliche Vernehmung des Beschuldigten und die Haftbefehlseröffnung am 30. 04. 2002 keinen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers gestellt hat. 218 Ob die Fortsetzung der polizeilichen Vernehmung am 15. 05. 2002 deshalb dem Recht auf Verteidigerkonsultation noch entsprach, lässt der Senat offen. Jedenfalls ist nach Ansicht des Senats auf Grund der vorzunehmenden Abwägung ein Beweisverwertungsverbot nicht anzunehmen. Dabei sei zum einen das Gewicht des – zu unterstellenden – Verfahrensverstoßes in Betracht zu ziehen und zum anderen zu berücksichtigen, ob und inwieweit der Beschuldigte in besonderem Maße des Schutzes bedurfte. 219 Die dem Beschuldigten erteilte Belehrung war – anders als im Fall BGHSt 47, 172 ff. – vollständig und korrekt und daher geeignet, dem Beschuldigten seine Rechte aktuell ins Bewusstsein zu rufen. Der zum Zeitpunkt seiner Vernehmung bereits seit einigen Tagen inhaftierte Beschuldigte stand nicht mehr unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Festnahme. Auch führte er schon zu Beginn der Vernehmung einen Zettel mit sich, auf dem Name, Anschrift und Telefonnummer einer ihm zuvor empfohlenen Rechtsanwältin verzeichnet waren und deren Beiziehung er jederzeit, auch schon vor Beginn der Vernehmung, hätte verlangen können. Davon hat er jedoch zunächst keinen Gebrauch gemacht, sondern dies erst gefordert, als die Vernehmung einen bestimmten Punkt erreichte und er deren endgültigen Abbruch verlangte. 220 Dieser Gesichtspunkt, aber auch die vorherigen Reaktionen auf einzelne Fragen, die er vor deren Beantwortung erst mit seinem Rechtsanwalt besprechen 218 219 220

BGH NStZ 2004, 450. BGH NStZ 2004, 450. BGH NStZ 2004, 450 f.

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Teil 1: Grundlagen

wollte, zeigten, dass der Angeklagte seine Rechte nicht nur kannte, sondern bewusst differenziert damit umging. Ein Beweisverwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten bei seiner polizeilichen Vernehmung lehnte der Senat daher ab. 221 4. BGH StV 2006, 566 f. Dem Beschluss des 1. Strafsenats vom 18. 10. 2005 lag folgendes Geschehen zugrunde: Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die Verurteilung des die Tat in der Hauptverhandlung bestreitenden Angeklagten beruhte auf den Angaben, die er in seiner polizeilichen Vernehmung sowie vor der Ermittlungsrichterin anlässlich seiner Vorführung gemacht hatte. Diese wurden durch Vernehmung der Verhörspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt. In dem vom Beschuldigten (deutscher Staatsangehöriger) angemieteten Appartement in T. (Rumänien) war am 26. 08. 2002 die Leiche des Sp. aufgefunden worden. Daraufhin wurden umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet und Haftbefehl gegen den Beschuldigten erlassen. Am 28. 08. 2002 gegen 1.00 Uhr wurde der Beschuldigte in Deutschland festgenommen. Am selben Tag gegen 11.00 Uhr wurde er polizeilich vernommen. Dem Beschuldigten wurde der Tatvorwurf der Tötung des Sp. eröffnet und er wurde über seine Aussagefreiheit und das Recht zur Verteidigerkonsultation belehrt. Auf die Frage, ob er einen Rechtsanwalt nehmen wolle, antwortete der Beschuldigte, dass er kein Geld habe und sich deshalb keinen Rechtsanwalt nehmen könne. In der Folge legte der Beschuldigte ein umfassendes Geständnis ab. Am nächsten Tag, dem 29. 08. 2002, wurde der Beschuldigte der Haftrichterin vorgeführt. Nach Belehrung über seine Aussagefreiheit und das Recht zur Verteidigerkonsultation erklärte der Beschuldigte, dass es ihm leid tue und er dies nicht gewollt habe, er wolle nach Rumänien ausgeliefert und dort in Haft genommen werden, da er alles ja auch dort getan habe. Bevor er Angaben zur Sache mache, wolle er sich zunächst mit einem Pflichtverteidiger besprechen. Er beantragte, dass ihm ein Pflichtverteidiger bestellt wird.

Die Revision des Angeklagten rügte ohne Erfolg die unzureichende Belehrung und die unterlassene Pflichtverteidigerbestellung gem. §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Der Senat stellt zunächst fest, dass die dem Beschuldigten durch die Polizeibeamten und die Haftrichterin erteilten Belehrungen unvollständig waren. Da der Beschuldigte zum Ausdruck brachte, sich mit einem Verteidiger besprechen zu wollen und lediglich aufgrund seiner Mittellosigkeit von einer Beiziehung Abstand nahm, hätte er nach Auffassung des Senats darauf hingewiesen werden müssen, dass fehlende Mittel einen ersten Kontakt zu einem Rechtsanwalt 221

BGH NStZ 2004, 450, 451.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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nicht ausschließen, da dieser jedenfalls bei Tötungs- oder sonstigen Verbrechensvorwürfen regelmäßig im Hinblick auf die später zu erwartende Pflichtverteidigerbestellung sofort tätig wird, und dass dem Beschuldigten daher Gelegenheit gegeben werden kann, einen Rechtsanwalt seines Vertrauens, gegebenenfalls auch den anwaltlichen Notdienst, zu kontaktieren. 222 Die insoweit fehlerhaften Belehrungen führen nach Ansicht des Senats jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten. Die unvollständige Belehrung komme im Gewicht einer völlig fehlenden Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nicht annähernd gleich. Nur gravierende Verfahrensverstöße könnten ein Beweisverwertungsverbot auslösen, da auch dem unabweisbaren Bedürfnis einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung, dem Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, insbesondere der wirksamen Aufklärung schwerer Straftaten, Verfassungsrang zukomme. Diese Abwägung ergebe, dass – wenn eine gezielte Irreführung des Beschuldigten wie hier auszuschließen ist – das Interesse an der umfassenden Tataufklärung überwiegt. 223 Der Senat lässt dahinstehen, ob mit der Vernehmung des Beschuldigten bis zu einer Pflichtverteidigerbestellung hätte zugewartet werden müssen, da sich daraus jedenfalls nach der dann vorzunehmenden Abwägung kein Beweisverwertungsverbot ergibt. 224 5. BGH StV 2006, 567 f. Mit Beschluss vom 19. 10. 2005 entschied der 1. Senat über folgenden Sachverhalt: Der Angeklagte lebte mit seiner Ehefrau im Streit. Plötzlich und unerwartet stach er mindestens fünf Mal mit einem Messer auf seine Frau ein. Diese konnte sich wehren und wurde lediglich an der Hand verletzt. Vor seiner polizeilichen Vernehmung wurde der Beschuldigte gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt. Daraufhin erklärte der Beschuldigte, dass er sich einen Rechtsanwalt nicht leisten könne. Eine vorherige Verteidigerkonsultation verlangte er nicht. Der Beschuldigte räumte in dieser Vernehmung, bei der auch ein Staatsanwalt anwesend war, ein, dass er im Moment des Zustechens gedacht habe, dass er seine Frau jetzt umbringe und gewollt habe, dass sie sterbe. Auf der Grundlage dieser Angaben wurde er vom Landgericht wegen heimtückisch begangenen Mordversuchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

222 223 224

BGH StV 2006, 566, 567. BGH StV 2006, 566, 567. BGH StV 2006, 566, 567.

72

Teil 1: Grundlagen

Die Revision des Angeklagten wendete sich gegen die Verwertung seiner Angaben in der polizeilichen Vernehmung. Sie blieb ohne Erfolg, da die Anforderungen an einen zulässigen Revisionsvortrag nicht erfüllt waren. Der Senat führt jedoch ergänzend aus, dass, auch wenn ein Staatsanwalt während der Vernehmung anwesend war, keine Veranlassung bestand, mit der Vernehmung des Beschuldigten bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zuzuwarten, da der Sachverhalt hinsichtlich des dringenden Tatverdachts eines Kapitaldelikts erst noch abgeklärt werden musste, insbesondere bezüglich der Abgrenzung zwischen bloßem Körperverletzungs- und Tötungsvorsatz sowie im Falle des Letzteren zwischen freiwilligem Rücktritt und gescheitertem Versuch. 225 Allerdings war ersichtlich, dass der Beschuldigte lediglich aufgrund seiner Mittellosigkeit von der Beiziehung eines Verteidigers absah. Jedenfalls wenn die Begehung eines Kapitaldelikts und damit die häufig alsbald beantragte Bestellung zum Pflichtverteidiger im Raum steht, sind Rechtsanwälte oft bereit, auch dem mittellosen Beschuldigten sofort beizustehen oder sie zumindest telefonisch zu beraten. Nach Ansicht des Senats hätte der Beschuldigte daher darauf hingewiesen werden müssen, dass ihm trotz fehlender finanzieller Mittel die Gelegenheit gegeben werden kann, sofort einen Rechtsanwalt seines Vertrauens bzw. den anwaltlichen Notdienst zu kontaktieren. 226 Die unvollständige Belehrung hat nach Auffassung des Senats jedoch kein Beweisverwertungsverbot zur Folge. Dabei sei das Gewicht des Verfahrensverstoßes mit dem Interesse an der Aufklärung von, insbesondere wie hier schwerwiegenden, Straftaten abzuwägen. Die insoweit fehlerhafte Belehrung habe ein geringeres Gewicht als eine vollständig fehlende Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO. Da kein aktives, zielgerichtetes Verhalten der Strafverfolgungsbehörden gegeben ist, liege die Annahme eines Beweisverwertungsverbots fern. 227 II. Entscheidungen des 5. Strafsenats 1. BGHSt 47, 233 ff. In dem der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 05. 02. 2002 228 zugrunde liegenden Fall hatte das Landgericht die Angeklagten jeweils u. a. wegen Beihilfe zum versuchten Totschlag zu Jugendstrafen verurteilt. Die Revision der 225

BGH StV 2006, 567, 568. BGH StV 2006, 567, 568. 227 BGH StV 2006, 567, 568. 228 BGHSt 47, 233 ff. = JZ 2002, 897 m. krit. Anm. Roxin; dazu auch Franke GA 2002, 573 ff.; Klemke StV 2003, 413 ff., Sowada NStZ 2005, 1 ff. 226

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Angeklagten T. beanstandete die Verwertung der Vernehmungen der Angeklagten durch den Haftrichter anlässlich ihrer Vorführung gem. § 128 StPO. Der 5. Strafsenat verwarf die Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet. Die Beschuldigte T. wurde unmittelbar vor der verwerteten haftrichterlichen Vernehmung als auch bereits vor ihrer ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung über ihr Recht auf Verteidigerkonsultation nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt. Sie hat nicht zu erkennen gegeben, einen Verteidiger konsultieren zu wollen. Vor dem Haftrichter sagte die unverteidigte Beschuldigte unter Zuziehung eines Dolmetschers nach Belehrung aus. Nach Ansicht des Senats ist ein darüber hinausgehender Hinweis auf den eingerichteten Verteidigernotdienst und die Möglichkeit einer telefonischen Kontaktaufnahme zu diesem nicht geboten. Eine diesbezügliche Pflicht der Ermittlungsbehörden habe der Senat nur für den Fall in Betracht gezogen, dass ein Beschuldigter nach der Belehrung zu erkennen gibt, dass er von seinem Recht auf Verteidigerkonsultation Gebrauch machen will. Über die gesetzliche Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO hinausgehende Belehrungs-, Warnungsoder Hinweiserfordernisse lehnt der Senat ab. 229 Etwas anderes könnte nach Auffassung des Senats nur dann gelten, wenn der damals unverteidigten Beschuldigten vor der haftrichterlichen Vernehmung ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen. Der 1. Strafsenat hat in seinem Urteil vom 22. 11. 2001 (BGHSt 47, 172) eine entsprechende aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO abzuleitende Verpflichtung der Staatsanwaltschaft erwogen, mit weiteren Ermittlungshandlungen jedenfalls bis zur Unterrichtung des Beschuldigten, dass ihm nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist, innezuhalten. Eine entsprechende Verpflichtung kann der 5. Strafsenat jedenfalls für die hier vorliegende Verfahrensgestaltung nicht erkennen. 230 Der Senat führt aus, dass aus dem Regelungsgefüge der §§ 140, 141 StPO folgt, dass – insoweit auch in näherer Konkretisierung der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK – in bestimmten gewichtigeren Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers regelmäßig ab Anklageerhebung unerlässlich ist. Ein entsprechendes Bedürfnis könne aber schon während des Ermittlungsverfahrens eintreten. Der Senat verweist dabei insbesondere auf eine Verteidigerbestellung nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 5, 117 Abs. 4 (a. F.) StPO. Aber auch sonst stehe die Bestellung eines Pflichtverteidigers für den unverteidigten Beschuldigten schon während des Vorverfahrens im richterlichen Ermessen auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 141 Abs. 3 S. 1 und 2 StPO). Dabei stehe der 229 230

BGHSt 47, 233, 234 f. BGHSt 47, 233, 235.

74

Teil 1: Grundlagen

Staatsanwaltschaft ein nicht umfassend gerichtlich überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. 231 Nach Auffassung des 5. Strafsenats ist eine Verteidigerbestellung bereits im Ermittlungsverfahren jedenfalls dann zu veranlassen, wenn mit im Sinne des § 140 Abs. 1 oder 2 StPO gewichtiger Anklageerhebung zu rechnen ist und eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers, etwa durch Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts, schon vor Anklageerhebung unerlässlich erfordert. 232 Er stimmt mit dem 1. Strafsenat darin überein, dass vor einer beweissichernden ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wesentlichen Belastungszeugen dem von der Vernehmung ausgeschlossenen unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist. Nur dies werde den Anforderungen des Rechts des Beschuldigten auf Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, insbesondere mit Rücksicht auf eine effektive Wahrnehmung seines Fragerechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, gerecht. 233 Dem geltenden Recht ist nach Ansicht des Senats jedoch nicht zu entnehmen, dass bereits dann, wenn die Staatsanwaltschaft – oder die ermittlungsführende Polizei – im Ermittlungsverfahren den dringenden Tatverdacht eines Verbrechens oder auch eines gewichtigen Vergehens für begründet erachtet, eine entsprechende Reduzierung des Beurteilungsspielraumes der Staatsanwaltschaft bezüglich ihrer Antragspflicht nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO anzunehmen ist, die sie jedenfalls veranlassen müsste, mit weiteren Ermittlungen, welche die Mitwirkung des Beschuldigten erfordern, zuzuwarten, zumindest bis zu einem weitergehenden Hinweis auf eine nunmehr notwendige Verteidigerbestellung. 234 Die Annahme notwendiger Verteidigung bereits mit dem Beginn eines dringenden gewichtigen Tatverdachts entspricht nach Auffassung des Senats nicht der differenzierten gesetzlichen Regelung (§§ 140, 141 StPO nebst Sondernormen) und wird weder von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK noch von dem nach Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG garantierten Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gefordert. De lege ferenda werde zwar eine Verstärkung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren diskutiert, worüber gegebenenfalls der Gesetzgeber unter Abwägung der im Strafverfahren verfolgten gegenläufigen Anliegen zu befinden haben wird. Dies sind nach Ansicht des Senats insbesondere das Interesse des Beschuldigten an möglichst effektiver Verteidigung auf der einen, Belange der Wahrheitsermittlung und Verfahrensbeschleunigung sowie des effektiven Opferschutzes auf der anderen Seite, nicht zuletzt aber auch Kostenin231 232 233 234

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

47, 47, 47, 47,

233, 233, 233, 233,

235 f. 236. 236. 236 f.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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teressen. De lege lata besteht nach Ansicht des Senats keine Rechtslage, wonach eine derart frühzeitig notwendige Verteidigung bereits im Ermittlungsverfahren gefordert ist. 235 2. BGH NStZ 2004, 390 Dem Beschluss des 5. Strafsenats vom 17. 12. 2003 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.

Der 5. Strafsenat verweist auf seine Entscheidung in BGHSt 47, 233 ff. und hält daran fest, dass nach geltendem Recht (§ 141 Abs. 3 S. 2 StPO), auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, keine Pflicht besteht, dem Beschuldigten stets bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren, beginnend mit dem dringenden Verdacht eines Verbrechens, einen Verteidiger zu bestellen. 236 Der Beschuldigte dürfe daher auch ohne Mitwirkung eines Verteidigers durch den Haftrichter nach §§ 115, 115a StPO vernommen werden und seine Angaben können später verwertet werden. Zudem ist der Beschuldigte zwar gem. §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO auf sein Recht auf Verteidigerkonsultation hinzuweisen. Er ist nach Ansicht des Senats aber nicht darüber hinaus über ein Recht zu belehren, die Bestellung eines Pflichtverteidigers verlangen zu können. Auch aus der Mittellosigkeit ergebe sich nichts anderes. 237 III. Zusammenfassung Nachdem der 2. Strafsenat in BGHSt 29, 1 ff. noch ausgeführt hatte, dass keine Pflicht besteht, dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger zu bestellen, wenn im späteren gerichtlichen Verfahren die Verteidigung notwendig sein wird, 238 änderte der BGH nunmehr seine Rechtsprechung. Erstmals leitete der BGH aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Antrages auf Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren ab. 239 Hierzu ist 235 236 237 238 239

BGHSt 47, 233, 237. BGH NStZ 2004, 390. BGH NStZ 2004, 390. BGHSt 29, 1, 5. Dazu unten Teil 3 Kapitel 1 A. I.

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Teil 1: Grundlagen

die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn abzusehen ist, dass im gerichtlichen Verfahren die Verteidigung notwendig sein wird. Dabei räumt der BGH der Staatsanwaltschaft einen Beurteilungsspielraum ein, der sich jedoch je nach Lage des Falles auf nur eine pflichtgemäße Entscheidung einengen kann. 240 Eine Verteidigerbestellung steht sodann nach entsprechender Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft im richterlichen Ermessen, welches sich in bestimmten Fällen auf Null reduziert. 241 Der 1. Strafsenat ließ in BGHSt 46, 93 ff. noch ausdrücklich offen, ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem unverteidigten Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger zu bestellen. Demgegenüber genügt nach Ansicht des 5. Strafsenats in BGHSt 47, 233 ff. allein das Vorliegen eines – wenn auch dringenden – Tatverdachts eines Verbrechens oder auch eines gewichtigen Vergehens nicht, um die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrags bzw. eine Pflicht des Vorsitzenden zur Verteidigerbestellung zu begründen. Vielmehr verlangt der 5. Strafsenat, dass eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers schon vor Anklageerhebung unerlässlich erfordert. Auf die Frage, ob der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren auch selbst die Beiordnung eines Verteidigers beantragen kann, ging der BGH in keiner der Entscheidungen ein. 242 Ob im Falle notwendiger Verteidigung auch die Pflicht der Staatsanwaltschaft besteht, mit weiteren Ermittlungen innezuhalten, bis dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt oder der Beschuldigte zumindest darauf hingewiesen worden ist, dass ihm nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist, ließ der 1. Strafsenat offen. Der 5. Strafsenat lehnte eine solche Verpflichtung jedenfalls für den entschiedenen Fall ab. 243 Auch in den Fällen, in denen dem Beschuldigten ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen, ergibt sich nach Auffassung des BGH kein Beweisverwertungsverbot für die ohne Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme. 244

240 241 242 243 244

BGHSt 47, 172, 176; 47, 233, 236. BGHSt 47, 233, 236. Dazu unten Teil 3 Kapitel 1 B. Dazu unten Teil 3 Kapitel 1 A. II. Dazu unten Teil 3 Kapitel 1 F. Dazu unten Teil 3 Kapitel 2 A.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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C. Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren als Ausdruck des Rechts auf Beweisteilhabe i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung Zwar sollte eine notwendige Verteidigerbestellung so früh wie möglich erfolgen. Allein der Tatverdacht eines Verbrechens oder eines schwerwiegenden Vergehens reicht allerdings nicht aus, eine Pflicht zur Bestellung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren zu begründen. Denn dann müsste dem Beschuldigten bereits zu Beginn jedes Ermittlungsverfahrens, das einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO betrifft, ein Verteidiger bestellt werden, obwohl (noch) keine Ermittlungsmaßnahmen vorgenommen werden, die den weiteren Verlauf des Verfahrens maßgeblich prägen und bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen oder das Verfahren ohne Vernehmung des Beschuldigten alsbald eingestellt wird. Dann fordert weder das Gebot eines fairen Verfahrens noch das daraus hergeleitete Recht auf effektive und wirksame Verteidigung eine notwendige Verteidigerbestellung. Der unverteidigte Beschuldigte hat jedoch einen Anspruch auf Verteidigerbestellung aus einer am Recht auf Beweisteilhabe i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO zumindest ab dem Zeitpunkt, zu dem bereits im Ermittlungsverfahren verfahrensprägende Beweiserhebungen stattfinden und ihm bzw. einem Verteidiger dabei Mitwirkungsrechte zustehen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wesentliche Teile der Hauptverhandlung vorverlagert werden. Aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgt der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren. 245 Das Grundgesetz gewährleistet dem Beschuldigten den erforderlichen Bestand aktiver Befugnisse, so dass er auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen kann. 246 Daraus ergibt sich nach der Rechtsprechung des BVerfG auch der Anspruch des Beschuldigten auf materielle Beweisteilhabe: „Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung. Dieser Anspruch wird einerseits bestätigt, andererseits ausgeformt durch die als Auslegungshilfe verstandenen Regelungsinhalte des Art. 6 I 1 und III EMRK.“ 247 „Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsergebnissen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte 245

BVerfGE 39, 238, 242 f.; 46, 202, 209; 57, 250, 274; 63, 45, 60; 63, 380, 390; 65, 171, 175; 68, 237, 255; 70, 297, 322 f. 246 BVerfGE 26, 66, 71; 46, 202, 210; 57, 250, 275; 63, 45, 61; 63, 380, 390. 247 BVerfG NJW 2007, 204, 205; 2010, 925. Vgl. auch schon BVerfG NJW 2001, 2245, 2246.

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Teil 1: Grundlagen nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Die Mitwirkung eines Strafverteidigers, der dem Beschuldigten beratend zur Seite steht und für diesen die ihn entlastenden Umstände zu Gehör bringt, ist für die Herstellung von ‚Waffengleichheit‘, abgesehen von einfach gelagerten Situationen, unentbehrlich.“ 248

Auch nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt der Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK, dass die Beweisgewinnung grundsätzlich in Gegenwart des Beschuldigten erfolgt und die Möglichkeit einer kontradiktorischen Erörterung bietet. 249 Das Recht auf ein faires Verfahren beinhaltet damit auch ein Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung. 250 Die Verwertung von im Ermittlungsverfahren erhobenen Beweisen ist jedoch zulässig, wenn die damit einhergehende Beschränkung der Verteidigungsrechte zu einem späteren Zeitpunkt kompensiert und damit insgesamt ein faires Verfahren gewährleistet wird. Dabei soll es ausreichen, wenn zumindest der Verteidiger während der Beweiserhebung anwesend ist. 251 Die Verteidigungsrechte müssen nach der Rechtsprechung des EGMR jedoch bereits im Ermittlungsverfahren gewährleistet sein, wenn andernfalls das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ernsthaft oder unwiederbringlich präjudiziert wird. Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers sollte im Ermittlungsverfahren lediglich eine Stoffsammlung erfolgen, um die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 170 StPO – Anklageerhebung oder Einstellung des Verfahrens – vorzubereiten. Das Ermittlungsverfahren sollte nur vorläufige Ergebnisse liefern. Erst die von den Grundsätzen der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit geprägte Hauptverhandlung sollte den Kern des Verfahrens darstellen. Die beschränkten Beteiligungsrechte im weitgehend inquisitorischen und geheimen Ermittlungsverfahren sollten durch umfassende Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte des Beschuldigten in der Hauptverhandlung kompensiert werden.

248

BVerfGE 110, 226, 253. „... all the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument“, vgl. EGMR, Barberà u. a. gg. E, Series A 146, § 78; s. auch EGMR, Kostovski gg. NL, Series A 166, § 41; Windisch gg. A, Series A 186, § 26; Delta gg. F, Series A 191-A, § 36; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 34; Asch gg. A, Series A 203, § 27; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 43; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 51; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 51; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 25; P.S. gg. D, § 21; Hulki Güneş, Rep. 2003-VII, § 86; s. auch Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 406 ff., 626, 638, 721 ff., 828; ders. StraFo 2003, 335, 336; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 166, 308; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 101 f.; Rzepka, Fairness, S. 74; Wohlers GA 2005, 11, 31. 250 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 339 ff. 251 EGMR, Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 73; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 311; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 221. 249

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Demgegenüber hat sich die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens entscheidend gewandelt. Im Ermittlungsverfahren werden heute die Weichen für den weiteren Verlauf des Verfahrens gestellt. Fehler der Strafverfolgungsbehörden und Mängel der Verteidigung können später kaum noch korrigiert werden. Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens fließen vor allem durch die Vernehmung von Verhörspersonen, die Verlesung von Vernehmungsprotokollen unter den Voraussetzungen der §§ 251, 253, 254, die Vorführung der Videoaufzeichnung von Zeugenvernehmungen nach § 255a, die Verwendung von Vernehmungsprotokollen und Videoaufzeichnungen als Vorhalt, die Durchführung von Identifizierungsgegenüberstellungen und Tatrekonstruktionen, die Verlesung von Protokollen über die Einnahme des richterlichen Augenscheins nach § 249 Abs. 1 S. 2, die Auswahl von Sachverständigen im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft gem. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 73 Abs. 1 S. 1 sowie die Verlesung von Sachverständigengutachten und Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen nach § 256 StPO in die Hauptverhandlung ein. Dadurch wird der Unmittelbarkeitsgrundsatz durchbrochen und die nur „vorläufigen“ Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren werden in das Hauptverfahren transportiert. Hinzu kommt, dass die Vernehmungsprotokolle in die Ermittlungsakten aufgenommen werden, die dem erkennenden Gericht zur Vorbereitung der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen. Bedingt durch die Aktenkenntnis der Berufsrichter besteht dabei die Gefahr, dass das „richterliche Vorverständnis“ beeinflusst wird. 252 Denn nach der Theorie der kognitiven Dissonanz strebt der Mensch ein Gleichgewicht in seinem kognitiven System an, woraus beim Auftreten von Dissonanzen die Motivation entsteht, diese zu reduzieren und wieder Konsonanz herzustellen. 253 Hieraus ergibt sich der sog. Inertia-Effekt, wonach solche Informationen systematisch überschätzt werden, die mit einer zuvor aufgestellten Hypothese übereinstimmen, während dazu in Widerspruch stehende (dissonante) Informationen systematisch unterschätzt werden. 254 Da die Ermittlungsakte im Falle der Anklageerhebung überwiegend belastendes Material enthält, erhöht sich damit auch die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Angeklagten.

252

Bandilla / Hassemer StV 1989, 551, 553; Brusten, in: 10. Strafverteidigertag, 207, 218 f.; Dahs sen. ZRP 1968, 17, 20; Dahs jr., Handbuch, Rn. 196; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 73; Hirschberg, Fehlurteil, S. 97; Kube ArchKrim 163 (1979), 175 f.; Schünemann GA 1978, 161, 171 f.; ders., FS Pfeiffer, 461, 477 f.; ders. StV 1998, 391, 394; ders. StV 2000, 159, 160; ders. ZStW 114 (2002), 1, 21 f.; Sessar ZStW 92 (1980), 698, 701 f.; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 467. So bereits Heinemann, in: Aschrott (Hrsg.), Reform des Strafprozesses, 334, 344 f. 253 Schünemann StV 2000, 159, 160 m.w. N. 254 Bandilla / Hassemer StV 1989, 551, 552; Schünemann, FS Pfeiffer, 461, 477 f.; ders. StV 1998, 391, 394; ders. StV 2000, 159, 160.

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Teil 1: Grundlagen

Kann der Beschuldigte aber in der Hauptverhandlung nicht mehr wirksam auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen, müssen die Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte bereits im Ermittlungsverfahren gewährleistet sein. Werden wesentliche Beweiserhebungen in das Ermittlungsverfahren vorverlagert, muss die Beweisgewinnung grundsätzlich bereits hier unter Anwesenheit des Beschuldigten erfolgen und eine kontradiktorische Erörterung ermöglichen. Wenn dem Beschuldigten aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ein Anspruch auf Teilhabe an Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren zusteht, dann folgt aus dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung aber auch der Anspruch des Beschuldigten, hierbei durch einen Verteidiger unterstützt zu werden. Allein die Möglichkeit des Beschuldigten, sich jederzeit des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, genügt insbesondere dann nicht, wenn der Beschuldigte mittellos ist. Finden bereits im Ermittlungsverfahren Beweiserhebungen statt, die den weiteren Verlauf des Verfahrens maßgeblich prägen (können), muss auch die Gewährleistung notwendiger Verteidigung bereits im Ermittlungsverfahren zur Geltung kommen. Denn erst die Mitwirkung eines Verteidigers sichert in den Fällen der notwendigen Verteidigung – auch schon im Ermittlungsverfahren – eine effektive und wirksame Verteidigung. Unterbleibt in diesen Fällen eine Verteidigerbeiordnung, würden der weitere Verlauf und der Ausgang des Verfahrens ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert. Die unterlassene Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren könnte nicht mit hinreichender Sicherheit durch eine spätere Verteidigerbeiordnung im Hauptverfahren ausgeglichen werden. 255 Eine Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren muss zum einen dann erfolgen, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei der Beweiserhebung ausgeschlossen ist. In diesem Fall muss zumindest ein Verteidiger anwesend sein, der die Anwesenheits- und Fragerechte ausüben kann. Dem unverteidigten Beschuldigten ist daher ein Verteidiger beizuordnen. Das Gleiche muss zum anderen aber auch gelten, wenn der Beschuldigte bei der Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren anwesend ist. Denn regelmäßig fehlen dem Beschuldigten die für eine effektive und wirksame Verteidigung notwendigen Rechtskenntnisse und die erforderliche Distanz zur Beschuldigung. Vor allem aber erhält nach § 147 Abs. 1 StPO nur der Verteidiger umfassende Akteneinsicht. Im Umkehrschluss lehnt die herrschende Meinung ein unmittelbares Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten (immer noch) ab. 256 Das Akteneinsichtsrecht ist jedoch „unverzichtbare Voraussetzung“ 257 einer effektiven 255

Vgl. auch Wohlers, FS Rudolphi, 713, 732. BVerfGE 53, 207, 214; OLG Düsseldorf JZ 1986, 508; KG JR 1965, 69, 70; KK-Laufhütte § 147 Rn. 2; Meyer-Goßner § 147 Rn. 3; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 446; Welp, FG Peters, 309, 312. Dagegen Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 41, 43; Hiebl, Akteneinsichtsrecht, S. 97. 256

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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und wirksamen Verteidigung. Denn erst die umfassende Kenntnis des vorliegenden Belastungs- und Entlastungsmaterials ermöglicht die Entwicklung einer erfolgversprechenden Verteidigungsstrategie und eine effektive Ausübung der Fragerechte. Zwar sind dem unverteidigten Beschuldigten nach § 147 Abs. 7 StPO n. F. 258 auf seinen Antrag Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Dem Beschuldigten wird dadurch allerdings weiterhin keine unmittelbare und umfassende Akteneinsicht gewährt. 259 Der Beschuldigte kann also nicht festzustellen, ob er alle für ihn wichtigen Informationen erhalten hat oder ob die Akten weitergehendes Belastungs- oder Entlastungsmaterial enthalten. Soll dem Beschuldigten eine effektive und wirksame Verteidigung gewährt werden, muss er daher bereits bei verfahrensprägenden Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren den Beistand eines Verteidigers erhalten, um effektiv auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen zu können. In diesen Fällen hat der unverteidigte Beschuldigte einen Anspruch auf Verteidigerbestellung aus einer am Recht des Beschuldigten auf Beweisteilhabe als Teil eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK) i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO. Dem können nicht die Belange der Verfahrensbeschleunigung oder des effektiven Opferschutzes und erst recht nicht Kosteninteressen entgegengehalten werden. Denn die genannten Aspekte dürfen das elementare Recht des Beschuldigten auf effektive und wirksame Verteidigung, das die Grundlagen seiner verfahrensrechtlichen Stellung und seines Status als Subjekt des Verfahrens sichert, nicht beeinträchtigen. 260 Insbesondere liegt die Beschleunigung des Verfahrens grundsätzlich auch im Interesse des Beschuldigten, es sei denn, damit wäre ein „kurzer Prozess“ gemeint. 261 Auch der effektive Opferschutz könnte nur dann gefährdet 257

SK-Wohlers § 147 Rn. 1. Eingeführt mit Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts – Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 1999) v. 02. 08. 2000, BGBl. I 2000, S. 1253, als Folge der Entscheidung des EGMR, Foucher gg. F, Rep. 1997-II = NStZ 1998, 429 m. Anm. Deumeland. Eine Bindung an diese Entscheidung noch ablehnend LG Mainz NJW 1999, 1271, 1272; dagegen Böse StraFo 1999, 293 ff.; Dörr JuS 2000, 287 f.; Haass NStZ 1999, 442 ff. Zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274. 259 Krit. daher Ambos ZStW 115 (2003), 583, 629; Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 54 f.; Dedy StraFo 2001, 149, 153; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 435 f.; Meier GA 2004, 441, 452; Satzger, Gutachten, C 62 ff. 260 Roxin JZ 2002, 898, 900. 258

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Teil 1: Grundlagen

sein, wenn die unterlassene Beiordnung eines Verteidigers den berechtigten Interessen des Opfers dienen würde, was nicht nachvollziehbar ist. 262 Ebenso wenig können Kostengesichtspunkte einer Verteidigerbeiordnung entgegenstehen, wenn diese zur Verwirklichung einer effektiven und wirksamen Verteidigung erforderlich ist. 263 Fiskalische Interessen können nicht zu einer Beschränkung der Beschuldigtenrechte führen. Zudem müsste die Staatskasse, wenn die entsprechende Beweiserhebung erst in der Hauptverhandlung stattfinden würde, im Falle einer notwendigen Verteidigung auch hier zunächst die Kosten übernehmen. Da der Beschuldigte im Falle einer Verurteilung auch die Kosten des Pflichtverteidigers zu tragen hat (§§ 464a Abs. 1 S. 1, 465 Abs. 1 StPO), besteht für den Staat nur das Vollstreckungsrisiko. Wird der Beschuldigte freigesprochen oder das Verfahren eingestellt, ist es gerechtfertigt, die Staatskasse mit den Kosten zu belasten. 264 Die Bestellung eines Verteidigers ist nicht erst beim Vorliegen eines dringenden Tatverdachts notwendig. Denn ein solcher wird sich in der Regel erst im Laufe der Ermittlungen ergeben, wenn entscheidende Beweiserhebungen bereits durchgeführt worden sind. Eine Verteidigerbeiordnung erst mit der Annahme eines dringenden Tatverdachts käme regelmäßig zu spät. Auch knüpfen §§ 140, 141 StPO eine Verteidigerbeiordnung nicht an einen bestimmten Verdachtsgrad. Es sollte daher bereits der Anfangsverdacht eines Verbrechens (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) oder gewichtigen Vergehens (§ 140 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1, 1. Var. StPO) ausreichen. Dem steht auch die Rechtsprechung des BGH nicht entgegen. Denn der BGH hat in seinen Entscheidungen eine notwendige Verteidigerbeiordnung bereits vor der Annahme eines dringenden Tatverdachts nicht ausgeschlossen, sondern formuliert, dass „jedenfalls“ bei dringendem Tatverdacht und dem Bedürfnis nach 261

Wohlers, FS Rudolphi, 713, 724 f. Fn. 65. Wohlers, FS Rudolphi, 713, 724 f. Fn. 65. 263 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 566, 569. 264 Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last, §§ 467 Abs. 1, 467a Abs. 1 StPO. Auch wenn das Verfahren bereits im Ermittlungsverfahren eingestellt wird, verbleiben die Gebühren des Pflichtverteidigers grundsätzlich bei der Staatskasse. Gem. § 45 Abs. 3 S. 1 RVG entsteht mit der Beiordnung des Verteidigers ein Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Daneben kann der beigeordnete Verteidiger gem. § 52 Abs. 1 S. 1 RVG von dem Beschuldigten die Zahlung der Gebühren eines Wahlverteidigers verlangen. Das gilt auch, wenn das Verfahren nicht gerichtlich anhängig geworden ist, vgl. § 52 Abs. 2 S. 2 RVG. Der Anspruch gegen den Beschuldigten entfällt jedoch insoweit, als die Staatskasse Gebühren gezahlt hat, § 52 Abs. 1 S. 2 RVG. Mangels einer entsprechenden Kostentragungsvorschrift hat die Staatskasse bei einer Einstellung des Verfahrens vor Erhebung der öffentlichen Klage keinen Erstattungsanspruch gegen den Beschuldigten. 262

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Verteidigerbeistand die Notwendigkeit einer Verteidigerbeiordnung zu prüfen ist. 265 Der BGH hat außerdem ausgeführt, dass das Ermittlungsverfahren nicht mit „allzu differenzierten Abgrenzungen“ belastet werden soll. 266 Dies kann aber auch dadurch erreicht werden, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht restriktiv gehandhabt wird. In BGH StV 2006, 567 f. nimmt der 1. Strafsenat allerdings an, dass vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten der Sachverhalt hinsichtlich des dringenden Tatverdachts eines Kapitalverbrechens erst noch abgeklärt werden musste, da eine Abgrenzung zwischen bloßem Körperverletzungs- und Tötungsvorsatz sowie – bei Tötungsvorsatz – zwischen freiwilligem Rücktritt und gescheitertem Versuch erforderlich war, weshalb keine Veranlassung bestanden habe, mit der weiteren Vernehmung des Beschuldigten bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zuzuwarten. 267 Steht jedoch ein schwerer Tatvorwurf wie ein Tötungsdelikt (oder ein anderes Verbrechen) im Raum, ist der Beschuldigte gerade bei schwierigen Abgrenzungsfragen, insbesondere solchen, die den subjektiven Tatbestand oder die Freiwilligkeit des Rücktritts betreffen, bereits bei seiner ersten Vernehmung auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen, so dass auch hier nicht erst bei dringendem Tatverdacht ein Verteidiger beizuordnen ist. Im Übrigen räumte der Beschuldigte in diesem Fall in seiner polizeilichen Vernehmung ein, dass er in dem Moment, in dem er auf seine Frau einstach, ihren Tod gewollt hat, und wurde aufgrund dieser Angaben letztlich wegen Mordversuchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der Beschuldigte war daher bereits in dieser ersten Vernehmung auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen. Nach § 141 Abs. 1 StPO wird dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 bis 8 und Abs. 2 StPO ein Verteidiger bestellt, sobald er gem. § 201 zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. Nach § 141 Abs. 2 StPO ist ein Verteidiger sofort zu bestellen, wenn sich erst später die Notwendigkeit der Verteidigung ergibt. Beide Absätze der Vorschrift betreffen nur den Zeitpunkt – nicht die Voraussetzungen – der Beiordnung eines Verteidigers. Übertragen auf das Ermittlungsverfahren ergibt sich, dass dem Beschuldigten auch hier sofort ein Verteidiger bestellt werden muss, sobald der Tatverdacht einer schwerwiegenden Straftat i. S. d. § 140 StPO vorliegt und eine verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahme bevorsteht. Der unverteidigte Beschuldigte hat daher aus einer am Recht auf Beweisteilhabe als Teil eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, 265 266 267

Vgl. BGHSt 47, 172, 176; 47, 233, 236. BGHSt 47, 172, 178. BGH StV 2006, 567, 568.

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Teil 1: Grundlagen

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK) i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO (von Amts wegen oder auf seinen Antrag) 268 bereits de lege lata einen Anspruch auf Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, sobald gegen den Beschuldigten der Anfangsverdacht eines Verbrechens i. S. d. § 140 Abs. 1 Nr. 2 oder eines gewichtigen Vergehens i. S. d. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO besteht (Notwendigkeit der Verteidigung) und eine Ermittlungsmaßnahme bevorsteht, bei der dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen (Zeitpunkt der Verteidigerbestellung). 269

D. Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren versus Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Nach der Rechtsprechung des BVerfG gewährleistet das Rechtsstaatsprinzip neben dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 270 Der Begriff der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, den staatlichen Strafanspruch unbegrenzt durchsetzen zu können. Vielmehr muss er mit materiell-rechtsstaatlichem Inhalt ausgefüllt werden. Denn ein faires Verfahren ist gerade Bestandteil einer rechtsstaatlichen funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 271 Ziel des Strafverfahrens ist nach heute herrschender Auffassung die Herstellung bzw. Erhaltung von Rechtsfrieden durch eine auf materieller Wahrheit basierende justizförmige gerechte Entscheidung. 272 Ausgangspunkt eines jeden Strafverfahrens ist die Unschuldsvermutung. Sie ist verfassungsrechtlich im Rechts268

Dazu unten Teil 1 Kapitel 3 E. Ähnlich Deckers StraFo 2006, 269, 272; Satzger, Gutachten, C 87 f.; Schlothauer StV 2001, 127, 128; SK-Wohlers § 141 Rn. 8; Wolf, Strafverteidigung, S. 394 ff. Zur Bildung entsprechender Fallgruppen s. auch Herrmann StV 1996, 396, 401 ff.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 252 ff. 270 BVerfGE 33, 367, 383; 34, 238, 248 f.; 38, 105, 115; 38, 312, 321; 39, 156, 163; 41, 246, 250; 44, 353, 373 f.; 45, 272, 294; 46, 214, 222; 51, 324, 343; 53, 152, 160; 64, 108, 116; 74, 257, 262; s. auch Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 3; Gössel ZStW 94 (1982), 5, 26 f.; KK-Pfeiffer / Hannich Einl. Rn. 23; LR-Kühne Einl. H Rn. 10 ff.; Meyer-Goßner Einl. Rn. 18; Rieß, FS Schäfer, 155, 173; ders. StraFo 2000, 364, 367; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 7; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 101. Eingehend Landau NStZ 2007, 121 ff. Dagegen Grünwald JZ 1976, 767, 772 f.; Hassemer StV 1982, 275 ff.; Riehle KJ 1980, 316 ff.; krit. auch Wolter, GS Meyer, 493, 502 f. 271 In diesem Sinne Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1269; Neumann ZStW 101 (1989), 52, 62; Niemöller / Schuppert AöR 107 (1982), 387, 401 ff.; Renzikowski, FS Lampe, 791, 800; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 7; Rzepka, Fairness, S. 295 f., 302 f. 269

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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staatsprinzip des Grundgesetzes verankert 273 und wird einfachgesetzlich durch Art. 6 Abs. 2 EMRK 274 gewährleistet. „Aus dem Prinzip, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, folgt die Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen, das eine wirksame Sicherung der Grundrechte des Beschuldigten gewährleistet (vgl. BVerfGE 57, 250 [275]). Dem Täter müssen deshalb Tat und Schuld nachgewiesen werden (vgl. BVerfGE 9, 167 [169]). Bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet (vgl. BVerfGE 35, 311 [320]). Die Unschuldsvermutung steht in engem Zusammenhang mit dem Recht des Beschuldigten, den staatlichen Strafanspruch in einem rechtsstaatlichen, fairen Verfahren abzuwehren und sich zu verteidigen.“ 275

Nach der StPO gibt es keine Wahrheitsfindung „um jeden Preis“. 276 Denn die Wahrheitsfindung wird in einem Strafverfahren, das Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit erhebt, durch die Beschuldigtenrechte begrenzt. Die Mitwirkungsund Verteidigungsrechte des Beschuldigten sind aber nicht nur Ausprägungen seines Status als Subjekt des Verfahrens, sondern sollen gerade auch Fehler und Irrtümer der Strafverfolgungsbehörden verhindern. Die Wahrung der Beschuldigtenrechte ist damit Bestandteil, nicht Gegenpart, einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege im Rechtsstaat. 277 Der Anspruch des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches und faires Verfahren umfasst auch das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Das Recht auf Verteidigerbeistand gehört zu den wichtigsten Rechten des Beschuldigten. Dadurch wird sichergestellt, dass der Beschuldigte nicht nur Objekt des Verfahrens ist, sondern zur Wahrung seiner Rechte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens effektiv Einfluss nehmen kann. Das Recht auf Verteidigerbeistand sichert den Status des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens.

272

In diesem Sinne Geppert, GS Schlüchter, 43, 44 f.; Meyer-Goßner Einl. Rn. 4, 10; Rieß, FS Schäfer, 155, 170 ff., 192; ders. JR 2006, 269, 270 f.; Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, 511, 523; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 183 ff.; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 195 ff.; ders. ZStW 113 (2001), 271, 277, 304; Wohlers GA 2005, 11, 21; krit. Murmann GA 2004, 65, 69; Neumann ZStW 101 (1989), 52, 64. 273 BVerfGE 19, 342, 347; 22, 254, 265; 74, 358, 370; 82, 106, 114; 110, 1, 13; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 74. 274 Vgl. auch Art. 14 Abs. 2 IPbpR. 275 BVerfGE 74, 358, 370 f. 276 BGHSt 14, 358, 365; 31, 304, 309. 277 Das BVerfG verwendet daher zum Teil auch den Begriff der „Erfordernisse einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege“, vgl. BVerfGE 77, 65, 76; 80, 367, 375.

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Teil 1: Grundlagen

Der Verteidiger erfüllt als einseitiger „Fürsprecher“ des Beschuldigten eine selbständige Funktion neben Gericht und Staatsanwaltschaft und ist gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege. 278 „Der Staat garantiert im Grundgesetz dem einzelnen seine Freiheitssphäre und begrenzt die staatliche Gewalt, der er an sich unterworfen ist. Diese Begrenzung zu schützen ist das Amt des Anwalts. Er wird damit ein Hüter der Freiheitsrechte des Bürgers und ein Gesetzeswächter.“ 279

Der Verteidiger hat damit eine Schutzfunktion inne und sichert die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens des staatlichen Strafanspruchs. Das Recht auf Verteidigerbeistand als Ausprägung des Grundsatzes des fairen Verfahrens kann daher nicht gegen den staatlichen Strafanspruch abgewogen werden, sondern ist vielmehr dessen Voraussetzung. Die Mitwirkung des Verteidigers dient durch dessen Anwesenheits- und Fragerechte und dessen Aufgabe, entlastende Umstände zur Sprache zu bringen, zudem der Wahrheitsfindung und kann damit das Verfahren fördern. „Strafverteidigung ist ein Recht innerhalb des Verfahrens, kein Recht gegen das Verfahren.“ 280

Trotz des weitgehend inquisitorischen Charakters des Ermittlungsverfahrens müssen diese Grundsätze auch bereits in diesem Verfahrensstadium gelten, wenn der Beistand eines Verteidigers zur effektiven Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens notwendig ist. So erkannte bereits der historische Gesetzgeber: „Der vorliegende Entwurf will die Vertheidigung schon im Vorverfahren zulassen. Er ist hierbei von der Erwägung geleitet worden, daß es als eine Forderung der Gerechtigkeit erscheint, schon von Anbeginn des Verfahrens an, gleichwie dem auf die Ueberführung des Beschuldigten gerichteten Angriff des Klägers, so auch der Vertheidigung des Beschuldigten freie Bewegung zu gestatten. Ist auch nicht zu leugnen, daß es Fälle geben wird, in denen die Zulassung der Vertheidigung im Vorverfahren der Ermittlung der Wahrheit hinderlich sein kann, so ist es dem gegenüber doch außer Zweifel, daß die Vertheidigung in vielen Fällen dieser Ermittlung förderlich sein und dazu dienen kann, die Verweisung schuldloser Personen vor das erkennende Gericht zu verhindern.“ 281 „Die Vertheidigung ist durch ihre Mitwirkung im Vorverfahren oft in der Lage, bereits hier für die Ermittlung der Wahrheit mit zu sorgen und die Einstellung des weiteren Verfahrens gegen unschuldig angeklagte Personen herbeizuführen. Eine verständige 278 279 280 281

Rückel, FG Peters, 265, 266. Dahs sen. AnwBl. 1959, 171, 173. Hassemer ZRP 1980, 326, 331. Motive des Entwurfs bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 142.

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Vertheidigung, welche als ihre Aufgabe das Bestreben verfolgt, die dem Angeschuldigten günstigen Thatsachen zu erforschen und zur Kenntnis der im Strafverfahren thätigen Behörden zu bringen, ... wird stets als ein willkommener Beistand zur Feststellung der materiellen Wahrheit eine wichtige und dankbare Funktion im Strafverfahren ausüben.“ 282

Auch die notwendige Verteidigung ist Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens. Sie sichert das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. In bestimmten Fällen erfordert es das Recht auf effektive und wirksame Verteidigung, dass dem unverteidigten Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger bestellt wird. Einer Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren kann daher ebenso wenig die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege entgegengehalten werden. Zudem könnte sich zumindest der vermögende Beschuldigte ohnehin jederzeit durch einen Wahlverteidiger verteidigen lassen. Die frühzeitige Verteidigung kann aber kein Privileg des vermögenden Beschuldigten sein.

E. Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren versus Autonomie des Beschuldigten Schon seit Einführung der RStPO wird von einem Teil des Schrifttums die Auffassung vertreten, dass der Beschuldigte ausnahmslos in jedem Strafverfahren des Beistandes eines Verteidigers bedarf, um seine Stellung als gleichwertiges Prozesssubjekt zu sichern. 283 Der Beschuldigte sei unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs stets in eigener Sache befangen und dadurch nicht in der Lage, die ihm zustehenden prozessualen Rechte wirksam auszuüben. Demgegenüber geht die StPO davon aus, dass der Beschuldigte regelmäßig in der Lage ist, seine Rechte eigenverantwortlich durchzusetzen und damit Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. Der Beschuldigte soll grundsätzlich selbst darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang er die ihm zustehenden Rechte ausüben möchte. Aus dieser Stellung als Subjekt des Verfahrens folgt auch die Befugnis des Beschuldigten, die ihm zustehenden Rechte nicht auszuüben. 284 Ein Verteidigungszwang in jedem Strafverfahren würde diese Subjektstellung missachten. 285 282

Bericht der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Zweite Abtheilung, S. 1532. Gerlach, FG Peters, 153, 167; A. Geyer, Lehrbuch, S. 423 f.; Gössel ZStW 94 (1982), 5, 34 f.; Hammerstein JR 1985, 140, 143; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 17; B. Schneider, Notwendige Verteidigung, S. 56, 69; v. Stackelberg AnwBl. 1959, 190, 198; Vargha, Vertheidigung, S. 290 ff.; Wolf, Strafverteidigung, S. 384 ff. 284 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 50. 283

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Teil 1: Grundlagen

Zudem ist die staatliche Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten im Strafverfahren in den letzten Jahren durch das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten zunehmend zurückgedrängt worden. 286 So wurde dem Beschuldigten mit Einführung des § 153a StPO durch EGStGB 1974 287 die Möglichkeit gegeben, einer Verfahrenseinstellung gegen die Erfüllung von Auflagen und Weisungen zuzustimmen. Mit Einführung des § 142 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO (a. F.) durch das StVÄG 1987 288 wurde dem Beschuldigten auch im Rahmen einer Pflichtverteidigerbestellung die Möglichkeit gegeben, den Rechtsanwalt seines Vertrauens zu erhalten. Dem Beschuldigten soll daher Gelegenheit gegeben werden, einen Rechtsanwalt zu bezeichnen, den der Vorsitzende auch bestellt, wenn kein wichtiger Grund entgegensteht. In dem mit Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 289 eingeführten beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff. StPO) kann der Angeklagte nach § 420 Abs. 1 bis 3 StPO auf den Umfang der Beweisaufnahme Einfluss nehmen, indem er etwa – im Gegensatz zu § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch ohne anwaltlichen Beistand – der Ersetzung einer Zeugen-, Sachverständigen- oder Mitbeschuldigtenvernehmung durch Verlesung der Vernehmungsniederschrift zustimmen kann. Die mit StVÄG 1987 290 aus Fürsorgegesichtspunkten in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO a. F. eingeführte notwendige Verteidigung auch für blinde Beschuldigte neben der für taube und stumme Beschuldigte wurde von den Blindenverbänden als Diskriminierung und Bevormundung kritisiert und § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO a. F. im Jahr 1988 291 aufgehoben. Die Beiordnung eines Verteidigers für hörund sprachbehinderte Beschuldigte erfolgt nunmehr auf deren Antrag, vgl. § 140 Abs. 2 S. 2 StPO. Der Verzicht auf einen Verteidiger kann für den Beschuldigten vor allem aus Kostengründen sinnvoll sein. 292 Denn soweit der Beschuldigte später verurteilt oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wird, hat er gem. § 465 Abs. 1 StPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Vergütung 285 Hess, Zulässigkeit aufgedrängter Fürsorge, S. 88 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 216; Welp ZStW 90 (1978), 101, 116. 286 Herrmann StV 1996, 396, 397. 287 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) v. 02. 03. 1974, BGBl. I 1974, S. 469. 288 Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987) v. 27. 01. 1987, BGBl. I 1987, S. 475. 289 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) v. 28. 10. 1994, BGBl. I 1994, S. 3186. 290 Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 (StVÄG 1987) v. 27. 01. 1987, BGBl. I 1987, S. 475. 291 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung v. 17. 05. 1988, BGBl. I 1988, S. 606. 292 Haffke StV 1981, 471, 472; Herrmann StV 1996, 396, 398; Hess, Zulässigkeit aufgedrängter Fürsorge, S. 5.

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des Pflichtverteidigers gehört als Auslage der Staatskasse nach § 464a Abs. 1 StPO ebenfalls zu den Kosten des Verfahrens. 293 Nur soweit der Beschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage eingestellt wird, trägt die Staatskasse die Kosten, §§ 467, 467a StPO. Wird das Verfahren dagegen bereits im Ermittlungsverfahren eingestellt, trägt der Beschuldigte die Kosten des gewählten Verteidigers. Eine analoge Anwendung des § 467a Abs. 1 StPO wird nach überwiegender Auffassung (auch für Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO) abgelehnt. 294 Der Beschuldigte kann aber auch der Ansicht sein, sich ohne einen Verteidiger besser verteidigen zu können, da er dann in einer „Attitüde der Wehrlosigkeit“ erscheinen kann. 295 Auch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt dem Beschuldigten ausschließlich das Recht, den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Eine Pflicht, dem Beschuldigten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen oder gar aufzuzwingen, enthält die EMRK dagegen nicht. Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung sind jedoch Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips und des Gebots eines fairen Verfahrens. Sie sichern das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und damit zugleich an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Geht man mit der herrschenden Auffassung davon aus, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch der Einhaltung eines justizförmigen und fairen Verfahrens dient, kann die Verteidigerbeiordnung allerdings nicht stets von einem Antrag des Beschuldigten abhängen. In bestimmten Fällen können der Rechtsstaatsgedanke und die staatliche Fürsorgepflicht es gebieten, dem unverteidigten Beschuldigten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, damit ein rechtmäßiges, faires Verfahren und eine effektive Verteidigung des Beschuldigten garantiert wird. 296 Das ist vor allem dann erforderlich, wenn erst die Mitwirkung eines Verteidigers die Subjektstellung des Beschuldigten gewährleistet. 297 Dies verstößt auch nicht gegen das Recht auf Selbstverteidigung aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, denn dem Beschuldigten wird dadurch kein unbeschränk293

Meyer-Goßner § 464a Rn. 1. BGHSt 30, 152, 157; Burhoff, Handbuch, Rn. 250; KK-Gieg § 467a Rn. 1; Meyer-Goßner § 467a Rn. 2; krit. Bohlander AnwBl. 1992, 161 ff.; LR-Hilger § 467a Rn. 25; Satzger, Gutachten, C 93 f.; SK-Degener § 467a Rn. 3. 295 Haffke StV 1981, 471, 472; Herrmann StV 1996, 396, 398; Hess, Zulässigkeit aufgedrängter Fürsorge, S. 5; Welp ZStW 90 (1978), 101, 120. 296 Vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 59 ff.; Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 72 ff. 297 Rieß, FS Reichsjustizamt, 373, 405. 294

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Teil 1: Grundlagen

tes Recht eingeräumt, auf den Beistand eines Verteidigers zu verzichten, wenn nationale Vorschriften eine zwingend notwendige Verteidigung vorsehen. 298 Es muss also ein angemessener Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten und der staatlichen Fürsorgepflicht gefunden werden, dessen Ergebnis auch praktisch handhabbar ist. Dies lässt sich bereits nach derzeitiger Gesetzeslage durch eine Auslegung des § 140 StPO erreichen. § 140 Abs. 1 StPO nennt kein Antragserfordernis, so dass in diesen Fällen eine obligatorische notwendige Verteidigung gegeben ist, auf die der Beschuldigte auch nicht verzichten kann. Dabei ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 140 Abs. 1 StPO, dass die Mitwirkung eines Verteidigers unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten notwendig ist. Der Beschuldigte muss in diesen Fällen also nicht aktiv tätig werden und die Beiordnung eines Verteidigers beantragen. Vielmehr sind die Strafverfolgungsbehörden zum Handeln verpflichtet. Eine Verteidigerbeiordnung auf Antrag ist dagegen in § 140 Abs. 2 StPO vorgesehen. 299 Es ist somit zwischen obligatorischer notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 und antragsgebundener notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO zu unterscheiden. Da die in § 140 StPO genannten Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung größtenteils auf das Hauptverfahren abstellen, erscheint für das Ermittlungsverfahren eine Orientierung vor allem an der Schwere des Tatvorwurfs i. S. d. § 140 Abs. 1 Nr. 2 (Verbrechen) oder § 140 Abs. 2 S. 1 StPO (Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) sinnvoll. Im Ermittlungsverfahren ist daher eine Verteidigerbeiordnung von Amts wegen insbesondere beim Tatvorwurf eines Verbrechens nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO notwendig. Denn die Verurteilung wegen eines Verbrechens führt grundsätzlich zur Verhängung einer Freiheitsstrafe, so dass das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 GG betroffen ist. Ob gegen den Beschuldigten wegen eines Verbrechens ermittelt wird, kann auch bereits in frühen Stadien des Ermittlungsverfahrens beurteilt werden. Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen, kann der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren ebenso wenig wie in der Hauptverhandlung auf den Beistand eines Verteidigers verzichten. Denn die meisten Beschuldigten sind aufgrund mangelnder geistiger Fähigkeiten und ungenügender Rechtskenntnisse nicht in der Lage, die Sach- und Rechtslage richtig einzuschätzen. Aufgrund der hohen Straferwartung (grundsätzlich mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe) muss eine Beiordnung daher von Amts wegen erfolgen. Das gilt auch dann, wenn ein minder schwerer Fall (z. B. §§ 154 Abs. 2, 176a Abs. 4, 177 Abs. 5, 226 Abs. 3, 234 Abs. 2, 244a 298

Dazu oben Teil 1 Kapitel 2 C. I. Eine Verteidigerbeiordnung auf Antrag des Beschuldigten ist zudem vorgesehen in §§ 350 Abs. 3 S. 1, 364a, 364b StPO. 299

Kap. 3: Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Abs. 2, 249 Abs. 2, 306a Abs. 3 StGB) in Betracht kommt. Die Tat bleibt Verbrechen, vgl. § 12 Abs. 3 StGB. Gerade in diesen Fällen ist der Beschuldigte auf die Mitwirkung eines Verteidigers angewiesen, der Argumente für das Vorliegen eines minder schweren Falles vorbringen kann. Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs i. S. d. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) genügt es, dem unverteidigten Beschuldigten im Ermittlungsverfahren mit Rücksicht auf seine Autonomie und die spätere Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung nur auf seinen Antrag einen Verteidiger zu bestellen. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO sollte insofern einschränkend ausgelegt werden, so dass eine Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren hier grundsätzlich nur auf Antrag des Beschuldigten erfolgt. 300 Auf einen Antrag des Beschuldigten kann es allerdings nicht ankommen, wenn die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten aufgrund geistiger Defizite oder unzureichender sozialer Handlungskompetenz erheblich eingeschränkt ist, so dass dieser gar nicht in der Lage ist, selbständig darüber zu entscheiden, ob er des Beistandes eines Verteidigers bedarf. 301 Dem unverteidigten Beschuldigten ist dann aus Fürsorgegesichtspunkten von Amts wegen bzw. auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Verteidiger zu bestellen. Hierauf soll im Folgenden jedoch nicht näher eingegangen werden, da die Umstände des Einzelfalles besonders zu berücksichtigen sind. Als Ergebnis ist daher festzuhalten: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen und finden bereits im Ermittlungsverfahren Beweiserhebungen statt, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen, ist dem unverteidigten Beschuldigten von Amts wegen nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 2, 141 Abs. 3 StPO ein Verteidiger beizuordnen (obligatorische notwendige Verteidigung). 302 Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten (nur) auf seinen Antrag nach §§ 140 Abs. 2 S. 1, 141 Abs. 3 StPO ein Verteidiger zu bestellen (antragsgebundene notwendige Verteidigung).

300

Zum Antragsrecht des Beschuldigten unten Teil 3 Kapitel 1 A. II. Das gilt vor allem für Beschuldigte aus unteren Gesellschaftsschichten, die häufig weitergehende Kommunikations- und Sprachbarrieren zu überwinden haben als Beschuldigte mit höherem Gesellschaftsstatus, vgl. Bringewat ZRP 1979, 248, 249; Giehring, in: Hassemer / Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, 181, 191 ff.; Müller-Dietz, FS Dünnebier, 75, 90; Schreiber ZStW 88 (1976), 117, 143; Sessar ZStW 87 (1975), 1033, 1060 f. 302 Ebenso Meier GA 2004, 441, 454. 301

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Teil 1: Grundlagen

F. Zusammenfassung StPO und EMRK sind grundsätzlich nebeneinander anwendbar. Hierbei ist jedoch das Günstigkeitsprinzip zu berücksichtigen. Danach sind die Gewährleistungen der StPO bezüglich der notwendigen Verteidigung insoweit für den Beschuldigten günstiger als die Mittellosigkeit nicht Voraussetzung einer Verteidigerbeiordnung ist. Die Rechtsprechung des EGMR ist jedoch bei der Auslegung der §§ 140, 141 StPO stärker zu berücksichtigen. Aus einer am Recht des Beschuldigten auf Beweisteilhabe als Teil eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK) i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO ergibt sich ein Anspruch des unverteidigten Beschuldigten auf Verteidigerbestellung bereits im Ermittlungsverfahren, wenn ein gewichtiger Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO vorliegt und verfahrensprägende Beweiserhebungen stattfinden, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Das Recht auf Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren kann nicht gegen die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege abgewogen werden, sondern ist vielmehr Voraussetzung eines rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens. Beschränkungen einer Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren können sich aber aus dem Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten und dessen späterer Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung ergeben. Daher ist zwischen obligatorischer notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 und antragsgebundener notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO zu unterscheiden, wobei für das Ermittlungsverfahren maßgeblich auf die Schwere des Tatvorwurfs abzustellen ist. Daraus folgt, dass dem unverteidigten Beschuldigten beim Tatvorwurf eines Verbrechens bereits vor einer entsprechenden verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahme von Amts wegen nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 2, 141 Abs. 3 StPO ein Verteidiger beizuordnen ist (obligatorische notwendige Verteidigung). Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten gem. § 140 Abs. 2 S. 1, 141 Abs. 3 StPO nur auf seinen Antrag ein Verteidiger zu bestellen (antragsgebundene notwendige Verteidigung).

Teil 2

Verteidigerbeiordnung am Beispiel ausgewählter Ermittlungsmaßnahmen Kapitel 1

Beschuldigtenvernehmung A. Rechtsgrundlagen Der Beschuldigte ist verpflichtet, auf Ladung vor dem Richter (§ 133 StPO) oder der Staatsanwaltschaft (§ 163a Abs. 3 StPO) zu erscheinen. Vor der Polizei ist der Beschuldigte dagegen nicht zum Erscheinen verpflichtet. Die Vernehmung des Beschuldigten beginnt mit der Feststellung seiner Identität. Zu Angaben über seine Person ist der Beschuldigte nach herrschender Auffassung verpflichtet, vgl. § 111 OWiG. 1 Sodann ist dem Beschuldigten gem. § 136 Abs. 1 S. 1 StPO 2 zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO 3 ist der Be1

BGHSt 21, 334, 364; 25, 13, 17; BayObLG NJW 1958, 310, 311; 1969, 2057, 2058 f. m. abl. Anm. Seebode = JR 1970, 71 m. zust. Anm. Koffka; OLG Düsseldorf NJW 1970, 1888, 1889; 1971, 2237; OLG Hamm NJW 1954, 1212; OLG Oldenburg MDR 1971, 861; OLG Stuttgart MDR 1987, 521; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 174; HK-Lemke § 136 Rn. 9; KK-Diemer § 136 Rn. 7; KMR-Lesch § 136 Rn. 8; LR-Hanack, 25. Aufl., § 136 Rn. 12 f.; Meyer-Goßner § 136 Rn. 5; Rieß JA 1980, 293, 294. Dagegen Dingeldey JA 1984, 407, 411 f.; LR-Gleß § 136 Rn. 17; E. Müller, FS Hanack, 67, 70; K. Peters, Strafprozeß, S. 207; Rüping JR 1974, 135, 137; ders., Das Strafverfahren, Rn. 101; Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, § 136 Rn. 17; Seebode MDR 1970, 185 ff.; ders. JA 1980, 493, 495; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 83 f., 117; Wolter GA 1985, 49, 84. Zu Ausnahmen bei Selbstbelastung vgl. AK-Gundlach § 136 Rn. 13; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 540; Gössel, Strafverfahrensrecht, § 23 A II b 1; Grünwald, Beweisrecht, S. 66; Gundlach, Vernehmung, S. 47 f.; Rogall, Der Beschuldigte, S. 178; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 6; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 71; Wessels JuS 1966, 169, 176. 2 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2 StPO. Bei polizeilichen Vernehmungen müssen dem Beschuldigten die in Betracht kommenden Strafvorschriften nicht mitgeteilt werden, vgl. § 163a Abs. 4 S. 1 StPO. 3 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

schuldigte über seine Aussagefreiheit und das Recht zur Verteidigerkonsultation zu belehren. Nach neuerer Rechtsprechung des 1. Strafsenats des BGH ist der Beschuldigte, der die Konsultation eines Verteidigers wünscht, sich jedoch aus Kostengründen keinen Verteidiger leisten kann, jedenfalls bei Kapitaldelikten und sonstigen Verbrechensvorwürfen zudem darauf hinzuweisen, dass er im Hinblick auf eine später zu erwartende Pflichtverteidigerbestellung auch sofort einen Verteidiger seines Vertrauens konsultieren oder zumindest telefonischen Kontakt zu einem anwaltlichen Notdienst 4 aufnehmen kann. 5 Allerdings lehnt der 5. Strafsenat eine Verpflichtung zu einem Hinweis auf einen bestehenden Anwaltsnotdienst ab, wenn die Kontaktaufnahme mit dem zunächst gewünschten Verteidiger gescheitert war und der Beschuldigte nicht zu erkennen gibt, dass er einen anderen Verteidiger wählen will. 6 Des Weiteren ist der Beschuldigte gem. § 136 Abs. 1 S. 3 StPO 7 darüber zu belehren, dass er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden, § 136 Abs. 1 S. 4 StPO. 8 Darüber hinausgehende Belehrungspflichten ergeben sich für verhaftete bzw. vorläufig festgenommene Beschuldigte aus § 114b 9 bzw. §§ 127 Abs. 4, 114b StPO n. F. sowie für festgenommene ausländische Beschuldigte aus Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK 10. Nach § 136 Abs. 2 StPO 11 soll die Vernehmung dem Beschuldigten die Möglichkeit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen vorzubringen. Die Vernehmung des Beschuldigten dient damit in erster Linie seiner Verteidigung. 12 Ihm soll rechtliches Gehör gewährt werden. 13 Daneben kommt der Beschuldigtenverneh4 Die Telefonnummern der örtlichen Verteidigernotdienste sind auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV abrufbar unter http://www.ag-strafrecht.de. 5 BGH StV 2006, 566, 567; StV 2006, 567, 568; s. auch Beulke / Barisch StV 2006, 569, 570 f.; Burhoff, Handbuch, Rn. 1364; KK-Diemer § 136 Rn. 14; LR-Gleß § 136 Rn. 41; LR-Erb § 163a Rn. 81b; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; SK-Rogall § 136 Rn. 51. Anders noch 5. Strafsenat in BGHSt 47, 233, 234; BGH NStZ 2004, 390. 6 BGH StV 2006, 515, 516; dagegen Jahn JuS 2006, 272, 273. 7 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 8 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 9 Eingeführt mit Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274. 10 Zustimmungsgesetz v. 26. 08. 1969, BGBl. II 1969, S. 1585. Zum Wortlaut vgl. Anhang 2. 11 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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mung nach herrschender Ansicht auch die Funktion der Sachverhaltsaufklärung zu. 14 Der Beschuldigte ist danach zwar kein Beweismittel im formellen, aber im materiellen Sinne. 15 Bei richterlichen (§ 168c Abs. 1) und staatsanwaltschaftlichen Beschuldigtenvernehmungen (§§ 163a Abs. 3 S. 2, 168c Abs. 1 StPO) ist dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet. Das Anwesenheitsrecht schließt das Recht, Fragen zu stellen, ein. 16 Von dem Termin ist der Verteidiger nach § 168c Abs. 5 S. 1 StPO zu benachrichtigen. Ob dem Verteidiger auch bei polizeilichen Vernehmungen des Beschuldigten ein Anwesenheitsrecht zusteht, ist dagegen umstritten. 17

B. Verfahrensprägende Bedeutung Die während seiner ersten Vernehmung gemachten Angaben des Beschuldigten bilden zumeist die Basis für weitere Maßnahmen, wie die Anordnung von Untersuchungshaft oder die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. 18 Auch für die rechtliche Beurteilung des Tatvorwurfs werden die Weichen gestellt. 19 12 AK-Gundlach § 136 Rn. 29; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 510; C. Geyer, Belehrung, S. 5; HK-Lemke § 136 Rn. 1; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 6 Rn. 26; KK-Diemer § 136 Rn. 1; Kleinknecht Kriminalistik 1965, 449, 451; KMR-Lesch Vor § 133 Rn. 30; Lesch ZStW 111 (1999), 624, 643; LR-Gleß § 136 Rn. 57; E. Müller, FS Hanack, 67, 68; Rogall, Der Beschuldigte, S. 32; SK-Rogall § 136 Rn. 17; Rieß JA 1980, 293, 297; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 62. 13 Degener GA 1992, 443, 462; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 510; C. Geyer, Belehrung, S. 2; Grünwald, Beweisrecht, S. 59; Gundlach, Vernehmung, S. 168; HK-Lemke § 136 Rn. 1; KK-Diemer § 136 Rn. 1; KMR-Lesch § 136 Rn. 1; LR-Gleß § 136 Rn. 57; Meyer-Goßner § 136 Rn. 14; Rieß JA 1980, 293, 297; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 4; SK-Rogall § 136 Rn. 17; Wagner ZStW 109 (1997), 545, 548; Weßlau ZStW 110 (1998), 1, 34. 14 AK-Gundlach § 136 Rn. 29; C. Geyer, Belehrung, S. 2; HK-Lemke § 136 Rn. 1; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 6 Rn. 26; KK-Diemer § 136 Rn. 1; Kleinknecht Kriminalistik 1965, 449, 451; KMR-Lesch Vor § 133 Rn. 30; Lesch ZStW 111 (1999), 624, 635; LR-Hanack, 25. Aufl., § 136 Rn. 35; Meyer-Goßner § 136 Rn. 14; Rieß JA 1980, 293, 297; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 4; SK-Rogall § 136 Rn. 17; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 62 ff. Dagegen Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 110 ff.; Degener GA 1992, 443, 462; Dencker StV 1994, 667, 675; LR-Gleß § 136 Rn. 57; Weßlau ZStW 110 (1998), 1, 34 f.; krit. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 510a; Grünwald, Beweisrecht, S. 59 ff. 15 KK-Diemer § 136 Rn. 1; LR-Hanack, 25. Aufl., § 136 Rn. 35; Rogall, Der Beschuldigte, S. 32; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 124 f. 16 HK-Zöller § 168c Rn. 1. 17 Dazu unten Teil 2 Kapitel 1 D. 18 Dahs jr., Handbuch, Rn. 244; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 195. 19 Vgl. Rasch / Hinz Kriminalistik 1980, 377, 378; St. Stern, Verteidigung in Mordund Totschlagsverfahren, Rn. 1110.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Vor allem die erste polizeiliche Vernehmung des Beschuldigten stellt das „Kernstück des gesamten Strafverfahrens“ 20 dar. Obwohl die Staatsanwaltschaft „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ ist, ermittelt die Polizei insbesondere im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität den Sachverhalt weitgehend selbst. 21 Entweder wird sie hierzu von der Staatsanwaltschaft nach § 152 GVG, § 161 Abs. 1 StPO in Anspruch genommen oder sie wird aus eigener Zuständigkeit nach § 163 Abs. 1 StPO („Recht bzw. Pflicht des ersten Zugriffs“) tätig. Da der Beschuldigte damit im Ermittlungsverfahren in den meisten Fällen nur durch die Polizei vernommen wird, haben die Ergebnisse dieser Vernehmung wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen. Für den Beschuldigten ist zudem seine richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren von besonderer Bedeutung. Denn er kann in dieser Vernehmung nach § 166 Abs. 1 StPO zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen. Der Richter hat diese, soweit er sie für erforderlich erachtet, vorzunehmen, wenn der Verlust der Beweise zu besorgen ist oder die Beweiserhebung die Freilassung des Beschuldigten begründen kann. Gleichwohl hat der Beschuldigte nach herrschender Auffassung keinen Anspruch auf seine richterliche Vernehmung. 22 In der Hauptverhandlung kann der Vernehmungsrichter als Zeuge gehört werden. 23 Zudem können Erklärungen des Angeklagten, die in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, gem. § 254 Abs. 1 StPO zum Zwecke der Beweisaufnahme über ein Geständnis verlesen werden. 24 Dasselbe kann geschehen, wenn ein in der Vernehmung hervortretender Widerspruch mit der früheren Aussage nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder behoben werden kann, § 254 Abs. 2 StPO. Zwar beinhaltet § 254 StPO ein Verlesungsverbot für nichtrichterliche, also staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmungsprotokolle. 25 Die Vorschrift 20

M. Amelung, FG Koch, 145. Geisler ZStW 93 (1981), 1109, 1113 f.; KK-Griesbaum § 163 Rn. 4; LR-Erb Vor § 158 Rn. 25; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 214; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 21. 22 HK-Lemke § 136 Rn. 2; KK-Diemer § 136 Rn. 2; Kleinknecht Kriminalistik 1965, 449, 455; LR-Erb § 163a Rn. 39; C. Geyer, Belehrung, S. 72. Dagegen Schlothauer StV 1995, 158, 161 ff.; krit. auch SK-Rogall § 136 Rn. 18. 23 AK-Meier § 254 Rn. 2; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 282; LR-Mosbacher § 254 Rn. 4; Meyer-Goßner § 254 Rn. 1; SK-Velten § 254 Rn. 18. 24 Das gilt selbst dann, wenn der Beschuldigte das richterliche Protokoll nicht nach § 168a Abs. 3 StPO genehmigt und unterschrieben hatte, vgl. BVerfG NStZ 2006, 46, 47. 25 BGHSt 1, 337, 339; 3, 149, 150; 14, 310, 311; 22, 170, 171; OLG Frankfurt StV 1996, 202; OLG Köln StV 1983, 97; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 285 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 133; LR-Mosbacher § 254 Rn. 8; Meyer-Goßner § 254 Rn. 6; 21

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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verbietet nach herrschender Ansicht jedoch nicht Vorhalte aus diesen Vernehmungsniederschriften und eine zu diesem Zweck durchgeführte Verlesung. 26 Nach überwiegender Ansicht kann in der Hauptverhandlung ferner die nichtrichterliche Verhörsperson als Zeuge vernommen werden. 27 Dabei können auch dieser Vorhalte aus dem Vernehmungsprotokoll gemacht werden. 28 Verwertbar ist allerdings nur die auf den Vorhalt gemachte Aussage, nicht das Protokoll selbst. 29 Bei einem Verstoß gegen die Anwesenheitsrechte und Benachrichtigungspflichten des § 168c StPO ist das Protokoll der richterlichen Vernehmung zwar nicht nach § 254 StPO verlesbar. 30 Ebenso wenig darf die Verhörsperson als Zeuge in der Hauptverhandlung vernommen werden. 31 Auch die Verlesung als nichtrichterliches Protokoll einer Beschuldigtenvernehmung scheidet aus, da die StPO hierfür keine Rechtsgrundlage bietet. Allerdings soll das Protokoll weiterH.-J. Schroth ZStW 87 (1975), 103, 113; SK-Velten § 254 Rn. 12; Wömpner NStZ 1983, 293, 298. 26 BGHSt 1, 337, 339; 3, 149, 150; 14, 310, 311; 21, 285, 286; OLG Frankfurt StV 1996, 202; AK-Meier § 254 Rn. 13; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 286; Gundlach, Vernehmung, S. 174 f.; HK-Julius § 254 Rn. 10; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 21 Rn. 116; KK-Diemer § 249 Rn. 46, § 254 Rn. 1; KMR-Paulus § 254 Rn. 9; LR-Mosbacher § 254 Rn. 23; Meyer-Goßner § 254 Rn. 7. Dagegen Grünwald JZ 1968, 752, 754; Hanack JZ 1972, 274; Niese JZ 1953, 595, 597 f.; H.-J. Schroth ZStW 87 (1975), 103, 130 f.; SK-Velten § 254 Rn. 12; krit. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 871 ff. Insbesondere gegen eine Verlesung Hanack, FS Schmidt-Leichner, 83, 95; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46 Rn. 25. 27 BGHSt 1, 4, 8; 1, 337, 339; 3, 149, 150; 3, 281, 282 f.; 14, 310, 312; 22, 170, 171; BGH NJW 1966, 1524; OLG Frankfurt StV 1996, 202; OLG Köln StV 1983, 97; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 286; Gundlach, Vernehmung, S. 178; Hanack, FS Schmidt-Leichner, 83, 96; HK-Julius § 254 Rn. 1; KK-Diemer § 254 Rn. 1; KMR-Paulus § 254 Rn. 10; LR-Mosbacher § 254 Rn. 9; Meyer-Goßner § 254 Rn. 8; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 46 Rn. 26; Wömpner NStZ 1983, 293, 298. Dagegen AK-Meier § 254 Rn. 14; Grünwald JZ 1968, 752, 754; ders., Beweisrecht, S. 133; SK-Velten § 254 Rn. 12. 28 BGHSt 1, 4, 8; 1, 337, 339; 3, 281, 283; 14, 310, 312; 22, 170, 172; OLG Frankfurt StV 1996, 202; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 286; Gundlach, Vernehmung, S. 178; KK-Diemer § 249 Rn. 47; KMR-Paulus § 254 Rn. 10; Meyer-Goßner § 254 Rn. 8. Dagegen Grünwald JZ 1968, 752, 754; ders., Beweisrecht, S. 136; HK-Julius § 254 Rn. 1; Hanack JZ 1972, 274; ders., FS Schmidt-Leichner, 83, 96; Niese JZ 1953, 595, 597 f.; Riegner NJW 1961, 63, 64; SK-Velten § 254 Rn. 12; krit. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 884. 29 BGHSt 3, 199, 201; 3, 281, 283; 5, 278, 279; 11, 159, 160; 11, 338, 340; 14, 310, 312; 21, 285, 287; BGH NStZ 2010, 406, 407; OLG Frankfurt StV 1996, 202; HansOLG Hamburg MDR 1973, 156; OLG Köln StV 1998, 478 f.; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 286 f., 330; Gundlach, Vernehmung, S. 175; KK-Diemer § 249 Rn. 42; KMR-Paulus § 254 Rn. 10; LR-Mosbacher § 249 Rn. 93; Meyer-Goßner § 254 Rn. 8. 30 BGHSt 26, 332, 334 f.; 31, 140, 144; 42, 391, 392; BGH NStZ 1989, 282 f. m. Anm. Hilger; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 860; HK-Julius § 254 Rn. 6; KK-Diemer § 254 Rn. 6; KK-Wache § 168c Rn. 22; KMR-Plöd § 168c Rn. 11; LR-Mosbacher § 254 Rn. 6; LR-Erb § 168c Rn. 56; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 42; SK-Wohlers § 168c Rn. 41.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

hin als Vernehmungsbehelf dem Beschuldigten oder Zeugen vorgehalten werden können. 32 Die erste Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren kann den weiteren Verlauf des Verfahrens damit entscheidend prägen.

C. Fehlerquellen I. Verbotene Vernehmungsmethoden Während die Vernehmung des Beschuldigten nach der Intention des Gesetzgebers in erster Linie seiner Verteidigung dienen sollte, verfolgt die Polizei in der ersten Vernehmung häufig das Ziel, den Beschuldigten zu einem Geständnis zu bewegen. Das Geständnis gilt immer noch als „Krönung“ der Ermittlungsarbeit. 33 Die Polizeibeamten bedienen sich dabei verschiedener Vernehmungsstrategien und -taktiken. Schlagwortartig seien nur die „Überrumpelungsstrategie“, die „Sondierungsstrategie“, die „Zermürbungsstrategie“ oder die „BeichtvaterTaktik“ genannt. 34 Derartige Vernehmungsmethoden sind zum einen deshalb bedenklich, weil die Vernehmung dann nicht mehr der Verteidigung des Beschuldigten, sondern hauptsächlich seiner Überführung dient. Sie können zum anderen aber auch der Sachverhaltsermittlung abträglich sein, wenn sich der Beschuldigte diesen Vernehmungsmethoden nicht hinreichend entgegenstellen kann und dadurch zu unwahren oder unvollständigen Angaben veranlasst wird. Die Aussagefreiheit des Beschuldigten kann dadurch schwer beeinträchtigt werden. „Dem Ziel zutreffender Wahrheitsermittlung widerspricht jeder Versuch, die Aussage des Angeklagten in dem einen oder anderen Sinne zu beeinflussen, sie also in eine bestimmte Bahn zu drängen ...“ 35 31 BGHSt 26, 332, 335; 31, 140, 144; 42, 391, 392; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; KMR-Plöd § 168c Rn. 11; LR-Erb § 168c Rn. 56a; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6; SK-Wohlers § 168c Rn. 41; Wohlers StV 2006, 228, 229. 32 BGHSt 34, 231, 235; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6. Dagegen BGHSt 31, 140, 144; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; KK-Griesbaum § 168c Rn. 22; KMR-Plöd § 168c Rn. 11; SK-Wohlers § 168c Rn. 44; krit. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 871 ff. 33 Vgl. Scherrmann-Brehm Kriminalistik 1966, 201; Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit, S. 187; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 253. So schon im Inquisitionsprozess: „Confessio est regina probationum!“, vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 101. 34 Näher Degener GA 1992, 443, 450; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 594 ff.; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 95 ff.; Gundlach, Vernehmung, S. 147 ff.; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 19; Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 182 ff. 35 v. Hippel, Strafprozess, S. 422.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

99

„Niemals darf – selbst bei schwersten Belastungen (sie erweisen sich oft als sehr fragwürdig) – die Erlangung eines Geständnisses das Ziel der Vernehmung sein.“ 36

Für den Beschuldigten kann dabei insbesondere die Abgrenzung zwischen zulässigen und verbotenen Vernehmungsmethoden schwierig sein. Zu den nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO 37 verbotenen Vernehmungsmethoden gehört unter anderem die Täuschung des Beschuldigten. Dabei unterscheidet die herrschende Ansicht zwischen der in diesem Sinne verbotenen Täuschung und der erlaubten kriminalistischen List. 38 Eine (verbotene) Täuschung i. S. d. § 136a Abs. 1 S. 1 StPO liegt etwa dann vor, wenn dem Beschuldigten wahrheitswidrig erklärt wird, ein Mitbeschuldigter habe bereits ein Geständnis abgelegt, 39 eine belastende Urkunde sei aufgefunden worden 40 oder das gegen ihn vorliegende Belastungsmaterial sei erdrückend. 41 Verboten sind nach § 136a Abs. 1 S. 3 StPO 42 ferner die Androhung einer gesetzlich unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils. In den Grenzbereich der unzulässigen Drohung fällt etwa der Hinweis auf die Möglichkeit der Verhängung von Untersuchungshaft verbunden mit der Erklärung, dass eine Aussage des Beschuldigten den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr beseitigen kann. 43 Obwohl gegenüber dem Beschuldigten damit ein enormer Geständnisdruck erzeugt wird, ist dies zulässig, wenn die vorläufige Festnahme im Einzelfall 36

Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, Vor § 133 Rn. 5. Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 38 Vgl. BGHSt 35, 328, 329; 37, 48, 52 f.; BGH NStZ 1997, 251; OLG Köln GA 1973, 119, 120; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 135 f.; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 138 f.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 6 Rn. 42; KK-Diemer § 136a Rn. 19 f.; Meyer-Goßner § 136a Rn. 14 f.; K. Peters, Strafprozeß, S. 336 f.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 24; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 95; Soiné NStZ 2010, 596 ff.; krit. Beulke StV 1990, 180, 182; Degener GA 1992, 443, 464; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 655; Lesch ZStW 111 (1999), 624, 643 ff.; LR-Gleß § 136a Rn. 39; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 67 ff.; Rogall, Der Beschuldigte, S. 209 f.; SK-Rogall § 136a Rn. 56 ff.; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 148 f., 160 ff. 39 Beulke StV 1990, 180, 182; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 656; KK-Diemer § 136a Rn. 19; LR-Gleß § 136a Rn. 40; K. Peters, Strafprozeß, S. 337; Puppe GA 1978, 289, 290; SK-Rogall § 136a Rn. 62. 40 Bendler, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 57, 76; KK-Diemer § 136a Rn. 19. 41 BGHSt 35, 328, 330; OLG Frankfurt StV 1998, 119, 120; Bendler, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 57, 77; Beulke StV 1990, 180, 182; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 656; KK-Diemer § 136a Rn. 19; LR-Gleß § 136a Rn. 40; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 334; SK-Rogall § 136a Rn. 62. 42 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 43 Vgl. Schrepfer, Anwesenheit des Verteidigers, S. 96 f. 37

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

rechtmäßig wäre, 44 nicht aber, wenn die Voraussetzungen einer vorläufigen Festnahme oder Verhaftung im konkreten Fall nicht vorliegen. 45 Auch verstößt es nicht gegen § 136a Abs. 1 S. 3 StPO, wenn der Haftrichter dem Beschuldigten Haftentlassung für den Fall zusagt, dass er durch ein wahrheitsgemäßes Geständnis den allein gegebenen Haftgrund der Verdunkelungsgefahr beseitigt. 46 Verboten ist hingegen das Versprechen der Haftentlassung, wenn durch das dem Beschuldigten nahegelegte Geständnis die neben der Verdunkelungsgefahr bestehende Fluchtgefahr nicht beseitigt werden kann. 47 Ein Verstoß gegen diese Verbote führt gem. § 136a Abs. 3 S. 2 StPO 48 auch dann zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn der Beschuldigte einer Verwertung zustimmt. Da die Feststellung der Verwendung verbotener Vernehmungsmethoden dem Freibeweis unterliegt, trifft den Beschuldigten allerdings praktisch eine Nachweispflicht. 49 II. Falsche Geständnisse Falsche Geständnisse sind eine der Hauptfehlerquellen im Strafprozess. 50 Insbesondere die erste polizeiliche Vernehmung stellt für den Beschuldigten regelmäßig eine besondere Belastung dar. Er befindet sich in einer psychischen Ausnahmesituation, während der Vernehmungsbeamte seiner alltäglichen beruflichen Tätigkeit nachgeht. Der Beschuldigte sieht sich einem für solche Situationen besonders geschulten Beamten gegenüber, der regelmäßig auch ein Interesse an der Überführung des Beschuldigten hat. 51

44 BGH MDR 1953, 723; 1956, 527; GA 1955, 246 f.; KK-Diemer § 136a Rn. 30; LR-Gleß § 136a Rn. 56; SK-Rogall § 136a Rn. 74; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 25. Dagegen Degener GA 1992, 443, 464; Erbs NJW 1951, 386, 388; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 64; krit. auch Grünwald, Beweisrecht, S. 70. 45 BGH MDR 1971, 18; KK-Diemer § 136a Rn. 30; LR-Gleß § 136a Rn. 56. 46 BGH MDR 1952, 532; KK-Diemer § 136a Rn. 33; LR-Gleß § 136a Rn. 62; SK-Rogall § 136a Rn. 80. Dagegen Erbs NJW 1951, 386, 389; K. Peters, Strafprozeß, S. 336. 47 BGHSt 20, 268 f.; KK-Diemer § 136a Rn. 33; LR-Gleß § 136a Rn. 62; SK-Rogall § 136a Rn. 80. 48 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 49 Bendler, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 57, 81. 50 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 729 ff.; Hirschberg, Fehlurteil, S. 16; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 5 ff.; St. Stern StV 1990, 563; ders., Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1373; Volbert, FS Eisenberg, 205, 207 f.; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 200 f. 51 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 34; Dahs jr., Handbuch, Rn. 247; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 732.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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„Denn während der Polizeibeamte in diese Interaktion von vornherein mit einer verdachtgesteuerten, selektiven Wahrnehmung, mit institutionell abgesicherter Definitionsmacht und mit einer durch professionelles Wissen gestützten Handlungskompetenz eintritt, sieht sich der Verdächtige vornehmlich in die Rolle des Objektes einer Zwangskommunikation gedrängt, deren ‚Spielregeln‘ ihm weitgehend fremd sind und deren spezifische Aushandlungslogik und Bedingung der Wirklichkeitskonstruktion er meist nicht kennt.“ 52

Diese Asymmetrie der Vernehmungssituation führt häufig dazu, dass der in der Regel juristisch ungebildete Beschuldigte kaum in der Lage ist, tatsächlich von seiner Aussagefreiheit Gebrauch zu machen oder den Vorwürfen des Vernehmungsbeamten entgegenzutreten und sich effektiv zu verteidigen. Der U. S. Supreme Court führte in der Entscheidung Miranda vs. Arizona zutreffend aus: „An individual swept from familiar surroundings into police custody, surrounded by antagonistic forces, and subjected to the techniques of persuasion ... cannot be otherwise than under compulsion to speak.“ 53

Peters hat in seiner Untersuchung zu den Fehlerquellen im Strafprozess festgestellt, dass ein Geständnis insbesondere auf die Art und Weise der Vernehmung zurückzuführen sein kann. Unter dem Druck der Vernehmung kann sogar der Unschuldige zu einem falschen Geständnis veranlasst werden. 54 Dies betrifft insbesondere erstmals strafrechtlich Verfolgte. Mittels des Protokolls lässt sich jedoch meist nicht nachvollziehen, wie es zu der Aussage gekommen ist. 55 Daneben kann es zu falschen Geständnissen auch zur Vermeidung eines Haftbefehls oder zur Aufhebung eines solchen, aus enger familiärer oder freundschaftlicher Verbundenheit mit dem Täter oder der Resignation des Beschuldigten kommen. 56 Peters stellte zudem fest, dass ein falsches Geständnis „auch aus dem Drang heraus, die Reize einer Strafverfolgung zu erleben, sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehnisses zu versetzen und im allgemeinen Gespräch, in Presse und Rundfunk eine Rolle zu spielen“ abgegeben werden kann. 57

52

Brusten, in: 10. Strafverteidigertag, 207, 213. Miranda vs. Arizona, 16 L Ed 2d 694, 716 (1966). 54 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 15. Vgl. auch Hirschberg, Fehlurteil, S. 21; Schlothauer StV 1981, 39, 40; Volbert, FS Eisenberg, 205, 210 f. 55 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 37. Vgl. auch Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 37. 56 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 21. 57 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 102. 53

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Peters gewinnt folgende Erkenntnisse: „1. Falsche Geständnisse kommen bei der Aburteilung der allgemeinen Kriminalität vor ... 2. Falsche Geständnisse kommen auch bei schwerwiegenden Verbrechen (Mord, Totschlag, Brandstiftung und Raub) vor. 3. Falsche Geständnisse entstehen nicht selten durch die Anwendung unrichtiger Vernehmungsmethoden, durch eine zu frühzeitige Annahme der Täterschaft des Beschuldigten und durch Unterlassen der Verfolgung anderer Spuren. 4. Falsche Geständnisse werden vielfach nicht erkannt, weil die Entstehung des Geständnisses, der Wechsel von Geständnis und Widerruf nicht hinreichend überprüft wird. 5. Falsche Geständnisse bleiben unauffällig, weil der Beurteiler infolge des Geständnisses nicht die Lückenhaftigkeit des Beweises erkennt. 6. Falsche Geständnisse können zwar von jedem Angeklagten abgegeben werden. Jedoch sind junge und alte Menschen, labile, psychopathische und schwachsinnige Menschen besonders gefährdet. Es besteht daher Anlaß, sich mit der Person des Gestehenden, etwaigen Motiven und der Prozeßlage sorgfältig auseinanderzusetzen.“ 58

III. Fehlerhafte Vernehmungsprotokolle Auch die während der Vernehmung angefertigten Protokolle stellen eine Fehlerquelle dar. 59 Die Niederschrift eines Protokolls gibt in der Regel nur „gestrafft“ den Inhalt der Vernehmung wieder. Die Vernehmungsbeamten sind meist bestrebt, ein „gut lesbares“ und „stimmiges“ Protokoll anzufertigen. Die nach Auffassung des Vernehmenden für (strafrechtlich) irrelevant und unwesentlich erachteten Angaben werden nicht aufgezeichnet. 60 Das Vernehmungsprotokoll gibt zudem regelmäßig nur die Ergebnisse und nicht auch den Verlauf der Vernehmung wieder. 61 Die einzelnen Fragen werden größtenteils nicht aufgezeichnet, obwohl sich gerade aus der Formulierung der Fragestellung, etwa als Sugges58

K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 25 f. AK-Kube Vorbem. § 133 Rn. 32; Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 259; Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 37; Gundlach, Vernehmung, S. 182 ff.; Herren / Bortz Kriminalistik 1976, 313; SK-Rogall § 136 Rn. 32; St. Stern StV 1990, 563, 565; ders., Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1376; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 478 ff. 60 Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 75; J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 178; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 214 f.; Kube ArchKrim 163 (1979), 175, 178; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 364. 61 AK-Kube Vorbem. § 133 Rn. 35; Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 68; Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 37; Dahs jr., Handbuch, Rn. 245; Kube ArchKrim 163 (1979), 175, 178; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 364; H. W. Schmitz, Tatgeschehen, S. 386; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 195 f. 59

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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tiv- oder Fangfrage, eine Fehlerquelle ergeben kann. Mittels des Protokolls lässt sich dann nicht nachvollziehen, wie es zu der Aussage gekommen ist. Eine solche selektive Aufzeichnung birgt stets die Gefahr, dass wichtige Aussagen nicht protokolliert oder Angaben aus dem Zusammenhang gerissen werden. 62 Auch das unterschiedliche Sprachniveau von Verhörsperson und Auskunftsperson kann zu Modifikationen und Missverständnissen führen. 63 Zudem geben die Vernehmungsprotokolle die Aussagen des Vernommenen zumeist nicht wörtlich, sondern nur sinngemäß wieder. 64 Problematisch bei der Aufnahme eines Vernehmungsprotokolls ist ferner, dass die Verhörsperson oft ihre (bereits mit einer rechtlichen Wertung gefärbten) Formulierungen an die Stelle der wörtlichen Aussage des Beschuldigten setzt. 65 Das gilt insbesondere in Bezug auf die Formulierung subjektiver Tatbestandsmerkmale oder der Mordmerkmale. 66 Dem Vernehmenden kommt damit eine erhebliche Definitionsmacht zu, die im Vernehmungsprotokoll ihren Ausdruck findet. Der Beschuldigte dagegen ist in den meisten Fällen aufgrund der psychischen Belastung in der Vernehmungssituation nicht in der Lage, Änderungen oder Ergänzungen der Niederschrift durchzusetzen. 67 Vor allem Beschuldigten aus unteren Gesellschaftsschichten mangelt es an der notwendigen Handlungskompetenz. 68 Auch kann vor allem der juristisch ungebildete Beschuldigte die spätere Bedeutung der niedergelegten Aussagen kaum erfassen.

62

Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 38. Vgl. auch Brusten, in: 10. Strafverteidigertag, 207, 216 f.; Gundlach, Vernehmung, S. 184 f.; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 481 f. 63 AK-Kube Vorbem. § 133 Rn. 35; Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 78 f.; Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 37; Kube ArchKrim 163 (1979), 175, 182; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 364. 64 Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 75; Dahs jr., Handbuch, Rn. 245; J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 178; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 215; H. W. Schmitz, Tatgeschehen, S. 341. 65 Gundlach, Vernehmung, S. 184; Krehl, Neuregelung, S. 103 f.; Nack StV 1994, 555, 563; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 480. Vgl. auch Herren / Bortz Kriminalistik 1976, 313, 315. 66 Hierzu Rasch / Hinz Kriminalistik 1980, 377 ff. 67 Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 72 f., 82 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 364; Prüfer DRiZ 1977, 41, 42; Rasch / Hinz Kriminalistik 1980, 377, 381; H. W. Schmitz, Tatgeschehen, S. 389. 68 Brusten, in: 10. Strafverteidigertag, 207, 218.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

D. Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung Bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten steht dem Verteidiger nach bislang herrschender Auffassung kein Anwesenheitsrecht zu. 69 Zur Begründung wird vor allem auf den Wortlaut des § 168c Abs. 1 bzw. § 163a Abs. 3 S. 2 i.V. m. § 168c Abs. 1 StPO verwiesen. Danach hat der Verteidiger ausdrücklich nur bei richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Beschuldigtenvernehmungen ein Anwesenheitsrecht. Bei der Neuregelung der Anwesenheitsrechte mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) 1974 70 habe der Gesetzgeber ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen gerade nicht eingeführt. 71 Zudem diene das Ermittlungsverfahren lediglich der Vorbereitung der Entscheidung über die Anklageerhebung. Die Mitwirkungsrechte des Verteidigers in diesem Verfahrensabschnitt müssten daher gegenüber den Belangen der Verbrechensaufklärung zurücktreten. 72 Dem Verteidiger könne jedoch die Anwesenheit gestattet werden. 73 In diesem Fall stünden ihm auch Hinweis- und Fragerechte zu. 74 Der Beschuldigte könne die Anwesenheit seines Verteidigers jederzeit dadurch erzwingen, dass er sich nur in dessen Anwesenheit zur Aussage bereit erklärt. 75 69 BVerfG NJW 2007, 204, 205; Dahs jr., Handbuch, Rn. 292; Dedy, Ansätze, S. 117; B. Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 125; J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 205; Kion NJW 1966, 1800; KK-Griesbaum § 163 Rn. 19; Kleinknecht Kriminalistik 1965, 449, 454; KMR-Plöd § 163a Rn. 11; Krattinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S. 58; Krause StV 1984, 169, 173; Krüger Kriminalistik 1974, 392, 394 f.; LR-Erb § 163a Rn. 95a; Meyer-Goßner § 163 Rn. 16; K. Peters, Strafprozeß, S. 234; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 439; Rieß JA 1980, 293, 298; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 64; Rüping, Das Strafverfahren, Rn. 131; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 112; Senge, FS Müller, 693; SK-Rogall § 136 Rn. 69; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 219. 70 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) v. 09. 12. 1974, BGBl. I 1974, S. 3393, 3533. 71 KK-Griesbaum § 163 Rn. 19; Krause StV 1984, 169, 173; LR-Erb § 163a Rn. 95a; Meyer-Goßner § 163 Rn. 16. 72 In diesem Sinne Ernesti JR 1982, 221, 222; Krüger Kriminalistik 1974, 392, 395. 73 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 517; J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 205; Kion NJW 1966, 1800, 1801; Kleinknecht Kriminalistik 1965, 449, 454; KK-Griesbaum § 163 Rn. 20; KMR-Plöd § 163a Rn. 11; Krause StV 1984, 169, 173; Krüger Kriminalistik 1974, 444, 446 f.; Meyer-Goßner § 163 Rn. 16; Rieß JA 1980, 293, 298; SK-Rogall § 136 Rn. 69; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 219 f. 74 KK-Griesbaum § 163 Rn. 20; KMR-Plöd § 163a Rn. 11; LR-Erb § 163a Rn. 96; Meyer-Goßner § 163 Rn. 16. 75 Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 156; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 518; KK-Griesbaum § 163a Rn. 28; LR-Erb § 163a Rn. 96; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 64; SK-Rogall § 136 Rn. 69.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Vielfach wird die gesetzliche Einführung eines Anwesenheitsrechts des Verteidigers bei jeder Beschuldigtenvernehmung – auch der polizeilichen – gefordert. 76 Nach zutreffender Ansicht besteht jedoch bereits nach derzeitiger Gesetzeslage ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers. Einige leiten dieses aus § 137 Abs. 1 S. 1 StPO 77 oder § 136 Abs. 1 S. 2 StPO 78 her. Richtigerweise ergibt sich ein solches aus dem Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren. 79 Soll dem Beschuldigten ein faires Verfahren und damit auch eine effektive und wirksame Verteidigung gewährt werden, muss dem Verteidiger bereits bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten ein Recht auf Anwesenheit zustehen. Das Ermittlungsverfahren stellt heute den entscheidenden Verfahrensabschnitt dar. Die Vorstellung von der Hauptverhandlung als „Kernstück des Verfahrens“ ist überholt. Dabei werden die Ermittlungen in den meisten Fällen durch die Polizei bis zum Abschluss geführt und erst dann die Akten der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vorgelegt. Der Beschuldigte wird daher im Ermittlungsverfahren in der Regel nur durch die Polizei vernommen. Die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung und insbesondere das darüber erstellte Vernehmungsprotokoll haben erheblichen Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen. Gerade die Angaben des Beschuldigten im Rahmen seiner ersten polizeilichen Vernehmung prägen den weiteren Verlauf des Verfahrens. Die Angaben des Beschuldigten sind zum einen Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungs- und 76 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 624; Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 132 f. (§ 168f Abs. 1); Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 88; Dahs sen. AnwBl. 1959, 171, 184; Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 361; Dedy, Ansätze, S. 120; Diskussionsentwurf § 163a Abs. 4 S. 1 DE; Eckpunktepapier StV 2001, 314, 315; Entwurf des DAV, § 163a Abs. 4 S. 1 StPO-Entwurf; Eser ZStW 79 (1967), 565, 606; Ignor / Matt StV 2002, 102, 106; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 187; Jung JuS 1998, 1136, 1139; Krause StV 1984, 169, 174; Krehl, Neuregelung, S. 111 f.; LR-Erb § 163a Rn. 95a; Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1231 f.; Richter II NJW 1981, 1820, 1822; ders. AnwBl. 1985, 431, 437; Rieß, FS Schäfer, 155, 203; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 396 ff.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 14; Thomas AnwBl. 1986, 56, 57; Weigend ZStW 104 (1992), 486, 508; Wolter GA 1985, 49, 84; ders., Aspekte, S. 85. Dagegen Senge, FS Müller, 693, 700 ff. 77 Gössel ZStW 94 (1982), 5, 35; Matt / Dierlamm / Schmidt StV 2009, 715; Schmidt-Leichner AnwBl. 1961, 26, 39; Sieg NJW 1975, 1009; Skuhr NJW 1966, 1350; SK-Wohlers § 163a Rn. 72. 78 Sieg NJW 1975, 1009; ders. MDR 1985, 195, 196. 79 AK-Achenbach § 163a Rn. 32; Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 48, 245; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 794 f. (aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK); Gössel, Strafverfahrensrecht, § 4 B II c; Grünwald, Beweisrecht, S. 80 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 225; Matt / Dierlamm / Schmidt StV 2009, 715; Nelles StV 1986, 74, 75 Fn. 18; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 71 f.; Rzepka, Fairness, S. 406, 424; Schrepfer, Anwesenheit des Verteidigers, S. 182 ff.; Sieg NJW 1975, 1009; Welp ZStW 90 (1978), 804, 811; ders. JZ 1980, 134, 136; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 528.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Sicherungsmaßnahmen und zum anderen werden bereits während der ersten polizeilichen Vernehmung die Grundlagen für die rechtliche Bewertung des Tatvorwurfs geschaffen. Darüber hinaus ist der durch die Vernehmungssituation verunsicherte Beschuldigte den besonders geschulten Vernehmungsbeamten regelmäßig unterlegen. Es wurde bereits dargestellt, dass es unter dem Druck der Vernehmungssituation auch zu falschen Geständnissen kommt und das Vernehmungsprotokoll lückenhaft oder sonst unrichtig sein kann. Das BVerfG hat einem Zeugen aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens das Recht zugebilligt, zu einer „richterlichen oder sonstigen“ Vernehmung einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen. 80 Das BVerfG hat hierzu ausgeführt, dass der regelmäßig rechtsunkundige Zeuge selbst bei fehlerfreier Belehrung die rechtlichen Folgen seiner Angaben für ihn nicht sicher übersehen und den Umfang und die Grenzen seines Auskunftsverweigerungsrechts nicht zweifelsfrei wird erkennen können. 81 Der Anspruch auf Rechtsbeistand gewährleistet dem Zeugen um der Chancengleichheit willen die Möglichkeit, seine prozessualen Befugnisse umfassend und sachgerecht wahrzunehmen. Den Zeugen auf eine vorbereitende Rechtsberatung oder darauf zu beschränken, eine Unterbrechung zum Zweck der Beratung durch einen abwesenden Rechtsbeistand anzuregen, würde seinen Interessen nicht gerecht. 82 Dem hat der Gesetzgeber nunmehr mit der Neufassung des § 68b StPO 83 durch das 2. Opferrechtsreformgesetz 84 Rechnung getragen. Danach kann sich ein Zeuge (jederzeit) eines anwaltlichen Beistandes bedienen, § 68b Abs. 1 S. 1 StPO n. F. Einem zur Vernehmung des Zeugen erschienenen anwaltlichen Beistand ist gem. § 68b Abs. 1 S. 2 StPO n. F. die Anwesenheit gestattet. Nur wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass seine Anwesenheit die geordnete Beweiserhebung nicht nur unwesentlich beeinträchtigen würde, kann er von der Vernehmung ausgeschlossen werden, § 68b Abs. 1 S. 3 StPO n. F. Nichts anderes kann aber für den Beschuldigten gelten. Auch der Beschuldigte ist in der Regel rechtsunkundig und auch nach ordnungsgemäßer Belehrung über seine Rechte nicht in der Lage, die Tragweite seiner Angaben zu übersehen. Zudem kann auch der Beschuldigte nicht darauf verwiesen werden, nur außerhalb der Vernehmung seinen Verteidiger zu befragen oder jedes Mal, wenn er sich mit diesem besprechen möchte, die Unterbrechung der Vernehmung zu verlangen. 80

BVerfGE 38, 105, 112. BVerfGE 38, 105, 113. 82 BVerfGE 38, 105, 114. 83 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 84 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2280. Dazu Bittmann ZRP 2009, 212 ff.; ders. JuS 2010, 219 ff.; Celebi ZRP 2009, 110 f.; Klengel / Müller NJW 2011, 23 ff.; Matt / Dierlamm / Schmidt StV 2009, 715 ff.; K. Schroth NJW 2009, 2916 ff. 81

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Dem Verteidiger die Anwesenheit zu versagen, würde die Subjektstellung des Beschuldigten missachten und wäre mit dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung nicht zu vereinbaren. Die Möglichkeit der Verteidigerkonsultation dient insbesondere dazu, den Beschuldigten zu beraten, ob er aussagen oder schweigen soll. Gerade für diese entscheidende Frage muss sich der Beschuldigte schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung der Hilfe eines Verteidigers versichern können. 85 Entschließt sich der Beschuldigte zu einer Aussage, muss ihn der Verteidiger vor der Abgabe unbedachter oder missverständlicher Angaben schützen. 86 Der Verteidiger muss den Beschuldigten während der Vernehmung ferner über die von der Vernehmungsperson verwendeten juristischen Fachausdrücke aufklären und deren Bedeutung im Verfahren deutlich machen. 87 Der Verteidiger muss auch bereits frühzeitig Entlastungsmomente aufzeigen. 88 Denn der Vernehmende hat gerade die Aufgabe, die Verwirklichung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale aufzuklären. Daraus ergibt sich in der Praxis eine Belastungstendenz. Entlastungselemente, die ebenfalls aufzuklären sind, sind dann „nur korrigierende Randbedingungen“. 89 Auch haben Untersuchungen gezeigt, dass viele Beamte sich schon nach kurzer Zeit ein Bild über das Tatgeschehen gemacht haben. Diese Vorstellungen bestimmen dann weitgehend die Interpretation der Aussagen des Vernommenen zum Tathergang und auch zur Motivation. 90 Zudem kommt der Kontrollfunktion des Verteidigers im Rahmen der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung eine wichtige Bedeutung zu. Der Verteidiger hat darauf zu achten, dass die Aussage nicht mit unlauteren Mitteln herbeigeführt wird. 91 Ohne sachkundigen Verteidigerbeistand ist es für den Beschuldigten kaum möglich, die Abgrenzung zwischen kriminalistischer List und verbotener Täuschung, erlaubten Zusagen und Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils vorzunehmen. Des Weiteren muss der Verteidiger die Niederschrift des Protokolls überwachen, um Missverständnisse und Widersprüche zu vermeiden. 92 Vor allem ist darauf hinzuwirken, dass auch Fragen und Vorhalte mitprotokolliert werden. 93 Im Einzelfall kann es außerdem erforderlich sein, die Aussage des Beschuldig85

Vgl. Eser ZStW 79 (1967), 565, 603; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 71. Eser ZStW 79 (1967), 565, 606. 87 Krehl, Neuregelung, S. 104. 88 Eser ZStW 79 (1967), 565, 606. 89 E. Müller AnwBl. 1986, 50, 53. 90 Vgl. Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 243. 91 Eser ZStW 79 (1967), 565, 606. 92 Eser ZStW 79 (1967), 565, 606; Krehl, Neuregelung, S. 109. 93 Vgl. Eisenberg JZ 1984, 912, 917; J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 188; Nack StV 1994, 555, 564; SK-Rogall § 136 Rn. 32; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 180; ders. SchwZStR 88 (1972), 361, 388. Vgl. auch Nr. 45 Abs. 2 S. 1 RiStBV. 86

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

ten wörtlich zu protokollieren. 94 Ohne die Unterstützung durch einen Verteidiger sind die meisten Beschuldigten nicht in der Lage, das Vernehmungsprotokoll zu beanstanden. Gegen ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung kann auch nicht vorgebracht werden, dass dadurch eine effiziente Verbrechensaufklärung bedroht sei, da die polizeilichen Vernehmungsmethoden keine Wirkung mehr entfalten könnten. 95 Derartige Befürchtungen gehen angesichts der verfahrensrechtlichen Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege ins Leere. Als solches hat der Verteidiger die Rechte und Interessen des Beschuldigten zu wahren, auf die Berücksichtigung der für den Beschuldigten günstigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu achten und insbesondere auf die Einhaltung eines rechtmäßigen Verfahrens hinzuwirken. Dabei unterliegt der Verteidiger nach herrschender Auffassung auch der Wahrheitspflicht. Zudem hat der Beschuldigte das absolute Recht zu schweigen. Jegliche Beeinflussung in Form einer „Überredung“ oder gar „Überrumpelung“ zur Aussage würde die Aussagefreiheit des Beschuldigten und dessen Stellung als Subjekt des Verfahrens schwer missachten. Hierzu sei auf die Entscheidung des U. S. Supreme Court Escobedo vs. Illinois verwiesen, der zutreffend ausgeführt hat: „No system worth preserving should have to fear that if an accused is permitted to consult with a lawyer, he will become aware of, and exercise, these rights. If the exercise of constitutional rights will thwart the effectiveness of a system of law enforcement, then there is something very wrong with the system.“ 96

Die Anwesenheit eines Verteidigers während der Vernehmung kann im Gegenteil dazu führen, dass weniger Geständnisse widerrufen werden und die Behauptung der Verwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden verringern. 97 Denn Aufgabe des Verteidigers ist es, den Beschuldigten vor übereilten und unbedachten Äußerungen zu schützen. Ein im Beisein des Verteidigers abgegebenes Geständnis besitzt damit eine erhöhte Vermutung der Richtigkeit. Bei Anwesenheit des Verteidigers während der Vernehmung dürfte auch die spätere Behauptung der Ausnutzung unzulässiger Vernehmungsmethoden kaum durchdringen. Denn der Verteidiger wäre aufgrund seiner Kontrollfunktion zum sofortigen Einschreiten verpflichtet gewesen. Polizeiliche Vernehmungsprotokolle, die unter 94 Vgl. J. Fischer, Die polizeiliche Vernehmung, S. 191; SK-Rogall § 136 Rn. 32. Vgl. auch Nr. 45 Abs. 2 S. 1 u. 2 RiStBV. 95 In diesem Sinne aber Bittmann ZRP 2001, 441, 443; Ernesti JR 1982, 221, 222; Heinitz JR 1961, 241, 244; Hinz SchlHA 2001, 245, 246; Krattinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S. 316 f.; Wenzky Kriminalistik 1960, 299, 300 f. 96 Escobedo vs. Illinois, 12 L Ed 2d 977, 985 f. (1964). 97 Schaefer MDR 1977, 980; Schrepfer, Anwesenheit des Verteidigers, S. 185 ff. Vgl. auch Krüger Kriminalistik 1974, 392, 395.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Anwesenheit eines Verteidigers entstanden sind, erhielten damit mehr Authentizität. 98 Zudem dient die Anwesenheit des Verteidigers durch dessen Hinweisund Fragerechte der Vermeidung von Missverständnissen, der Förderung der Sachaufklärung und der sachgerechten Protokollierung. 99 Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und dem daraus hergeleiteten Recht auf effektive und wirksame Verteidigung ergibt sich daher bereits nach derzeitiger Gesetzeslage ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten.

E. Notwendige Verteidigung „In keinem anderen Verfahrensabschnitt ist der Beschuldigte so wenig in der Lage zur Selbstverteidigung wie in der ersten Vernehmung.“ 100

I. Grundlagen Die Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit und das Recht zur Konsultation eines Wahlverteidigers sowie ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei jeder Beschuldigtenvernehmung genügen jedoch nicht, wenn es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO handelt. Denn viele Beschuldigte werden die Kosten für einen Wahlverteidiger nicht aufbringen können. Zudem ist die Wahl eines Verteidigers vor der ersten Vernehmung eher die Ausnahme, obwohl vor allem unerfahrene Beschuldigte den Vernehmungsmethoden der Ermittler nicht gewachsen sind und die enorme Bedeutung der ersten Vernehmung für den weiteren Verlauf des Verfahrens verkennen. Seit langem wird daher gefordert, dem unverteidigten Beschuldigten bereits ab der ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger beizuordnen. 101 Nach der Neufassung des § 68b StPO durch das 2. Opferrechtsreformgesetz 102 ist einem Zeugen, der bei seiner Vernehmung keinen anwaltlichen Beistand hat und dessen schutzwürdigen Interessen nicht auf andere Weise Rechnung getragen werden kann, für die Dauer der Vernehmung ein solcher beizuordnen, wenn besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Zeuge seine 98

Jahn ZStW 115 (2003), 815, 836. Schrepfer, Anwesenheit des Verteidigers, S. 152. 100 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 33. 101 Jung JuS 1998, 1136, 1139; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 263; ders. NJW 2007, 969, 973 f.; Oellerich StV 1981, 434, 441; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 350; Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, S. 204; Wolf, Strafverteidigung, S. 395 f. 102 Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2280. 99

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Befugnisse bei seiner Vernehmung nicht selbst wahrnehmen kann, § 68b Abs. 2 StPO n. F. Das Gesetz differenziert dabei nicht mehr zwischen polizeilicher, staatsanwaltschaftlicher oder richterlicher Vernehmung, vgl. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO n. F. Gleiches muss aber auch für die Beschuldigtenvernehmung gelten. Der Beschuldigte ist ohne anwaltlichen Beistand nur selten in der Lage, seine Rechte im Strafverfahren und insbesondere in seiner Vernehmung effektiv wahrzunehmen. Wie bereits dargestellt, prägen die während der ersten Vernehmung gemachten Angaben des Beschuldigten den weiteren Verlauf des Verfahrens ganz entscheidend. Die Verhörspersonen können in der Hauptverhandlung als Zeugen gehört werden. Richterliche Vernehmungsprotokolle können unter den Voraussetzungen des § 254 StPO verlesen werden. Nichtrichterliche Protokolle können zum Zwecke des Vorhalts verlesen werden. Zudem basiert die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen, in den meisten Fällen lediglich auf den polizeilichen Ermittlungen und insbesondere den in den Akten enthaltenen polizeilichen Vernehmungsprotokollen. Die erste Vernehmung des Beschuldigten ist außerdem oftmals die Basis für die Anordnung weiterer Ermittlungs- oder Sicherungsmaßnahmen. Auch für die rechtliche Bewertung des Tatvorwurfs werden die Weichen gestellt. Hervorzuheben ist zudem nochmals, dass die Vernehmung des Beschuldigten in erster Linie der Gewährung rechtlichen Gehörs und damit seiner Verteidigung dient. Um dem Beschuldigten eine effektive und wirksame Wahrnehmung seiner Verteidigungsinteressen zu gewährleisten, ist es daher notwendig, dem unverteidigten Beschuldigten – zumindest bei gewichtigem Tatvorwurf – vor seiner ersten Vernehmung (von Amts wegen oder auf seinen Antrag) einen Verteidiger beizuordnen, da andernfalls die Verteidigungsrechte des Beschuldigten ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert würden. II. Richterliche, insbesondere haftrichterliche Beschuldigtenvernehmung Für die richterliche Beschuldigtenvernehmung ergibt sich die Notwendigkeit der Verteidigerbeiordnung vor allem aus der Möglichkeit der Verwertung des richterlichen Vernehmungsprotokolls in der späteren Hauptverhandlung nach § 254 StPO. Richterliche Vernehmungen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erfolgen gerade zur Herstellung eines solchen verlesbaren Protokolls und damit zur Beweissicherung. 103 103 KK-Diemer § 136 Rn. 2; KMR-Lesch § 136 Rn. 2; LR-Gleß § 136 Rn. 1; LR-Erb § 163a Rn. 49; Rieß JA 1980, 293, 297; SK-Rogall § 136 Rn. 19. Vgl. Nr. 10 RiStBV.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Bei seiner richterlichen Vernehmung hat der Beschuldigte außerdem gemäß § 166 Abs. 1 StPO das Recht, zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen. Der Richter hat diese, soweit er sie für erforderlich erachtet, zu erheben, wenn der Verlust der Beweise zu besorgen ist oder die Beweiserhebung die Freilassung des Beschuldigten begründen kann. Gerade um dieses Beweisantragsrecht effektiv auszuüben, bedarf der Beschuldigte des Beistandes eines Verteidigers, da hierfür Kenntnisse des Beweisrechts und regelmäßig vorherige Akteneinsicht erforderlich sind. Zudem ist der Beschuldigte verpflichtet, auf Ladung vor dem Richter zu erscheinen. Gegebenenfalls kann er auch vorgeführt werden. Das gilt selbst dann, wenn er sich nicht zur Sache äußern will und dies bereits angekündigt hat. 104 Der Beschuldigte kann sich der richterlichen Vernehmung daher nicht entziehen. Handelt es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO, ist dem unverteidigten Beschuldigten daher bereits ab der ersten richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger beizuordnen. Gleiches gilt für die haftrichterliche Vernehmung des Beschuldigten anlässlich seiner Vorführung nach §§ 115, 115a oder § 128 StPO. Nach früherer Gesetzeslage war dem unverteidigten Beschuldigten gem. § 117 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. ein Verteidiger für die Dauer der Untersuchungshaft zu bestellen, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte bzw. sein gesetzlicher Vertreter dies beantragten. Diese Vorschrift enthielt jedoch nur eine Mindestgarantie, 105 so dass dem Beschuldigten vor diesem Zeitpunkt nach §§ 140, 141 StPO ein Verteidiger bestellt werden konnte. Die Bestellung nach § 140 ging der auf die Dauer der Untersuchungshaft beschränkten Bestellung nach § 117 Abs. 4 StPO vor. 106 Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts am 01. 01. 2010 107 wurde § 117 Abs. 4 StPO a. F. aufgehoben. Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. ist nunmehr die Verteidigung notwendig, wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Abs. 6 StPO vollstreckt wird. Gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO n. F. ist der Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, zu bestellen. Bereits vor diesem Zeitpunkt ist dem unverteidigten Beschuldigten jedoch schon für die haftrichterliche Vernehmung ein Verteidiger nach §§ 140 Abs. 1

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Meyer-Goßner § 133 Rn. 5 m.w. N. BGHSt 46, 93, 99; vgl. auch OLG Nürnberg StV 1987, 191. 106 Vgl. HK-Lemke § 117 Rn. 24; LR-Hilger § 117 Rn. 36. 107 Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2274. 105

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

oder 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO zu bestellen, da andernfalls eine effektive und wirksame Verteidigung nicht gewährleistet wird. Die Untersuchungshaft ist der schwerste Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten. 108 Sie trifft den Beschuldigten meist überraschend und unvorbereitet. Im Gegensatz zur Strafhaft, vor der dem Verurteilten Gelegenheit gegeben wird, seine persönlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu ordnen und ihm hierbei gegebenenfalls Hilfe gewährt wird (§ 72 Abs. 1 StVollzG), wird der Untersuchungsgefangene von einem Moment auf den anderen „aus allen privaten und sozialen Bezügen herausgerissen.“ 109 Mit der Inhaftierung geht eine außergewöhnliche familiäre, soziale und psychische Belastung einher, auch der Arbeitsplatz und damit die Existenzgrundlage kann gefährdet sein. 110 Zudem sind die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten durch die Inhaftierung erheblich eingeschränkt. Ihm ist es nicht möglich, Entlastungszeugen aufzusuchen oder eigene Nachforschungen anzustellen, um die gegen ihn vorliegenden Anschuldigungen zu entkräften. 111 Er ist auch daran gehindert, für einen eventuellen Täter-Opfer-Ausgleich oder eine Schadenswiedergutmachung (vgl. § 46a StGB) persönlichen Kontakt zum Geschädigten aufzunehmen. 112 Bereits seit langem wurde daher gefordert, dem unverteidigten Beschuldigten in allen Fällen von Untersuchungshaft einen Verteidiger beizuordnen, wobei der genaue Zeitpunkt der Verteidigerbeiordnung allerdings meist offen blieb. 113 Mit der Einführung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. ist die Verteidigung nunmehr notwendig, wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung vollstreckt wird. Zur Gewährleistung einer effektiven und wirksamen Verteidigung muss eine Verteidigerbeiordnung jedoch bereits zum Zeitpunkt der haftrichterlichen Vernehmung des Beschuldigten erfolgen. Denn die Verteidigung kommt zu spät, wenn Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung bereits vollzogen wer108 Besonders deutlich Hassemer StV 1984, 38, 40: „Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen.“ 109 Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 2; vgl. auch Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 37 f. 110 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, S. 59; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 3 f. 111 Dedy, Ansätze, S. 87; Münchhalffen StraFo 2003, 150, 152, 155; Püschel StraFo 2009, 134, 137; Roxin, FS Jauch, 183, 191; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 18; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 197. 112 Püschel StraFo 2009, 134, 137 f.; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 18. 113 Vgl. Bosch StV 1999, 333, 336; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 571 ff.; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 81 f.; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 70, 136; J. Kühl StV 1988, 355, 358; Meier GA 2004, 441, 453; Müller-Dietz StV 1984, 79, 81; Rieß, FS Schäfer, 155, 203; Roxin, FS Jauch, 183, 191 f.; ders., FS Hanack, 1, 18 f.; Satzger, Gutachten, C 88 f.; Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 193; Wolter GA 1985, 49, 84 f.

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den. Die entscheidenden Weichen, insbesondere durch eine Einlassung des Beschuldigten, werden bereits bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten durch den Haftrichter gestellt. Bei der Vernehmung durch den Haftrichter ist der Beschuldigte auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht hinzuweisen, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, § 115 Abs. 3 S. 1 StPO. 114 Ihm ist Gelegenheit zu geben, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen, § 115 Abs. 3 S. 2 StPO. 115 Dem Beschuldigten sind dabei auch die aktenkundigen entlastenden Umstände mitzuteilen. 116 Auch die haftrichterliche Vernehmung dient der Gewährung rechtlichen Gehörs und damit in erster Linie der Verteidigung des Beschuldigten. 117 In der Regel handelt es sich um die erste richterliche Vernehmung, so dass der Beschuldigte außerdem nach § 136 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO über das Recht zur Verteidigerkonsultation und das Recht, zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen zu beantragen, zu belehren ist. 118 Das Beweisantragsrecht nach § 166 Abs. 1 StPO, das auch in der Vorführungsverhandlung gilt, 119 ist hier von besonderer Bedeutung, da der Richter die beantragten Beweiserhebungen vorzunehmen hat, wenn sie die Freilassung des Beschuldigten (auch durch Außervollzugsetzung des Haftbefehls) 120 begründen. 121 Damit der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte auch effektiv und wirksam ausüben kann, ist er besonders in dieser Vernehmung auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen. Insbesondere kann vor einer Einlassung des Beschuldigten sowie vor der Beantragung von Beweiserhebungen Akteneinsicht erforderlich sein.

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Ggf. i.V. m. § 115a Abs. 2 S. 2 bzw. § 128 Abs. 1 S. 2 StPO. Ggf. i.V. m. § 115a Abs. 2 S. 2 bzw. § 128 Abs. 1 S. 2 StPO. 116 BVerfG NJW 1994, 3219, 3220; NStZ-RR 1998, 108, 109; KK-Graf § 115 Rn. 9. 117 BVerfG NJW 1994, 3219, 3220; KK-Graf § 115 Rn. 1; Meyer-Goßner § 115 Rn. 8. 118 Hengsberger JZ 1966, 209, 212; KK-Graf § 115 Rn. 10; Kleinknecht JZ 1965, 153, 156; LR-Hilger § 115 Rn. 18; Meyer-Goßner § 115 Rn. 8; SK-Paeffgen § 115 Rn. 9; a. A. noch Dreves DRiZ 1965, 110, 113; Gegenfurtner DRiZ 1965, 334 f. 119 Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 338; HK-Lemke § 115 Rn. 15; KK-Graf § 115 Rn. 10; KK-Griesbaum § 166 Rn. 2; LR-Erb § 166 Rn. 3; Meyer-Goßner § 115 Rn. 8; Nelles StV 1986, 74, 78; Schlothauer StV 1995, 158, 161; ders. / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 259; SK-Paeffgen § 115 Rn. 9; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 252. 120 Schlothauer StV 1995, 158, 159. 121 Der verhaftete oder vorläufig festgenommene Beschuldigte ist zudem bereits unverzüglich nach seiner Festnahme gem. § 114b bzw. §§ 127 Abs. 4, 114b StPO n. F. zu belehren. 115

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Nach der Rechtsprechung des BVerfG folgt aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör ein Anspruch des inhaftierten Beschuldigten auf Einsicht seines Verteidigers in die Akten, wenn und soweit er die sich darin befindlichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können und eine mündliche Mitteilung der Tatsachen und Beweismittel, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt, nicht ausreichend ist. 122 Auch nach § 147 Abs. 2 S. 2 StPO n. F. 123 sind dem Verteidiger, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet oder diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt ist, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen, in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren. Die Haftentscheidung darf nicht auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die Beschuldigtem bzw. Verteidiger nicht zugänglich waren; gegebenenfalls muss der Haftbefehl aufgehoben bzw. der Erlass des Haftbefehls abgelehnt werden. 124 122

BVerfG NJW 1994, 3219, 3220; dazu Bohnert GA 1995, 468 ff.; Bosch StV 1999, 333 ff.; s. auch BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109; BGH NJW 1996, 734; KG StV 1993, 370 m. Anm. Schlothauer; KG StV 1994, 318 u. 319 m. Anm. Schlothauer; OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 107, 108; OLG Hamm StV 2002, 318, 319 m. Anm. Deckers; OLG Köln StV 1998, 269; NStZ 2002, 659; Dahs jr., Handbuch, Rn. 338; KMR-Wankel Vor § 112 Rn. 5; LR-Hilger Vor § 112 Rn. 23a; LR-Lüderssen / Jahn § 147 Rn. 77; J. Lange NStZ 2003, 348, 351; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 367; Nehm, FG Graßhof, 239, 243; SK-Wohlers § 147 Rn. 65; Wohlers StV 2010, 151, 152. Ein vergleichbarer Anspruch ergibt sich nach der Rechtsprechung des EGMR für das Haftprüfungsverfahren aus Art. 5 Abs. IV EMRK, vgl. EGMR, Lamy gg. B, Series A 151, § 29; Lietzow gg. D, Rep. 2001-I, §§ 44 ff.; Schöps gg. D, Rep. 2001-I, §§ 44 ff.; Garcia Alva gg. D, §§ 39 ff. = StV 2001, 201 ff. m. Anm. Kempf; Nikolova gg. BG, Rep. 1999-II, § 58; Migoń gg. PL, §§ 79 f.; Shishkov gg. BG, Rep. 2003-I, § 77; Kehayov gg. BG, § 84; Mooren gg. D, §§ 124 f.; s. auch Ambos NStZ 2003, 14 f.; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 352 f.; Hilger GA 2006, 294 ff.; Kieschke / Osterwald NJW 2002, 2003, 2004; Kühne / Esser StV 2002, 383, 390 ff.; J. Lange NStZ 2003, 348, 349 f.; R. Schmitz wistra 1993, 319, 320 f.; Zieger StV 1993, 320, 322. 123 Neufassung des § 147 Abs. 2 StPO durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I, S. 2274. 124 BVerfG NJW 1994, 3219, 3220; StraFo 2004, 309, 310; 2006, 165 f.; OLG Frankfurt StV 1993, 292, 294 m. abl. Anm. Taschke; OLG Hamm StV 2002, 318, 319 m. Anm. Deckers; OLG Köln StV 1998, 269; NStZ 2002, 659; KG StV 1994, 318 u. 319 m. Anm. Schlothauer; Ambos NStZ 2003, 14, 15; Burhoff StraFo 2002, 379, 380; KK-Graf § 115 Rn. 9; KMR-Wankel Vor § 112 Rn. 5; Kühne / Esser StV 2002, 383, 391 f.; LR-Hilger Vor § 112 Rn. 23b; LR-Lüderssen / Jahn § 147 Rn. 79; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 367; Münchhalffen / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 81, 278; Nehm, FG Graßhof, 239, 252; Paeffgen NStZ 1995, 21, 22; Schlothauer StraFo 1995, 5, 6 f.; ders. StV 2001, 192, 195 f.; ders. / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 250; SK-Wohlers § 147 Rn. 65; Trechsel, FS Druey, 993, 1005; Weider StV 2010, 102, 105; Zieger StV 1993, 320, 323.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Zudem kann die drohende Untersuchungshaft durch die damit verbundene psychische Belastung zu einer faktischen Förderung der Geständnisbereitschaft führen. 125 Auch besteht die Gefahr, dass der Beschuldigte, nur um die Untersuchungshaft zu vermeiden, ein falsches Geständnis abgibt. 126 Die Schwierigkeiten der Abgrenzung eines zulässigen Hinweises auf die Möglichkeit der Haftentlassung für den Fall eines Geständnisses von den nach § 136 Abs. 1 S. 3 StPO verbotenen Vernehmungsmethoden wurden bereits dargestellt. 127 Gerade in dieser Situation bedarf der Beschuldigte des Beistandes eines Verteidigers, der ihn darüber berät, ob er aussagen oder schweigen soll und vor übereilten oder unwahren Angaben schützt. Der Verteidiger muss auch daran erinnern, dass Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft ultima ratio sind 128 sowie daran, dass für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung streitet und Untersuchungshaft keine vorläufige Sanktion darstellt. Der Beschuldigte ist daher gerade in der Vernehmung, die über seine Inhaftierung oder Freilassung entschiedet, auf eine effektive und wirksame Verteidigung und damit den Beistand eines Verteidigers, der gegebenenfalls Akteneinsicht nehmen kann, angewiesen. Dem unverteidigten Beschuldigten ist daher bereits im Vorführtermin ein Verteidiger beizuordnen. 129 Gleiches gilt für eine Vorführung nach § 126a Abs. 2 i.V. m. §§ 115, 115a StPO anlässlich einer einstweiligen Unterbringung des Beschuldigten. 130 125 Alsberg JW 1925, 1433, 1436; Bosch StV 1999, 333, 335; Dahs sen. NJW 1959, 505, 507; Dahs jr., Handbuch, Rn. 331; Deckers NJW 1994, 2261, 2262; Lammer StraFo 1999, 366, 367; Münchhalffen StraFo 2003, 150 f.; dies. / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 250; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 5, 665; Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 66, 188. 126 Gallandi StV 1987, 87, 88; Lammer StraFo 1999, 366, 370; Münchhalffen / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 253; Neuhaus StV 1999, 340; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 21; Schlothauer StV 1981, 39, 40; ders. / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 5, 665; Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 69 f., 188 f. 127 Dazu oben Teil 2 Kapitel 1 C. I. 128 Vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, S. 59; LR-Hilger Vor § 112 Rn. 19. 129 Bereits nach früherer Rechtslage für Verteidigerbeiordnung von Amts wegen Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 47 (§ 115b); Dahs jr. NJW 1985, 1113, 1118; Deckers, FG Koch, 151, 158; Dedy, Ansätze, S. 90; Jung JuS 1998, 1136, 1139; ders. / Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft, S. 19; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 257; Püschel StraFo 2009, 134, 138; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 11; Rzepka, Fairness, S. 408; Schlothauer / Weider StV 2004, 504, 514; Teuter StV 2005, 233, 235; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 198 f.; Wolter, Aspekte, S. 45 f.; für Verteidigerbeiordnung auf Antrag des Beschuldigten Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 585; Herrmann StV 1996, 396, 402; auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Beschuldigten Diskussionsentwurf § 117 Abs. 4 S. 1 DE. 130 Bereits nach früherer Rechtslage für Verteidigerbeiordnung von Amts wegen Arbeitskreis AE, AE-EV, S. 52; Bosch StV 2002, 633, 635 m. Fn. 16; LR-Hilger § 126a Rn. 13; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 258; Püschel StraFo 2009, 134, 138; H. Schä-

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Die nach dem Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. vorgesehene notwendige Verteidigung bei Vollstreckung von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung ist grundsätzlich zu begrüßen, genügt jedoch nicht den Bedürfnissen einer effektiven und wirksamen Verteidigung. Denn nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO n. F. wird der Verteidiger (erst) „unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung“ bestellt, so dass der Beschuldigte zum Zeitpunkt der haftrichterlichen Vernehmung weiterhin unverteidigt bleibt. 131 Das vor allem aus der Praxis zu erwartende Argument, dass die besondere Situation des festgenommenen Beschuldigten dann nicht mehr zur Erlangung eines Geständnisses ausgenutzt werden kann, ist nicht tragfähig. Dass die Untersuchungshaft teilweise als Druckmittel zu diesem Zweck eingesetzt wird, 132 widerspricht ihrem Sinn und Zweck. 133 Die Untersuchungshaft dient allein der Sicherung eines geordneten Strafverfahrens und einer sich gegebenenfalls anschließenden Strafvollstreckung. 134 Die Geständniserlangung ist kein gesetzlicher Haftzweck. Das bloße Schweigen des Beschuldigten begründet keine Verdunkelungsgefahr i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO, denn die Vorschrift setzt ein aktives Handeln voraus. Auch dient die haftrichterliche Vernehmung in erster Linie der Verteidigung des Beschuldigten, wie sich aus § 115 Abs. 3 S. 2 StPO ergibt, nicht seiner Überführung. Ein gezieltes Ausnutzen der psychischen Ausnahmesituation des verhafteten Beschuldigten zur Erlangung eines Geständnisses ist damit unvereinbar und steht den nach § 136a Abs. 1 StPO verbotenen Vernehmungsmethoden gleich. 135 fer ZRP 1989, 129, 130; Starke, Einstweilige Unterbringung, S. 131 f.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 11; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 199 f.; für Verteidigerbeiordnung auf Antrag des Beschuldigten Herrmann StV 1996, 396, 402. 131 Krit. daher auch KMR-Haizmann § 140 Rn. 16; Michalke NJW 2010, 17; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 252 f.; Wohlers StV 2010, 151, 153. Nach a. A. soll bei einer Verhaftung aufgrund eines bestehenden Haftbefehls bereits mit der Festnahme die Vollstreckung von Untersuchungshaft beginnen, vgl. Deckers StraFo 2009, 441, 443; Weider StV 2010, 102, 104. 132 Vgl. Geerds, Vernehmungstechnik, S. 141 ff. 133 Dagegen daher zu Recht Alsberg JW 1925, 1433, 1436; Bosch StV 1999, 333, 338; Dahs sen. NJW 1959, 505, 507; Deckers NJW 1994, 2261, 2264; Feest KJ 1977, 306, 309; Gallandi StV 1987, 87; Kohlrausch JW 1925, 1440, 1441; Münchhalffen / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 252; SK-Paeffgen Vor § 112 ff. Rn. 31; Walder, Vernehmung des Beschuldigten, S. 155; Wolter ZStW 93 (1981), 452, 483 Fn. 121. 134 BVerfGE 19, 342, 349; 20, 45, 50; 32, 87, 93; 35, 185, 190; 53, 152, 160; BVerfG NJW 1991, 1043; 2001, 1341; 2006, 1336, 1338; StV 1996, 156; 2003, 30; 2008, 421, 422; BGHSt 34, 362, 363; Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, S. 59; Deckers NJW 1994, 2261; Hassemer StV 1984, 38, 40; HK-Lemke Vor § 112 Rn. 7; KK-Graf Vor § 112 Rn. 11; KMR-Wankel Vor § 112 Rn. 3; Meyer-Goßner Vor § 112 Rn. 4.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Im Übrigen muss der Beschuldigte ohnehin gefragt werden, ob er bereits einen Verteidiger gewählt hat, der nach § 168c Abs. 5 vom Termin benachrichtigt und dem nach § 168c Abs. 1 StPO die Anwesenheit gestattet werden muss. 136 Andernfalls ist dem Beschuldigten, gegebenenfalls unter Hinweis auf einen eingerichteten Verteidigernotdienst, unter Fristsetzung Gelegenheit zu geben, einen Verteidiger nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO zu wählen oder einen zu bestellenden Verteidiger seines Vertrauens nach § 142 Abs. 1 S. 1 StPO n. F. zu bezeichnen. Wählt der Beschuldigte keinen Verteidiger oder bezeichnet er keinen zu bestellenden Verteidiger, ist ihm – gegebenenfalls unter Rückgriff auf den Verteidigernotdienst – ein Verteidiger nach Auswahl des zuständigen Richters zu bestellen. 137 Mit der Vernehmung ist dann bis zur zeitlichen Grenze der §§ 115 Abs. 2, 115a Abs. 2 S. 1, 128 Abs. 1 S. 1 StPO zuzuwarten, um dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich mit dem Beschuldigten zu besprechen, soweit möglich die Akten einzusehen 138 und an der Vernehmung teilzunehmen. 139 Nimmt kein Verteidiger an der haftrichterlichen Vernehmung teil, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, führt dies allerdings nicht zur Aufhebung bzw. Ablehnung des Haftbefehls. Eine ohne den notwendigen Verteidigerbeistand gemachte Aussage des Beschuldigten ist jedoch nicht verwertbar. 140 Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens sollte der Mangel jedoch unverzüglich durch erneute Vorführung unter Teilnahme des Verteidigers geheilt werden. 141

135

Vgl. BGHSt 34, 362, 363 ff.; 44, 129, 132 ff.; BGH NJW 1995, 2933, 2936; Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 68 f. 136 Vgl. auch BGH NStZ 1989, 282 f. m. Anm. Hilger; Münchhalffen / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 281; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 246. 137 Zur späteren (erleichterten) Auswechslung des zunächst bestellten Verteidigers vgl. LG Krefeld NStZ 2010, 591 f.; Bittmann JuS 2010, 510, 513; Wohlers StV 2010, 151, 157. Zur Übertragung der Zuständigkeit für die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren auf den Ermittlungs- bzw. Haftrichter unten Teil 3 Kapitel 1 E. 138 Zur Problematik der Gewährung von Einsicht in sehr umfangreiche Akten, durch welche die zeitliche Grenze der §§ 115, 115a StPO überschritten würde, vgl. Bohnert GA 1995, 468, 475; Bosch StV 1999, 333, 335 f. 139 Vgl. BbgVerfG NJW 2003, 2009, 2010, VerfGH RhPf StV 2006, 315, 316 m. zust. Anm. Kühne / Haufs-Brusberg; VerfGH RhPf NJW 2006, 3341, 3342 f.; KK-Graf § 115 Rn. 11; Meyer-Goßner § 115 Rn. 8; Münchhalffen / Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 280; SK-Paeffgen § 115 Rn. 9. 140 Dazu unten Teil 3 Kapitel 2 A. 141 Vgl. VerfGH RhPf StV 2006, 315.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

III. Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Beschuldigtenvernehmung Bei gewichtigem Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten auch bereits vor seiner polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung ein Verteidiger zu bestellen. Denn auch die Ergebnisse dieser Vernehmungen prägen den weiteren Verlauf des Verfahrens entscheidend. Die nichtrichterliche Verhörsperson kann in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört werden. Auch können die Protokolle einer nichtrichterlichen Beschuldigtenvernehmung zum Zwecke des Vorhalts verlesen werden. Im Gegensatz zur richterlichen Vernehmung muss bei der Vernehmung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei auch von einer erhöhten Belastungstendenz ausgegangen werden. Die Anwesenheit des Verteidigers ist dann vor allem erforderlich, um Entlastungsmomente hinreichend zur Sprache zu bringen. Auch im Rahmen seiner polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung kann der Beschuldigte zudem nach § 163a Abs. 2 StPO zu seiner Entlastung die Aufnahme von Beweisen beantragen. Vor einem solchen Antrag, vor allem aber vor einer Einlassung des Beschuldigten zur Sache, ist regelmäßig Akteneinsicht erforderlich, die nach § 147 Abs. 1 StPO nur der Verteidiger erhält. Im Falle einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung kommt hinzu, dass der Beschuldigte dem juristisch gebildeten Staatsanwalt häufig unterlegen ist und eine staatsanwaltschaftliche Beschuldigtenvernehmung in der Regel nur bei Kapitaldelikten, Wirtschafts-, Steuer- oder Betäubungsmittelstraftaten oder organisierter Kriminalität vorgenommen wird. 142 Auch hier ist der Beschuldigte verpflichtet, auf Ladung vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und kann gegebenenfalls vorgeführt werden. Für die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung ergibt sich die Notwendigkeit des Verteidigerbeistandes insbesondere auch aus der besonderen Schulung der Vernehmungsbeamten hinsichtlich verschiedener Vernehmungsstrategien und -taktiken, denen der Beschuldigte regelmäßig nicht gewachsen ist. Dabei ist aufgrund empirischer Untersuchungen zu vermuten, dass mit zunehmender Schwere des Tatvorwurfs auch die Vernehmungsmethoden rauer werden und bis in Grenzbereiche des § 136a StPO reichen. 143 Gerade bei schwerem Tatvorwurf ist der Beschuldigte daher auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen. Zudem wird der Beschuldigte in den meisten Fällen im Ermittlungsverfahren ausschließlich durch die Polizei vernommen, so dass die polizeilichen Vernehmungsprotokolle 142

Für eine Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf alle Fälle der Mitwirkung eines Staatsanwalts zur Herstellung von Waffengleichheit Beulke, Verteidiger im Strafverfahren, S. 47, 247; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 107 f. 143 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 892.1 m.w. N.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 170 StPO haben. Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass bei Notwendigkeit der Verteidigung die Erlangung von Geständnissen erschwert wäre und die Strategien der Vernehmungsbeamten keine Wirksamkeit mehr entfalten könnten. Nochmals muss daran erinnert werden, dass der Beschuldigte das unbedingte Recht zu schweigen hat und die Vernehmung in erster Linie seiner Verteidigung dient. Nur wenn sich der Beschuldigte – gegebenenfalls nach der Einholung anwaltlichen Rates – dazu entschließt, zur Sache auszusagen, dient die Vernehmung auch der Sachaufklärung. Würde die Asymmetrie der Vernehmungssituation zur Erlangung eines Geständnisses ausgenutzt, wäre die Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit des Beschuldigten beeinträchtigt und seine Stellung als Subjekt des Verfahrens gefährdet. Da ein einmal abgegebenes Geständnis nur schwer aus der Welt zu schaffen ist, soll die notwendige Mitwirkung des Verteidigers gerade verhindern, dass der Beschuldigte unter dem psychischen Druck der Vernehmungssituation vorschnell und unüberlegt ihn belastende – vielleicht gar falsche – Angaben macht. Ohnehin müsste auch dem gewählten Verteidiger, wie bereits ausgeführt, bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung die Anwesenheit gestattet werden. 144 Zudem könnte die notwendige Anwesenheit eines Verteidigers dazu führen, dass im weiteren Verlauf des Verfahrens weniger Geständnisse widerrufen werden und die spätere Behauptung der Verwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden verringern. Die Anwesenheit eines Verteidigers würde darüber hinaus durch dessen Hinweis- und Fragerechte Missverständnissen vorbeugen, der Wahrheitsermittlung dienen und die Richtigkeit der Protokollierung fördern. IV. Rechtsprechung des EGMR Auch nach der Rechtsprechung des EGMR ist der Beistand eines Verteidigers zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und einer effektiven Verteidigung regelmäßig bereits ab der ersten Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erforderlich. Bereits im Fall Quaranta entschied der EGMR, dass die mangelnde Beiordnung eines Verteidigers während der untersuchungsrichterlichen Vernehmung des Beschuldigten einen Verstoß gegen das Recht auf Verteidigerbeistand aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK darstellt. 145 Konkret war in diesem Fall zwar keine 144 145

Dazu oben Teil 2 Kapitel 1 D. EGMR, Quaranta gg. CH, Series A 205, §§ 32 ff.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Freiheitsstrafe über achtzehn Monaten zu erwarten. Als gesetzlich zulässige Höchststrafe drohte dem Beschwerdeführer allerdings eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, worauf der EGMR in erster Linie abstellte. Obwohl die Ermittlung des Sachverhalts keine besonderen Schwierigkeiten aufwies, da der Beschwerdeführer bereits vor dem Untersuchungsrichter ein Geständnis ablegte, hielt der EGMR den Beistand eines Verteidigers für erforderlich. Denn neben der für die zur Last gelegten Tat zu erwartenden Freiheitsstrafe drohte dem Beschwerdeführer auch der Widerruf der Bewährung in anderer Sache. Zudem handelte es sich um einen jungen Erwachsenen ausländischer Herkunft aus einer unterprivilegierten Bevölkerungsschicht, der keine Berufserfahrung, aber ein langes Vorstrafenregister hatte, drogenabhängig war und von Sozialhilfe lebte. Aus diesen Gründen war der Beschwerdeführer nicht in der Lage, sich vor dem Untersuchungsrichter (und in der späteren Hauptverhandlung) ohne anwaltlichen Beistand in adäquater Art und Weise zu verteidigen. Im Fall Murray betonte der EGMR die enorme Wichtigkeit anwaltlichen Beistandes bereits bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten für das Recht auf Verteidigung, obwohl der Beschwerdeführer während sämtlicher Vernehmungen die Aussage verweigerte. Dennoch hätte dem Beschuldigten nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens bereits zu Beginn der polizeilichen Vernehmung Zugang zu einem Verteidiger gewährt werden müssen, da sich der Beschuldigte bereits hier in einer Situation befand, in der die Verteidigungsrechte unwiederbringlich beeinträchtigt werden konnten: „The Court is of the opinion ... that it is of paramount importance for the rights of the defence that an accused has access to a lawyer at the initial stages of police interrogation ... Under such conditions the concept of fairness enshrined in Article 6 (art. 6) requires that the accused has the benefit of the assistance of a lawyer already at the initial stages of police interrogation. To deny access to a lawyer for the first 48 hours of police questioning, in a situation where the rights of the defence may well be irretrievably prejudiced, is – whatever the justification for such denial – incompatible with the rights of the accused under Article 6 (art. 6).“ 146

Auch im Fall Öcalan hob der EGMR die Bedeutung des anwaltlichen Beistandes während der Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren hervor. Der Beschwerdeführer war von der Polizei, einem Staatsanwalt und einem Richter befragt worden, ohne dass ihm der Kontakt zu seinem Verteidiger ermöglicht worden war und hatte dabei ihn selbst belastende Angaben gemacht. Der EGMR nahm einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK an: 146

EGMR, Murray gg. GB, Rep. 1996-I, § 66. Ob der Zugang zu einem Verteidiger („access to a lawyer“) auch ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers während der polizeilichen Vernehmung beinhaltet, ließ der EGMR allerdings offen, vgl. ebenda § 69.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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„Article 6 will normally require that the accused be allowed to benefit from the assistance of a lawyer from the initial stages of police interrogation ... ... In the present case, the applicant was questioned by the security forces, a public prosecutor and a judge of the National Security Court while being held in police custody in Turkey for almost seven days ... He received no legal assistance during that period and made several self-incriminating statements that were subsequently to become crucial elements of the indictment and the public prosecutor’s submissions and a major contributing factor in his conviction. ... In these circumstances, the Court is of the view that to deny access to a lawyer for such a long period of time and in a situation where the rights of the defence might well be irretrievably prejudiced is detrimental to the rights of the defence to which the accused is entitled by virtue of Article 6 ...“ 147

An diesen Grundsätzen hält der EGMR auch im Fall Salduz fest. Zunächst stellt der Gerichtshof nochmals heraus, dass die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK bereits im Ermittlungsverfahren zur Geltung kommen müssen, wenn andernfalls das Recht auf ein faires Verfahren ernsthaft präjudiziert („seriously prejudiced“) würde und dass das Recht auf effektiven Verteidigerbeistand zu den fundamentalen Grundsätzen eines faires Verfahrens gehört. 148 Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass Art. 6 EMRK im Regelfall den Beistand eines Verteidigers bereits ab Beginn der polizeilichen Vernehmung erfordert: 149 „The rights of the defence will in principle be irretrievably prejudiced when incriminating statements made during police interrogation without access to a lawyer are used for a conviction.“ 150

Zwar erhielt der Beschuldigte im späteren gerichtlichen Verfahren den Beistand eines Verteidigers und hatte die Möglichkeit, sich gegen die Anklage in einem kontradiktorischen Verfahren zu verteidigen. Auch widerrief er seine früheren Angaben. Da die Verurteilung jedoch hauptsächlich auf seinen Angaben in der Beschuldigtenvernehmung beruhte, stellte der EGMR einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren fest: „In sum, even though the applicant had the opportunity to challenge the evidence against him at the trial and subsequently on appeal, the absence of a lawyer while he was in police custody irretrievably affected his defence rights.“ 151

147

EGMR, Öcalan gg. TK, Rep. 2005-IV, § 131. EGMR, Salduz g TK, §§ 50 f. 149 EGMR, Salduz gg. TK, §§ 52, 55. 150 EGMR, Salduz gg. TK, § 55; s. auch Shabelnik gg. UA, § 53; Dzankovic gg. D; Pavlenko gg. RUS, § 97; Lopata gg. RUS, § 130. 151 EGMR, Salduz gg. TK, § 62. 148

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und einer effektiven und wirksamen Verteidigung ist der Beistand eines Verteidigers daher bereits bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erforderlich. 152 V. Rechtsprechung des BGH Dennoch hat es der BGH bislang nicht für notwendig erachtet, dem einer schweren Straftat verdächtigen Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, bereits vor seiner ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger zu bestellen. In BGHSt 47, 172 ff. stand der Beschuldigte unter dem Tatverdacht des Mordes. Zutreffend betonte der 1. Strafsenat zwar zunächst die Bedeutung des Rechts auf Verteidigerkonsultation und räumte diesem keinen geringeren Stellenwert als der Aussagefreiheit ein. Beide Rechte sichern die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten in ihren Grundlagen. Gerade die Verteidigerkonsultation dient dazu, den Beschuldigten zu beraten, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch machen soll oder nicht. 153 In der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten sah der BGH jedoch noch keinen Anlass für eine Verteidigerbestellung. Erst als gegen den Beschuldigten Haftbefehl beantragt wurde, sei die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen. 154 In BGH NStZ 2004, 450 f. zieht der 1. Senat zwar in Betracht, es als verfahrensfehlerhaft zu erachten, dass die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die richterliche Vernehmung des u. a. unter Verdacht des Raubes mit Todesfolge stehenden Beschuldigten und die Haftbefehlseröffnung keinen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers gestellt hat. Ob die Fortsetzung der späteren polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten ohne Beistand eines Verteidigers deshalb dem Recht auf Verteidigerkonsultation noch entsprach, ließ der Senat jedoch offen. 155 Auch in BGH StV 2006, 566 f. lässt der 1. Senat letztlich dahinstehen, ob mit der Vernehmung des unter Tatverdacht zumindest des Totschlags stehenden Beschuldigten hätte bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zugewartet werden müssen, obwohl der Beschuldigte deutlich machte, sich zunächst mit einem Verteidiger beraten zu wollen. 156

152 153 154 155 156

Ebenso Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 585. BGHSt 47, 172, 174. BGHSt 47, 172, 177. BGH NStZ 2004, 450. BGH StV 2006, 566, 567.

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

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Der 1. Senat lässt in BGH StV 2006, 567 f. ebenfalls offen, ob die polizeiliche Vernehmung des unter Verdacht des Mordversuchs stehenden Beschuldigten bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers hätte unterbrochen werden müssen. 157 In BGHSt 47, 233 ff. stand die Beschuldigte unter Mordverdacht. Der 5. Strafsenat lehnte in diesem Fall jedenfalls eine Pflicht der Ermittlungsbehörden, die Ermittlungen zu unterbrechen, bis der Beschuldigten ein Verteidiger bestellt oder mindestens der Hinweis erteilt wurde, dass ihr nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist, ab. 158 In BGH NStZ 2004, 390 hält der 5. Senat daran fest, dass nach geltendem Recht keine Pflicht besteht, dem Beschuldigten bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren, beginnend mit dem dringenden Tatverdacht eines Verbrechens, einen Verteidiger zu bestellen. Eine richterliche Vernehmung des Beschuldigten durch den Haftrichter nach §§ 115, 115a StPO dürfe auch ohne Mitwirkung eines Verteidigers durchgeführt werden. 159 Es wurde bereits ausgeführt, dass zwar allein der (wenn auch dringende) Tatverdacht eines Verbrechens oder eines gewichtigen Vergehens nicht ausreicht, eine Pflicht zur Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren zu begründen. Dem unverteidigten Beschuldigten ist jedoch ein Verteidiger zu bestellen, wenn verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahmen bevorstehen und andernfalls die Verteidigungsrechte des Beschuldigten ernsthaft oder unwiederbringlich präjudiziert würden und eine Verteidigerbestellung erst im Hauptverfahren keinen hinreichenden Ausgleich mehr bewirken kann. Zu derartigen Ermittlungsmaßnahmen ist auch die erste Vernehmung des Beschuldigten zu zählen, da der Beschuldigte insoweit Beweismittel „im materiellen Sinn“ ist. Die erste Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erfüllt damit das vom 5. Strafsenat selbst aufgestellte Erfordernis, dass die effektive Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen die Mitwirkung eines Verteidigers, etwa durch Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts, unerlässlich erfordert. 160 Zu Recht führte der 1. Strafsenat in BGHSt 47, 172 ff. zudem noch aus, dass die Staatsanwaltschaft zugleich mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls wegen eines Verbrechens die Stellung eines Beiordnungsantrages „zu erwägen“ hat. 161 Der Beiordnungsantrag könne zurückgestellt werden, solange der Beschuldigte noch nicht festgenommen ist. 162 Bedauerlich ist allerdings die zurückhal157

BGH StV 2006, 567, 568. BGHSt 47, 233, 235 ff. 159 BGH NStZ 2004, 390. 160 Eine Pflicht zur Verteidigerbeiordnung bestand in BGHSt 47, 233 ff. zudem aufgrund der Verteidigungsunfähigkeit der Beschuldigten, die sich aus ihren mangelnden Deutschkenntnissen, aber auch aus ihrem Alter (20 Jahre), der bestehenden Schwangerschaft sowie der mit der vorläufigen Festnahme verbundenen Betroffenheit ergab. 161 BGHSt 47, 172, 176 f. 158

124

Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

tende Formulierung. Vielmehr hätte von einer Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Antrages auf Verteidigerbeiordnung gesprochen werden müssen. Wenngleich diese Entscheidung den Eindruck erweckt, dass dem Beschuldigten bereits für den Vorführtermin ein Verteidiger bestellt werden muss, geht der 1. Strafsenat in BGH NStZ 2004, 450 f. unter Bezugnahme auf seine frühere Entscheidung davon aus, dass (erst) im Anschluss an die Haftbefehlseröffnung ein Antrag auf Verteidigerbeiordnung hätte gestellt werden müssen, ohne diese vermeintliche Abweichung näher zu begründen. Die Entscheidungen des BGH stehen auch im Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR, der die Bedeutung des anwaltlichen Beistandes zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und einer effektiven Verteidigung für die richterliche, aber auch für die staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Beschuldigtenvernehmung zutreffend erkannt hat. In sämtlichen den Entscheidungen des BGH zugrunde liegenden Fällen hätte den unverteidigten Beschuldigten, gegen die jeweils Tatverdacht wegen Verbrechen bestand, daher bereits vor ihrer haftrichterlichen bzw. polizeilichen Vernehmung ein Verteidiger bestellt werden müssen. VI. Bisherige Vorschläge Bislang wurden zur Verteidigerbeiordnung ab der ersten Vernehmung des Beschuldigten folgende Vorschläge unterbreitet: Nach dem Arbeitskreis Strafprozeßreform ist der Beistand eines Verteidigers von der ersten Vernehmung des Beschuldigten an notwendig, (1) wenn dieser blind, taub, stumm, der deutschen Sprache nicht mächtig oder in ähnlicher Weise behindert ist, (2) wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet oder (3) wenn Gegenstand der Untersuchung ein Verbrechen ist. 163 Nach dem Entwurf des DAV für eine Reform des Ermittlungsverfahrens ist die Mitwirkung eines Verteidigers von der ersten Vernehmung des Beschuldigten an unter anderem notwendig, wenn sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet und eine Strafe von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe zu erwarten ist oder wenn Gegenstand der Untersuchung ein Verbrechen ist. 164

162

BGHSt 47, 172, 177. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 59 (§ 4 Abs. 1 des Entwurfs); zust. Jung JuS 1998, 1136, 1139; krit. Hanack ZStW 93 (1981), 559, 568 f.; Herrmann StV 1996, 396, 402. 164 Entwurf des DAV, § 140 Abs. 1 StPO-Entwurf. 163

Kap. 1: Beschuldigtenvernehmung

125

Nach Richter II ist „ernsthaft zu prüfen“, ob notwendige Verteidigung ab einer gewissen Deliktsschwelle – zumindest beim Vorwurf von Tötungsdelikten – mit der ersten Vernehmung des Beschuldigten beginnen muss. 165 Herrmann hält die Beschränkung auf den Tatverdacht eines Verbrechens für zu eng. 166 Für die richterliche oder staatsanwaltschaftliche Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nimmt er grundsätzlich notwendige Verteidigung an. 167 Bezüglich der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung schlägt er vor, weniger schwere Straftaten von der notwendigen Verteidigung auszunehmen, z. B. Verkehrsstraftaten, die nicht regelmäßig zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 2 StGB führen, sowie Eigentums- und Vermögensdelikte, die nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht sind und bei denen der entstandene Schaden (damals) 1.000 DM nicht übersteigt. Eine Verteidigerbeiordnung soll nach Herrmann zudem nur in den Fällen von Amts wegen erfolgen, in denen die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht stattfinden soll oder der Beschuldigte aufgrund schwerwiegender geistiger oder körperlicher Defizite nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. 168 Soll die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht stattfinden, bei Untersuchungshaft und einstweiliger Unterbringung sowie bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung soll die Bestellung eines Verteidigers dagegen nur auf Antrag des Beschuldigten erfolgen. 169 Der Vorschlag des Arbeitskreises Strafprozeßreform ist insofern zu weit, als er blinde, taube und stumme Personen in jedem Fall einbezieht. Da körperlich behinderte Menschen nicht diskriminiert oder bevormundet werden sollen, muss eine zwingend notwendige Verteidigung abgelehnt werden. 170 Die vom Arbeitskreis Strafprozeßreform und Richter II vorgenommene Beschränkung auf Verbrechen oder Tötungsdelikte erscheint hingegen zu eng. Gleiches gilt für den Vorschlag des DAV. Auch der Vorschlag Herrmanns, bestimmte (geringfügige) Straftaten aus dem Bereich der notwendigen Verteidigung herauszunehmen, ist kaum praktikabel. Vielmehr sollten hinsichtlich der notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren zur besseren Handhabbarkeit für alle Ermittlungsmaßnahmen einheitliche Kriterien aufgestellt werden. 165

Richter II NJW 1981, 1820, 1823. Herrmann StV 1996, 396, 402. 167 Herrmann StV 1996, 396, 401. 168 Herrmann StV 1996, 396, 399, 401. 169 Herrmann StV 1996, 396, 401. 170 Die früher gesetzlich vorgesehene zwingend notwendige Verteidigung für blinde, taube und stumme Personen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO wurde daher mit Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung v. 17. 05. 1988, BGBl. I 1988, S. 606, aufgehoben. Beantragt ein hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Beiordnung eines Verteidigers, ist diesem Antrag gem. § 140 Abs. 2 S. 2 StPO zu entsprechen. 166

126

Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Eine Verteidigerbestellung sollte mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten und seine spätere Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung nicht in allen Fällen notwendiger Verteidigung von Amts wegen erfolgen. Allerdings kann eine Verteidigerbeiordnung auch nicht stets von einem Antrag des Beschuldigten abhängen, da der Rechtsstaatsgedanke und die staatliche Fürsorgepflicht es gebieten, dem unverteidigten Beschuldigten in besonders schwerwiegenden Fällen von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen. 171 Hier bietet sich grundsätzlich die bereits dargelegte Unterscheidung zwischen obligatorischer notwendiger Verteidigung bei Verbrechen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 und antragsgebundener notwendiger Verteidigung bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) gem. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO an. Bei allen Beschuldigtenvernehmungen wird jedoch besonders darauf zu achten sein, ob die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten aufgrund geistiger Defizite oder unzureichender sozialer Handlungskompetenz erheblich eingeschränkt und er dadurch in seiner Verteidigungsfähigkeit so schwer beeinträchtigt ist, dass ihm von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen ist. Gleiches gilt auch für die haftrichterliche Vernehmung des Beschuldigten anlässlich seiner Vorführung nach §§ 115, 115a oder § 128 im Falle von Untersuchungshaft oder vorläufiger Festnahme bzw. gem. § 126a Abs. 2 i.V. m. §§ 115, 115a StPO im Falle der einstweiligen Unterbringung. Untersuchungshaft bzw. einstweilige Unterbringung stellen einen schweren Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten dar. Zudem befindet sich der Beschuldigte in einer psychischen Ausnahmesituation und seine Verteidigungsmöglichkeiten sind erheblich eingeschränkt. Er ist praktisch von der Außenwelt „abgeschnitten“. Aufgrund der besonderen Hilfe- und Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten ist ihm daher in diesen Fällen von Amts wegen ein Verteidiger bereits für die haftrichterliche Vernehmung nach §§ 140 Abs. 1 oder 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO beizuordnen. Die Bestellung eines Verteidigers erst ab Vollstreckung von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO n. F. ist dagegen nicht ausreichend, um den Anspruch des Beschuldigten auf effektive und wirksame Verteidigung zu gewährleisten. VII. Ergebnis Bei gewichtigem Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor seiner ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, da andernfalls die Verteidigungsrechte ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert würden. 171

Dazu oben Teil 1 Kapitel 3 E.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

127

Dabei soll grundsätzlich an der vorgeschlagenen Differenzierung festgehalten werden: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen, ist dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor seiner ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger beizuordnen. 172 Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten gem. § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO auf seinen Antrag ein Verteidiger zu bestellen. Bei Untersuchungshaft und einstweiliger Unterbringung ist dem unverteidigten Beschuldigten aufgrund seiner besonderen Hilfe- und Schutzbedürftigkeit jedoch stets von Amts wegen bereits für die haftrichterliche Vernehmung ein Verteidiger nach §§ 140 Abs. 1 oder 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO beizuordnen. Dem bestellten Verteidiger muss sodann ausreichend und angemessen Gelegenheit gegeben werden, sich mit dem Beschuldigten zu besprechen und gegebenenfalls noch vor der Vernehmung Akteneinsicht zu nehmen.

Kapitel 2

Zeugenvernehmung A. Rechtsgrundlagen Die Zeugen sind verpflichtet, auf Ladung vor dem Richter (§ 48 Abs. 1 StPO n. F.) 173 oder der Staatsanwaltschaft (§ 161a Abs. 1 S. 1 StPO) zu erscheinen, wahrheitsgemäß auszusagen und ihre Aussage vor dem Richter gegebenenfalls zu beeiden. Vor der Polizei besteht demgegenüber keine Pflicht zum Erscheinen. Vor der Vernehmung werden die Zeugen zur Wahrheit ermahnt und über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage belehrt, § 57 S. 1 StPO n. F. 174 Vor ihrer richterlichen Vernehmung werden die Zeugen auch auf die Möglichkeit der Vereidigung hingewiesen, § 57 S. 2 StPO n. F. Zeugnisverweigerungsberechtigte Zeugen sind gem. § 52 Abs. 3 S. 1 StPO 175 vor jeder Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren. Ein Zeuge ist zudem gegebenenfalls über sein Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder 172

Ebenso LR-Gleß § 136 Rn. 44. Neufassung der §§ 48, 57 und 68 StPO durch Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2280. 174 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 175 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 173

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, nach § 55 Abs. 2 StPO 176 zu belehren. Die Zeugen sind einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen, § 58 Abs. 1 StPO. 177 Die Vernehmung beginnt damit, dass der Zeuge über Vornamen, Nachnamen, Geburtsnamen, Alter, Beruf und Wohnort befragt wird, § 68 Abs. 1 S. 1 StPO n. F. 178 Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben, § 69 Abs. 1 S. 1 StPO. 179 Zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen, § 69 Abs. 2 StPO. 180 § 136a StPO gilt für die Vernehmung von Zeugen entsprechend, § 69 Abs. 3 StPO. 181 Dem Beschuldigten und seinem Verteidiger steht gem. § 168c Abs. 2 StPO nur bei richterlichen Zeugenvernehmungen ein Anwesenheitsrecht zu. Das Anwesenheitsrecht schließt das Recht ein, Fragen zu stellen. 182 Bei polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmungen haben Beschuldigter und Verteidiger dagegen kein Anwesenheitsrecht. Der Beschuldigte kann von der Anwesenheit ausgeschlossen werden, wenn diese den Untersuchungszweck gefährden würde, § 168c Abs. 3 S. 1 StPO. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks liegt vor, wenn zureichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschuldigte seine Anwesenheit oder sein durch die Anwesenheit erlangtes Wissen dazu missbrauchen wird, durch Verdunkelungsmaßnahmen, etwa durch Beseitigung oder Verfälschung von Beweismitteln, oder durch unzulässige Beeinflussung von Zeugen oder Sachverständigen die Ermittlung des Sachverhalts zu erschweren. 183 Dies gilt nach § 168c Abs. 3 S. 2 StPO namentlich dann, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen wird. Von dem Termin der richterlichen Zeugenvernehmung sind Beschuldigter und Verteidiger gem. § 168c Abs. 5 S. 1 StPO vorher zu benachrichtigen. Die Be176

Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 178 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. Zu Ausnahmen vgl. § 68 Abs. 2 bis 4 StPO n. F. 179 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 180 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 181 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 182 Dahs jr., Handbuch, Rn. 305; Dedy, Ansätze, S. 141; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 795; Endriß, FS Rieß, 65; Gollwitzer, GS Meyer, 147, 163; HK-Zöller § 168c Rn. 1; KK-Griesbaum § 168c Rn. 15; LR-Erb § 168c Rn. 30; Meyer-Goßner § 168c Rn. 2; SK-Wohlers § 168c Rn. 38. 183 HK-Zöller § 168c Rn. 5; KK-Griesbaum § 168c Rn. 6; LR-Erb § 168c Rn. 15; Meyer-Goßner § 168c Rn. 3. 177

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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nachrichtigung unterbleibt, wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde, § 168c Abs. 5 S. 2 StPO. Eine Gefährdung des Untersuchungserfolges liegt vor, wenn durch die Benachrichtigung eine zeitliche Verzögerung eintreten würde, die zur Folge hätte, dass die Vernehmung nicht mehr sachgerecht durchführbar wäre. 184 Dass kann etwa dann der Fall sein, wenn der Zeuge lebensgefährlich erkrankt oder auf längere Zeit nicht erreichbar sein wird, oder wenn ein ausländischer Zeuge nur vorübergehend zur Verfügung steht. 185 Eine Gefährdung des Untersuchungserfolges soll nach der Rechtsprechung des Weiteren dann bestehen, wenn zureichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Aussageverhalten des Zeugen unlauter beeinflusst 186 oder der Zeuge aus Angst vor Repressalien zur Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts veranlasst werden soll. 187 Die Benachrichtigung des Verteidigers darf nicht schon aus Gründen unterbleiben, die allein in der Person des Beschuldigten liegen. 188 Erhält der Verteidiger anderweitig Kenntnis von der Vernehmung und erscheint er trotz unterlassener Benachrichtigung zum Termin, kann er im Gegensatz zum Beschuldigten nicht von der Anwesenheit ausgeschlossen werden. 189

B. Verfahrensprägende Bedeutung Zwar darf die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung gem. § 250 S. 2 StPO grundsätzlich nicht durch Verlesung des Protokolls über eine frühere 184 Grünwald, Beweisrecht, S. 54; HK-Zöller § 168c Rn. 8; KK-Griesbaum § 168c Rn. 17; KMR-Plöd § 168c Rn. 8; LR-Erb § 168c Rn. 40; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 442; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 39 Rn. 32; SK-Wohlers § 168c Rn. 32; Welp JZ 1980, 134, 138. 185 KK-Griesbaum § 168c Rn. 17; LR-Erb § 168c Rn. 41. 186 BGHSt 29, 1, 3 = JR 1980, 252 m. Anm. Meyer-Goßner; BGHSt 32, 115, 129; ebenso HK-Zöller § 168c Rn. 8; KK-Griesbaum § 168c Rn. 17; KMR-Plöd § 168c Rn. 8; Krey, GS Meyer, 239, 255; LR-Erb § 168c Rn. 45; Meyer-Goßner § 168c Rn. 5. Dagegen AK-Achenbach § 168c Rn. 11; Grünwald, Beweisrecht, S. 55 f.; Krause StV 1984, 169, 172; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 39 Rn. 32; SK-Wohlers § 168c Rn. 33; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 192 ff.; Welp JZ 1980, 134 ff.; Zaczyk NStZ 1987, 535, 538. 187 BayObLG JR 1978, 173, 174 m. abl. Anm. K. Peters; ebenso HK-Zöller § 168c Rn. 8; KK-Griesbaum § 168c Rn. 18; KMR-Plöd § 168c Rn. 8; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 75.3, 111; Meyer-Goßner § 168c Rn. 5. Dagegen AK-Achenbach § 168c Rn. 6; SK-Wohlers § 168c Rn. 33. 188 BGHSt 29, 1, 4 = JR 1980, 252 m. Anm. Meyer-Goßner; AK-Achenbach § 168c Rn. 12; HK-Zöller § 168c Rn. 8; KK-Griesbaum § 168c Rn. 19; Meyer-Goßner § 168c Rn. 5. 189 BGHSt 29, 1, 5; 32, 115, 129 f.; Dahs jr., Handbuch, Rn. 304; HK-Zöller § 168c Rn. 8; KK-Griesbaum § 168c Rn. 19; Krause StV 1984, 169, 172; Meyer-Goßner § 168c Rn. 5; ders. JR 1980, 254, 256; Welp JZ 1980, 134, 136; Zaczyk NStZ 1987, 535, 536.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Teile des Protokolls über die frühere Zeugenvernehmung können jedoch nach § 253 StPO in der Hauptverhandlung verlesen werden, wenn der Zeuge erklärt, sich nicht erinnern zu können (Abs. 1) oder bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung ein Widerspruch zu seiner früheren Aussage hervortritt und dieser nicht auf andere Weise ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung festgestellt oder behoben werden kann (Abs. 2). Die Vernehmung des Zeugen darf zudem gem. § 251 Abs. 2 StPO durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden, wenn dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen (Nr. 1), 190 dem Zeugen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann (Nr. 2) oder wenn der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte mit der Verlesung einverstanden sind (Nr. 3). Ein Verstoß gegen die Anwesenheitsrechte und Benachrichtigungspflichten des § 168c StPO hatte nach bisher herrschender Auffassung ein (umfassendes) Beweisverwertungsverbot zur Folge. 191 Die neuere Rechtsprechung und ihr folgend ein Teil des Schrifttums wollen in diesen Fällen allerdings die Verlesung des (fehlerhaften) richterlichen als nichtrichterliches Protokoll nach §§ 251, 253 StPO zulassen. 192 Das Gericht müsse sich jedoch des minderen Beweiswertes der Vernehmungsniederschrift bewusst sein und die Verfahrensbeteiligten entsprechend § 265 Abs. 1 StPO auf die beabsichtigte Verwertung als nichtrichterliches Protokoll hinweisen. 193 190

Ein Hinderungsgrund in diesem Sinne ist auch dann anzunehmen, wenn der Erziehungsberechtigte eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen dessen Vernehmung in der Hauptverhandlung wegen drohender Erziehungs- oder Entwicklungsschäden ablehnt, vgl. LR-Sander / Cirener § 251 Rn. 32; Meyer-Goßner § 251 Rn. 21. 191 BGHSt 26, 332, 334 f.; 29, 1, 2; 31, 140, 144; BGH NStZ 1987, 132, 133; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; Krause StV 1984, 169, 172; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 42; Schlothauer StV 2001, 127, 130; SK-Wohlers § 168c Rn. 41; Welp JZ 1980, 134; Widmaier, FG Friebertshäuser, 185, 193. 192 BGHSt 34, 231, 234 f. = StV 1987, 233 m. abl. Anm. Fezer = JR 1988, 80 m. abl. Anm. Hanack; BGH NStZ 1998, 312, 313 m. zust. Anm. Wönne; BGH StV 2005, 255; BayObLG JR 1977, 475, 476 m. abl. Anm. K. Peters; ebenso AK-Dölling § 251 Rn. 29; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 271; Franzheim NStZ 1983, 230, 231; KK-Griesbaum § 168c Rn. 25; KK-Diemer § 251 Rn. 19; KMR-Plöd § 168c Rn. 12; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6; Paulus JuS 1988, 873, 879; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 75.3. Dagegen AK-Achenbach § 168c Rn. 18; HK-Zöller § 168c Rn. 10; Krause StV 1984, 169, 173; LR-Erb § 168c Rn. 59; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 42; Schlothauer StV 2001, 127, 130; SK-Wohlers § 168c Rn. 43; SK-Velten § 251 Rn. 9; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 200 ff.; Temming StV 1983, 52; Velten StV 2007, 97, 100; Widmaier, FG Friebertshäuser, 185, 187 ff.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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Macht ein vor der Hauptverhandlung vernommener Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, ist die Verlesung des Vernehmungsprotokolls zwar nach § 252 StPO ausgeschlossen. Nach herrschender Auffassung enthält § 252 StPO darüber hinaus ein Beweisverwertungsverbot, so dass auch eine Vernehmung der Verhörsperson grundsätzlich ausgeschlossen ist. 194 Die Rechtsprechung macht hiervon jedoch eine Ausnahme, wenn es sich um eine richterliche Zeugenvernehmung handelt, so dass der Ermittlungsrichter als Zeuge vernommen werden darf, wenn der Zeuge bei seiner früheren Vernehmung ordnungsgemäß über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wurde. 195 Während der Vernehmung des Ermittlungsrichters können diesem Vorhalte aus dem Vernehmungsprotokoll gemacht werden. 196 Auch durch die Einführung der §§ 58a, 255a StPO 197 sind die Möglichkeiten der Verwertung einer Zeugenaussage aus dem Ermittlungsverfahren erweitert 193 BGH NStZ 1998, 312, 313 m. zust. Anm. Wönne; KK-Diemer § 251 Rn. 19; Meyer-Goßner § 251 Rn. 15. 194 BGHSt 2, 99, 102; 7, 194, 195; 11, 338, 339; 13, 394, 395; 17, 324, 326; 18, 146, 148; 20, 384; 21, 218, 219; 25, 176, 177; 29, 230, 232; 32, 25, 29; 36, 384, 385; 40, 211, 212 f.; 42, 391, 397; 45, 203, 205; 45, 342, 345; 46, 1, 3; 46, 189, 192; 49, 72, 76; AK-Meier § 252 Rn. 1; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 419 f.; ders. Jura 2008, 653, 657; Degener StV 2006, 509, 512 f., Detter NStZ 2003, 1, 7; Eckstein JA 2002, 119, 123; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1273; Fezer, Strafprozessrecht, 15/44; Geppert Jura 1988, 305, 307; Grünwald, Beweisrecht, S. 128 f.; HK-Julius § 252 Rn. 8; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 21 Rn. 66; KK-Diemer § 252 Rn. 1; LR-Sander / Cirener § 252 Rn. 7, 9 f.; Meyer-Goßner § 252 Rn. 12 f.; Mitsch JuS 2005, 102, 104; K. Peters, Strafprozeß, S. 321; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46 Rn. 29. 195 BGHSt 2, 99, 106; 11, 338, 339 f.; 13, 394, 395 f.; 17, 324, 326; 20, 384 f.; 21, 149, 150; 21, 218, 219; 27, 231, 232; 32, 25, 29; 36, 384, 385 f.; 42, 391, 397; 45, 342, 345; 46, 189, 195; 48, 294, 297; 49, 72, 76 f.; ebenso Detter NStZ 2003, 1, 7; KK-Diemer § 252 Rn. 22; Krey, GS Meyer, 239, 243; Kudlich / Roy JA 2003, 565, 572 f.; Meyer-Goßner § 252 Rn. 13 f. Dagegen AK-Meier § 252 Rn. 11; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 420; Degener StV 2006, 509, 512 f.; Eckstein JA 2002, 119, 123; Eisenberg NStZ 1988, 488, 489; Eser NJW 1963, 234, 237; Fezer JuS 1977, 669, 672; ders. JZ 1990, 875, 876; ders., Strafprozessrecht, 15/45 ff.; Geppert Jura 1988, 305, 308; Grünwald JZ 1966, 489, 497 f.; ders., Beweisrecht, S. 129 f.; Hanack JZ 1972, 236, 238; ders., FS Schmidt-Leichner, 83, 91; Heinitz JR 1960, 226, 227; HK-Julius § 252 Rn. 2; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 21 Rn. 66; Kretschmer Jura 2000, 461, 463 f.; Mitsch JuS 2005, 102, 104; K. Peters JR 1967, 467 f.; ders., Strafprozeß, S. 321; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46 Rn. 29; Welp JR 1996, 76, 78. Weitergehend jedoch Kohlhaas NJW 1965, 1254, 1255; ders. DRiZ 1966, 286, 290 f.; Nüse JR 1966, 281, 283; Rogall, FS Otto, 973, 997; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 497.3; Weigend, Gutachten, C 76 ff. 196 BGHSt 11, 338, 340 f.; 21, 149, 150; BGH NStZ 2010, 406, 407; KK-Diemer § 252 Rn. 25; Meyer-Goßner § 252 Rn. 15. Dagegen Fezer JuS 1977, 669, 673; Grünwald, Beweisrecht, S. 136. 197 Eingeführt mit Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes; Zeugenschutzgesetz – ZSchG) v. 30. 04. 1998, BGBl. I 1998, S. 820. Dazu Beulke ZStW 113 (2001), 709 ff.; Caesar

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

worden. Die Vernehmung eines Zeugen kann nach § 58a Abs. 1 S. 1 StPO 198 auf Video aufgezeichnet werden. 199 Sie soll gem. § 58a Abs. 1 S. 2 StPO n. F. 200 aufgezeichnet werden, wenn dies bei Personen unter achtzehn Jahren, die durch die Straftat verletzt sind, zur Wahrung ihrer schutzwürdigen Interessen geboten ist (Nr. 1), oder wenn zu besorgen ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist (Nr. 2). Für die Vorführung der Videoaufzeichnung einer Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung gelten die Vorschriften zur Verlesung einer Vernehmungsniederschrift gem. §§ 251, 252, 253 und 255 entsprechend, § 255a Abs. 1 StPO. Die Videoaufzeichnung soll zudem im Wege des freien Vorhalts vorgeführt werden können. 201 Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, kann die Videoaufzeichnung seiner früheren Vernehmung infolge des entsprechend geltenden Verlesungsverbots des § 252 StPO nicht vorgeführt werden. 202 In diesem Fall kann jedoch der Ermittlungsrichter als Zeuge gehört werden. 203 Diesem soll die Videoaufzeichnung zum Zwecke des Vorhalts vorgeführt werden können. 204 Des Weiteren kann in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184g StGB) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 StGB), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 232 bis 233a StGB) die Vernehmung eines Zeugen unter achtzehn Jahren gem. § 255a Abs. 2 S. 1 StPO 205 durch die VorfühNJW 1998, 2313 ff.; Diemer NJW 1999, 1667 ff.; Leitner StraFo 1999, 45 ff.; Meurer JuS 1999, 937 ff.; Rieß StraFo 1999, 1 ff.; Schlothauer StV 1999, 47 ff.; Schünemann StV 1998, 391, 399 f.; Seitz JR 1998, 309 ff.; Walther JZ 2004, 1107 ff.; Weigend, Gutachten, C 58 ff. Weiterführend Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren. 198 Ggf. i.V. m. § 168e S. 4 StPO. 199 Ggf. i.V. m. §§ 161a Abs. 1 S. 2, 163 Abs. 3 S. 1 StPO. 200 Geändert durch Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. v. 29. 07. 2009, BGBl. I, S. 2280. 201 BGHSt 49, 68, 69 ff.; 52, 148, 150; Diemer NJW 1999, 1667, 1673; HK-Julius § 255a Rn. 6; Kintzi DRiZ 1996, 184, 189; KK-Diemer § 255a Rn. 4; Kölbel NStZ 2005, 220, 222; LR-Mosbacher § 255a Rn. 23; Meyer-Goßner § 255a Rn. 4. Dagegen SK-Velten § 255a Rn. 13; krit. Rieß StraFo 1999, 1, 4. 202 BGHSt 49, 72, 78 f.; 52, 148, 150 f.; HK-Julius § 255a Rn. 6; KK-Diemer § 255a Rn. 4b; Kretschmer JR 2006, 453, 457; LR-Mosbacher § 255a Rn. 20; Meyer-Goßner § 255a Rn. 3; Mitsch JuS 2005, 102, 104; Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 1745; Rieß StraFo 1999, 1, 3; SK-Rogall § 52 Rn. 94; SK-Velten § 255a Rn. 10. 203 BGHSt 49, 72, 79; KK-Diemer § 255a Rn. 46; LR-Mosbacher § 255a Rn. 20; Meyer-Goßner § 255a Rn. 3; SK-Rogall § 52 Rn. 94. Dagegen SK-Velten § 255a Rn. 10. 204 BGHSt 49, 72, 78; HK-Julius § 255a Rn. 6; krit. Degener StV 2006, 509, 513 f. 205 Geändert durch Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) v. 29. 07. 2009, BGBl. I 2009, S. 2280.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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rung einer Videoaufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung ersetzt werden, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an der Vernehmung mitzuwirken. Die von § 255a Abs. 2 S. 1 StPO vorausgesetzte Gelegenheit zur Mitwirkung umfasst neben dem Recht auf Anwesenheit während der Vernehmung auch das Recht, Fragen an den Zeugen zu stellen und Vorhalte zu machen. 206 Dabei genügen die Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen einer zeitgleich in Bild und Ton übertragenen getrennten Vernehmung nach § 168e StPO. 207 Die spätere Vorführung der Videoaufzeichnung ist unzulässig, wenn nur der Verteidiger, nicht aber der – berechtigt oder unberechtigt – von der Vernehmung ausgeschlossene Beschuldigte, Gelegenheit zur Mitwirkung hatte. 208 Nach herrschender Auffassung muss einem Verteidiger jedoch nur dann Gelegenheit zur Mitwirkung an der Vernehmung gegeben werden, wenn der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt bereits einen solchen hatte. 209 Auf die tatsächliche Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte soll es dagegen nicht ankommen. 210 Für die Zulässigkeit der späteren Vorführung ist nach Auffassung des BGH auch die Gewährung vorheriger Akteneinsicht nicht erforderlich. 211 Nach Ansicht des BGH gilt § 252 StPO im Falle des § 255a Abs. 2 StPO nicht, da § 255a Abs. 2 S. 1 StPO nicht auf § 252 Bezug nimmt und es sich bei der Videoaufzeichnung der richterlichen Vernehmung um einen vorweggenommenen Teil der Hauptverhandlung handelt, so dass ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge die Verwertung der Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung durch nachträgliche Zeugnisverweigerung ebenso wenig verhindern 206 BGHSt 48, 268, 271; 49, 72, 80; Diemer NJW 1999, 1667, 1674; HK-Julius § 255a Rn. 10; KK-Diemer § 255a Rn. 10; LR-Mosbacher § 255a Rn. 12; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8a; Vogel / Norouzi JR 2004, 215, 216. Weitergehend Schlothauer StV 1999, 47, 48 f. 207 BGHSt 49, 72, 82; KK-Diemer § 255a Rn. 10; LR-Mosbacher § 255a Rn. 12; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8a. 208 BGHSt 49, 72, 80 f.; Beulke ZStW 113 (2001), 709, 738; Degener StV 2006, 509; HK-Julius § 255a Rn. 10; KK-Diemer § 255a Rn. 10; Kretschmer JR 2006, 453, 458; LR-Mosbacher § 255a Rn. 13; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8a; Mitsch JuS 2005, 102, 105; Rieß StraFo 1999, 1, 4. 209 Kretschmer JR 2006, 453, 458; LR-Mosbacher § 255a Rn. 13; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8a; Seitz JR 1998, 309, 313. Dagegen Schlothauer StV 1999, 47, 49; krit. auch Rieß StraFo 1999, 1, 4; Weigend, Gutachten, C 64. 210 Diemer NJW 1999, 1667, 1674; HK-Julius § 255a Rn. 10; KK-Diemer § 255a Rn. 11; LR-Mosbacher § 255a Rn. 12; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8a; Rieß StraFo 1999, 1, 4 Fn. 56; Vogel / Norouzi JR 2004, 215, 217 f. Dagegen Beulke ZStW 113 (2001), 709, 713; ders., Strafprozessrecht, Rn. 430l; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8, 15 f.; Schlothauer StV 1999, 47, 49. 211 BGHSt 48, 268, 270 ff. Dagegen Beulke ZStW 113 (2001), 709, 713; ders., Strafprozessrecht, Rn. 430l; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8, 16; Eisenberg / Zötsch NJW 2003, 3676, 3677 f.; HK-Julius § 255a Rn. 10; Schlothauer StV 1999, 47, 49; ders. StV 2003, 652, 653 f.; Schünemann StV 1998, 391, 400; Vogel / Norouzi JR 2004, 215, 216 f.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

kann, wie er bei mehrfacher Vernehmung in der Hauptverhandlung bereits getätigte Angaben durch nachträgliche Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts unverwertbar machen kann. 212 Die Aussage eines im Ermittlungsverfahren richterlich vernommenen Zeugen kann damit auf vielfältige Weise in der Hauptverhandlung verwertet werden. Da der Zeuge auch vor der Staatsanwaltschaft zum Erscheinen und zur Aussage verpflichtet ist (§ 161a Abs. 1 S. 1 StPO), beantragt die Staatsanwaltschaft eine richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren gerade, um eine spätere Verwertung im Hauptverfahren zu ermöglichen. 213 Insbesondere die Videoaufzeichnung einer Vernehmung dient der Beweissicherung und zielt auf eine spätere Verwertung ab. 214 Mit der richterlichen Vernehmung eines Zeugen im Ermittlungsverfahren wird damit ein wesentlicher Teil der Beweisaufnahme vorverlagert. Der vor dem Ermittlungsrichter abgegebenen Aussage kommt ferner ein erhöhter Beweiswert zu. Zwar unterliegt der Zeuge auch bei polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen der Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage. Aber nur bei richterlichen Zeugenvernehmungen unterliegt der Zeuge auch einer Eidespflicht (vgl. § 161a Abs. 1 S. 3 StPO), wenngleich im Ermittlungsverfahren nur unter den Voraussetzungen des § 62 StPO, so dass eine Strafbarkeit wegen Meineids oder falscher uneidlicher Aussage nur bei Aussagen vor dem Richter, nicht bei vor Polizei und Staatsanwaltschaft gemachten Aussagen, besteht. 215 Vernehmungsprotokolle und Videoaufzeichnungen polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Zeugenvernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren dürfen dagegen nur unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 StPO (ggf. i.V. m. § 255a Abs. 1) in der Hauptverhandlung verlesen bzw. vorgeführt werden. Eine Verwertung nach § 255a Abs. 2 StPO ist ausgeschlossen, da diese Vorschrift ausdrücklich nur für richterliche Vernehmungen gilt.

212 BGHSt 49, 72, 82 f.; zust. Kretschmer JR 2006, 453, 458; LR-Mosbacher § 255a Rn. 21; Norouzi JA 2004, 599, 600 f.; Rogall, FS Otto, 973, 995; SK-Rogall § 52 Rn. 94. Dagegen Degener StV 2006, 509, 514; Eckstein JA 2002, 119, 123; KK-Diemer § 255a Rn. 9a; Meyer-Goßner § 255a Rn. 8; Mitsch JuS 2005, 102, 105; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1745. 213 Grünwald, Beweisrecht, S. 57. 214 Rieß NJW 1998, 3240, 3241; ders. StraFo 1999, 1, 3. 215 Vgl. Th. Fischer, StGB, § 153 Rn. 8.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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C. Fehlerquellen Zeugenaussagen können aus vielfältigen Gründen fehlerhaft sein. Dabei spielen insbesondere die Aussagetüchtigkeit (Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe) sowie die Glaubhaftigkeit der Aussage und die Glaubwürdigkeit des Zeugen eine Rolle. 216 I. Aussagetüchtigkeit 1. Wahrnehmung Bereits die Wahrnehmung des Zeugen kann beeinträchtigt sein. Ursache hierfür können äußere Umstände (Entfernung, Blickwinkel, Lichtverhältnisse u. ä.) oder subjektive Faktoren (Hör- und Sehvermögen, Müdigkeit, Alkohol- oder Drogeneinfluss) sein. 217 Fehler können sich auch aus der Selektivität der Wahrnehmung ergeben. Denn nicht alles, was objektiv wahrnehmbar ist, wird auch subjektiv vom Zeugen wahrgenommen. Zum einen ist die Aufnahmefähigkeit der menschlichen Sinnesorgane begrenzt (beschränkte Simultankapazität). 218 Zum anderen werden solche Eindrücke bewusster wahrgenommen, die für den Wahrnehmenden von Interesse sind, was gleichgültig ist, entgeht der Wahrnehmung. 219 Zudem erfolgt bereits mit der Wahrnehmung eine Beurteilung des Geschehens. 220 216 In der früheren Rechtsprechung und Literatur wurden die Begriffe „allgemeine Glaubwürdigkeit“ (= Glaubwürdigkeit) und „spezielle Glaubwürdigkeit“ (= Glaubhaftigkeit) verwendet. 217 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 20 ff., 83 ff.; Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 96 ff.; Eisenberg JZ 1984, 961, 962; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 25; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 270, 274; Kühne NStZ 1985, 252; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 239; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 22 f.; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 86 f.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 13 f.; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 259. 218 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 60 ff.; Kühne NStZ 1985, 252, 253; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 15; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 262 ff. 219 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 87; Geerds, Vernehmungstechnik, S. 25; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 115; Kühne NStZ 1985, 252, 253; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 23; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 87; Prüfer DRiZ 1977, 41, 43 f.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 17; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191 f. 220 Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 105 f.; Eisenberg JZ 1984, 961, 962; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 123 f.; Kühne NStZ 1985, 252, 253 f.; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 240; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 24; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 86; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 15 ff.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Es wird in Sinnzusammenhänge eingefügt, die sich aus der Erfahrung des Zeugen, einer bestimmten Erwartungshaltung und Ähnlichem ergeben können. 221 2. Erinnerung „Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme.“ 222 Je länger das Ereignis zurückliegt, umso weniger Informationen sind noch im Gedächtnis abrufbar. 223 Die Erinnerung verblasst. Vor allem alltägliche und unbedeutende Umstände werden schneller vergessen. 224 Insbesondere an Sofortreaktionen („erlernte Reflexe“) und Routinehandlungen besteht regelmäßig keine Erinnerung, da sie nicht in das Langzeitgedächtnis gelangen. 225 Auch gefühlsneutrale Erlebnisse werden schneller vergessen. Dagegen werden Geschehnisse, die mit einer starken Gefühlsregung einhergehen, besser erinnert. 226 Unangenehme Ereignisse können jedoch bewusst oder unbewusst verdrängt werden. 227 Die entstandenen Erinnerungslücken werden mit ähnlichen Erlebnissen und Phantasievorstellungen aufgefüllt (Anreicherungstendenz). 228 Mit zunehmendem zeitlichen Abstand können die Geschehnisse mit anderen Erlebnissen und Eindrücken vermischt oder verwechselt werden. 229 Nachträglich aufgenommene Informationen verschmelzen mit der ursprünglichen Wahrnehmung. 230 221 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 66 ff., 87 ff.; Eisenberg JZ 1984, 962, 963; ders., Beweisrecht, Rn. 1372; Kühne NStZ 1985, 252, 253 f.; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 24; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 16 ff.; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 267. 222 L. W. Stern ZStW 22 (1902), 315, 327. 223 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 120; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 297; Nagler StV 1983, 211, 212. 224 Geerds, Vernehmungstechnik, S. 26; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 20. 225 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 145 ff. 226 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 143; Prüfer DRiZ 1977, 41, 44; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 22; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 192. 227 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 170 f.; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 298; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 87. 228 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 125 ff.; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 125; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 294; Prüfer DRiZ 1977, 41, 45; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 23; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 267. 229 Bender StV 1984, 127, 128; ders. / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 151 ff.; Eisenberg JZ 1984, 961, 963; ders., Beweisrecht, Rn. 1374; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 123; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 293; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 242; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 26; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 22; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 267.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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Das gilt auch bei wiederholter Vernehmung des Zeugen. 231 Denn mit jeder Vernehmung erhält der Zeuge durch Fragen und Vorhalte mehr Informationen über das Geschehen. Mit jeder weiteren Vernehmung aber vermischen sich Erinnerung, Gehörtes, Gedachtes und Gesagtes. Daneben kann die Erinnerung des Zeugen durch Berichterstattungen in Rundfunk oder Presse, durch die Veröffentlichung von Fahndungsbildern, Personenbeschreibungen und Ähnlichem beeinflusst werden. 232 3. Wiedergabe Die Zeugenaussage ist nicht lediglich Wiedergabe gespeicherten Wissens, sondern Kommunikationsprozess. 233 Die korrekte Wiedergabe der Beobachtungen hängt damit in erster Linie von der Ausdrucksfähigkeit des Zeugen ab. 234 Die sprachlichen Fähigkeiten des Zeugen haben entscheidenden Einfluss auf das Bild, das sich der Vernehmende vom Geschehen macht. Problematisch kann dabei insbesondere sein, wenn sich Vernehmender und Zeuge auf unterschiedlichem Sprachniveau befinden, so dass es zu Missverständnissen kommen kann. Daher muss die Befragung grundsätzlich „zeugengerecht“, d. h. auf dem sprachlichen Niveau des Zeugen stattfinden. 235 Vor allem durch Suggestivfragen kann die Aussage des Zeugen beeinflusst werden. Außerdem kann der Vernehmende, der bereits eine Vorstellung vom Ablauf des Geschehens hat, bewusst oder unbewusst (durch die Art der Fragestellung, Mimik und Gestik) beim Zeugen einen Konformitätsdruck hervorrufen und damit die Aussage in eine bestimmte Richtung lenken (sog. Pygmalioneffekt). 236

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Undeutsch, FG Peters, 461, 465. Bender StV 1984, 127, 128; ders. / Nack / Treuer; Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 180; Döhring, Erforschung des Sachverhalts, S. 101; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 235 f.; Kett-Straub ZStW 117 (2005), 354, 359; Nagler StV 1983, 211, 212; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 28. 232 Odenthal, Gegenüberstellung, S. 24 f.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 23 f. Vgl. auch Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 136. 233 Hengesch ZStW 101 (1989), 611, 620. 234 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 88; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 267. Vgl. auch Geerds, Vernehmungstechnik, S. 26 f.; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 144 ff. 235 Dedy, Ansätze, S. 129; Kühne NStZ 1985, 252, 255. 236 Bender StV 1984, 127, 128 f.; ders. / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 103 ff.; Dedy, Ansätze, S. 129; Kühne NStZ 1985, 252, 254; Hengesch ZStW 101 (1989), 611, 625 f.; Nack StV 1994, 555, 563; H. W. Schmitz, Tatgeschehen, S. 209 f.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 26 f.; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 268. 231

138

Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Bei der Aufnahme des Vernehmungsprotokolls können zudem die gleichen Protokollierungsfehler auftauchen, die bereits im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung dargestellt wurden. 237 II. Glaubhaftigkeit Die Glaubhaftigkeit einer Aussage bezieht sich auf deren Wahrheitsgehalt. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage hat sich die sog. Aussageanalyse durchgesetzt. 238 Diese geht von der Annahme aus, dass sich Aussagen über selbst erlebte Ereignisse qualitativ von erdachten Aussagen unterscheiden. 239 Ausgangspunkt ist die sog. Nullhypothese. 240 Das bedeutet, dass jede Aussage solange als unwahr gilt, bis sich diese Vermutung aufgrund der Zahl und Qualität der sog. Realitätskriterien in der Aussage nicht mehr aufrechterhalten lässt. 241 Als solche Realitäts- oder Glaubhaftigkeitskriterien werden insbesondere Detailreichtum, Individualität, Originalität, Emotionalität, Komplexität, Strukturgleichheit, Homogenität und Logik, Konstanz und Stimmigkeit der Aussage genannt. 242 Das Fehlen solcher Realitätskriterien deutet auf eine erdachte Aussage hin. 243 Daneben können auch sog. Phantasiesignale, wie Zurückhaltung, Abstraktheit, Kargheit, Unterwürfigkeit oder Dreistigkeit, Unklarheit oder übertriebene Genauigkeit, vorliegen. 244 237

Dazu oben Teil 2 Kapitel 1 C. III. Grundlegend Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 203 ff.; ders., in: Elster / Lingemann / Sieverts (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 205, 214 ff.; ferner Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, passim; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 294 ff.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 121 ff. 239 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 15; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 238; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1427; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 16, 507; Kett-Straub ZStW 117 (2005), 354, 364 f.; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 224; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 203. 240 Vgl. auch BGHSt 45, 164, 168. 241 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 216; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8, 12. 242 Vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 15 f.; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 310 ff.; Eisenberg JZ 1984, 961, 964; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 506 ff.; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 225 ff.; Trankell, Realitätsgehalt von Zeugenaussagen, S. 123 ff.; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 203 ff.; ders., in: Elster / Lingemann / Sieverts (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 205, 214 ff. Vgl. auch die Übersicht bei Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1427a. 243 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 107 f.; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 430; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 211; ders., in: Elster / Lingemann / Sieverts (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 205, 216. 238

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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Als Anzeichen einer unwahren Aussage gilt insbesondere der sog. Strukturbruch zwischen wahren und unwahren Teilen einer Aussage. 245 Damit wird eine auffällige Veränderung des Aussageverhaltens (Detailreichtum, Individualität, Mimik und Gestik, Sprechweise und Sprechtempo) bezeichnet, was auf eine Lüge hindeutet. Die genannten Realitätskriterien bzw. Phantasiesignale dürfen aber nicht im Sinne eines „Kriterienkatalogs“ abgeprüft werden. Vielmehr ist eine ganzheitliche Betrachtung vorzunehmen. 246 III. Glaubwürdigkeit Die Glaubwürdigkeit bezieht sich dagegen auf die persönliche Zuverlässigkeit der Aussageperson. Kriterien für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit sind vor allem die Gesamtpersönlichkeit des Zeugen und mögliche Aussagemotive. Entscheidend ist dabei nicht die gesellschaftliche Stellung oder charakterliche Integrität der Aussageperson, sondern die Motivlage. Im Strafverfahren ist insbesondere zu prüfen, ob der Zeuge Motive für eine ungerechtfertigte Be- oder Entlastung des Beschuldigten hat. Diese können sich aus der Beziehung zwischen Zeugen und Beschuldigtem, aber auch möglichen Konsequenzen der Aussage für den Zeugen, den Beschuldigten oder Dritte ergeben. Häufigstes Motiv einer Falschaussage sind Eigeninteressen des Zeugen. 247 Als Belastungsmotive gelten weiterhin Rachsucht, persönliche Abneigung und der Schutz von Dritten. 248 Das Verhältnis zwischen Zeugen und Beschuldigtem oder Verletztem ist daher eingehend zu hinterfragen. Für die Glaubwürdigkeit des Zeugen sollen unter anderem die „Neutralität“ des Zeugen, die eigene Belastung durch die Aussage und die Entlastung des Beschuldigten sprechen. 249

244

Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 231 ff. Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 354; Nack, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 219, 222 f.; Undeutsch, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch, 191, 201. 246 Hengesch ZStW 101 (1989), 611, 616 f. 247 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1453. 248 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1453 m. Fn. 120. 249 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1454, 1457. 245

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

D. Recht auf Zeugenbefragung aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Das Recht auf Zeugenbefragung gehört zum Kernbestand der Verteidigungsrechte. 250 Es wird ausdrücklich durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK 251 gewährleistet: „... to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him.“ 252

Das Recht auf Zeugenbefragung aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK beinhaltet, dass der Beschuldigte Fragen an die Belastungszeugen stellen oder stellen lassen kann und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Voraussetzungen erwirken kann. 253 Es stellt eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens dar 254 und dient der Herstellung von Waffengleichheit. 255 250 Esser JR 2005, 248, 249; Gollwitzer, GS Meyer, 147, 150; Walther JZ 2004, 1107; Widmaier, Sonderheft Schäfer, 76. 251 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK orientiert sich dabei am Konfrontationsrecht des 6. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung: „In all criminal prosecution the accused shall enjoy the right ... to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor ...“, vgl. Beulke, FS Rieß, 3, 6 Fn. 12. 252 Vgl. Anhang 1. S. auch Art. 14 Abs. 3 lit. e IPbpR. 253 Die StPO geht demgegenüber von einem einheitlichen Zeugenbegriff aus. 254 EGMR, Unterpertinger gg. A, Series A 110, § 29; Barberà u. a. gg. E, Series A 146, § 67; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 39; Windisch gg. A, Series A 186, § 23; Delta gg. F, Series A 191-A, § 34; Asch gg. A, Series A 203, § 25; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 31; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 43; Artner gg. A, Series A 242-A, § 19; Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 66; Pullar gg. GB, Rep. 1996-III, § 45; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 51; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 49; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 23; Lucà gg. I, Rep. 2001-II, § 37; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 56; P. S. gg. D, § 20; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 43; Bocos-Cuesta gg. NL, § 64; Popov gg. RUS, § 175; Al-Khawaja u. Tahery gg. GB, § 34; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 633; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 113; Jung GA 2009, 235, 236; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 51; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 210; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 241; Pauly StV 2002, 290, 291; Schaden, FS Rill, 213, 218; Schädler StraFo 2008, 229, 231; Widmaier, Sonderheft Schäfer, 76. Vgl. auch BVerfG NJW 2010, 925; BGHSt 46, 93, 95; 51, 150, 154; 55, 70, 74; BGH NJW 2005, 1132. 255 EGMR, Engel u. a. gg. NL, Series A 22, § 91; Bönisch gg. A, Series A 92, § 32; Vidal gg. B, Series A 235-B, § 33; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 57; Popov gg. RUS, § 176; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 607; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 633; ders. JR 2005, 248, 249; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 308; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 274 f.; Guradze Art. 6 EMRK Anm. 35; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 112; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 577; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 210; A. Peters, Einführung in die EMRK, S. 137; Peukert EuGRZ 1980, 247, 266; Schubarth ZSchwR 94 (1975), 465, 509; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 103; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 154; Som-

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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Die gängige Bezeichnung als bloßes „Fragerecht“ wird der Bedeutung dieses entscheidenden Verteidigungsrechts jedoch nicht gerecht. Vielmehr gewährleistet dieses Recht die Möglichkeit aktiver und umfangreicher Befragung im Sinne einer „confrontation“, 256 einer „Infragestellung“. 257 Dadurch soll dem Beschuldigten ermöglicht werden, die Glaubhaftigkeit der Aussage und die Glaubwürdigkeit des Zeugen eingehend zu hinterfragen. 258 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährleistet jedoch kein absolutes Recht. 259 Zwar soll die Beweiserhebung grundsätzlich in Gegenwart des Beschuldigten in einer öffentlichen Verhandlung erfolgen und die Möglichkeit einer kontradiktorischen Erörterung bieten. 260 Das bedeutet aber nicht, dass Zeugenaussagen stets vor Gericht und öffentlich abgegeben werden müssen. Die Verwertung von im Vorverfahren gemachten Aussagen ist dann nicht konventionswidrig, wenn die Verteidigungsrechte des Beschuldigten respektiert wurden. 261 mer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 77; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 644. 256 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 608; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 643. 257 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 608; Walther GA 2003, 204, 215. 258 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 608. Vgl. auch Beulke, FS Rieß, 3, 21; Eisele JR 2007, 303, 304; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 829; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 219. 259 Beulke, FS Rieß, 3, 7; Demko SchwZStR 122 (2004), 416, 424; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 281; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 114; Peukert EuGRZ 1980, 247, 257; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 155, 167. 260 EGMR, Barberà u. a. gg. E, Series A 146, § 78; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 41; Windisch gg. A, Series A 186, § 26; Delta gg. F, Series A 191-A, § 36; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 34; Asch gg. A, Series A 203, § 27; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 47; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 43; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 51; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 51; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 25; Lucà gg. I, Rep. 2001-II, § 39; Sadak u. a. gg. TK, Rep. 2001-VIII, § 64; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 57; P. S. gg. D, § 21; Birutis gg. LT, § 28; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 44; Hulki Güneş, Rep. 2003-VII, § 86; Al-Khawaja u. Tahery gg. GB, § 34; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 406 ff., 626, 638, 721 ff., 828; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 166, 308; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 278 f.; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 52; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 147; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 83; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 645. Vgl. auch BGHSt 46, 93, 95 f.; BGH NJW 2005, 1132. 261 EGMR, Unterpertinger gg. A, Series A 110, § 31; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 41; Windisch gg. A, Series A 186, § 26; Delta gg. F, Series A 191-A, § 36; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 34; Asch gg. A, Series A 203, § 27; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 47; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 43; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 51; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 51; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 25; Lucà gg. I, Rep. 2001-II, § 39; Sadak u. a. gg. TK, Rep. 2001-VIII, § 64; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 57; P. S. gg. D, § 21; Birutis gg. LT, § 28; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 44; Hulki Güneş, Rep. 2003-VII, § 86; Bocos-Cuesta gg. NL, § 68; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 638; Frowein / Peukert Art. 6 Rn. 308; Pauly StV 2002, 290, 291; Renzikowski JZ 1999, 605, 610; Rzepka, Fairness, S. 74 f.; Schaden, FS Rill, 213, 222;

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Zulässige Beschränkungen des Fragerechts kann es bei anonymen oder unerreichbaren Zeugen geben. Dabei gelten jedoch strenge Anforderungen. 262 Auch aus Gründen des Zeugenschutzes 263 oder wenn zu befürchten ist, dass der Zeuge in Anwesenheit des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen wird, 264 darf auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Beschuldigten verzichtet werden. Um ein faires Verfahren zu gewährleisten, muss die Beschränkung der Verteidigungsrechte jedoch hinreichend kompensiert werden. 265 Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es allerdings nicht ausreichend, einen schriftlichen Fragenkatalog vorlegen zu können. 266 Ebenso wenig genügt eine nur akustische Vernehmung unter optischer Abschirmung des Zeugen, da die Reaktion des Zeugen auf die Befragung nicht vom Beschuldigten oder seinem Verteidiger beobachtet werden kann. 267 Auch die bloße Befragung der Verhörsperson (als Zeuge vom Hörensagen) ist grundsätzlich nicht ausreichend, da der Zeuge selbst die originäre Auskunftsperson und damit Belastungszeuge i. S. d. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist. 268 van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 645. Vgl. auch BVerfG NJW 2010, 925 f.; BGHSt 46, 93, 96. 262 Vgl. EGMR, Al-Khawaja u. Tahery gg. GB, §§ 35 ff.; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 609; Wohlers, FS Trechsel, 813, 829. Eingehend Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 648 ff., 657 ff., 678. 263 BVerfG NJW 2010, 925, 926; LR-Gollwitzer Art. 6 Rn. 228; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 148. 264 BVerfG NJW 2010, 925, 926; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 581. 265 EGMR, Kostovski gg. NL, Series A 166, § 43; Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 72; van Mechelen gg. NL, Rep. 1997-III, § 54; P. S. gg. D, § 23; Birutis gg. LT, § 29; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 47; Bocos-Cuesta gg. NL, § 69; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 642; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 282; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 54, 56 ff.; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 147; Safferling NStZ 2006, 75, 78; Satzger JA 2002, 838, 839; Schädler StraFo 2008, 229, 231; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 109. Vgl. auch BVerfG NJW 2010, 925, 926; BGHSt 46, 93, 96. 266 EGMR, Kostovski gg. NL, Series A 166, §§ 42, 43; Windisch gg. A, Series A 186, §§ 27, 28; s. auch Ambos ZStW 115 (2003), 583, 610, 633; Beulke, FS Rieß, 3, 20; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 664; Rzepka, Fairness, S. 75; Safferling NStZ 2006, 75, 78; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 135; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 82. Anders BVerfGE 57, 250, 291; BVerfG NJW 2010, 925, 926; BGH NStZ 1985, 376, 377; 1993, 292; OLG Düsseldorf StV 1992, 558, 560 m. Anm. Walther; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 230; Meyer-Goßner Art. 6 EMRK Rn. 22. 267 EGMR, van Mechelen gg. NL, Rep. 1997-III, §§ 59, 62; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 610, 633; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 668 ff.; Rzepka, Fairness, S. 75; Safferling NStZ 2006, 75, 79; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 160; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 86 m. Fn. 69. Demgegenüber sieht der BGH in der Vernehmung des Zeugen unter optischer und akustischer Abschirmung keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, vgl. BGHSt 51, 232, 235; BGH NJW 2003, 74, 76; NStZ 2005, 43; 2006, 648 f.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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Es genügt jedoch, wenn wenigstens der Verteidiger Gelegenheit zur Befragung des Zeugen hatte. 269 Denn das Recht auf Zeugenbefragung verlangt nicht, dass der Beschuldigte dieses in eigener Person ausüben muss bzw. darf. Zwar muss es grundsätzlich dem Beschuldigten selbst gestattet sein, die Zeugen zu befragen. 270 Denn der Beschuldigte hat in der Regel die bessere Sachverhaltskenntnis und kann sachgerechte Fragen stellen. 271 Auch das Recht auf Zeugenbefragung wird jedoch der Verteidigung insgesamt, also Beschuldigtem und Verteidiger gemeinsam, gewährt. 272 Dem Beschuldigten muss damit grundsätzlich entweder bereits zum Zeitpunkt der ersten Zeugenaussage oder in einem späteren Verfahrensstadium ausreichend und angemessen Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen selbst oder durch seinen Verteidiger zu befragen. 273 Das Recht auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn die Verurteilung allein oder maßgeblich auf der Aussage eines Zeugen 268

EGMR, Kostovski gg. NL, Series A 166, § 40; Windisch gg. A, Series A 186, § 23; Delta gg. F, Series A 191-A, § 34; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 33; Asch gg. A, Series A 203, § 25; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 44; Artner gg. A, Series A 242-A, § 19; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 45; Pullar gg. GB, Rep. 1996-III, § 45; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 633; Beulke, FS Rieß, 3, 12; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Detter NStZ 2003, 1, 6; Dörr, Faires Verfahren, S. 85; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 630; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 224; Grünwald JZ 1966, 489, 494; ders., FS Dünnebier, 347, 359 f.; ders., Beweisrecht, S. 124; Renzikowski JZ 1999, 605, 609. Vgl. auch BGHSt 46, 92, 97. Anders noch BGHSt 17, 382, 388. 269 EGMR, Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 73; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 49; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 50; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 610; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 666 f.; ders. JR 2005, 248, 250; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 581; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 221; Safferling NStZ 2006, 75, 79; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 106; Trechsel SchwZStR 96 (1979), 337, 371. Vgl. auch BVerfG NStZ 2007, 534; NJW 2010, 925, 926; BGHSt 46, 93, 97. 270 EGMR, Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 74; Beulke, FS Rieß, 3, 20 f. 271 Ambos ZStW 115 (2003), 583, 608. 272 Beulke, FS Rieß, 3, 7; Gollwitzer, GS Meyer, 147, 152; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 581; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 221; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 106; Trechsel SchwZStR 96 (1979), 337, 371. Vgl. auch BGHSt 46, 93, 95. 273 EGMR, Kostovski gg. NL, Series A 166, § 41; Delta gg. F, Series A 191-A, § 36; Isgrò gg. I, Series A 194-A, § 34; Windisch gg. A, Series A 186, § 26; Asch gg. A, Series A 203, § 27; Lüdi gg. CH, Series A 238, § 47; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 43; Ferrantelli u. Santangelo gg. I, Rep. 1996-III, § 51; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 51; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 25; Lucà gg. I, Rep. 2001-II, § 39; Sadak u. a. gg. TK, Rep. 2001-VIII, § 64; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 57; P. S. gg. D, § 21; Birutis gg. LT, § 28; S. N. gg. S, Rep. 2002-V, § 44; Hulki Güneş, Rep. 2003-VII, § 86; Bocos-Cuesta gg. NL, § 68; Al-Khawaja u. Tahery gg. GB, § 34; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 607 f.; ders. NStZ 2003, 14, 17; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 626, 638, 663; ders. StraFo 2003, 335, 340 f.; ders. JR 2005, 248, 250; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 52; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 219; Meyer-Goßner Art. 6 MRK Rn. 22; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 150; Pauly StV 2002, 290, 291; Rzepka, Fairness, S. 75; Schlothauer StV 2001, 127, 128; Simon, Beschuldigtenrechte, S. 106; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

beruht, dem der Beschuldigte zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens Fragen stellen oder (durch seinen Verteidiger) stellen lassen konnte. 274

E. Notwendige Verteidigung Die ermittlungsrichterliche Vernehmung eines Zeugen dient in erster Linie der Beweissicherung. Ein Teil der entscheidungsrelevanten Beweisaufnahme wird damit in das Ermittlungsverfahren vorverlagert. Ist der Beschuldigte von der Anwesenheit bei der richterlichen Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren nach § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen, bleibt ihm zwar grundsätzlich die Möglichkeit, den Zeugen in der Hauptverhandlung nach § 240 Abs. 2 S. 1 StPO zu befragen. Hierzu besteht jedoch keine Gelegenheit, wenn in der Hauptverhandlung die Vernehmung des Zeugen durch die Verlesung des Vernehmungsprotokolls nach § 251 StPO oder Vorführung der Videoaufzeichnung der Zeugenvernehmung nach § 255a StPO ersetzt wird oder der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht und der Ermittlungsrichter als Zeuge vernommen wird. Hatten weder Beschuldigter noch Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit, den Zeugen zu befragen, liegt ein Verstoß gegen das Recht auf Zeugenbefragung aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vor. Nach Auffassung des BGH ist § 141 Abs. 3 StPO daher im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierten Fragerechts dahingehend auszulegen, dass dem unverteidigten Beschuldigten, wenn abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Ver645. Vgl. auch BVerfG NJW 2010, 925 f.; BGHSt 46, 93, 96 f.; 51, 150, 154; 55, 70, 74; BGH NJW 2005, 1132. 274 EGMR, Unterpertinger gg. A, Series A 110, §§ 31, 33; Barberà u. a. gg. E, Series A 146, § 86; Windisch gg. A, Series A 186, § 31; Delta gg. F, Series A 191-A, § 37; Lüdi gg. CH, Series A 238, §§ 49, 50; Saïdi gg. F, Series A 261-C, § 44; Doorson gg. NL, Rep. 1996-II, § 76; van Mechelen gg. NL, Rep. 1997-III, § 55; A. M. gg. I, Rep. 1999-IX, § 25; Lucà gg. I, Rep. 2001-II, § 40; Sadak u. a. gg. TK, Rep. 2001-VIII, § 65; Solakov gg. MK, Rep. 2001-X, § 57; P. S. gg. D, § 24; Birutis gg. LT, § 29; Hulki Güneş, Rep. 2003-VII, § 86; Bocos-Cuesta gg. NL, §§ 71, 73; Al-Khawaja u. Tahery gg. GB, § 37; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 612; Beulke, FS Rieß, 3, 7; Cornelius NStZ 2008, 244, 247; Eisele JR 2007, 303, 305; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 648 f., 674; ders. JR 2005, 248, 253 f.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 283 f., Jung GA 2003, 191, 199 f.; ders. GA 2009, 235, 239; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 53 f., 60; LR-Gollwitzer Art. 6 MRK Rn. 219; Meyer-Ladewig Art. 6 EMRK Rn. 150, 244; Peukert EuGRZ 1980, 247, 258; Renzikowski JZ 1999, 605, 610; Safferling NStZ 2006, 75, 79; Satzger JA 2002, 838, 840; Schlothauer StV 2001, 127, 129; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 81; van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice, p. 645; Widmaier, FS Nehm, 357, 358.

Kap. 2: Zeugenvernehmung

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nehmung des zentralen zeugnisverweigerungsberechtigten Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden muss, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist. 275 Handelt es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO, ist aber nicht nur das Recht auf Zeugenbefragung betroffen. Vielmehr stellt die ermittlungsrichterliche Zeugenvernehmung – auch bei Anwesenheit des Beschuldigten – einen Fall der notwendigen Verteidigung dar. 276 Zwar kann der Beschuldigte, wenn er bei der Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren anwesend ist, das Fragerecht selbst ausüben, so dass kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK vorliegt. Mit der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung wird jedoch ein entscheidender Teil der Beweisaufnahme in das Ermittlungsverfahren vorverlagert. Die für die Hauptverhandlung notwendige Verteidigung muss dann ebenfalls in das Ermittlungsverfahren „vorverlagert“ werden. Denn wäre der Zeuge in der Hauptverhandlung vernommen worden, hätte der Beschuldigte in den Fällen der notwendigen Verteidigung zur effektiven Befragung des Zeugen den Beistand eines Verteidigers erhalten. Dem unverteidigten Beschuldigten muss dann zur Gewährleistung seines Rechts auf effektive und wirksame Verteidigung bereits zum Zeitpunkt der ersten (und vielleicht einzigen) Vernehmung des Zeugen ein Verteidiger beigeordnet werden. Das gilt auch, wenn ein nicht zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge ermittlungsrichterlich vernommen wird. Denn auch in diesen Fällen kann die Aussage unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 StPO durch Verlesung des Vernehmungsprotokolls bzw. durch Vorführung der Videoaufzeichnung nach §§ 255a Abs. 1, 251 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung verwertet werden. Auch auf die unter Umständen schwer zu bestimmende „Qualität“ des Zeugen (wichtig / zentral) kann es aufgrund der präjudizierenden Wirkung jeder ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung nicht ankommen. 277 Zudem wird diese wohl in der Regel erst nach der Vernehmung festgestellt werden können. 275 BGHSt 46, 93 ff. = JZ 2001, 359 m. Anm. Fezer = NStZ 2001, 212 m. Anm. Kunert; ebenso AG Hamburg StV 2004, 11, 12; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 626 f.; Beulke, FS Rieß, 3, 18; ders., Strafprozessrecht, Rn. 171; Burhoff, Handbuch, Rn. 1879; Detter NStZ 2003, 1, 3; Eisele JA 2001, 100, 103 f.; ders. JR 2004, 12, 17; Endriß, FS Rieß, 65, 73; HK-Julius § 141 Rn. 10; KK-Laufhütte § 141 Rn. 7; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 52; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 924.2; LR-Erb § 168c Rn. 9; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 253; ders. NJW 2007, 969, 973; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 406; Schlothauer StV 2001, 127, 128; SK-Wohlers § 141 Rn. 7; Sowada NStZ 2005, 1, 2; Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, S. 351; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 721. Vgl. auch BGHSt 47, 233, 236; BGH StV 2008, 58. Anders noch BGHSt 29, 1, 5. 276 Fezer JZ 2001, 363, 364; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 253; Neuhaus JuS 2002, 18, 21; Schlothauer StV 1999, 47, 49; ders. StV 2001, 127, 128 f.; Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, S. 351 f. Ebenso schon Herrmann StV 1996, 396, 401. In diesem Sinne wohl auch Beulke, FS Rieß, 3, 21 f.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Gleiches gilt bezüglich der Vorführung einer Videoaufzeichnung nach § 255a Abs. 2 S. 1 StPO. Die frühere Zeugenvernehmung stellt einen vorweggenommenen Teil der Hauptverhandlung dar. Da bei notwendiger Verteidigung i. S. d. § 140 StPO auch die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand stattfinden dürfte, genügt allein die „Gelegenheit“ zur Mitwirkung des Beschuldigten und seines Verteidigers an der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung nicht. Vielmehr muss auch hier, wenn es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 Abs. 1 oder 2 StPO handelt, 278 was bei den in § 255a Abs. 2 S. 1 StPO genannten Tatbeständen regelmäßig der Fall ist, notwendige Verteidigung angenommen werden, 279 so dass dem unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, der während der Zeugenvernehmung tatsächlich anwesend sein und die Gelegenheit erhalten muss, den Zeugen zu befragen und Vorhalte zu machen. Die Notwendigkeit des Beistandes eines Verteidigers ergibt sich bei schwerem Tatvorwurf auch aus der erforderlichen Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen nach den Grundsätzen der sog. Aussageanalyse, mit denen regelmäßig nur der Verteidiger vertraut ist. Zudem erhält nach § 147 Abs. 1 StPO nur der Verteidiger umfassende Akteneinsicht, die zur Entwicklung eines Befragungskonzepts und damit zur effektiven Ausübung des Fragerechts erforderlich ist. Bei gewichtigem Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten daher bereits vor der richterlichen Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, da andernfalls die Verteidigungsrechte ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert würden. Auch für die richterliche Zeugenvernehmung bietet sich die vorgeschlagene Differenzierung an: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen, ist dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor der richterlichen Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen. Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten auf seinen Antrag nach § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger beizuordnen. Dem bestellten Verteidiger muss sodann ausreichend und angemessen Gelegenheit gegeben werden, sich mit dem Beschuldigten zu besprechen und noch vor der Vernehmung Akteneinsicht zu nehmen. Eine erhebliche Verfahrensverzögerung ist dadurch nicht zu erwarten, da auch der mit der Zeugenvernehmung 277 278 279

Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 253 f. Weitergehend Schlothauer StV 1999, 47, 49. Ebenso LR-Mosbacher § 255a Rn. 13.

Kap. 3: Identifizierungsgegenüberstellung

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beauftragte Ermittlungsrichter zunächst die Akten einsehen muss. Die Herstellung einer Zweitakte bietet sich in diesen Fällen an. 280 Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmungen finden in den meisten Fällen ohne Beteiligung des Beschuldigten oder des Verteidigers statt, da nach derzeitiger Gesetzeslage kein Anwesenheitsrecht besteht. Aber auch wenn dem Beschuldigten die Anwesenheit bei der Zeugenvernehmung gestattet wird, ist keine notwendige Verteidigung anzunehmen. Denn Vernehmungsprotokolle und Videoaufzeichnungen polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Zeugenvernehmungen können nur unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 StPO im Hauptverfahren verlesen bzw. vorgeführt werden, d. h. nur, wenn der Angeklagte einen Verteidiger hat und Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagter damit einverstanden sind (Nr. 1), der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann (Nr. 2) oder die Niederschrift oder Urkunde lediglich das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft (Nr. 3). Andernfalls ist der Zeuge in der Hauptverhandlung nochmals zu vernehmen, vgl. § 250 S. 1 StPO. Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, kann nach § 252 StPO weder das Vernehmungsprotokoll verlesen noch die nichtrichterliche Vernehmungsperson als Zeuge vernommen werden.

Kapitel 3

Identifizierungsgegenüberstellung A. Rechtsgrundlagen Die Identifizierungsgegenüberstellung ist in der StPO nicht ausdrücklich geregelt. Soweit der Beschuldigte freiwillig daran mitwirkt, ist sie zulässig. 281 Nach welcher Rechtsgrundlage der Beschuldigte aber auch gegen seinen Willen gegenübergestellt werden darf, ist umstritten. Einige halten eine zwangsweise Gegenüberstellung zum Zwecke des Wiedererkennens für unzulässig, da die StPO keine dahingehende Eingriffsermächtigung enthalte. 282 280 Zur Übertragung der Zuständigkeit für die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren auf den Ermittlungs- bzw. Haftrichter unten Teil 3 Kapitel 1 E. 281 Grünwald JZ 1981, 423, 426; ders., Beweisrecht, S. 39; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 78; Schenk, Gegenüberstellung, S. 174. 282 Achenbach / Perschke StV 1994, 577, 578 f.; Benfer / Bialon, Rechtseingriffe, Rn. 1036; Burgdorf / Ehrentraut / Lesch GA 1987, 106, 127; Grünwald JZ 1981, 423,

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Andere ziehen § 58 Abs. 2 StPO nicht nur gegenüber dem Zeugen, sondern auch gegenüber dem Beschuldigten als Rechtsgrundlage heran. 283 Da § 58 Abs. 2 StPO die Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten vorsieht, müsse diese auch zwangsweise durchsetzbar sein. Dagegen wird zu Recht vorgebracht, dass sich § 58 Abs. 2 StPO aufgrund seiner systematischen Stellung im Abschnitt über den Zeugenbeweis und der Entstehungsgeschichte nur auf die Vernehmungsgegenüberstellung des Zeugen mit anderen Zeugen oder dem Beschuldigten im Sinne einer „Konfrontation“ bezieht und daher als Rechtsgrundlage für die Identifizierung des Beschuldigten („Rekognition“) nicht herangezogen werden kann. 284 Die wohl überwiegende Ansicht stützt die Gegenüberstellung auf § 81a StPO. 285 Eine Untersuchung im Sinne des § 81a Abs. 1 S. 1 StPO dient der Feststellung der Beschaffenheit des Körpers. Eine solche körperliche Untersuchung stelle auch die Identifizierung des Beschuldigten durch einen Zeugen dar. Eine weitere Ansicht sieht die Gegenüberstellung zum Zwecke des Wiedererkennens als „ähnliche Maßnahme“ im Sinne des § 81b StPO. 286 § 81a StPO regele nur die Untersuchung des Beschuldigten durch einen Sachverständigen, nicht aber seine Identifizierung durch einen Zeugen. Dagegen erlaube § 81b StPO die Aufnahme von Lichtbildern und ähnliche Identifizierungsmaßnahmen auch gegen den Willen des Beschuldigten. Eine weitere Ansicht hält die Gegenüberstellung für eine den in §§ 81a, 81b StPO geregelten Untersuchungen vergleichbare Maßnahme und stützt die Zulässigkeit auch der zwangsweisen Gegenüberstellung des Beschuldigten auf eine analoge Anwendung dieser Vorschriften. 287 426; ders., Beweisrecht, S. 39; Schenk, Gegenüberstellung, S. 174 ff.; Welp JR 1994, 37, 39. 283 BGHSt 34, 39, 49; KG NJW 1979, 1668, 1669; JR 1979, 347, 348; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377; OLG Köln StV 1992, 412; AG Freiburg StV 1988, 383; AK-Kühne § 58 Rn. 4; Artkämper Kriminalistik 1995, 645; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 127; Bohlander StV 1992, 441, 444; Burhoff, Handbuch, Rn. 862; KK-Senge § 58 Rn. 8; Meyer-Goßner § 58 Rn. 9, 11; Philipp, Die Gegenüberstellung, S. 14 f.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 901; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 33 Rn. 16; Wiegmann StraFo 1998, 37. 284 Achenbach / Perschke StV 1994, 577, 578; Burgdorf / Ehrentraut / Lesch GA 1987, 106, 110; Geppert Jura 1989, 274, 277; Grünwald JZ 1981, 423, 424; LR-Krause § 81a Rn. 45; Odenthal NStZ 1985, 433, 434; ders., Gegenüberstellung, S. 80 f.; Schenk, Gegenüberstellung, S. 175 f.; Welp JR 1994, 37, 38. 285 HansOLG Bremen MDR 1970, 165; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 462; ders., Beweisrecht, Rn. 1192; LR-Ignor / Bertheau § 58 Rn. 12; LR-Krause § 81a Rn. 44; Odenthal NStZ 1985, 433, 434; ders., in: Köhnken / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 9, 10 f.; ders., Gegenüberstellung, S. 84 ff.; Pauly StraFo 1998, 41, 42. 286 Geppert Jura 1989, 274, 278; Oehm MDR 1986, 99, 100; Reitberger Kriminalistik 1968, 349; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 33 Rn. 16; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 185; SK-Rogall § 58 Rn. 35, § 81b Rn. 54.

Kap. 3: Identifizierungsgegenüberstellung

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Die Identifizierungsgegenüberstellung wird daher überwiegend für zulässig gehalten, so dass auf den Streitstand nicht näher einzugehen ist.

B. Verfahrensprägende Bedeutung Die unrichtige Identifizierung stellt eine häufige Fehlerquelle im Strafverfahren dar. 288 Die bereits im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung aufgezeigten Fehler bei der Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe können auch bei der Identifizierungsgegenüberstellung auftreten. Zudem besteht die erhöhte Gefahr, dass der Zeuge durch die Veröffentlichung von Fahndungsbildern, Phantomzeichnungen oder Personenbeschreibungen beeinflusst wird. 289 Wesentlichen Einfluss auf die richtige Identifizierung hat der zeitliche Abstand zwischen Wahrnehmung und Gegenüberstellung. Je mehr Zeit verstreicht, umso geringer wird die Zuverlässigkeit des Wiedererkennens. 290 Aus diesem Grund werden Gegenüberstellungen häufig bereits in frühen Ermittlungsstadien vorgenommen. Dem wiederholten Wiedererkennen – etwa in der Hauptverhandlung – kommt kein Beweiswert zu. 291 Denn bei einer nochmaligen Gegenüberstellung besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Beschuldigten nicht mehr mit dem Täter, son287 BVerfGE 47, 239, 251; BGH, Beschl. v. 17. 05. 1973 – StB 24/73; Beschl. v. 09. 03. 1977 – StB 56/77; LG Hamburg MDR 1985, 72; Rieder Kriminalistik 1977, 111, 113. 288 Dedy, Ansätze, S. 134; Hirschberg, Fehlurteil, S. 35 f; Odenthal NStZ 1985, 433; ders., Gegenüberstellung, S. 21; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 91 ff.; H.-J. Schroth ZStW 89 (1977), 849, 851; St. Stern, Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1196. 289 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1402b; Köhnken, in: ders. / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 157, 168; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 24, 105; Pauly StraFo 1998, 41, 44; Schindler / Stadler StV 1991, 38, 42. 290 Cutler / Penrod, in: Köhnken / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 25, 46 f.; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 25 f., 105. 291 Dedy, Ansätze, S. 134; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 460; ders., Beweisrecht, Rn. 1402b; Köhnken, in: ders. / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 157, 166; LR-Ignor / Bertheau § 58 Rn. 21; Odenthal NStZ 1985, 433; ders., in: Köhnken / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 9, 20; ders., Gegenüberstellung, S. 27, 101; Schenk, Gegenüberstellung, S. 227 f.; Schweling MDR 1969, 177, 179; Wiegmann StV 1996, 179; dies. StraFo 1998, 37, 39. Beschränkter Beweiswert nach BGHSt 16, 204, 206; BGH NStZ 1996, 350, 351; 1997, 355; 1998, 265, 266; 2003, 493, 494; 2009, 283, 284; StV 1995, 452 f.; OLG Celle StV 1987, 429; OLG Düsseldorf NStZ 1990, 506, 507; OLG Frankfurt NStZ 1988, 41; StV 1988, 290; OLG Hamm StraFo 2009, 109 f.; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378; OLG Köln StV 1986, 12; 1992, 412, 414; 1994, 67 f.; 1998, 640, 641; OLG Rostock StV 1996, 419, 420; OLG Zweibrücken StV 2004, 65, 66; Nöldeke NStZ 1982, 193, 194; SK-Rogall § 58 Rn. 61.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

dern mit der ihm schon einmal gezeigten Person vergleicht. 292 Die Eindrücke aus der ersten Gegenüberstellung überlagern unbewusst die Erinnerung an die ursprüngliche Wahrnehmung. 293 Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Zeugen an einer einmal erfolgten Identifizierung festhalten, selbst wenn sie falsch war. 294 Fehler und Irrtümer bei der ersten Gegenüberstellung setzen sich im weiteren Verfahren fort. Eine fehlerfreie Gegenüberstellung kann nicht nachgeholt werden. 295 Bei der Identifizierungsgegenüberstellung im Ermittlungsverfahren handelt es sich daher um einen Fall der vorweggenommenen Beweiserhebung. 296

C. Durchführung der Gegenüberstellung Entscheidenden Einfluss auf die Zuverlässigkeit des Wiedererkennens haben Art und Weise der Gegenüberstellung. In der Praxis sind daher Grundsätze entwickelt worden, die eine möglichst fehlerfreie Gegenüberstellung sichern sollen: Gibt es mehrere Zeugen, sind diese zu trennen, um eine gegenseitige Beeinflussung auszuschließen. 297 Vor der Gegenüberstellung sind die Zeugen einzeln und in Abwesenheit der anderen Zeugen (nochmals) zu vernehmen, um eine möglichst detaillierte Täterbeschreibung zu erhalten. 298 Zum einen können erst in Kenntnis der genauen Täterbeschreibung geeignete Vergleichspersonen ausgeDas gilt auch dann, wenn dem Wiedererkennen eine Lichtbildvorlage vorausgegangen war. 292 BGHSt 16, 204, 205 f.; OLG Köln StV 1992, 412, 414; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 460; Gniech / Stadler StV 1981, 565, 567; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S. 233 f.; Meyer-Goßner § 58 Rn. 13; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 27 f., 101; Schweling MDR 1969, 177; Stadler / Fabian / Wetzels MschKrim 75 (1992), 75, 77; Wiegmann StV 1996, 179 f.; dies. StraFo 1998, 37, 39. 293 Köhnken, in: ders. / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 157, 167; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 27. 294 Köhnken, in: ders. / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 157, 166; ders. Kriminalistik 1993, 231, 232; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 27 f.; Schenk, Gegenüberstellung, S. 64, 67; Undeutsch, FG Peters, 461, 466. 295 Geisler ZStW 93 (1981), 1109, 1120; Köhnken, in: ders. / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 157, 158; ders. Kriminalistik 1993, 231; Odenthal NStZ 1985, 433; ders., Gegenüberstellung, S. 27; Philipp, Die Gegenüberstellung, S. 11; Schweling MDR 1969, 177, 178; Stadler / Fabian / Wetzels MschKrim 75 (1992), 75, 77; Wiegmann StraFo 1998, 37, 39. 296 OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378 m. Anm. Odenthal NStZ 1984, 137; OLG Köln StV 1986, 12; Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 646; Dedy, Ansätze, S. 135; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 223. 297 Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 1254; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 35; Philipp, Die Gegenüberstellung, S. 19, 26; Schwarz Kriminalistik 1999, 397, 399; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 276.

Kap. 3: Identifizierungsgegenüberstellung

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wählt werden. 299 Zum anderen kann eine positive Identifikation später auf ihre Zuverlässigkeit geprüft werden. 300 Der Beschuldigte ist in eine Reihe von mehreren Vergleichspersonen zu stellen, die ihm in Statur, Größe und Alter ähnlich sind, ohne dass der Zeuge weiß, welche Person der Beschuldigte ist (Wahlgegenüberstellung). 301 Die Gegenüberstellung sollte in mindestens zwei Durchgängen erfolgen, wobei einer ohne den Beschuldigten stattfinden sollte. Dadurch wird der auf dem Zeugen lastende Erwartungsdruck gemindert, jeweils eine Person aus der Gruppe als Täter identifizieren zu müssen. 302 Statt dieser bislang praktizierten simultanen Gegenüberstellung wird in jüngerer Zeit eine sequentielle Wahlgegenüberstellung favorisiert, d. h. dem Zeugen werden nacheinander jeweils Einzelpersonen gegenübergestellt und er muss zu jeder dieser Personen ein Wiedererkennungsurteil fällen. 303 Problematisch ist die (in der Praxis häufige) Beteiligung von Polizeibeamten als Vergleichspersonen. Aufgrund der für den Beschuldigten belastenden Situation der Gegenüberstellung kann seine (etwa durch Unsicherheit und Nervosität geprägte) Körpersprache von der der Polizeibeamten abweichen, die an einer ge-

298 Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 647; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1344; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 35; Schenk, Gegenüberstellung, S. 194; Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 135 f.; St. Stern, Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1197. 299 Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 647; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 36; Schenk, Gegenüberstellung, S. 194. 300 BGH NStZ 2009, 283, 284; Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 647; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 35; Schenk, Gegenüberstellung, S. 194 f. 301 BGHSt 40, 66, 68; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378 m. Anm. Odenthal NStZ 1984, 137; OLG Köln StV 1992, 412, 413 f.; LG Köln NStZ 1991, 202; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 1246; Dedy, Ansätze, S. 135; KMR-Neubeck § 58 Rn. 10; LR-Ignor / Bertheau § 58 Rn. 13; Meyer-Goßner § 58 Rn. 12; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 31, 39; Philipp, Die Gegenüberstellung, S. 16, 26; Schenk, Gegenüberstellung, S. 194 f.; Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 137; Schweling MDR 1969, 177; SK-Rogall § 58 Rn. 28; St. Stern, Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1197; Undeutsch, FG Peters, 461, 470; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 273 ff.; Wiegmann StraFo 1998, 37, 38. Vgl. auch Nr. 18 RiStBV. 302 Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 648; Dedy, Ansätze, S. 135; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 49; Steinke Kriminalistik 1978, 505, 506; Undeutsch, FG Peters, 461, 471; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 275. 303 Vgl. BGH StV 2000, 603; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 1238 ff.; KMR-Neubeck § 58 Rn. 11; Köhnken Kriminalistik 1993, 231, 255; Mertn / Schwarz / Walser Kriminalistik 1998, 421 ff.; Meyer-Goßner § 58 Rn. 12a; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 50; ders. NStZ 2001, 580 ff.; A. Schäfer Kriminalistik 2001, 797 f.; Schenk, Gegenüberstellung, S. 51 ff., 202 ff.; Schwarz Kriminalistik 1999, 397 ff.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

wohnten Ermittlungsmaßnahme teilnehmen. Dadurch kann die Aufmerksamkeit des Zeugen unbewusst auf den Beschuldigten gelenkt werden. 304 Beim Zeugen darf während der Gegenüberstellung nicht der Eindruck entstehen, eine Person als Täter identifizieren zu müssen. 305 Ihm sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, anzugeben, sich nicht erinnern zu können oder sich nicht sicher zu sein. 306 Auch andere suggestive Einflüsse auf den Zeugen während der Gegenüberstellung sollten vermieden werden. Nach der Gegenüberstellung sind die Zeugen einzeln zu den Gründen des Wiedererkennens zu befragen. 307 Damit das Gericht in der Hauptverhandlung die Einhaltung der genannten Anforderungen feststellen und den Beweiswert des Wiedererkennens beurteilen kann, ist der Ablauf der Gegenüberstellung (möglichst auch mittels Foto- oder Videoaufnahmen) umfassend zu dokumentieren. 308 Daneben sind die Aussagen der Zeugen vor und nach der Gegenüberstellung getrennt zu protokollieren, um die Aussageentwicklung feststellen zu können. 309

D. Anwesenheitsrecht des Verteidigers Der Verteidiger hat ein Anwesenheitsrecht bei richterlichen (§ 168c Abs. 1) und staatsanwaltschaftlichen Beschuldigtenvernehmungen (§§ 163a Abs. 3 S. 2, 168c Abs. 1 StPO) sowie bei richterlichen Zeugenvernehmungen (§ 168c Abs. 2

304 Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 648; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 1252; Dedy, Ansätze, S. 135; Gniech / Stadler StV 1981, 565, 568; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 45; Schwarz Kriminalistik 1999, 397, 399; Stadler / Fabian / Wetzels MschKrim 75 (1992), 75 ff.; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 275; Wiegmann StraFo 1998, 37, 38. 305 LG Köln NStZ 1991, 202; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 464; ders., Beweisrecht, Rn. 1344; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 38; Schwarz Kriminalistik 1999, 397, 398 f.; Schweling MDR 1969, 177. 306 Odenthal, Gegenüberstellung, S. 39. 307 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1350; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 51; Schenk, Gegenüberstellung, S. 196 f. 308 OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378 m. Anm. Odenthal NStZ 1984, 137; OLG Köln StV 1986, 12; StV 1992, 412, 413; Artkämper Kriminalistik 1995, 645, 650; Bender / Nack / Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rn. 1256; Dedy, Ansätze, S. 135; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 464; ders., Beweisrecht, Rn. 1350; KMR-Neubeck § 58 Rn. 12; Köhnken Kriminalistik 1993, 231, 256; LR-Ignor / Bertheau § 58 Rn. 21; LR-Erb § 168a Rn. 18; Meyer-Goßner § 58 Rn. 12; Odenthal, in: Köhnken / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 9, 14; ders., Gegenüberstellung, S. 51 f.; Schenk, Gegenüberstellung, S. 73; SK-Rogall § 58 Rn. 60; Walder SchwZStR 97 (1980), 257, 276. 309 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1350; Odenthal, Gegenüberstellung, S. 51 f.

Kap. 3: Identifizierungsgegenüberstellung

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StPO). Das Recht auf Anwesenheit des Verteidigers bei der Identifizierungsgegenüberstellung wird allerdings unterschiedlich beurteilt. Nach einer Ansicht stellt die Identifizierungsgegenüberstellung gem. § 58 Abs. 2 StPO einen Teil der Zeugenvernehmung dar, so dass gem. § 168c Abs. 2 StPO nur bei richterlichen Gegenüberstellungen ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers besteht. Nach anderer Ansicht handelt es sich um eine Maßnahme nach § 81a und / oder § 81b StPO, so dass dem Verteidiger kein Recht auf Anwesenheit zusteht. 310 Nur soweit die Identifizierungsgegenüberstellung unmittelbar im Zusammenhang mit einer richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Beschuldigtenvernehmung oder einer richterlichen Zeugenvernehmung steht, soll ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bestehen. 311 Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergibt sich jedoch bereits de lege lata ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei jeder – auch der polizeilichen – Identifizierungsgegenüberstellung. Die StPO geht davon aus, dass die Ermittlungsergebnisse grundsätzlich vorläufig sind und sämtliche Feststellungen erst in der von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit geprägten Hauptverhandlung getroffen werden. Die beschränkten Mitwirkungsrechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren sollen durch eine umfassende Beteiligung an der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kompensiert werden. 312 Bei der Gegenüberstellung handelt es sich jedoch um eine vorweggenommene Beweiserhebung, da einer wiederholten Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung kein Beweiswert zukommt. Die Mitwirkungsrechte der Verteidigung in der Hauptverhandlung können daher keinen Ausgleich für ein fehlendes Anwesenheitsrecht des Verteidigers im Ermittlungsverfahren schaffen. Dem Beschuldigten muss damit bereits bei der Identifizierungsgegenüberstellung im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit gegeben werden, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Der Beschuldigte selbst kann jedoch als Teil dieser Ermittlungsmaßnahme keinen Einfluss auf die Befragung der Zeugen und die Durchführung der Gegenüberstellung nehmen. Dies kann nur der Verteidiger. Deshalb folgt aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens bereits im Ermittlungsverfahren ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei jeder Gegenüberstellung. 313 310 BGH, Beschl. v. 17. 05. 1973 – StB 24/73; KG NJW 1979, 1668, 1669; Rieder Kriminalistik 1977, 111, 112; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 64; H. Schneider NStZ 2010, 54, 55 f. Dagegen Grünwald JZ 1981, 423, 426; Pauly StraFo 1998, 41, 42. 311 Vgl. BGH, Beschl. v. 17. 05. 1973 – StB 24/73. 312 Vgl. dazu auch Satzger, Gutachten, C 33.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

E. Notwendige Verteidigung Aufgrund der Bedeutung der Identifizierungsgegenüberstellung als vorweggenommene Beweiserhebung und der damit unter Umständen verbundenen Zwangsmaßnahmen gegen den Beschuldigten ist außerdem ein Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen. 314 Wird der Beschuldigte im Rahmen der Gegenüberstellung vom Zeugen als Täter identifiziert, steht seine Täterschaft in der Regel für das weitere Verfahren fest. Eine erneute Gegenüberstellung ist wertlos, da einem wiederholten Wiedererkennen kein Beweiswert zukommt. Eine einmal erfolgte Falschidentifikation kann daher einschneidende Folgen für den Betroffenen haben, die bis zur Verurteilung führen können. Ein Verteidiger muss deshalb schon bei der Gegenüberstellung im Ermittlungsverfahren auf die korrekte Durchführung der Gegenüberstellung achten und auf die Beseitigung möglicher Fehlerquellen hinwirken. Er muss Kenntnis von der vor der Gegenüberstellung vom Zeugen abgegebenen Täterbeschreibung haben, um die Geeignetheit der Vergleichspersonen beurteilen und gegebenenfalls noch vor der Durchführung der Gegenüberstellung rügen zu können. Nach der Gegenüberstellung muss der Verteidiger den Zeugen eingehend zu den Gründen des Wiedererkennens befragen. 315 Dem Beschuldigten als Teil der Ermittlungsmaßnahme bleiben diese Einflussmöglichkeiten verwehrt. Hinzu kommt, dass die Gegenüberstellung mit erheblichen Zwangsmaßnahmen verbunden sein kann. So werden etwa die Veränderung der Haar- und Barttracht oder sonstige Veränderungen der äußeren Erscheinung auch gegen den Willen des Beschuldigten unter Anwendung unmittelbaren Zwangs für zulässig gehalten. 316

313 Burhoff, Handbuch, Rn. 868; Eisenberg Kriminalistik 1995, 458, 462 f.; ders., Beweisrecht, Rn. 1195; Krause StV 1984, 169, 171; LR-Ignor / Bertheau § 58 Rn. 14. Im Ergebnis ebenso Dahs jr. NJW 1985, 1113, 1118; Dedy, Ansätze, S. 133 ff.; Herrmann StV 1996, 396, 401; Krehl, Neuregelung, S. 115 f.; LR-Krause § 81a Rn. 46; Pauly StraFo 1998, 41, 42; Schenk, Gegenüberstellung, S. 267 ff. Odenthal leitet ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers aus der „Konzeption der Strafprozessordnung“ her, vgl. Odenthal NStZ 1984, 137; ders. NStZ 1985, 433, 435; ders., in: Köhnken / Sporer (Hrsg.), Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 9, 13; ders., Gegenüberstellung, S. 92 f.; dem folgend Stade, Stellung des Verteidigers, S. 223 f. 314 Herrmann StV 1996, 396, 401; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 254; ders. NJW 2007, 969, 973; Molketin Jura 1992, 120, 122. 315 Herrmann StV 1996, 396, 401. 316 Vgl. BVerfGE 47, 239, 246 ff.; BGH, Beschl. v. 17. 05. 1973 – StB 24/73; Beschl. v. 09. 03. 1977 – StB 56/77; LR-Krause § 81a Rn. 47; KK-Senge § 81b Rn. 3; Rieder Kriminalistik 1977, 111, 113.

Kap. 4: Augenscheinseinnahme, insbesondere Tatrekonstruktion

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Zur Gewährleistung einer effektiven und wirksamen Verteidigung muss dem Beschuldigten daher ein Beistand „hinter den Kulissen“ zur Seite stehen, der auf Art und Weise der Gegenüberstellung Einfluss nehmen kann und den Beschuldigten vor unzulässigen oder unverhältnismäßigen Maßnahmen schützt. Zudem würde die Mitwirkung eines Verteidigers für eine erhöhte Zuverlässigkeit des Wiedererkennens sprechen. Der Verteidiger hätte aufgrund seiner Kontrollfunktion Einwände gegen die Art und Weise der Gegenüberstellung bereits vor oder während dieser vorbringen müssen. Bei gewichtigem Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten daher bereits vor einer Identifizierungsgegenüberstellung im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger beizuordnen, da andernfalls die Verteidigungsrechte ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert würden. Auch für die Identifizierungsgegenüberstellung soll an der vorgeschlagenen Differenzierung festgehalten werden: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen, ist dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor der Identifizierungsgegenüberstellung im Ermittlungsverfahren nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen. Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten nach § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO auf seinen Antrag ein Verteidiger beizuordnen.

Kapitel 4

Augenscheinseinnahme, insbesondere Tatrekonstruktion A. Rechtsgrundlagen Augenscheinsbeweis ist nur die Beweisaufnahme, die nicht bereits als Zeugen-, Sachverständigen- oder Urkundenbeweis oder als Vernehmung des Beschuldigten gesetzlich besonders geregelt ist. 317 Die richterliche Augenscheinseinnahme besteht darin, dass sich das Gericht mittels sinnlicher Wahrnehmung einen unmittelbaren Eindruck von der Existenz oder Beschaffenheit eines Menschen, eines Körpers oder einer Sache verschafft, dass es die Lage von Örtlichkeiten (insbesondere des Tat- oder Unfallortes) oder Gegenständen feststellt oder eine Verhaltensweise oder einen wiederholbaren Vorgang beobachtet. 318 Die Augen317 AK-Kirchner § 86 Rn. 1; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 221 f.; Dähn JZ 1978, 640, 641; Geppert Jura 1996, 307, 308; KK-Senge § 86 Rn. 1; LR-Krause § 86 Rn. 1; KMR-Neubeck Vor § 72 Rn. 17; Meyer-Goßner § 86 Rn. 1. Dagegen Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 43 f.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

scheinseinnahme kann auch in der Rekonstruktion des mutmaßlichen Tatherganges bestehen. 319 Die Einnahme des richterlichen Augenscheins kann dabei der Feststellung unmittelbar beweiserheblicher Tatsachen, aber auch von Beweisanzeichen dienen. 320 Beschuldigtem und Verteidiger steht gem. § 168d Abs. 1 S. 1 StPO ein Anwesenheitsrecht bei der Einnahme des richterlichen Augenscheins zu. Der Beschuldigte kann von der Anwesenheit ausgeschlossen werden, wenn diese den Untersuchungszweck gefährden würde, §§ 168d Abs. 1 S. 2, 168c Abs. 3 S. 1 StPO. Von dem Termin sind Beschuldigter und Verteidiger vorher zu benachrichtigen, §§ 168d Abs. 1 S. 2, 168c Abs. 5 StPO. Die Benachrichtigung unterbleibt, wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde, §§ 168d Abs. 1 S. 2, 168c Abs. 5 S. 2 StPO. Der Augenschein kann auch unter Hinzuziehung von Sachverständigen eingenommen werden. Werden bei der Einnahme richterlichen Augenscheins Sachverständige hinzugezogen, kann der Beschuldigte beantragen, dass die von ihm für die Hauptverhandlung vorzuschlagenden Sachverständigen zu dem Termin geladen werden, und, wenn der Antrag abgelehnt wird, die Sachverständigen selbst laden lassen, § 168d Abs. 2 S. 1 StPO. Den vom Beschuldigten benannten Sachverständigen ist die Teilnahme am Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen insoweit gestattet, als dadurch die Tätigkeit der vom Richter bestellten Sachverständigen nicht behindert wird, § 168d Abs. 2 S. 2 StPO. Polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Besichtigungen sind keine Augenscheinseinnahmen im engeren Sinne. 321 Weder Beschuldigtem noch Verteidiger steht dabei ein Anwesenheitsrecht zu. Diesen kann jedoch die Anwesenheit gestattet werden. 322 Das wird vor allem dann in Betracht kommen, wenn es sich um eine Tatrekonstruktion handelt, die die Mitwirkung des Beschuldigten erfordert.

318 Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 222; Geppert Jura 1996, 307, 308; KK-Senge § 86 Rn. 1; KMR-Neubeck Vor § 72 Rn. 18; LR-Krause § 86 Rn. 1, 11; Meyer-Goßner § 86 Rn. 2. 319 BGH NJW 1961, 1486, 1487; OLG Köln NJW 1955, 843; OLG Neustadt JR 1959, 71 f.; AK-Kirchner § 86 Rn. 12; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 235; Burhoff, Handbuch, Rn. 227; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2282b; KMR-Neubeck § 86 Rn. 17; LR-Krause § 86 Rn. 27; Meyer-Goßner § 86 Rn. 15; Robert, Augenschein, S. 48. 320 RGSt 47, 235, 237; AK-Kirchner § 86 Rn. 2; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 222; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2222; KMR-Neubeck Vor § 72 Rn. 18; LR-Krause § 86 Rn. 1; Meyer-Goßner § 86 Rn. 2; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 32 ff. 321 Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 223; Dähn JZ 1978, 640, 641; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2281a; LR-Krause § 86 Rn. 49; Meyer-Goßner § 86 Rn. 18; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 39. 322 KK-Griesbaum § 168d Rn. 2; LR-Erb § 168d Rn. 3; Meyer-Goßner § 168d Rn. 1; SK-Wohlers § 168d Rn. 4.

Kap. 4: Augenscheinseinnahme, insbesondere Tatrekonstruktion

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B. Verfahrensprägende Bedeutung Die Einnahme eines richterlichen Augenscheins im Ermittlungsverfahren findet insbesondere zur Vermeidung eines drohenden Beweisverlustes statt. Eine Wiederholung der Augenscheinseinnahme in der Hauptverhandlung ist insoweit regelmäßig ausgeschlossen. Damit wird ein wesentlicher Teil der Beweisaufnahme in das Ermittlungsverfahren vorverlagert. 323 Protokolle über die Einnahme des richterlichen Augenscheins können in der Hauptverhandlung gem. § 249 Abs. 1 S. 2 StPO verlesen werden. Ersucht die Staatsanwaltschaft den Ermittlungsrichter nach § 162 StPO zur Einnahme des richterlichen Augenscheins, dient diese Maßnahme gerade der Herstellung eines verlesbaren Protokolls. Gem. § 86 StPO ist bei der richterlichen Augenscheinseinnahme außerhalb der Hauptverhandlung im Protokoll der vorgefundene Sachbestand festzustellen und darüber Auskunft zu geben, welche Spuren oder Merkmale, deren Vorhandensein nach der besonderen Beschaffenheit des Falles vermutet werden konnte, gefehlt haben. Die bereits im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung dargestellten Wahrnehmungsfehler können in ähnlicher Weise bei der Einnahme des richterlichen Augenscheins auftreten. 324 Fehlerquellen können sich außerdem aus der mangelnden Trennung von Wahrnehmung und Interpretation, übermäßiger emotionaler Beteiligung, Überschätzung der eigenen Sachkunde oder gar der Augenscheinseinnahme am falschen Objekt ergeben. 325 Zudem birgt der Versuch, die unmittelbaren Eindrücke im Protokoll wiederzugeben, die Gefahr einer unzureichenden Vermittlung des Wahrgenommenen durch Vereinfachungen, Akzentverschiebungen oder Verfälschungen. 326 Das gilt insbesondere dann, wenn der Richter nach § 168 S. 2, 2. Halbsatz StPO von der Hinzuziehung eines Protokollführers absieht, etwa weil er den Inhalt des Protokolls vorläufig auf Tonband aufzeichnet, so dass keine Kontrolle dahingehend stattfindet, ob übereinstimmende Wahrnehmungen getroffen wurden. Bei einem Verstoß gegen die Anwesenheitsrechte und Benachrichtigungspflichten nach §§ 168d Abs. 1, 168c StPO ist das richterliche Protokoll in der Hauptverhandlung zwar nicht nach § 249 Abs. 1 S. 2 StPO verlesbar. 327 Ebenso 323

Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 46 ff. Dazu oben Teil 2 Kapitel 2 C. I. 325 Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 152 ff., 162. 326 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2241; Robert, Augenschein, S. 30; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 56. 327 BGHSt 26, 332, 334 f.; 31, 140, 144; 42, 391, 392; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 258; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2246; Geppert 324

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

wenig kann der Verfasser des Protokolls als Zeuge vernommen werden. 328 Auch die Verlesung als nichtrichterliches Augenscheinsprotokoll scheidet aus, da die StPO hierfür keine Rechtsgrundlage bietet. 329 Allerdings soll das Protokoll als Vernehmungsbehelf dem Beschuldigten oder Zeugen vorgehalten werden können. 330 Vor allem Tatrekonstruktionen prägen den weiteren Verlauf des Verfahrens. Im Falle einer richterlichen Tatrekonstruktion kann das Protokoll gem. § 249 Abs. 1 S. 2 StPO in der Hauptverhandlung verlesen werden. Der beteiligte Ermittlungsrichter kann als Zeuge gehört werden. Zudem werden Tatrekonstruktionen in der Regel durch Lichtbilder oder Videoaufnahmen dokumentiert. 331 Diese können in der späteren Hauptverhandlung in Augenschein genommen werden, wenn sie Bestandteil des richterlichen Protokolls sind, und dienen im Übrigen als Vernehmungsbehelf. 332 Damit geht von ihnen eine hohe Suggestionswirkung aus. 333 Auch bei polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Tatrekonstruktionen können die beteiligten Personen in der Hauptverhandlung als Zeugen gehört werden. 334 Nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO 335 können auch Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen in der Hauptverhandlung verlesen werden, soweit sie nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben. Das betrifft in erster Linie Protokolle und Vermerke über Routinevorgänge, wie Beschlagnahmen, Spurensicherungen, Festnahmen, Sicherstellungen, Hausdurchsuchungen und Ähnliches. 336

Jura 1996, 307, 312; KK-Griesbaum § 168c Rn. 22; KK-Diemer § 249 Rn. 21; LR-Erb § 168d Rn. 7a; LR-Mosbacher § 249 Rn. 27; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 42; SK-Rogall § 86 Rn. 35; SK-Wohlers § 168c Rn. 42; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 66. 328 BGHSt 26, 332, 335; 31, 140, 144; 42, 391, 392; 46, 93, 104; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; LR-Erb § 168c Rn. 56a; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6; SK-Rogall § 86 Rn. 35; SK-Wohlers § 168c Rn. 42. 329 LR-Erb § 168d Rn. 7a; SK-Rogall § 86 Rn. 35. 330 BGHSt 34, 231, 235; KK-Diemer § 249 Rn. 21, 41; Meyer-Goßner § 168c Rn. 6. Dagegen BGHSt 31, 140, 144; AK-Achenbach § 168c Rn. 18; KK-Griesbaum § 168c Rn. 22; SK-Rogall § 86 Rn. 35; SK-Wohlers § 168c Rn. 44. 331 LR-Krause § 86 Rn. 27. 332 LR-Krause § 86 Rn. 20, 27, 44. 333 Hamm, FS Lüderssen, 717, 725. 334 AK-Kirchner § 86 Rn. 16; AK-Meier § 249 Rn. 22; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 223, 256; Dähn JZ 1978, 640, 641; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2281a; KK-Senge § 86 Rn. 11; KMR-Neubeck § 86 Rn. 3; LR-Krause § 86 Rn. 49; Meyer-Goßner § 86 Rn. 18, § 249 Rn. 12; SK-Rogall § 86 Rn. 25, 29; SK-Wohlers § 168d Rn. 4. 335 Neugefasst durch Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) v. 24. 08. 2004, BGBl. I 2004, S. 2198, 2300. 336 Vgl. BT-Drs. 15/1508, S. 26; s. auch KK-Diemer § 256 Rn. 9a.

Kap. 4: Augenscheinseinnahme, insbesondere Tatrekonstruktion

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Ob damit auch die Verlesung polizeilicher oder staatsanwaltschaftlicher Vermerke über den Verlauf einer Tatrekonstruktion zulässig ist, ist zweifelhaft, erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, da die Vorschrift nur solche Erklärungen ausnimmt, die im Zusammenhang mit einer Vernehmung stehen. Eine derart weite Auslegung dürfte allerdings nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechen, der lediglich die Verlesung routinemäßig erstellter Protokolle und Vermerke zulassen wollte, bei denen der Verfasser als Zeuge meist ohnehin nicht mehr bekunden kann als sich bereits aus den Aufzeichnungen ergibt. 337

C. Notwendige Verteidigung Die richterliche Augenscheinseinnahme im Ermittlungsverfahren dient in erster Linie der Beweissicherung. Ein Teil der entscheidungsrelevanten Beweisaufnahme wird in das Ermittlungsverfahren vorverlagert. Die für die Hauptverhandlung notwendige Verteidigung muss dann ebenfalls in das Ermittlungsverfahren „vorverlagert“ werden. Denn wäre der Augenschein (erst) in der Hauptverhandlung eingenommen worden, hätte der Beschuldigte in den Fällen der notwendigen Verteidigung hierbei den Beistand eines Verteidigers erhalten. Dem unverteidigten Beschuldigten muss dann zur Gewährleistung seines Rechts auf effektive und wirksame Verteidigung bereits zum Zeitpunkt der richterlichen Augenscheinseinnahme im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger beigeordnet werden. Denn für eine effektive Verteidigung ist es erforderlich, bereits bei der Erhebung des Augenscheinsbeweises Anregungen oder Einwände vorzubringen, da in einer späteren Hauptverhandlung lediglich das Protokoll der Augenscheinseinnahme nach § 249 Abs. 1 S. 2 StPO verlesen wird und damit eine spätere Einflussnahme ausgeschlossen ist. 338 Das betrifft vor allem den Fall, dass der Beschuldigte nach §§ 168d Abs. 1 S. 2, 168c Abs. 3 S. 1 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen ist. Dann verbleibt nur die Möglichkeit, durch einen bei der Augenscheinseinnahme anwesenden Verteidiger Einfluss auf die Beweiserhebung und Protokollierung zu nehmen. Gleiches gilt aber auch, wenn der Beschuldigte während der Einnahme des Augenscheins anwesend ist. 339 Denn nur ein Verteidiger wird in der Lage sein, effektiven Einfluss auf Gang und Ergebnis der Augenscheinseinnahme zu nehmen und gegebenenfalls Änderungen und Ergänzungen des Protokolls zu be337 Vgl. BT-Drs. 15/1508, S. 26; s. auch BGH NStZ 2008, 529; OLG Düsseldorf NStZ 2008, 358 f. 338 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2243; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 65. 339 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2243; Herrmann StV 1996, 396, 401; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 254; SK-Rogall § 86 Rn. 17; Wenskat, Richterlicher Augenschein, S. 63 f.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

wirken. Zudem besteht die Gefahr, dass sich der anwesende Beschuldigte in Unkenntnis seiner Aussagefreiheit zum Tatvorwurf äußert, ohne dass eine förmliche Vernehmung stattfindet. Die beteiligten Personen könnten dann später als Zeugen hierüber vernommen werden. Der Verteidiger muss den Beschuldigten also auch in dieser Situation vor unbedachten Äußerungen schützen. Dasselbe muss auch für die unter Mitwirkung des Beschuldigten von Polizei oder Staatsanwaltschaft durchgeführten Tatrekonstruktionen gelten. 340 Zwar können nichtrichterliche Protokolle hierüber nicht nach § 249 Abs. 1 S. 2 oder § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO in der Hauptverhandlung verlesen werden. Jedoch können die Beteiligten als Zeugen vernommen werden. Mit der Tatrekonstruktion geht außerdem zumeist eine Vernehmung des Beschuldigten einher, so dass bei gewichtigem Tatvorwurf bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen ist. 341 Findet die Tatrekonstruktion unter Mitwirkung des Beschuldigten statt, muss ihm bei gewichtigem Tatvorwurf auch der Beistand eines Verteidigers gegeben werden, um auf die durchgeführte Beweisaufnahme effektiv Einfluss nehmen zu können. Bei gewichtigem Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO ist dem unverteidigten Beschuldigten daher bereits vor einer richterlichen Augenscheinseinnahme im Ermittlungsverfahren, aber auch vor einer nichtrichterlichen Tatrekonstruktion unter Mitwirkung des Beschuldigten, ein Verteidiger zu bestellen, da andernfalls die Verteidigungsrechte ernsthaft bzw. unwiederbringlich präjudiziert würden. Auch hier bietet sich die vorgeschlagene Differenzierung an: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen, ist dem unverteidigten Beschuldigten bereits vor der richterlichen Augenscheineinnahme oder der (auch nichtrichterlichen) Tatrekonstruktion von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger beizuordnen. 342 Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten auf seinen Antrag nach § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen.

340 Hamm, FS Lüderssen, 717, 724 f.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 263; ders. NJW 2007, 969, 973. 341 Dazu oben Teil 2 Kapitel 1 E. III. 342 In dem der Entscheidung BGHSt 47, 172 ff. zugrunde liegenden Fall (Tatvorwurf des Mordes) hätte dem Beschuldigten daher vor der Mitwirkung an der Tatrekonstruktion ein Verteidiger bestellt werden müssen.

Kap. 5: Sachverständigenauswahl

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Kapitel 5

Sachverständigenauswahl A. Rechtsgrundlagen Die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich nicht zur Beauftragung von Sachverständigen verpflichtet, da sie in der Gestaltung des Ermittlungsverfahrens frei ist. 343 Nach Nr. 69 S. 1 RiStBV soll ein Sachverständiger nur hinzugezogen werden, wenn sein Gutachten für die Sachverhaltsaufklärung unentbehrlich ist. 344 Die Staatsanwaltschaft entscheidet im Ermittlungsverfahren selbst über Auswahl und Anzahl der Sachverständigen, §§ 161a Abs. 1 S. 2, 73 Abs. 1 S. 1 StPO. 345 Die Auswahl eines Sachverständigen erfolgt nach dem Fachgebiet, aus dem das Beweisthema stammt, und der persönlichen Eignung des Sachverständigen. 346 Entscheidende Kriterien sind dabei die Zuverlässigkeit der Person und die hinreichende Sachkunde zur Erfüllung des konkreten Gutachtenauftrages. 347 Auf sein Verlangen kann dem Sachverständigen zur Vorbereitung des Gutachtens weitere Aufklärung durch die Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten verschafft werden, § 80 Abs. 1 StPO. Gemeint sind damit nur Vernehmungen durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht. Ein eigenes Vernehmungsrecht steht dem Sachverständigen nicht zu. 348 Er ist allenfalls berechtigt, vorberei343 Sog. Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens, vgl. Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 4 Rn. 25; LR-Erb Vor § 158 Rn. 17; Meyer-Goßner § 161 Rn. 7; Rieß, FS Rebmann, 381, 396 ff. 344 Die Anhörung eines Sachverständigen ist gesetzlich vorgeschrieben bei der Einweisung des Beschuldigten in ein psychiatrisches Krankenhaus zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten (§ 81 Abs. 1 StPO) und wenn damit zu rechnen ist, dass die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird (§ 80a StPO). Des Weiteren dürfen die Entnahme von Blutproben (§§ 81a Abs. 1 S. 2, 81c Abs. 2 S. 2 StPO) sowie die Leichenschau und Leichenöffnung (§ 87 StPO) nur von Ärzten durchgeführt werden. Auch bei dem Verdacht einer Vergiftung (§ 91 StPO) sowie dem Verdacht der Geld- oder Wertzeichenfälschung (§ 92 StPO) sind Sachverständige hinzuzuziehen. 345 Im Rahmen des § 163 StPO ist nach h. M. auch die Polizei zur Bestellung von Sachverständigen berechtigt, vgl. KMR-Neubeck § 73 Rn. 2a; Meyer-Goßner § 73 Rn. 1. 346 Detter NStZ 1998, 57, 61; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1529; KMR-Neubeck § 73 Rn. 6; Meyer-Goßner § 73 Rn. 4; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 163 ff. 347 KMR-Neubeck § 73 Rn. 6. 348 BGH JR 1962, 111; NJW 1968, 2297, 2298; Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 148, 152, 159; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1589; Geppert Jura 1993, 249, 254; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 412; Krauß ZStW 85 (1973), 320, 323; KK-Senge § 80 Rn. 2; KMR-Neubeck § 80 Rn. 3; LR-Krause § 80 Rn. 5; Meyer-Goßner § 80 Rn. 2; Sarstedt NJW 1968, 177, 180; SK-Rogall § 80 Rn. 4, 8; Toepel, Sachverstän-

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

tend informatorische Befragungen durchzuführen, um gegebenenfalls die Vernehmung der Auskunftsperson zu veranlassen. 349 Die Amtsaufklärungspflicht kann es der Staatsanwaltschaft aber auch ohne das ausdrückliche Verlangen des Sachverständigen gebieten, bestimmte Tatsachen zu erforschen und diesem mitzuteilen. 350 Der Sachverständige kann Akteneinsicht nehmen sowie der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beiwohnen und unmittelbar Fragen an diese richten, § 80 Abs. 2 StPO. Für die Vernehmung des Sachverständigen gelten nach § 72 grundsätzlich die Vorschriften der §§ 48 ff. StPO über die Vernehmung von Zeugen entsprechend. Beschuldigtem und Verteidiger ist danach nur bei richterlichen Sachverständigenvernehmungen im Ermittlungsverfahren die Anwesenheit gestattet, § 168c Abs. 2 StPO. Bei der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmung von Sachverständigen steht weder Beschuldigtem noch Verteidiger ein Anwesenheitsrecht zu.

B. Verfahrensprägende Bedeutung Zwar kann ein Sachverständiger wegen Besorgnis der Befangenheit aus den gleichen Gründen wie ein Richter abgelehnt werden, § 74 i.V. m. §§ 22 Nr. 1 – 4, 24 StPO. Vor der gerichtlichen Beauftragung des Sachverständigen soll eine Ablehnung nach § 74 StPO jedoch nicht möglich sein. 351 Die Auswahl des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren ist damit nicht anfechtbar. 352 Zudem kommt dem Sachverständigengutachten häufig eine das gesamte Verfahren prägende Bedeutung zu. 353 Der im Ermittlungsverfahren tätig gewordene digenbeweis, S. 366 f.; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 380 f.; Ulsenheimer, in: Frank / Harrer (Hrsg.), Der Sachverständige im Strafrecht, 3, 9. Dagegen Ziegert, in: ders. (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 299, 306 f. 349 BGHSt 9, 292, 296; Geppert Jura 1993, 249, 254; Heinitz, FS Engisch, 693, 699; KK-Senge § 80 Rn. 2; KMR-Neubeck § 80 Rn. 3; Meyer-Goßner § 80 Rn. 2; Toepel, Sachverständigenbeweis, S. 360; Ulsenheimer, in: Frank / Harrer (Hrsg.), Der Sachverständige im Strafrecht, 3, 9; krit. Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1589; LR-Krause § 80 Rn. 5; SK-Rogall § 80 Rn. 18 f. Offengelassen von BGHSt 45, 164, 174. 350 KMR-Neubeck § 80 Rn. 1. 351 BGH VRS 29 (1965), 26; OLG Düsseldorf MDR 1984, 71, 72; AK-Wassermann § 74 Rn. 10; Burhoff, Handbuch, Rn. 4a; KK-Senge § 74 Rn. 7; KMR-Neubeck § 74 Rn. 18; Meyer-Goßner § 74 Rn. 12; E. Müller, FS Lüke, 493, 497; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 252; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 310. Dagegen AK-Achenbach § 161a Rn. 9; Eisenberg NStZ 2006, 368, 373 f.; ders., Beweisrecht, Rn. 1556; Gössel, Strafverfahrensrecht, § 26 B IV b; ders. DRiZ 1980, 363, 376 Fn. 120; LR-Krause § 74 Rn. 21. 352 OLG Schleswig StV 2000, 543 m. abl. Anm. Wagner; KK-Senge § 73 Rn. 9; Toepel, Sachverständigenbeweis, S. 301 f.; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 252 m. Fn. 227.

Kap. 5: Sachverständigenauswahl

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Sachverständige wird in den meisten Fällen auch vom Gericht für die Hauptverhandlung bestellt. 354 Die vorherige Tätigkeit des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren stellt keinen Ablehnungsgrund i. S. d. § 74 StPO dar. 355 Der Beweisantrag der Verteidigung auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann im Gegensatz zu Beweisanträgen hinsichtlich anderer Beweismittel gem. § 244 Abs. 4 S. 2, 1. Halbsatz StPO auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bewiesen ist. Etwas anderes gilt nur, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über überlegene Forschungsmittel verfügt, § 244 Abs. 4 S. 2, 2. Halbsatz. Da die Rechtsprechung diesbezüglich hohe Anforderungen stellt, 356 ist das Vorliegen dieser Voraussetzungen äußerst schwierig darzulegen. 357 Auch das Recht auf eine Selbstladung des Sachverständigen und der dadurch entstehende Anspruch auf dessen Vernehmung in der Hauptverhandlung als präsentes Beweismittel nach §§ 245 Abs. 2, 220 StPO läuft vor allem beim mittellosen Beschuldigten leer. Hierfür müsste der Beschuldigte die Kosten vorher aufbringen, was ihm nur selten möglich sein wird. Denn der unmittelbar geladene Sachverständige ist nach § 220 Abs. 2 StPO nur dann zum Erscheinen verpflichtet, wenn ihm bereits bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumnis bar angeboten oder deren Hinterlegung bei der Geschäftsstelle nachgewiesen wird.

353 Dierlamm, FS Müller, 117; Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 85; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; Wagner StV 2000, 544. Vgl. auch Lürken NJW 1968, 1161; Mayer, FS Mezger, 455, 467. 354 Barton StV 2003, 537, 539; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8, 13 f.; Detter NStZ 1998, 57, 58; Dierlamm, FS Müller, 117; LR-Erb § 161a Rn. 25; Kaufmann JZ 1985, 1065, 1072; Lürken NJW 1968, 1161, 1162; E. Müller, FS Lüke, 493, 497; Schreiber, FS Wassermann, 1007, 1013; ders., FS Baumann, 383, 393; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 262 f.; Toepel, Sachverständigenbeweis, S. 298; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 159; Wagner StV 2000, 544; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 67. 355 RGSt 33, 198, 199 f.; BGH GA 1968, 305; Eisenberg NStZ 2006, 368, 371; ders., Beweisrecht, Rn. 1551a; Gössel DRiZ 1980, 363, 371; KK-Senge § 74 Rn. 5; Kohlhaas NJW 1962, 1329, 1331; KMR-Neubeck § 74 Rn. 15a; LR-Krause § 74 Rn. 12; Mayer, FS Mezger, 455, 467; Meyer-Goßner § 74 Rn. 5; Sarstedt NJW 1968, 177; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 228; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 272 f.; krit. Dahs jr., Handbuch, Rn. 227 f.; Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 132 f.; Frenken DAR 1956, 291, 292. 356 Vgl. Meyer-Goßner § 244 Rn. 76 m.w. N. 357 Nach Sarstedt (NJW 1968, 177, 178) können Anträge auf Anhörung weiterer Sachverständiger „so gut wie immer revisionssicher abgelehnt werden“.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Aber nicht nur finanzielle Gründe können der Beauftragung eines Sachverständigen durch den Beschuldigten entgegenstehen. Die Kapazitäten erfahrener Gutachter sind oft bereits durch gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Aufträge erschöpft. 358 Auch sind Gericht und Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet, dem vom Beschuldigten beauftragten Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen für das zu erstellende Gutachten zu verschaffen. 359 Der Beschuldigte selbst erhält keine umfassende und unmittelbare Akteneinsicht. Zudem sind Zeugen, etwa wenn ein aussagepsychologisches Gutachten erstellt werden soll, nicht verpflichtet, vor dem vom Beschuldigten beauftragten Sachverständigen zu erscheinen. Schwierigkeiten ergeben sich aber auch dabei, einen Sachverständigen zu finden, der bereit ist, einen Gutachtenauftrag der Verteidigung anzunehmen. 360 Viele Sachverständige fürchten um ihren Ruf, da ein Tätigwerden auf Seiten des Beschuldigten den Verdacht begründen könnte, sie hätten das Gutachten nicht unabhängig und unbefangen erstattet. 361 Damit wird überwiegend nur der von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren ausgewählte Sachverständige im (gesamten) Verfahren tätig. Häufig entscheidet dabei bereits die Auswahl des Sachverständigen über das Ergebnis des Gutachtens. 362 Die Auswahl des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren ist damit von besonderer Bedeutung für den weiteren Verlauf und den Ausgang des Verfahrens. Mit dem 1. Justizmodernisierungsgesetz 2004 wurden außerdem die Verlesungsmöglichkeiten für Sachverständigengutachten erweitert. Nach § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO kann die Vernehmung des Sachverständigen durch die Verlesung des Gutachtens ersetzt werden, soweit dieses das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft. Gem. § 256 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 StPO können neben Gutachten öffentlicher Behörden sowie Ärzten eines gerichtsärztlichen Dienstes und ärztlichen Attesten über nicht schwere Körperverletzungen nunmehr auch Gutachten allgemein vereidigter Sachverständiger, ärztliche Berichte über Blutprobenentnahmen, Gutachten über die Auswertung eines Fahrtschreibers, die Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholgehalts verlesen werden. Unterbleibt danach die Anhörung des Sachverständigen in der Hauptverhand358

Cabanis StV 1986, 451, 453; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 257 f. Sarstedt NJW 1968, 177, 178; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 258. 360 Barton StV 1983, 73, 78; Cabanis StV 1986, 451, 452 f.; Lürken NJW 1968, 1161, 1163; Schreiber, FS Wassermann, 1007, 1013; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 258; Tondorf StV 1993, 39, 43. 361 Cabanis StV 1986, 451, 452 f.; Schreiber, FS Wassermann, 1007, 1013; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 258 f.; Tondorf StV 1993, 39, 43. 362 Barton StV 1983, 73, 78; Detter NStZ 1998, 57; Dierlamm, FS Müller, 117; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 85; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; Rauch NJW 1968, 1173, 1174; Schreiber, FS Wassermann, 1007, 1012; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 261; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 275. 359

Kap. 5: Sachverständigenauswahl

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lung, ist eine kontradiktorische Befragung nicht mehr möglich. Damit wird dem Beschuldigten verwehrt, die Grundlagen des Gutachtens zu hinterfragen und Missverständnisse aufzudecken. Zudem kann ein persönlicher Eindruck von der Person des Sachverständigen und seinem Sachverstand nicht mehr gewonnen werden. 363 Damit entscheidet auch in diesen Fällen bereits die Auswahl des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren über den weiteren Verlauf des Verfahrens.

C. Notwendige Verteidigung Bereits die Auswahl des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren prägt daher den weiteren Verlauf und den Ausgang des Verfahrens. Nach Nr. 70 Abs. 1 RiStBV gibt die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger vor der Auswahl eines Sachverständigen Gelegenheit zur Stellungnahme, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt (z. B. Blutalkoholgutachten) ist oder eine Gefährdung des Untersuchungszwecks oder eine Verzögerung des Verfahrens zu besorgen ist. Die Beteiligung des Verteidigers stellt danach jedoch nur eine Obliegenheit dar. Vielfach wird daher für einen Gesetzesrang dieser Regelung plädiert. 364 Um ein faires Verfahren zu gewährleisten, muss dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger aber bereits nach derzeitiger Gesetzeslage im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit gegeben werden, auf die Auswahl des Sachverständigen Einfluss zu nehmen. 365 Denn dies stellt die einzige Möglichkeit der Einflussnahme auf das weitere Verfahren dar. Der Beschuldigte selbst ist in der Regel mangels Erfahrung und erforderlicher Sachkunde nicht in der Lage, einen geeigneten Sachverständigen vorzuschlagen oder sich zu einem Vorschlag der Staatsanwaltschaft zu äußern. 366 Dem unverteidigten Beschuldigten muss daher bereits vor der Auswahl eines Sachverständigen ein Verteidiger beigeordnet werden. 367 363 Krit. daher Knauer / Wolf NJW 2004, 2932, 2935 f.; Neuhaus StV 2005, 47, 52; Sommer StraFo 2004, 295, 297 f. 364 Barton StV 2003, 537, 539 f.; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8, 14; Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 361; Diskussionsentwurf § 73 Abs. 3 DE; Eckpunktepapier StV 2001, 314, 315; Hinz SchlHA 2001, 245, 246; Ignor / Matt StV 2002, 102, 106; Jahn ZStW 115 (2003), 815, 841; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 418. Ähnlich Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 51, wonach der Sachverständige im Ermittlungsverfahren vom Staatsanwalt grundsätzlich im Einvernehmen mit dem Verteidiger ausgewählt wird. In diesem Sinne auch Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 92; Dahs jr., Handbuch, Rn. 226; Dedy, Ansätze, S. 127; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64. 365 Dierlamm, FS Müller, 117, 119 ff.; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; Lürken NJW 1968, 1161; Tondorf StV 1993, 39, 45 f.; in diesem Sinne auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 659.

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Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Die Verteidigung ist vor allem bei der Erstellung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten nach §§ 20, 21 StGB notwendig. 368 Die Frage der Schuldfähigkeit wirft vielfältige rechtliche und psychiatrisch-psychologische Probleme auf. 369 Die Feststellung der Schuld hat außerdem maßgeblichen Einfluss darauf, ob und in welcher Höhe eine Strafe verhängt oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wird. 370 Durch die Exploration und die damit verbundene Offenlegung der Persönlichkeit ist die Rechtsstellung des Beschuldigten besonders betroffen. 371 Dennoch steht dem Verteidiger während der Untersuchung des Beschuldigten durch den Sachverständigen kein Anwesenheitsrecht zu. 372 Zudem wird sich nur ein Verteidiger zur umstrittenen Frage der Auswahl zwischen psychiatrischem und psychologischem Sachverständigen äußern können. 373 Gerade bei Gutachten zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten ist das Ergebnis aber häufig von der Person des Sachverständigen abhängig. 374 Hinzu kommt, dass derartigen Gutachten in der Hauptverhandlung weitgehend gefolgt wird. 375 Auch wenn ein Gutachten zur Glaubhaftigkeit eines (insbesondere kindlichen oder jugendlichen) Zeugen erstellt wird, ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben. 376 Denn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit eines Zeugen ist ureigenste Aufgabe des Tatrichters. Das gilt grundsätzlich auch für die Beurteilung 366

64.

Ähnlich Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 104; Krekeler AnwBl. 1986, 62,

367 Dedy, Ansätze, S. 192; Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 88, 104; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725; HK-Julius § 141 Rn. 10; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 255; ders. NJW 2007, 969, 973; E. Müller, FS Lüke, 493, 501; Sarstedt NJW 1968, 177, 179; Schlothauer / Weider StV 2004, 504, 512; SK-Wohlers § 141 Rn. 7; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 53; Tondorf StV 1993, 39, 45; ders. / Tondorf, Psychologische und psychiatrische Sachverständige, Rn. 240; ders. / Waider StV 1997, 493, 496. 368 OLG Düsseldorf AnwBl. 1978, 355, 356; OLG Hamm StV 1984, 66; MDR 1988, 340; KG StV 1990, 298; LG Berlin StV 1983, 99 f.; LG Hamburg StV 1983, 99; LG Lübeck StV 1986, 147; LG Osnabrück StV 1982, 515; AK-Stern § 140 Rn. 44, 65; Lehmann StV 2003, 356, 357; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 76a; Molketin, Schutzfunktion, S. 68 f., 104; ders. AnwBl. 2001, 85, 87; Oellerich StV 1981, 434, 438; einschränkend LG Dortmund MDR 1983, 864 f.; Meyer-Goßner § 140 Rn. 26a. 369 Vgl. die Kommentarliteratur zu §§ 20, 21 StGB. Dazu auch Lehmann StV 2003, 356, 357 f.; Tondorf / Tondorf, Psychologische und psychiatrische Sachverständige, Rn. 20 ff.; Venzlaff, in: Frank / Harrer (Hrsg.), Der Sachverständige im Strafrecht, 11 ff.; Ziegert, in: ders. (Hrsg.), Grundlagen der Strafverteidigung, 299, 324 ff. 370 Verrel ZStW 106 (1994), 332. 371 Verrel ZStW 106 (1994), 332. 372 BGH StV 2003, 537 m. Anm. Barton; BGH NStZ 2008, 229, 230. 373 Dazu Th. Fischer, StGB, § 20 Rn. 62 m.w. N. 374 Barton StV 2003, 537, 538, Wagner StV 2000, 544. 375 Barton StV 1983, 73, 75; ders. StV 2003, 537, 539; Verrel ZStW 106 (1994), 332, 339 f.

Kap. 5: Sachverständigenauswahl

167

der Aussagen von Kindern und Jugendlichen. 377 Daher bedarf es eines Gutachtens zur Glaubhaftigkeit eines Zeugen nur, wenn die Eigenart des Einzelfalls eine besondere Sachkunde erfordert. 378 Wird die Prüfung der Glaubhaftigkeit eines Zeugen in das Ermittlungsverfahren vorverlagert, findet ein wesentlicher Teil der Wahrheitsfindung außerhalb der Hauptverhandlung statt. 379 Selbst wenn der Beschuldigte nach § 147 Abs. 7 StPO eine Abschrift des jeweiligen Gutachtens erhält, ist er meist überfordert, sich damit auseinanderzusetzen. 380 Um die Grundlagen des Gutachtens nachzuprüfen und eventuelle Widersprüchlichkeiten aufzudecken, wäre vollständige Akteneinsicht erforderlich, die nur der Verteidiger erhält. 381 Zudem wird nur ein Verteidiger die vom BGH in neuerer Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Erstellung von Schuldfähigkeits- und aussagepsychologischen Gutachten überprüfen können. 382 Danach hat sich der Sachverständige bei der forensischen Begutachtung methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerecht werden. 383 Existieren mehrere anerkannte und indizierte Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. 384 In seinem Gutachten hat der Sachverständige nach den Geboten der Nachvollziehbarkeit und der Transparenz für 376

BGH JR 1955, 189, 190; OLG Karlsruhe StV 1991, 199, 200; StV 1987, 518; OLG Koblenz MDR 1976, 776; AK-Stern § 140 Rn. 41; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 75; Meyer-Goßner § 140 Rn. 26a. 377 BGHSt 3, 27, 28 f.; 3, 52, 53 f.; 8, 130, 131; BGH NStZ 1981, 400; 1985, 420; 1997, 355, 356; 2001, 105; 2005, 394; StV 1994, 173; 1995, 115; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 699 ff.; Bockelmann GA 1955, 321, 327; Th. Fischer NStZ 1994, 1; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 104; Kett-Straub ZStW 117 (2005), 354, 355; KK-Fischer § 244 Rn. 51; LR-Becker § 244 Rn. 84 ff.; Meyer-Goßner § 244 Rn. 74; Nack StV 1994, 555, 557. 378 BGHSt 3, 27, 28 f.; 3, 52, 54; 8, 130, 131; BGH NStZ 1981, 400; 1985, 420, 421; 1997, 355, 356; 2001, 105; NStZ-RR 1997, 171 f.; 2006, 241; StV 1993, 567; 1994, 173; 1994, 634, 635; 1995, 115; 1997, 60, 61; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 699 ff.; Bockelmann GA 1955, 321, 327; Burhoff, Handbuch, Rn. 906; Eisenberg JZ 1984, 912; Th. Fischer NStZ 1994, 1 f.; Geppert Jura 1993, 249, 252; Kett-Straub ZStW 117 (2005), 354, 363; KK-Fischer § 244 Rn. 51; LR-Becker § 244 Rn. 84 ff.; Mayer, FS Mezger, 455, 475; Meyer-Goßner § 244 Rn. 74; Nack StV 1994, 555, 557; ders. StraFo 2001, 1, 4; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, Rn. 143. Weitergehend BGHSt 7, 82, 83; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 215. 379 Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 167 f.; Krauß ZStW 85 (1973), 320, 332; Roesen NJW 1964, 442, 443; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, S. 2 f. 380 Lehmann StV 2003, 356, 358. 381 Lehmann StV 2003, 356, 358. 382 Näher BGHSt 45, 164 ff.; 49, 45 ff.; Boetticher, Sonderheft Schäfer, 8 ff.; ders. / Nedopil / Bosinski / Saß NStZ 2005, 57 ff. 383 BGHSt 45, 164, 169; 49, 45, 51. 384 BGHSt 45, 164, 169; 49, 45, 51.

168

Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

alle Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen und auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist. 385 Eine vorherige Verteidigerbeiordnung ist ausnahmsweise dann nicht notwendig, wenn Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre. 386 Bei standardisierten Gutachten erschöpft sich die Tätigkeit des Sachverständigen in der Vornahme einer bloßen Verrichtung (etwa der Entnahme einer Blutprobe oder der Herstellung von Röntgenaufnahmen) oder der Feststellung bestimmter Tatsachen (etwa der Blutalkoholkonzentration). Der Untersuchungszweck kann gefährdet sein, wenn die sofortige Besichtigung einer aufgefundenen Leiche durch einen Gerichtsmediziner erforderlich ist. In diesen Fällen muss einem Verteidiger zunächst keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Sobald eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht mehr zu besorgen ist, sind Beiordnung und Anhörung eines Verteidigers unverzüglich nachzuholen. 387 Bei bloßer Verzögerung des Verfahrens durch die vorherige Beiordnung eines Verteidigers kann jedoch nicht von der Bestellung abgesehen werden, wenn dadurch nicht der Verlust von Beweismitteln zu befürchten ist. Hier überwiegt das Recht des Beschuldigten auf rechtliches Gehör den Beschleunigungsgrundsatz. Vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren ist dem unverteidigten Beschuldigten daher von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 oder 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger beizuordnen, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre. Eine Beiordnung (nur) auf Antrag des Beschuldigten scheidet aus, da der Beschuldigte regelmäßig nicht die erforderliche Sachkunde besitzt, einen geeigneten Sachverständigen zu benennen oder sich zu einem Vorschlag der Staatsanwaltschaft zu äußern. Zur Klarstellung sollte die Hinzuziehung von Sachverständigen (mit Ausnahme standardisierter Gutachten und bei Gefährdung des Untersuchungszwecks) in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufgenommen werden. 388 385

BGHSt 45, 164, 178; 49, 45, 51. Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 103 ff.; Lürken NJW 1968, 1161, 1164; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 255; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 52. 387 Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 99, 103 f.; Lürken NJW 1968, 1161, 1164; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64. 388 Dedy, Ansätze, S. 192; Dippel, Stellung des Sachverständigen, S. 104 f.; Krekeler AnwBl. 1986, 62, 64; E. Müller, FS Lüke, 493, 501; Stellungnahme des DAV zum Diskussionsentwurf, S. 13 f. 386

Kap. 6: Zusammenfassung und Ergebnis

169

Kapitel 6

Zusammenfassung und Ergebnis Nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers war das Ermittlungsverfahren nur von untergeordneter Bedeutung, es sollte lediglich vorläufige Ergebnisse liefern und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 170 StPO vorbereiten. Erst in der Hauptverhandlung, in der die Beweise erhoben werden und die den „Kern des Strafverfahrens“ darstellen sollte, brauchten die Mitwirkungsund Verteidigungsrechte des Beschuldigten volle Wirksamkeit zu entfalten. Das sollte grundsätzlich auch für die notwendige Verteidigung gelten. 389 Demgegenüber hat sich die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens entscheidend gewandelt. Die meisten Beweiserhebungen finden heutzutage bereits im Ermittlungsverfahren statt und werden in der Hauptverhandlung nur noch wiederholt bzw. reproduziert. 390 Fehler aus dem Ermittlungsverfahren können später kaum noch korrigiert werden und wirken bis zum Urteil fort. Die verfahrensprägende Kraft des Ermittlungsverfahrens ist daher inzwischen allgemein anerkannt. Die in der Hauptverhandlung geltenden Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit können dann ebenso wenig wie eine erst im Hauptverfahren einsetzende notwendige Verteidigung eine Korrektur der Ermittlungsergebnisse bewirken. Insbesondere der in der Hauptverhandlung geltende Unmittelbarkeitsgrundsatz erfährt zahlreiche Einschränkungen durch die Verlesung von Protokollen und Gutachten, die Vernehmung von Verhörspersonen und die von der herrschenden Ansicht gebilligte ausgeprägte Vorhaltepraxis. Aufgrund der geringen Freispruchsquote in der Hauptverhandlung bedeutet die Anklageerhebung in den meisten Fällen auch, dass es zu einer Verurteilung des Beschuldigten kommt. 391 Der Schwerpunkt der Verteidigertätigkeit liegt daher nach moderner Auffassung im Ermittlungsverfahren. Soll die Verteidigung effektiv und wirksam sein, muss sie bereits in der Phase des Verfahrens ansetzen, in der die Weichen für den weiteren Verlauf des Verfahrens gestellt werden. Das gilt vor allem dann, wenn Beweiserhebungen stattfinden, die den weiteren Verlauf des Verfahrens entscheidend prägen und bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. 389

Vgl. Motive des Entwurfs bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 143. Nach Schünemann (FS Pfeiffer, 461, 483) ist die Hauptverhandlung meist nur noch eine „aufwendig inszenierte Absegnung der bereits im Ermittlungsverfahren erzielten Ergebnisse“. 391 E. Müller AnwBl. 1986, 50, 51; ders., in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 61, 64; Rieß, FS Schäfer, 155, 208; Schreiber, FS Baumann, 383, 385; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 126. Die Freispruchsquote beträgt nur ca. 3%, vgl. Dahs jr., Handbuch, Rn. 1. 390

170

Teil 2: Ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen

Zwar sollte nach dem Gesetzgeber der RStPO die Verteidigung grundsätzlich erst im Hauptverfahren notwendig sein. Aber bereits der historische Gesetzgeber erkannte die Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers bei verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen: „... bei der Sammlung der Beweise im Vorverfahren [wird] die Zulassung der Vertheidigung namentlich nur soweit erforderlich ..., als durch sie Einseitigkeiten und Irrthümern der Behörden in Fällen, in welchen eine Wiederholung oder Nachholung nicht füglich geschehen kann, rechtzeitig vorgebeugt werden kann.“ 392 „Eine Mitwirkung des Vertheidigers im Vorverfahren ist namentlich dann von besonderer Wichtigkeit, wenn Beweisaufnahmen stattfinden, welche sich in der Hauptverhandlung nicht wiederholen lassen, wie z. B. die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen, welche voraussichtlich in der Hauptverhandlung nicht erscheinen können und dergleichen mehr.“ 393

Auch der sog. Inertia-Effekt zwingt zu einer möglichst frühzeitigen effektiven Verteidigung. Denn je später die entlastenden Momente in das Verfahren eingebracht werden, umso weniger können sie die richterliche Entscheidung beeinflussen, da zum bisherigen Kenntnisstand dissonante (entlastende) Informationen systematisch unterschätzt werden, während bestätigende (belastende) Informationen überschätzt werden. Der unverteidigte Beschuldigte hat daher Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers bereits im Ermittlungsverfahren, wenn ein gewichtiger Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO vorliegt und verfahrensprägende Beweiserhebungen stattfinden, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Dieser Anspruch ergibt sich aus einer am Recht auf Beweisteilhabe als Teil eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK) i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO. Das betrifft insbesondere die Vernehmung des Beschuldigten, die richterliche Zeugenvernehmung, die Identifizierungsgegenüberstellung, die richterliche Augenscheinseinnahme und (auch nichtrichterliche) Tatrekonstruktion sowie die Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren. Dem unverteidigten Beschuldigten ist bereits vor einer entsprechenden Ermittlungsmaßnahme ein Verteidiger zu bestellen, damit dieser ausreichend Gelegenheit hat, den Beschuldigten zu beraten und gegebenenfalls Akteneinsicht zu nehmen. Dabei ist mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten und seine spätere Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung grundsätzlich zwischen obligatorischer und antragsgebundener notwendiger Verteidigung zu unterscheiden: Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen und finden im Ermitt392 393

Bericht der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Zweite Abtheilung, S. 1533. Motive des Entwurfs bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 142.

Kap. 6: Zusammenfassung und Ergebnis

171

lungsverfahren Beweiserhebungen statt, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen, ist dem unverteidigten Beschuldigten von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO vor der entsprechenden Ermittlungsmaßnahme ein Verteidiger beizuordnen. Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten vor einer entsprechenden Ermittlungsmaßnahme auf seinen Antrag nach § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen. Da dem Beschuldigten im Falle der Beauftragung eines Sachverständigen in der Regel die erforderliche Sachkunde fehlt, einen geeigneten Sachverständigen vorzuschlagen oder zu einem Vorschlag der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen, ist dem unverteidigten Beschuldigten vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren stets von Amts wegen gem. §§ 140 Abs. 1 oder 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre. Auch im Falle von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung ist dem unverteidigten Beschuldigten aufgrund seiner besonderen Hilfe- und Schutzbedürftigkeit bereits für seine haftrichterliche Vernehmung gem. §§ 140 Abs. 1 oder 2, 141 Abs. 3 S. 1 StPO von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen. Bei sonstigen Ermittlungsmaßnahmen, bei denen weder Beschuldigtem noch Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen, braucht dem Beschuldigten dagegen kein Verteidiger beigeordnet zu werden. Das betrifft etwa die Mitbeschuldigtenvernehmung, 394 die polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmung, die Durchsuchung und Beschlagnahme, die körperliche Untersuchung, die Identitätsfeststellung und andere erkennungsdienstliche Maßnahmen sowie heimliche Ermittlungsmaßnahmen.

394

Nach der Rechtsprechung besteht auch bei richterlichen Mitbeschuldigtenvernehmungen kein Anwesenheitsrecht, vgl. BGHSt 42, 391, 393 ff.; 53, 191, 197; BGH NStZ 2010, 159.

Teil 3

Verfahrensrechtliche Aspekte Kapitel 1

Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren A. Antrag I. Antragspflicht der Staatsanwaltschaft Nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO kann der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Die Staatsanwaltschaft beantragt dies, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 StPO notwendig sein wird, § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. Dabei räumt § 141 Abs. 3 S. 2 StPO der Staatsanwaltschaft kein Ermessen ein. Vielmehr beinhaltet die Vorschrift eine Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Antragstellung, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. 1 Bereits aus dem Wortlaut „beantragt dies“ ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen muss, wenn abzusehen ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. 2 Die Entstehungsgeschichte bestätigt diese Auslegung. 1

BGHSt 46, 93, 98 f.; 47, 172, 176; LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; AG Hamburg StV 2004, 11, 12; AK-Stern § 141 Rn. 7, 11; Beckemper NStZ 1999, 221, 222 f.; dies. JA 2002, 634, 638; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 171; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 49; Dähn JA 1979, 579, 582; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725; Klemke StV 2002, 414, 415; ders. StV 2003, 413, 414; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 121 ff.; Köster StV 1993, 512; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24a; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 229; Meier GA 2004, 441, 452; Neuhaus JuS 2002, 18, 20; Roxin JZ 2002, 898, 899; ders. / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 24; G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rn. 72, 77; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 135 f.; Sowada NStZ 2005, 1, 4; Stalinski StV 2008, 500; Teuter StV 2005, 233; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 51; Wohlers JR 2002, 294, 295. 2 BGHSt 46, 93, 98 unter Hinweis auf die Formulierungen in § 201 Abs. 1 und § 349 Abs. 3 S. 1 StPO; ebenso AG Hamburg StV 2004, 11, 12.

Kap. 1: Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

173

Schon nach der RStPO vom 01. 02. 1877 konnte dem Beschuldigten bereits im Vorverfahren ein Verteidiger bestellt werden. Der damalige § 142 RStPO lautete: „Die Bestellung des Vertheidigers kann schon während des Vorverfahrens erfolgen.“

Mit Verordnung vom 13. 03. 1940 3 trat § 142 RStPO außer Kraft. In § 7 Abs. 1 S. 2 der Verordnung wurde jedoch im Anschluss an die Regelung zur Verteidigerbestellung im Hauptverfahren folgende Bestimmung aufgenommen: „Die Bestellung kann auch schon während des Vorverfahrens erfolgen.“

Durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. 09. 1950 4 wurde die Bestimmung wieder in die StPO eingeführt und erhielt in § 141 Abs. 1 S. 2 StPO folgende Fassung: „Der Verteidiger kann auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden.“

Mit dem Strafprozeßänderungsgesetz (StPÄG) vom 19. 12. 1964 5 fand diese Regelung in § 141 Abs. 3 StPO ihren Platz. Zudem wurden folgende Sätze angefügt: „Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft soll diesen Antrag stellen, falls die Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird.“

Durch das 1. StVRG vom 09. 12. 1974 erhielt § 141 Abs. 3 StPO die folgende Fassung: „Der Verteidiger kann auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Die Staatsanwaltschaft beantragt dies, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird. Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen.“

Die immer strenger werdende Formulierung von einer Kann- über eine Sollbestimmung bis hin zum heutigen Wortlaut „beantragt dies“ macht den Willen des 3 Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften v. 13. 03. 1940, RGBl. I 1940, S. 489. 4 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12. 09. 1950, BGBl. 1950, S. 455. 5 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) v. 19. 12. 1964, BGBl. I 1964, S. 1067.

174

Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Gesetzgebers deutlich, die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker ausbauen zu wollen und deshalb eine Antragspflicht gesetzlich anzuordnen. 6 Die Staatsanwaltschaft ist während des gesamten Ermittlungsverfahrens verpflichtet, die Notwendigkeit der Verteidigung anhand des Standes der Ermittlungen zu prüfen. 7 Ist die Staatsanwaltschaft der Auffassung, dass die Verteidigung im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, muss sie den Beiordnungsantrag stellen, ein weiteres Ermessen wird ihr nicht eingeräumt. 8 Der Staatsanwaltschaft steht diesbezüglich lediglich ein Beurteilungsspielraum zu. 9 Dieser kann sich jedoch je nach Lage des Falles auf nur eine pflichtgemäße Entscheidung einengen. 10 Einen solchen Fall hat die Rechtsprechung bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen zeugnisverweigerungsberechtigten Belastungszeugen unter Ausschluss des Beschuldigten bejaht. 11 Der 1. Strafsenat des BGH ließ in BGHSt 46, 93 ff. allerdings noch ausdrücklich offen, ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen. 12 In der nachfolgenden Entscheidung BGHSt 47, 172 ff. nahm der 1. Senat eine Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO jedenfalls dann an, wenn gegen den Beschuldigten der dringende Tatverdacht eines Verbrechens besteht (vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO) und der Beschuldigte tatsächlich auch des Beistandes eines Verteidigers bedarf. 13 Dies sei stets der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Erlass eines Haftbefehls wegen eines Verbrechens stellt. 14 Die Staatsanwaltschaft dürfe einen Anfangsverdacht jedoch zunächst so weit abklären, dass sie eine tragfähige Grundlage für ihre Beurteilung gewinnt. 15 6 BGHSt 46, 93, 98 f.; Kunert NStZ 2001, 217; Pfeiffer § 141 Rn. 2; Roxin JZ 2002, 898, 899. 7 Hartman-Hilter, Notwendige Verteidigung, S. 162 f.; Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 252 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 50. 8 Beulke, in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 170, 187; Hartman-Hilter, Notwendige Verteidigung, S. 153; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 229 f.; Roxin JZ 2002, 898, 899; Sowada NStZ 2005, 1, 4; Wohlers JR 2002, 294, 295. 9 BGHSt 47, 172, 176; 47, 233, 236; Beckemper NStZ 1999, 221, 223; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 123; Sowada NStZ 2005, 1, 4; Teuter StV 2005, 233; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 51. 10 BGHSt 47, 172, 176; 47, 233, 236; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 721. 11 BGHSt 46, 93, 100 f.; AG Hamburg StV 2004, 11, 12. 12 BGHSt 46, 93, 99. 13 BGHSt 47, 172, 176; ebenso LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24a. 14 BGHSt 47, 172, 176 f. 15 BGHSt 47, 172, 176.

Kap. 1: Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Der 5. Strafsenat des BGH führte in BGHSt 47, 233 ff. demgegenüber aus, dass eine Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren jedenfalls dann zu veranlassen ist, wenn mit im Sinne des § 140 Abs. 1 oder 2 StPO gewichtiger Anklageerhebung zu rechnen ist und eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten die Mitwirkung eines Verteidigers, beispielsweise durch Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts, schon vor Anklageerhebung unerlässlich erfordert. 16 Dem geltenden Recht sei indes nicht zu entnehmen, dass bereits dann, wenn die Staatsanwaltschaft – oder die ermittlungsführende Polizei – im Ermittlungsverfahren den dringenden Verdacht eines Verbrechens oder auch eines gewichtigen Vergehens für begründet erachtet, eine entsprechende Reduzierung des Beurteilungsspielraumes der Staatsanwaltschaft für die Stellung eines Beiordnungsantrages nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO anzunehmen ist. 17 Während der 1. Senat in BGHSt 46, 93 ff. zunächst offen lässt, ob bereits die Prognose notwendiger Verteidigung für das gerichtliche Verfahren die Pflicht zur Antragstellung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren auslöst, verlangt er in BGHSt 47, 172 ff. als weitere Voraussetzung einer Antragspflicht der Staatsanwaltschaft neben dem (dringenden) Tatverdacht eines Verbrechens, dass der Beschuldigte auch tatsächlich des Beistandes eines Verteidigers bedarf. Offenbar weitergehend verlangt der 5. Senat in BGHSt 47, 233 ff. als Voraussetzung einer Antrags- und Bestellungspflicht im Ermittlungsverfahren neben dem dringenden Verdacht eines gewichtigen Tatvorwurfs, dass bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens die Mitwirkung eines Verteidigers zur Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen unerlässlich ist. Zunächst muss festgehalten werden, dass zwischen der Antragspflicht der Staatsanwaltschaft und der Bestellungspflicht des Vorsitzenden zu differenzieren ist. 18 Die Staatsanwaltschaft ist nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird. Der Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft bezieht sich damit (allein) auf die Prognose einer notwendigen Verteidigung in der späteren Hauptverhandlung. 19 § 141 Abs. 3 S. 2 StPO benennt darüber hinaus keine weitere Voraussetzung für die Stellung eines Beiordnungsantrages. 20 Vielmehr ist die Staatsanwaltschaft nach derzeitiger Gesetzesfassung bereits (aber auch nur dann) zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn es absehbar zu einem gerichtlichen Verfahren kommt und in diesem die Verteidi16

BGHSt 47, 233, 236. BGHSt 47, 233, 236 f. In diesem Sinne auch BGH NStZ 2004, 390. 18 Vgl. auch Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 252. 19 Beckemper NStZ 1999, 221, 223; Roxin JZ 2002, 898, 899. 20 Beckemper NStZ 1999, 221, 223; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 252; Neuhaus JuS 2002, 18, 21. 17

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gung notwendig sein wird. Die Staatsanwaltschaft darf einen Anfangsverdacht daher zunächst insoweit abklären, ob ein Sachverhalt vorliegt, der eine Straftat zum Gegenstand hat, die eine notwendige Verteidigung begründet, und ob es absehbar zu einer Hauptverhandlung kommt. Ob der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren auch tatsächlich des Beistandes eines Verteidigers bedarf, ist dagegen nicht für die Antragspflicht der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 S. 2, wohl aber für die Bestellungspflicht des Vorsitzenden nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO entscheidend. 21 Die Beurteilung der Staatsanwaltschaft beinhaltet demzufolge auch eine Prognose dahingehend, ob es überhaupt zu einem Hauptverfahren kommt. Die derzeitige Fassung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO wird damit der gewandelten Bedeutung des Ermittlungsverfahrens nicht gerecht. Die Vorschrift geht von der überholten Vorstellung aus, dass die Hauptverhandlung das „Kernstück des Strafverfahrens“ darstellt und das Ermittlungsverfahren nur von untergeordneter Bedeutung ist. Stattdessen kommt dem Ermittlungsverfahren heute (vor allem durch die Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten) eine eigenständige Erledigungsfunktion zu, die der Gesetzgeber der RStPO so nicht vorgesehen hatte. 22 Der überwiegende Teil der Strafverfahren findet heute bereits im Ermittlungsverfahren seinen Abschluss. 23 Dabei bleibt die Erledigung des Verfahrens nicht immer folgenlos für den Beschuldigten. Im Wege des Strafbefehls gem. §§ 407 ff. StPO können gegen den Beschuldigten unter anderem Geldstrafe, Fahrverbot, Entziehung der Fahrerlaubnis und – wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat – Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird, festgesetzt werden. Die Einstellung des Verfahrens kann gem. § 153a StPO gegen die Erfüllung von Auflagen und Weisungen erfolgen. Die Entscheidung trifft in erster Linie jedoch nicht ein unabhängiges Gericht, sondern die Staatsanwaltschaft. 24 Der Beistand eines Verteidigers zur Kontrolle der Justizförmigkeit des Verfahrens und die effektive Einflussnahme auf Beweiserhebungen im Ermittlungs21

Dazu unten Teil 3 Kapitel 1 B. Die RStPO kannte zwar das Strafbefehlsverfahren. Die Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 ff. StPO wurden jedoch erst später eingeführt. 23 Im Jahr 2007 führten lediglich 12,3 % der Ermittlungsverfahren zu einer Anklage (einschließlich Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren und Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren); der überwiegende Teil wurde dagegen bereits im Ermittlungsverfahren durch Antrag auf Erlass eines Strafbefehls (11,9%), Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO (27,3 %), Einstellung nach §§ 153 ff. StPO (21,4%) oder auf sonstigem Wege erledigt, vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Staatsanwaltschaften, Fachserie 10 Reihe 2.6, 2007, Tabelle 2.2.1.1. 24 Vgl. Blankenburg / Sessar / Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, S. 113, 246. 22

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verfahren durch die Ausübung von Anwesenheits- und Fragerechten kann daher auch dann erforderlich sein, wenn (noch) nicht absehbar ist, dass es zu einer Hauptverhandlung kommt. Die Staatsanwaltschaft sollte daher auch dann zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet sein, wenn es nicht absehbar zu einer Hauptverhandlung kommt und der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren des Beistandes eines Verteidigers bedarf. Eine solche – über § 141 Abs. 3 S. 2 StPO hinausgehende – Antragspflicht der Staatsanwaltschaft kann bereits de lege lata aus der staatlichen Fürsorgepflicht hergeleitet werden. Die Vorschriften der notwendigen Verteidigung sind Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens. Sie sichern das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und damit zugleich an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Als Herrin des Ermittlungsverfahrens ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass diese rechtsstaatlichen Grundsätze im Ermittlungsverfahren gewahrt werden. Gegenüber dem regelmäßig benachteiligten unverteidigten Beschuldigten ergibt sich daher aus der staatlichen Fürsorgepflicht die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages im Ermittlungsverfahren auch dann, wenn es nicht absehbar zu einer Hauptverhandlung kommt, der Beschuldigte jedoch bereits im Ermittlungsverfahren des Beistandes eines Verteidigers bedarf und andernfalls das Recht auf ein faires Verfahren und eine effektive Verteidigung verletzt wäre. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Tatvorwurf ein Verbrechen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO betrifft und eine verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahme bevorsteht, bei der dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Das betrifft vor allem die Vernehmung des Beschuldigten, die richterliche Zeugenvernehmung, die Identifizierungsgegenüberstellung sowie die richterliche Augenscheinseinnahme und (auch nichtrichterliche) Tatrekonstruktion. Handelt es sich dagegen um den Tatvorwurf eines sonstigen gewichten Vergehens i. S. d. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO, bleibt es dem Beschuldigten mit Rücksicht auf sein Selbstbestimmungsrecht und seine Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung grundsätzlich überlassen, einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen. In diesen Fällen muss die Staatsanwaltschaft nur dann einen Beiordnungsantrag stellen, wenn dem unverteidigten Beschuldigten die entsprechende Autonomie fehlt. Unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs ist die Staatsanwaltschaft zudem vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers

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gefährdet wäre. Ebenso besteht eine Antragspflicht vor der haftrichterlichen Vernehmung des Beschuldigten im Falle der Untersuchungshaft oder einstweiligen Unterbringung. Die Staatsanwaltschaft ist daher zur Stellung eines Antrages auf Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren zum einen dann verpflichtet, wenn gem. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ein Fall der prognostizierten notwendigen Verteidigung vorliegt. Sie ist zum anderen aber darüber hinaus zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn die staatliche Fürsorgepflicht dies gebietet. II. Antragsrecht des Beschuldigten Ob der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren auch selbst die Beiordnung eines Verteidigers beantragen kann, ist nach derzeitiger Gesetzeslage umstritten. Die bisher herrschende Ansicht verneinte ein Antragsrecht des Beschuldigten vor allem unter Hinweis auf den Wortlaut des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. 25 Indem der Gesetzgeber davon abgesehen habe, die Möglichkeit der Antragstellung durch den Beschuldigten (wie etwa in § 117 Abs. 4 StPO a. F.) zu regeln, habe er ein Antragsmonopol der Staatsanwaltschaft aufstellen wollen. 26 Die Einführung eines Antragsrechts des Beschuldigten bedürfe der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers. 27 Ein entsprechender Antrag des Beschuldigten werde daher nur als Anregung an die Staatsanwaltschaft ausgelegt, ihrerseits einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen. 28 Nach richtiger Ansicht kann der Beschuldigte jedoch bereits im Ermittlungsverfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen. Nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ist zwar die Staatsanwaltschaft bei prognostizierter notwendiger Verteidigung zur Antragstellung verpflichtet, hieraus ergibt sich aber kein Antragsmonopol. 29 25 LG Cottbus StV 2002, 414; Bringewat ZRP 1979, 248, 251; Dähn JA 1979, 579, 580; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 84; KK-Laufhütte § 141 Rn. 6; Kröpil Jura 2010, 765, 766; Meier GA 2004, 441, 452; Meyer-Goßner § 141 Rn. 5; Oellerich StV 1981, 434, 441; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 459; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 52; Weider StV 1987, 317, 318. 26 Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 53. 27 Bringewat ZRP 1979, 248, 252. 28 KK-Laufhütte § 141 Rn. 6; Kröpil Jura 2010, 765, 766; Meyer-Goßner § 141 Rn. 5. 29 LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; LG Bremen StV 1999, 532; AK-Stern § 141 Rn. 7; Beckemper NStZ 1999, 221, 226; Burhoff, Handbuch, Rn. 1333; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 92 f.; Dedy, Ansätze, S. 177 f.; M. Hahn, Notwendige Verteidigung, S. 30 Fn. 88; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725 f.; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 120 ff.; Klemke StV 2002, 414, 415; ders. StV 2003, 413, 414; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 131 ff.; Köster StV 1993, 512; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24; Mehle,

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Der Wortlaut des § 141 Abs. 3 StPO steht einer Antragstellung durch den Beschuldigten nicht entgegen. 30 § 141 Abs. 3 S. 1 räumt dem gem. § 141 Abs. 4 StPO zuständigen Richter das Recht zur Bestellung eines Verteidigers schon im Ermittlungsverfahren ein. Der Gesetzeswortlaut enthält dabei keine Beschränkung der richterlichen Befugnis. 31 Eine Einschränkung (allerdings zugunsten des Beschuldigten) ergibt sich erst nach Abschluss der Ermittlungen aus § 141 Abs. 3 S. 3 StPO. 32 § 141 Abs. 3 S. 2 StPO enthält lediglich die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, den Antrag zu stellen, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen. 33 Eine „Alleinentscheidungskompetenz“ der Staatsanwaltschaft würde zudem der Aufgabenverteilung im Ermittlungsverfahren zwischen der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde und den zur Gewährleistung eines justizförmigen Verfahrens eingeschalteten Gerichten widersprechen. 34 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Stellung der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Denn die Bestellung eines Verteidigers steht gem. § 141 Abs. 4 StPO ausschließlich dem Vorsitzenden bzw. Haftrichter zu. 35 Dessen Prüfungskompetenz reicht aus, um unbegründete Anträge des Beschuldigten abzulehnen. 36 Andernfalls läge es in der Hand der Staatsanwaltschaft, eine Antragstellung zu unterlassen oder soweit hinauszuschieben, bis durch die Ermittlungen „vollendete Tatsachen“ geschaffen wurden. 37 Zudem stünde der Beschuldigte vor der „Überwindung einer doppelten Hürde“ 38. Erst prüfte die Staatsanwaltschaft die Notwendige Verteidigung, S. 297; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 155; ders. JuS 2002, 18, 20; Pfeiffer § 141 Rn. 2; G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rn. 77; Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, § 141 Rn. 5; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 222; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 349; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 731. Offengelassen von OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315, 316. 30 LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; AK-Stern § 141 Rn. 7; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725; Klemke StV 2002, 414, 415; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 132; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 292 f.; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 155; ders. JuS 2002, 18, 20. 31 LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; LG Bremen StV 1999, 532; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 24; Klemke StV 2002, 414, 415; ders. StV 2003, 413, 414; Köster StV 1993, 512, Stalinski StV 2008, 500, 501 f. 32 Köster StV 1993, 512. 33 AK-Stern § 141 Rn. 7; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725; Köster StV 1993, 512; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 294. 34 Beckemper NStZ 1999, 221, 226; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 128; Klemke StV 2002, 414, 415; ders. StV 2003, 413, 414; Köster StV 1993, 512; Stalinski StV 2008, 500, 502. 35 LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 155; ders. JuS 2002, 18, 20. 36 Beckemper NStZ 1999, 221, 226; Dedy, Ansätze, S. 177 f.; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 349.

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Notwendigkeit einer Verteidigung im Ermittlungsverfahren, nach Antragstellung durch diese der Vorsitzende. Der Einbeziehung der Staatsanwaltschaft als „vorgeschalteter Kontrollinstanz“ bedarf es daher nicht. 39 Das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches Verfahren und eine effektive Verteidigung kann nicht zur Disposition der Strafverfolgungsbehörden stehen. 40 III. Ergebnis Nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. Aufgrund der staatlichen Fürsorgepflicht ist die Staatsanwaltschaft darüber hinaus, unabhängig davon, ob es absehbar zu einem gerichtlichen Verfahren kommt, bereits nach derzeitiger Gesetzeslage zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn der Tatvorwurf ein Verbrechen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO betrifft und eine Ermittlungsmaßnahme bevorsteht, bei der dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Zudem ist die Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn dem unverteidigten Beschuldigten die entsprechende Handlungskompetenz fehlt, die Auswahl eines Sachverständigen bevorsteht (es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre) oder der Beschuldigte im Falle der Untersuchungshaft oder einstweiligen Unterbringung haftrichterlich vernommen werden soll. Daneben kann der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren die Beiordnung eines Verteidigers beantragen. Das gilt auch in den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft zur Antragstellung verpflichtet ist, die Notwendigkeit einer Verteidigerbeiordnung jedoch anders beurteilt oder schlicht versäumt. Die Prüfungskompetenz des nach § 141 Abs. 4 StPO zuständigen Richters reicht aus, um unbegründete Anträge des Beschuldigten abzulehnen. Zur Klarstellung sollte das Antragsrecht des Beschuldigten jedoch ausdrücklich gesetzlich geregelt werden. 41

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Klemke StV 2002, 414, 415; ders. StV 2003, 413, 414. Weider StV 1987, 317, 318. 39 Beckemper NStZ 1999, 221, 226; Hamm, FS Lüderssen, 717, 726 Fn. 29; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 122; Weider StV 1987, 317, 319. 40 AK-Stern § 141 Rn. 10; Burhoff, Handbuch, Rn. 1333; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 124; Klemke StV 2003, 413, 414; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 296; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 156; ders. JuS 2002, 18, 20; Pfeiffer § 141 Rn. 2. 38

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Ein Antragsrecht des Beschuldigten entbindet die Staatsanwaltschaft jedoch nicht von einer selbständigen Prüfung, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt. 42

B. Bestellungspflicht Von der Antragspflicht der Staatsanwaltschaft ist die Bestellungspflicht des nach § 141 Abs. 4 StPO zuständigen Richters zu unterscheiden. Nach § 141 Abs. 3 S. 1 StPO kann der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Nach einer Ansicht räumt § 141 Abs. 3 S. 1 StPO dem Vorsitzenden kein Ermessen ein, auch wenn der Wortlaut insoweit missverständlich erscheine. 43 Nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift habe hierdurch nur verdeutlicht werden sollen, dass dem Beschuldigten – im Gegensatz zum früheren geheimen Inquisitionsprozess – überhaupt bereits im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger bestellt werden darf. 44 Bejaht der Vorsitzende die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 oder 2 StPO, müsse er dem unverteidigten Beschuldigten gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO einen Verteidiger bestellen. Trotz dieser Verpflichtung des Vorsitzenden zur Verteidigerbestellung verbleibe der Vorschrift ein eigenständiger Regelungsgehalt. Denn der Vorsitzende sei vor Abschluss der Ermittlungen nicht an die Beurteilung der Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Vorliegens einer notwendigen Verteidigung gebunden. 45 Dies sei nur dann der Fall, wenn der Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt ist (§ 169a StPO). Dann müsse er gem. § 141 Abs. 3 S. 3 StPO auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Verteidiger bestellen. Nach zutreffender Auffassung liegt eine Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren jedoch grundsätzlich im (pflichtgemäßen) Ermessen des Vorsitzen41 Bringewat ZRP 1979, 248, 252; Dedy, Ansätze, S. 177 f.; Diskussionsentwurf § 141 Abs. 3 S. 2 DE; Entwurf des DAV, § 141 Abs. 3 S. 2 StPO-Entwurf; Meier GA 2004, 441, 454; Satzger, Gutachten, C 90 f. 42 Dedy, Ansätze, S. 189 f.; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 188; Neuhaus JuS 2002, 18, 20. 43 Beulke, in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 170, 187; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 48 ff.; Hartman-Hilter, Notwendige Verteidigung, S. 153 ff.; Klemke StV 2003, 413, 414; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 135 f.; Sowada NStZ 2005, 1, 4; M. Walter NStZ 1987, 481, 484. 44 Beulke, in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 170, 187; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 49; M. Walter NStZ 1987, 481, 484. 45 Beulke, in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 170, 187; Hartman-Hilter, Notwendige Verteidigung, S. 153; Klemke StV 2003, 413, 414; Sowada NStZ 2005, 1, 4.

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den. 46 Hierfür spricht zunächst der Wortlaut des § 141 Abs. 3 S. 1 StPO. Danach „kann“ dem Beschuldigten ein Verteidiger schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Auch die systematische Auslegung steht der Annahme eines Ermessensspielraumes nicht entgegen. Während § 140 StPO die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung benennt, ist der Zeitpunkt einer Verteidigerbestellung in § 141 StPO geregelt. Nach § 141 Abs. 1 StPO „ist“ dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 bis 8 und Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, sobald er gemäß § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. Ergibt sich erst später, dass ein Verteidiger notwendig ist, so „wird“ er sofort bestellt, § 141 Abs. 2 StPO. Aus dem Wortlaut der beiden Bestimmungen ergibt sich, dass ab diesen Zeitpunkten die Verteidigerbestellung obligatorisch ist. Demgegenüber enthält § 141 Abs. 3 S. 1 StPO keine eindeutige Verpflichtung zur Beiordnung eines Verteidigers. Eine solche ergibt sich auch nicht aus einem Zusammenhang mit der Antragsverpflichtung der Staatsanwaltschaft. Nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. Die Entscheidung über die Verteidigerbestellung trifft der Vorsitzende jedoch unabhängig von der Beurteilung der Staatsanwaltschaft. So heißt es in der Gesetzesbegründung zur Einführung der Sätze 2 und 3 in § 141 Abs. 3 StPO mit StPÄG vom 19. 12. 1964: „Wenn sonst die Frage entsteht, ob dem Beschuldigten schon im vorbereitenden Verfahren ein Verteidiger bestellt werden soll (Absatz 3 Satz 1), entscheidet der Richter nach Prüfung der Akten ohne Bindung an die Auffassung der Staatsanwaltschaft darüber, ob in dem zu erwartenden gerichtlichen Verfahren die Verteidigung voraussichtlich nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird.“ 47 Eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Antragstellung führt damit nicht zwingend auch zu einer Bestellungspflicht des Vorsitzenden. 48 Eine Einschränkung des richterlichen Ermessens ist – zugunsten des Beschuldigten – erst in § 141 Abs. 3 S. 3 und 4 StPO vorgesehen. 46 BGHSt 46, 93, 99; 47, 233, 236; AG Hamburg StV 2004, 11, 12; Beulke, FS Rieß, 3, 18; Eisenberg NJW 1991, 1257, 1262; Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 251; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 126 f.; KMR-Müller § 141 Rn. 1; Kohlmann, FS Peters, 311, 320; LR-Lüderssen / Jahn § 140 Rn. 6, § 141 Rn. 24; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 252; ders. NJW 2007, 969, 972; Schlothauer StV 2001, 127, 128; Eb. Schmidt JZ 1969, 316, 318; H. Schmidt, Pflichtverteidigung, S. 134; Stalinski StV 2008, 500. 47 BT-Drs. 3/2037, S. 29. 48 Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 230 f.

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Auch die Entstehungsgeschichte spricht dafür, dass dem Vorsitzenden ein Ermessen eingeräumt werden sollte. 49 Im Entwurf der RStPO von 1874 war eine Verteidigerbestellung für das Vorverfahren noch nicht vorgesehen. Da Schwerpunkt des Verfahrens die mündliche Hauptverhandlung darstellen sollte, wurde die notwendige Verteidigung im Vorverfahren für entbehrlich gehalten, wenngleich sie in manchen Fällen „erwünscht“ gewesen sein mag. 50 § 126 des Entwurfs 51 lautete: „In Sachen, welche zur Zuständigkeit des Reichsgerichts gehören, oder vor dem Schwurgerichte zu verhandeln sind, ist, sobald die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen worden, dem Beschuldigten, welcher einen Vertheidiger noch nicht gewählt hat, ein solcher von Amtswegen zu bestellen. In anderen Strafsachen kann das Gericht und in dringenden Fällen der Vorsitzende desselben auf Antrag oder von Amtswegen einen Vertheidiger bestellen. Die Bestellung ist zurückzunehmen, wenn demnächst ein anderer Vertheidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt.“

In der ersten Lesung wurde eine Erweiterung der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung diskutiert. 52 Der Abgeordnete Dr. Wolffson stellte unter anderem den Antrag, in § 126 Abs. 2 hinter „Strafsachen“ die Worte „und schon während des Vorverfahrens“ einzufügen. 53 Die Vorschrift hätte also folgenden Wortlaut gehabt: „In anderen Strafsachen und schon während des Vorverfahrens kann das Gericht und in dringenden Fällen der Vorsitzende desselben auf Antrag oder von Amtswegen einen Vertheidiger bestellen.“

Zur Begründung führte er aus, dass er dem Gericht bzw. dem Vorsitzenden die Befugnis geben wolle, dem Angeklagten auch im Vorverfahren einen Verteidiger bestellen zu können. 54 Der Abgeordnete Struckmann schloss sich diesem Antrag an, „da Alles dem Ermessen des Gerichts anheimgestellt würde, und Fälle vorkommen könnten, wo es wünschenswert sei, daß bereits im Vorverfahren ein Vertheidiger bestellt werde.“ 55 Auch der Geheime Oberregierungsrath Hanauer befürwortete diesen Antrag. Eine Erweiterung der notwendigen Verteidigung lehnte er ab: „Bei der großen Mannigfaltigkeit der Fälle müsse es 49 50 51

S. 19.

Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 240 ff. Vgl. Motive des Entwurfs bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 143. Vgl. Entwurf zur Strafprozeßordnung bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung,

52 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 957 ff. 53 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 958. 54 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 960. 55 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 960.

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genügen, wenn man im Uebrigen die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts stelle.“ 56 Da Bedenken geäußert wurden, ob genügend qualifizierte Verteidiger zur Verfügung stehen und eine Ausdehnung der notwendigen Verteidigung die Staatskasse und die Verteidiger belasten würde, sollte es dem Ermessen der Gerichte überlassen bleiben, in anderen Fällen einen Verteidiger zu bestellen. Dem Gericht sollte nach Ansicht des Direktors von Amsberg ein möglichst weiter Spielraum gewährt werden. 57 Der Antrag Wolffsons wurde angenommen. 58 Nach der ersten Lesung wurde die notwendige Verteidigung in § 126 auf die erstinstanzliche Verhandlung vor dem Landgericht ausgedehnt, wenn der Beschuldigte der Gerichtssprache nicht mächtig, taub oder stumm ist oder das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet und der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter die Bestellung eines Verteidigers beantragt. Die bisherigen Absätze 2 und 3 wurden in § 126a und § 126b übernommen. § 126a erhielt folgende Fassung: „In anderen als den in § 126 bezeichneten Sachen kann das Gericht und in dringenden Fällen der Vorsitzende desselben auf Antrag oder von Amtswegen einen Vertheidiger bestellen. Die Bestellung kann schon während des Vorverfahrens erfolgen.“

Nach der zweiten Lesung wurde § 126a S. 2 in § 126b übernommen und auf Antrag des Abgeordneten Struckmann wie folgt gefasst: „Die Bestellung des Vertheidigers kann schon während des Vorverfahrens erfolgen.“

Da es sich lediglich um eine redaktionelle Änderung handelte, wurde der Antrag ohne weitere Debatte angenommen. 59 Die Vorschrift wurde unverändert als § 142 in die RStPO aufgenommen. Nach Ansicht des historischen Gesetzgebers sollte dem Gericht bzw. dem Vorsitzenden daher hinsichtlich einer Verteidigerbestellung im Vorverfahren ein Ermessen eingeräumt werden. 60 Dieses Ermessen des Vorsitzenden kann sich jedoch je nach Lage des Falles auf nur eine pflichtgemäße Entscheidung einengen (sog. Ermessensreduktion auf Null). 61

56

Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 960. Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 962. 58 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Erste Abtheilung, S. 962. 59 Vgl. Protokolle der Kommission bei C. Hahn, Materialien, Zweite Abtheilung, S. 1274. 60 Vargha, Vertheidigung, S. 321. 57

Kap. 1: Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Allein die Prognose einer notwendigen Verteidigung für das gerichtliche Verfahren verpflichtet den Vorsitzenden aber noch nicht zu einer Verteidigerbestellung bereits für das Ermittlungsverfahren. 62 Denn für eine Verteidigerbestellung im gerichtlichen Verfahren zu sorgen, ist grundsätzlich Aufgabe des Vorsitzenden des Gerichts, bei dem das Hauptverfahren anhängig ist. Eine Bestellungspflicht bereits im Ermittlungsverfahren ist jedoch anzunehmen, wenn der Beschuldigte zur Wahrnehmung seiner verfahrensmäßigen Rechte bereits zu diesem Zeitpunkt des Beistandes eines Verteidigers bedarf. Aus einer am Recht des Beschuldigten auf Beweisteilhabe i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO folgt der Anspruch des unverteidigten Beschuldigten auf Beiordnung eines Verteidigers bereits im Ermittlungsverfahren, wenn es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO handelt und Ermittlungsmaßnahmen bevorstehen, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Das betrifft vor allem die Beschuldigtenvernehmung, die richterliche Zeugenvernehmung, die Identifizierungsgegenüberstellung, die richterliche Augenscheinseinnahme und (auch nichtrichterliche) Tatrekonstruktion sowie die Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren. Der Vorsitzende ist daher gem. § 140 Abs. 1 oder 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO zur Beiordnung eines Verteidigers verpflichtet, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind und ein Fall der obligatorischen notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren vorliegt oder der Beschuldigte im Fall einer antragsgebundenen notwendigen Verteidigung einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung gestellt hat.

C. Belehrung In BGHSt 47, 233 ff. führte der 5. Strafsenat des BGH noch aus: „Aus dem Alter der zur Zeit der Beschuldigtenvernehmung 20jährigen Angeklagten, aus ihrer Schwangerschaft, ihrer besonderen Betroffenheit über die vorläufige Festnahme unter dem Verdacht des versuchten Mordes und aus ihren mangelnden Deutschkenntnissen lassen sich keine Belehrungs-, Warnungs- oder Hinweispflichten herleiten, die über die gesetzliche Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO hinausgehen.“ 63 61

BGHSt 46, 93, 99; AG Hamburg StV 2004, 11, 12; Beulke, FS Rieß, 3, 18; Hamm, FS Lüderssen, 717, 725; Kalsbach, Pescara-Beiheft, 112, 127; KK-Laufhütte § 141 Rn. 7; Schlothauer StV 2001, 127, 128; wohl auch OLG Oldenburg StV 2009, 401 f. 62 Anders wohl OLG Oldenburg NJW 2009, 3044, 3045.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Zwar geht die StPO davon aus, dass der Beschuldigte grundsätzlich in der Lage ist, seine Rechte eigenverantwortlich durchzusetzen. 64 Der Beschuldigte wird als ein mit souveräner Freiheit und Unabhängigkeit ausgestatteter Prozessbeteiligter angesehen, der selbständig und frei alle Entscheidungen treffen kann. 65 Voraussetzung hierfür ist aber, dass dem Beschuldigten seine prozessualen Rechte auch bekannt sind. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte insbesondere durch seine Festnahme verwirrt, bedrückt oder verängstigt sein kann. 66 Die Belehrungsvorschriften der StPO dienen gerade dazu, dem Beschuldigten seine prozessualen Rechte in der konkreten Verfahrenssituation zur Kenntnis zu bringen oder zumindest aktuell ins Bewusstsein zu rufen, damit dieser als Prozesssubjekt eigenverantwortliche Entscheidungen treffen kann. 67 Die Pflicht, den Beschuldigten über seine Rechte zu belehren, ist Ausdruck der staatlichen Fürsorgepflicht 68 und damit Bestandteil eines fairen Verfahrens. 69 Bereits nach derzeitiger Gesetzeslage ist der Beschuldigte nach § 350 Abs. 3 S. 2 StPO auf sein Antragsrecht hinzuweisen, wenn er selbst die Beiordnung eines Verteidigers beantragen kann. Ebenso sah § 117 Abs. 4 S. 2 StPO a. F. eine Belehrung über das Antragsrecht vor. Der Beschuldigte ist auch über sein Recht, eine Verteidigerbeiordnung bereits im Ermittlungsverfahren beantragen zu können, zu belehren. 70 Nur wenn der Beschuldigte seine Rechte kennt, kann er diese auch ausüben. Durch die Belehrung über das Antragsrecht wird sichergestellt, dass der Beschuldigte seine Entscheidung als eigenständiges Prozesssubjekt trifft. 71 Erst nach dieser Belehrung ist der Beschuldigte in der Lage zu entscheiden, ob er sich selbst oder – auch wenn er 63

BGHSt 47, 233, 235. Giehring, in: Hassemer / Lüderssen (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, 181, 189. 65 BGHSt 42, 170, 171. 66 BGHSt 38, 214, 222; 42, 15, 19. 67 In diesem Sinne auch C. Geyer, Belehrung, S. 13; Eb. Schmidt NJW 1968, 1209; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 110, § 136 Rn. 1. 68 Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 80; Maiwald, FS Lange, 745, 753 f.; Plötz, Fürsorgepflicht, S. 156 f.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 11; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 111. 69 Eb. Schmidt NJW 1968, 1209, 1214; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 110. 70 Dedy, Ansätze, S. 179; Diskussionsentwurf § 136 Abs. 1 S. 4 DE; Entwurf des DAV, § 136 Abs. 1 S. 4 StPO-Entwurf; Herrmann StV 1996, 396, 401; Klemke StV 2003, 413, 414; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 304; Neuhaus StV 2010, 45, 47 f.; Satzger, Gutachten, C 91; Schlothauer / Weider StV 2004, 504, 514; SK-Rogall § 136 Rn. 52; Weider StV 1987, 317, 319. Vgl. auch EGMR, Twalib gg. GR, Rep. 1998-IV, § 55; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 474 f.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, These 10; Wohlers, FS Rudolphi, 713, 731. 71 Inoue, Pflichtverteidigung, S. 188. 64

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die Kosten nicht aufzubringen vermag – unter Hinzuziehung eines Verteidigers verteidigen möchte. Die Belehrungspflicht ergibt sich sowohl aus dem Rechtsgedanken der §§ 117 Abs. 4 S. 2 a. F., 350 Abs. 3 S. 2 StPO als auch aus der staatlichen Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten. Auch der Hinweis auf das Recht, jederzeit einen zu wählenden Verteidiger zu konsultieren (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO), entbindet nicht von der Pflicht zur Belehrung über das Antragsrecht. Denn viele Beschuldigte werden die Beauftragung eines Wahlverteidigers aus Kostengründen scheuen. In neueren Entscheidungen geht auch der 1. Strafsenat des BGH davon aus, dass der Beschuldigte, der die Konsultation eines Verteidigers wünscht, sich jedoch aus Kostengründen keinen Verteidiger leisten kann, jedenfalls bei Kapitaldelikten und sonstigen Verbrechensvorwürfen darauf hinzuweisen ist, dass er im Hinblick auf eine später zu erwartende Pflichtverteidigerbestellung auch sofort einen Verteidiger seines Vertrauens konsultieren oder zumindest telefonischen Kontakt zu einem anwaltlichen Notdienst aufnehmen kann. 72 Allein ein solcher Hinweis genügt jedoch nicht. Denn der Beschuldigte müsste – auch bei Kontaktaufnahme zu einem Verteidiger über den anwaltlichen Notdienst – zunächst in Kauf nehmen, auf eigene Kosten einen Wahlverteidiger zu beauftragen, dessen spätere Beiordnung als Pflichtverteidiger unsicher ist. Der Beschuldigte muss daher bereits vor der Durchführung einer verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahme, bei der dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen, über sein Antragsrecht belehrt werden, damit er Gelegenheit hat, selbst einen Verteidiger nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO zu wählen oder einen Verteidiger seines Vertrauens nach § 142 Abs. 1 S. 1 StPO n. F. zu benennen und sich mit diesem zu beraten. Das gilt auch, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei der entsprechenden Ermittlungsmaßnahme ausgeschlossen ist. Mit der Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Verteidigerbeiordnung vor verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen geht die bereits seit langem erhobene Forderung einher, den Beschuldigten über die Einleitung eines gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens möglichst frühzeitig zu unterrichten (Art. 6 Abs. 3 lit. a), damit dieser ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung erhält (Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK). 73 72 BGH StV 2006, 566, 567; StV 2006, 567, 568; s. auch Beulke / Barisch StV 2006, 569, 570 f.; Burhoff, Handbuch, Rn. 1364; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10. 73 Dazu Dahs jr. NJW 1985, 1113, 1114 f.; Frister StV 1998, 159 ff.; Gillmeister StraFo 1996, 114, 115 f.; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 488 ff., 499 ff.; Mörsch, Rechtsstellung, S. 78 ff.; E. Müller AnwBl. 1986, 50, 53; ders., FG Koch, 191, 196 f.; Roxin, FS Jauch, 183, 192; Sommer, in: Brüssow u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, § 17 Rn. 61; Stade, Stellung des Verteidigers, S. 352 ff.; Wolter, Aspekte, S. 84.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Die Belehrung des Beschuldigten über sein Antragsrecht ist auch dann erforderlich, wenn dem Beschuldigten von Amts wegen ein Verteidiger bestellt werden müsste, denn die Staatsanwaltschaft könnte die Notwendigkeit einer Verteidigerbeiordnung anders beurteilen oder ihre Antragspflicht verkennen. Ob dem Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, entscheidet dann der Vorsitzende auf Antrag des Beschuldigten. Darüber hinaus ist der Beschuldigte, sobald ein Fall der obligatorischen notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren vorliegt, darauf hinzuweisen, dass ihm von Amts wegen ein Verteidiger bestellt wird, falls er nicht selbst einen solchen wählt. 74 Dieser Hinweis ist erforderlich, damit der Beschuldigte auch in diesen Fällen Gelegenheit erhält, selbst einen Verteidiger zu wählen oder einen zu bestellenden Verteidiger seines Vertrauens zu bezeichnen.

D. Rechtsschutz Nach einer Ansicht ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, im Ermittlungsverfahren keinen Beiordnungsantrag zu stellen, nicht anfechtbar. 75 Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Antragstellung sei kein Justizverwaltungsakt, sondern eine Prozesshandlung, die nicht der Anfechtung und Überprüfung nach §§ 23 ff. EGGVG zugänglich sei. 76 Eine gerichtliche Prüfung sei nur ausnahmsweise denkbar, wenn sich die Staatsanwaltschaft willkürlich weigere, einen solchen Antrag zu stellen. 77 Nach anderer Auffassung ist die Ablehnung gerichtlich überprüfbar. Dabei ist wiederum umstritten, ob dem Beschuldigten Rechtsschutz nach §§ 23 ff. EGGVG 78 oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO 79 zu gewähren ist.

74 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 72; Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 254 f.; Roxin JZ 2002, 898, 900; Weider StV 1987, 317, 319. Zur Belehrungspflicht hinsichtlich einer Pflichtverteidigerbestellung gem. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 StPO n. F. vgl. Weider StV 2010, 102, 103. 75 OLG Oldenburg StV 1993, 511 m. Anm. Köster; OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315, 316; LG Cottbus StV 2002, 414 m. abl. Anm. Klemke; KK-Laufhütte § 141 Rn. 6; Kortz, Notwendigkeit der Verteidigung, S. 133; Kröpil Jura 2010, 765, 766 f.; Meier GA 2004, 441, 452; Meyer-Goßner § 141 Rn. 5. 76 OLG Oldenburg StV 1993, 511; OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315, 316; Kröpil Jura 2010, 765, 766. 77 OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315, 316; LG Cottbus StV 2002, 414; Kröpil Jura 2010, 765, 767. 78 AK-Stern § 141 Rn. 32; HK-Julius § 141 Rn. 18; J. T. Müller, Das „right to counsel“, S. 82 Fn. 456; St. Stern StV 1990, 563, 564; Weider StV 1987, 317, 319 f. 79 Burhoff, Handbuch, Rn. 1336; Köster StV 1993, 512, 513.

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Steht dem Beschuldigten allerdings ein eigenes Antragsrecht zu, kann der Streit, ob und gegebenenfalls nach welcher Vorschrift die Ablehnung einer Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft gerichtlich überprüfbar ist, dahinstehen. Ist der Beschuldigte selbst antragsberechtigt, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für die Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft. 80 Dem Beschuldigten steht gegen die Ablehnung seines Antrages auf Verteidigerbeiordnung die Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO offen. 81 Es handelt sich um eine einfache Beschwerde, die an keine Frist gebunden ist. Eine weitere Beschwerde ist nach § 310 Abs. 2 StPO ausgeschlossen. Die Beschwerde kann nur durch den Beschuldigten selbst oder in seinem Namen eingelegt werden. Der Wahlverteidiger, der als Pflichtverteidiger bestellt werden möchte, kann nicht Beschwerde im eigenen Interesse einlegen, da ihm selbst die Beschwer fehlt. 82 Stellt der Beschuldigte allerdings einen Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG oder analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO auf Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, darf dieser nicht als unzulässig verworfen werden. Um effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG zu gewährleisten, ist das Gericht in diesem Fall verpflichtet, das Begehren des Beschuldigten als Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers auszulegen. Der Antrag ist an den nach § 141 Abs. 4 StPO zuständigen Richter weiterzuleiten. 83 Gegen die Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten grundsätzlich kein Rechtsmittel zur Verfügung, da er nicht beschwert ist. 84 Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist nur ausnahmsweise dann anfechtbar, wenn gegen Auswahlgrundsätze verstoßen wurde oder die Unzulässigkeit einer sog. Zwangsverteidigung neben der Wahlverteidigung gerügt werden soll. 85 80

Beckemper NStZ 1999, 222, 225 f.; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 107; Dedy, Ansätze, S. 178; Klemke StV 2002, 414, 416; Köster StV 1993, 512; LR-Böttcher § 23 EGGVG Rn. 124; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 320; Satzger, Gutachten, C 91. Vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315, 316; a. A. wohl AK-Stern § 141 Rn. 32. 81 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 108; Neuhaus ZAP Fach 22, 147, 157; Pfeiffer § 141 Rn. 4. 82 KK-Laufhütte § 141 Rn. 13; LR-Lüderssen / Jahn § 141 Rn. 52; Meyer-Goßner § 141 Rn. 10; Pfeiffer § 141 Rn. 4. 83 Klemke StV 2002, 414, 416; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 320. Vgl. für das Hauptverfahren OLG Stuttgart NJW 2008, 246. 84 BVerfG NJW 1998, 2205; AK-Stern § 141 Rn. 36; Burhoff, Handbuch, Rn. 1298; HK-Julius § 141 Rn. 19; KK-Laufhütte § 141 Rn. 13; KMR-Müller § 141 Rn. 10; Meyer-Goßner § 141 Rn. 9; Molketin, Schutzfunktion, S. 143; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 240 f.; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 153. 85 AK-Stern § 141 Rn. 37; HK-Julius § 141 Rn. 19; KK-Laufhütte § 141 Rn. 13; Meyer-Goßner § 141 Rn. 9; H. Schmidt, Die Pflichtverteidigung, S. 241 f.; SK-Wohlers § 141 Rn. 29.

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E. Zuständigkeit Über die Beiordnung eines Verteidigers entscheidet gem. § 141 Abs. 4, 1. Halbsatz StPO n. F. 86 der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig oder bei dem das Verfahren anhängig ist. Welches Gericht für das Hauptverfahren zuständig sein wird, hängt im Ermittlungsverfahren aber von der Beurteilung der Staatsanwaltschaft ab, wo sie beabsichtigt, Anklage zu erheben. Dem Beschuldigten fehlen die diesbezüglichen Informationen, so dass er nicht weiß, wo er einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung stellen soll. Zudem tritt durch die erforderliche Versendung der Akten an das für das Hauptverfahren zuständige Gericht eine nicht unerhebliche Verzögerung ein. Das hätte nicht nur zur Folge, dass eine anstehende Ermittlungsmaßnahme, bei der die Verteidigung notwendig ist, verschoben werden müsste. Auch der Haftrichter ist gem. §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 4, 2. Halbsatz StPO n. F. erst ab Beginn der Vollstreckung von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung für eine Verteidigerbestellung zuständig. Die Zuständigkeit für die Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren sollte daher de lege ferenda grundsätzlich beim Ermittlungsrichter im Bezirk der zuständigen Staatsanwaltschaft konzentriert werden. 87 Bei einer Vorführung des Beschuldigten im Falle von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung sollte der Haftrichter bereits für die haftrichterliche Vernehmung einen Verteidiger bestellen können. Nach neuerer Rechtsprechung ist der mittellose Beschuldigte zumindest bei Kapitaldelikten und sonstigen Verbrechensvorwürfen darauf hinzuweisen, dass er im Hinblick auf eine später zu erwartende Pflichtverteidigerbestellung auch sofort einen Verteidiger seines Vertrauens konsultieren oder zumindest telefonischen Kontakt zu einem anwaltlichen Notdienst aufnehmen kann. 88 Der beigezogene Rechtsanwalt kann dann sogleich im Namen des Beschuldigten seine Beiordnung zum Pflichtverteidiger beim zuständigen Gericht beantragen. Ferner besteht bereits aus Fürsorgegesichtspunkten eine Pflicht der Staatsanwaltschaft und des unzuständigen Gerichts, entsprechende Anträge des Beschuldigten an den zuständigen Richter weiterzuleiten.

86 Neufassung des § 141 Abs. 4 StPO durch Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29. 07. 2009, BGBl. I, S. 2274. 87 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 161; Satzger, Gutachten, C 128 f.; Schlothauer / Weider StV 2004, 504, 515; Stellungnahme des DAV zum Diskussionsentwurf, S. 16; Teuter StV 2005, 233, 240; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 239. Ebenso schon Eb. Schmidt, Lehrkomm., Teil II, Nachtragsband I, § 141 Rn. 7. 88 BGH StV 2006, 566, 567; StV 2006, 567, 568.

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Auch dem Vorschlag, der Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung die Kompetenz zu übertragen, einen vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger mit dessen Einverständnis zu bestellen, 89 ist zuzustimmen. Vor allem in Eilfällen führt dies zu einer schnellen Verteidigerbeiordnung, da nicht erst ein Richter eingeschaltet werden muss, an den die Akten versandt werden müssten. 90

F. Ermittlungsunterbrechung In BGHSt 47, 172 ff. ließ der 1. Strafsenat des BGH ausdrücklich offen, ob sich aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO für die Staatsanwaltschaft nicht nur die Pflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrages ergibt, sondern aus dieser Bestimmung auch die Verpflichtung herzuleiten ist, mit weiteren Ermittlungen, welche die Mitwirkung des Beschuldigten erfordern, innezuhalten, bis der Verteidiger tatsächlich bestellt ist und seine Tätigkeit aufgenommen hat. 91 Dies hätte nach Ansicht des Senats jedoch zur Folge, dass die weitere Entgegennahme des Geständnisses eines in Kenntnis seiner Rechte aussagebereiten Beschuldigten abzulehnen wäre. Der Senat hält es deshalb für vorstellbar, dass eine Vernehmung fortgesetzt werden darf, wenn der Beschuldigte zuvor ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass ihm nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist. 92 Bleibt der Beschuldigte sodann weiter aussagebereit, obwohl er sich jederzeit auf sein Schweigerecht berufen und somit die Fortführung der Vernehmung verhindern könnte, spreche nichts dagegen, solche Angaben entgegenzunehmen und auch zu verwerten. Dies gelte zumal dann, wenn die weitere Vernehmung eilbedürftig und unaufschiebbar erscheint. 93 Der 5. Strafsenat lehnte in BGHSt 47, 233 ff. eine aus § 141 Abs. 3 S. 2 StPO abzuleitende Pflicht zur Unterbrechung der Ermittlungen jedenfalls in dem von ihm entschiedenen Fall ab. 94 Dem geltenden Recht sei nicht zu entnehmen, dass bereits dann, wenn die Staatsanwaltschaft oder die ermittlungsführende Polizei im Ermittlungsverfahren den dringenden Tatverdacht eines Verbrechens oder eines gewichtigen Vergehens für begründet erachtet, eine entsprechende Reduzierung des Beurteilungsspielraumes der Staatsanwaltschaft für die Stellung eines Antrages auf Verteidigerbeiordnung nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO anzuneh89

Vgl. Diskussionsentwurf § 141 Abs. 3 S. 4 DE. Ähnlich schon Gesetzentwurf eines Ersten Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz (1. Justizbeschleunigungsgesetz) der Fraktion der CDU / CSU v. 20. 05. 2003, BT-Drs. 15/999, § 141 Abs. 4 S. 2 StPO-Entwurf. 90 Freyschmidt / Ignor NStZ 2004, 465, 467; Satzger, Gutachten, C 90. 91 BGHSt 47, 172, 178. Vgl. auch BGH NStZ 2004, 450; StV 2006, 566, 567. 92 BGHSt 47, 172, 178 f. 93 BGHSt 47, 172, 179. 94 BGHSt 47, 233, 235 ff. Vgl. auch BGH StV 2006, 567, 568; 579, 580 f.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

men wäre, die sie jedenfalls veranlassen müsste, mit Ermittlungen, welche die Mitwirkung des Beschuldigten erfordern, innezuhalten, zumindest bis zu einem weitergehenden Hinweis auf die nunmehr anzunehmende Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung. 95 Bezüglich der Konsultation eines Wahlverteidigers sind sich die Senate ebenfalls uneinig, ob die Vernehmung fortgesetzt werden kann, wenn der Beschuldigte sich mit einem Verteidiger besprechen möchte. Nach der Rechtsprechung des 5. Strafsenats ist die Vernehmung sofort zu unterbrechen, wenn der Beschuldigte erklärt, sich zunächst mit einem Verteidiger beraten zu wollen. 96 Die Vernehmung darf nur fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte zuvor erneut auf sein Recht, einen Verteidiger hinzuzuziehen, hingewiesen worden ist und er sich ausdrücklich mit der Fortsetzung der Vernehmung einverstanden erklärt. 97 Andernfalls besteht ein Verwertungsverbot. 98 Demgegenüber ergibt sich nach der Rechtsprechung des 1. Strafsenats weder aus §§ 163a Abs. 4, 136, 136a StPO noch aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens oder § 137 Abs. 1 S. 1 StPO ein Verbot, die Vernehmung fortzusetzen, sobald der Beschuldigte nach einem Verteidiger verlangt. 99 In den Fällen der notwendigen Verteidigung darf die Ermittlungsmaßnahme (insbesondere die Vernehmung des Beschuldigten) jedoch grundsätzlich nicht ohne den erforderlichen Verteidigerbeistand fortgesetzt werden. Die notwendige Verteidigung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als 95

BGHSt 47, 233, 236 f. BGHSt 42, 15, 19 im Anschluss an BGHSt 38, 372, 373; ebenso AK-Gundlach § 136 Rn. 25; Beulke NStZ 1996, 257, 259; Dedy, Ansätze, S. 182; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 566; Hamm NJW 1996, 2185, 2186; HK-Lemke § 136 Rn. 19; Jahn ZStW 115 (2003), 815, 835; KK-Diemer § 136 Rn. 14; KMR-Lesch § 136 Rn. 36; LR-Gleß § 136 Rn. 43; LR-Erb § 163a Rn. 81; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; E. Müller StV 1996, 358, 359; Pfeiffer § 136 Rn. 5; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 71; Roxin JZ 1997, 343, 344; H. Schneider Jura 1997, 131, 139; SK-Rogall § 136 Rn. 47; Strate / Ventzke StV 1986, 30, 31 ff. S. auch BbgVerfG NJW 2003, 2009, 2010; VerfGH RhPf StV 2006, 315, 316 f.; NJW 2006, 3341, 3343. Vgl. auch EGMR, Pishchalnikov gg. RUS, § 79. 97 BGHSt 42, 15, 19; Beulke NStZ 1996, 257, 261 f. („eindeutige“ Erklärung); Dedy, Ansätze, S. 186; C. Geyer, Belehrung, S. 110; HK-Lemke § 136 Rn. 19; KK-Diemer § 136 Rn. 14; KMR-Lesch § 136 Rn. 36; KMR-Plöd § 163a Rn. 11; LR-Erb § 163a Rn. 81a f.; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; Herrmann StV 1996, 396, 404; E. Müller StV 1996, 358, 359; Pfeiffer § 136 Rn. 5; Schwaben NStZ 2002, 288, 290. Dagegen H. Schneider Jura 1997, 131, 137 f. 98 BGHSt 42, 15, 21 f.; Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 289; Fahl JA 1996, 747, 749; C. Geyer, Belehrung, S. 110; KK-Diemer § 136 Rn. 14; Roxin JZ 1997, 343, 345; SK-Rogall § 136 Rn. 47; Strate / Ventzke StV 1986, 30, 33. 99 BGHSt 42, 170, 171 ff.; ebenso BGH NStZ 1997, 251, 252 m. krit. Anm. Wollweber NStZ 1998, 311. Dagegen Herrmann NStZ 1997, 209, 210 ff.; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; Roxin JZ 1997, 343, 344 f.; ders. / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 37 f.; Schwaben NStZ 2002, 288, 290 f.; Ventzke StV 1996, 524, 525 f. 96

Kap. 1: Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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Grundsatz des fairen Verfahrens. Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung sichern das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Würde die Ermittlungsmaßnahme ohne den notwendigen Verteidigerbeistand fortgesetzt, wäre das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren und das Recht auf effektive Verteidigung verletzt. Ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, ist die Ermittlungsmaßnahme daher grundsätzlich sofort zu unterbrechen, bis der Beschuldigte einen Verteidiger gewählt hat oder dem unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger bestellt ist. 100 Bei notwendiger Verteidigung kann es nicht darauf ankommen, ob der Beschuldigte glaubt, sich selbst ausreichend verteidigen zu können. 101 Dem Beschuldigten soll nach dem Willen des Gesetzgebers in jedem Fall die Hilfe eines Verteidigers zuteilwerden. Insbesondere soll dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben werden, sich zunächst mit einem Verteidiger zu beraten, bevor er Angaben zur Sache macht oder „vollendete Tatsachen“ durch weitere Ermittlungen geschaffen werden. Erst nach anwaltlicher Beratung kann der Beschuldigte aber sachgerecht darüber entscheiden, ob er Angaben zur Sache machen soll. Die Autonomie des Beschuldigten ist angesichts der Asymmetrie der Vernehmungssituation regelmäßig erheblich eingeschränkt. In den Fällen der obligatorischen notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren, in denen dem unverteidigten Beschuldigten also von Amts wegen (bzw. auf Antrag der Staatsanwaltschaft) ein Verteidiger beizuordnen ist, darf die Ermittlungsmaßnahme (insbesondere die Vernehmung des Beschuldigten) daher nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand stattfinden. Stellt sich erst während der Ermittlungsmaßnahme die Notwendigkeit der Verteidigung heraus, ist die Ermittlungsmaßnahme zu unterbrechen. Ebenso wenig wie der Beschuldigte in der Hauptverhandlung auf die Anwesenheit des notwendigen Verteidigers verzichten kann, 102 kann er es im Ermittlungsverfahren. Nach Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung, die auch im öffentlichen Interesse den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens sichern soll, kann der Beschuldigte nicht hierüber disponieren. 103 Da es sich bei den Ermittlungsmaßnahmen, vor denen dem Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, um vorweggenommene Beweiserhebungen handelt, muss die Anwesenheitspflicht in 100 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 67; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 189; SK-Rogall § 136 Rn. 50; Roxin JZ 2002, 898, 900. 101 Roxin JZ 2002, 898, 900. 102 Vgl. BGHSt 15, 306 ff.; Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 439. 103 OLG Hamm StraFo 1998, 164, 165; Molketin AnwBl. 2001, 208, 215; Vogelsang, Notwendige Verteidigung, S. 158 f. Auch wenn der Angeklagte selbst Rechtsanwalt ist, kann er nicht auf die Anwesenheit des notwendigen Verteidigers verzichten, vgl. BGH MDR 1954, 564; OLG Hamm StraFo 2004, 170; Meyer-Goßner § 140 Rn. 2.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

der Hauptverhandlung auf die entsprechende Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren übertragen werden. Denn würde die Beweiserhebung (erst) in der Hauptverhandlung erfolgen, müsste sie ebenfalls unter Anwesenheit des notwendigen Verteidigers stattfinden. Andernfalls wäre der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben. Die Vernehmung oder sonstige verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahme kann gegebenenfalls erst in einem neuen Termin fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte selbst einen Verteidiger gewählt hat oder ihm ein Verteidiger bestellt wurde und sich der Beschuldigte mit seinem Verteidiger besprechen konnte. Bei obligatorischer notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren darf die Vernehmung auch bei vorheriger Belehrung des Beschuldigten, dass ihm nunmehr ein Verteidiger zu bestellen ist, entgegen den Überlegungen des 1. Strafsenats nicht fortgesetzt werden. Denn die Beiordnung eines Verteidigers soll gerade verhindern, dass der Beschuldigte in den Fällen der notwendigen Verteidigung ohne anwaltliche Beratung und Beistand „unbedachte“ Angaben macht. Es kann daher nicht angehen, ein Geständnis des unverteidigten Beschuldigten, mag er auch aussagebereit sein, entgegenzunehmen und zu verwerten. 104 Erst wenn der Beschuldigte nach anwaltlicher Beratung immer noch bereitwillig Angaben machen möchte, kann die Vernehmung (gegebenenfalls in einem neuen Termin) fortgesetzt werden. Fälle, in denen die Fortsetzung der Vernehmung oder einer anderen Ermittlungsmaßnahme derart eilbedürftig und unaufschiebbar erscheint, so dass nicht bis zu einer Verteidigerbestellung gewartet werden kann, sind dagegen kaum vorstellbar. Handelt es sich um eine Vernehmung des Beschuldigten kann dieser ohnehin nicht dazu gezwungen werden, Angaben zur Sache zu machen. Er kann sich auch sogleich auf sein Schweigerecht berufen. Im Falle einer Vorführung nach §§ 115, 115a oder § 128 StPO kann zugleich der anwaltliche Notdienst verständigt werden. Auch bei anderen Ermittlungsmaßnahmen, die im Falle der notwendigen Verteidigung nicht ohne den erforderlichen Verteidigerbeistand durchgeführt werden dürfen, tritt mit der vorherigen Verteidigerbeiordnung in der Regel keine über den normalen Verfahrensgang hinausgehende erhebliche Verzögerung ein. Bezüglich einer richterlichen Zeugenvernehmung muss zunächst ein Termin beim Ermittlungsrichter vereinbart werden. Im Übrigen erfolgt in den meisten Fällen ohnehin zuvor eine polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmung. In den Fällen, in denen der Zeuge später verstorben oder aus einem anderen Grunde in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommen werden kann, darf die Vernehmung gem. § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO auch durch die Verlesung des nichtrichterlichen Vernehmungsprotokolls ersetzt werden. Auch eine Identifizierungsgegenüber104

Zum Beweisverwertungsverbot unten Teil 3 Kapitel 2 A.

Kap. 1: Verfahren der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren

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stellung muss zunächst organisiert und geeignete Vergleichspersonen gefunden werden. Auch bei der Einnahme des richterlichen Augenscheins zur Vermeidung eines drohenden Beweisverlustes muss zunächst ein Termin mit dem Ermittlungsrichter vereinbart werden. Bei besonderer Eilbedürftigkeit kann gegebenenfalls zugleich der anwaltliche Notdienst verständigt werden. Bei einer Tatrekonstruktion ist eine besondere Eilbedürftigkeit dagegen kaum denkbar, da die Tat gerade „nachgestellt“ wird. Für die Verteidigerbestellung vor der Auswahl eines Sachverständigen wurde dagegen bereits ausgeführt, dass eine solche ausnahmsweise zunächst unterbleiben kann, wenn der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre. Die Beiordnung und Anhörung sind jedoch unverzüglich nachzuholen, sobald eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht mehr zu besorgen ist. Durch einen Rückgriff auf die bestehenden Verteidigernotdienste und einer Übertragung der Zuständigkeit für die Verteidigerbeiordnung auf den Ermittlungs- bzw. Haftrichter kann daher auch in kürzester Zeit ein Verteidiger bestellt werden. 105 In den Fällen einer antragsgebundenen notwendigen Verteidigung, in denen eine Verteidigerbeiordnung also nur auf Antrag des Beschuldigten erfolgt, darf die Ermittlungsmaßnahme dagegen fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte zuvor erneut über sein Recht, einen Verteidiger zu wählen oder die Beiordnung eines Verteidigers zu beantragen, belehrt wurde und sich ausdrücklich mit einer Fortsetzung der Ermittlungsmaßnahme einverstanden erklärt. Da die Antragstellung der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten unterliegt, könnte er auch einen bereits gestellten Antrag auf Verteidigerbeiordnung wieder zurücknehmen. Nur in diesen Fällen kann daher die Auffassung des 1. Senats überzeugen.

G. Zusammenfassung Die Staatsanwaltschaft ist nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO verpflichtet, einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 StPO notwendig sein wird. Darüber hinaus ist die Staatsanwaltschaft aufgrund der staatlichen Fürsorgepflicht auch dann zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn es nicht absehbar zu einem gerichtlichen Verfahren kommt, gegen den Beschuldigten jedoch der Tatverdacht eines Verbrechens gem. § 140 105

Dazu oben Teil 3 Kapitel 1 E.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Abs. 1 Nr. 2 StPO besteht und der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren des Beistandes eines Verteidigers bedarf. Das ist vor allem dann der Fall, wenn verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahmen stattfinden, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Zudem ist die Staatsanwaltschaft vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre, und wenn die haftrichterliche Vernehmung des Beschuldigten im Falle von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung bevorsteht. Daneben steht dem Beschuldigten bereits nach derzeitiger Gesetzeslage das Recht zu, im Ermittlungsverfahren selbst die Beiordnung eines Verteidigers zu beantragen. Die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren steht gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden. Dieser ist jedoch zur Beiordnung eines Verteidigers für den unverteidigten Beschuldigten verpflichtet, wenn ein gewichtiger Tatvorwurf i. S. d. § 140 StPO vorliegt und verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahmen bevorstehen, bei denen dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte dies beantragen. Über sein Antragsrecht ist der Beschuldigte zu belehren. Im Falle einer obligatorischen notwendigen Verteidigung ist der Beschuldigte zudem darauf hinzuweisen, dass ihm von Amts wegen ein Verteidiger bestellt wird, falls er nicht selbst einen solchen wählt. Die Ablehnung einer Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft ist für den Beschuldigten nicht anfechtbar, da ihm infolge seines Antragsrechts das Rechtsschutzbedürfnis für die Überprüfung einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft fehlt. Gegen die Ablehnung seines Antrages auf Verteidigerbeiordnung steht dem Beschuldigten der Beschwerdeweg nach § 304 StPO offen. De lege ferenda sollte die Zuständigkeit für eine Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren dem Ermittlungs- bzw. Haftrichter im Bezirk der zuständigen Staatsanwaltschaft übertragen werden. Zudem sollte die Staatsanwaltschaft die Befugnis erhalten, bis zur Anklageerhebung einen vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger mit dessen Einverständnis zu bestellen. Ist ein Fall der notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren gegeben, ist die Ermittlungsmaßnahme grundsätzlich zu unterbrechen, bis der Beschuldigte einen Verteidiger gewählt hat oder ihm ein Verteidiger bestellt wurde. Im Falle der obligatorischen notwendigen Verteidigung darf die Ermittlungsmaßnahme nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand fortgesetzt werden. Nur

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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bei einer antragsgebundenen notwendigen Verteidigung darf die Ermittlungsmaßnahme fortgesetzt werden, wenn sich der Beschuldigte nach erneuter Belehrung ausdrücklich mit der Fortsetzung der Ermittlungsmaßnahme einverstanden erklärt.

Kapitel 2

Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen gegen die Bestellungs- oder Belehrungspflicht A. Beweisverwertungsverbot bei Verstoß gegen die Bestellungspflicht I. Lehren von den Beweisverwertungsverboten Die StPO enthält kein ausdrückliches Beweisverwertungsverbot für den Fall eines Verstoßes gegen die Bestellungspflicht aus §§ 140, 141 Abs. 3 StPO. Auch die Rechtsprechung des EGMR kann nicht herangezogen werden, da der Gerichtshof das Beweisrecht primär dem nationalen Recht überlässt und die Verwertung fehlerhaft erlangter Beweise lediglich als Teilaspekt im Rahmen der Gesamtbetrachtung, ob das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren verletzt ist, prüft. 106 Die StPO erlaubt keine Wahrheitserforschung um jeden Preis. 107 Vielmehr sind der Beweiserhebung und -verwertung im Interesse eines rechtsstaatlichen Verfahrens Grenzen gesetzt. Allerdings ist umstritten, in welchen Fällen aus einem Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot folgt. 108 Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darüber, dass – soweit kein gesetzliches Verwertungsverbot angeordnet ist (etwa in § 136a Abs. 3 S. 2 StPO, § 51 Abs. 1 BZRG) – nicht jede fehlerhafte Beweiserhebung zu einem Beweisverwertungsverbot führt. 109 106 Vgl. EGMR, Schenk gg. CH, Series A 140, §§ 45 f.; Kostovski gg. NL, Series A 166, § 39; Mantovanelli gg. F, Rep. 1997-II, § 34; van Mechelen u. a. gg. NL, Rep. 1997-III, § 50; Teixeira de Castro gg. P, Rep. 1998-IV, § 34; Pélissier u. Sassi gg. F, Rep. 1999-II, § 45; Khan gg. GB, Rep. 2000-V, § 34 m. krit. Anm. Kühne / Nash JZ 2000, 996 ff.; Allan gg. GB, Rep. 2002-IX, § 42; Jalloh gg. D, §§ 94 f.; W.S. gg. PL, § 53; Gäfgen gg. D, § 96 f.; s. auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 319 ff., 431; IntKomm-Kühne Art. 6 Rn. 393; KK-Schädler Art. 6 MRK Rn. 29; Meyer-Ladewig Art. 6 Rn. 141 ff. 107 BGHSt 14, 358, 365; 31, 304, 309. 108 Sog. unselbständige Beweisverwertungsverbote. Bei fehlerfreier Beweiserhebung wird von sog. selbständigen Beweisverwertungsverboten gesprochen. 109 BVerfG NJW 2000, 3557; 2007, 204, 205; 2008, 3053, 3054; 2009, 3225; NStZ 2000, 488, 489; 2006, 46, 47; BGHSt 19, 325, 331; 24, 125, 128; 27, 355, 357; 31, 304,

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Um die Frage zu beantworten, ob eine unterlassene Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren zu einem Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme führt, sind daher zunächst die wichtigsten theoretischen Ansätze zur Begründung von Beweisverwertungsverboten darzustellen. Dabei ist vor allem auf die Rechtskreistheorie, die Schutzzwecklehren, die Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten und die Abwägungslehre bzw. normative Fehlerfolgenlehre einzugehen. 110 1. Rechtskreistheorie Nach der vom Großen Senat für Strafsachen in BGHSt 11, 213 ff. entwickelten sog. Rechtskreistheorie ist bei jeder Vorschrift zu prüfen, ob sie den Rechtskreis des Beschuldigten wesentlich berührt oder für ihn nur von untergeordneter oder keiner Bedeutung ist. 111 Dieser Ansatz ist in der Literatur vor allem wegen der Unbestimmtheit des Begriffes „Rechtskreis“ sowie den daraus folgenden willkürlichen Ergebnissen kritisiert worden. 112 Bei der Rechtskreistheorie handelt es sich jedoch nicht 307; 34, 39, 52; 38, 372, 373; 42, 15, 21; 44, 243, 249; 51, 285, 289 f.; Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 477; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 457; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 362; Herdegen, in: Wahrheitsfindung und ihre Schranken, 103, 115; HK-Julius § 261 Rn. 11; Jäger, Beweisverwertung, S. 137; Jahn, Gutachten, C 35 f.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 27; Meyer-Goßner Einl. Rn. 55; Ranft, FS Spendel, 719, 726; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 21; U. Schroth JuS 1998, 969. Anders Beling, Beweisverbote, S. 30 f.; Bernsmann StraFo 1998, 73; Feldmann NJW 1959, 853, 856; Hauf NStZ 1993, 457, 459 m. Fn. 40; Eb. Schmidt JZ 1958, 596, 598. Gössel (LR Einl. Abschn. L Rn. 127, 158; ders. NStZ 1998, 126, 130; ders., FS Hanack, 277, 281) will dagegen auf die Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten verzichten. 110 Weitere Ansätze sind etwa die von Wolter entwickelte sog. Kernbereichs- und Zurechnungslehre (Wolter, in: ders. / Riedel / Taupitz [Hrsg.], Einwirkungen der Grundrechte, 1999, 319, 323 ff.; ders., FG 50 Jahre BGH, 963, 993 ff.), die von Gössel entwickelte Konzeption, wonach das Vorliegen eines Gesetzesverstoßes (i. S. e. Erhebungs- und Verwertungsverbotes) anhand des Wortlautes der Verfahrensvorschrift, des Gesetzeszusammenhangs und unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten zu beurteilen ist (LR-Gössel, Einl. Abschn. L Rn. 158, 165; ders., FS Hanack, 277, 284 ff.), sowie die sog. Beweisbefugnislehre (grundlegend Sydow, Kritik der Lehre von den „Beweisverboten“, S. 5 f., 12 ff., 96 ff.; s. auch Dallmeyer, Beweisführung, S. 91 ff., 173; Jahn, Gutachten, C 66 ff.). Einen Überblick über die historische Entwicklung der Beweisverbotslehre gibt Effer-Uhe Jura 2008, 335 ff. 111 BGHSt (GrS) 11, 213, 215; s. auch BGHSt 17, 245, 247; BGH NJW 1952, 151, 152; Bauer wistra 1991, 95, 96; ders. NJW 1994, 2530 f.; Herdegen, in: Wahrheitsfindung und ihre Schranken, 115, 117 ff. 112 Eb. Schmidt JZ 1958, 596 ff.; s. auch Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 96; Dalakouras, Beweisverbote, S. 124 f.; Dencker, Verwertungsverbote, S. 28 ff.; Geppert Jura 1988, 305, 313; Gössel GA 1991, 483, 487 f.; Gossrau MDR 1958, 468, 469 f.; Götting,

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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um einen allgemeinen Ansatz zur Begründung von Beweisverwertungsverboten. 113 Vielmehr hat die Rechtsprechung diese nur in bestimmten Fallkonstellationen herangezogen, insbesondere bei der Aussage von nicht belehrten Zeugen bzw. Mitbeschuldigten, um die Revisibilität der Verletzung von Verfahrensvorschriften, die allein im Interesse Dritter bestehen, einzuschränken. 114 Wenn auch von einer Aufgabe der Rechtskreistheorie nicht mehr gesprochen werden kann, 115 so beurteilt die Rechtsprechung das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes jedoch nunmehr regelmäßig infolge einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. 2. Schutzzwecklehren Unter der Bezeichnung Schutzzwecklehren werden allgemein die Ansichten zusammengefasst, die bei der Begründung eines Beweisverwertungsverbotes auf den Schutzzweck der verletzten Norm abstellen. 116 Danach soll ein Verwertungsverbot bestehen, wenn der durch Auslegung zu ermittelnde Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift verlangt, die Verwertung des Beweises im weiteren Verfahren auszuschließen. 117

Beweisverwertungsverbote, S. 60 f.; Grünwald JZ 1966, 489, 490 f.; Hauf NStZ 1993, 457, 459; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe, S. 53; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 24; Rudolphi MDR 1970, 93, 95 ff.; U. Schroth JuS 1998, 969, 973; Sydow, Kritik der Lehre von den „Beweisverboten“, S. 44 ff. 113 Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 459; ders. Jura 2008, 653, 655; Dalakouras, Beweisverbote, S. 124; Dencker StV 1995, 232, 233; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 365; Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 173, 186 f.; Jäger, Beweisverwertung, S. 15; Peres, Beweisverbote, S. 25; Ranft, FS Spendel, 719, 728; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 70 f. 114 Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, S. 173 ff., 179 ff., 187; Rogall JZ 2008, 818, 823. 115 Vgl. BGHSt 47, 233, 234; 52, 48, 52; 53, 191, 197 ff. m. abl. Anm. Fezer NStZ 2009, 524 und abl. Anm. Gleß NStZ 2010, 98 = JR 2009, 300 m. krit. Anm. Kudlich; BGH NJW 1994, 3364, 3366 = StV 1995, 231 m. abl. Anm. Dencker; BayObLG StV 1995, 237; OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 342. 116 Vgl. Beulke ZStW 103 (1991), 657, 664, 671 f.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 458; ders. Jura 2008, 653, 656; ders. / Barisch StV 2006, 569, 570; KMR-Paulus § 244 Rn. 516 f.; Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 173, 182 ff.; Grünwald JZ 1966, 489, 492 ff.; ders., Beweisrecht, S. 143 ff., 155; Jäger, Beweisverwertung, S. 139 ff., 143 ff.; ders. GA 2008, 473, 484 ff.; Petry, Beweisverbote, S. 28 ff., 116 ff.; Rudolphi MDR 1970, 93, 97; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 53; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 81 ff.; Wohlers JR 2002, 294, 295 f. Ähnlich Fezer, Strafprozessrecht, 16/29 ff.; ders., Grundfragen, S. 27 ff. Aus revisionsrechtlicher Sicht Blomeyer JR 1971, 142, 143 ff.; Gössel NJW 1981, 2217, 2219; Grüner, Revisibilität, S. 29 f. S. aber auch BGHSt 25, 325, 329 ff.; 40, 211, 214 f.; BGH NJW 2009, 345 f.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Mit der Einführung von Vorschriften über die Beweiserhebung habe der Gesetzgeber bereits eine ausdrückliche Bewertung der widerstreitenden Interessen vorgenommen, so dass bei den unselbständigen Beweisverwertungsverboten für eine weitere Abwägung kein Raum sei. 118 Allenfalls hinsichtlich der Begründung eines Verwertungsverbots bei rechtmäßiger Beweisgewinnung könne es auf eine Abwägung ankommen. 119 Gegen die Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus dem Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift wird insbesondere vorgebracht, dass sich allein aus dem Schutzzweck noch keine Rechtsfolge für den Fall einer Verletzung der Vorschrift ergibt. 120 Zudem konnte innerhalb dieses Ansatzes bislang noch keine Einigkeit über die Bestimmung und Reichweite des Schutzzweckes einzelner Beweiserhebungsvorschriften erzielt werden, so dass dieser Lehre eine allgemeine Gültigkeit angesprochen wird. 121 3. Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten Ein neuerer Ansatz ist die von Amelung entwickelte Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten. 122 Grundlage der Beweisverwertungsverbote sind 117

Grüner, Revisibilität, S. 29 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 143 ff.; Wohlers JR 2002, 294, 296. Ähnlich Fezer, Grundfragen, S. 27 f., 38 f.; Gössel NJW 1981, 2217, 2219; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 156 f.; Petry, Beweisverbote, S. 28 ff. 118 Arloth GA 2006, 258, 260; Beulke ZStW 103 (1993), 657, 663 f.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 458; ders. Jura 2008, 653, 656; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 370; Fezer, Grundfragen, S. 30; Grüner, Revisibilität, S. 40; Grünwald, Beweisrecht, S. 157; Neuhaus StV 2010, 45, 49; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 51 f.; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 72 f., 83 ff.; Strate HRRS 2008, 76, 79 f. 119 Arloth GA 2006, 258, 260; Beulke ZStW 103 (1993), 657, 663 f.; ders., Strafprozessrecht, Rn. 458; ders. Jura 2008, 653, 656; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 370; Fezer, Grundfragen, S. 4 ff., 38; Grüner, Revisibilität, S. 40 f.; Grünwald, Beweisrecht, S. 157; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 55 ff.; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 86 ff.; Strate HRRS 2008, 76, 80. 120 K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 45; Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 111; Haffke GA 1973, 65, 77 f.; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe, S. 73; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 85; Störmer Jura 1994, 621, 626; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 28. 121 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 57; Dalakouras, Beweisverbote, S. 128 f.; Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 53 f.; Jahn, Gutachten, C 57; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe, S. 72 f.; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 80 f.; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 27 ff.; ders., in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 113, 154; ders. JZ 1996, 944, 948; ders., FS Grünwald, 523, 528. 122 K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 30 ff.; ders., FS Bemmann, 505 ff.; ders. StraFo 1999, 181; ders., FS Roxin, 1259, 1260 ff.; ders., GS Schlüchter, 417 ff.; ders., FG Hilger, 327, 328 ff.; s. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 371; Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 281 ff.; Schwaben, Personelle Reichweite, S. 46 ff., 57 ff., 152 ff.; Singelnstein, FS Eisenberg, 643, 649 ff.; Störmer, Dogmatische Grundla-

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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danach die in den einzelnen Beweiserhebungsvorschriften anerkannten Informationsbeherrschungsrechte, die dem jeweiligen Rechtsinhaber als subjektive Rechte erlauben, bestimmte Informationen zurückzuhalten. 123 Ein rechtswidriger Eingriff in diese Informationsbeherrschungsrechte begründe öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungs- bzw. Unterlassungsansprüche, die darauf gerichtet seien, eine Speicherung, Verwertung oder Weitergabe zu verhindern. 124 Keine Beseitigungsansprüche sollen entstehen, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift nicht der Informationsbeherrschung dient. 125 Hiergegen wird unter anderem eingewandt, dass es „im Strafprozeß nicht um die Erfüllung privater Informationsansprüche, sondern um die Erledigung öffentlicher Aufgaben“ geht. 126 Zudem kann auch dieser Ansatz keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da nicht alle Beweisverwertungsverbote Ausdruck der Verletzung von Informationsbeherrschungsrechten sind. 127 4. Abwägungslehre und normative Fehlerfolgenlehre Nach der in ständiger Rechtsprechung 128 und von Teilen des Schrifttums 129 vertretenen (bislang) sog. Abwägungslehre kann eine sachgerechte Entscheidung gen, S. 215 ff., 223 ff.; ders. Jura 1994, 621, 626 ff.; ähnlich Güntge StV 2005, 403, 404 f.; Hamm StraFo 1998, 361, 363 f.; Lindner, Begleitfund, S. 235 ff.; Müssig GA 1999, 119, 131 ff. Dagegen Dallmeyer, Beweisführung, S. 154 f.; Fezer, Grundfragen, S. 34 ff.; Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 64 ff.; Jäger, Beweisverwertung, S. 100 ff., 106; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe, S. 108 ff.; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 149; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 100 ff.; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 113, 153; ders., FS Grünwald, 523, 532 ff.; ders., in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU, 119, 139 f.; ders., FS Rieß, 951, 970 f.; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 80 f. 123 K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 24 ff., 30 ff.; ders., FS Bemmann, 505 f.; ders. StraFo 1999, 181; ders., FS Roxin, 1259, 1260; ders., GS Schlüchter, 417, 423; ders., FG Hilger, 327, 328. 124 K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 37 ff.; ders., FS Bemmann, 505, 507; ders. StraFo 1999, 181; ders., FS Roxin, 1259, 1260 f.; ders., GS Schlüchter, 417, 425; ders., FG Hilger, 327, 334; Müssig GA 1999, 119, 133; Singelnstein, FS Eisenberg, 643, 649 ff.; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 223 ff.; ders. Jura 1994, 621, 627 f. 125 K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 45. 126 Rogall JZ 1996, 944, 948; ders., in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU, 119, 139; ebenso Dallmeyer, Beweisführung, S. 155. 127 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 55; Beulke Jura 2008, 653, 656; Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 64; Jahn, Gutachten, C 65; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 149; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 103 f.; Rogall, FS Grünwald, 523, 543; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 27; U. Schroth JuS 1998, 969, 973; Weßlau StV 1995, 278, 279. So auch die Vertreter dieser Lehre selbst, vgl. Amelung, FS Bemmann, 505, 515; ders. JR 2008, 327; Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 286; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 210 f.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

über das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes mangels allgemeinverbindlicher Kriterien nur im Einzelfall aufgrund einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Interessen getroffen werden. Dabei steht das Individualinteresse des Beschuldigten dem Strafverfolgungsinteresse des Staates gegenüber. Maßgeblich sind einerseits das Gewicht des Verfahrensverstoßes, seine Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen sowie die Erwägung, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muss und andererseits das staatliche Interesse an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 130 Entscheidenden Einfluss auf die Abwägung habe dabei das Gewicht des Verfahrensverstoßes, welches wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt sei. 131 Daher liege ein Verwertungsverbot nahe, wenn die verletzte Vorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu sichern. 132 Dagegen liege ein Verwertungsverbot fern, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift nicht oder nicht in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten dient. 133 Insoweit spielt auch der Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift im Rahmen der Abwägung eine Rolle. Ein Verwertungsverbot ist nach der Rechtsprechung insbesondere dann anzunehmen, wenn der Eingriff in die Rechte des Beschuldigten ohne die erforderliche Ermächtigungsgrundlage 134 oder trotz Fehlens bzw. in grober Verkennung 128 BGHSt 19, 325, 329 ff.; 24, 125, 130; 27, 355, 357; 31, 304, 307 ff.; 37, 30, 32; 38, 214, 219 f.; 38, 372, 373 f.; 42, 15, 21; 42, 139, 145; 42, 170, 174; 42, 372, 377 f.; 44, 243, 249; 45, 342, 345; 47, 172, 179 f.; 51, 285, 290; 52, 48, 54; 52, 110, 116; 53, 112, 116 f.; BGH NStZ 2004, 450; StV 2006, 566, 567; 567, 568; OLG Bamberg NJW 2009, 2146, 2148; OLG Celle NJW 1969, 567, 568; OLG Dresden NJW 2009, 2149, 2150; OLG Frankfurt NJW 1997, 2963, 2964; OLG Hamm StV 2007, 69, 70; OLG Köln NJW 1966, 416, 417. 129 Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 480; Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 112 ff.; Dalakouras, Beweisverbote, S. 133 f.; HK-Julius § 261 Rn. 12; Kelnhofer, Hypothetische Ermittlungsverläufe, S. 73 ff.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 27; KK-Nack Vor § 94 Rn. 10; KMR-Eschelbach Einl. Rn. 22; LR-Schäfer Vor § 94 Rn. 142; K. Meyer NStZ 1983, 566, 567; Meyer-Goßner Einl. Rn. 55a; Nack StraFo 1998, 366, 367; Peres, Beweisverbote, S. 133 f.; Widmaier, in: Wahrheitsfindung und ihre Schranken, 29, 31. 130 BGHSt 19, 325, 332 f.; 24, 125, 130; 38, 214, 220; 38, 372, 373 f.; 42, 372, 377; 44, 243, 249 f.; 47, 172, 179 f.; BGH StV 2006, 566, 567; OLG Hamm StV 2007, 69, 70; HK-Julius § 261 Rn. 12; KK-Nack Vor § 94 Rn. 10; Meyer-Goßner Einl. Rn. 55a. Vgl. auch BVerfGE 34, 238, 248 ff.; 44, 353, 373 ff.; 80, 367, 375 f.; BVerfG NJW 2009, 3225. 131 BGHSt 42, 170, 174; 42, 372, 377; 44, 243, 249; 47, 172, 180; 51, 285, 290. 132 BGHSt 38, 214, 220; 38, 372, 374; 42, 15, 21; HK-Julius § 261 Rn. 12; Meyer-Goßner Einl. Rn. 55a. 133 BGHSt 38, 214, 220; 40, 211, 217.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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ihrer wesentlichen Voraussetzungen erfolgte. 135 Das Gleiche gilt, wenn sonst die Rechte des Beschuldigten bewusst bzw. willkürlich verletzt wurden. 136 Zu berücksichtigen sei jedoch, dass ein Beweisverwertungsverbot einen der wesentlichen Grundsätze des Strafverfahrens einschränke, nämlich, dass das Gericht die Wahrheit erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel, die von Bedeutung sind, zu erstrecken hat. Die Annahme eines Beweisverwertungsverbots sei daher eine Ausnahme, die nur im Einzelfall anerkannt werden könne. 137 Bei der Aufklärung schwerer Straftaten müsse das Individualinteresse des Beschuldigten gegebenenfalls hinter dem Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege zurücktreten. 138 Insoweit sei jedoch nicht auf den abstrakten Deliktscharakter, sondern das konkrete Tatunrecht abzustellen. 139 Auch in neueren Entscheidungen hat der BGH die Abwägung daher wiederum zugunsten der Aufklärung der verfolgten (schweren) Straftat ausfallen lassen und damit die Verfahrenseffizienz über den Schutz der Rechte des Beschuldigten gestellt. 140 Die Abwägungslehre ist in der Literatur überwiegend auf Kritik gestoßen. Sie führe zu erheblicher Rechtsunsicherheit. 141 Die Beurteilung der Abwägungskriterien hänge von individuellen Wertvorstellungen ab. Einheitliche und vorherseh134

249.

BGHSt 31, 304, 306; 34, 39, 52 f.; 35, 32, 34; 36, 396, 398; 42, 372, 377; 44, 243,

135 BGHSt 31, 304, 308 f.; 32, 68, 70; 41, 30, 31; 47, 362, 365; 48, 240, 248; 51, 1, 2; 51, 285, 291. 136 Vgl. BVerfGE 113, 29, 61; BVerfG NJW 2006, 2684, 2686; BGHSt 24, 125, 131; 29, 109, 112; 31, 304, 308; 38, 372, 374, 44, 243, 250; 51, 285, 291 ff. = JR 2007, 432 m. Anm. Ransiek; BGHSt 52, 11, 22 f. = NJW 2007, 3138 m. Anm. Meyer-Mews = JZ 2008, 258 m. krit. Anm. Duttge = JR 2008, 160 m. Anm. Renzikowski; dazu auch Mitsch Jura 2008, 211 ff.; s. auch BGHSt 53, 294, 304 ff.; 55, 138, 144 ff.; BGH StV 2006, 566, 567; 567, 568; NStZ-RR 2007, 242, 243; OLG Hamm StV 2006, 69, 70; OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 342 f.; OLG Karlsruhe NStZ 2005, 399, 400; LG Darmstadt StV 1993, 573 f.; Brüning HRRS 2007, 250, 255; Roxin NStZ 2007, 616, 617. 137 BVerfG NJW 2009, 3225 m. krit. Anm. Dallmeyer HRRS 2009, 429; BVerfG NJW 2010, 287; BGHSt 27, 355, 357; 37, 30, 32; 40, 211, 217 m. zust. Anm. Gollwitzer JR 1995, 469 ff.; BGHSt 42, 372, 377; 44, 243, 249 = JZ 1999, 524 m. abl. Anm. Fezer; BGHSt 51, 285, 290; OLG Bamberg NJW 2009, 2146, 2148; OLG Dresden NJW 2009, 2149, 2150; KMR-Eschelbach Einl. Rn. 22. 138 BGHSt 19, 325, 333; 44, 243, 249 f. Vgl. auch BVerfGE 34, 238, 249 f. 139 BGHSt 19, 325, 333; 44, 243, 250. 140 Vgl. BGHSt 44, 243, 249 f.; BGH StV 2006, 566, 567. 141 Beulke Jura 2008, 653, 655; Dallmeyer, Beweisführung, S. 157 f.; Fezer, Strafprozessrecht, 16/21; Götting, Beweisverwertungsverbote, S. 77; Jäger GA 2008, 473, 479; Jahn, Gutachten, C 48, 61; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 46 f.; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 72; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 190 f.; ders. Jura 1994, 621, 626. Dagegen Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 113, 156; ders. JZ 2008, 818, 824.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

bare Ergebnisse seien kaum oder nur eingeschränkt zu gewährleisten. 142 Außerdem räume der BGH im Rahmen seiner Abwägung weitgehend den Strafverfolgungsinteressen den Vorrang ein. 143 Da das Strafverfolgungsinteresse des Staates bei schweren Straftaten besonders betroffen ist, würde die uneingeschränkte Abwägung in diesen Fällen stets zugunsten der Sachverhaltsermittlung ausfallen, so dass auch gravierende Verstöße gegen Verfahrensvorschriften folgenlos blieben, während bei leichterer Kriminalität ein Verwertungsverbot anzunehmen wäre. 144 Mit der Rechtsprechung stimmt vom Ansatz her die von Rogall entwickelte sog. normative Fehlerfolgenlehre überein. Auch danach ist das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes aufgrund einer Abwägung zwischen den Interessen des Individualrechtsschutzes und den Strafverfolgungsinteressen festzustellen. Die normative Fehlerfolgenlehre bemüht sich jedoch um die Aufstellung von fallspezifischen Vorrangregeln, die den Abwägungsprozess vorhersehbarer machen. Danach sind im Rahmen der Abwägung die Schwere des Verfahrensverstoßes („Fehlerschwere“), die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der verletzten Interessen sowie der obwaltenden Strafverfolgungsinteressen zu berücksichtigen. 145 Ein Verwertungsverbot ist danach grundsätzlich anzunehmen, wenn ein schwerer Verstoß gegen grundlegende Verfahrensvorschriften vorliegt, insbesondere, wenn eine Maßnahme ohne Rechtsgrundlage vorgenommen wurde, der Kernbereich eines Grundrechts betroffen ist oder grundlegende Verfahrenspositionen entwertet wurden. Ein Verwertungsverbot sei außerdem grundsätzlich dann zu 142 Arloth GA 2006, 258, 260; Beulke ZStW 103 (1991), 657, 664; ders. Jura 2008, 653, 655; ders. / Barisch StV 2006, 569; Dallmeyer, Beweisführung, S. 158; Dencker, Verwertungsverbote, S. 95 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 367; Gössel GA 1991, 483, 511; Grüner, Revisibilität, S. 39; Jahn, Gutachten, C 48 f.; Müssig GA 1999, 119, 139 ff.; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 99; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 46 f.; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 72; Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 190 f.; ders. Jura 1994, 621, 625 f. 143 Wolter, FG 50 Jahre BGH, 963, 990. 144 Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 58 f.; Beulke ZStW 103 (1991), 657, 672; ders. Jura 2008, 653, 655; Dallmeyer, Beweisführung, S. 162; Dencker, Verwertungsverbote, S. 96 f.; Fezer StV 1989, 290, 294; Jahn JA 1999, 455, 457; ders., Gutachten, C 49 f., 61; Jäger, Beweisverwertung, S. 108; Müssig GA 1999, 119, 142; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 97; Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 52; Sowada NStZ 2005, 1, 6; v. Stetten, Beweisverwertung, S. 73. 145 Rogall ZStW 91 (1979), 1, 34 f.; ders. NStZ 1988, 385, 391; ders., in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 113, 155 ff.; ders. JZ 1996, 944, 947 f.; ders., FS Hanack, 293, 294; ders., FS Grünwald, 523, 545 ff.; ders., in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen, 119, 137 ff., 143 ff.; ders., FS Rieß, 951, 979 f.; ders. JZ 2008, 818, 824. Dagegen K. Amelung, FS Roxin, 1259, 1273 ff.; Bernsmann StraFo 1998, 73, 74; Jäger, Beweisverwertung, S. 110 f.; Jahn, Gutachten, C 60 ff.; Löffelmann, Normative Grenzen, S. 123; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 154.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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bejahen, wenn die Maßnahme das Ziel hatte, die Rechte des Betroffenen zu umgehen oder ihm vorzuenthalten oder wenn sonst das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt wurde. 146 Ein Verwertungsverbot sei dagegen abzulehnen, wenn ein solches dem Betroffenen eine Entlastungsmöglichkeit nehmen würde, wenn der Betroffene einer Verwertung zustimmt, die Fehlerhaftigkeit nicht gegenüber dem Betroffenen besteht oder eine außerprozessuale Wiederherstellung des Rechts möglich ist. 147 II. Anwendung der Lehren von den Beweisverwertungsverboten auf einen Verstoß gegen die Bestellungspflicht Die dem Beschuldigten im Strafverfahren eingeräumten Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte sichern seine verfassungs- und konventionsrechtliche Stellung als Subjekt des Verfahrens, indem dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben wird, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Der Beschuldigte ist dabei regelmäßig auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen, da er sich selbst mangels hinreichender Kenntnisse des Straf- und Strafprozessrechts und fehlender Distanz zur Beschuldigung nicht effektiv und wirksam verteidigen kann. Das Recht auf Verteidigerbeistand ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens. Der Beschuldigte kann gem. § 137 Abs. 1 S. 1 StPO in jeder Lage des Verfahrens einen Verteidiger wählen. Das Recht auf Verteidigerbeistand wird zudem durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK als Menschenrecht gewährleistet und ist zentraler Bestandteil eines fairen Verfahrens. Der 5. Strafsenat des BGH 148 führte bereits aus: „Danach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß eine bewußte Verhinderung der Rücksprache mit einem Verteidiger ... zu einem Verbot der Verwertung der bei dieser Vernehmung gewonnenen Angaben führen muß; denn die Möglichkeit, sich des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, gehört zu den wichtigsten Rechten des Beschuldigten (vgl. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK). Dadurch wird sichergestellt, daß der Beschuldigte nicht nur Objekt des Strafverfahrens ist, sondern zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluß nehmen kann ...“

146 Zum Ganzen Rogall JZ 1996, 944, 947 f.; ders., FS Hanack, 293 ff.; ders., in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU, 119, 144; ders., FS Rieß, 979 f. S. auch BGHSt 53, 294, 304 ff.; 55, 138, 144 ff. 147 Rogall, in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU, 119, 144 f.; ders., FS Rieß, 951, 980. 148 BGHSt 38, 372, 374.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Zu den Pflichten des Rechtsstaates gehört es, dem Beschuldigten eine effektive Verteidigung zu gewährleisten. 149 In einigen Fällen hat der Gesetzgeber die Mitwirkung eines Verteidigers daher zwingend vorgeschrieben. Auch die notwendige Verteidigung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und gewährleistet das Zustandekommen eines fairen Verfahrens. Sie sichert das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und damit zugleich an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. In den Fällen der notwendigen Verteidigung soll der Beschuldigte nach dem Willen des Gesetzgebers den Beistand eines Verteidigers erhalten, da andernfalls eine effektive und wirksame Verteidigung nicht garantiert werden kann. Gerade die notwendige Verteidigung sichert den Status des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens. Ihm soll durch sachkundigen Rat und professionellen Beistand die Möglichkeit gegeben werden, seine prozessualen Rechte effektiv wahrzunehmen. Vor allem dürfen wesentliche Teile des Verfahrens, wozu insbesondere die Beweiserhebung gehört, nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführt werden. Die notwendige Verteidigung sichert damit den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren und den damit verbundenen Anspruch auf effektive und wirksame Verteidigung. Erhält der Beschuldigte trotz notwendiger Verteidigung keinen Verteidigerbeistand, wird die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten schwer beeinträchtigt. Nach der Rechtskreistheorie muss ein Verstoß gegen die Bestellungspflicht bei verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen daher zu einem Beweisverwertungsverbot führen, da der Rechtskreis des Beschuldigten wesentlich berührt wird. Bereits in BGHSt 11, 213 ff. hat der Große Senat für Strafsachen die notwendige Verteidigung zu den Vorschriften gezählt, welche die rechtsstaatlichen Grundlagen des Verfahrens gewährleisten. 150 Ebenso ergibt sich nach den Schutzzwecklehren ein Beweisverwertungsverbot aus dem Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung. Nach der gesetzgeberischen Wertung kann sich der Beschuldigte in den Fällen der notwendigen Verteidigung nicht ausreichend selbst verteidigen und bedarf daher des Beistandes eines Verteidigers. Dem Beschuldigten soll durch die Beiordnung eines Verteidigers professioneller Beistand gegeben werden, damit er sich effektiv verteidigen kann. Schutzzweck der Vorschriften über die notwendige Verteidigung ist gerade, dass wesentliche Teile des Verfahrens nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführt werden. Die Vertreter der Schutzzwecklehren gehen davon aus, dass der Gesetzgeber in den Fällen der notwendigen Verteidigung bereits eine entsprechende Abwä149 150

Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 526 f., 856 f., 875 ff.; ders. HRRS 2007, 402, 407 f. BGHSt 11, 213, 214.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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gung vorgenommen hat, so dass die verfahrensprägende Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren ohne den notwendigen Verteidigerbeistand zu einem Beweisverwertungsverbot führen muss. Mit der Anwendung der Abwägungslehre untergrabe der BGH die gesetzgeberische Wertung, dass dem Beschuldigten, wenn die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung vorliegen, ein Verteidiger zu bestellen ist. 151 Der Gesetzgeber habe mit der Schaffung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO bereits die in Frage stehenden gegenläufigen Interessen abgewogen. Er habe in § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ausdrücklich klargestellt, dass, sofern absehbar ist, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, die Staatsanwaltschaft gehalten ist, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen. Diese Abwägung des Gesetzgebers müsse sowohl für die Staatsanwaltschaft als auch für die erkennenden Gerichte bindend sein. 152 Eine Missachtung dieser Norm, die für die Erhaltung eines rechtsstaatlich strukturierten Verfahrens unerlässlich sei, müsse ein Verwertungsverbot zur Folge haben. 153 Eine Abwägung verbiete sich daher. 154 Eine einzelfallbezogene Abwägungslösung würde letztlich dazu führen, dass die Entscheidung des Gesetzgebers, dem Beschuldigten in Fällen der notwendigen Verteidigung auch im Ermittlungsverfahren einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen, zu einem bloßen Verhaltensvorschlag herabgestuft würde. 155 Nach der Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten müssten zumindest die Beschuldigtenvernehmung sowie die Identifizierungsgegenüberstellung ohne den notwendigen Verteidigerbeistand zu einem Beweisverwertungsverbot führen, da hier ein rechtswidriger Eingriff in Informationsbeherrschungsrechte des Beschuldigten vorliegt. Der Informationserhebung steht hier die fehlende Verpflichtung zur Mitwirkung an der eigenen Überführung entgegen. Nur wenn dem Beschuldigten ein Verteidiger zur Seite steht, der den Beschuldigten berät, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch machen soll bzw. die Durchführung der Identifizierungsgegenüberstellung überwacht, dürfen die erlangten Informationen (Angaben des Beschuldigten bzw. Wiedererkennen des Beschuldigten als Täter) erhoben werden. Auf die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand erhobenen Informationen haben die Strafverfolgungsorgane keinen Anspruch, so dass die unterlassene Verteidigerbeiordnung zu einem Beweisverwertungsverbot führt. 151 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 63; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 342; Wohlers JR 2002, 294, 295. 152 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 66. 153 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 66. 154 Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 341. 155 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 63; Wohlers JR 2002, 294, 295.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Ob sich die Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten auch eignet, die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot bei anderen Ermittlungsmaßnahmen zu beantworten, ist allerdings zweifelhaft. Durch die unterlassene Beiordnung eines Verteidigers vor der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung wird nicht die Stellung des Zeugen beeinträchtigt. Dieser ist auch in diesem Fall – soweit er kein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht besitzt – zu Angaben verpflichtet. Auch bei anderen verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen (Augenscheinseinnahme, Sachverständigenauswahl) stehen dem Beschuldigten keine Informationsbeherrschungsrechte zu. Amelung lehnt daher bei einer Verletzung von Mitwirkungsrechten der Verteidigung ein Beweisverwertungsverbot ab. Der Staat besitze auch ohne die notwendige Mitwirkung einen Anspruch auf die erhobenen Informationen, denn die Erhebung der Informationen sei nicht grundsätzlich unzulässig, sondern nur in fehlerhafter Weise erfolgt. Wenn allerdings das spätere Urteil auf einer Verwertung von Beweismitteln beruhe, die ohne die erforderliche Mitwirkung erhoben wurden, sei ein Revisionsgrund gegeben. 156 Demgegenüber stellt Störmer darauf ab, dass eine Verwertung der ohne die notwendige Mitwirkung erhobenen Informationen das subjektive Recht des Beschuldigten auf hinreichende Verteidigung erneut beeinträchtige, so dass ein Unterlassungsanspruch entstehe. 157 Auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen führt zu einem Beweisverwertungsverbot. Die unterlassene Verteidigerbeiordnung stellt einen derart schweren Verfahrensfehler dar, dass aufgrund des Gewichts des Verfahrensverstoßes und seiner Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Beschuldigten ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden muss. Da in den Fällen einer notwendigen Verteidigung erst die Mitwirkung eines Verteidigers die Subjektstellung des Beschuldigten im Verfahren gewährleistet, führt die unterlassene Verteidigerbeiordnung zu einer schweren Beeinträchtigung der Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten. Von einem fairen Verfahren kann keine Rede mehr sein. Sowohl nach der Abwägungslehre als auch nach der normativen Fehlerfolgenlehre muss ein Verstoß gegen die Bestellungspflicht daher zu einem Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme führen. Selbst bei besonders schwerwiegendem Tatvorwurf kann nichts anderes gelten. Zwar kommt der 1. Strafsenat in BGH StV 2006, 566 f. zu dem Ergebnis, dass es dahinstehen kann, ob dem unter Tatverdacht zumindest des Totschlags stehenden (mittellosen) Beschuldigten vor seiner polizeilichen bzw. haftrichterlichen Vernehmung ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen, da jedenfalls die gebotene Abwägung nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führe. 158 Der BGH stellt in dieser Entscheidung nicht mehr in erster Linie auf eine Verletzung 156 157

Amelung, FS Bemmann, 505, 516 f.; ders., FG Hilger, 327, 335. Störmer, Dogmatische Grundlagen, S. 230.

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von Rechten ab, die dazu bestimmt sind, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu sichern, sondern erhebt die Schwere des Tatvorwurfs zum ausschlaggebenden Kriterium. Dies würde jedoch in den Fällen einer unterlassenen Verteidigerbeiordnung zu dem absurden Ergebnis führen, dass das Recht des Beschuldigten auf Verteidigerbeistand gerade in den Fällen, in denen der Beschuldigte besonders schutzbedürftig ist, am wenigsten zählte. Denn je schwerer der Tatvorwurf umso mehr ist der Beschuldigte auf die Beratung und den Beistand eines Verteidigers angewiesen. Das verfassungs- und konventionsrechtlich abgesicherte Recht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Verteidigers muss daher das Interesse an der Tataufklärung überwiegen. Ein Verstoß gegen die Bestellungspflicht bei verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen ist damit derart schwerwiegend, dass ein Beweisverwertungsverbot die Folge sein muss. Nur dadurch ist gesichert, dass Ermittlungsmaßnahmen, die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand stattfanden, keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf und den Ausgang des Verfahrens haben. Denn wären die Beweise erst in der Hauptverhandlung erhoben worden, hätte die fehlende Anwesenheit des notwendigen Verteidigers zu dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geführt. Die unterlassene Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren trotz Bestellungspflicht hat daher ein Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme zur Folge. 159 III. Stellungnahme zu den Entscheidungen der Rechtsprechung 1. BGHSt 46, 93 ff. Nachdem der BGH festgestellt hatte, dass dem unverteidigten Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen, bei der der Beschuldigte von der Anwesenheit ausgeschlossen war, ein Verteidiger hätte bestellt werden 158

BGH StV 2006, 566, 567. AG Hamburg StV 2004, 11, 12 m. zust. Anm. Meyer-Lohkamp; Ambos ZStW 115 (2003), 583, 631; ders. NStZ 2003, 14, 17; Burhoff, Handbuch, Rn. 1380; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 75, 162; Fezer JZ 2001, 363, 364; Gleß NJW 2001, 3606, 3607; Inoue, Pflichtverteidigung, S. 157 f.; Klemke StV 2003, 413, 415; Kunert NStZ 2001, 217 f.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 344; Pauly StV 2002, 290, 292; Satzger, Gutachten, C 91 f.; Schlothauer StV 2001, 127, 130; ders. / Weider StV 2004, 504, 515; SK-Rogall § 136 Rn. 94; St. Stern, Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren, Rn. 1540; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, S. 43; Wohlers JR 2002, 294, 295 f. 159

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müssen, musste sich der Senat mit den Folgen der unterlassenen Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren auseinandersetzen. Nach Auffassung des Senats führt die unterlassene Verteidigerbeiordnung jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot, sondern mindert lediglich den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses: „Das Unterlassen der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers hat das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung beeinträchtigt. Dieses Versäumnis mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses, das durch den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter zur Grundlage der Urteilsfindung wurde.“ 160

Der Senat hält eine solche „Beweiswürdigungs-Lösung“ für sachgerechter als ein Beweisverwertungsverbot. Nach der Beweiswürdigungs-Lösung darf zwar auf den Ermittlungsrichter (als Zeuge vom Hörensagen) zurückgegriffen werden, dabei sind jedoch – ähnlich wie beim anonymen Zeugen – besonders strenge Beweis- und Begründungsanforderungen zu berücksichtigen. 161 Dabei nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Folgen einer Verletzung der Benachrichtigungspflichten der §§ 168c, 224 StPO. Der BGH habe in seiner neueren Rechtsprechung bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und daher eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll mit geringerem Beweiswert „herabgestuft“ werde. 162 Der Senat zieht sodann eine Parallele zur Gesamtbetrachtungslehre des EGMR. Nach Ansicht des Senats ist auch für die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozessrechts eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens vorzunehmen. Das gesamte Beweisverfahren müsse im Lichte des Fragerechts gesehen werden. Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es hierbei auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an. Der EGMR stellt dabei zwar in erster Linie auf das Beweisverfahren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung sei aber auch die Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall abhängt, liege eine Lösung nahe, die dem konkreten Fall gerecht wird. Das ist nach Ansicht des Senats mit der Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen. 163

160 BGHSt 46, 93, 103; zust. Detter NStZ 2003, 1, 3; Nack, Sonderheft Schäfer, 46, 49; Pfeiffer § 140 Rn. 9; Schwaben NStZ 2002, 288, 293; Widmaier, Sonderheft Schäfer, 76, 78 f.; ders., FS Nehm, 357, 370. Vgl. auch BVerfG NJW 2007, 204, 206 f. 161 BGHSt 46, 93, 103. Vgl. auch BGHSt 51, 150, 157 f.; BGH NJW 2005, 1132. 162 BGHSt 46, 93, 104. 163 BGHSt 46, 93, 104.

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Zwar ist bei einer solchen Beweiswürdigungs-Lösung zu bedenken, dass auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht mitwirken konnte. Insofern befinde sich die Verteidigung jedoch in ähnlicher Lage wie bei dem „im Dunkel bleibenden“ anonymen Zeugen. In diesen Fällen werde das Fragerecht häufig noch schwerer beeinträchtigt, da die Person des Zeugen nicht bekannt ist und auf bestimmte Fragen oft keine Antwort gegeben wird. Wenn die Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein konventionsgemäßer Ausgleich ist, müsse dies auch für den vorliegenden Fall gelten. 164 Nach Ansicht des Senats ist die Ablehnung eines Beweisverwertungsverbots außerdem systemkonform mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem Konventionsverstoß aufgrund unzulässiger Tatprovokation. 165 Das fehlerhafte Zustandekommen des Vernehmungsergebnisses infolge einer unterlassenen Verteidigerbestellung müsse daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere Beachtung finden. Auf die Angaben des Vernehmungsrichters könne eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden. Zudem müsse eine solche „sorgfältigste“ Überprüfung der Aussage für das Revisionsgericht nachprüfbar im Urteil dargelegt werden. 166 Gegen diese „Beweiswürdigungs-Lösung“ sind grundlegende Bedenken vorgebracht worden. Sie bringt „Unklarheiten, Ungenauigkeiten, Unsicherheiten und Abwägungsschwierigkeiten“ mit sich. 167 Insbesondere hat der BGH für die von ihm geforderten besonderen Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen bislang keine praktikablen Richtlinien aufgestellt. 168 Nach Fezer ist die Beweiswürdigungs-Lösung daher „als solche schon fragwürdig“. 169 Gleß weist zudem auf die gebotene Unterscheidung zwischen der gebundenen Beweiserhebung und -verwertung einerseits und der freien Beweiswürdigung andererseits hin. Diese soll gewährleisten, „dass auf der ersten Ebene auf Grund formalisierter Regeln solche Erkenntnisse ausgeschlossen werden, die aus übergeordneten Gesichtspunkten nicht in die Entscheidungsfindung einfließen sollen, weil eben auf der zweiten Ebene – infolge des Fehlens strenger Regeln – nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie doch (maßgeblich) in der Urteilsfindung durchschlagen.“ 170 164 165 166 167 168 169 170

BGHSt 46, 93, 104 f. BGHSt 46, 93, 105. BGHSt 46, 93, 105 f. Kunert NStZ 2001, 217. Schlothauer StV 2001, 127, 129. Fezer JZ 2001, 363, 364. Gleß NJW 2001, 3606, 3607; in diesem Sinne auch Franke GA 2002, 573, 578.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Nach Gössel 171 ist die Beweiswürdigungs-Lösung dagegen eine dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO widersprechende unzulässige Beweisregel. Greift kein Beweisverwertungsverbot ein, ist auch der rechtswidrig erlangte Beweis zum Gegenstand der Beweiswürdigung zu machen. Der vom BGH in diesen Fällen generell vorgegebene eingeschränkte Beweiswert bindet jedoch das erkennende Gericht und stellt damit einen Eingriff in die freie Beweiswürdigung dar. 172 Die Feststellung des Senats, die neuere Rechtsprechung habe bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswertes abgestellt und deshalb eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll mit geringerem Beweiswert „herabgestuft“ werde, 173 kann zur Unterstützung seiner „Beweiswürdigungs-Lösung“ im vorliegenden Fall nicht herangezogen werden. Die Rechtsprechung hat bei einem Verstoß gegen die Benachrichtigungspflichten des § 168c Abs. 5 StPO gerade nicht eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung als Folge von Verfahrensfehlern anerkannt, sondern die Verwertung des fehlerhaft zustande gekommenen richterlichen Vernehmungsprotokolls auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, nämlich der zulässigen Verlesung als Protokoll einer nichtrichterlichen Vernehmung nach § 251 Abs. 1 StPO, bei der keine Anwesenheits- und Benachrichtigungspflichten bestehen. 174 Der BGH hat nach Feststellung einer fehlerfreien Möglichkeit zur Einführung des Beweises lediglich auf den verminderten Beweiswert eines (dann nur) nichtrichterlichen Vernehmungsprotokolls hingewiesen. 175 Die daraus folgenden erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung stellen also keinen Ausgleich für eine fehlerhafte Beweiserhebung dar. 176 Auch der vom Senat vorgenommene Vergleich mit der Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen überzeugt nicht. War die Sperrerklärung für das Gericht bindend, handelt es sich bei der Einvernahme der Führungs- bzw. Vernehmungsbeamten als Zeugen vom Hörensagen oder der Verwertung des Vernehmungsprotokolls um eine rechtmäßige Beweisgewinnung. Die für diese Fälle einer nur mittelbaren Beweiserhebung aufgestellten besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung 177 sind daher nicht Folge eines Verfahrensfehlers. 178 War die 171

Gössel, GS Meurer, 381, 390 ff.; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 35. Gössel, GS Meurer, 381, 390 ff.; ähnlich Schwenn StraFo 2008, 225, 226. 173 BGHSt 46, 93, 104. 174 Vgl. BGHSt 34, 231, 234 f.; BGH NStZ 1998, 312, 313; StV 2005, 255; BayObLG JR 1977, 475, 476. 175 Vgl. BGH NStZ 1998, 312, 313; StV 2005, 255. 176 Fezer, FS Gössel, 627, 630 f.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 329 f. 177 Vgl. BVerfG NJW 2010, 925, 926; BGHSt 17, 382, 385 f.; 33, 178, 181 f.; 34, 15, 17 f.; 36, 159, 166 f.; 49, 112, 118 ff. 172

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Sperrerklärung dagegen (weil offensichtlich rechtsfehlerhaft oder willkürlich) für das Gericht nicht bindend, liegt in der mittelbaren Beweiserhebung ein Verfahrensfehler, der zu einem Verwertungsverbot führt. 179 Nur die fehlende faktische Möglichkeit der Befragung als Folge rechtmäßiger Nichtgewährung des Fragerechts kann daher durch erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung kompensiert werden. 180 Die Rechtsprechung hat daher bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten nicht mit einer Lösung auf Beweiswürdigungsebene reagiert, sondern mit einem Beweisverwertungsverbot. Ebenso wenig überzeugt der Hinweis auf die Strafzumessungs-Lösung der Rechtsprechung im Falle einer unzulässigen Tatprovokation. Dort ist ein staatliches Fehlverhalten im Zeitpunkt der Tatbegehung betroffen, wohingegen es hier um eine Beschränkung der Verteidigungsrechte im nachfolgenden Strafverfahren geht. 181 Der Senat kann sich zur Begründung seiner „Beweiswürdigungs-Lösung“ auch nicht unmittelbar an die für die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens entwickelte sog. Gesamtbetrachtungslehre des EGMR anlehnen. Mit dieser will der EGMR den unterschiedlichen Verfahrensordnungen in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen. 182 Aufgabe des EGMR ist es (nur), Konventionsverstöße festzustellen, dagegen nicht, die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung und -verwertung nach nationalen Vorschriften zu beurteilen. Auf die vom EGMR berechtigterweise vorgenommene „Gesamtbetrachtung“ kann sich der BGH nicht berufen. Denn dieser hat als oberstes nationales Strafgericht gerade die Verpflichtung, zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Beweisgewinnung zu differenzieren. 183 Im Gegensatz zum BGH, der eine „Gesamtbetrachtung“ nach Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vornimmt, indem er das Ausmaß der Verletzung bei der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung berücksichtigt, nimmt der EGMR eine Gesamtbetrachtung bereits im Rahmen der Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. Ergibt dieser „overall approach“, dass eine Verletzung des fairen Verfahrens 178 Endriß, FS Rieß, 65, 75; Fezer, FS Gössel, 627, 632 f.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 330. 179 BGHSt 36, 159, 163; Fezer, FS Gössel, 627, 633; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 330. 180 Fezer, FS Gössel, 627, 635 f. 181 Ambos NStZ 2003, 14, 17 Fn. 182; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 330 f. 182 Eisele JR 2004, 12, 16; Fezer, FS Gössel, 627, 636 Fn. 41; Gleß NJW 2001, 3606, 3607; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 331; Renzikowski, FS Lampe, 791, 792 m. Fn. 9. 183 Fezer, FS Gössel, 627, 637; Safferling StV 2010, 339, 341.

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vorliegt, kann eine Kompensation nicht mehr erfolgen. Der EGMR nimmt also die Gesamtbetrachtung bereits auf Tatbestandsseite vor. 184 Nach den von der Rechtsprechung bislang zur Begründung von Beweisverwertungsverboten vertretenen Auffassungen hätte der Senat auch in diesem Fall zu der Annahme eines Beweisverwertungsverbotes kommen müssen. Die Beeinträchtigung des Fragerechts des Beschuldigten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK durch die unterlassene Verteidigerbestellung stellte eine wesentliche Berührung des Rechtskreises des Beschuldigten dar, so dass nach der Rechtskreistheorie ein Verwertungsverbot hätte angenommen werden müssen. 185 Zum gleichen Ergebnis hätte der Senat nach der sog. Abwägungslehre kommen müssen. Zwar wurde der Beschuldigte einer erheblichen Straftat verdächtigt, so dass eine Nichtverwertung die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege durchaus beeinträchtigt hätte. Allerdings liegt nach der Rechtsprechung die Annahme eines Verwertungsverbotes nahe, wenn die verletzte Vorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu sichern. Das Fragerecht des Beschuldigten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK stellt eine Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens dar und gehört zum Kernbestand seiner Verteidigungsrechte. Dadurch soll gewährleistet werden, dass der Beschuldigte Gelegenheit erhält, an der Beweiserhebung teilzunehmen und die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sowie die Glaubwürdigkeit des Zeugen eingehend zu hinterfragen. Das Fragerecht betrifft somit die Stellung des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens. Die Verletzung des Fragerechts beeinträchtigte daher wesentliche Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten, so dass ein Beweisverwertungsverbot hätte die Folge sein müssen. 186 Der Senat ist jedoch in seiner Entscheidung nicht zum „Kern der Verfahrensverletzung“ vorgedrungen. 187 Denn neben einem Verstoß gegen das durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierte Fragerecht lag unabhängig davon eine Beeinträchtigung des Rechts auf Verteidigerbeistand vor. 188 Wäre der Beschuldigte bei der Vernehmung anwesend gewesen, wäre das Fragerecht nicht verletzt worden. Gleichwohl war das Recht auf notwendigen Verteidigerbeistand betroffen, da es sich um den Vorwurf schwerwiegender Straftaten (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 und 2 184

Renzikowski, FS Lampe, 791, 792 m. Fn. 9; Sommer StraFo 2002, 309, 314. Gössel, GS Meurer, 381, 386 f.; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 339. 186 Fezer, FS Gössel, 627, 629; Gössel, GS Meurer, 381, 387 f.; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 35; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 340; Schwenn StraFo 2008, 225, 229. 187 Fezer JZ 2001, 363, 364. 188 Ambos NStZ 2003, 14, 17; Endriß, FS Rieß, 65, 74; Fezer JZ 2001, 363, 364; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 323 f., Neuhaus JuS 2002, 18, 21; Pauly StV 2002, 290, 292; Schlothauer StV 2001, 127, 129 f. 185

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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StPO) handelte und ein Teil der entscheidungsrelevanten Beweisaufnahme in das Ermittlungsverfahren vorverlagert wurde. 189 Aufgrund der vom Senat vorgenommenen Einordnung als (bloßer) Verstoß gegen das Fragerecht zieht der BGH zu Unrecht eine Parallele zum Beweiswert von Aussagen anonymer Zeugen und stellt somit auf eine BeweiswürdigungsLösung ab. Hätte der Senat den Verstoß aber (auch) als Verstoß gegen das Recht auf Verteidigerbeistand gewertet, hätte er an die Rechtsprechung des BGH zur Verweigerung bzw. Erschwerung des Rechts auf Verteidigerkonsultation anknüpfen und ein Beweisverwertungsverbot annehmen müssen. 190 Da in Fällen einer notwendigen Verteidigung die Subjektstellung des Beschuldigten erst durch die Mitwirkung eines Verteidigers gewährleistet wird, lag in der unterlassenen Verteidigerbeiordnung eine schwere Beeinträchtigung der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten. Das Gewicht des Verfahrensverstoßes wog derart schwer, dass auch eine Abwägung zu einem Beweisverwertungsverbot hätte führen müssen. 191 2. BGHSt 47, 172 ff. Ob dem Beschuldigten vor der Mitwirkung an der Tatrekonstruktion im Ermittlungsverfahren ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen, ließ der Senat in dieser Entscheidung offen. 192 Der Senat ist jedoch der Auffassung, dass, selbst wenn dem Beschuldigten bereits vor der Tatrekonstruktion ein Verteidiger zu bestellen gewesen wäre, sich aus der unterlassenen Verteidigerbeiordnung kein Beweisverwertungsverbot ergibt. Die StPO enthält kein ausdrückliches Verwertungsverbot für den Fall eines Verstoßes gegen § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. Die Entscheidung für oder gegen ein Beweisverwertungsverbot ist deshalb nach Ansicht des Senats aufgrund einer allgemeinen Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass in der 189

Fezer JZ 2001, 363, 364; Schlothauer StV 2001, 127, 128. Vgl. auch Safferling NStZ 2006, 75, 81, Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, S. 351 f. 190 Fezer JZ 2001, 363, 364. 191 Im Ergebnis ebenso Ambos NStZ 2003, 14, 17; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 171; Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 55; Eisele JR 2004, 12, 17; Fezer JZ 2001, 363, 364; Gössel, GS Meurer, 381, 388 Fn. 36; HK-Zöller § 168c Rn. 10; Klemke StV 2003, 413, 415; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 924.2; Kunert NStZ 2001, 217 f.; LR-Erb § 168c Rn. 56c; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 333; Meyer-Goßner § 168c Rn. 9; Meyer-Lohkamp StV 2004, 13; Pauly StV 2002, 290, 292; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 407; Schlothauer StV 2001, 127, 130 f.; SK-Paeffgen Art. 6 EMRK Rn. 139; Sowada NStZ 2005, 1, 6; Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, S. 352; wohl auch Meyer-Mews JuS 2004, 39, 42. 192 BGHSt 47, 172, 177.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Beweisverbotsvorschrift des § 136a Abs. 3 StPO zum Ausdruck kommt, dass nur gravierende Verfahrensverstöße ein Verwertungsverbot auslösen könnten. 193 Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung hervorgehoben, das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens bezeichnet. Der Schutz des Gemeinwesens, der durch die Straftat Verletzten und möglicher künftiger Opfer, aber auch der generelle Anspruch des Täters auf ein richtiges und gerechtes Urteil setzten der Annahme von Beweisverwertungsverboten Schranken. 194 Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung ist nach Auffassung des Senats mitentscheidend, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt und der Beschuldigte in besonderem Maße des Schutzes bedurfte. 195 Der Senat führt aus, dass das Gewicht einer unterstellten Verletzung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO angesichts der Kenntnis des Angeklagten von seinem Schweigerecht und dem Recht auf Verteidigerkonsultation nicht als schwer zu werten sei. Der Angeklagte habe aus freien Stücken an der Tatrekonstruktion mitgewirkt und die Strafverfolgungsbehörden hätten diese auch als unaufschiebbar und eilbedürftig einstufen dürfen. Im Lichte dessen erscheint dem Senat das Schutzbedürfnis des Angeklagten unter den gegebenen Umständen nicht als in besonderem Maße ausgeprägt. Der Angeklagte habe aus eigener Initiative Kontakt zur Polizei aufgenommen und Angaben zur Sache angeboten sowie aktiv an der Tatrekonstruktion mitgewirkt. 196 Der Senat lehnt daher ein Beweisverwertungsverbot ab. Der Senat knüpft in dieser Entscheidung an die in ständiger Rechtsprechung vertretene sog. Abwägungslehre an, wonach die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot aufgrund einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu beantworten ist. Zwar ist § 141 Abs. 3 S. 2 StPO – worauf der Senat zutreffend hinweist – ein ausdrückliches Beweisverwertungsverbot nicht zu entnehmen. Wie bereits ausgeführt, muss jedoch auch eine Abwägung zu der Annahme eines Beweisverwertungsverbots führen. Unterbleibt die notwendige Beiordnung eines Verteidigers vor verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen, liegt ein schwerer Verstoß gegen Verfahrensvorschriften vor, die dazu dienen, die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten zu sichern. Das Interesse an der Tataufklärung kann in den Fällen einer unterlassenen Verteidigerbeiordnung nicht überwiegen, da der 193 194 195 196

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

47, 47, 47, 47,

172, 172, 172, 172,

179. 179 f. 180. Vgl. auch BGHSt 42, 170, 174; BGH NStZ 2004, 450. 180.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

217

Beschuldigte gerade bei schwerem Tatvorwurf auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen ist. Damit bestand sowohl für die Angaben des Beschuldigten in der polizeilichen Vernehmung als auch hinsichtlich der Tatrekonstruktion ein Beweisverwertungsverbot. Daran ändert auch nichts, dass der Beschuldigte freiwillig an der Tatrekonstruktion mitwirkte und Angaben zur Sache anbot. Denn die notwendige Verteidigung soll gerade sicherstellen, dass der Beschuldigte bei schwerem Tatvorwurf ohne anwaltliche Beratung keine solchen Entscheidungen trifft. Eine ohne derartige Beratung gefällte Entscheidung kann daher nicht als die Entscheidung eines verantwortlich handelnden Prozesssubjekts eingestuft werden. 197 Allein die Kenntnis des Schweigerechts und des Rechts zur Verteidigerkonsultation reichen nach dem Willen des Gesetzgebers im Falle der notwendigen Verteidigung zum Schutz des Beschuldigten nicht aus. Auch in diesem Fall hätte daher ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden müssen. 198 3. BGH NStZ 2004, 450 f. In dieser Entscheidung ließ der 1. Strafsenat offen, ob die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die richterliche Vernehmung des Beschuldigten und die Haftbefehlseröffnung einen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers hätte stellen müssen, so dass der Beschuldigte bei der nachfolgenden polizeilichen Vernehmung verteidigt gewesen wäre. 199 Nach Ansicht des Senats ist jedoch auch in diesem Fall auf Grund der vorzunehmenden Abwägung ein Beweisverwertungsverbot abzulehnen. Dabei sei auf der einen Seite das Gewicht des – zu unterstellenden – Verfahrensverstoßes zu beachten und auf der anderen Seite zu berücksichtigen, ob und inwieweit der Beschuldigte in besonderem Maße des Schutzes bedurfte. 200 Der Beschuldigte war über seine Aussagefreiheit und das Recht zur Verteidigerkonsultation – anders als im Fall BGHSt 47, 172 ff. – vollständig und korrekt belehrt worden. Auch stand der bereits seit einigen Tagen inhaftierte Beschuldigte nicht mehr unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Festnahme. Dem Beschuldigten waren Name, Anschrift und Telefonnummer einer ihm zuvor empfohlenen Rechtsanwältin bekannt, deren Beiziehung er jederzeit, auch schon vor Beginn der Vernehmung, hätte verlangen können. Davon machte der Beschuldigte jedoch keinen Gebrauch, sondern forderte dies erst, als die Ver197 Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 63; Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 342; Wohlers JR 2002, 294, 295. 198 Im Ergebnis ebenso Klemke StV 2003, 413, 415; Wohlers JR 2002, 294, 295 f. 199 BGH NStZ 2004, 450. 200 BGH NStZ 2004, 450.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

nehmung einen bestimmten Punkt erreichte und er deren endgültigen Abbruch verlangte. 201 Aus diesen Umständen, aber auch den vorherigen Reaktionen des Beschuldigten auf einzelne Fragen, die er zunächst mit seinem Rechtsanwalt besprechen wollte, schloss der Senat, dass der Beschuldigte seine Rechte nicht nur kannte, sondern bewusst differenziert damit umging. Ein Beweisverwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten bei dessen polizeilicher Vernehmung lehnte der Senat daher ab. 202 Auch in diesem Fall hätte jedoch ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden müssen. Der Beschuldigte stand unter anderem unter dem dringenden Tatverdacht des Raubes mit Todesfolge, der gem. §§ 249, 251 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren bedroht ist. Die Staatsanwaltschaft hätte daher bereits mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls einen Beiordnungsantrag stellen und dem unverteidigten Beschuldigten hätte schon vor seiner haftrichterlichen Vernehmung ein Verteidiger bestellt werden müssen. Auch bei der späteren polizeilichen Vernehmung hätte demnach ein Verteidiger anwesend sein müssen. Die vom Senat vorgenommene Abwägung überzeugt nicht. Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung ist auch schon bei der Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, dass der Beschuldigte bei besonders schwerem Tatvorwurf nur nach anwaltlicher Beratung darüber entscheiden soll, ob er Angaben zur Sache macht oder nicht. Dabei genügt es nicht, dass der Beschuldigte über seine Rechte aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt wird oder Namen und Telefonnummer eines Rechtsanwaltes mit sich führt. Ebenso wenig genügt es, wenn der Beschuldigte „bewusst und differenziert“ mit seinen Rechten umgeht. Im Falle der notwendigen Verteidigung besteht die gesetzliche Vermutung, dass der Beschuldigte ohne anwaltlichen Beistand nicht in der Lage ist, sich effektiv und wirksam zu verteidigen. Möge sich der Beschuldigte im Ausnahmefall auch im Klaren über seine Rechte und strafprozessualen Möglichkeiten sein, so fehlt ihm doch die nötige Distanz zur Beschuldigung. Dementsprechend genügt es im Falle notwendiger Verteidigung auch nicht, wenn der Beschuldigte, der selbst Rechtsanwalt ist, der Meinung ist, sich allein hinreichend verteidigen zu können. 203

201 202 203

Rn. 2.

BGH NStZ 2004, 450 f. BGH NStZ 2004, 450, 451. Vgl. BGH MDR 1954, 564; OLG Hamm StraFo 2004, 170; Meyer-Goßner § 140

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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4. AG Hamburg StV 2004, 11 f. Das AG Hamburg nahm hingegen bei unterbliebener Bestellung eines notwendigen Verteidigers im Ermittlungsverfahren zutreffend ein Beweisverwertungsverbot an. 204 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Dem Angeklagten wurde eine Straftat nach §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB (a. F.) vorgeworfen. Die einzige unmittelbare Zeugin war das drei Jahre alte geschädigte Kind. Das Kind wurde im Ermittlungsverfahren richterlich vernommen. Der unverteidigte Beschuldigte wurde gem. § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit bei der Vernehmung ausgeschlossen. Ein Verteidiger wurde ihm nicht bestellt. In der Hauptverhandlung verweigerte die Mutter die nochmalige Vernehmung des Kindes, um drohende Erziehungs- und Entwicklungsschäden zu verhindern.

In der Hauptverhandlung konnte nur die Aussage der Ermittlungsrichterin als Beweismittel herangezogen werden. Das AG Hamburg erklärte die Aussage für nicht verwertbar, da der Angeklagte in seinen Rechten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK i.V. m. § 141 Abs. 3 StPO und § 168c Abs. 2 StPO verletzt wurde. Weder der Angeklagte noch ein von ihm gewählter oder vom Gericht beigeordneter Verteidiger hatten die Möglichkeit, bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung Fragen an die Zeugin zu stellen. 205 Unabhängig von der Frage, ob der Ausschluss des Angeklagten nach § 168c Abs. 3 StPO rechtmäßig erfolgte, liegt nach Ansicht des AG Hamburg jedenfalls in Kombination mit der fehlenden Bestellung eines Verteidigers eine wesentliche Verletzung von Vorschriften vor, die dazu bestimmt sind, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren zu sichern. 206 Zunächst stellt das AG unter Bezugnahme auf BGHSt 46, 93 ff. fest, dass dem von der Vernehmung ausgeschlossenen unverteidigten Beschuldigten nach konventionskonformer Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO im Hinblick auf das durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierte Fragerecht vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung der zentralen Belastungszeugin ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen. 207 Die unterlassene Verteidigerbestellung hat das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung vollständig vereitelt, da der Angeklagte keine Gelegenheit hatte, Fragen an die Zeugin zu stellen oder stellen zu lassen und damit auf das Vernehmungsergebnis Einfluss zu nehmen. Dadurch wurden die Rechte des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK i.V. m. § 141 204 205 206 207

AG Hamburg StV 2004, 11 m. Anm. Meyer-Lohkamp. AG Hamburg StV 2004, 11. AG Hamburg StV 2004, 11. AG Hamburg StV 2004, 11, 12.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Abs. 3 und § 168c Abs. 2 StPO in elementarer Weise verletzt, so dass ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist. 208 Denn der Beschuldigte hat ein durch Art. 2 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich abgesichertes Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Er ist nicht nur Objekt des Verfahrens, sondern Verfahrenssubjekt, das bedeutet, dass er die Möglichkeit erhalten muss, das Verfahren maßgeblich zu beeinflussen. § 168c StPO sieht daher in Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips ein Anwesenheits-, Beteiligungs- und Fragerecht des Beschuldigten bei der richterlichen Vernehmung vor. Den gleichen Zweck verwirklichen die Vorschriften der §§ 140 ff. StPO über die notwendige Verteidigung. Mit der notwendigen Verteidigung sichert der Rechtsstaat das Interesse an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Obwohl auch Gericht und Staatsanwaltschaft sowohl die belastenden als auch die entlastenden Umstände ermitteln müssen (§§ 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO), wird der erforderliche Schutz des Beschuldigten erst dann gewährleistet, wenn ein eigens für die Verteidigung ausersehener Prozessbeteiligter, der auch formell besonders hervortritt, für die Belange des Beschuldigten Sorge trägt. Der Beschuldigte kann als Betroffener des Strafverfahrens fast nie ein ausreichendes Gegengewicht zum staatlichen Verfolgungsapparat bilden. Der Verteidiger kann dieses Defizit ausgleichen, indem er etwa den Schuldvorwurf vorbehaltlos in Frage stellt und zugunsten des Beschuldigten jede Schwachstelle deutlich macht. 209 Das AG Hamburg führt weiter aus, dass die Rechte des Beschuldigten zwar nicht unbegrenzt gelten, sie können vielmehr im Interesse einer wirksamen Strafverfolgung und einer funktionstüchtigen Rechtspflege eingeschränkt werden. So kann der Beschuldigte berechtigt von einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgeschlossen werden, wenn seine Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde (§ 168c Abs. 3 StPO). In diesem Fall kann jedoch ein Verteidiger das Mitwirkungsrecht des Beschuldigten wahrnehmen. Insoweit ergänzen sich im Fall der notwendigen Verteidigung die Rechte aus § 168c StPO und aus §§ 140 ff. StPO. Auch die Benachrichtigung des Verteidigers kann unterbleiben, wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde (§ 168c Abs. 5 S. 2 StPO). Liegen jedoch keine Anhaltspunkte für eine solche Ausnahme vor, ist die Benachrichtigungspflicht also verletzt worden, folgt hieraus ein Beweisverwertungsverbot. 210 208 209 210

AG Hamburg StV 2004, 11, 12. AG Hamburg StV 2004, 11, 12. AG Hamburg StV 2004, 11, 12.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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Nach Auffassung des AG Hamburg muss das Gleiche für den hier vorliegenden Fall gelten, nämlich dass ein Verteidiger, obwohl dies notwendig gewesen wäre, noch nicht bestellt ist und infolgedessen auch nicht benachrichtigt werden und die Interessen des Beschuldigten bei der richterlichen Zeugenvernehmung wahrnehmen kann. Denn hier wird der Beschuldigte in vergleichbarer Weise ohne rechtfertigenden Grund in seiner verfahrensrechtlichen Stellung beschränkt. Im Unterschied zu einer normalen Zeugenaussage hat der Beschuldigte bei einem Rückgriff auf die ermittlungsrichterliche Vernehmung keine Möglichkeit mehr, eine ihn belastende Aussage des originären Zeugen direkt anzugreifen, dessen Glaubwürdigkeit zu erschüttern oder auch nur Ungenauigkeiten sofort aufzuzeigen. 211 Diesen überzeugenden Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Das AG Hamburg hat die besondere Bedeutung der Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren für die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten erkannt und entsprechende Konsequenzen gezogen. IV. Ergebnis Das Recht auf Verteidigerbeistand gehört zu den wichtigsten Rechten des Beschuldigten. Es sichert seinen Status als Subjekt des Verfahrens. Die notwendige Verteidigung ist Ausdruck des Rechtsstaatprinzips und des daraus hergeleiteten Grundsatzes des fairen Verfahrens. Sie sichert das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und damit zugleich an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Unterbleibt die Bestellung eines notwendigen Verteidigers im Ermittlungsverfahren, wird die Subjektstellung des Beschuldigten schwer beeinträchtigt, so dass ein Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme die Folge sein muss. Da ein entsprechendes Beweisverwertungsverbot in allen Verfahrensstadien zu beachten ist, 212 muss es bereits im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft berücksichtigt werden. Das betrifft nicht nur die Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts i. S. d. § 170, also die Frage, ob Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen ist, sondern bereits die Feststellung eines Anfangsverdachts i. S. d. §§ 152 Abs. 2, 160 oder etwa die Begründung des dringenden Tatverdachts als Voraussetzung eines Haftbefehlsantrags gem. § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. 213 211

AG Hamburg StV 2004, 11, 12. LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 7, 14; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 7 f.; ders., in: Höpfel / Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU, 119, 130; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 909.2. 212

222

Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

B. Beweisverwertungsverbot bei Verstoß gegen die Belehrungspflicht Der Beschuldigte ist über sein Recht, die Beiordnung eines Verteidigers bereits im Ermittlungsverfahren beantragen zu können, zu belehren. 214 Damit stellt sich die Frage, welche Folgen eine unterlassene Belehrung über das Antragsrecht hat. Zur Beantwortung dieser Frage bietet sich ein Vergleich mit den Folgen eines Verstoßes gegen sonstige gegenüber dem Beschuldigten bestehende Belehrungspflichten an. Nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO 215 ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, dass es ihm freisteht, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Die frühere Rechtsprechung sah in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO eine bloße „Ordnungsvorschrift“, deren Verletzung nicht zu einem Verwertungsverbot führt. 216 Dem widersprach die einhellige Auffassung der Literatur zu Recht. Denn die Vorschrift schützt die Subjektstellung des Beschuldigten und sichert dessen Recht auf ein faires Verfahren. Die Belehrungspflicht soll sicherstellen, dass der Beschuldigte seine Aussagefreiheit kennt und sich nicht im irrigen Glauben an eine Aussagepflicht selbst belastet. Aufgrund des hohen verfassungsrechtlichen Ranges der Selbstbelastungsfreiheit als Ausdruck der Achtung der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) 217 muss die unterlassene Belehrung des Beschuldigten über die Aussagefreiheit daher zu einem Verwertungsverbot führen. 218 Inzwischen hat sich auch der BGH dieser Ansicht ausdrücklich angeschlossen. 219 213

Jahn, Gutachten, C 85; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 8. Dazu oben Teil 3 Kapitel 1 C. 215 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 216 BGHSt 22, 170, 173 ff. Im Ergebnis ebenso BGHSt 31, 395, 399 = NStZ 1983, 565 m. abl. Anm. K. Meyer = JZ 1983, 716 m. abl. Anm. Grünwald = JR 1984, 340 m. abl. Anm. Fezer. 217 Vgl. auch BGHSt 52, 11, 17. 218 AK-Gundlach § 136 Rn. 38; AK-Achenbach § 163a Rn. 28; Beulke StV 1990, 180, 181; ders., Strafprozessrecht, Rn. 468; ders. Jura 2008, 653, 656; Bohlander NStZ 1992, 504, 505; Dencker MDR 1975, 359, 364; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 373; Fezer JR 1984, 341; ders. JR 1992, 385; C. Geyer, Belehrung, S. 128 ff.; Grünwald JZ 1966, 489, 495; ders. JZ 1968, 752, 753; ders. JZ 1983, 717, 718; Haas GA 1995, 230, 231; HK-Lemke § 136 Rn. 31; Kiehl NJW 1993, 501, 502; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 26; KMR-Lesch § 136 Rn. 22; Lesch JA 1995, 157, 160 f.; LR-Gleß § 136 Rn. 77; K. Meyer NStZ 1983, 566, 567; Meyer-Goßner § 136 Rn. 20; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 88; ders. StV 1994, 343; Rieß JA 1980, 293, 300; Rogall, Der Beschuldigte, S. 213 ff.; ders. MDR 1977, 978, 979; ders. ZStW 91 (1979), 1, 36; Roxin JZ 1992, 923; ders. / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 31; Rudolphi MDR 1970, 93, 98 f.; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 398; Eb. Schmidt NJW 1968, 1209, 1216 f.; Sieg MDR 1984, 725 f.; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 181, § 136 Rn. 76; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 241. 214

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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Neben der Belehrung über seine Aussagefreiheit ist der Beschuldigte nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO 220 darüber zu belehren, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann. Nach BGHSt 38, 372 ff. besteht ein Verwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten jedenfalls dann, wenn diesem die Konsultation seines gewählten Verteidigers vor der Vernehmung verwehrt worden war. 221 Zwar hatte der BGH in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich entschieden, ob sich bereits aus der bloßen Verletzung der Belehrungspflicht ein Verwertungsverbot ergibt. Das Schrifttum leitete aus dieser Entscheidung gleichwohl ein Verwertungsverbot auch bei unterlassener Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht ab. 222 In BGHSt 47, 172 ff. stellt der BGH nunmehr klar, dass die Pflicht zur Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation gegenüber dem Hinweis auf das Schweigerecht des Beschuldigten kein geringeres Gewicht hat. Beide Rechte hängen eng zusammen und sichern die verfahrensmäßige Stellung des Beschuldigten. Gerade die Verteidigerkonsultation dient dazu, den Beschuldigten zu beraten, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch macht oder nicht. Für die unterlassene Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht gilt daher das Gleiche wie für die unterlassene Belehrung über die Aussagefreiheit. Auch in diesem Fall besteht daher ein Beweisverwertungsverbot. 223 Im Falle einer unterbliebenen Belehrung des festgenommenen ausländischen Beschuldigten über sein Recht auf konsularischen Beistand gem. Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK 224 lehnte der BGH ein Beweisverwertungsverbot jedoch ab. Zwar gewährt die Vorschrift dem Beschuldigten ein subjektives Recht auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte. 225 Ein Verstoß gegen diese Belehrungspflicht sei einer unterlassenen Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO jedoch nicht vergleichbar. 226 Durch die 219 Grundlegend BGHSt 38, 214, 218 ff. = JR 1992, 381 m. Anm. Fezer = JZ 1992, 918 m. Anm. Roxin = NStZ 1992, 294 f. m. Anm. Bohlander NStZ 1992, 504 ff. Zu § 243 Abs. 5 S. 1 StPO vgl. BGHSt 25, 325, 330 f. 220 Ggf. i.V. m. § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO. 221 BGHSt 38, 372, 373 f. = JZ 1993, 425 m. Anm. Roxin = JR 1993, 332 m. Anm. Rieß. 222 Dedy, Ansätze, S. 187; Kiehl NJW 1994, 1267; KMR-Lesch § 136 Rn. 38; Lesch JA 1995, 157, 162 f.; Ransiek StV 1994, 343; Roxin JZ 1993, 426, 427; H. Schneider Jura 1997, 131, 134. 223 BGHSt 47, 172, 174; ebenso Beckemper, Verteidigerkonsultationsrecht, S. 63 f.; dies. JA 2002, 634, 635; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 469; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 374; HK-Lemke § 136 Rn. 31; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 6 Rn. 50; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 26; LR-Gleß § 136 Rn. 96; Meyer-Goßner § 136 Rn. 21; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 37; SK-Rogall § 136 Rn. 91. Im konkreten Fall lehnte der Senat aber ein Beweisverwertungsverbot im Ergebnis ab, da der Beschuldigte seine Rechte kannte. 224 Vgl. auch § 114b Abs. 2 S. 3 StPO n. F.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Belehrung über die Aussagefreiheit und das Recht auf Verteidigerkonsultation würden die Rechte des Beschuldigten auf Selbstbelastungsfreiheit und effektive Verteidigung unmittelbar auf die Vernehmungssituation bezogen zentral geschützt. 227 Demgegenüber gewähre die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b S. 3 WÜK nur einen ergänzenden Schutz für den inhaftierten ausländischen Beschuldigten und räume diesem lediglich eine auf die Staatsangehörigkeit bezogene weitergehende Verbesserung seiner Verteidigungschancen ein. 228 Auf eine mögliche ausländerspezifische Hilflosigkeit werde gerade nicht abgestellt. Art. 36 Abs. 1 lit. d S. 3 WÜK stelle für die Ausgestaltung der Verteidigung damit kein zentrales Sonderrecht dar, so dass eine Verletzung der Belehrungspflicht nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führe. 229 In neueren Entscheidungen geht auch der BGH davon aus, dass der Beschuldigte – zumindest bei schwerem Tatvorwurf und wenn er die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufbringen kann – auf die Möglichkeit der sofortigen Verteidigerkonsultation im Hinblick auf eine später zu erwartende Pflichtverteidigerbestellung hinzuweisen ist. Der BGH lehnt jedoch auch im Falle einer diesbezüglich unterbliebenen Belehrung ein Beweisverwertungsverbot mit der Begründung ab, dass ein solcher Verfahrensverstoß im Gewicht einer völlig fehlenden Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht nicht annähernd gleich stehe. 230 Denn nur gravierende Verfahrensverstöße könnten ein Verwertungsverbot auslösen, da auch dem unabweisbaren Bedürfnis einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämp225 BGHSt 52, 48, 52; zuvor bereits BVerfG NJW 2007, 499, 502 f.; in diese Richtung auch Esser JR 2008, 271, 273 f.; Kreß GA 2004, 691, 701; ders. GA 2007, 296, 301; Paulus / Müller StV 2009, 495, 500; Schomburg / Schuster NStZ 2008, 593, 597; Walther HRRS 2004, 126, 129 f. Für einen originär konsularrechtlichen, nicht strafprozessualen Normzweck BGH NStZ 2002, 168; Burchard JZ 2007, 891, 892 f.; Weigend, FS Lüderssen, 463, 469. 226 BGHSt 52, 48, 54; 52, 110, 116. 227 BGHSt 52, 48, 54; 52, 110, 116. 228 BGHSt 52, 48, 54 f. 229 BGHSt 52, 48, 55; 52, 110, 116 f.; im Ergebnis ebenso Esser JR 2008, 271, 275 f.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 17a; Meyer-Goßner § 136 Rn. 21a; Schomburg / Schuster NStZ 2008, 593, 595 ff.; SK-Rogall § 136 Rn. 95; Weigend StV 2008, 39, 42 f.; wohl auch Kreß GA 2004, 691, 707; ders. GA 2007, 296, 304 ff. Anders Paulus / Müller StV 2009, 495, 499 f.; Schlothauer / Weider, Untersuchungshaft, Rn. 135; Strate HRRS 2008, 76, 79 f.; T. Walter JR 2007, 99, 102; Walther HRRS 2004, 126, 130; Weigend, FS Lüderssen, 463, 475 f. m. Fn. 45. Die Entscheidung BGHSt 52, 48 ff. wurde wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aufgrund mangelnder Auseinandersetzung des BGH mit der einschlägigen Rechtsprechung des IGH teilweise aufgehoben und zurückverwiesen durch BVerfG NJW 2011, 207 ff. 230 BGH StV 2006, 566, 567; 567, 568; zust. KK-Diemer § 136 Rn. 14. Dagegen Beulke / Barisch StV 2006, 569, 571; Meyer-Goßner § 136 Rn. 10; Neuhaus StV 2010, 45, 51; Weider StV 2010, 102, 103.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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fung, dem Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, insbesondere der wirksamen Aufklärung gerade schwerer Straftaten, Verfassungsrang zukomme. 231 Das Interesse an einer umfassenden Aufklärung der Tat überwiege daher zumindest dann, wenn der Beschuldigte nicht gezielt irregeführt wurde. 232 Die Belehrung über das Recht, bereits im Ermittlungsverfahren die Beiordnung eines Verteidigers beantragen zu können, dient jedoch ebenso wie die Belehrungen über die Aussagefreiheit und das Verteidigerkonsultationsrecht dazu, die Subjektstellung des Beschuldigten und dessen Recht auf ein faires Verfahren und eine effektive Verteidigung zu wahren. Dem Beschuldigten muss die Möglichkeit gegeben werden, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass er von einem Verteidiger unterstützt wird, wenn erst dadurch eine effektive und wirksame Verteidigung ermöglicht wird. Die notwendige Verteidigung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Grundsatz des fairen Verfahrens. Die notwendige Verteidigung sichert nicht nur das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren, sondern auch an einer effektiven und wirksamen Verteidigung des Beschuldigten. Der Beschuldigte, der (z. B. aus Kostengründen) noch keinen Verteidiger gewählt hat, muss daher auch auf die Möglichkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren hingewiesen werden. Die Belehrung ist Ausdruck der staatlichen Fürsorgepflicht und des Grundsatzes eines fairen Verfahrens. Dabei handelt es sich auch nicht lediglich – wie bei der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. d S. 3 WÜK – um einen ergänzenden Schutz für den Beschuldigten. Vielmehr betrifft die Möglichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers bereits im Ermittlungsverfahren die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten und seines Status als Subjekt des Verfahrens. Die Verteidigerbeiordnung soll in den Fällen einer notwendigen Verteidigung sicherstellen, dass der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte auch effektiv und wirksam wahrnehmen kann. Im Gegensatz zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. d S. 3 WÜK dient die Bestellung eines Pflichtverteidigers unmittelbar dem Schutz des Beschuldigten vor unbedachter Selbstbelastung. Zudem ist – ebenfalls im Unterschied zu Art. 36 Abs. 1 lit. d S. 3 WÜK 233 – mit der Fortsetzung der Beschuldigtenvernehmung bzw. sonstigen verfahrensprägenden Ermittlungsmaßnahmen grundsätzlich zuzuwarten, bis dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt ist. 231

BGH StV 2006, 566, 567. BGH StV 2006, 566, 567; 567, 568. 233 Vgl. BVerfG NJW 2007, 499, 503; Esser JR 2008, 271, 274; Kreß GA 2004, 691, 702; ders. GA 2007, 296, 304. 232

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Die Belehrung ist auch neben der Belehrung über das Recht zur Konsultation eines Wahlverteidigers erforderlich, da ansonsten der mittellose Beschuldigte auf den von ihm gewünschten Beistand eines Verteidigers verzichten müsste, wenn er nicht von der Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung Kenntnis hat. Erst durch den Hinweis auf sein Antragsrecht wird der Beschuldigte in die Lage versetzt, ohne Rücksicht auf seine finanziellen Verhältnisse zu entscheiden, ob er den Beistand eines Verteidigers wünscht. Auch die Argumentation, dass kein Beweisverwertungsverbot angenommen werden kann, da andernfalls die Aufklärung schwerer Straftaten gefährdet wäre, kann nicht überzeugen. Die Tatschwere kann als Abwägungskriterium zur Feststellung eines Beweisverwertungsverbotes im Zusammenhang mit der notwendigen Verteidigung nicht herangezogen werden. Gerade in diesen Fällen ist der Beschuldigte auf die Mitwirkung eines Verteidigers angewiesen. Andernfalls wäre der Beschuldigte gerade dann am wenigsten geschützt, wenn er die Beratung und den Beistand eines Verteidigers am meisten braucht, nämlich bei schwerem Tatvorwurf. Wird dem Beschuldigten nicht bereits von Amts wegen ein Verteidiger bestellt, muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, selbst die Beiordnung eines Verteidigers zu beantragen. Zwar führt schon die unterlassene Verteidigerbeiordnung trotz Bestellungspflicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Ist die Beiordnung allerdings von einem Antrag des Beschuldigten abhängig (antragsgebundene notwendige Verteidigung), bliebe der Verstoß gegen die Belehrungspflicht folgenlos, da der Beschuldigte erst bei Kenntnis seines Antragsrechts einen Beiordnungsantrag stellen kann, der eine entsprechende Bestellungspflicht auslöst. Der unterlassene Hinweis auf das Antragsrecht des Beschuldigten muss daher zu einem Beweisverwertungsverbot führen. 234 Ein Verstoß gegen Belehrungspflichten hat jedoch kein Beweisverwertungsverbot zur Folge, wenn der Beschuldigte seine Rechte kannte. 235 234

Coenen, Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 163; Klemke StV 2003, 413, 415; Schlothauer / Weider StV 2004, 504, 515; SK-Rogall § 136 Rn. 52; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung, S. 43. Dagegen Mehle, Notwendige Verteidigung, S. 343. 235 BGHSt 25, 325, 330 = JR 1975, 339 m. krit. Anm. Hanack; BGHSt 38, 214, 224; 47, 172, 174 = JR 2002, 290 m. abl. Anm. Wohlers; BGH NJW 1994, 3364, 3365 m. Anm. Wohlers NStZ 1995, 45 f.; BGH NJW 2005, 1060; NStZ 1994, 595, 596; 2004, 450, 451; K. Amelung StV 1991, 454, 455; Dencker MDR 1975, 359, 361 f.; Grünwald JZ 1966, 489, 495; ders. JZ 1968, 752, 753; ders. JZ 1983, 717, 718; HK-Lemke § 136 Rn. 37; Kiehl NJW 1993, 501, 502; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 27; LR-Gleß § 136 Rn. 79; K. Meyer NStZ 1983, 566, 567; Meyer-Goßner § 136 Rn. 20; Rogall, Der Beschuldigte, S. 217 ff.; ders. ZStW 91 (1979), 1, 38; Roxin JZ 1992, 923, 924; Rudolphi MDR 1970, 93, 99; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 188, § 136 Rn. 76.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

227

C. (Kein) Widerspruchserfordernis als Voraussetzung eines Beweisverwertungsverbotes Nach der Rechtsprechung soll ein Beweisverwertungsverbot allerdings nicht entstehen, wenn der verteidigte Angeklagte einer Verwertung in der Hauptverhandlung ausdrücklich zustimmt oder ihr nicht bis zum Zeitpunkt des § 257 StPO widerspricht (sog. Widerspruchslösung). 236 Gleiches soll gelten, wenn der unverteidigte Angeklagte hierüber vom Gericht belehrt wurde. 237 Der BGH begründet die Widerspruchslösung mit der besonderen Verantwortung des Verteidigers und seiner Fähigkeit, Verfahrensfehler aufzudecken und zu beurteilen, ob die Berufung auf das Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient. 238 Denn diese Entscheidung könne nur die Verteidigung sachgerecht treffen. Der Beschuldigte solle selbst entscheiden können, ob er eine Verwertung wünscht. 239 Der bis zum Zeitpunkt des § 257 StPO zu erhebende Widerspruch diene der Verfahrensförderung, ohne dem Angeklagten unzumutbare Anforderungen aufzuerlegen. 240 Das Widerspruchserfordernis sei in der Dispositionsfreiheit des Beschuldigten über die Art und Weise seiner Verteidigung verankert. 241 Die Widerspruchslösung stärke die Subjektstellung des Beschuldigten und die prozessuale Stellung des Verteidigers, indem sie die Entscheidung über die Verwertbarkeit der Verteidigung überlässt. 242 Der unterlassene Widerspruch führe nicht zu einer Rügepräklusion, vielmehr entstehe das Verwertungsverbot erst mit der Erhebung des Widerspruchs. 243 236 BGHSt 38, 214, 225 f.; 39, 349, 352; 42, 15, 22 ff.; 42, 191, 194; 50, 272, 274 f.; 51, 1, 3; 51, 367, 376; 52, 38, 41 ff.; 52, 48, 53 f.; BayObLG NJW 1997, 404, 405; OLG Oldenburg StV 1996, 416 m. krit. Anm. Bernsmann; OLG Celle NJW 1993, 545 f.; OLG Stuttgart NStZ 1997, 405; s. auch Basdorf StV 1997, 488, 491; Hamm NJW 1996, 2185, 2187; HK-Lemke § 136 Rn. 34 ff.; Ignor, FS Rieß, 185, 190 ff.; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 28; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 33, 174 f.; LR-Schäfer Vor § 94 Rn. 146 f.; Maatz NStZ 1992, 513, 518; Matt GA 2006, 323, 325 f.; Meyer-Goßner § 136 Rn. 25; ders. / Appl StraFo 1998, 258, 261 f.; Mosbacher JR 2007, 387, 389; ders. NJW 2007, 3686, 3688; Widmaier NStZ 1992, 519, 521. S. auch BVerfG NJW 2007, 499, 503 f. 237 BGHSt 38, 214, 226; KK-Senge Vor § 48 Rn. 34; KK-Diemer § 136 Rn. 28; Meyer-Goßner § 136 Rn. 25; ders. / Appl StraFo 1998, 258, 264. 238 BGHSt 38, 214, 226; 50, 272, 275; s. auch Hamm NJW 1996, 2185, 2187; Widmaier NStZ 1992, 519, 520 f. 239 BGHSt 51, 1, 3. 240 BGHSt 42, 15, 23; 52, 38, 43. 241 BGHSt 51, 1, 3 f.; Hamm StraFo 1998, 361, 364; LR-Schäfer Vor § 94 Rn. 146; Mosbacher JR 2007, 387, 389; ders. NJW 2007, 3686, 3688. 242 Ignor, FS Rieß, 185, 191 ff.; LR-Schäfer Vor § 94 Rn. 147; Meyer-Goßner / Appl StraFo 1998, 258, 260.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Dabei muss es sich nach neuester Rechtsprechung des 1. Strafsenats um einen „spezifizierten“ Widerspruch handeln, d. h. es muss zumindest in groben Zügen angegeben werden, unter welchen Gesichtspunkten der zu erhebende oder bereits erhobene Beweis unverwertbar sein soll, um den Umfang der Prüfung durch das Tatgericht zu begrenzen. 244 Die Widerspruchslösung hat in der Literatur zu Recht heftige Kritik erfahren. 245 Zwar ist es grundsätzlich zutreffend, dass der Beschuldigte über Beweisverwertungsverbote, die allein seinem Schutz dienen, disponieren kann. 246 Die Widerspruchslösung findet jedoch keine gesetzliche Grundlage. 247 Die StPO kennt eine dem § 295 Abs. 1 ZPO vergleichbare allgemeine Rügepräklusion nicht, vielmehr sind die Fälle im Einzelnen aufgeführt, vgl. § 6a 243 Hamm NJW 1996, 2185, 2187; Ignor, FS Rieß, 185, 193 Fn. 37; Meyer-Goßner / Appl StraFo 1998, 258, 261; Widmaier NStZ 1992, 519, 521. Dagegen Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 88 ff., 119. 244 BGHSt 52, 38, 42. Dagegen Gaede HRRS 2007, 402, 405 f.; Jahn JuS 2008, 82, 83 f.; Meyer-Mews StraFo 2009, 141, 143. 245 Vgl. Bernsmann StraFo 1998, 73, 76; Beulke NStZ 1996, 257, 262; ders., Strafprozessrecht, Rn. 150; ders. Jura 2008, 653, 655; Bohlander NStZ 1992, 504, 505 f.; ders. StV 1999, 562, 563; Dahs jr. StraFo 1998, 253, 257 f.; Dallmeyer, Beweisführung, S. 168 ff.; Dornach NStZ 1995, 57, 61; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 214 ff. und passim; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 429; Fezer JR 1992, 385, 386 f.; ders. JZ 1994, 686, 687; ders. StV 1997, 57 ff.; C. Geyer, Belehrung, S. 138 ff.; Grünwald, Beweisrecht, S. 149 f.; Hartwig JR 1998, 359, 360 f.; Heinrich ZStW 112 (2000), 398, 409 ff.; Herdegen NStZ 2000, 1, 4 ff.; Jahn, Gutachten, C 111; Kiehl NJW 1993, 501, 502; ders. NJW 1994, 1267, 1268; Kindhäuser NStZ 1987, 529 ff.; KMR-Lesch § 136 Rn. 24; Leipold StraFo 2001, 300, 302 f.; Lesch JA 1995, 157, 162; Löffelmann, Normative Grenzen, S. 127 f.; LR-Gleß § 136 Rn. 82 ff.; Maiberg, Widerspruchsabhängigkeit, S. 50 ff., 178 ff.; Maul / Eschelbach StraFo 1996, 66, 68 ff.; Meyer-Mews StraFo 2009, 141, 142 ff.; Rogall JZ 2008, 818, 830; Roxin, FS Hanack, 1, 21 ff.; ders. NStZ 2007, 616, 617 f.; ders. / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 34; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 182; Tolksdorf, FG Graßhof, 255, 258 ff.; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 79 ff.; Velten, FS Grünwald, 753, 771 ff.; Ventzke StV 1997, 543 ff. 246 Vgl. BGHSt 50, 206, 215; 51, 1, 3 f.; 51, 285, 296 f.; K. Amelung, GS Schlüchter, 417, 430 f.; Brandis, Beweisverbote als Belastungsverbote, S. 281; Güntge StV 2005, 403, 405; Hamm StraFo 1998, 361, 364; Jahn, Gutachten, C 113 f.; KK-Nack Vor § 94 Rn. 12; Kleinknecht NJW 1966, 1537, 1543 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 908.4; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 33, 170; Nack StraFo 1998, 366 ff.; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 55. Dagegen dürfen die unter Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden erlangten Beweise gem. § 136a Abs. 3 S. 2 StPO auch mit Zustimmung des Beschuldigten nicht verwertet werden. 247 Bernsmann StraFo 1998, 73, 76; Beulke Jura 2008, 653, 655; Dahs jr. StraFo 1998, 253, 257 f.; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 214 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 429; Fezer StV 1997, 57, 58 f.; Gaede HRRS 2007, 402, 405 f.; C. Geyer, Belehrung, S. 138; Grünwald, Beweisrecht, S. 150; Herdegen NStZ 2000, 1, 4 ff.; Jahn, Gutachten, C 111; Maiberg, Widerspruchsabhängigkeit, S. 258 und passim; Meyer-Mews StraFo 2009, 141, 142; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 34; U. Schroth JuS 1998, 969, 970; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 85.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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S. 3 (Einwand der Zuständigkeit bzw. Unzuständigkeit einer besonderen Strafkammer), § 16 S. 3 (Einwand der örtlichen Unzuständigkeit), § 25 (Ablehnung wegen Befangenheit), § 222b Abs. 1 S. 1 StPO (Besetzungseinwand). 248 Aus einer Mitwirkungspflicht des Beschuldigten kann ein Widerspruchserfordernis nicht hergeleitet werden, da diesem – bis auf die Pflichten zum Erscheinen und Angaben zur Person zu machen – keine Mitwirkungspflichten in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren obliegen. 249 Die Widerspruchslösung überträgt dem Verteidiger eine Verantwortung, die seiner verfahrensrechtlichen Stellung als Beistand des Beschuldigten widerspricht, denn es ist nicht Aufgabe des Verteidigers, die Unverwertbarkeit eines Beweises im Wege einer „Einrede“ geltend zu machen, da ihm keine Prozessförderungspflicht obliegt, vielmehr tragen die Gerichte die alleinige Verantwortung für die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. 250 Aus der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts folgt auch die Verpflichtung, Beweisverwertungsverbote von Amts wegen zu berücksichtigen. 251 Andernfalls könnten Verteidigerfehler zu einer Verwertbarkeit der rechtwidrig erhobenen Beweise führen, was einer im Strafprozess grundsätzlich unzulässigen Zurechnung von Anwaltsverschulden gleich käme. 252 Der unterlassene Widerspruch kann auch nicht ohne Weiteres mit einem bewussten Verzicht auf das Beweisverwertungsverbot gleichgesetzt werden. 253 248 Bernsmann StraFo 1998, 73, 76; Dallmeyer, Beweisführung, S. 170; Dornach NStZ 1995, 57, 63; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 183, 212; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 429; Fezer StV 1997, 57, 58; C. Geyer, Belehrung, S. 144; Heinrich ZStW 112 (2000), 398, 401; Jahn, Gutachten, C 111; Kindhäuser NStZ 1987, 529; Maiberg, Widerspruchsabhängigkeit, S. 139 ff.; Widmaier NStZ 1992, 519, 520. 249 Dornach NStZ 1995, 57; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 211 ff.; Kindhäuser NStZ 1987, 529, 531; U. Schroth JuS 1998, 969, 970. 250 Bohlander NStZ 1992, 504, 505; Dahs jr. StraFo 1998, 253, 258; ders. NStZ 2007, 241, 245 f.; Dornach NStZ 1995, 57, 61; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 124 ff., 182; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 429; Fezer StV 1997, 57, 58 f.; C. Geyer, Belehrung, S. 140; KMR-Lesch § 136 Rn. 24; Lesch JA 1995, 157, 162; Maiberg, Widerspruchsabhängigkeit, S. 207 f.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 34; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 182; Tolksdorf, FG Graßhof, 255, 265 f.; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 104 ff.; Wollweber wistra 2001, 182. 251 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 429; Fezer JZ 1994, 686, 687; ders. StV 1997, 57, 58 f.; Hartwig JR 1998, 359, 360 f.; Kleinknecht NJW 1966, 1537, 1544; KMR-Lesch § 136 Rn. 24; Leipold StraFo 2001, 300, 302; Lesch JA 1995, 157, 162; Maul / Eschelbach StraFo 1996, 66, 69 f.; Rogall JZ 2008, 818, 830; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 101. 252 Bohlander NStZ 1992, 504, 505; ders. StV 1999, 562, 563; Dahs jr. NStZ 2007, 241, 246; Dornach NStZ 1995, 57, 63; Fezer StV 1997, 57, 58; C. Geyer, Belehrung, S. 142; KMR-Lesch § 136 Rn. 24; Lesch JA 1995, 157, 162; Meyer-Mews StraFo 2009, 141, 144; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 96 ff. 253 Fezer JR 1992, 385, 386; ders. StV 1997, 57, 59; C. Geyer, Belehrung, S. 143; Heinrich ZStW 112, (2000), 398, 425 f.; Kiehl NJW 1994, 1267, 1268; LR-Gleß § 136

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

Allenfalls kann der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger (gegebenenfalls nach entsprechendem richterlichen Hinweis) einer Verwertung zu Lasten des Beschuldigten zustimmen und dadurch auf den Schutz durch das Beweisverwertungsverbot verzichten, 254 etwa wenn er „reinen Tisch“ machen und für die begangene Straftat einstehen will. Auch hierdurch wird dem Beschuldigten die Möglichkeit eingeräumt, selbst darüber zu entscheiden, ob die fehlerhaft erhobenen Beweise verwertet werden sollen, wobei gleichzeitig sichergestellt wird, dass der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger diese Entscheidung bewusst und nicht nur aufgrund mangelnder Kenntnis des Widerspruchserfordernisses treffen. Die Befürchtung, der Verteidiger könnte sich die Rüge des Verfahrensfehlers für die Revisionsinstanz aufheben, würde auch dadurch gegenstandslos werden. 255 Eine Verwertung zugunsten des Beschuldigten ist auch ohne seine Zustimmung zulässig, da die Beweisverwertungsverbote allgemein nur als Belastungsverbote aufgefasst werden. 256 Voraussetzung einer wirksamen Zustimmung zu einer belastenden Verwertung ist jedoch die Dispositionsbefugnis des Beschuldigten. Wie sich bereits aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO ergibt, sind nicht alle Beweisverwertungsverbote disponibel. Insbesondere können die Verfahrensbeteiligten nicht auf die Einhaltung von Vorschriften verzichten, die Grund- und Menschenrechte tangieren und die Grundlagen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens betreffen. 257

Rn. 83; Maiberg, Widerspruchsabhängigkeit, S. 135; Maul / Eschelbach StraFo 1996, 66, 68; U. Schroth JuS 1998, 969, 970; Tolksdorf, FG Graßhof, 255, 261. 254 Bernsmann StraFo 1998, 73, 76; Beulke Jura 2008, 653, 655; Fezer JR 1992, 385, 386 f.; ders. JZ 1994, 686, 687; ders. StV 1997, 57, 59; Gaede HRRS 2007, 402, 405; Gillmeister StraFo 1997, 8, 12; KMR-Lesch § 136 Rn. 24; Lesch JA 1995, 157, 162; LR-Gleß § 136 Rn. 85; Mitsch NJW 2008, 2295, 2300; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 34; SK-Rogall Vor § 133 ff. Rn. 182; Tolksdorf, FG Graßhof, 255, 266; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 183 ff.; Wolter, FG 50 Jahre BGH, 963, 996. Vgl. auch Rogall, FS Kohlmann, 465, 494 für das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 S. 1 AO. Für die gesetzliche (klarstellende) Einführung eines Zustimmungsmodells in Anlehnung an § 97 Abs. 1 S. 3 InsO Jahn, Gutachten, C 111, 114 Fn. 532. 255 Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 34. 256 Vgl. K. Amelung StraFo 1999, 181 ff.; Brandis, Beweisverbote als Belastungsverbote, S. 306 f. und passim; Dencker, Verwertungsverbote, S. 73 f.; Jäger GA 2008, 473, 498; Löffelmann, Normative Grenzen, S. 128 f., 185 ff.; LR-Gössel Einl. Abschn. L Rn. 170; Ranft, FS Spendel, 719, 731; Rogall ZStW 91 (1979), 1, 38; ders., FS Hanack, 293, 306 f.; ders., FS Kohlmann, 465, 494; ders. JZ 2008, 818, 830; Roxin NStZ 2007, 616, 618; ders. StV 2009, 113, 114; ders. / Schäfer / Widmaier StV 2006, 655, 656; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 57. Anders Alsberg / Nüse / Meyer, Beweisantrag, S. 480 f.; Dallmeyer, Beweisführung, S. 171; Meyer-Goßner Einl. Rn. 55a; KMR-Paulus § 244 Rn. 547; Kleinknecht NJW 1966, 1537, 1543.

Kap. 2: Beweisverwertungsverbot als Folge von Verstößen

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Dabei ist zwischen dem Beweisverwertungsverbot aufgrund Verstoßes gegen die Bestellungspflicht und aufgrund Verstoßes gegen die Belehrungspflicht zu differenzieren. Bezüglich des Beweisverwertungsverbotes aufgrund unterlassener Verteidigerbeiordnung trotz Bestellungspflicht ist zu berücksichtigen, dass die Vorschriften der notwendigen Verteidigung nicht nur im Beschuldigteninteresse bestehen, sondern auch das Interesse des Rechtsstaates an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren sichern. Der Beistand eines Verteidigers ist in den Fällen der notwendigen Verteidigung elementares Erfordernis eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, das grundsätzlich nicht zur Disposition des Beschuldigten steht. In den Fällen der notwendigen Verteidigung gewährleistet erst die Mitwirkung eines Verteidigers die Stellung des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens. Damit ist die Menschenwürde des Beschuldigten tangiert. Wäre die entsprechende Beweiserhebung (erst) in der Hauptverhandlung erfolgt, würde bei fehlender Anwesenheit des notwendigen Verteidigers der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vorliegen. Kann der Beschuldigte in den Fällen einer obligatorischen notwendigen Verteidigung im Rahmen der Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren nicht auf den Beistand eines Verteidigers verzichten, kann er folglich auch nicht auf das durch einen Verstoß gegen die Bestellungspflicht entstandene Beweisverwertungsverbot verzichten. In den Fällen einer antragsgebundenen Verteidigerbestellung kann der Beschuldigte demgegenüber einer Verwertung zustimmen und damit auf das Beweisverwertungsverbot verzichten, denn hier hätte der Beschuldigte auch bereits vor der Durchführung der Ermittlungsmaßnahme den von ihm gestellten Antrag auf Verteidigerbeiordnung zurücknehmen und damit auf den Beistand eines Verteidigers verzichten können. Im Falle der unterlassenen Belehrung des Beschuldigten über sein Antragsrecht kann der Beschuldigte auf das ausschließlich aufgrund eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht entstandene Beweisverwertungsverbot auch im Falle einer obligatorischen notwendigen Verteidigung verzichten. Ein solcher Fall ist gegeben, wenn der Beschuldigte zwar nicht über sein Antragsrecht belehrt wurde, eine Verteidigerbestellung aber auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgte, so dass die Subjektstellung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt ist. Bei der antragsgebundenen notwendigen Verteidigung kann der Beschuldigte auf das infolge unterlassener Belehrung entstandene Beweisverwertungsverbot verzichten, 257

Bohnert NStZ 1983, 344, 345; Brandis, Beweisverbote als Belastungsverbote, S. 281; Dudel, Widerspruchserfordernis, S. 51 f.; Hamm StraFo 1998, 361, 366; Heinrich ZStW 112 (2000), 398, 417; Jescheck GA 1953, 88, 89; Kuhlmann NJW 1974, 1231, 1232; Roxin NStZ 2007, 616, 618; Schlüchter, GS Meyer, 445, 458; Ufer, Verwertungswiderspruch, S. 56 ff.

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Teil 3: Verfahrensrechtliche Aspekte

da ihm in diesem Fall die Entscheidung freisteht, einen Beiordnungsantrag zu stellen, er also dispositionsbefugt ist.

D. Zusammenfassung Ein Verstoß gegen die Pflicht, dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger zu bestellen, beeinträchtigt sein Recht auf effektive und wirksame Verteidigung derart schwer, dass ein Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme anzunehmen ist. Ebenso führt ein Verstoß gegen die Pflicht, den Beschuldigten über sein Antragsrecht zu belehren, zu einem Beweisverwertungsverbot. Ein Widerspruch des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers ist nicht Voraussetzung für die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes.

Schlussbetrachtung Das Ermittlungsverfahren stellt entgegen den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers heute den entscheidenden Verfahrensabschnitt dar. Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wirken vor allem durch die Vernehmung von Verhörspersonen, die Verlesung von Vernehmungsprotokollen, die Vorführung der Videoaufzeichnung von Zeugenvernehmungen, die Verwendung von Vernehmungsprotokollen und Videoaufzeichnungen als Vorhalt, die Durchführung von Identifizierungsgegenüberstellungen und Tatrekonstruktionen, die Verlesung von Protokollen über die Einnahme des richterlichen Augenscheins, die Auswahl von Sachverständigen im Ermittlungsverfahren sowie die Verlesung von Sachverständigengutachten und Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen in die Hauptverhandlung ein. Dadurch wird der Unmittelbarkeitsgrundsatz durchbrochen und die nur „vorläufigen“ Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren werden in das Hauptverfahren transportiert. Fehler der Strafverfolgungsorgane und Mängel der Verteidigung können in der späteren Hauptverhandlung kaum noch korrigiert werden. Bereits im Ermittlungsverfahren werden die Weichen für den weiteren Verlauf und den Ausgang des Verfahrens gestellt. Da der Beschuldigte nicht bloßes Objekt der Untersuchung, sondern mit eigenen Rechten ausgestattetes Prozesssubjekt ist, muss ihm bereits im Ermittlungsverfahren die Gelegenheit gegeben werden, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Der Beschuldigte hat bereits im Ermittlungsverfahren den verfassungs- und konventionsrechtlichen Anspruch auf effektive und wirksame Verteidigung. Hierzu bedarf der Beschuldigte regelmäßig des Beistandes eines Verteidigers, da er selbst aufgrund mangelnder Rechtskenntnisse und fehlender Distanz zur Beschuldigung nicht in der Lage ist, seine Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte effektiv wahrzunehmen. Das Recht des Beschuldigten, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und des daraus hergeleiteten Rechts auf ein faires Verfahren. Allein die Möglichkeit, jederzeit auf eigene Kosten einen Wahlverteidiger zu beauftragen, genügt zum Schutz der Rechte des Beschuldigten jedoch nicht. Das gilt vor allem dann, wenn der Beschuldigte die Kosten eines Wahlverteidigers nicht aufbringen kann. Sowohl die StPO als auch die EMRK sehen daher die Möglichkeit der Beiordnung eines Verteidigers vor. Dabei sind die Regelungen der §§ 140, 141 StPO

234

Schlussbetrachtung

insoweit für den Beschuldigten günstiger, als eine Verteidigerbestellung ohne Rücksicht auf seine finanziellen Verhältnisse erfolgt. Demgegenüber wird dem Beschuldigten gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nur dann ein Verteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte mittellos ist und die Interessen der Rechtspflege die Verteidigerbeiordnung erfordern. Nach dem Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ist daher im deutschen Strafverfahren grundsätzlich auf die Regelungen der StPO zur notwendigen Verteidigung abzustellen. Bei deren Auslegung ist jedoch die Rechtsprechung des EGMR stärker zu berücksichtigen. Danach ist der Begriff der „Schwere der Tat“ i. S. d. § 140 Abs. 2 S. 1 StPO sowohl infolge der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG als auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR dahingehend auszulegen, dass notwendige Verteidigung bereits dann anzunehmen ist, wenn dem Beschuldigten (überhaupt) eine Freiheitsstrafe droht, auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden kann, und der Beschuldigte die Bestellung eines Verteidigers beantragt. Werden Beweiserhebungen in das Ermittlungsverfahren vorverlagert, die in der späteren Hauptverhandlung nur noch wiederholt bzw. reproduziert werden, muss auch die notwendige Verteidigung „vorverlagert“ werden. Der unverteidigte Beschuldigte hat daher nach einer am Recht des Beschuldigten auf Beweisteilhabe als Teil eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EMRK) i.V. m. dem Recht auf effektive und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK) orientierten Auslegung der §§ 140, 141 StPO bereits de lege lata einen Anspruch auf Verteidigerbeiordnung, sobald gegen den Beschuldigten der Verdacht eines gewichtigen Tatvorwurfs i. S. d. § 140 StPO besteht und eine Ermittlungsmaßnahme bevorsteht, bei der dem Beschuldigten und / oder einem Verteidiger Mitwirkungsrechte zustehen. Das betrifft insbesondere die Vernehmung des Beschuldigten, die richterliche Zeugenvernehmung, die Identifizierungsgegenüberstellung, die richterliche Augenscheinseinnahme und (auch nichtrichterliche) Tatrekonstruktion sowie die Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren. Dabei ist mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten und seine spätere Kostentragungspflicht im Falle einer Verurteilung zwischen der Verteidigerbeiordnung von Amts wegen (obligatorische notwendige Verteidigung) und der Verteidigerbestellung auf Antrag des Beschuldigten (antragsgebundene notwendige Verteidigung) zu unterscheiden. Betrifft der Tatvorwurf ein Verbrechen und finden entsprechende verfahrensprägende Ermittlungsmaßnahmen statt, ist dem unverteidigten Beschuldigten von Amts wegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger beizuordnen (obligatorische notwendige Verteidigung). Bei sonstiger Schwere des Tatvorwurfs (insbesondere bei Vergehen mit drohender Freiheitsstrafe) ist dem unverteidigten Beschuldigten vor einer entsprechenden Ermittlungsmaßnahme (nur) auf seinen

Schlussbetrachtung

235

Antrag nach § 140 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen (antragsgebundene notwendige Verteidigung). Da dem Beschuldigten im Falle der Beauftragung eines Sachverständigen in der Regel die erforderliche Sachkunde fehlt, ist dem unverteidigten Beschuldigten vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren stets von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen, es sei denn, dass Gegenstand der Untersuchung ein häufig wiederkehrender, tatsächlich gleichartiger Sachverhalt ist oder der Untersuchungszweck bei vorheriger Anhörung eines Verteidigers gefährdet wäre. Auch im Falle von Untersuchungshaft oder einstweiliger Unterbringung ist dem unverteidigten Beschuldigten aufgrund seiner besonderen Hilfe- und Schutzbedürftigkeit von Amts wegen bereits vor seiner haftrichterlichen Vernehmung ein Verteidiger zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft ist nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO verpflichtet, einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 StPO notwendig sein wird. Darüber hinaus ist die Staatsanwaltschaft aufgrund der staatlichen Fürsorgepflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrages verpflichtet, wenn ein Fall der obligatorischen notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren vorliegt. Der Beschuldigte kann bereits im Ermittlungsverfahren auch selbst die Beiordnung eines Verteidigers beantragen. Über sein Antragsrecht ist der Beschuldigte zu belehren. Im Falle einer obligatorischen notwendigen Verteidigung ist der Beschuldigte zudem darauf hinzuweisen, dass ihm von Amts wegen ein Verteidiger bestellt wird, falls er nicht selbst einen Verteidiger wählt. Die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren steht gem. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden. Dieser Ermessensspielraum reduziert sich jedoch auf Null, wenn ein Fall der obligatorischen notwendigen Verteidigung vorliegt oder der Beschuldigte im Fall einer antragsgebundenen notwendigen Verteidigung einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung stellt. Dann ist der Vorsitzende gem. § 140 Abs. 1 oder 2 i.V. m. § 141 Abs. 3 S. 1 StPO zur Beiordnung eines Verteidigers verpflichtet. Die Ablehnung einer Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft ist für den Beschuldigten nicht gerichtlich anfechtbar, da ihm infolge seines Antragsrechts das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Gegen die Ablehnung seines Antrages auf Verteidigerbeiordnung kann der Beschuldigte Beschwerde gem. § 304 StPO einlegen. De lege ferenda sollte die Zuständigkeit für eine Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren dem Ermittlungs- bzw. Haftrichter im Bezirk der zuständigen Staatsanwaltschaft übertragen werden. Zudem sollte die Staatsanwaltschaft die Kompetenz erhalten, bis zur Anklageerhebung einen vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger mit dessen Einverständnis zu bestellen.

236

Schlussbetrachtung

Ist ein Fall der notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren gegeben, ist die Ermittlungsmaßnahme grundsätzlich zu unterbrechen, bis der Beschuldigte einen Verteidiger gewählt hat oder ihm ein Verteidiger bestellt wurde. Im Falle der obligatorischen notwendigen Verteidigung darf die Ermittlungsmaßnahme nicht ohne den notwendigen Verteidigerbeistand fortgesetzt werden. Nur bei einer antragsgebundenen notwendigen Verteidigung darf die Ermittlungsmaßnahme fortgesetzt werden, wenn sich der Beschuldigte nach erneuter Belehrung ausdrücklich mit der Fortsetzung der Ermittlungsmaßnahme einverstanden erklärt. Ein Verstoß gegen die Bestellungspflicht hat ein Beweisverwertungsverbot für die ohne den notwendigen Verteidigerbeistand durchgeführte Ermittlungsmaßnahme zur Folge. Auch die unterbliebene Belehrung des Beschuldigten über sein Antragsrecht führt zu einem Beweisverwertungsverbot. Ein Widerspruch ist nicht Voraussetzung für die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes. Abschließend ist festzustellen, dass das Recht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Verteidigers, wenn dies für eine effektive und wirksame Verteidigung erforderlich ist, bereits nach geltender Rechtslage auch im Ermittlungsverfahren ausreichend gewährleistet wird, sofern die entsprechenden Bestimmungen verfassungs- und konventionskonform im Beschuldigteninteresse ausgelegt werden.

Anhang 1 Art. 6 EMRK – Auszug – Right to a fair trial (englische Originalfassung) (1) In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law ... (2) ... (3) Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights: a) to be informed promptly, in a language which he understands and in detail, of the nature and cause of the accusation against him; b) to have adequate time and facilities for the preparation of his defence; c) to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require; d) to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him; e) ...

Droit à un procès équitable (französische Originalfassung) (1) Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue équitablement, publiquement et dans un délai raisonnable, par un tribunal indépendant et impartial, établi par la loi, qui décidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, soit du bien-fondé de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle ... (2) ... (3) Tout accusé a droit notamment à: a) être informé, dans le plus court délai, dans une langue qu’il comprend et d’une manière détaillée, de la nature et de la cause de l’accusation portée contre lui; b) disposer du temps et des facilités nécessaires à la préparation de sa défense; c) se défendre lui-même ou avoir l’assistance d’un défenseur de son choix et, s’il n’a pas les moyens de rémunérer un défenseur, pouvoir être assisté gratuitement par un avocat d’office, lorsque les intérêts de la justice l’exigent;

238

Anhang d) interroger ou faire interroger les témoins à charge et obtenir la convocation et l’interrogation des témoins à décharge dans les mêmes conditions que les témoins à charge; e) ...

Recht auf ein faires Verfahren (deutsche Übersetzung) (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird ... (2) ... (3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; e) ...

Anhang 2 Art. 36 WÜK – Auszug – Communication and contact with nationals of the sending State (englische Originalfassung) (1) With a view to facilitating the exercise of consular functions relating to nationals of the sending State: a) ... b) if he so requests, the competent authorities of the receiving State shall, without delay, inform the consular post of the sending State if, within its consular district, a national of that State is arrested or committed to prison or to custody pending trial or is detained in any other manner. Any communication addressed to the consular post by the person arrested, in prison, custody or detention shall be forwarded by the said authorities without delay. The said authorities shall inform the person concerned without delay of his rights under this subparagraph; c) ... (2) The rights referred to in paragraph 1 of this article shall be exercised in conformity with the laws and regulations of the receiving State, subject to the proviso, however, that the said laws and regulations must enable full effect to be given to the purposes for which the rights accorded under this article are intended. Verkehr mit Angehörigen des Entsendestaats (deutsche Übersetzung) (1) Um die Wahrnehmung konsularischer Aufgaben in Bezug auf Angehörige des Entsendestaats zu erleichtern, gilt folgendes: a) ... b) die zuständigen Behörden des Empfangsstaats haben die konsularische Vertretung des Entsendestaats auf Verlangen des Betroffenen unverzüglich zu unterrichten, wenn in deren Konsularbezirk ein Angehöriger dieses Staates festgenommen, in Straf- oder Untersuchungshaft genommen oder ihm anderweitig die Freiheit entzogen ist. Jede von dem Betroffenen an die konsularische Vertretung gerichtete Mitteilung haben die genannten Behörden ebenfalls unverzüglich weiterzuleiten. Diese Behörden haben den Betroffenen unverzüglich über seine Rechte auf Grund dieser Bestimmung zu unterrichten; c) ...

240

Anhang

(2) Die in Absatz 1 genannten Rechte sind nach Maßgabe der Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften des Empfangsstaats auszuüben; hierbei wird jedoch vorausgesetzt, dass diese Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften es ermöglichen müssen, die Zwecke vollständig zu verwirklichen, für welche die in diesem Artikel vorgesehenen Rechte eingeräumt werden.

Anhang 3 Fall

Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Adolf gg. A

26. 03. 1982

Series A 49

EuGRZ 1982, 297 = HRLJ 1982, 260

Airey gg. IRL

09. 10. 1979

Series A 32

EuGRZ 1979, 626

Al-Khawaja u. Tahery gg. GB

20. 01. 2009

Allan gg. GB

05. 11. 2002

Rep. 2002-IX

StV 2003, 257 = StraFo 2003, 162 = JR 2004, 127

Allenet de Ribemont 10. 02. 1995 gg. F

Series A 308

A.M. gg. I

14. 12. 1999

Rep. 1999-IX

StraFo 2000, 374

Artico gg. I

13. 05. 1980

Series A 37

EuGRZ 1980, 662

Artner gg. A

28. 08. 1992

Series A 242-A

EuGRZ 1992, 476 = HRLJ 1992, 461 = RUDH 1993, 174

Asch gg. A

26. 04. 1991

Series A 203

EuGRZ 1992, 474 = HRLJ 1991, 203 = RUDH 1991, 228

Assanidze gg. GE

08. 04. 2004

Rep. 2004-II

NJW 2005, 2207

Barberà u. a. gg. E

06. 12. 1988

Series A 146

HRLJ 1988, 267

Beet u. a. gg. GB

01. 03. 2005

Belilos gg. CH

29. 04. 1988

Series A 132

EuGRZ 1989, 21

Benham gg. GB

10. 06. 1996

Rep. 1996-III

ÖJZ 1996, 915

Bernard gg. F

23. 04. 1998

Rep. 1998-II

ÖJZ 1999, 236

Birutis u. a. gg. LT

28. 03. 2002

Bocos-Cuesta gg. NL

10. 11. 2005

Bönisch gg. A

06. 05. 1985

Series A 92

EuGRZ 1986, 127

Boner gg. GB

28. 10. 1994

Series A 300-B

ÖJZ 1995, 273 (Fortsetzung nächste Seite)

242

Anhang

(Fortsetzung Anhang 3) Fall Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Brandstetter gg. A

28. 08. 1991

Series A 211

EuGRZ 1992, 190 = HRLJ 1991, 316 = RUDH 1991, 498 = NJW 1992, 3085

Brennan gg. GB

16. 10. 2001

Rep. 2001-X

Campbell u. Fell gg. GB

28. 06. 1984

Series A 80

EuGRZ 1985, 534 = HRLJ 1985, 255 = NJW 1986, 1414

Castillo Algar gg. E 28. 10. 1998

Rep. 1998-VIII

Clooth gg. B

05. 03. 1998

Rep. 1998-I

Coëme u. a. gg. B

22. 06. 2000

Rep. 2000-VII

Colozza gg. I

12. 02. 1985

Series A 89

EuGRZ 1985, 631

Corigliano gg. I

10. 12. 1982

Series A 57

EuGRZ 1985, 585 = HRLJ 1982, 322 = NJW 1986, 649

Croissant gg. D

25. 09. 1992

Series A 237-B

EuGRZ 1992, 542 = RUDH 1993, 279

Cruz Varas u. a. gg. S

20. 03. 1991

Series A 201

EuGRZ 1991, 203 = NJW 1991, 3079 = NVwZ 1992, 256

Czekalla gg. P

10. 10. 2002

Rep. 2002-VIII

NJW 2003, 1229

Daud gg. P

21. 04. 1998

Rep. 1998-II

Delta gg. F

19. 12. 1990

Series A 191-A

RUDH 1991, 78 = ÖJZ 1991, 425

Deweer gg. B

27. 02. 1980

Series A 35

EuGRZ 1980, 667

Doorson gg. NL

26. 03. 1996

Rep. 1996-II

ÖJZ 1996, 715

Dzankovic gg. D

08. 12. 2009

Eckle gg. D

15. 07. 1982

Series A 51

EuGRZ 1983, 371 = HRLJ 1982, 303

Edwards gg. GB

16. 12. 1992

Series A 247-B

Engel u. a. gg. NL

08. 06. 1976

Series A 22

Escoubet gg. B

28. 10. 1999

Rep. 1999-VII

Ferrantelli u. Santan- 07. 08. 1996 gelo gg. I

Rep. 1996-III

Foti u. a. gg. I

Series A 56

10. 12. 1982

EuGRZ 1976, 221

EuGRZ 1985, 578 = HRLJ 1982, 335 = NJW 1986, 647

Anhang 3

243

Fall

Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Foucher gg. F

18. 03. 1997

Rep. 1997-II

NStZ 1998, 429

Gäfgen gg. D

30. 06. 2008

EuGRZ 2008, 466 = NStZ 2008, 699

Garcia Alva gg. D

13. 02. 2001

NJW 2002, 2018 = StV 2001, 205 = JuS 2002, 1014 = NVwZ 2002, 1356

Goddi gg. I

09. 04. 1984

Series A 76

EuGRZ 1985, 234 = HRLJ 1984, 311 = StV 1985, 441

Golder gg. GB

21. 02. 1975

Series A 18

EuGRZ 1975, 91

Granger gg. GB

28. 03. 1990

Series A 174

Haas gg. D

17. 11. 2005

Haase gg. D

08. 04. 2004

Rep. 2004-III (extracts)

Hermi gg. I

18. 10. 2006

Rep. 2006-XII

Hooper gg. GB

16. 11. 2004

Hozee gg. NL

22. 05. 1998

NJW 2006, 2753 = NStZ 2007, 103 = JR 2006, 289 EuGRZ 2004, 715 = NJW 2004, 3401 = NVwZ 2005, 1165 = FamRZ 2005, 585

Rep. 1998-III

Hulki Güneş gg. TK 19. 06. 2003

Rep. 2003-VII (extracts)

I.J.L. u. a. gg. GB

19. 09. 2000

Rep. 2000-IX

Imbrioscia gg. CH

24. 11. 1993

Series A 275

RUDH 1993, 345 = ÖJZ 1994, 517

Isgrò gg. I

19. 02. 1991

Series A 194-A

HRLJ 1991, 100 = RUDH 1991, 125

Jalloh gg. D

11. 07. 2006

Rep. 2006-IX

EuGRZ 2007, 150 = NJW 2006, 3117 = StV 2006, 617 = JA 2006, 904 = JuS 2007, 264

Johnston u. a. gg. IRL18. 12. 1986

Series A 112

EuGRZ 1987, 313

Kehayov gg. BG

18. 01. 2005

Khan gg. GB

12. 05. 2000

Rep. 2000-V

JZ 2000, 993

König gg. D

28. 06. 1978

Series A 27

EuGRZ 1978, 406 = NJW 1979, 477 (Fortsetzung nächste Seite)

244

Anhang

(Fortsetzung Anhang 3) Fall Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Kostovski gg. NL

20. 11. 1989

Series A 166

RUDH 1989, 191 = StV 1990, 481 = ÖJZ 1990, 312 = MDR 1991, 406

Krombach gg. F

13. 02. 2001

Rep. 2001-II

NJW 2001, 2387

Lamy gg. B

30. 03. 1989

Series A 151

StV 1993, 283 = wistra 1993, 333 = ÖJZ 1989, 763

Lietzow gg. D

13. 02. 2001

Rep. 2001-I

NJW 2002, 2013 = StV 2001, 201 = JuS 2002, 1014 = NVwZ 2002, 1355

Lloyd u. a. gg. NL

01. 03. 2005

Loizidou gg. TK

18. 12. 1996

Rep. 1996-VI

EuGRZ 1997, 555

Lopata gg. RUS

13. 07. 2010

Lucà gg. I

27. 02. 2001

Rep. 2001-II

Lüdi gg. CH

15. 06. 1992

Series A 238

Magee gg. GB

06. 06. 2000

Rep. 2000-VI

Mamatkulov u. Askarov gg. TK

04. 02. 2005

Rep. 2005-I

Mantovanelli gg. F

18. 03. 1997

Rep. 1997-II

Marckx gg. B

13. 06. 1979

Series A 31

Maxwell gg. GB

28. 10. 1994

Series A 300-C

van Mechelen u. a. gg. NL

23. 04. 1997

Rep. 1997-III

Meftah u. a. gg. F

26. 07. 2002

Rep. 2002-VII

Migoń gg. PL

25. 06. 2002

Minelli gg. CH

25. 03. 1983

Mooren gg. D

09. 07. 2009

Murray gg. GB

08. 02. 1996

Rep. 1996-I

EuGRZ 1996, 587

Neumeister gg. A

27. 06. 1968

Series A 8

EuGRZ 1975, 393

EuGRZ 1992, 300 = HRLJ 1992, 437 = RUDH 1992, 497 = NJW 1992, 3088 = StV 1992, 499 = JuS 1993, 508

EuGRZ 1979, 454 StV 1997, 617 = StraFo 1997, 239

Series A 62 EuGRZ 2009, 566 = StV 2010, 490

Anhang 3

245

Fall

Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Nikolova gg. BG

25. 03. 1999

Rep. 1999-II

EuGRZ 1999, 320 = NJW 2000, 2883

Öcalan gg. TK

12. 05. 2005

Rep. 2005-IV

NVwZ 2006, 1267 = JA 2006, 589

Öztürk gg. D

21. 02. 1984

Series A 73

EuGRZ 1985, 62 = HRLJ 1984, 293 = NJW 1985, 1273

Pakelli gg. D

25. 04. 1983

Series A 64

EuGRZ 1983, 344 = HRLJ 1984, 242 = NStZ 1983, 373

Papamichalopoulos u. a. gg. GR

31. 10. 1995

Series A 330-B

Pavlenko gg. RUS

01. 04. 2010

Pélissier u. Sassi gg. F

25. 03. 1999

Rep. 1999-II

NJW 1999, 3545

Pham Hoang gg. F

25. 09. 1992

Series A 243

EuGRZ 1992, 472 = RUDH 1993, 277

Pishchalnikov gg. RUS

24. 09. 2009

Popov gg. RUS

13. 07. 2006

Prodan gg. MD

18. 05. 2004

P.S. gg. D

20. 12. 2001

Pullar gg. GB

10. 06. 1996

Rep. 1996-III

Quaranta gg. CH

24. 05. 1991

Series A 205

Reinhardt u. Slimane-Kaïd gg. F

31. 03. 1998

Rep. 1998-II

S. gg. CH

28. 11. 1991

Series A 220

Sadak u. a. gg. TR

17. 07. 2001

Rep. 2001-VIII

Saïdi gg. F

20. 09. 1993

Series A 261-C

Rep. 2004-III (extracts) NJW 2003, 2893 = StV 2002, 289 = StraFo 2002, 123 = JA 2002, 838 HRLJ 1991, 249 = RUDH 1991, 398 = ÖJZ 1991, 745

EuGRZ 1992, 298 = HRLJ 1991, 427 = NJW 1992, 3090 = JuS 1993, 508 RUDH 1993, 352 = ÖJZ 1994, 322 (Fortsetzung nächste Seite)

246

Anhang

(Fortsetzung Anhang 3) Fall Entscheidungsdatum

Amtliche Sammlung

Parallelfundstellen

Salduz gg. TK

27. 11. 2008

NJW 2009, 3707

Schenk gg. CH

12. 07. 1988

Series A 140

EuGRZ 1988, 390 = NJW 1989, 654

Schöps gg. D

13. 02. 2001

Rep. 2001-I

NJW 2002, 2015 = StV 2001, 203 = JuS 2002, 1014 = NVwZ 2002, 1355

Scordino gg. I

29. 03. 2006

Rep. 2006-V

NJW 2007, 1259 = NVwZ 2007, 795

Shabelnik gg. UA

19. 02. 2009

Shishkov gg. BG

09. 01. 2003

Rep. 2003-I (extracts)

HRRS 2004, 398

S.N. gg. S

02. 07. 2002

Rep. 2002-V

Solakov gg. MK

31. 10. 2001

Rep. 2001-X

Teixeira de Castro gg. P

09. 06. 1998

Rep. 1998-IV

EuGRZ 1999, 660 = NStZ 1999, 47 = StV 1999, 127

Twalib gg. GR

09. 06. 1998

Rep. 1998-IV

ÖJZ 1999, 390

Unterpertinger gg. A 24. 11. 1986

Series A 110

EuGRZ 1987, 147 = NJW 1987, 3068

Vidal gg. B

22. 04. 1992

Series A 235-B

EuGRZ 1992, 440 = HRLJ 1992, 425 = RUDH 1992, 493

Wemhoff gg. D

27. 06. 1968

Series A 7

Windisch gg. A

27. 09. 1990

Series A 186

Włoch gg. PL

19. 10. 2000

Rep. 2000-XI

W.S. gg. PL

19. 06. 2007

RUDH 1990, 409 = StV 1991, 193 = ÖJZ 1991, 25

Literaturverzeichnis Achenbach, Hans / Perschke, Stefan: Anm. zu BGH, Urt. v. 24. 02. 1994 – 4 StR 317/93 (LG Saarbrücken), StV 1994, 577 – 580. Alsberg, Max: Die Untersuchungshaft. I. Festnahme und Untersuchungshaft, JW 1925, 1433 – 1439. Alsberg, Max / Nüse, Karl-Heinz / Meyer, Karlheinz: Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., Köln u. a. 1983. Zitiert: Beweisantrag. Alternativkommentar: Kommentar zur Strafprozeßordnung, hrsg. v. Wassermann. Zitiert: AK-Bearbeiter. – Band 1: §§ 1 – 93, Neuwied 1988; – Band 2, Teilband 1: §§ 94 – 212b, Neuwied 1992; – Band 2, Teilband 2: §§ 213 – 275, Neuwied / Kriftel / Berlin 1993. Ambos, Kai: Europarechtliche Vorgaben für das (deutsche) Strafverfahren, NStZ 2002, 628 – 633 (Teil I), NStZ 2003, 14 – 17 (Teil II). – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Verfahrensrechte. Waffengleichheit, partizipatorisches Vorverfahren und Art. 6 EMRK, ZStW 115 (2003), 583 – 637. Amelung, Knut: Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß. Dogmatische Grundlagen individualrechtlicher Beweisverbote, Berlin 1990. Zitiert: Informationsbeherrschungsrechte. – Anm. zu OLG Celle, Vorlagebeschl. v. 26. 03. 1991 – 1 Ss 2/91, StV 1991, 454 –456. – Subjektive Rechte in der Lehre von den strafprozessualen Beweisverboten, in: Schulz / Vormbaum (Hrsg.), Festschrift für Günter Bemmann, Baden-Baden 1997, 505 –523. Zitiert: FS Bemmann. – Die Verwertbarkeit rechtswidrig gewonnener Beweismittel zugunsten des Angeklagten und deren Grenzen, StraFo 1999, 181 – 186. – Zum Streit über die Grundlagen der Lehre von den Beweisverwertungsverboten, in: Schünemann / Achenbach / Bottke / Haffke / Rudolphi (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, Berlin / New York 2001, 1259 – 1280. Zitiert: FS Roxin. – Prinzipien der strafprozessualen Verwertungsverbote, in: Duttge / Geilen / Meyer-Goßner / Warda (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, Köln u. a. 2002, 417 –433. Zitiert: GS Schlüchter. – Normstruktur und Positivität strafprozessualer Beweisverbote, in: Wolter / Schenke / Rieß / Zöller (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen, Festgabe für Hans Hilger, Heidelberg 2003, 327 – 337. Zitiert: FG Hilger.

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Sachwortverzeichnis Abwägungslehre 198, 201 ff., 207 f., 214, 216 Akteneinsicht – bei Untersuchungshaft 113 ff. – des Beschuldigten 80 f. Antrag – der Staatsanwaltschaft siehe Antragspflicht – des Beschuldigten siehe Antragsrecht Antragspflicht der Staatsanwaltschaft 62 f., 66 f., 74 f., 172 ff., 181, 188, 235 Antragsrecht – Belehrungspflicht 185 ff., 226 – des Beschuldigten 178 ff., 186, 189, 196, 226, 231 f., 235 Anwesenheitsrecht 80, 95, 104 ff., 128, 147, 152 f., 156, 162, 166 – Ausschluss des Beschuldigten 80, 128, 144, 156, 159, 187 – des Verteidigers bei Identifizierungsgegenüberstellung 152 f. – des Verteidigers bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung 104 ff. – Folgen eines Verstoßes 97 f., 130, 157 f. Augenscheinseinnahme 79, 155 ff., 170, 177, 185, 195, 208, 233 f. – Anwesenheitsrecht 156 – Fehlerquellen 157 – notwendige Verteidigung siehe dort Auslegung – autonome ~ 44, 47 f., 52, 57 – der Europäischen Menschenrechtskonvention siehe dort – der „Interessen der Rechtspflege“ 52 ff. – der „strafrechtlichen Anklage“ 47 ff.

Aussagetüchtigkeit siehe Zeugen Auswahl – des Pflichtverteidigers siehe Verteidigerbeiordnung – eines Sachverständigen siehe Sachverständigenauswahl Autonomie 87 ff., 177, 193 Beiordnung des Pflichtverteidigers siehe Verteidigerbeiordnung Belehrungspflicht – Folgen eines Verstoßes siehe Beweisverwertungsverbot – über Antragsrecht des Beschuldigten siehe Antragsrecht Benachrichtigungspflicht 128 f., 156 – Ausnahmen 128 f., 156 – Folgen eines Verstoßes 97 f., 130, 157 f., 210, 212 Beschuldigteninteresse siehe Interesse Beschuldigtenvernehmung 93 ff., 160, 170, 177 f., 185, 191 ff., 207 f., 217 f., 234 f. – Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilicher ~ siehe Anwesenheitsrecht – Fehlerquellen 98 ff. – haftrichterliche ~ 110 ff. – notwendige Verteidigung siehe dort – polizeiliche ~ 118 f. – richterliche ~ 110 ff. – staatsanwaltschaftliche ~ 118 f. Beschwerde 189, 235 Bestellung des Pflichtverteidigers siehe Verteidigerbeiordnung Bestellungspflicht 175 f., 181 ff.

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Sachwortverzeichnis

– Folgen eines Verstoßes siehe Beweisverwertungsverbot Beurteilungsspielraum 32, 67, 73 f., 76, 174 f., 191 f. Beweissicherung 62 f., 110, 134, 144, 159, 209, 219 Beweisverwertungsverbot 63 f., 65 ff., 69 f., 71, 72, 76, 100, 130 f., 197 ff., 236 – bei Verstoß gegen Belehrungspflicht 222 ff., 236 – bei Verstoß gegen Bestellungspflicht 197 ff., 236 – Lehren 197 ff. – und Widerspruch siehe Widerspruchslösung Beweiswürdigungs-Lösung 63 f., 210 ff. Eigenverantwortlichkeit siehe Autonomie Ermessensspielraum 32, 182, 235 Ermittlungsrichter 131 f., 157 f., 194 f., siehe auch Zuständigkeit Ermittlungsunterbrechung 191 ff. Europäische Menschenrechtskonvention 42 ff., 58 f., 119 ff., 140 ff., 233 f. – als einfaches Bundesgesetz 42 f., 57 – Auslegung 43 f. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 44 f., 45 ff., 56 f., 58 f., 78, 119 ff., 213 f., 234 – Auslegung der Urteile 44 – Bindungswirkung der Urteile 45 ff. – Gesamtbetrachtungslehre 56 f. – Rechtsschutz 44 f. Fehlerfolgenlehre, normative 198, 201 ff., 208 f. Fehlerquellen – bei Augenscheinseinnahme siehe dort – bei Beschuldigtenvernehmung siehe dort – bei Identifizierungsgegenüberstellung siehe dort – bei Zeugenvernehmung siehe dort

Fragerecht 60 ff., 210 ff., 219 ff. Funktionstüchtigkeit 84 ff., 92, 214 Fürsorgepflicht 28, 177 f., 180, 186 f.,

80, 140 ff., 144 ff., der Strafrechtspflege 36 f., 41, 88 ff., 126, 195 f., 225, 235

Gegenüberstellung siehe Identifizierungsgegenüberstellung Gerichtshof siehe Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Gesamtbetrachtungslehre siehe Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Glaubhaftigkeit siehe Zeugen Glaubwürdigkeit siehe Zeugen Günstigkeitsprinzip 58 f., 92, 234 Gutachten siehe Sachverständigengutachten Haftrichter 100, 113, 179, 190, 195, 235 – haftrichterliche Vernehmung siehe Beschuldigtenvernehmung – Zuständigkeit siehe dort Identifizierungsgegenüberstellung 79, 147 ff., 170, 177, 185, 207, 233 f. – Anwesenheitsrecht des Verteidigers siehe Anwesenheitsrecht – Durchführung 150 ff. – Fehlerquellen 149 f. – notwendige Verteidigung siehe dort Interesse – der Rechtspflege 49 f., 51, 52 ff., 57, 58 ff., 89, 234 – des Beschuldigten 26, 34, 41, 52 ff., 57, 58, 76, 81, 108, 110, 175, 221, 231, 236 – des Rechtsstaates 28, 41, 87, 89, 177, 193, 206, 221, 225, 231 – öffentliches ~ 26, 193, 216 Kosten des Pflichtverteidigers 56, 82 – Befreiung 56 Kostentragungspflicht 91, 92, 126, 170, 177, 234

Sachwortverzeichnis Lehre von den Informationsbeherrschungsrechten 198, 200 f., 207 f. mittelloser Beschuldigter 37, 41, 52, 55 f., 57, 58 f., 80, 163, 190, 208, 226, 233 f. Mitwirkungsrechte 77 ff., 84, 91, 92, 104, 133, 153, 169 ff., 177, 180, 185, 187, 196, 208, 233 f. – bei Videovernehmung 133 Notdienst, anwaltlicher siehe Verteidigernotdienst notwendige Verteidigung 28 ff. – bei Augenscheinseinnahme 159 f. – bei Beschuldigtenvernehmung 109 ff. – bei einstweiliger Unterbringung 30, 111 ff., 126, 127, 171, 177 f., 235 – bei Identifizierungsgegenüberstellung 154 f. – bei Sachverständigenauswahl 165 ff. – bei Tatrekonstruktion 160 – bei Untersuchungshaft 30, 111 ff., 126, 127, 171, 177 f., 235 – bei Zeugenvernehmung 144 ff. – Bestellung des Pflichtverteidigers siehe Verteidigerbeiordnung Organ der Rechtspflege 25, 41, 86, 108 Pflichtverteidiger 36 – Bestellung siehe Verteidigerbeiordnung – Kosten des ~ siehe dort Recht auf Verteidigerbeiordnung 52 ff. Recht auf Verteidigung 49 ff. – Recht auf freie Verteidigerwahl 51 f. – Recht auf Selbstverteidigung 50 f. – Recht auf Verteidigerbeiordnung siehe dort Rechtskreistheorie 198 f., 206, 214 Rechtsstaatsprinzip 24, 28, 40 f., 77, 84, 87, 89, 177, 192 f., 205 f., 225, 233 Sachverständigenauswahl 79, 161 ff., 170 f., 177, 180, 185, 195 f., 208, 234 ff.

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– notwendige Verteidigung siehe dort Sachverständigengutachten 35, 79, 162 ff., 166 ff., 233 Schutzzwecklehren 198, 199 f., 206 f. Sozialstaatsgedanke 37, 41 Staatsanwaltschaft – Antragspflicht siehe dort Strafverteidigernotdienst siehe Verteidigernotdienst Tatrekonstruktion 65 ff., 79, 155 ff., 170, 177, 185, 195, 215 ff., 233 f. – notwendige Verteidigung siehe dort Unschuldsvermutung 26, 84 f. Unterbringung, einstweilige – notwendige Verteidigung siehe dort Untersuchungshaft – Akteneinsicht siehe dort – notwendige Verteidigung siehe dort Vernehmung – des Beschuldigten siehe Beschuldigtenvernehmung – von Verhörspersonen 61, 79, 97, 110, 118, 131, 142, 169, 233 – von Zeugen siehe Zeugenvernehmung Vernehmungsprotokolle 79, 96 f., 102 f., 108 f., 110, 118 f., 134, 147, 233 Verteidiger – Beschränkung der Verteidigerwahl 25, 52 – Organ der Rechtspflege siehe dort – Verzicht 28, 41, 50, 88 ff., 193 Verteidigerbeiordnung 38 ff. – Auswahl des Pflichtverteidigers 40 – Dauer 38 f. – Rücknahme 39 – Widerruf 39 – Zeitpunkt 38 – Zuständigkeit siehe dort Verteidigerbestellung siehe Verteidigerbeiordnung

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Sachwortverzeichnis

Verteidigernotdienst 94, 117, 187, 190, 194 f. Verteidigung – effektive und wirksame ~ 77 ff., 169 f., 233 ff. – notwendige ~ siehe dort Verteidigungsrechte 50 f., 57, 78, 85, 140 ff., 169 Verwertungsverbot siehe Beweisverwertungsverbot Verzicht siehe Verteidiger Videoaufzeichnung siehe Zeugenvernehmung Vorsitzender siehe Zuständigkeit Widerspruchslösung 227 ff., 236 Zeugen – Aussagetüchtigkeit 135 ff.

– – – –

Glaubhaftigkeit 138 f. Glaubwürdigkeit 139 Vernehmung siehe Zeugenvernehmung Videoaufzeichnung siehe Zeugenvernehmung Zeugenvernehmung 60 ff., 79, 127 ff., 170 f., 177, 185, 194, 208, 233 f. – Fehlerquellen 135 ff. – Fragerecht siehe dort – notwendige Verteidigung siehe dort – Videoaufzeichnung 79, 131 ff., 144 ff., 147, 233 Zuständigkeit 39, 190 f., 195, 235 – de lege ferenda 190, 235 – des Ermittlungsrichters 190, 235 – des Haftrichters 190, 235 – des Vorsitzenden 39, 190, 235