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German Pages 120 Year 1983
WOLFRAM
ZITSCHER
Normen u n d Feldtheorie
Schriften
zur
Rechtstheorie
Heft HO
Nonnen und Feldtheorie
Von Dr. Dr. Wolfram Zitscher
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zitscher, Wolfram: Normen der Feldtheorie / von Wolfram Zitscher. - Berlin: Duncker und Humblot, 1983. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 110). ISBN 3-428-05502-0 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISBN 3 428 05502 0
Meinen
Kindern
Harriet Bertram
und Corvin
Danksagung In nicht wenigen zivilrichterlichen Dezernaten werden nicht mehr als fünf vom Hundert der erledigten Sachen mit einem Urteil abgeschlossen. Die übrigen verdanken ihre Erledigung nur zum geringen Teil dem, was an den Rechtsschulen aufgrund ausgesuchter, abstrakt gebildeter Fälle mit bestimmten Lösungen an Wissen vermittelt wird. Und auch bei jenen Urteilen denkt der Richter nur selten daran, daß auf der Grundlage allein des ihm durch das Studium mitgegebenen Rüstzeugs meist auch anders hätte entschieden werden können, als er es getan hat. Nachdem sich die Hoffnung darauf, daß die Erforschung der sozialen Herkunft der Richter diese Probleme klären könnte, nicht erfüllt hat und auch nicht erfüllen konnte, werden Antworten auf die Fragen nach den theoretischen Grundlagen jenes Geschehens i n der Bundesrepublik nur an wenigen Universitäten gesucht. Um so mehr danke ich den Herren Prof. Dr. K. Adomeit und Prof. Dr. Dr. W. Krawietz, vor allem aber Herrn Ministerialrat a.D. Professor Dr. J. Broermann, dafür, daß sie den Druck der hier vorgelegten Arbeit ermöglicht haben. Altenholz, den 16. Juli 1983
Wolfram
Zitscher
Geleitwort Der Verfasser gehört zu den Mitbegründern der vor mehr als 15 Jahren ins Leben gerufenen und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe Rechtstheorie und Rechtssoziologie und ist als einer der ersten in der Bundesrepublik mit empirischen rechtssoziologischen Forschungsergebnissen hervorgetreten. Er ist Präsident eines oberen Landesgerichtes mit langer Berufserfahrung und nimmt sich im vorliegenden Band eines bisher in der Rechtstheorie und der Theorie der Rechtssoziologie kaum behandelten Problems an, vor dem jeder Jurist bei der Rechtsanwendung steht. Jede rechtliche Bewertung sozialer Sachverhalte geht davon aus, daß es wiederholbare soziale Situationen gibt, die gesetzlichen Tatbeständen zugeordnet werden. Daß das nicht der Fall ist, wird in der Lehre zwar in der Regel zugestanden, ohne daß ein befriedigender Ausweg aus diesem Dilemma bisher gezeigt worden wäre. Wenn die in der Gegenwart sich vermehrenden Klagen über die schwindende Rechtssicherheit im Sinne kalkulierbarer Entscheidungen der Gerichte zum Verstummen gebracht werden sollen, so müßten jene Zusammenhänge über den angeblichen Konsens, durch den hur ähnliche Situationen als gleiche einer bestimmten Art zugeordnet werden, untersucht werden. Ausgangspunkt der theoretischen Ausführung des Verfassers ist die Normtheorie von Theodor Geiger, wie er sie i m ersten Teil seiner „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts" (1947) dargelegt hat. Diese rechtssoziologische Normtheorie ist nach Auffassung von führenden Vertretern des Faches nach wie vor die wichtigste rechtssoziologische Leistung geblieben und nicht wesentlich ergänzt worden (so neben vielen anderen insbesondere M. Rehbinder, N. Luhmann, H. Popitz). Der Verfasser stellt zu Recht fest, daß Geiger verneint, daß „zwei aktuelle Konstellationen von Umständen von sozialen Situationen einander völlig gleich sind", daß also eine prinzipielle „Ungleichheit aller aktuellen Konstellationen angenommen werden muß". Da Geiger sich der Analyse der Situation nicht zugewendet hat, vielmehr von einer nicht weiter analysierten Situation ausgeht, ja von einem von ihm nicht näher begründeten Grundmodell der modernen Ordnungswirklichkeit ausgeht, wendet sich der Verfasser folgerichtig den Grundprinzipien der Geiger'schen Wissenschaftslehre zu, um hierüber näheren Aufschluß zu erhalten. Immerhin ist festzuhalten - und das wird vom Verfasser im Gegensatz zu anderen GeigerInterpreten richtig erkannt - , daß Geiger als Grundstruktur aller Ordnungs-
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Geleitwort
Wirklichkeit in der Gesellschaft das Muster annimmt, daß aus bestimmten Situationen bestimmte Gebaren zu folgen pflegen. Auf diesem Muster baut Geiger eine Normtheorie auf, ohne den Grundsatzfragen nachzugehen, die für eine Begründung seiner Annahme hätten geprüft werden müssen. Gerade für eine solche Prüfung scheint Kurt Lewin in seiner Feldtheorie einen Weg zu öffnen. Inzwischen ist auch erkennbar, daß unabhängig von Geiger und Lewin sich andere sozialwissenschaftliche Disziplinen gerade dieser Fragestellung zugewandt haben. Zu diesen zählen beispielsweise die verschiedenen Schulen (auch zuweilen herablassend als „Sekten" bezeichnet, so von L. Coser) der Ethnomethodologie von Garfinkel und anderen. Die Kernfrage, die der Verfasser aus diesen Überlegungen gewinnt, formuliert er wie folgt: „Die Erforschung des sozialen Handelns von Individuen i n einer sozialen Situation verlangt die Klärung der Frage, welche Umstände in einer solchen - menschliches Handeln einschließenden - Situation beobachtbar sind und sich wiederholen können und in welcher Weise sie reproduzierbar sind. " Der entscheidende Beitrag, den die Feldtheorie zur Ergänzung der Geiger'schen rechtssoziologischen Ausführungen zu bieten hat, liegt in der Herausarbeitung spezifischer Faktoren, die eine Situation bestimmen. Es handelt sich also um einen Selektionsprozeß, der es erst ermöglicht, Situationen zu typisieren und damit theoretisch nutzbar zu machen. Insbesondere w i r d durch das Verfahren Lewins die Notwendigkeit einer beträchtlichen, aber immer noch vertretbaren Reduktion von im Grunde zahllosen Faktoren begründbar gemacht, welche eine Situation gesamthaft ausmachen sollten. Das Verfahren der Einschränkimg höchst vielfältiger diffuser Elemente, welche eine Situation ausmachen, auf eine Auswahl maßgeblicher Faktoren ist das Hauptanliegen Lewins und als solches in der Rechtssoziologie, aber auch in der Rechtsanwendung, bis heute genutzt worden. Aus dem unterschiedlichen theoretischen Ansatz Geigers und Lewins schließt der Verfasser unter Hinweis auf empirische Untersuchungen in der Anthropologie, daß es nicht nur in der Wissenschaft zwei sich unterscheidende Wege - i n unterschiedlichen Graduierungen - zur Lösung eines Problems gibt, die pointierend hervorhebende Abstraktion (W. Eucken) einerseits und die Untersuchimg möglichst vieler oder aller Umstände einer bestimmten Situation (M. Weber) andererseits. Vielmehr müssen diese unterschiedlichen Weisen der Welterfassung anthropologisch faßbare Wurzeln in der Konstitution des Menschen haben. Treten derartige unterschiedliche konstitutionelle Varianten in bestimmten Gesellschaften in sich unterscheidenden Häufungen auf, so muß das nicht nur zu unterschiedlichen sozialem Handeln und infolgedessen zu verschiedenem „Recht" führen, sondern auch Art und Weise bestimmen, in der eine Situation schließlich als eine Situation - als eine einem bestimmten gesetzlichen Tatbestand zugehörend - definiert
Geleitwort
wird. Sind derartige Konstitutionsvarianten in einem Gebiet mit den gleichen Sprachzeichen gestreut, so müßte das je nach anzutreffender Häufung zu unterschiedlicher Rechtsanwendung führen. Überlegungen, die auch die Rechtsvergleichung nicht mehr außer Betracht lassen kann. Diese - i m Interesse der Kürze - sehr abstrakt gehaltene Arbeit wird die einschlägige aktuelle Fachdiskussion wesentlich bereichern. Sie w i r d auch nützlich sein in den oben schon genannten anderen Bereichen der Sozialwissenschaft, wie der Ethnomethodologie oder jeder anderen Wissenschaft - wie auch der Historiographie - , die von der Wiederholbarkeit sozialer Situationen oder auch nur von sozialen Folgeketten ausgehen kann. Aus rechtstheoretischer Sicht könnte die Arbeit sogar wesentliche Impulse geben an die Richtung, die als Topik oder als Argumentationslehre in der Rechtswissenschaft mehr und mehr diskutiert wird. Der Beitrag des Verfassers könnte vielleicht die aktuell gepflegte Topik in dem Sinne bereichern, daß sie die i n der Topik ja immer nur schemenhaft angedeuteten „Topoi" mit vertretbaren Strukturen erfüllt und damit die heute gepflegte Topik als Situationstopik, wie bei Cicero, entlarvt. Wenn auch der Verfasser auf diese Möglichkeiten, die er tatsächlich eröffnet hat, nicht selbst eingeht, so zeigt er mit der Behandlung eines bisher offenen Problems Wege, die künftige Untersuchungen - nicht nur im Bereich der Rechtstheorie - nicht mehr unbeachtet lassen können. Paul Trappe, Basel
Inhaltsverzeichnis I. Einführung II. Begriff der Norm und normtheoretische Grundlagen
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ΙΠ. Fragen der Wissenschaftslehre
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IV. Probleme der Zeit und des Wandels
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V. Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit VI. Sprache und Wirklichkeit VII. Konsistenz der Begriffe in den Sozialwissenschaften VIII. Der Weg der Feldtheorie IX. Normen in der Feldtheorie X. Normen und Erkenntnis XI. Inhalt der Normen i m Feld XII. Zusammenfassung Literaturverzeichnis
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I. Einführung „Man spricht von mangelnder Rechtssicherheit, wenn Banditen, dem Gesetz zum Trotz, ungestraft ihr Unwesen treiben können, sei es, daß die öffentliche Macht zu schwach ist oder ihre Organe zu nachlässig sind, dem Gesetz Respekt zu verschaffen. Man bezeichnet es als mangelnde Rechtssicherheit, wenn die Gesetzgebung dem Ermessen der Verwaltungsorgane allzu großen Spielraum läßt, so daß niemand i m voraus weiß, was für eine Entscheidung es der Behörde beliebt, i m Einzelfall zu treffen. Rechtsunsicherheit entsteht aber auch, wenn allzuviele verwickelte Gesetzesbestimmungen i m Hinblick auf einen Sachverhalt sich häufen, so daß ,kein Mensch sich mehr auskennt', oder wenn die einen Sachverhalt betreffenden Bestimmungen i n schneller Folge mehrmals geändert werden, so daß die Bürger nicht Zeit haben, sich an einen Rechtszustand zu gewöhnen und i n ihm heimisch zu werden 1 ." Als diese Überlegungen zur Hermeneutik des Begriffs „Rechtssicherheit" i m Jahre 1947 niedergeschrieben wurden, kam ihnen für den Verfasser Theodor Geiger und seine Zeit eine besondere Bedeutimg zu. Die Zeitgenossen blickten auf die Erfahrungen zurück, die sie kurz zuvor bis zum Jahre 1945 mit den Rechtssystemen von Diktaturen gemacht hatten, und dem Verfasser selbst war eine persönliche Auseinandersetzimg mit jenen Systemen nur durch die Emigration i m Jahre 1933 - zunächst nach Dänemark - erspart geblieben. Auch wenn jene Erfahrungen die Gestalt des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wesentlich mitbestimmt haben, berührt es eigentümlich, daß der Begriff der „Rechtssicherheit" i n den Materialien zur Verfassung ausdrücklich nicht erwähnt wird 2 . Nicht nur i m Verhältnis des Bürgers zum Mitbürger ist ein Zusammenleben nur unter der Voraussetzung möglich, daß der eine weiß, wie sich der andere i n gewissen typischen Situationen verhalten wird, sondern auch i m Verhältnis des Bürgers zum Staat. Der Grundsatz der Bindung der „vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" an „Gesetz und Recht", wie er i n Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegt ist, verlangt demnach, daß jene und der 1 Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (zit.: Vorstudien), herausgeg. von P. Trappe, 2. Aufl. Neuwied 1970 (als deutsche Ausgabe der 1947 erstmalig erschienenen Arbeit), S. 101. 2 Im Sach- und Sprechregister zu den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates und seines Hauptausschusses, Bonrk* o.J. t r i t t der Begriff der „Rechtssicherheit" als Stichwort nicht auf.
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Bürger möglichst vor und nicht erst nach ihrem Handeln wissen oder zu erkennen vermögen, ob es von der Rechtsordnung gebilligt wird oder nicht 3 . Die Begriffe „Gesetz" und „Recht", welche sozialen Erscheinungen immer hierunter fallen mögen, setzen damit voraus, daß sich bestimmte Lebensvorgänge wiederholen und als solche auch beschreiben lassen, auch wenn sich der in einem Gesetz verwendete Begriff, wie G. Radbruch schreibt, „gegenüber der Stetigkeit des Lebensstromes als diskontinuierlich und gegenüber der Konkretheit der Lebenserscheinungen als generell" erweist 4 . In jüngerer Zeit scheint jene Rechtssicherheit, die Geiger seiner Beschreibung zugrundelegt, wieder fraglich geworden zu sein. Daß es eine verläßliche Sicherheit zu wissen, ob das eigene Handeln von der Rechtsordnung gebilligt w i r d oder nicht, i n diesem engen Sinne nicht geben kann, stand schon früher kaum i n Zweifel. Aber dem Bürger die Möglichkeit zu geben, anhand der rechtlichen Normen wenigstens abschätzen zu können, ob das eigene Handeln von ihnen erfaßt w i r d oder nicht, wurde doch stets als eine der Rechtsordnung und damit den Rechtsnormen eigentümliche Aufgabe angesehen. Darauf, daß sich an dem Verhältnis von Rechtsnormen und Orientierungssicherheit etwas verändert zu haben scheint, deuten sehr unterschiedliche Anzeichen hin. Die Gefahr einer fehlenden Rechtssicherheit sei, so schreibt K. G. Wernicke, weitgehend ausgeschaltet, wenn dem i m Art. 20 Abs. 3 GG verwendeten Begriff „Recht" i m allgemeinen eine normativ-kritische Funktion zukomme. Diese Gefahr der Rechtsunsicherheit sei dagegen „insbesondere dann in hohem Maße gegeben",... „wenn sich die rechtsanwendenden Träger der beiden Einzelgewalten auf Grund mißverständlicher Deutung des Begriffs „Recht" aus den verschiedensten metaphysischen Wertungen den Maßstab für ihre Handlungen holen und damit auf dem besten Wege sind, sich allzu „schöpferisch" oder gar „frei" i n der Rechtsanwendung zu betätigen" 5 . In der Tat ist i n neuer Zeit die Rechtsprechung - nicht nur i m Arbeitsrecht, das angesichts der bisher unterbliebenen Normierung wichtiger Bereiche besonders dazu einlädt - mit Entscheidungen hervorgetreten, bei denen die Möglichkeit des Bürgers abzuschätzen, ob er mit dem Recht im Einklang handelt oder nicht, ernsthaft i n Frage gestellt wird. Erinnert sei hierzu zum Beispiel an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 1976, durch die wohl auf Grund allgemeiner Gerechtigkeitsvorstellungen der an strenge Formerfordernisse gebundene Zuschlagsbeschluß im Zwangsversteigerungsverfahren aufgehoben wurde, letztlich, weil sich die Schuld3 In diesem Sinne wird wohl der Begriff der „Rechtssicherheit" auch vom BVerfG Bd. 3, S. 225 (237) verstanden. 4 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart, 1973, S. 198. 5 K. G. Wernicke, in: Bonner Kommentar, Anm. 3 e zu Art. 20 GG, S. 11.
I. Einführung
nerin nicht angemessen hatte beraten lassen, obwohl jedem Bürger die Möglichkeit einer solchen Beratung bekannt sein muß 6 . Erinnert werden mag ferner an die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10. März 1972, durch die „im Wege der Rechtsfortbildung" der „Rechtssatz aufgestellt" wurde, daß einem Arbeitnehmer, der mehr als 20 Jahre einem Betrieb angehört und dem vor dem 65. Lebensjahr gekündigt wird, die Versorgungsanwartschaft unter bestimmten Voraussetzungen erhalten bleiben soll 7 . Mit ähnlichen Erwägungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht angestellt hat, setzte das Landgericht München unter Mißachtung des Gesetzeswortlautes ein Ehescheidungsverfahren bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts - für nahezu ein Jahr - aus8, übrigens, ohne auf wesentlichen Widerspruch zu stoßen. Im Leitsatz hierzu heißt es: „Ein vor dem 1. Juli 1977, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts, anhängiges Ehescheidungsverfahren ist auf Antrag bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes auszusetzen, weil eine Fortführung des Verfahrens derzeit den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft zuwiderlaufen würde." Eine ähnliche Einstellung zur Bedeutung von Gesetzesbestimmungen für die Ordnung in einer Gesellschaft t r i t t in der Übung mancher Gerichte zutage, für die Begründung ihrer Entscheidungen Begriffe einzuführen und wie gesetzliche Begriffe zu behandeln, die sich im Gesetz nicht finden lassen. Wurde früher stets das Bemühen der Gerichte sichtbar, dort, wo der Wortlaut des Gesetzes eine gerechte Entscheidung nicht zuzulaskeiTsèhien, diese auf allgemeine, im Gesetz verankerte Grundsätze, wie die der ,guten Sitten 4 (§§ 138, 826 BGB) oder von ,Treu und Glauben' (§ 242 BGB) zurückzuführen, so haben manche Gerichte heute keine Bedenken, wenn sie meinen, daß angemessene Begriffe i m Gesetz fehlen, andere außergesetzliche Begriffe als 6
BVerfG vom 24. März 1976 (NJW 1976, 1391). Die Leitsätze lauten unter Ziff. 1, 2, 2 a: „1. Bisher sind Versorgungsversprechen, die den Verfall von Versorgungsanwartschaften bei Ausscheiden des Arbeitnehmers vor dem 65. Lebensjahr vorsahen, nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit als zulässig angesehen worden. 2. Wegen der mit dieser Rechtsansicht verbundenen sozialen Härten und Unbilligkeiten stellt der Senat im Wege der Rechtsfortbildung folgenden Rechtsgrundsatz auf: a) Einem Arbeitnehmer, der mehr als 20 Jahre einem Betrieb angehört hat und dem vor dem 65. Lebensjahr vom Arbeitgeber ordentlich gekündigt wird, bleibt die bis zu seinem Ausscheiden erdiente Versorgungsanwartschaft erhalten." Das Ergebnis hätte auch unter Beachtung der von der Rechtslehre anerkannten Kunstregeln erreicht werden können. Stattdessen wird als Begründung für die Rechtsänderung angeführt: „Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat in ihrer Erklärung ,Freiheit, soziale Ordnung - heute und morgen' vom Oktober 1968 die Forderung erhoben, bei betriebsbedingten Kündigungen älterer Arbeitnehmer mit langjähriger Betriebszugehörigkeit müßten Pensionsanwartschaften erhalten bleiben. ... Dem Senat ist keine Stellungnahme aus den letzten Jahren bekannt, in der es als gerecht und billigenswert bezeichnet wird, daß Versorgungsanwartschaften stets verfallen, wenn der Arbeitnehmer vor Erreichen der Altersgrenze aus dem Betrieb ausscheidet, sofern nicht etwas Gegenteiliges vereinbart ist." » L G München I I v. 21. Juli 1977 (NJW 1976, 1637 f.). 7
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I. Einführung
Grundlage ihrer Entscheidung i n die Gründe einzuführen, wie es zum Beispiel mit dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" i m Privat- und Arbeitsrecht 9 , mit dem Begriff der „Erforderlichkeit" 1 0 oder der „Zumutbarkeit" 1 1 , dem „verständigen Betrachter" 12 i m Arbeitsrecht geschieht oder geschehen ist. Daß die durch einen derartigen Gerichtsgebrauch dem Recht zugeführten Begriffe schließlich in die Neufassungen der Gesetze eingehen 13 , führt keineswegs zu einer Stärkung dessen, was sich im vorangegangenen als die durch Rechtsnormen zu gewährende Rechtssicherheit umschreiben ließ. Jene von der Rechtsprechung zur Begründung ihrer Entscheidungen verwendeten Begriffe der „Zumutbarkeit", „Erforderlichkeit", „Verhältnismäßigkeit" oder des „verständigen Betrachters", bewirken bei näherer Betrachtimg ihrer umgangssprachlichen Bedeutung n^ch nicht generalisierende Regelungen, sondern führen zur Fallgerechtigkeit. Nur „unter Berücksichtigung aller Umstände" soll und kann nämlich im Einzelfall geprüft werden, ob zum Beispiel eine bestimmte Maßnahme „zumutbar" oder „erforderlich" ist oder ob sie dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" entspricht. Hiernach kann es nicht wunder nehmen, wenn die „Berücksichtigimg aller Umtände des Einzelfalles", vor allem i m Arbeitsrecht, zur beliebten, stets wiederkehrenden Formel höchstrichterlicher Rechtsprechung w i r d 1 4 . Darauf, daß sich diese Entwicklung i n der Praxis der Obersten Bundesgerichte, vor allem in der des Bundesarbeitsgerichts, nicht allein - unabhängig von der allgemeinen Rechtsentwicklung - vollzieht, scheint ein zusammenfassender Bericht über die Verhandlungen der Fachgruppe für Grundlagenforschung anläßlich der Tagung für Rechtsvergleichung in Wien vom 18. -21. September 1963 hinzudeuten. Dazu heißt es: „ I n ihrer Mehrzahl 9 Vgl. BAG v. 22. Febr. 1980 - 7 AZR 295/78 - BB 1980, 938). Daß sich die Bedeutung des Begriffs der Verhältnismäßigkeit aus Staats- und Verwaltungsrecht bei der Übernahme ins Privatrecht verändern muß, w i r d hierbei regelmäßig nicht gesehen. 10 BAG ν. 24. Juni 1969 in AP Nr. 8 zu § 39 BetrVG 1952, aber um noch genauere Bestimmung bemüht BGH v. 7. Juli 1978 in L M Nr. 14 zu § 89 a HGB (s. a. BGH v. 4. Februar 1976 in L M Nr. 17 zu Allg. Beding, d. Elektr. Versorgungs-Unternehmen). 11 BAG vom 26. Oktober 1961 in AP Nr. 7 zu § 322 ZPO. 12 BAG vom 29. Juni 1962 in AP Nr. 25 zu Art. 12 GG. 13 Z.B. „Erforderlich" auf Grund der in Anm. 4 angeführten Rechtsprechung nunmehr in § 37 Abs. 2 und Abs. 6 BetrVG 1972. Abs. 6 verlangt, auf Abs. 2 verweisend, eine zweimalige Prüfung des Begriffs. „Zumutbar" auf Grund der Entscheidungen des BAG zu der früheren Fassung des § 626 BGB, nunmehr durch die Neufassung des Gesetzes vom 14. August 1969 (BGBl. I S. 1106) in diese Vorschrift eingeführt. Die Verwendung der Begriffe „erforderlich" (z.B. § 670 BGB und auch hier nicht als „objektiv" zu prüfendes Merkmal) oder „zumutbar" bildete im Bürgerlichen Gesetzbuch früher die Ausnahme, heute werden aus ihnen für das Arbeitsrecht für wichtige Ordnungsbereiche die maßgeblichen Grundsätze. Vgl. auch die Neufassung von § 906 Abs. 2 BGB und die Bestimmung des § 2331 a BGB. 14 U.a. BAG vom 7. Juli 1970 in AP Nr. 58 zu § 611 BGB - Haftung des Arbeitnehmers; BAG vom 16. Juni 1976 in AP Nr. 40 zu § 620 BGB; BAG vom 25. März 1959 in AP Nr. 27 zu § 611 BGB - Fürsorgepflicht; BAG vom 19. März 1959. Allerdings mit dem Bemühen BGH vom 4. Febr. 1976 in L M Nr. 17 zu Allg. Beding, d. Elektr. Versorg.-Unternehmen.
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haben Referate und Diskussionsbeiträge die Bedeutung der Individualgerechtigkeit in der Rechtspflege unserer Zeit herausgestellt und ihr unverkennbar den Vorzug vor der generalisierenden Betrachtungsweise gegeben. Diese w i r d als „begriffsjuristisch" i n das vorige Jahrhundert verwiesen 15 ." Auf diesem Hintergrund w i r d es verständlich, wenn i n gesetzliche Neuregelungen Bestimmungen eingehen, die jene gerichtliche Praxis, wie zum Beispiel i m Wortlaut des § 626 Abs. 1 BGB, übernehmen und die „Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles" zur tragenden Maxime richterlicher Erkenntnisakte erheben. Sollte der Richter ohnedies alle erheblichen Umstände des Einzelfalles bei seiner Entscheidung in Rechnung stellen, so kann die Aufnahme einer solchen Formulierung i n das Gesetz oder ihre Heraushebung durch die Entscheidimg eines Bundesgerichtes zu einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung nur auf eine besondere Beurteilung des Einzelfalles zu Lasten generalisierender Gesichtspunkte zielen. Der hier zutage tretende, jedem Recht innewohnende Zwiespalt zwischen Gerechtigkeitsanforderungen an den Einzelfall einerseits und der Notwendigkeit generalisierender Grundsätze andererseits scheint sich i n den letzten Jahrzehnten zu Lasten der letzteren und zugunsten von Individualentscheidungen zu verschieben. Damit gehen andere Erscheinungen einher, die diese Entwicklung fördern, wobei hier ungeklärt bleiben mag, ob sie als Ursache oder Wirkung anzusehen sein mögen. Wenn in der Standesvertretung der Richterschaft in jüngster Zeit nach dem Bestehen von gemeinsamen Wertüberzeugungen in unserer Gesellschaft gefragt w i r d 1 6 , so kann eine solche Frage nur auf dem Boden der Ungewißheit über die Richtung entstehen, in der sich unser Recht, das heißt, der Inhalt unserer Rechtsnormen, entwickeln wird 1 7 . Ob das Auftreten der Frage nach den gemeinsamen Wertüberzeugungen der Rechtsgesellschaft ihre alleinige Ursache im Zerfall des Nationalstaates, der früher solche Überzeugungen 15 H.-E. Henke in: Ermessensfreiheit und Billigkeitsspielraum des Zivilrichters, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Schriftenreihe der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Bd. 24, hrsg. von E. v. Caemmerer, Frankfurt/M. 1964, S. 132; hierzu H. Merz, ebenda, S. 125: „Gelingt es nicht, die Streitentscheidung einer Rechtsregel beizuordnen, so wird der Billigkeits- und Ermessensentscheid zur Kadijustiz, zum Orakelspruch." 16 In den Vorbereitungen zum Deutschen Richtertag vom 25. bis 27. Sept. 1979 in Essen war zunächst in der ersten Abteilung „Rechtsstaat, Anarchismus, Terror 1979" unter dem Leitthema „Ursachen vom Anarchismus und Terrorismus" das Thema „Utopische Heilslehren im Vakuum des Verlustes gemeinsamer Wertüberzeugungen" in Erwägung gezogen worden. An seine Stelle trat vor allem „Sozialpsychologische Betrachtung über Jugend". Hierzu: Kurskorrekturen im Recht, Die Vorträge und Referate des Deutschen Richtertages 1979 in Essen, herausgegeben vom Deutschen Richterbund, Köln, 1980, S.53ff. 17 Zum Problem eines sozialen Entscheidungskonsenses in jüngster Zeit die Zertizitätstheorie K. Adomeits: Juristische Methodenlehre und Sicherheit des Ergebnisses in JZ 1980 S. 343. Inwieweit sie der Praxis zu nutzen vermag, erscheint fraglich. Hierzu im übrigen Rolf Bender und Armin Nack: Grundzüge einer Allgemeinen Beweislehre in DRiZ 1980, S. 121 ff.
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vermittelt hat, haben kann, erscheint fraglich. Der rasche soziale Wandel unserer Gesellschaft, mit dem die rechtliche Entwicklung vielleicht nicht immer Schritt zu halten vermag, kann i m Einzelfall mit schwindender Orientierungssicherheit verbunden sein. Ob er jedoch für sich allein zur Erklärung der im vorangegangenen geschilderten Erscheinungen im sozialen Ordnungsgefüge ausreicht, muß bezweifelt werden. Wenn es den Anschein hat, daß die Orientierungssicherheit i m Rechtsleben schwindet, so liegt es vor allem nahe, sich der Rechtssprache, ihrer Semantik und ihrer Grammatik zuzuwenden, da ja Staatsbürger und Gerichte die sozialen Situationen, die rechtlich bedeutsam werden könnten, in den Rechtsnormen beschrieben vorfinden sollten. Unter diesem Blickwinkel ist es wohl kein Zufall, wenn gerade i n jüngerer Zeit der Rechtssprache i n der Theorie besonderes Augenmerk zuteil geworden ist 1 8 . Dennoch zeigt schon die geschilderte Übung der Gerichte, Begriffe zur Begründung von Entscheidungen einzuführen und wie gesetzliche Begriffe zu behandeln, obgleich sie sich i m Gesetz nicht finden lassen, daß das Problem der durch Rechtsnormen zu sichernden Handlungsorientierung der Rechtsunterworfenen allein unter dem Blickwinkel der Sprachverwendung keine Lösung verheißt. Es kommt hinzu, daß gerade durch die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus mit der Gesetzessprache ein weiteres Problem verbunden ist. Führte schon der gleiche Wortlaut zahlreicher Gesetze vor der Zeit von 1933 bis 1945, während dieser Epoche und danach zu jeweils anderen gerichtlichen Entscheidungen 19 , so wies auch die Verfassungswirklichkeit der DDR trotz einer nicht geringen Zahl gleichlautender Grundrechtsbestimmungen in der „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" vom 7. Oktober 1949 20 i m Vergleich mit westlichen Verfassungen diesen gegenüber beträchtliche Unterschiede auf. Und die Tatsache, daß i n der Bundesrepublik i n jüngster Zeit als „alternativ" bezeichnete Kommentare 21 18 So beschäftigt sich z.B. der überwiegende Teil der Beiträge zum Band 2 des Jahrbuches für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, herausgeg. von W. Maihofer und H. Schelsky, Düsseldorf 1972, mit Problemen der Rechtssprache. Vgl. auch u.a. H. Eckmann, Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie, Berlin 1969; D. Horn, Rechtssprache und Kommunikation - Grundlegung einer semantischen Rechtssprache; d. Verf.; Die Satzungsnorm - Sprachgestalt und Zeitbezug (Zit. Satzungsnorm), in ARSP Bd. L X V / 1 (1979) S. 22 ff. Ein Ende der sprachtheoretischen Diskussion in der juristischen Literatur ist noch nicht abzusehen. Vor allem steht noch eine eingehende Auseinandersetzung mit den Arbeiten von J. A. Fodor und J. H. Katz: Semantic Theory, New York 1964, aus. 19 Worauf Th. Vieweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung, in: ARSP Bd. X L V I I (1961) S. 523 schon hingewiesen hat. Vgl. auch B. Rüters, Die unbegrenzte Auslegung - zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968. 20 GBl. I S . 5 f f . 21 Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Besonderes Schuldrecht, herausgegeben von R. Wassermann, Neuwied 1979. Hierzu: Die Bemerkungen von H. Hagen in
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zu Gesetzen mit einer alten hermeneutischen Tradition erscheinen, verführt zu der Annahme, daß an Stelle der bisherigen einander bedingenden Kontinuität von sozialem Wandel und Rechtswandel eine bewußt herbeigeführte Änderung des Rechts möglich wird, ohne daß jene Gesetze erst neu geschrieben werden müßten. Tatsächlich hat es - auch unabhängig von der Rechtssprache - den Anschein, daß sich der Umgang der Gesellschaft mit ihrer Rechtsordnung und damit ihr Verhältnis zu dem, was Rechtssicherheit bewirken soll, verändert hat oder in Veränderung begriffen ist. Das zeigt sich nicht nur in der bei der Rechtsanwendung zu beobachtenden Neigung von Gerichten und Verwaltungen, vorschnell auf die Beachtung gebotener Förmlichkeiten zugunsten „praktischer" Ergebnisse zu verzichten mit der Folge des Verlustes dogmatischer und systematischer Klarheit im Recht 22 . Auch die Einstellungen der Bevölkerung zum Recht und zur Rechtspflege weisen, zieht man aus dem Blickwinkel der Gerichtspraxis die letzten vier Jahrzehnte i n Betracht, deutliche Veränderungen auf. Noch vor wenigen Jahrzehnten kam es nicht selten Prozeßparteien auch im Zivilprozeß darauf an, in der Verhandlung zu versichern, „bisher noch nichts mit dem Gericht zu tun gehabt zu haben", womit die Auffassimg zum Ausdruck zu kommen schien, daß ein guter Staatsbürger eine Streitentscheidung durch das Gericht meist vermeiden könnte und sollte. I n dieser Einstellung scheint ein Wandel eingetreten zu sein, begünstigt auch durch Rechtsschutzversicherungen, so daß der Gang zum Gericht nicht mehr gescheut wird. Die Veränderung kommt auch in den in der Literatur in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Rechtspflege gewählten Worten zum Ausdruck, wenn von „Defizit" an Recht und „Ressourcen" 23 der Rechtsgewährung die Rede ist. Mit derartigen Begriffen w i r d der Eindruck erweckt, als handele es sich beim Recht nicht um eine vom Bürger zu beachtende Ordnungsstruktur, sondern um ein wirtschaftliches Gut, an dem man teilhaben müßte. Hiernach stellt sich die Frage, ob oder gegebenenfalls mit welchen Wirkungen die von Th. Geiger beschriebene Rechts- oder Ordnungssicherheit durch das Gesetz - oder allgemein durch die Rechtsnormen - gewährleistet wird oder ob nicht vielleicht, wenn man von einem Wirkungszusammenhang zwischen Rechtsnormen und Rechtssicherheit ausgeht, dabei eine falsche Annahme zugrunde liegt, die sich durch die soziale Wirklichkeit nicht bestätigen läßt. Derartige Überlegungen finden in der verstärkt vor etwa NJW 1979, S. 2297, sowie H. Lechler, „Funktion als Rechtsbegriff" in NJW 1979, S. 2273 ff. 22 Hierzu: A. v. Mutius, Rechtsnorm und Verwaltungsakt, Zu Möglichkeiten und Grenzen rechtsdogmatischer Differenzierungen i m Bereich des Verwaltungshandelns, in: Festschrift für Hans J. Wolff zum 75. Geburtstag, München 1973, S. 167 ff. (169). 23 U.a. E. Benda: Richter im Rechtsstaat, in DRiZ 1979, S. 357 ff.; D. Hendel, Ressourcenknappheit und Rechtsgewährung, in DRiZ 1980, S. 376.
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I. Einführung
10 Jahren auf getretenen Aufforderung, dem sozialen Herkommen der Richter nachzugehen, eine nicht gering zu achtende Stütze, wenn mit ihr die Vorstellung einhergeht, daß die Erkenntnisse des Richters von seinem Herkommen wesentlich oder entscheidend beeinflußt werden 24 . Der Inhalt derartiger Arbeiten ist in Wochenzeitschriften auch i n breiter Öffentlichkeit behandelt worden 25 . Die in ihnen zutage tretende Einstellung zum Recht als einer vom Richter nach Gutdünken frei auszuübenden sozialen Entscheidungsbefugnis hat möglicherweise auch auf die Einstellungen mancher Bürger zur Rechtspflege Einfluß gehabt. In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Interesse, daß i n jüngster Zeit Prozesse, soweit mit ihnen wichtige wirtschaftliche Fragen für bestimmte Verbände entschieden werden sollten, in der Weise geführt worden sind, daß die gleiche Rechtsfrage bei möglichst vielen erstinstanzlichen Gerichten anhängig gemacht wurde. Was immer damit beabsichtigt sein mag, die Wahrscheinlichkeit, daß unterschiedliche richterliche Erkenntnisse getroffen werden, ist erheblich 26 . War die mögliche unterschiedliche Beurteilung bestimmter Sach- und Rechtsfragen bisher als unvermeidbare Folge der Unabhängigkeit der Richter angesehen worden, die vor allem durch die Einrichtung der Instanzgerichte auszugleichen war, so w i r d das Vertrauen in die Wirkungen von Rechtsnormen für die Ordnungssicherheit in einer Gesellschaft durch voneinander abweichende Urteile einer Vielzahl von Gerichten überhaupt in Frage gestellt, gleichsam durch eine statistische Demonstration fehlender Orientierungsmöglichkeit. Bei dieser vordergründig sich anbietenden Folgerung bleibt allerdings die Tatsache außer Betracht, daß eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung gleichgelagerter Sachverhalte auch „gleichgelagerte" Sachverhalte voraussetzt. Die Regelung gerade „gleichgelagerter" Fälle wurde bisher aber 24 Die Gesichtspunkte treten u. a. bei W. Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, Neuwied 1969, oder auch bei H. Rottleuthner, Richterliches Handeln zur K r i t i k der juristischen Dogmatik, Frankfurt/M., 1973, S. 179 ff. i n den Vordergrund. Angesichts der Vielschichtigkeit des Problems der in die richterliche Entscheidung eingehenden Faktoren (z.B. juristische Ausbildung, Sprache, Medien) können so einseitig ausgerichtete Erwägungen allerdings kaum weiterführen. 25 Der Spiegel Nr. 45/1976 S. 86 unter Hinweis auf die Untersuchung von E. Hilden, Rechtstatsachen im Räumungsrechtsstreit, Zur Effektivität des sozialen Mietrechts und zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Diss. Frankfurt 1976, auf deren methologische Probleme hier nicht eingegangen werden kann. 26 In der Wochenzeitschrift „Der Stern" vom 9. Oktober 1980, S. 19, wird folgender Fall geschildert: Ein Gewerkschaftssekretär hatte einem Richter bescheinigt, daß er ein „Schandurteil" gefällt habe. Ein Strafantrag „kostete" den Gewerkschaftssekretär 750,- D M Geldstrafe wegen Beleidigung. „105 andere" Funktionäre wollten daraufhin nicht einsehen, daß „man Schande nicht mehr Schande nennen darf". Nach einem weiteren Strafantrag erstatteten die anderen 104 Selbstanzeige und beim Gewerkschaftstag „unterschrieben 1000 Kollegen eine Resolution, in der ,das Urteil 1 als Schandurteil bezeichnet wurde".
I. Einführung
stets als die Bestimmung von Gesetzen oder - allgemeiner - von Rechtsnormen angesehen, an die Richter und die Verwaltung gebunden sind. Auch wenn also in diesen sachlichen Voraussetzungen der Gesetze einerseits und in zahlreichen, sich unterscheidenden Entscheidungen der Gerichte auf der Grundlage ein und desselben Gesetzes andererseits kein unaufhebbarer Widerspruch liegen muß, so scheinen jene allgemein aufgezeigten Veränderungen i n unserem Rechtsleben der letzten Jahrzehnte Anlaß genug, die bisherigen theoretischen Grundlagen der Rechtsnormen - oder allgemeiner: der sozialen Normen - zu überprüfen. Für eine solche Überprüfung bieten sich eine Vielzahl von Gesichtspunkten, so daß jede Behandlung eine dieses Thema beschränkende Entscheidung verlangt, die hier mit dem Blickwinkel auf die Feldtheorie i n den Sozialwissenschaften getroffen worden ist.
Π . Begriff der Norm und normtheoretische Grundlagen Der Begriff der Normen w i r d vielfältig verwendet. Vor allem im Bereich des Rechts w i r d von Normen gesprochen. Um so näher liegt es, die Bedeutimg des Begriffs zu bestimmen. Diese Aufgabe kann nicht allein sprachlich gelöst werden, indem der Begriff der Norm neben anderen Begriffen wie „Wert" oder „Standard" untersucht und definiert wird 1 . Notwendig erscheint es vielmehr, auch die Erscheinungen der beobachtbaren sozialen Wirklichkeit unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zueinander zu untersuchen, für die der Begriff „Norm" im besonderen im Rechtsleben verwendet wird. Das soll im nachfolgenden versucht werden. Wenn die Bedeutung des Begriffs der Normen erst auf Grund einer derartigen Untersuchimg näher bestimmt werden soll, kann zu ihrem Beginn, sofern der Begriff verwendet wird, nur von einer sehr allgemeinen Bedeutung ausgegangen werden, die einem allgemeinen - nicht sehr präzisen - Sprachgebrauch Rechnung trägt. Soweit von Rechtsnormen die Rede ist, werden im allgemeinen damit Normen gemeint, die im Bereich des Rechts Geltung haben. Dabei w i r d nicht selten der Begriff Recht mit der Gesamtheit aller „Normen" gleichgesetzt. Die nachfolgenden Überlegungen sollen sich nicht mit Rechtsnormen allein, sondern allgemein mit sozialen Normen beschäftigen. Also auch mit solchen, die im Recht nicht ihre Grundlage haben. Es soll aber davon ausgegangen werden, daß die Rechtsnormen eine Gruppe der sozialen Normen bilden, so daß das, was über soziale Normen gesagt werden kann, auch für Rechtsnormen Geltung hat. Ebenso wie die Erörterung des Begriffs „Recht" Einmütigkeit über die Merkmale dafür voraussetzt, i n welchen Fällen es gegeben ist, gilt dies für den Begriff der Normen. Die hier notwendige Beschreibung dessen, was als Normen untersucht werden soll, kann - wie schon bemerkt worden ist - nur eine vorläufige mit dem Ziel sein, den zu behandelnden Gegenstand gegenüber anderen abzugrenzen, sofern sich überhaupt Einigkeit darüber herstellen läßt, daß es Normen gibt 2 . Deshalb ist auch zunächst bei der Beschreibung der Normen, die Gegenstand des Themas sind, von der herkömmlichen Betrachtungsweise auszugehen, auch wenn diese zu unterschiedlichen Definitionen führen 1 u.a. hierzu R. Lautmann, Wert und Norm, Begriffsanalysen für die Soziologie, Diss. München 1969, S. 54 ff. 2 Hierzu A. Hagerström in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 7, Leipzig 1929, S. 111 ff. (S. 157 f.); Α. V. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 1. Bd., Berlin 1932, S. 252 ff.
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
kann 3 . Es w i r d kaum Widerspruch auslösen und genügt dem hier verfolgten Zweck, als soziale Normen Erscheinungen zu bezeichnen, die im sozialen Bereich zu regelhaftem Verhalten führen. Offengeblieben und damit später zu behandeln sind die Fragen, was regelhaftes Verhalten ist, durch welche Mittel regelhaftes Verhalten bewirkt wird und schließlich, welcher Beschaffenheit der soziale Bereich ist, in dem regelhaftes Verhalten einzelner und/oder mehrerer stattfindet. Zur Klarstellung ist hinzuzufügen, daß unter regelhaftem Verhalten nicht in jedem Fall das verstanden werden kann, was Gegenstand der psychologischen Forschimg mit dem Ziel ist, ein bestimmtes Verhalten einer Versuchsperson - namentlich im Bereich der Motivforschung - voraussagen zu können, das damit als regelhaft erscheint. Vielmehr tritt zum Begriff der Regelhaftigkeit im vorliegenden Zusammenhang der soziale Bezugsrahmen hinzu, der seinerseits auf bestimmte Situationen hin ein sich wiederholendes Verhalten bestimmter Versuchspersonen bewirken oder - richtiger - zur Folge haben soll. Bei der Betrachtung regelhaften Verhaltens von Personen im Normenvollzug liegt es nahe, bestimmte gleichartige soziale Situationen anzunehmen, die ein solches Verhalten auslösen. Die herkömmliche Anschauung scheint sogar eher das Auftreten derartiger, sich wiederholender Situationen als Voraussetzung für die Bildung von Normen anzusehen. Für die nachfolgenden Überlegungen sind daher derartige Situationen für die Entstehung von Normen ebenfalls als Grundlage i n Betracht zu ziehen. Die Fragen, was regelhaftes Verhalten i n der sozialen Wirklichkeit ist, durch welche sozialen Erscheinungen regelhaftes Verhalten bewirkt w i r d und von welcher Beschaffenheit der soziale Bereich ist, in dem es stattfindet, hat in dem hier angegebenen Zusammenhang - soweit ich sehe - am ausführlichsten Theodor Geiger in seinen „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts" 4 behandelt und theoretisch untersucht. Auch wenn die Arbeit bereits 1947 erschienen ist, hat sie bis heute nicht an Aktualität verloren. I m Gegenteil, es läßt sich eher bedauern, daß nur wenige den Begriff „Vorstudien" als Aufforderung verstanden haben 5 , sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Im nachfolgenden soll das in bezug auf bestimmte Fragen geschehen. Auch wenn Th. Geiger seine Arbeit nur als „Vorstudien" zu einer Theorie bezeichnet, verbietet das von ihm verwendete, streng durchgeführte begriffliche System, eine Absicht des Verfassers anzunehmen, über den Gegen3
K. Schrape, Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, Teil I, Basel 1977, S. 28 ff. 4 Th. Geiger, Vorstudien, a.a.O. 5 Allerdings hat Popitz, Die normative Struktur von Gesellschaft, Tübingen 1980, eine die Theorie Th. Geigers weiterführende Arbeit vorgelegt.
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
stand unverbindlich zu räsonieren. Die mit dem Wort „Vorstudien" angedeutete Unvollkommenheit des theoretischen Ansatzes kann angesichts der ihn tragenden, ins einzelne gehenden Überlegungen, nur als die jeder Theorie innewohnende Aufforderung zur kritischen Überprüfung verstanden werden. In der Tat bleiben eine Anzahl von Fragen, auch solche der Wissenschaftslehre, in der Arbeit Geigers offen, und es w i r d zu fragen sein, ob sich jene ungelösten Probleme unter dem ausschließlichen Blickwinkel seiner Theorie beantworten lassen. Auch Th. Geiger legt i n seinen „Vorstudien" für die Entstehung bzw. für das Auftreten von Normen sich wiederholende soziale Situationen zugrunde, die er mit dem Symbol s bezeichnet. Zur „Sicherung eines Höchstmaßes an Genauigkeit" 6 verwendet er allgemein derartige Buchstabensymbole. Alle dinglichen Erscheinungen werden mit kleinen, alle Personen mit großen und alle Kollektiverscheinungen mit großen griechischen Buchstaben bezeichnet. Diese Symbole sollen auch i m folgenden - soweit auf die Theorie Geigers Bezug genommen w i r d - verwendet werden. Dafür gibt es neben der Raumersparnis folgende Gründe: Einmal empfiehlt sich der mit ihnen verbundene hohe Grad an Abstraktion als Voraussetzung für jede zu empirischer Arbeit führende Theorie, und gerade angesichts der von Geiger gewünschten Klarheit und Eindeutigkeit der Begriffe sollte der heuristische Wert der von ihm verwendeten Symbole voll genutzt werden. Zum anderen treten - wie sich zeigen w i r d - gerade durch die Zurückführung der sozialen Norm auf wenige Elemente und durch ihre abstrakte Formulierung die offenbleibenden Probleme besonders klar hervor. Th. Geiger geht von der soziologischen Urtatsache der Geselligkeit des Menschen aus, die zu sozialer Interrelation und Interdependenz führt 7 . Aus beiden entsteht notwendig eine Gebarenskoordination der Teilnehmer am sozialen Geschehen, die gleichsam zu einer Genesis sozialer Ordnungen und damit zu bestimmten Ordnungsgefügen i n einem bestimmten Intégrât führt. In diesem Zusammenhang erscheint der ausdrückliche Hinweis darauf angebracht, daß der Verfasser für das Entstehen der Ordnungsgefüge ein soziales Intégrât - das er mit Σ kennzeichnet, ohne nähere Kriterien hierfür mitzuteilen - voraussetzt. Die Realordnung und das Normgefüge machen zusammen mit der Ordnungskontrolle den Ordnungsmechanismus des Integrats aus. Das im sozialen Intégrât anzutreffende regelhafte Verhalten w i r d als Gebaren g bezeichnet. Sofern das Gebaren soziologisch als regelhaft an6
Vorstudien, S. 46. Hierzu P. Trappe, Die Rechtssoziologie Th. Geigers, Versuch einer Systematisierung und kritischen Würdigung auf der Grundlage des Gesamtwerkes, Diss. Mainz 1959, S. 138. 7
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
27
gesehen werden soll, muß es zu bestimmten sozialen Situationen in Beziehung stehen. Geiger stellt für dieses in der sozialen Wirklichkeit beobachtbare Geschehen die Formel s^g
auf, was nur soviel besagt: In einem gegebenen sozialen Intégrât Σ pflegt das Gebaren g zu folgen, wenn die Situation s vorliegt 8 . Die mit der oben angeführten Formel s g dargestellten Beziehungen zwischen Gebaren und Situation als Erscheinung der sozialen Wirklichkeit sind als soziale Gewohnheit Teil der „Realordnung". Diese Beziehungen werden als Normkern zur Norm, wenn diese mit der Verbindlichkeit ν auftritt. Der Normkern erweitert sich um dieses Element zu (s-*g)v.
Die so umschriebene primäre, beobachtbare Form der Norm w i r d als subsistente Norm bezeichnet, die sich von ihrer nur sekundär wirkenden Wortgestalt w unterscheidet. Dieser wohnt für sich keine Verbindlichkeit inne. Die Anzahl der Elemente der Norm erweitert sich um die Normadressaten AA zu
w(s-+g)v
AA ——
und, sofern die Norm zugunsten anderer Mitglieder besteht, um die Normbenefiziare BB zu AA
Die Wortgestalt einer Norm besteht mithin aus den drei Elementen: „Normkern" s g, „Normstigma" ν und die „Normadressaten", für die die Formel
h
Γ
αλί
[(s -+g)v ——J
gilt. Ob es sich bei der Gebarensweise s —> g nur um eine soziale Gewohnheit als Teil der Realordnung oder um eine mit ν ausgestattete Norm handelt, 8
Th. Geiger, Vorstudien, S. 61.
28
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
läßt sich nur auf Grund von Beobachtungen der sozialen Wirklichkeit feststellen. Der Wirklichkeitsgehalt der Verbindlichkeit einer Norm liegt in ihrer Wirkungschance. Wenn sich der Normadressat A anstatt s g zu handeln s -> g verhält, also zu Ac wird, so folgt eine Reaktion r durch die Gruppenöffentlichkeit Ω. Normwidriges Verhalten schafft mithin eine sekundäre, typische Situation mit zwei Elementen: Der Tatsache, daß eine Norm s g allen AA auferlegt ist und daß Ac g gehandelt hat. Die Formel für dieses Sekundärmodell lautet:
Jeder A von Σ> der in s gerät, ist vor die Alternative gestellt, entweder s g zu handeln oder sich durch s —> g einer r auszusetzen. Diese Wirkungsalternative einer Norm bildet den Wirklichkeitsgehalt von v. Die Formel hierfür lautet: A
Ac
Ω
Das Risiko, das Ac läuft, von r betroffen zu werden, ist die Wirkungschance der Norm. Sie läßt sich als Effektivitätsquote e von ν zahlenmäßig ausdrücken. Die Zahlengröße von υ - Verbindlichkeit der Norm - errechnet sich danach aus e/s, wobei e die Anzahl der Fälle angibt, i n denen sich die Norm durch Befolgung von AA einerseits oder Reaktion auf die Übertretung durch Ω andererseits als wirksam erweist. A
Die Elemente g — i n der Alternative A
Ac
Ω
geben danach nur die Fälle an, in denen A als Handelnder H s —• g handelt; gleichgültig, ob auf ihn sozialer Druck w i r k t oder nicht. Die tatsächliche
. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
Motivation von Η für normgemäßes Handeln ist - hierauf weist Th. Geiger besonders hin - ohne Belang 9 . Dem entspricht auch die in den Vorstudien ausdrücklich unbeantwortete Frage nach der So-Gestaltung eines bestimmten habituellen Ordnungsgefüges und damit auch die Weigerimg des Verfassers, die Frage zu beantworten, aus welchen Gründen bestimmte Gebarensweisen zur sozialen Gewohnheit werden. Als ein Grund für das Entstehen von Verbindlichkeit für soziale Gewohnheiten w i r d von Geiger nur angegeben, daß das Maß für ν eine Funktion der „Lebenswichtigkeit" 1 0 des Integrats Σ für AA sei. ν stellt sich als Macht dar, die Σ über die AA hat, und diese Macht, die Fähigkeit von Σ , das Gebaren der einzelnen zu steuern, soll ihren Grund in der zwischen den Mitgliedern MM bestehenden „vitalen Abhängigkeit" 1 1 haben. Trotz der Bedeutimg, die diesen Begriffen der Lebenswichtigkeit und vitalen Abhängigkeit in der Theorie zukommt, handelt es sich bei ihnen nicht um objektiv-feststellbare Größen. Sie sind nur an der Effektivitätsquote e von υ ablesbar. Obgleich Th. Geiger die Entstehung von Gebarensmodellen und Gebarenserwartungen nur aus der sozialen Interrelation und Interdependenz einer Mehrzahl von sozial Handelnden ableitet, setzt er, worauf schon hingewiesen worden ist, mit der Einführung von υ eine „ordnungstragende Gruppe" 1 2 für das Bestehen sozialer Ordnungsgefüge voraus, für die er an anderer Stelle auch eine mögliche „Wertgemeinschaft" 13 annimmt, ohne sich allerdings mit dem Begriff „Wert" 1 4 and dieser Stelle weiter auseinanderzusetzen. Die von Th. Geiger i n den Vorstudien entwickelten Elemente einer Norm stimmen mit unserer vorläufigen Beschreibung der „Norm" überein. Von ihnen soll bei den folgenden Überlegungen ausgegangen werden 15 . Die über das bloße regelhafte Verhalten i n einem sozialen Bezugsrahmen hinausgehende Annahme Geigers einer sozialen Urtatsache der Geselligkeit des Menschen, die zu sozialer Interrelation und Interdependenz führt, soll i m nachfolgenden ebenfalls gelten. Im besonderen soll auch von der Voraussetzung, daß durch die Reaktion der Mitglieder eines Integrats regelgemäßes Verhalten herbeigeführt wird, ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang w i r d es notwendig, auch auf die sprachliche Form einzu9
Vorstudien, S. 49, Vorstudien, S. 84. Vorstudien, S. 84. 12 Vorstudien, S. 49. 13 Vorstudien, S. 134. 14 Die Erörterung des Wertproblems im Zusammenhang mit der Darlegung seines von ihm vertretenen „Wertnihilismus" in Vorstudien, S. 297 ff., aber auch in seiner Ideologiekritik, auf die später noch einzugehen ist. 15 Damit kann auch den Vorbehalten von J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. Tübingen 1964, S. 25 ff., gegenüber der durch das „Gesetz" zu gewährleistenden „Sicherheit" im folgenden Rechnung getragen werden. 10
11
30
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
gehen, in der dieses Verhalten gefaßt ist. Sie ist - hierin wird Einmütigkeit vorausgesetzt werden können - Voraussetzung für das Bestehen von „Recht" wie immer dieser Begriff definiert ist. Der sich hierauf beziehende Teil der Theorie Geigers ist nachzutragen. Als besondere Erscheinungsform der Norm wird von ihm die Wortnorm
te (s
g) ν -
angesehen, die auf eine Instanz Θ als Gesetzgeber zurückzuführen ist. Die Formel hierfür lautet:
Θ : w (s —• g)v
AA X
'
Sie w i r d als „proklamative Norm" bezeichnet. Die Instanz Θ hat zwei Möglichkeiten der Statuierung einer proklamativen Norm. Sie kann einmal eine bis dahin bestehende „soziale Gewohnheit" ohne bisherige Verbindlichkeit bzw. eine habituell entstandene subsistente Norm im Wege einer „legislatorischen Option" übernehmen. Zum anderen kann die Instanz Θ „ i n abstracto" die Norm als gedankliches Schema schaffen. In jedem Fall der Option besteht die Norm nunmehr als Rechtsregel, i n letzerem Fall gestaltet sich der Bedeutungsumfang der subsistenten Norm mit der erstmaligen Anwendung des proklamativen Normsatzes durch die rechtsprechende Instanz Δ. Diese „stiftet" eine „deklaratorische Norm" 1 6 . Für den Inhalt der proklamativen Norm kommt hiernach dem Vorgang ihrer Anwendung eine besondere Bedeutung zu. Das im Normsatz verbal ausgedrückte begriffliche Tatbestandsschema hat - so führt Geiger aus in Wirklichkeit keinen objektiv abgegrenzten oder abgrenzbaren Bedeutungsumfang. Der begriffliche und verstehbare Inhalt des Normsatzes ist punktuell ausdehnungslos. Er ist lediglich ein dem Richter gegebener begrifflicher Bezugspunkt, der „nicht ein Feld konkreter Fälle decken, sondern nur eine perspektivische Sicht auf sie bestimmen kann" 1 7 . Erst in der Anwendung der proklamativen Norm w i r d ihr Bedeutungumfang, aber auch ihre Geltung festgelegt. Der Bedeutungsumfang rechtlicher Begriffe läßt sich nicht durch Definitionen bestimmen; verbindlich sind nicht der Normsatz und sein „begriffliches Schema", verbindlich ist das anschauliche Gebarensmodell der „konkret inbegriffliche Typus", den die gerichtliche Praxis in den Norm16 17
Vorstudien, S. 197. Vorstudien, S. 244.
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
satz und seine „begrifflichen Schemata" hineinlegt „unter dem irreführenden Vorgehen, es aus ihm herauszulesen" 18 . Die Annahme, daß ein Richter ein bestimmtes Gebaren in einen Normsatz hineinlegt, läßt die Frage stellen, ob er bei der perspektivischen Sicht auf bestimmte Fälle, die der Normsatz eröffnet, in seiner Entscheidimg nicht schließlich doch frei ist. Wenn Geiger in diesem Zusammenhang von einem „inbegrifflichen Typus" spricht, den er „begrifflichen Schemata" zuordnet, läßt sich die Frage nach der Bindung des Richters an die Sprachgestalt der Norm bei der Zuordnung konkreter Fälle zu einem Normsatz auch anders formulieren: Wodurch, d.h. nach welchen Kriterien, stellt sich ein bestimmtes Gebaren g' für den Richter als ein inbegrifflicher Typus dar, und in welcher Beziehung stehen jene Kriterien zu den begrifflichen Schemata. Mit den bisher verwendeten Symbolen läßt sich die Frage dahin stellen, wodurch wird s' i m konkreten Fall als eine zu s des Normkerns (s —> g) gehörige Situation gekennzeichnet? Wenn auch das Begriffsschema des Normsatzes keinen determinierten Bedeutungsumfang im Verhältnis zu konkreten Tatbeständen hat, sondern ein ausdehnungsloser Bezugspunkt ist, der eine perspektivische Sicht auf jene eröffnet, so sind die Beziehungen doch an einen gewissen Spielraum gebunden. Dieser Spielraum ist - wie Th. Geiger hierzu ausführt - „wohl durch nichts anderes als die sprachliche Konvention bestimmt" 1 9 . Diese Annahme steht allerdings mit an anderer Stelle angestellten Überlegungen nicht im Einklang. Bei der Darstellung der Genesis der Ordnungsgefüge geht Th. Geiger selbst von sozialen Gewohnheiten als regelhaftem Handeln in der Realordnung aus, die sprachlich nicht festgelegt sind. Tatsächlich tritt bei ihm i n der Genesis der Ordnungsgefüge die Wortform erst als Normsatz
w\(s-*g)v-
auf, und die Einführung eines Elements w erübrigte sich, wenn es stets gemeinsam mit dem Element s —» g aufträte. Unbeantwortet bleibt für nicht verbal formulierte Normen auch die im vorangegangenen gestellte Frage, nach welchen Kriterien eine konkrete s' dem Gebarensmodell einer sozialen Gewohnheit s —> g zuzuordnen ist, wenn es an den begrifflichen Schemata eines Normsatzes als Bezugspunkt fehlt. Woran erkennen MM „wiederkehrende Situationen" 2 0 , von s, bei denen ein bestimmtes Gebaren g 18 19 20
Vorstudien, S. 246. Vorstudien, S. 261 f. Vorstudien, S. 93.
II. Begriff der Norm und normtheoretischen Grundlagen
erwartet w i r d 2 1 , obgleich - wie Geiger zugibt - niemals zwei aktuelle Konstellationen von Umständen sozialer Situationen einander völlig gleich sind. Welche Antwort auch immer hierauf zu geben ist, sie muß nach der Theorie Geigers auch für den Normsatz, also für die Rechtsanwendung von Bedeutung sein. Zur Klärung dieser Frage zieht Th. Geiger die MnemeTheorie von R. Semon 22 heran und führt hierzu aus: „Hat sich eine handelnde Person einmal in s befunden und g geantwortet, hinterläßt die Eindrucksverbindimg von s und g eine Gedächtnisspur, Engrammkomplex", und „tritt in einem späteren Zeitpunkt an H ein aktueller Eindruck heran, der dem einen Element des Komplexes gleicht, so hat dieser aktuelle Eindruck die Tendenz, eine Vorstellung des ganzen Engrammkomplexes hervorzurufen (Ekphorie)" 23 . Zwar räumt Th. Geiger ein, daß „niemals zwei aktuelle Konstellationen von Umständen einander völlig gleichen" 24 . Wenn aber die Ungleichheit aller aktuellen Konstellationen angenommen werden muß, fragt es sich, ob die Erklärung durch die Mneme-Theorie, in der nur auf ein Element einer Situation abgestellt wird, das sie als eine solche des Normkerns s —> g definiert, ausreicht. Da immer die Möglichkeit besteht, daß sich unter den Elementen einer aktuellen Situation s' auch solche befinden, die sich nicht als s zugehörig bestimmen lassen, bleibt die Frage offen, durch welche Kriterien für HH oder für die Instanz Δ jene Elemente als solche einer s zugehörig determiniert werden 25 . Welche in s' erfahrbaren Umstände sind für s —> g konstitutiv und welche nicht? Diese Frage nach den Grundlagen für die Auswahl der Umstände einer Situation s', um sie s—• g zuordnen zu können, stellt sich nicht nur als ein Induktionsproblem dar, sie erfordert vielmehr ein Eingehen auf die erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen Th. Geigers.
21
Vorstudien, S. 49. R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 5. Aufl. 1920, insbes. S. 16 ff. leitet seine Lehre von den Engrammen aus der allgemeinen Verfassung der organisierten Materie ab. Die Überlegungen Geigers könnten aber im vorliegenden Zusammenhang in jüngerer Zeit ebenso auf lerntheoretische Gesichtspunkte, im besonderen solche der Lernpsychologie, gestützt werden. Vgl. u.a. C. L. Hull, Principles of Behavior, 7. pr. New York 1968, S. 68f. oder E. C. Tolman, A Psychological Model (zit. Model) in T. Parsons/E. A. Shils, Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass. 1959, S.279ff. (330), ders., Cognition Motivation Model in Psychological Review V. Vol. 59, Lancaster 1952, S.389ff. 23 Th. Geiger, Vorstudien, S. 92 ff. 24 Vorstudien, S. 112. 25 Hier werden allerdings im Bereich der Lerntheorie z.B. intervenierende Variai bien (E. C. Tolman, Model, S. 334 f. oder hypothetische Konstrukte (C. L. Hull, S. 5 f.) eingeführt. 22
Π Ι . Fragen der Wissenschaftslehre Die mit dem Begriff der Situation s als Bestandteil einer Norm bezeichnete Konstellation sozialer Umstände w i r d von Th. Geiger als beobachtbarer Wirklichkeitszusammenhang angesehen, als Teil der Realität. Die Wortgestalt w, die für s —» g eingeführt wird, ist nur insofern ein Teil der beobachtbaren Wirklichkeit, als sie als Bezugspunkt für eine Zuordnung von s —> g dient. Für die Beobachtung jener Zusammenhänge werden „Wertentscheidungen" nicht vorausgesetzt. Dem entspricht es, daß sich Th. Geiger selbst als Wertnihilist bezeichnet 1 . Das Werturteil ist für ihn die Theoretisierung eines Gefühlsverhältnisses zu einem Gegenstand. Auf dieser Theoretisierung und Objektivierung eines solchen Gefühlsverhältnisses beruht für ihn jede Ideologie 2 . Aufgabe der empirischen Soziologie als einer Erfahrungswissenschaft ist es danach für ihn, Gesetzmäßigkeiten bestimmter sozialer Erscheinungen zu ermitteln oder genauer, Kovarianzen bestimmter sozialer Phänomene auf der Grundlage einer quantifizierenden Methode festzustellen. Empirische Soziologie ist für ihn mithin die - allein - begriffsanalytisch gelenkte Untersuchung der sozialen Erscheinungswelt 3 . Damit weist sich Th. Geiger als auf dem Boden der neopositivistischen philosophischen Schule stehend aus4. Mit dem philosophischen Positivismus, auf den diese sich zurückführen läßt, hat sie gemeinsam, daß sie die Quelle aller menschlichen Erkenntnis in den „positiven" Tatsachen, im Gegebenen, im Wahrnehmbaren, Beobachtbaren sieht. Gegeben sind allerdings nur unsere Sinneseindrücke von diesen Tatsachen, die damit zum Gegenstand unserer Erfahrung werden. Nur unter diesem Gesichtspunkt, den Th. Geiger teilt, können die in seinen Vorstudien aktuellen Konstellationen von Umständen einer Situation untersucht werden oder kann erforscht werden, durch welche Umstände s' zu einer Situation im Sinne von s g wird. Damit verbietet es sich, das Vorliegen einer solchen Situation unter anderen Gesichtspunkten als denen der möglichen Beobachtung von Gegebenem anzunehmen. 1 Th. Geiger, Arbeiten zur Soziologie, herausgegeben von P. Trappe (zit.: Soziologie), Neuwied 1962, S.402; Vorstudien, S. 313 ff. 2 Th. Geiger, Soziologie, S.414f. 3 Th. Geiger, Soziologie, S. 79. 4 P. Trappe, Theodor Geiger, in: Klassiker des soziologischen Denkens II. Band, München 1978, S. 254 ff. (259) sieht ihn wohl mit Recht in der Nähe des Kritischen Rationalismus von K. R. Popper. Die Streitfrage braucht hier jedoch, wie sich aus dem folgenden ergibt, nicht entschieden zu werden.
3 Zitscher
34
. Fragen der Wissenschaftslehre
Von besonderer Bedeutung, die Geiger allerdings nicht ausdrücklich hervorhebt, wird i m kritischen Rationalismus der Gebrauch der Sprache. A n die Stelle der Überlegung über den sinnvollen Aufbau der wahrnehmbaren Welt treten Untersuchungen über die Sprache, mit der über die Wirklichkeit etwas ausgesagt wird, dessen Sinn auf der Grundlage der Logik ermittelt wird. Im Bemühen um die Abgrenzung gegenüber der Metaphysik, das zunächst als eines der Hauptanliegen jener philosophischen Richtung hervortrat, sind danach Sätze sinnlos, soweit sie nicht etwa über beobachtbare, d.h. sinnlich wahrnehmbare Tatsachen aussagen oder sich nicht auf eine Reihe solcher Aussagen zurückführen lassen. Die Erklärungen der Welt finden durch die logische Ableitung der sie beschreibenden singulären Aussagen aus einer Klasse von Aussagen statt, in der außer ebenfalls singulären Sätzen, die die Randbedingungen beschreiben, allgemeine Sätze, also „Gesetze" enthalten sind 5 . Für die Methode, aus Beobachtungsaussagen Theorien zu gewinnen, d.h. für die Frage nach der logischen Begründung allgemeiner Sätze über die Wirklichkeit, werden drei Forderungen an ein empirisches Theoriensystem gestellt 6 : „Es muß synthetisch sein (eine nicht widerspruchsvolle „mögliche" Welt darstellen); es muß dem Abgrenzungskriterium genügen, darf also nicht metaphysisch sein (es muß eine mögliche „Erfahrungswelt" darstellen); und es soll ein auf irgendeine Weise7 gegenüber anderen derartigen Systemen (als „unsere Erfahrungswelt" darstellend) ausgezeichnetes System sein." Das Kriterium für die Abgrenzung der Forschung gegenüber der Metaphysik rechtfertigt sich durch seine Fruchtbarkeit für die wissenschaftliche Arbeit. Da sich die Theorien aus den durch Erfahrimg verifizierten besonderen Aussagen logisch nicht ableiten lassen, können Theorien nicht empirisch verifizierbar sein. Sätze - deren Gehalt instrospektiv gewonnen sein kann - werden daher als empirisch nur anerkannt, wenn sie einer Nachprüfung durch die Erfahrung fähig sind. Damit w i r d als Abgrenzungskriterium zur Metaphysik nicht die Verifizierbarkeit 8 , sondern die Falsifizierbarkeit eingeführt. Ein empirisch wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können 9 . 5
K. R. Popper, Logik der Forschung (zit.: Forschung), Tübingen 1966, S. 33. K. R. Popper, Forschung, S. 13. K. R. Popper, Forschung, S. 13: „Man pflegt das so auszudrücken, daß es sehr viele, ja vermutlich unendlich viele »logisch mögliche Welten' gibt." 8 K. R. Popper, Forschung, S. 13: „Und wir vermuten, daß wissenschaftliche Forschung, psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich indiskutablen, also, wenn man will, metaphysischen Glauben an (rein spekulative) und manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist." 9 K. R. Popper, Forschung, S. 15. 6 7
III. Fragen der Wissenschaftslehre
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Die Wissenschaftslehre des den philosophischen Positivismus weiterführenden kritischen Rationalismus unterscheidet hiernach zwischen subjektiven Überzeugungserlebnissen und der wissenschaftlichen Objektivität. Während die ersteren nicht begründbar sind, sondern in den empirischpsychologischen Forschungsbereich gehören, liegt die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze darin, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen. Dabei können Beobachtungen und damit wissenschaftliche Sätze nur nachgeprüft werden, soweit sie nicht ein zufälliges Zusammentreffen bestimmter Ereignisse, sondern Zusammenhänge zum Gegenstand haben, die durch ihr „»gesetzmäßiges Zusammentreffen", d.h. auf Grund ihrer Reproduzierbarkeit, intersubjektiv nachprüfbar sind 1 0 . Als empirisch forschender Soziologe hat Th. Geiger in seinen wissenschaftstheoretischen Arbeiten sprachtheoretischen, logischen Überlegungen nicht den Raum gegeben, der ihnen i m allgemeinen in der Philosophie des kritischen Rationalismus zuteil wird. Für den hier zu untersuchenden Zusammenhang gilt nichts anderes. Von Vertretern jener Richtimg wird Th. Geiger vorgeworfen, er setze anstelle der These von der Sinnlosigkeit von Sätzen, die etwas anderes als Verarbeitungen von Beobachtungen nach den Regeln der Logik seien, deren erkenntnistheoretische Illegitimität. Hierbei handele es sich aber um eine von ihm negativ ausgezeichnete Wertkategorie, die er an seiner Forderung gemessen, selbst als ideologisch 11 qualifizieren müßte 12 . Diese Kritik, die im übrigen ebenso für den Begriff der „Sinnlosigkeit" in Betracht zu ziehen ist, hat für die nachfolgenden Überlegungen keine wesentliche Bedeutung. Sie beruhen in Übereinstimmung sowohl mit Th. Geiger als auch mit anderen Vertretern des Neopositivismus auf der Trennung von gegebenen Tatsachen einerseits und Werten andererseits. Mit der Übereinkunft, Wissenschaft und nichts anderes betreiben zu wollen, d.h. die Regel im „Spiel empirischer Wissenschaft" oder in der „Logik der Forschung" festzusetzen, nur solche Sätze in die Wissenschaft einzuführen, die intersubjektiv nachprüfbar 13 sind, kann die Frage nach der Grundlage für den Ausschluß anderer Sätze offenbleiben. Jener vorzüglich mit Sprachproblemen befaßte logische Empirismus hat sich nach dem Vorangegangenen in Hinsicht auf alle wissenschaftlichen Forschungsgebiete vor allem zum Ziel gesetzt, auf die Klärung von Sätzen, die beobachtbare Tatsachen zum Inhalt haben, und auf die Klärung des Zusammenhangs von solchen Sätzen in der Sprache hinzuwirken. Die im vorangegangenen wiedergegebenen methodischen Regeln führen selbst nicht zu einer Antwort auf die früher gestellte Frage, durch welche 10
K. R. Popper, Forschung, S. 19. Th. Geiger, Ideologie und Wahrheit (zit. Ideologie), Eine soziologische Kritik des Denkens, 2. Aufl., Neuwied 1968, S.47ff. 12 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 82. 13 K. R. Popper, Forschung, S. 28. 11
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III. Fragen der Wissenschaftslehre
Umstände die aktuelle Situation s' als solche des Normkerns s —> g ausgewiesen wird. Die soziale Situation s müßte nach jenen Regeln als reproduzierbare, jederzeit in allen ihren Umständen beobachtbare Situation angesehen und beschrieben werden können. Aber gerade hierbei müssen Zweifel auftreten, wenn zugestandenermaßen i n keinem Falle alle Umstände einer aktuellen sozialen Situation einander gleich sein können. Die Frage stellt sich nicht nur für den Forscher, sie ist vielmehr von gleicher Bedeutung für die Instanz Δ oder für jeden Handelnden bei der Ermittlung von beobachtbaren Merkmalen, die die Situation einer Norm bestimmen sollen. Soweit es um beobachtbare Tatsachen der Situationen geht, soll nach Th. Geiger die Mneme-Theorie R. Semons in der Weise helfen, daß, wenn „ i n einem späteren Zeitpunkt an einen Handelnden ein aktueller Eindruck herantritt, der dem einen Element des Komplexes gleicht", „dieser aktuelle Eindruck die Tendenz" hat, „eine Vorstellung des ganzen Engrammkomplexes hervorzurufen" 14 . Obgleich in dem hier geschilderten Vorgang des Entstehens eines Engrammkomplexes eine Bewertung von Tatsachen, d. h. eine die Auswahl von Umständen lenkende Stellungnahme durch H als möglich angenommen werden muß, vermeidet der Verfasser den Begriff der Bewertung oder des „Wertes". Die bisherigen Überlegungen für die hier aufgeworfenen Fragen, denen wesentliche Bedeutung zuzukommen scheint, verlangen daher ein Eingehen auf das Wertproblem im Positivismus. Geiger bezeichnet sich, worauf schon hingewiesen worden ist, als Wertnihilist. Dem Einwand, es bestehe keine Möglichkeit werturteilsfreier sozialwissenschaftlicher Forschung, setzt der logische Empirismus eine logische Analyse solcher Werturteile, d. h. eine Analyse der Grammatik der in ihnen verwendeten Ausdrücke entgegen. Sie lassen sich folgendermaßen skizzieren: I. Der Sprecher drückt mit seinem Urteil seine Stellungnahme zu einem Sachverhalt aus, den er damit positiv oder negativ auszeichnet. II. Er bekennt sich implizit zu einem allgemeinen Prinzip, das eine derartige Stellungnahme rechtfertigt und ein Kriterium enthält. III. Er legt den Adressaten des Werturteils eine gleichartige Stellungnahme nahe 15 . Stellungnahmen - oder Gefühlsverhältnisse zu einem Gegenstand, wie Th. Geiger sie nennt 1 6 - können keine Erkenntnis vermitteln, mithin nicht 14
Vorstudien, S.92. H. Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, herausgegeben von R. König, 1. Band, 2. Aufl., Stuttgart 1967, S.38ff. (45). 16 Vorstudien, S. 317 f. 15
III. Fragen der Wissenschaftslehre
über einen Gegenstandsbereich informieren. Damit stellt sich das Problem des Werturteils im sozial-wissenschaftlichen Objektbereich in anderer Weise. Wenn auch die Stellungnahme keine Erkenntnis vermittelt, so kann die sich aus der Forschung ergebende Stellungnahme selbst Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen sein. Das wird namentlich dann der Fall sein, wenn nach den Gründen eines bestimmten Verhaltens von Personen oder Gruppen gefragt wird. Die Sätze, die die Beantwortung von derartigen Fragen mit Aussagen über jenen Objektbereich enthalten, sind somit nicht sinnlos. Anders verhält es sich in dem Fall, in dem eine Stellungnahme den Inhalt einer sozialwissenschaftlichen Aussage bildet, indem, wie es Geiger ausdrückt, ein „Gefühlsverhältnis" zu einem Gegenstand „theoretisiert" wird. Da die Aussagen, die ein Werturteil zum Inhalt haben, die Realität nicht erklären, haben sie keinen Gehalt, sie sind sinnlos. Schließlich können Stellungnahmen Grundlagen sozialwissenschaftlicher Aussagen sein. Tatsächlich gehen in diesem Sinne stets, und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten, Stellungnahmen i n jene Aussagen ein, schon insofern, als die Analyse der zu beobachtenden Wirklichkeit, die Entscheidung über die Abgrenzung des Objektbereichs, die Problemstellung und die theoretischen Grundlagen durch das Forschungsinteresse bestimmt werden. Eine empirisch-rationalistisch gelenkte Sozialforschung vermag derartige, jeder Forschung vorangehende Stellungnahmen, ihre Grundlagen und Folgen selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchung zu machen 17 . Die weitere Frage, ob sich Tatsachen und Werte sowohl in der Theorie als auch in der Empirie überhaupt so klar trennen lassen 18 , wie es hier gefordert wird, bleibt hierbei offen. Th. Geiger sieht das Problem, durch welche Umstände eine aktuelle Situation s' als eine solche von s —• g definiert werden kann, nicht unter dem Blickwinkel einer möglichen Erforschung von „Wertvorstellungen" oder „Stellungnahmen" der Handelnden zu Ereignissen der Objektwelt. Dennoch führt er aus: „Was dem X als Wiederholung der gleichen Si erscheint, mag vom Y als eine etwas anders geartete s2 aufgefaßt werden. Ein ungelöstes Rätsel liegt also darin, nach welchen Gesetzen gewisse Eindruckselemente sich für die Person zum komplexen Vorstellungsbild einer s vereinigen und demgemäß als Gedächtnisbild einer komplexen s bewahrt werden 19 ." 17 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, 2. Aufl., München 1962, S.35; R. König, Einige Überlegungen zur Frage der „Werturteilsfreiheit" bei Max Weber, in: Werturteilsstreit, herausgegeben von H. Albert und E. Topitsch, Darmstadt 1971, S. 150 ff. (159). 18 G. Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1973, S. 10 ff., ders., Erkenntnistheorie der Wissenschaft vom Menschen (zit.: Erkenntnistheorie), Frankfurt 1973, S. 248 ff. 19 Vorstudien, S. 92.
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III. Fragen der Wissenschaftslehre
Die hier aufgeworfene Frage stellt sich mehr oder weniger für jede Untersuchung von Ereignissen, in denen menschliches Handeln von Bedeutung ist. Die Formel s -» g läßt sich nicht nur auf Normen und ihre Einhaltung auf dem engbegrenzten Bereich rechtssoziologischer Theorien anwenden. Sie kann auch allgemein in jede Ereignisfolge eingeführt werden, in der menschliches Handeln von Bedeutung ist, also nicht nur im Bereich der Soziologie, sondern auch in dem der Psychologie, sofern der Inhalt durch die Formel mit der Erläuterung „befindet sich jemand i n s pflegt g zu folgen 20 " wiedergegeben wird. Wenn s' für X als Wiederholung von Si, für Y dagegen als etwas anders geartete s2 erscheint, dann w i r d vorausgesetzt, daß sowohl X als auch Y von der gleichen aktuellen Konstellation von Umständen ausgehen, d. h. aus der ungegliederten Umwelt die gleichen Tatsachen für s' als erheblich ansehen. Unter dieser Annahme können zwar die Beobachtungssätze intersubjektiv überprüft werden, die jedenfalls vorzunehmende Zuweisung von s' zu Si oder s 2 ist jedoch nach Geigers Erklärung stets eine Entscheidung nicht nur von X und Y bzw. von den MM des Integrats, sondern auch von der Instanz A. Erst dadurch werden jene Umstände zu „Eindruckselementen", die sich für X und Y „zum komplexen Vorstellungsbild vereinigen". Da keine aktuelle Konstellation von Umständen einer Situation von s der anderen gleicht, sind diese sich bei X und Y vollziehenden seelischen Ereignisse, das bei ihnen sich bildende „komplexe Vorstellungsbild", mit in die Untersuchung einzubeziehen, wenn es Aufgabe der Forschung sein soll, allgemeine, intersubjektiv überprüfbare Sätze - Gesetze - über das Auftreten von s und das Verhalten g von X und Y als AA aufzustellen. Von dem Problem, mit dem die Beobachtimg des Entscheidungsverhaltens von X und Y verbunden ist, abgesehen, muß sowohl zwischen diesen als auch für die am Forschungsprozeß Beteiligten die intersubjektive Verständigung über die beobachteten seelischen Ereignisse möglich sein und auch stattfinden. Zu unseren eigenen Gedanken und Empfindungen haben w i r einen besonderen Zugang, durch den w i r unmittelbar Kenntnis über sie erlangen. Es ist aber im Grundsatz nicht möglich, die Gedanken und Empfindungen von anderen Menschen direkt zu erfahren 21 . Das bedeutet, daß sie nicht oder nur zum Teil beobachtbar und damit die Aussagen über sie nur begrenzt nachprüfbar sein können. Die Lösung der sich mit der Beschreibung und Erklärung seelischer Ereignisse ergebenden erkenntnislogischen Probleme ist auf verschiedene Weise versucht worden 22 . Der hier zu untersuchende 20
Vorstudien, S. 49. H. J. Giegel, Die Logik der seelischen Ereignisse, Frankfurt 1969, S. 14. 22 u.a. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, Nachdr. d. 2. Aufl·, Frankfurt 1976, S. 31 ff. W. Stegmüller, Historische psychologische und rationale Erklärung, Kausalitätsprobleme, Determinismus u. Indeterminismus (zit.: Historische Probleme), Berlin 1969, S.335. H.J. Giegel, S.27ff.; L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (zit.: Untersuchungen), Augsburg 1967, S. 81 ff.; W. Sellars, Science, 21
III. Fragen der Wissenschaftslehre
Zusammenhang verlangt jedoch nicht eine eingehende Behandlung dieses Problems, vielmehr stellen sich hier nur einige Fragen, die eine Beschränkung zulassen. Th. Geiger nimmt den Begriff „Eindruckselemente" in seine sozialwissenschaftlichen Überlegungen auf, obgleich mit ihm ein komplexer psychologischer Sachverhalt umschrieben wird. I n der Weise, in der der Begriff der Eindruckselemente zudem in den „Vorstudien" verwendet wird, d. h. in der Formel s g, steht er in der Psychologie mit der Motivforschung in enger Verbindung. Obschon für Geiger die Motive des Handelns von AA im Falle s —» g ohne Belang sein sollen, kann die Frage nach der Motivation nicht ausgeschlossen werden. Nicht nur die Erwartung von AA, daß i m Falle s —> g die Reaktion r eintritt, läßt zugleich an die Motivation von AA denken. Auch die Frage, durch welche Merkmale s' als eine solche von s —> g für und durch AA bestimmt wird, kann mit der Frage nach der Motivation von AA unter dem Gesichtspunkt i m Zusammenhang stehen, daß niemals zwei aktuelle Konstellationen von Umständen sozialer Situationen einander gleich sind 2 3 . Wenn das der Fall sein soll, werden aber bestimmte, in beiden Situationen zu beobachtende Umstände von AA ausgewählt werden müssen.
Perception and Reality, London 1968, S. 151 ff.; J.L. Austin, Wort und Bedeutung, München 1975, S.55. 23 Th. Geiger, Vorstudien, S. 112.
IV. Probleme der Zeit und des Wandels Die Ungleichheit jener Konstellationen von Umständen einer Situation s, die Th. Geiger gelten lassen muß, kann ihre Ursache nur in den Besonderheiten des Objektbereichs der Sozialwissenschaften haben, in dem soziales Handeln eine stete Veränderung der sozialen Wirklichkeit zu bewirken scheint. In diesem Bereich begegnet der kritische Rationalismus auch der stärkeren Kritik. Die Philosophie hat im Verlaufe der Geschichte weite Gebiete ihres Interesses selbständigen Forschungszweigen überlassen müssen, wie z.B. den Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie, der Soziologie, der Linguistik, die mit empirischen Programmen zur Erklärung der Welt beitragen und die im wesentlichen aus dem weiteren Bereich der klassischen Philosophie hervorgegangen sind. Der Positivismus und seine Nachfolger, die sich darauf zurückgezogen haben, einen für jede empirische Forschung gültigen theoretischen Rahmen zu liefern, hätten - so w i r d ihnen von ihren Kritikern vorgeworfen - hierbei das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, sich gegenüber jeder Metaphysik abzugrenzen 1. Der Aufbau eines für jede empirische Forschung gültigen Rahmens sei aber weitgehend nur mit dem Blick auf die Naturwissenschaften - vor allem für die Physik im weitesten Sinne - geschehen2. Die meisten wissenschaftstheoretischen Untersuchungen des Positivismus und seiner Nachfolger gehen in der Tat auf Fragestellungen der Naturwissenschaften 3 zurück oder ihre Verfasser sind selbst den Naturwissenschaften durch ihre Vorbildung eng verbunden. Hierdurch scheint - und das w i r d heute betont - eine einseitige Orientierung der Wissefischaftslehre nach den Naturwissenschaften hin mit entsprechenden Belastungen für die 1 L. Kolakowski, Die Philosophie des Positivismus, München 1971, S. 207 ff., W. Stegmüller, Wissenschaftssprache, Signifikanz und theoretische Begriffe (zit.: Wissenschaftssprache), Berlin 1970, S. 183. 2 Auch wenn er kaum den kritischen Rationalisten zugerechnet werden kann, wird das schon bei L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (zit.: Tractatus), Frankfurt/M. 1964, deutlich, wenn er unter 4.1 schreibt, die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften) obgleich er den Begriff der Naturwissenschaften wohl nicht auf Physik und Chemie begrenzt. 3 Das gilt namentlich für Henri Poincaré (1853 - 1912), Pierre Duhem (1861 - 1916), Ernst Mach (1838 - 1916) oder Moritz Schlick (1882 - 1936), H. Reichenbach (1882 1936), William James (1842 - 1910), Charles Sanders Peirce (1839 - 1914). Auch K. R. Popper bringt, soweit er seine Doktrin entwickelt, nahezu ausschließlich Beispiele aus der Physik.
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Humanwissenschaften begründet zu sein, die schließlich zum Vorwurf der Sachferne geraten ist. „Sie (die Wissenschaftstheorie, d.V.) bot und bietet eine nützliche, vielleicht unentbehrliche, Orientierung, Grundfragen wie die nach der Bedeutung theoretischer Ausdrücke oder der Bestätigung von Hypothesen am Modell einfacher logischer Sprachen zu diskutieren; unbefriedigend dabei ist jedoch, daß die Anwendung auf praktisch wichtige konkrete Beispiele wegen deren Komplexität entweder inadäquat ausfällt oder sogar ganz unterbleibt.. ." 4 . Eine dynamische Betrachtung der Welt vor allem im Hinblick auf die Ansprüche der Humanwissenschaften wird für unerläßlich angesehen; denn bei diesen sei zu berücksichtigen, daß sie es mit dem Menschen und dem durch Menschen veränderbaren oder hergestellten Bereich der Welt zu tun haben 5 . Diese K r i t i k an der positivistischen Wissenschaftslehre steht mit der hier gestellten Frage, nach welchen Gesichtspunkten ein bestimmtes Ensemble von „Umständen" der wahrnehmbaren Welt - unter Aussonderung anderer als Situation s des Gebarensmodells s g determiniert wird, in enger Verbindung. Die Formel s g verweist auf ein auf die soziale Umwelt einwirkendes Handeln, das damit Objekt sein soll und nur unter entsprechender Berücksichtigung der Zeit erklärbar sein kann. Geiger hat der Kategorie der Zeit in seinen Vorstudien nicht das Gewicht beigemessen, das sie nach seinen eigenen Überlegungen haben muß. Die nachfolgende Bemerkung erscheint hierbei von besonderem Interesse. Th. Geiger geht nicht nur von einem sich „fließend abgrenzenden Bedeutungsund Geltungsumfang der Norm" 6 aus - womit bei ihm wohl die Vorstellung vom sozialen Wandel im Zeitfluß verbunden ist - , sondern er sieht auch den Wandel in der Geschichte selbst, wenn er schreibt: „Die Dimension der Zeit geht integrierend i n die Bestimmungen der normtypischen
s mit ein. ,Ehe geschlossen 1910' und ,Ehe geschlossen 1940' sind, im Hinblick auf ihre Rechtsfolgen heute vor den Richter gebracht, nicht identische ss, wenn zwischen 1910 und 1940 die auf die Eheschließung bezüglichen Gesetze geändert worden sind 7 ."
Hier muß hinzugefügt werden, daß „Ehe geschlossen 1910" und „Ehe geschlossen 1940" nicht nur dann nicht die gleiche Situation s ist, wenn seither die Ehegesetze geändert worden sind, sondern auch dann - was später noch zu behandeln ist, wenn sich die auf den Richterspruch einwirkenden sozialkulturellen Verhältnisse gewandelt haben 8 . 4 L. Krüger im Vorwort zu Th. S. Kuhn, Die Entstehimg des Neuen, Frankfurt 1978, S.9f. 5 L. Krüger, S. 13. 6 Vorstudien, S. 259 ff. 7 Vorstudien, S. 207 ff., Fußnote 15. 8 Hierzu der Verfasser in: Satzungsnorm, S. 22 ff.
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IV. Probleme der Zeit und des Wandels
An dem von Geiger gewählten Beispiel w i r d auf der einen Seite klar, welche Vielfalt an Elementen der Verfasser in den Begriff s einzubeziehen bereit ist, wenn er die „Ehe" zu einem Zeitpunkt als Situation im Sinne von s versteht. Hiernach werden mithin regelmäßig zu einer Situation als „Umstände" nicht nur Objekte der Dingwelt, sondern - wie schon erwähnt - eine Vielzahl von Handlungsabläuf en zu zählen sein, bei denen auch und vor allem seelische Ereignisse wirksam werden. Auf der anderen Seite läßt sein Hinweis auf die Veränderlichkeit der Ehe als soziale Situation s das wissenschaftliche Problem nicht nur der Soziologie, sondern allgemein der Sozialwissenschaften dadurch deutlich werden, daß sich der Inhalt des Begriffs s zu verändern vermag. Mit diesen Veränderungen der Bedeutung von Begriffen für soziale Erscheinungen hat sich zwar der Positivismus im besonderen im Hinblick auf die Probleme der Geschichtswissenschaft beschäftigt. Befriedigend vor allem für die Sozialwissenschaft ist das Ergebnis aber bisher nicht ausgefallen. Mit dem Blick auf die Gesellschaftswissenschaften, i m besonderen aber die Geschichtswissenschaften, w i r d von den Neopositivisten hervorgehoben, daß auch die Geschichte nur ausgewählte Aspekte ihres Gegenstandes behandeln könne. Es sei falsch zu glauben, daß es eine Geschichte im Sinne des Holismus geben könne, eine Geschichte der „Zustände der Gesellschaft", die „das Ganze des sozialen Organismus" oder alle sozialen und geschichtlichen Ereignisse einer Epoche repräsentiert 9 . Das Erfordernis einer Auswahl von Tatsachen i n der Geschichtswissenschaft und die hierfür geltenden Maßstäbe führen zu der Frage, die uns auch im Bereich der Normen beschäftigt, nach welchen Gesichtspunkten die für eine Norm erheblichen Tatsachen oder Umstände einer Situation ausgewählt werden. Die Auswahl der zu erforschenden Tatsachen w i r d zwar in den Sozialwissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften vom Interesse des Forschers geleitet 10 , dabei kann jedoch dasselbe geschehen, was Geiger für die Normen beschreibt, wenn er ausführt: „was dem X als Wiederholung der gleichen s ι erscheint, mag vom Y als eine etwas anders geartete s2 aufgefaßt werden." Was für die Teilnehmer am Rechtsleben X und Y gilt, muß aber für wissénschaftliche Beobachter ebenfalls Geltung haben. Das heißt auch, für diese kann - ja, w i r d sogar regelmäßig - für eine bestimmte Situation s', die i n ihrer aktuellen Konstellation von Umständen früheren Normsituationen ohnedies nicht gleicht, stets infrage stehen ob sie Si oder s2 zuzuordnen ist oder überhaupt unter eine s im Sinne von s —> g fällt. 9 Κ . R. Popper, Das Elend des Historismus (zit.: Historismus), 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 64. 10 Möglicherweise mit den weitergehenden Annahmen, wie sie bei J. Piaget, Erkenntnistheorie, S. 87 ff. angeführt sind.
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Gegenüber diesen Einwänden läßt sich vom positivistischen Standpunkt anführen, daß Grundlage des wissenschaftlichen Betriebes die intersubjektive Verständigung über Begriffe aufgrund von Beobachtung sei: „Sollte eines Tages zwischen wissenschaftlichen Beobachtern über Basissätze keine Einigung zu erzielen sein, so würde das bedeuten, daß die Sprache als intersubjektives Verständigungsmittel versagt 11 ." Im Falle der Situation s', die von X als eine solche von Si angesehen wird, von Y dagegen nicht, würde die intersubjektive Verständigung zu einer Festsetzung führen müssen, die aber sowohl die „Hechtsfolge" für X u n d Y 1 2 , als auch für den Beobachter das wissenschaftlich vorauszusagende Ereignis bei seinem Eintritt erst als solches festsetzt. Angesichts der jedenfalls ungleichen Konstellationen von Umständen aktueller Situationen bleibt die Frage, auf Grund welcher Merkmale eine Situation im Falle ihres Auftretens als eine solche von s —> g erkennbar ist, unbeantwortet. Das Problem der Konsistenz von s als für eine soziale Situation eingeführtes Zeichen stellt sich nicht nur unter dem Gesichtspunkt der intersubjektiven Verständigung, sondern auch unter dem der Beproduzierbarkeit 13 . Diese muß für Situationen einer Norm stets vorausgesetzt werden, da sich ja Situationen einer Norm gerade dadurch auszeichnen sollen, daß sie sich wiederholen und die Folge s —» g auszulösen vermögen. Trotz der von ihm angedeuteten Probleme geht Th. Geiger von dem Begriff der - sozialen - Situation unter der stillschweigenden Annahme aus, daß es sich um die Klassifikation von beobachtbaren Objekten in der sozialen Wirklichkeit handelt, die Gegenstand soziologischer Forschung ist. Soweit der Situation Objekte der Dingwelt angehören, mag das zutreffen. Selbst wenn als Situation s ein weniger komplexer sozialer Wirkungszusammenhang als die „Ehe" gewählt wird, treten jedoch - wie schon erwähnt - neben die Objekte der Dingwelt i m Bereich der Soziologie stets soziale Handlungen und da diese von seelischen Ereignissen abhängen 14 , diese als „Umstände" einer Situation hinzu 1 5 . Bereits früher ist die Frage gestellt worden, wie diese Elemente einer Situation beobachtet werden können. Hier stellt sich darüber hinaus die weitere Frage, ob sich soziale Situationen, denen derartige Umstände, „soziale Handlungen", zugehören, reproduzieren lassen. Während für die Beobachtung und Klassifikation von Objekten der Dingwelt die Zeit nur für die Bestimmbarkeit der Situation im Raum-Zeit-Bereich 11
K. R. Popper, Forschung, S. 70. Für diese nimmt das Th. Geiger letztlich auch selbst an, wenn er schreibt: „erst in der Anwendung des Normsatzes gestaltet sich die subsistente Norm", Vorstudien, S. 246. 13 K. R. Popper, Forschimg, S. 19. 14 W. Stegmüller, Historische Probleme, S.397. 15 Die Überlegungen J. v. Kempskis, Handlung, Maxime und Situation, in Theorie und Realität, herausgegeben von H. Albert, 2. Aufl., Tübingen 1972, S. 139 ff. bringen hier auch keine Lösung. 12
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von Bedeutung zu sein scheint, gehören soziale Handlungen stets dem historischen Prozeß eines bestimmten, sich in stärkerem oder geringerem Wandel befindlichen Integrats an. Die Handlung vollzieht sich in der Geschichte des Integrats, ist ein Teil von ihr und gestaltet sie mit. Die Geschichte eines Integrats, die menschliche Geschichte überhaupt, ist ein nicht wiederholbarer Prozeß: Für einen Teil desselben, für eine soziale Situation und in dieser für eine soziale Handlung, muß mehr oder weniger das gleiche gelten. In der Theorie der Geschichte ist bereits früh auf den idiographischen Charakter der Geschichtsschreibung hingewiesen worden, die nur mit einmaligem sich nicht wiederholendem Geschehen zu tun habe 16 . Diese Auffassung steht im Widerspruch zum Versuch in der Soziologie, eine allen Individuen in allen Gesellschaften eigentümliche Weise „sozialen Handelns" erforschen zu wollen, gleichviel, ob sie sich als „Situation", als „KulturFall-Studie" 1 7 oder auf andere Art darstellt. Die Erforschung des sozialen Handelns von Individuen in einer sozialen Situation verlangt die Klärung der Frage, welche Umstände einer solchen - menschliches Handeln einschließenden - Situation beobachtbar sind und sich wiederholen können und in welcher Weise sie reproduzierbar sind. Die Antwort hierauf hängt davon ab, wie in den Sozialwissenschaften der erkenntnistheoretische Begriff der „Tatsachen" oder der „Wirklichkeit", wie sie Geiger bezeichnet, das „unmittelbar Gegebene", das Inhalt unserer Erfahrung ist, zu verwenden ist. Dabei wird zu fragen sein, ob sich der Begriff der „Situation" im Rahmen einer Theorie der Normen für eine Klassifikation beobachtbarer Objekte überhaupt eignet. Für die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Sätzen über die Realität w i r d ihre Reproduzierbarkeit verlangt. Die Frage, „wie oft muß ein Effekt tatsächlich reproduziert werden, um als reproduzierbarer Effekt (als „Entdeckung") zu gelten?" beantwortet K. R. Popper 18 mit dem Bemerken: „In manchen Fällen ist nicht einmal eine Wiederholung nötig. Wenn ich behaupte, daß im Tiergarten zu Ν eine Familie von weißen Raben lebt, dann behaupte ich damit etwas prinzipiell Nachprüfbares. Wenn jemand die Behauptung nachprüfen w i l l und bei seiner Ankunft in Ν erfährt, daß die weißen Raben tot sind oder daß niemand jemals von ihnen gehört hat, dann bleibt es ihm überlassen, ob er (gegenüber dem Satz „alle Raben sind schwarz", d. V.) meinen falsifizierenden Basissatz annimmt oder verwirft. I n der Regel stehen ihm Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe er sich eine Meinung bilden 16
Vor allem: W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, 3. Aufl., Leipzig 1904; s.a. J. G. Droysen, Historik, Nachdruck d. 7. Aufl., Darmstadt 1974, S.207, Fußn. 15. 17 H. Becker, Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln, herausgegeben von B. Holzner, Würzburg, o. J., S. 226 ff. 18 K. R. Popper, Forschung, S. 54, N r l * .
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kann, etwa Zeugen, Dokumente usw., d.h. der Rückgriff auf andere intersubjektiv nachprüfbare und zu reproduzierende Tatsachen." Ob diese Erwägungen K. R. Poppers auch für Situationen gelten können, in die Handlungen und damit seelische Ereignisse eingehen, ist fraglich. Schon bei den weißen Raben des Beispiels bleibt offen - was immer das „Bilden einer Meinung" hier bedeutet - ob sich die Behauptung über die weißen Raben auf beobachtbare Ereignisse bezieht, da in der Forschung die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Basissätzen nur auf jene nachprüfenden Subjekte bezogen werden kann, die sich in entsprechender raumzeitlicher Nähe befinden 19 . Darüber hinaus wird, wenn anstelle von Raben von sozialen Situationen, und zwar soweit sie Gegenstand von Normen sind, auch von solchen, die noch nicht oder noch nicht ganz eingetreten sind, die Rede sein soll, die Reproduzierbarkeit nur durch das Eintreffen vorausgesagter Ereignisse in Betracht gezogen werden können, da ja derartige Situationen einander nie gleichen.
19
W. Stegmüller, Erfahrung, Festsetzung, Hypothese und Einfachheit in der wissenschaftlichen Theorienbildung (zit.: Erfahrung), Berlin 1970, S. 71.
V. Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit Die Kritiker des Positivismus hatten auf seine Wurzeln in den Naturwissenschaften und auf die damit begründeten Mängel bei der Erforschung sich wandelnder sozialer Entitäten hingewiesen. Während in den Naturwissenschaften die Zeit als Kriterium der Bestimmbarkeit konkreter Ereignisse im Raum-Zeit-Bereich dient, liegen die Dinge in den Humanwissenschaften anders, und sie verlangen die Beachtung eines weiteren Blickwinkels auf die Zeit. Eine Bemerkung des frühen Wittgenstein läßt das Problem sichtbar werden, wenn er schreibt: „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt 1 ." Bleibt einmal außer Betracht, daß w i r uns angewöhnt haben, die Zeit dadurch zu erfahren, daß wir ihren Ablauf ursprünglich nach wiederkehrenden Ereignissen in der Natur, mit Kalender und Uhr messen, wird uns „Zeit" als Kontinuum nur dadurch bewußt, daß w i r Veränderungen an und um uns erleben. Die Feststellung derartiger Veränderungen geschieht einerseits unter der Vorgabe einer von der Veränderung unabhängigen Identität des Subjekts, das die Fähigkeit hat, diese Identität intersubjektiv zu reflektieren und verlangt zum anderen die Bestimmung von „Zeitpunkten", zwischen denen die Veränderung beobachtbar sein soll, das heißt, die Festlegung von „Zeitpunkten" im Zeit-„kontinuum" ist Voraussetzung für das Messen der Zeit und ist damit Grundlage einer Orientierungskategorie bei der Welterfassung. Tatsächlich geschieht die Festlegung von „Zeitpunkten" stets in einer „Gegenwart" des Subjekts, für die angenommen wird, daß sie zugleich auch die Gegenwart aller von diesem beobachtbaren Systeme der lebenden Umwelt ist. Diese Gegenwart, das „Jetzt", bestimmt zugleich einerseits, was Wirklichkeit ist, andererseits, was „Vergangenheit" und was „Zukunft" ist, und damit der Wirklichkeit nicht zugehört. Wenn jedoch ein Zeitabschnitt zwischen zwei Zeitpunkten gemessen und diese jeweils in der „Gegenwart" gemessen werden, so ist dies nur möglich, wenn es sich nicht um Gegenwarten zu jeweils zwei Zeitpunkten, sondern nur um eine und zwar bleibende „Gegenwart" handelt. Damit wird die „Gegenwart" zu einer weiteren zeitlichen Orientierungskategorie für die Wirklichkeit. In ihr vermag das Subjekt 1
L. Wittgenstein, Tractatus, 64311.
V. Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit
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seine I d e n t i t ä t zu r e f l e k t i e r e n u n d h i e r b e i die beobachtbaren Veränderungen v o r a l l e m seiner belebten U m w e l t z u erfahren. W ä h r e n d die v o n n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fragestellungen geleitete neopositivistische Schule v o n Vorgängen ausgeht, die i n einem R a u m - Z e i t K o n t i n u u m u n v e r r ü c k b a r festgelegt, b e s t i m m t werden, t r i t t i n der Bem e r k u n g Wittgensteins f ü r die Z e i t jene andere Perspektive hervor. Diese Perspektive der Z e i t h a t i n der Philosophie eine lange T r a d i t i o n 2 , 3 , u n d es erscheint angebracht, diesen A s p e k t , w i e es offenbar v o n H . A . C. D o b b s 4 vorgeschlagen w i r d , als zweite D i m e n s i o n der Z e i t anzuerkennen. W e n n diese i m Positivismus - einer v o r a l l e m e m p i r i s c h ausgerichteten p h i l o sophischen Schule - n i c h t i n B e t r a c h t gezogen w i r d , so m a g das d a r a n liegen, daß die E r f a h r u n g der R e a l i t ä t i m „ J e t z t " d u r c h B e o b a c h t i m g n i c h t m ö g l i c h erscheint. D i e B e o b a c h t u n g setzt v i e l m e h r ein auf
„künftige"
Ereignisse gerichtetes, d u r c h „ f r ü h e r e " E r f a h r u n g gelenktes Interesse v o r aus. D i e E r f a h r u n g der W i r k l i c h k e i t i m „ J e t z t " k a n n b e i einem S u b j e k t a l l e n falls d u r c h eine „ S c h a u " der sich stetig verändernden W e l t - u n t e r Ausschluß von Erinnerung u n d Erfahrung - stattfinden 5. A u c h w e n n d a m i t die D i m e n s i o n der Zeitebene, w i e m a n sie nennen k ö n n t e , das „ J e t z t " , f ü r die wissenschaftliche B e o b a c h t u n g u n d d a m i t f ü r 2 In jüngerer Zeit vor allem H. Reichenbach, der sich eingehend mit den erkenntnistheoretischen Problemen der Zeitmetrik auseinandergesetzt hat - hierzu u.a. in: Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre (zit.: Axiomatik), Nachdruck v. 1924, Braunschweig 1965 - schreibt hierzu in: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Nachdruck in Gesammelte Werke Bd. 9, 1977, S.131: „das Zeiterlebnis scheint mit dem Ich-Erlebnis nahe zusammenzuhängen, ,ich bin' ist immer gleichbedeutend mit ,ich bin jetzt', aber ich bin in einem ewigen ,Jetzt' und fühle mich identisch bleibend im entgleitenden Strome der Zeit" s.a. ders. in: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Berlin 1953, S. 165. Die Bemerkung H. Reichenbachs weist auf ein vom sprachorientierten Neopositivismus wohl zu unrecht vernachlässigtes theoretisches Problem hin. Ob - wie kompliziert immer die Umgangssprache sein mag (Wittgenstein Tractatus, 4.002) - die Verwendung der Verben in verschiedenen Tempora metasprachlich hinreichend berücksichtigt wird. 3 u. a. bei Plotin, Schriften, ausgewählt und eingeleitet von R. Harder, Frankfurt 1958, S. 119,124; Boethius, Trost der Philosophie, übers, und herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1978, 5. Buch, S. 162, 164; Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat übers, und eingeleitet von W. Thimme und C. Andresen, München 1978, 11. Buch Kap. 21; Thomas von Aquin, Schriften, ausgewählt und eingeleitet von J. Pieper, Frankfurt 1956, zweiter Teil, II. Nr. 42-46; Angelus Silesius, Der cherubinische Wandersmann, herausgegeben von E. Brock, Zürich 1979 (1946), S. 39, 44, wohl auch bei J. G. Hamann, Sämtl. Werke, herausgegeben von J. Nadler, III. Band, Ein fliegender Brief, erste Fassung, Wien 1951, S. 384 in neuerer Zeit: H. W. Schmidt, Zeit und Ewigkeit, Gütersloh 1927, S. 229 ff. spricht von „Vollzeitlichkeit". 4 H. A. C. Dobbs, Time and Extrasensory Perception, in: Proceedings of the Society for Psychical Research, Vol. 54 (1963), London, S.249ff. 5 Die nachfolgenden Erwägungen von H. Bergson, Materie und Gedächtnis, 7. Aufl., Jena 1919, lassen den Blickwinkel der Welt als wissenschaftlich zu erforschende Realität nicht klar hervortreten: „Wenn w i r uns diese Gegenwart als sein werdend denken, ist sie noch nicht; und wenn wir sie als seiend denken, ist sie schon vergangen, wenn man dagegen die konkrete, vom Bewußtsein wirklich erlebte Gegenwart ansieht, kann man sagen, daß diese Gegenwart großenteils in der unmittelbaren Vergangenheit besteht."
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V. Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit
jede Empirie ausscheidet, kommt ihr in den Sozialwissenschaften bei der Klärung dessen, was als Realität anzusehen ist, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Während in den Naturwissenschaften die Zeit unter Annahme eines Raum-Zeit-Kontinuums der Bestimmung des Objektbereichs dient, bezieht sich jene Bemerkung L. Wittgensteins auf das beobachtende Subjekt im Verhältnis zur Realität; Beziehungen, derer sich vor allem die Wissenssoziologie 6 angenommen hat. Damit liegen sie noch nicht im Bereich des Erkenntnisvorgangs selbst, d.h. sie stehen in keiner Verbindimg mit der Überzeugungsbildung des Subjekts 7 , sondern dienen der Klärung dessen, was in den Humanwissenschaften nur als Realität gelten kann. Unzeitlichkeit kann in dem von L. Wittgenstein wiedergegebenen Zusammenhang nur Realität ohne „Vergangenheit" und „Zukunft" bedeuten, die sich damit selbst nur als Hilfskategorien des Denkens und der Erfahrung erweisen. Mit dem Hinweis Wittgensteins auf die „Unzeitlichkeit", die er mit der „Gegenwart" gleichsetzt, w i r d eingeräumt, daß die Beobachtung von Vorgängen - in der Zeit - von der Leistung des Gedächtnisses abhängt, daß die „Erfahrung" von „Zeit" als „Kontinuum" überhaupt erst durch das Gedächtnis ermöglicht wird 8 . Auch wenn i m vorangegangenen angenommen wurde, daß die Erfahrung der Wirklichkeit im „Jetzt" nicht durch Beobachtimg möglich ist, weil diese ihre Grundlage einerseits im Gedächtnis, andererseits in künftigen Erwartungen hat 9 , so hängt die visuelle Beobachtung - im Gegensatz zu anderen Bereichen der Erfahrung - am stärksten von einer Berücksichtigung der jeweiligen „Gegenwart" als einem diachronischen Schnitt, in dem sich uns die Realität stellt, ab. Daß sich hieraus auch Probleme der Sprachanwendung ergeben müssen, liegt auf der Hand. Hierauf ist später einzugehen. Hier ist vor allem nach den sozialwissenschaftlichen Besonderheiten bei den Beziehungen zwischen Subjekt und Realität und dem Blickwinkel auf die „Zeit" zu fragen. Daß künftige Ereignisse - und wenn es eine zuverlässig errechnete Sonnenfinsternis ist - nicht der Wirklichkeit angehören, steht nicht in Zweifel. Dasselbe gilt für frühere Ereignisse. Für die Geschichtswissenschaft ist 6 Schon bei J. Rehmke, Philosophie als Grundwissenschaft, Leipzig 1910, S. 33 ff.; im vorliegenden Zusammenhang erscheinen vor allem die Arbeiten von K. Mannheim von Bedeutung, insbes. in Wissenssoziologie, Auswahl herausgeg. von Karl Wolff, Neuwied 1964, S. 166 ff. (223); 246 ff. (270, 271). 7 die für die positivistische Forschungslogik ohne Interesse ist. - K. R. Popper, Forschung, S. 62 ff. 8 Wie schwierig die klare Trennung der verschiedenen Aspekte ist, zeigt sich bei der Bemerkung H. Reichenbachs in: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Nachdruck von 1928, in: Gesammelte Werke Bd. 9, Braunschweig 1977, wenn er schreibt: „aber ich bin in einem ewigen ,Jetzt' und fühle mich identisch bleibend im entgleitenden Strom der Zeit". 9 E. Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. III, 4. Aufl. (Nachdr. d. 2. Aufl.), Darmstadt 1964, S. 196 f.
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hiermit ein wesentliches Problem verbunden. Der Streit, ob Moses, Lao-Tse, Jesus oder Wilhelm Teil gelebt haben, ist zum Teil noch nicht entschieden und darüber, wie sie gelebt und gehandelt haben, besteht kaum Einigkeit. Es kann für die Frage nach der beobachtbaren Realität eines früheren Ereignisses keinen Unterschied bedeuten, ob ein Ereignis mehrere Jahrhunderte oder wenige Minuten zurückliegt. Die Nachprüfbarkeit und Reproduzierbarkeit beschränkt sich stets nur auf die Gegenwart, das „Jetzt", den diachronischen Schnitt. Die Dauer dieses „Schnitts" als „Erlebnis" der am Forschungsprozeß Beteiligten 10 kann hier unerörtert bleiben 11 . Daß es sich bei der Erfahrung der Gegenwart dennoch nicht um ein psychologisches Problem, sondern um ein solches der Erkenntnislehre handelt, das vor allem in den Sozialwissenschaften in Betracht gezogen werden muß, zeigen die folgenden Überlegungen, bei denen nicht Vorgänge des Wahrnehmens, sondern das Problem der Überprüfbarkeit und Reproduzierbarkeit i m Vordergrund steht. Der Vorstellung von als „Realität" beobachtbaren Objekten in einem „Zeitstrom" widerspricht die Überlegung, daß irgendwann dieser Strom zur „Geschichte" wird, es kann nur eine Frage der Festsetzung sein, wann das der Fall sein soll. Hiergegen mag eingewendet werden, daß die Beobachtimg von Objekten in einem diachronischen Schnitt nicht möglich ist, da sich die „Gegenwart" als ein solcher Schnitt nicht darstellen läßt. Vor diesem Problem steht jedoch ebenso das Bemühen um eine Zeitmetrik 1 2 . Überdies kommt es bei der Behandlung der Reproduzierbarkeit sozialer Vorgänge zunächst weniger auf die Genauigkeit von Messungen an, sondern darauf, den Vorgang wissenschaftlichen Beobachtens kritisch zu überprüfen. Für die Handelnden HH im System Th. Geigers ergeben sich damit zunächst Zweifel, ob oder auf welche Weise eine frühere Situation oder künftige, erwartete Situationen der Realität zugehören können. Aber auch für die Erfahrung und Erkenntnis einer einzelnen Situation s' durch HH oder den wissenschaftlichen Beobachter ergeben sich unter dem Blickwinkel einer „Zeitebene" Probleme. Die mit der Beobachtung einer sozialen Situation in der Gegenwart verbundenen Problematik läßt sich am ehesten am Beispiel der Anfertigung 10 Hierzu im besonderen P. Fraisse, Zeitwahrnehmung und Zeitschätzung in Handbuch der Psychologie, herausgegeben v. K. Gottschaidt u. a. Bd. I 1 Allgemeine Psychologie, herausgegeben v. W. Metzger, Göttingen 1966, S. 657 ff. 11 Der Begriff des diachronischen Schnitts wird hier nicht in der Bedeutimg der Strukturalisten, vgl. R. Girtler, Kulturanthropologie, München 1979, S. 168 ff. verwendet, da es sich hier nicht um den Nachvollzug einer einzelnen Situation in der Objektwelt sondern um den Vorgang des Beobachtens, d.h., um die Beziehungen des Subjekts zur Wirklichkeit handelt. 12 H. Reichenbach, Axiomatik, S. 131.
4 Zitscher
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V. Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit
einer photographischen Aufnahme darstellen. Auch wenn diese den „Ablauf" einer Belichtungs-„zeit" voraussetzt, nähert sie sich der Abbildung einer sozialen Situation, die in der „Gegenwart" beobachtet wird, stark an. Diese Aufnahme ist nach ihrer Herstellung zwar selbst Teil der Objektwelt, nicht dagegen die mit ihr abgebildete soziale Situation, die bereits vergangen ist und sich daher nur noch durch in der jeweiligen Gegenwart fortbestehende „Beweismittel" reproduzieren läßt. Um anderes kann es sich danach auch nicht bei dem früher wiedergegebenen Beispiel K. R. Poppers in bezug auf die Behauptung über die im Tierpark von Ν lebende Familie weißer Raben handeln und von deren Vorhandensein der Beobachter sich die Meinung durch „Zeugen, Dokumente usw." bildet, wie immer das „Bilden" dieser „Meinung" zu beurteilen sein mag. Die Falsifizierung von Beobachtungssätzen über vergangene Ereignisse kann daher hier allenfalls unter Hinweis auf den Mangel an Bewährung jener Zeugen oder Dokumente in bezug auf andere Ereignisse oder auf andere gegenwärtige Beweismittel stattfinden. Eine photographische Aufnahme, die hier als Beispiel für den Vorgang der Beobachtung einer sozialen Situation dienen soll, wirft in bezug auf die sie abbildende Realität dadurch das weitere Problem auf, daß das Geschehen auf dem Bilde vielfältig erklärbar ist. Die Anzahl möglicher Erklärungen vermindert sich i n dem Maße, in dem frühere Aufnahmen als Zeugnisse über zuvor beobachtbare Wirklichkeit oder andere Dokumente zur Verfügung stehen, und zwar selbst dann, wenn sich das Interesse des Forschers nur auf wenige begrenzte Zusammenhänge der Abbildung beschränken sollte. „Frühere" oder „spätere" Bilder gehören aber gegenüber der Beobachtung in der Zeitebene, sofern nicht wirkliche photographische Aufnahmen vorliegen, nur aus dem Gedächtnis oder als Erwartung der Realität an. Eine Beschränkung des Beobachtungsinteresses des Forschers auf nur wenige Zusammenhänge findet allenfalls im Experiment, nicht dagegen bei der Beobachtung der sozialen Wirklichkeit statt. Für die sozial Handelnden werden sich daher Beobachtungsinteresse und beobachtbare Wirklichkeit in der Regel nicht decken. Beobachtbare Ereignisse, die „später" für die Erklärung einer Situation relevant werden können, treten nicht oder nicht immer in das Blickfeld des Beobachters. Dessen Interesse ist auf den Eintritt bestimmter, möglicherweise anderer Ereignisse gerichtet, unabhängig, ob sie eintreten oder nicht. Die Annahme eines in die Zukunft gerichteten Interesses an erwarteten Ereignissen einerseits und die als Gedächtnis verfügbare Erfahrung früherer Ereignisse lassen den Eindruck entstehen, als könnten derartige Ereignisse der Realität zugehören. Tatsächlich sind aber nicht künftige Ereignisse, sondern nur die sich stets erneuernde Erwartung und umgekehrt nur die jeweils gegenwärtige Leistung des Gedächtnisses „gegenwärtig" und damit real. Und hierbei handelt es sich um seelische Ereignisse mit den für sie in bezug auf die Beobachtbarkeit geltenden Einschränkungen.
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Der erkenntnistheoretische Weg des Positivismus, hier entsprechend der Annahme eines „Zeitstromes" 13 von einem „Erlebnisstrom" 14 im Zeitkontinuum auszugehen, innerhalb dessen die Realität unabhängig von der Gegenwart erfahren werden soll, vermag den Besonderheiten der sözialwissenschaftlichen Forschung nicht zu genügen. Er verdeckt nicht nur wesentliche heuristische Probleme zugunsten der Lösung der sich vor allem in der Physik stellenden Fragen nach der Gleichzeitigkeit bestimmter Ereignisse in verschiedenen Systemen. Er wird auch dem Begriff der Realität nicht gerecht, soweit diese Inhalt wissenschaftlicher Erfahrung werden soll. Realität ist, wie L. Wittgenstein hervorhebt, letztlich unzeitlich. Diese Zeitebene hat in der Soziologie neben die Annahme eines metrisch bestimmten Zeitkontinuums zu treten; sie dient der Klärung dessen, was hier als Realität anzusehen ist. Die Bedeutung der Zeitebene gewinnt Gewicht, wenn die intersubjektive Verständigung über die beobachteten Objekte in Betracht gezogen wird. Die Intersubjektivität stellt uns dabei sowohl als „wesentliche Eigenschaft der Wirklichkeit" 1 5 - d.h. die Übereinstimmung von Gedächtnisleistungen und Erwartungen der am Forschungsprozeß Beteiligten - als auch in bezug auf die Sprache vor besondere Probleme. Während Objekte der Dingwelt durch ihre Beobachtbarkeit über eine gewisse „zeitliche Dauer" hinweg dem Beobachter den Eindruck einer zeitlichen „Beständigkeit" vermitteln, über die während dieser „Dauer" eine Verständigung stattzufinden vermag, liegen die Dinge bei auf Veränderung angelegten Situationen anders, namentlich, soweit es sich um soziale Situationen handelt, die soziale Handlungen einschließen. Hier unterscheiden sich die in der Gegenwart, in der die Situation beginnt, beobachtbaren Ereignisse nicht nur von denen, die i n der Gegenwart der endenden Situation beobachtbar sind, sondern auch von denen eines jeden beliebig gezogenen diachronischen Schnitts während des Kontinuums.
13 R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt (zit.: Aufbau), 4. Aufl., Frankfurt/M. 1974, Nr. 64. 14 H. Reichenbach, Raum-Zeit-Lehre, S. 131. 15 R. Carnap, Aufbau, Nr. 66.
VI. Sprache und Wirklichkeit In der positivistischen Erkenntnistheorie w i r d die Sprache als synchron verlaufende Bedingung der intersubjektiven Verständigung, soweit ich sehe, nicht behandelt. Sie wirft für soziale Situationen insofern Probleme auf, als nach dem bisherigen unterschieden werden muß, ob die Verständigung „vor", „nach" oder „gleichlaufend" mit der Situation stattfindet. Die Sprache kann nicht einmal den Anschein einer diachronisch erfahrbaren Erscheinung begründen, da sie die intersubjektive Verständigung nur im synchronen „Ablauf" ermöglicht, mithin ohne Gedächtnis nicht geleistet werden kann. Findet die Verständigung „vor" der Situation statt, so könnte die Rede allenfalls von Erwartungen der Subjekte als Teil der Realität sein. Entsprechendes gilt für die Verständigung über „vergangene" Situationen. I m ersten und letzten Fall beziehen sich die Sprachzeichen nur insofern auf Gegenstände der Realität, als sie ihre Bedeutung aus den seelischen Ereignissen der Subjekte beziehen. Zwar können auch nur mögliche Sachverhalte in die wissenschaftliche Systematisierung einbezogen werden; aber auch hierbei kann es sich, soweit von sozialen Situationen die Rede ist, nur um Sätze über seelische Ereignisse handeln. Für Gedächtnisleistungen und Erwartungen der am Forschungsprozeß Beteiligten können nur dann adäquate Begriffe verwendet werden, wenn sie mit einer früheren oder der künftigen sozialen Wirklichkeit übereinstimmen würden und dadurch eine Überprüfung ermöglichten. Daß sich soziale Erwartungen „später" bestätigen werden, ist aber eine kaum zu begründende Annahme. Wäre es der Fall, so fehlte der Auseinandersetzung der Positivisten mit dem Historismus die Grundlage. Das für jede Forschung anzunehmende Interesse des Forschers, durch das sich letztlich auch die Wirklichkeit sprachlich gliedert, bringt keine Lösimg dieses sich aus dem synchronen Ablauf der Sprache ergebenden Problems. So wie sich die Wirklichkeit für die Beobachtung und für die Klassifikation von Begriffen i n bezug auf die Dingwelt durch das Forschungsinteresse gliedert, wirkt zwar das Interesse auch bei der Beobachtung von sozialen Situationen bei der Erinnerung und Erwartung mit, wobei auch der „Wandel" in der Wirklichkeit vermerkt wird. Wenn dies allerdings als ein Geschehen in einem „Erlebnisstrom" angesehen wird, indem die Situation insgesamt selbst als Wirklichkeit gilt, so w i r d aus dem Vorgang des Beobachtens mehr abgeleitet, als er zu leisten vermag. Vor allem bleibt hierbei außer Betracht, daß nicht nur die Beobachtung durch das Interesse gelenkt
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worden ist, sondern daß auch für die Bestimmung einer solchen Situation in bezug auf die zu ihr gehörenden Umstände und in bezug auf ihre Ausdehnimg während der Beobachtung durch das Interesse geleitete Festsetzungen stattgefunden haben und stattfinden. Diese Festsetzungen werden in der Psychologie durch die Annahme von Gestaltqualitäten im Bereich von Zeit und Bewegung erklärt, die dem Beobachten vorangehen und vom Gedächtnis her nur als dessen Leistung der Wirklichkeit zugehören. Als Beispiel für eine diachrone Beobachtung war in früherem Zusammenhang auf die photographische Aufnahme hingewiesen worden. Für eine soziale Situation, wie sie Th. Geiger in seiner Theorie einführt, würde das bedeuten, daß jeder Situation, wieweit immer der Erfahrungsbereich der beobachtbaren Gegenwart gezogen wird, neben dieser sowohl Gedächtnisleistungen als auch Erwartungen als Realität zugehören, durch die sie erst als eine solche von s —> g bestimmbar wird 1 . Entsprechendes gilt für jene, die derartige Normensituationen erforschen 2. Für die Sprachzeichen liegen die Dinge etwas anders. Die Sprache verläuft, wie schon hervorgehoben, synchron. Sie könnte also der zu beschreibenden beobachtbaren Realität allenfalls nur insoweit entsprechen, als ihre Zeichen Bilder sind 3 . Das trifft nicht für die Lautsprache, sondern allenfalls für Sprachzeichen zu, für die die Bemerkung Wittgensteins, daß ein Satz ein Bild der Wirklichkeit ist, gelten kann, wie zum Beispiel für die chinesischen Schriftzeichen 4 . Die synchron verlaufende Sprache setzt mithin ebenfalls Gedächtnis und die Fähigkeit zu einer Projektion in die Zukunft voraus. Da sie „Vergangenheit" und „Zukunft" im Gegensatz zur - gegenwärtigen - Realität als Hilfskategorien des Denkens zur Grundlage hat, muß sie auch i n dieser Weise wirken, d.h. ihre Begriffe beziehen ihre Bedeutung stets aus einer früheren - nur über das Gedächtnis reproduzierbaren - „Wirklichkeit". Das Ziel des Sprechakts, sein Ende, liegt immer in der „Zukunft". Das weitere Problem, daß auch die Sprachzeichen ihre Bedeutung nur aus der individuellen 1 Auch wenn sich damit die Norm, wie sie hier dargestellt wird, der in der Soziologie verbreitet vertretenen Definition annähert, soll das Modell Th. Geigers im nachfolgenden beibehalten werden, da es die Problematik klarer erkennen läßt. J. Morel, Werte als soziokulturelle Produkte in: Sozialer Wandel, herausgegeben v. Th. Häuf und M. Hattich u.a. Bd. I, Frankfurt 1975, S. 204ff. (207): „Normen sind Kriterien des Handelns mit verpflichtendem Charakter, diese Kriterien sind normalerweise Werte oder wenigstens mit Werten verbunden". 2 P. S. Cohen, Moderne soziologische Theorie, Wien 1972, S.94f. 3 L. Wittgenstein, Tractatus, Nr. 2, 1. 4 Tatsächlich scheint die chinesische Sprache und Schrift ein anderes Verhältnis zur Logik zu intendieren als die abendländischen Sprachen. Vgl. hierzu: J. Needham, Wissenschaftlicher Universalismus, Frankfurt/M. 1979, S.200f., s.a. L. Abegg, Ostasien denkt anders, Zürich 1949, S.85ff., s.a. Chang Tung Sun, Chinesen denken anders, in: Wort und Wirklichkeit, Beiträge zur allgemeinen Semantik, ausgew., übers, und herausgegeben von G. Schwarz, 2. Aufl., Darmstadt 1968.
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VI. Sprache und Wirklichkeit
Erfahrung beziehen können 5 , d.h. von den Gedächtnisleistungen des einzelnen Individuums abhängen, soll hier außer Betracht bleiben. Den Überlegungen Th. Geigers liegt allerdings die kaum zu begründende Annahme des kritischen Rationalismus zugrunde, daß es sich bei der wissenschaftlichen Sprache um ein objektiviertes Medium handelt. Sie soll hier nicht i n Frage gestellt werden. Die Dinge liegen zwar bei der Beobachtung ähnlich, sie w i r d von „früheren" Erfahrungen und von „künftigen" Erwartungen geleitet, und zwar nicht nur als Erwartungshorizont für die Bildung von Hypothesen 6 , sondern schon in Hinsicht auf das die Beobachtung leitende Interesse, durch das sich auch die Wirklichkeit bei der Verwendung der Sprache gliedert. Dennoch ist ein Unterschied zwischen den Voraussetzungen der Sprache und denen der Beobachtung insofern gegeben, als die Sprache der Gestaltung durch den Sprechenden unterliegt. Der Inhalt auch des endenden Sprechakts w i r d stets seinen Erwartungen entsprechen. Ob das auch für die beobachtete Situation gelten kann, erscheint fraglich. Die sich aus dem verschiedenartigen Verhältnis der Sprache und der Beobachtung zur Gegenwart und damit zur Realität ergebenden Probleme zeigen sich in den Sozialwissenschaften besonders deutlich. Ihr Gegenstand sind - nicht wie in den Naturwissenschaften unter der Annahme sich mehr oder weniger wiederholender oder wiederholbarer Ereignisse - gesellschaftliche Zusammenhänge und damit soziales Handeln in einer sich ständig verändernden Umwelt 7 . Damit steht auch die Entwicklung von Theorien vor besonderen Schwierigkeiten bei der Bildung von Begriffen und Klassen von Begriffen in bezug auf ihre Bedeutung i n der beobachteten Realität. Als Adäquatheitsbedingungen für die Bildung theoretischer Begriffe w i r d gefordert, daß sie gegeneinander scharf abgegrenzt sind; die einzelnen Klassen müssen sich gegeneinander ausschließen, und außerdem muß die Klasseneinteilung erschöpfend sein, so daß jedes Objekt des Bereichs unter eine der begrifflich festgelegten Klassen fällt 8 . Auch wenn diese Voraussetzungen für einen Begriff oder für Klassen von Begriffen erfüllt werden, bleibt für die Sozialwissenschaften das weitere aus den bisherigen Überlegungen folgende Problem der historischen Konsistenz der Begriffe, das sich in neuerer Zeit auch der allgemeinen Wissenschaftslehre in besonderer Weise stellt, und vielleicht liefert die Wissenschaft selbst hierfür das eindrucksvollste Beispiel. Auch die wissenschaftliche Forschung und allgemein die Entwicklung der Wissenschaft ist ein Teil der sozialen Wirklichkeit und w i r d damit selbst 5
Sò vor allem zutreffend D. Horn, S. 44 f. K. R. Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme (zit.: Naturgesetze), in: Theorie und Realität, herausgegeben von H. Albert, Tübingen 1964, S. 91. 7 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, 3. Aufl., Darmstadt 1971, S. 116. 8 W. Stegmüller, Erfahrung, S. 19. 6
VI. Sprache und Wirklichkeit
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zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Selbst wenn in diesem Prozeß der Entwicklung der Wissenschaften keine Anhäufung von Erkenntnis, sondern nur die Ablösung von Paradigmata durch neue Paradigmata stattfindet 9 , so kann gleichwohl von einem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgegangen werden. Mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis tritt, soweit nicht neue Begriffe für neuentdeckte Tatsachen eingeführt werden, ein Wandel der Bedeutung bisher verwendeter Begriffe ein 1 0 , indem trotz der in bisherigen Theorien auftretenden Anomalien entweder noch immer die gleichen Begriffe verwendet oder diese mit neuer Bedeutung versehen werden 11 . „Materie" und „Energie" nach Einstein haben eine andere Bedeutung als vorher: Die Bedeutung dieser Begriffe ist eine Funktion der - in dauernder Veränderung 12 begriffenen - Theorie 13 , mit anderen Worten, die Begriffe dieser Theorie verändern mit der Überprüfung durch die empirische Zusammensetzimg ihre Bedeutung. Was sich im Verhältnis zwischen Sprache und beobachteter Wirklichkeit bei der Entwicklung der Wissenschaften zeigt, gilt für jeden Gegenstand sozial wissenschaftlicher Forschung. Da der Forschungsprozeß selbst ein sozialer Vorgang ist, in dem „die am Forschungsprozeß Beteiligten" ein - wie auch immer geartetes - soziales Intégrât bilden, müssen die soziologischen Theorien für den Forschungsprozeß Geltung haben und umgekehrt, seine Erklärung muß jene Theorien berücksichtigen. Der Wandel der in dauernder Veränderung begriffenen Theorie ist ein sozialer Vorgang. In der den Naturwissenschaften bevorzugt verbundenen historisch-rationalistischen Wissenschaftstheorie w i r d mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt, daß sich die beobachteten Objekte der Wirklichkeit, jene Erscheinungen, die die Bedeutung von „Materie" und „Energie" haben, nicht verändern, daß vielmehr nur neue oder sich ändernde Erkenntnisse und Erklärungen über sie gewonnen werden, so daß sich dadurch allenfalls die Bedeutung der Begriffe verändert. Das kann, wie w i r am sozialen Prozeß der Forschung sehen, für die Sozialwissenschaften nicht gelten. Nicht einmal die Annahme einer vom sozialen Wandel unberührten Sprache ist in den 9 Das heißt nach Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolution (zit.: Revolution), 3. Aufl., Frankfurt/M. 1978, S. 65 ff. in der Weise, daß das Paradigma den Gang der Forschung bestimmt, es neue Fragestellungen erzeugt. 10 s.a. Th. S. Kuhn, Revolution, S. 76, C. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistomologie, herausgegeben v. W. Lepenies, Frankfurt/M. 1979, S. 10, 151; aber schon bei E. Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit, 8. Aufl., München 1938, S. 1: „Neue Wege des Wissens werden erschaut, nicht begrifflich erwiesen. Sie selbst erweisen sich als gangbar, wenn man auf ihnen die Dinge sinnvoll in neuer Aufreihung sieht. Dann spricht man von neuen Tatsachen, die man gefunden hat und von da aus tun sich wieder neue Wege auf." 11 s.a. W. Stegmüller, Theorie und Erfahrung, 2. Halbbd., Berlin 1973, S. 165ff. 12 Die Aussage intendiert auf eine von der Sprache nicht abhängige Beobachtung. 13 K. R. Popper, Logik der Forschung, Nr. 38, S. 90, Note 3; W. Stegmüller, Wissenschaftssprache, S.262.
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VI. Sprache und Wirklichkeit
Sozialwissenschaften gerechtfertigt. Jede Population unterliegt der Veränderung 14 . Das gilt für das soziale Phänomen der Sprache im besonderen Maße. Tatsächlich beanspruchte früher eine merkliche Veränderung der Sprache eine geraume Zeit 1 5 , in der zeitgenössischen Gesellschaft werden derartige Veränderungen schon in wenigen Jahren erkennbar 16 . Ist dies jedoch der Fall, so muß von einer Inkonsistenz auch der Begriffe auch für jeden kleineren Zeitraum ausgegangen werden. Mit dem Aspekt der Porosität der Begriffe wird nach den bisherigen Überlegungen nur dem Gesichtspunkt der Möglichkeit des sprachlichen Wandels, nicht dagegen dem Umstand Rechnung getragen, daß der Wandel die Porosität der Begriffe bedingt. Und nicht nur das. Auch in der Sprache werden „Regeln", Sprachregeln, vorausgesetzt. Für sie müssen die vorangegangenen Überlegungen, die sich mit der Situation von Normen befaßt haben, gleichermaßen gelten. Der Weg über die Einführung metasprachlicher Systeme führt aus diesem Problem nicht heraus, da sich die Frage der Konsistenz sozialer Begriffe immer bei der Übersetzung stellt. Das gilt für den Betrieb der Wissenschaft als einem sozialen Prozeß ebenso wie für den von Th. Geiger untersuchten Bereich der Norm 1 7 Die Rechtsanwendimg sieht sich damit in der gleichen Lage wie die Wissenschaft. Beide stehen vor der Frage, bestimmte wiederkehrende soziale Sachverhalte als unter die Bedeutung bestimmter Begriffe fallend zu identifizieren. In den Gesellschaftswissenschaften scheint jeder Begriff in bezug auf seine Bedeutimg historisch inkonsistent. „Die Bewährung, die eine Theorie bis gestern gefunden hat, ist logisch nicht identisch mit der Bewährung, die eine Theorie bis heute gefunden hat 1 8 ." Als sozialer Vorgang haben 14 Auch wenn in der Kulturanthropologie und Soziologie von sogenannten statischen oder traditionsgeleiteten Gesellschaften (D. Riesmann, Die einsame Masse, Hamburg 1961, S. 175 ff.) die Rede ist, so enthält dieser Begriff ein durch nichts begründetes Vorurteil, weil der Wandel derartiger Gesellschaften nur an der zeitgenössischen industriellen, technischen Entwicklung gemessen wird. 15 Nach einem Zitat bei A. Schaff, Einführung in die Semantik, Frankfurt/M. 1969, S. 20 aus M. Breal, Essai de semantique. Science de signification, Paris 1904, schreibt dieser schon im Jahre 1904: „Der Sinn der Wörter ändert sich in der modernen Gesellschaft um vieles schneller, als das im Altertum oder der eben erst verflossenen Epoche geschah, das resultiert aus der Versuchung der Klassen, Meinungen, dem Kampf der Parteien sowie aus der Verschiedenartigkeit der Bestrebungen und Neigungen". 16 G. Keseling und H. E. Wiegand, Einführung in die Semantik, in: Sprache, Einführung in die moderne Linguistik, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, S. 17. 17 Der Verfasser in Satzungsnorm. 18 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, herausgegeben von R. König, Neuwied 1961, S.70ff., S. 176ff.; s.a. H. Lévy-Bruhl, Soziologische Aspekte des Rechts, Berlin 1970, S. 131 ff., aber auch J. Rüsen, Die Uhr, der die Stunde schlägt, Geschichte als Prozeß der Kultur bei Jacob Burckhardt, in: Theorie der Geschichte, Bd. 2, Historische Prozesse, herausgegeben von K. G. Faber und Chr. Meier, München 1978, S. 186 ff. (207 f.).
VI. Sprache und Wirklichkeit
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die für diese Theorie verwendeten Begriffe aber dann nicht mehr die gleiche Bedeutung. Der Weg des Strukturalismus von E. Durkheim, der von synchronisch untersuchten Zusammenhängen ausgeht, um über diachronische Reihen Erklärungen zu finden, bietet hier keine Lösimg und steht vor dem gleichen Problem der Begriffsbildung. Wenn hiernach wissenschaftliche Aussagen über die Realität zur Bewährung anstehen, so bieten sich zwei Wege an. Auf dem einen Wege w i r d die Inkonsistenz der Begriffe, namentlich die von verwendeten Dispositionsbegriffen 19 , hingenommen, indem das Augenmerk auf Ähnlichkeiten gerichtet w i r d oder indem Einschränkungen in bezug auf die Bewährung von Aussagen über die Realität gelten müssen. Der andere Weg führt zu der Suche nach Klassen von Begriffen im Bereich der sozialen Realität, die der Forderung nach historischer Konsistenz besser entsprechen können als z.B. der der sozialen Situation.
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K. R. Popper, Forschung, S. 376 ff.
V I L Konsistenz der Begriffe in den Sozial Wissenschaften Bei der Behandlung der erkenntnistheoretischen Probleme der Intersubjektivität bei der Beobachtung und bei der Verwendung der Sprache war angenommen worden, daß wesentlicher Bestandteil der von Th. Geiger eingeführten Situation soziale Handlungen von HH und damit deren seelische Ereignisse seien. Mögen über jene seelischen - gegenwärtigen Ereignisse zumindest, soweit sie bei der Gesamtheit oder bei der Mehrheit der Mitglieder eines Integrats erheblich sind, noch Aussagen möglich sein, so bestehen in bezug auf „künftige" Situationen nach dem Bisherigen jedenfalls Zweifel. Dennoch empfiehlt es sich, auf der Suche nach Begriffen konsistenter Bedeutung von der Situation s Geigers auszugehen, weil ja - von einer derartigen Situation - , und nicht nur von Geiger, sondern auch unter dem allgemeinen Blickwinkel der Rechtsanwendung angenommen wird, daß sie Grundlage einer Norm ist. Dem Begriff der Norm bzw. des Normkerns, von dem Geiger ausgeht, gehört nicht nur die Situation s, sondern auch das Gebaren g zu, das von AA erwartet wird. Für eine solche Folge s g führt R. Carnap ein Beispiel mit einer Erklärung an, für die allerdings die theoretische Grundlage Th. Geigers nicht gelten kann. Er schreibt: „Die Sitte des „Grüßens durch Abnehmen des Hutes" besteht dann in einem Volke ... zu einer gewissen Zeit, wenn bei den Gliedern zu dieser eine psychische Disposition solcher Art vorliegt, daß bei Situationen von der und der Art ein Willensvorgang von der und der Art geschieht 1 ".
Zu dem Beispiel werden, obwohl die Umstände nur sehr allgemein beschrieben sind, zwei untereinander verschiedene Bereiche erwähnt: die Begegnung und das Abnehmen von Hüten einerseits sowie die psychische Disposition der sich Begegnenden andererseits. Die Begegnung und das Abnehmen von Hüten deckt sich mit den Elementen des Normkerns s —» g von Geiger, dieser meint allerdings, daß diese beiden Elemente als Kern für eine Norm ausreichen, psychische Einstellungen - wohl weil sie nicht beobachtbar sind - entbehrlich seien2. Ob bei der Beschreibung der Situation s Geigers von einem Hinweis auf die psychische Situation der Handelnden abgesehen werden kann, zeigt 1 2
R. Carnap, Aufbau, S. 201. Vorstudien, S. 110 f.
VII. Konsistenz der Begriffe i n den Sozialwissenschaften
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sich, wenn das Beispiel R. Carnaps variiert wird: Sich begegnende Menschen nehmen mehrfach zufällig die Hüte ab. Sie haben Kopfbedeckungen auf, die sich nicht ohne weiteres abnehmen lassen (Wollmützen). Nur einer hat einen Hut auf, der andere nickt mit dem Kopf, beide haben Hüte auf, aber nur immer einer nimmt ihn jeweils ab, entweder, weil er es nicht anders weiß, weil er die Sitte mißbilligt oder weil er den anderen verachtet. Während sich bei einigen der Varianten das Problem dadurch lösen läßt, daß die Norm um jene Fälle ergänzt wird, wird vor allem im letzten Fall ohne Berücksichtigung der psychischen Disposition des Handelnden nicht auszukommen sein, wenn z. B. eine Norm die Verweigerung des Hutabnehmens im Falle gegenseitiger Mißachtung zuläßt. Das hier wiedergegebene Beispiel gehört nicht dem Recht an, sondern kann nach Geiger als Brauch oder Sitte gelten. Da jedoch Brauch und Sitte durch Sanktionen aufrechterhalten werden, kann es, angesichts der Genesis der Ordnungsgefüge, als Normkern, als einer Norm zugehörig, angesehen werden und steht insoweit der Rechtsnorm näher als einer sozialen Gewohnheit 3 . Die Sitte des Grüßens durch Hutabnehmen und die Formulierung des Normkerns s —> g lassen in der Art ihrer Darstellung den Eindruck entstehen, als seien menschliche Handlungen stets vor allem auf die Einhaltung von Normen gerichtet. Geiger braucht sich hierzu nicht zu erklären. Für ihn ist die Motivation von HH bei dem Vollzug von Normen ohne Belang. Es ist also gleichgültig, ob sich die Handelnden an Normen halten, weil sie gesetzestreue - oder in unserem Fall wohlerzogene - Bürger sind oder weil sie spätere Sanktionen scheuen4. Tatsächlich wird aber die Einhaltung der Norm um des Normvollzuges willen eher die Ausnahme als die Regel sein. So führt auch Geiger - ohne die Bemerkung mit dem normgemäßen Handeln in Beziehimg zu setzen an, „das Leben in Gemeinsamkeit verläuft als eine unabsehbare Kette von Handlungen und Gegenhandlungen". Dem Begriff der Norm bzw. des Normkerns, von dem Th. Geiger ausgeht, gehört nicht nur die Situation s, der selbst soziale Handlungen zugehören können, sondern auch das Gebaren g zu, das von AA erwartet w i r d und das jedenfalls gegenüber s als selbständige, sozial erhebliche Handlung verstanden werden muß. Sollen Menschen gemeinsam leben, muß der einzelne, wie Th. Geiger bemerkt, mit einiger Sicherheit voraussehen können, wie andere sich in oft 3
Vorstudien, S. 99: Ein Abweichen hiervon fällt auf bzw. löst Unwillen aus. Vorstudien, S. 67: „Drängt aber eine äußere Macht mit fühlbaren Mitteln den A dazu, s —> g zu handeln, dann ist ν eine Realität. Die Norm hat dann Wirklichkeitsgehalt über die Tatsache hinaus, daß sie als moralische Vorstellung der A besteht." Der Verfasser läßt hier zwar eine Motivation für normgemäßes Handeln gelten, aber nur als Reaktion auf die Sanktionen von Ω . Aus welchem Grunde A handelt, bleibt für Geiger aber ohne Belang. 4
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VII. Konsistenz der Begriffe i n den Sozialwissenschaften
wiederkehrenden typischen Situationen verhalten werden 5 , und an anderer Stelle führt er aus „Die soziale Funktion jedes Ordnungsgefüges besteht gerade darin, den Gliedern einer Gruppe in ihrem Verhältnis zueinander und Verkehr miteinander mehr oder weniger Sicherheit zu geben" 6 . Die Einhaltung von Normen findet hiernach also in der Regel nur gelegentlich des Handelns von HH statt, ist nicht wesentliches Ziel des Handelns. Wesentlicher Beweggrund für die Handlungen von HH ist vor allem wohl die Verfolgung individueller Ziele. Wenn aber hiernach in den Begriff s die Beschreibimg von Handlungen mit individuellen Zielsetzungen und deren durch die Norm angeordnete Einschränkung eingehen, so können die Ziele der Handlung nicht außer Betracht bleiben. Tatsächlich enthält die Mehrzahl von Rechtsvorschriften Hinweise auf derartige bei H H vorausgesetzte Ziele 7 . Damit stellt sich für die Sozialwissenschaft und für die „Anwendimg" von Gesetzesnormen im Sinne von w (s —> g) ν die Frage, wie und gegebenenfalls auf welche Weise sich individuelle Handlungsziele im Rahmen von s reproduzieren, beobachten und beschreiben lassen. Soziale Handlungen, wie die auch von Geiger mit der Verwendung des für handelnde Personen eingeführten Symbols HH gemeinten, sind i n der Regel auf die Veränderung der Umwelt oder, wenn unerwünschte Veränderungen erwartet werden, auf ihre Erhaltung gerichtet. Diese Handlungsziele gehören der Realität nur als Erwartungen von HH an und haben ihre Ursache nicht in früheren Ereignissen, sondern in Gedächtnisleistungen der Handelnden. Für Aussagen über diese Handlungen als Bestandteile von s' gilt, daß sie allenfalls über die Gedächtnisleistungen, über das beobachtbare Handeln und über die Erwartungen von HH sinnvoll sein können. Selbst wenn aber die Erfahrung fremder seelischer Ereignisse und sinnvolle Aussagen hierüber als möglich angenommen werden, bleibt für die Ableitung von Gesetzen und damit auch für die Kennzeichnung von aktuellen Situationen als die eines Normkerns s g noch eine weitere bisher nicht beantwortete Frage. Wenn Handlungen auf die Veränderung der Umwelt zielen, so gehen die damit verbundenen Erwartungen von einer gegenüber der gegenwärtigen, der Realität angehörenden, „künftig" veränderten Umwelt aus. Die Gleichsetzung dieser erwarteten Umwelt mit der Realität erschiene auch dann kaum gerechtfertigt, wenn angenommen werden könnte, daß sich das Ziel einer sozialen Handlung so verwirklichen ließe, wie es zu Beginn Inhalt 5
Vorstudien, S. 48. Vorstudien, S. 102. Das kommt schon in den Begriffen wie „Kauf", „Miete", aber auch in anderen Vorschriften zum Ausdruck. 6 7
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der E r w a r t u n g w a r . A b e r gerade das ist n i c h t der F a l l . Z w e i Gesichtspunkte sprechen dagegen. A u t o r e n des Neopositivismus w e n d e n sich e i n m a l bevorzugt m i t i h r e r K r i t i k gegen den H i s t o r i s m u s u n d gehen h i e r b e i d a v o n aus, daß sich i n der Geschichte keine Voraussagen treffen lassen 8 . E i n sozialer „Prozeß" ist aber stets e i n T e i l eines historischen „Prozesses", was f ü r diesen g i l t , muß a u c h f ü r jenen gelten. Z u m anderen, jede m i t m e n s c h l i c h e Begegnung, u n d das scheint l e t z t l i c h die E r k l ä r u n g f ü r den vorangegangenen E i n w a n d , endet f ü r jedes beteiligte I n d i v i d u u m m i t einem „ p l u s q u a m antea", m i t einem M e h r als zuvor. D e r Mensch m u ß n i c h t n u r als ein f ü r die „ D a u e r " seiner Existenz auf Lernvorgänge angelegtes Wesen 9 angesehen werden, sondern er besitzt auch die F ä h i g k e i t z u r Synthese 1 0 , u n d weder der U m f a n g des Gelernten, n o c h die synthetischen R e a k t i o n e n des I n d i v i d u u m s i m E i n z e l f a l l lassen sich voraussagen 1 1 . E i n A u s f l u ß dieser Besonderheit schlägt sich auch i n dem f r ü h e r w i e d e r gegebenen Beispiel der wissenschaftlichen Forschung nieder. Was f o l g t hieraus f ü r den B e g r i f f s i m M o d e l l des N o r m k e r n s s-*
g? D i e i m f r ü h e r e n
Zusammenhang erwähnte, auf Jahre hinaus errechnete Sonnenfinsternis u n d deren „gesetzmäßiges" E i n t r e f f e n gehören einer sozialen N o r m ebensowenig an w i e andere Gegenstände naturwissenschaftlicher Forschung. D i e f ü r sie 8
So vor allerm K. R. Popper, Historismus, S. 30 ff. Dem wird von J. v. Kempski, Handlung, Maxime und Situation, in: Theorie und Realität, hrsg. v. H. Albert, Tübingen 1964, S. 233 ff. und von H. L. Natarsky, Über die Möglichkeit eines interessenhermeneutischen Einstiegs in praktische Diskurse, in: Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln, hrsg. von J. Mittelstraß, Frankfurt/M. 1979, S. 77 ff. (80) nicht Rechnung getragen. H. L. Natarsky: „Die Situation S 2 , die als Handlungsintention subjektiv gewollt wird, kann kausal durch die in Frage stehende Handlung bewirkt werden, w i r wollen von der Handlungsintention dann auch als der Handlungswirkung sprechen. Eine Beschränkung auf nur rational gesteuerte Handlungen erscheint für die Soziologie nicht gerechtfertigt, hierzu O. Weinberger, Rationales und irrationales Handeln, in: Recht und Gesellschaft, Festschrift f. H. Schelsky, hrsg. v. F. Kaulbach und W. Krawietz, Berlin 1978, S. 721 (739); Chr. Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: Theorie der Geschichte, Bd. 2 - Historische Prozesse - hrsg. v. K.-G. Faber und Chr. Meier, S. 11 ff. (25 ff.); W. H. Dray: Überlegungen zur historischen Erklärung von Handlungen in: Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, hrsg. v. K. Acham, Darmstadt 1978, S. 151 ff. gründet die Beschränkung auf rationale Handlungsgründe auf ein übergeordnetes Gesetz im Interesse einer „humanistisch orientierten Geschichtsschreibung" (S. 183): hierzu C. G. Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen in: Theorie und Realität, hrsg. v. H. Albert, 2. Veränd. Auflage, Tübingen 1972, S. 238 ff. 10 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, eingel. v. W. Morris, 3. Aufl., Frankfurt 1978, S. 401: „Das biologische Individuum lebt in einem undifferenzierten Jetzt; das gesellschaftlich reflektierte Individuum nimmt dieses Jetzt in einen Fluß der Erfahrung hinein, in der eine fixierte Vergangenheit und eine mehr oder weniger unbestimmte Zukunft besteht." Zu der sich dennoch erhaltenden Identität sozialer und rechtlicher Institutionen vgl. H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institutionen, in: Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 215 ff. (224). 11 L. v. Wiese, Das Soziale im Leben und Denken, Köln 1956: „Die Fähigkeit zur Umwandlung der Personen im guten oder üblichen Sinne ist das eigentlich Soziale." 9
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verwendeten Begriffe gelten solange als historisch konsistent, wie sich die Theorie, in der sie verwendet werden, bewährt. Auch i n sozialen Normen treten Begriffe für derartige Erscheinungen der Objektwelt auf, für die das gleiche gelten kann. Sie können sich mit ihrer Bedeutung jedoch nach dem Vorangegangenen nur auf Gegenstände der Dingwelt beziehen. Das mag auch für Menschen gelten, soweit ihre Handlungen von sozialem Lernen nicht abhängig sind. Sie sollen „Riten" genannt werden 12 . Das früher erwähnte Beispiel R. Carnaps des Hutabnehmens fällt hierunter ebenso wie die Beachtung der Verkehrszeichen und auch die meisten rituellen Handlungen im engeren Sinne. Es wäre falsch, derartige soziale Handlungen als inhaltsleer zu bezeichnen. Sie treten meist an die Stelle komplexer Informationen von beträchtlicher sozialer Bedeutung. Die hier als Riten bezeichneten Situationen eines Normkerns lassen sich jedenfalls dem Modell s g der Theorie Th. Geigers zuordnen. Soweit sich die Handelnden HH jedoch in sozialen Situationen befinden, i n denen ihre Lernfähigkeit und die Fähigkeit zur Synthese wirksam sein können, müssen die Dinge anders liegen. Die für die Beschreibung der sozialen Erwartungen für derartige Situationen verwendeten Zeichen können stets nur Ereignisse der gegenwärtigen Realität in der Objektwelt zum Inhalt haben. Sie sind mithin in bezug auf die „künftigen" Ereignisse inkonsistent. Das gilt auch für die Situation im Sinne von s g. Damit stellt sich die Frage, welche Bedeutung Sprachzeichen zukommt, die für die „künftige" - prospektive Wirkung, wie sie Geiger meint - verwendet werden: „Morgen und künftig ist so zu handeln, wie es heute bestimmt w i r d 1 3 . " Nach den vorangegangenen Überlegungen tritt dies gerade nicht ein. Um Klarheit darüber zu erlangen, welche Handlungen auf Grund welcher auch in den Satzungsnormen prospektiv verwendeten Begriffe erwartet werden können, liegt es nahe, auf Probleme der Geschichtswissenschaft einzugehen, die in der retrospektiven „Erklärung" von geschichtlichen Abfolgen vor einem ähnlichen Problem steht, insbesondere, soweit Dispositionsbegriffe wie Freiheit 1 4 , Klasse, Demokratie 15 , sozialistisch, matriarchalisch, marktwirtschaftlich 1 6 eingeführt werden 17 , Begriffe, die wir zum Teil auch im Recht finden. 12 Ähnlich wird der Begriff des „Ritualismus" auch bei G. Wiswede, Soziologie abweichenden Verhaltens, Stuttgart 1973, S. 42, verwendet. 13 Vorstudien, S. 120. 14 Th. Geiger, Vorstudien, S. 227: „Freiheit, wenn das magische Wort überhaupt irgendeinen sachlichen Inhalt haben soll, ist es ja nichts anderes als der Inbegriff der Möglichkeiten sozial risikoloser Disposition im Lebensvollzug." 15 u.a. E. Topitsch, Mythos, Philosophie, Politik, Freiburg 1969, S. 148ff. 16 W. Stegmüller, Wissenschaftssprache, S. 226.
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Ist die Bedeutung vieler auf geschichtliche Situationen bezogener Begriffe historisch inkonsistent, sind die Situationen vielmehr nur ähnlich, so hängt es von der Stellungnahme des Beurteilenden ab, ob er sie dieser Situation oder jener als ähnlich erachtet, je nach dem, welchen der verschiedenen Merkmalen der Situationen er den Vorzug gibt 1 8 . Auf diese Weise lassen sich in der Geschichte je nach Betrachtungsweise 19 beliebige Ereignisfolgen zusammenstellen 20 . Das gilt für historische Situationen ebenso wie für soziale Situationen einer Norm 2 1 , die ja stets nur ein Teil eines historischen Prozesses sein können. Für die Situation des Normkerns s —> g ergibt sich ein weiteres Problem, das durch einen Blick auf die Geschichtswissenschaft deutlicher hervortritt. Bei der Beschreibung bestimmter geschichtlicher Ereignisse gehen w i r von der durch nichts begründeten Annahme aus, daß das Gedächtnis des Handelnden bzw. der Beobachter alle aktuellen Umstände eines solchen Ereignisses aufnimmt. Das ist nicht der Fall. Vielmehr w i r d das, was schließlich als psychische Realität für eine spätere Beschreibung verfügbar und damit reproduzierbar bleibt, vom jeweils gegenwärtigen, aus „früheren" Erfahrungen geleiteten Interesse bestimmt, das möglicherweise durch den „späteren" Verlauf nicht bestätigt wird. Die diesen Verlauf tatsächlich konstituierenden Ereignisse bleiben dadurch möglicherweise unbeobachtet, unbeschadet der Frage, ob es sich bei jenen Ereignissen um solche handelt, die von der Bedeutung der bei der Beobachtung verwendeten Sprachzeichen eingeschlossen werden oder nicht. Daß darüber hinaus die vom Beobachter und die von jedem einzelnen Handelnden von HH - als in jeweils unterschiedlichen sozialen Positionen befindlich - beobachteten Umstände nicht identisch sein können, ist ein weiteres Problem, das den Vorgang der subjektiven Erfahrung berührt und deshalb hier außer Betracht bleiben kann. Nach den bisherigen Überlegungen entscheidet eine Vielzahl von Bedingungen - wenn nicht der Zufall - darüber, welche Zeugnisse „früherer" 17 Zur Brauchbarkeit derartiger Begriffe in der Soziologie K.-D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek 1970, S. 135. 18 K. R. Popper, Forschung, S. 374 f. 19 Hierzu H. W. Hedinger, Standortgebundenheit historischer Erkenntnis, K r i t i k einer These, in: Theorie der Geschichte Bd. 1 - Objektivität und Parteilichkeit, hrsg. von R. Koselleck u.a., München 1977, S. 362 (S. 390). 20 Ein Weg, auf dem auch K. R. Popper zu finden ist. Vor allem in: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", 2. Bd. Bern 1957/58, Bd. 1: Der Zauber Piatons, Note 48 zu S. 257 a.E. 21 Deshalb kann es für das Recht nicht genügen, wenn H. Barth, Normen als Ordnungsformen der Weltorientierung, in: Kultur und Normen, Schriften zur wissenschaftlichen Weltorientierung Bd. II, Berlin 1957, S. 14 ff. (19) schreibt: „Wenn nun eine Norm Aussicht haben soll, daß ihr Folge geleistet werden könne, dann wird sie die ungefähre Weise sich wiederholender Fälle zu regeln versuchen. "
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Situationen vor allem soweit in sie seelische Ereignisse eingeschlossen sind 22 , als Realität in der Gegenwart - durch Dokumente, Gedächtnisspuren verfügbar bleiben, um eine Situation reproduzieren zu können. Diese Schwierigkeiten bestehen für die Historiographie, aber auch für die hier behandelten Normen und damit vor allem für die Instanz J 2 3 . Keine soziale Situation gleicht der anderen oder einer früheren, die nur über das Gedächtnis von HH oder der Instanz Δ reproduziert wird, was immer von jenen Situationen im Gedächtnis verfügbar geblieben ist. Einer in der Gegenwart und damit allein der Realität zu beobachtenden und zu beurteilenden Situation sind jene stets nur ähnlich, und diese w i r d in bezug auf die sie konstituierenden Umstände nicht aus der Gegenwart heraus, sondern aus dem durch „früher" erfahrene Situationen geleiteten Interesse beurteilt, daher kann eine gegenwärtige Situation s nur durch die Festsetzung klassifiziert werden, daß es sich um eine Situation der Art Si oder s2 handelt 24 . Diese Überlegungen stehen mit den Auffassungen Th. Geigers insofern im Einklang, wenn er auf der einen Seite anführt, Bedeutungs- und Geltungsumfang grenzten sich selbst - und zwar erst - mit jeder Anwendung fließend ab, und zum anderen eine gegenüber der Intention der gesetzgebenden Instanz abweichende Anwendung für möglich hält 2 5 . Da geschieht dann z.B. in der Weise, daß ein im Gesetz verwendeter Begriff - selbst ein „deskriptives" Merkmal - die hier gewünschte Bedeutung erhält, indem in den Urteilsgründen festgestellt wird, der beschriebene Tatbestand falle unter den gesetzlichen Begriff. Dabei wird nicht einmal immer mit sprachlichem Konsens zwischen Gericht und Rechtsgemeinschaft gerechnet. Die Schwierigkeit, die das Problem mit den Vorstudien Th. Geigers bietet, kann ihren Grund in dem von Th. Geiger verwendeten Begriff der Situation haben, in die er weder Gedächtnisspuren und Erwartungen als Realität noch die Fähigkeit der Handelnden H H zum Lernen und zur Synthese einschließt. Er sucht auf der Grundlage der Mneme-Theorie von R. Semon Erklärungen unter der Annahme einer Ekphorie (Auslösung) von 22 P. Chr. Ludz - H.-D. Rönsch, Theoretische Probleme empirischer Geschichtsforschung, in: Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, hrsg. v. Th. Schieder und K. Gräubig, Darmstadt 1977, S. 60 ff. (67), aber auch schon E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1903, S. 169. 23 Vor allem E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Leipzig 1913, Nachdruck 1967, S. 297, wies auf das Auseinanderfallen von rechtserheblichen Tatsachen und Rechtstatbeständen hin; hierzu M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Berlin 1967, S. 23 ff. 24 O. Morgenstern, Logistik und Sozialwissenschaften, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. ν. E. Topitsch, 4. Aufl., Köln 1967, S. 315ff. (332), s.a. K. R. Popper, Forschung, S. 376. 25 Vorstudien, S. 250.
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gleichartigen Situationen und eines entsprechenden Engramms. Er stellt diese Erklärung, die auch in der Verwendung eines Begriffs s offenbar für gleichartige Situationen zum Ausdruck kommt, selbst wieder in Frage. Schließlich verweist er für die Lösimg des Problems auf die sprachliche Konvention, ohne dem synchronen Verlauf der Sprache Rechnung zu tragen. Auch wenn Th. Geiger sich mit der Kategorie der Zeit nicht näher auseinandersetzt, liegt seinen Vorstudien eine zeitmetrische Betrachtungsweise zugrunde. Das wird aus der Verwendung des Modells s —> g ebenso deutlich wie aus dem Verständnis einer sich durch Abgrenzung erst in ihrer Bedeutung und Geltung abgrenzenden Wortform und aus dem Beispiel der Ehe für eine Situation, die „geschlossen 1910" etwas anderes sei als „geschlossen 1940". Auch bei den Positivisten weisen - von den ausdrücklichen Hinweisen auf das Zeitkontinuum abgesehen - schon die verwendeten Begriffe der „Logik" und der „Ableitung" auf eine ähnliche betonte zeitmetrische Grundlage von Beobachtung und Erklärung hin. Das ist nicht die einzig mögliche Grundlage wissenschaftlicher Tätigkeit, nicht einmal unter Beachtung positivistischer Maximen. Die Überprüfbarkeit von Basissätzen beruht auf der Beobachtung der Wirklichkeit. Die Art der Beobachtung ist aber vom Forschungsziel und damit vom Forschungsansatz abhängig. Hierbei können entweder unter einer großen Anzahl aufeinander einwirkender Ursachen diejenigen, die für die Theorie von Interesse sind, ausgewählt, getrennt beobachtet werden - pointierend hervorhebende Abstraktion nennt es W. Eucken 26 - oder aber es w i r d versucht, möglichst alle Umstände einer bestimmten Situation in Betracht zu ziehen, die untersucht werden soll 2 7 . Bei beiden Verfahren w i r d die Frage der Beziehung zwischen Beobachter und der - nur in der Gegenwart - gegebenen Realität zwar nicht ausdrücklich gestellt. Ein Unterschied in der Beziehung zur „Zeit" läßt sich aber insofern feststellen. Die Untersuchung möglichst vieler oder aller Umstände einer bestimmten Situation - wie immer sie zu verstehen ist - hat der „gegenwärtigen" Realität mehr Beachtung zuzuwenden als die Beobachtung einzelner Ereignisse und ihrer ursächlichen Wirkungen. Diese lassen sich nur mit dem „Ablauf" der Zeit beobachten. Für ein Forschungsprogramm der Soziologie, die sich mit mehr „gleichzeitig" wirkenden Einheiten - Personengruppen, Gesellschaften - befaßt, erscheint daher das Verfahren der „pointierend hervorhebenden Abstraktion" dem Gegenstand weniger äquivalent als den Naturwissenschaften. 26 W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin, 7. Aufl., 1959, S. 70, 168 f., 226 f. 27 M. Weber, Kritische Studien zur kulturwissenschaftlichen Logik, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. erw. Aufl. Tübingen 1968, S. 215 ff. (S. 282 Nr. 1), S. 281, ders., Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, ebenda, S. 146 ff., S. 181 und 191.
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Die notwendige Ergänzung des Normmodells Th. Geigers legt es daher nahe, theoretische Versuche in Betracht zu ziehen, die der in den Sozialwissenschaften stärker gebotenen Berücksichtigung möglichst vieler oder aller Umstände einer bestimmten Situation eher Rechnimg tragen.
V m . Der Weg der Feldtheorie Die Durchführung von Forschungsvorhaben i n der Soziologie nach der „pointierenden Abstraktion" stößt dadurch auf Schwierigkeiten, daß für das Nacheinander einzelner Ereignisse gleichsam in der zeitmetrischen Vertikalen keine Klassen von Begriffen mit konsistenten Bedeutungen zur Verfügung stehen. Derartige Begriffe werden in einem dem Wandel unterworfenen Bereich, in dem sich sämtliche Phänomene - ausgenommen jene der Objekte der Dingwelt - verändern, vor allem für Faktoren anzutreffen sein, die diesen Wandel der beobachtbaren Realität selbst bewirken, sofern die Bedeutung der für diese Wirkung, ihre Richtung oder ihre Stärke anzutreffenden Begriffe nicht ihrerseits an jener Veränderung teilnimmt. Bei der Suche nach derartigen Entitäten hat sich die Beobachtung der gegenwärtigen Realität dieser in der Weise zuzuwenden, daß - i m Interesse der anders nicht zu gewährleistenden Konsistenz der verwendeten Begriffe alle Umstände eines sozialen Zusammenhangs i n der Zeitebene in Betracht zu ziehen sind. Auch die diachrone Beobachtung mit dem Ziel, so vollständig wie möglich alle Umstände eines - gegenwärtigen - Zusammenhangs zu erfassen, w i r d allerdings vom Interesse gelenkt, und die Wirklichkeit gliedert sich mit den sich aus den im vorangegangenen ergebenden Vorbehalten mit der Sprache 1 . Für die Untersuchung von Beziehungen in einer diachron zu beobachtenden Wirklichkeit w i r d verbreitet der Begriff des Feldes verwendet, auch wenn nicht immer von seiner einheitlichen Bedeutung ausgegangen wird 2 . Nach A. Einstein nennt man ein Feld eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden 3 . Dem Problem gleichzeitig bestehender, voneinander abhängiger psychischer Tatsachen hat sich K. Lewin i n der von ihm begründeten Feldtheorie zugewendet, die er schließlich auch auf die Sozialwissenschaften ausgedehnt hat. 1 W. Schuppe: Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894, S. 41: „Womit das Denken des Individuums beginnt, das sind Gesamteindrücke, welche erst die Reflektion in ihre einfachsten Elemente zerlegt." 2 u.a. K. R. Popper, Logik der Forschung, Nr. 38, S. 91; K. Lewin, Feldtheorie in den Sozialwissenschaften (zit.: Feldtheorie), Bern 1963, letztlich liegt der Annahme von Wortfeldern in der Linguistik nichts anderes zugrunde. 3 Nach einem Hinweis bei K. Lewin, Feldtheorie, S. 273, auf A. Einstein, Zur Methode der theoretischen Physik, in: Mein Weltbild, Amsterdam 1934. Im Nachdruck der 2. Aufl. 1953, Zürich 1953, S. 204 ff. findet sich diese Definition nicht.
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VIII. Der Weg der Feldtheorie
Wie im Recht, so stellt sich auch in der Psychologie - und vor allem dort die Frage nach der Reproduzierbarkeit bestimmter Ereignisse. Als angewandter Disziplin liegt es für die Psychologie nahe, dieses Problem i n Verbindung mit experimentellen Untersuchungen zu lösen 4 , ein Weg, den auch K. Lewin eingeschlagen hat, so daß es sich schon unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt, auf seine Theorie in Hinsicht auf die hier behandelten Fragen näher einzugehen. K. Lewin hebt hervor, daß es nicht Aufgabe der Soziologie oder der Psychologie sein könne, die „historische" Seite ihrer Probleme zu eliminieren 5 . Ein feldtheoretischer Ansatz könne im Gegenteil nicht umhin, den historischen Charakter jeder Gegebenheit und ihre besonderen historischen Bedingungen zu berücksichtigen. Mit dem Hinweis auf historische Bedingungen von Ereignissen trägt Lewin dem Umstand Rechnung, daß psychologische und soziologische Felder Begriffe sind, die den Besonderheiten eines sich im ständigen Wandel befindlichen Forschungsbereichs zu genügen haben. Bei genauerer Betrachtung sind es zwei Feldtheorien, die K. Lewin vorlegt; eine solche für die Psychologie und eine für die Sozialwissenschaften. Die nahe Verbindung beider Forschungsbereiche miteinander hätte es für den Verfasser nahegelegt, ausschließlich Begriffe einzuführen, die sowohl für die psychologische Theorie als auch für die der Sozialwissenschaften, gegebenenfalls mit entsprechenden Ergänzungen, verwendet werden können. Das ist nicht geschehen. Ohne Berücksichtigung der ursprünglich allein psychologischen Grundlagen ist die von K. Lewin für die Sozialwissenschaften entwickelte Feldtheorie für sich allein nicht darzustellen. Auf seine Grundlagen ist hier schon deshalb einzugehen, weil sich Th. Geiger ebenfalls mit der Situation einzelner im Normvollzug auseinandersetzt und hierbei auch psychologische Fragen berührt. Außerdem finden sich die Beiträge K. Lewins zur Erkenntnistheorie sowohl in seinen psychologischen al$ auch i n seinen sozialwissenschaftlichen Schriften verstreut. Die Entwicklung und Entstehung der Feldtheorie ist nicht von den gestalttheoretischen Grundlagen in der psychologischen Theorie, wie sie vor allem seit 1890 von Chr. v. Ehrenfels 6 , M. Wertheimer 7 , W. Köhler 8 und K. Koffka 9 4 Über die Probleme der Wiederholbarkeit sozialer Situationen im Experiment R. Pagés, Das Experiment in der Soziologie, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. v. R. König, I. Bd., 2. Aufl., Stuttgart 1967, S. 415 ff. (440ff.); W. Stroebe, Das Experiment in der Sozialpsychologie in: Sozialpsychologie, hrsg. v. W. Stroebe, I. Bd. Interpersonale Wahrnehmung und soziale Einstellungen, Darmstadt 1978, S. 3 ff. 5 K. Lewin, Feldtheorie, S. 183. 6 Chr. v. Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten in: Gestalthaftes Sehen, hrsg. v. F. Weinhandl, Darmstadt 1960, S. 11 f.
VIII. Der Weg der Feldtheorie
entwickelt worden sind, zu trennen. Nicht nur für den wissenschaftlichen Beobachter, sondern für jede Wahrnehmung stellt sich die Frage nach der Gliederung der Wirklichkeit durch Anordnimg von einzelnen Teilen zu einem Ganzen. Namentlich für die Psychologie sollte hierbei gezeigt werden, daß eine mechanisch stückhafte 10 Betrachtung von Erscheinungen nicht ausreicht, um psychische Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und zu erklären. Die Annahme der Gestaltpsychologie, daß das Ganze - qualitativ - mehr als die Summe seiner Teile 1 1 sei, hat i n der Soziologie alsbald zu einer Ubertragung auf Eigenschaften von Gruppen oder Gesellschaften geführt, denen andere Qualitäten zugesprochen wurden als der Summe ihrer Glieder 12 . Die Eigenschaften eines Gebildes haben ihren „Ursprung in der Gruppierung und Anordnung der Teile in größeren Bereichen bzw. in der Form oder Gestalt dieser Bereiche selbst und gehören zu ihrem eigentlichen Wesen. Daher der Name Gestalt-Qualitäten" 13 . Diese auch von K. Lewin vorausgesetzte Annahme kann auf das hier zu behandelnde Problem der Wahrnehmung und damit auch der Beobachtung außer Betracht bleiben. Auch i n der Gestalttheorie w i r d ein „Feld" oder „Umfeld" angenommen, indem „Ich" und „Umgebung" zusammen das Gesamtfeld bilden, das entweder zu einem i n bezug auf Ich und Umgebung annähernd koordinativen, zu ich-akzentuiertem oder aber zu umgebungsakzentuiertem Erleben führen kann 1 4 . Die Wahrnehmungslehre hat es jedoch nicht nur mit räumlich ausgedehnten Trägern zu tun, ebenso kommen zeitlich ausgedehnte Träger i n Betracht. 7 M. Wertheimer, Gestaltpsychologische Forschung, in: Einführung in die neuere Psychologie - Handbücher der neueren Erziehungswissenschaft, hrsg. v. E. Saupe, 2. u. 3. Auflage, Bd. 3, Osterwieck 1927. 8 W. Köhler, Die Aufgabe der Gestaltpsychologie mit Einführung von C. C. Pratt, Berlin 1971. 9 K. Koffka, Principles of Gestalt Psychology, New York 1935. 10 M. Wertheimer, S. 46 ff. (48). 11 Das erste Ehrenfelskriterium wird keineswegs einheitlich definiert. W. Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, Braunschweig 1920, S. 35 f.: „Wenn wir die Reize (Töne, Lichter usw. im physikalischen Sinn), welche, insgesamt auf einen Menschen wirkend, z.B. eine Melodie, eine phänomenale Raumgestalt usw. hervorbringen, anstatt auf das eine Individuum einzeln auf ebenso viele Individuen einwirken lassen, wie ihre (der Reize) Anzahl beträgt, so ist die Summe der Erlebnisse dieser vielen Menschen ärmer als das Erlebnis des einen. Das, was die Reizvielheit für ein Bewußtsein mehr hervorbringt, als in der Summe von Einzelindividuen durch die einzelnen Reizwirkungen zusammen entsteht, sind die spezifisch gestaltmäßigen Erlebniseigenschaften. " 12 H. Paul, Gestalttheorie und Sozialpsychologie, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. v. W. Bernsdorf, Stuttgart 1969, S. 367. 13 W. Metzger, Gesetze des Sehens, Frankfurt/M. 1953, S. 7, demgegenüber die Annahme eines „Systems der wechselseitigen Determination" bei K. Greiling u. P. Oppenheim. Der Gestaltbegriff im Lichte der neuen Logik, in Erkenntnis, hrsg. v. R. Carnap u. H. Reichenbach, Bd. 7 (1938) S. 220. 14 E. Rausch, Das Eigenschaftsproblem in der Gestalttheorie der Wahrnehmung in Hdb. der Psychologie, hrsg. v. K. Gottschaidt u. a. Bd. I Allgemeine Psychologie hrsg. v. W. Metzger, Göttingen 1966, S. 873.
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V . Der Weg der Feldtheorie
Wenn man jedoch - wie bereits früher definiert - ein Feld eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen nennt, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden, so kann von einem Gesamtfeld der Wahrnehmung allenfalls bei räumlich ausgedehnten, d.h. diachron beobachtbaren Trägern die Rede sein, nicht dagegen bei zeitlich ausgedehnten, also synchron verlaufenden Trägern, wie es z.B. Melodien, Bewegungen, Handlungen, aber auch - möglicherweise - die Sprache sind. K. Lewin setzt sich zwar i n seiner Feldtheorie mit dem Problem der Realität oder der Wirklichkeit nicht ausdrücklich auseinander. Die grundlegende Annahme eines „diachronischen Schnitts" oder „Momentschnitts" 15 , wie er ihn nennt, setzt die früher behandelte Beziehung zur Realität aber voraus. In diesem „Prinzip der Gegenwärtigkeit" ist das „Ziel des Handelns" 16 , das mit den früher behandelten Erwartungen i n engem Zusammenhang steht - als psychologisches Faktum eine „wirklich existierende psychologische Tatsache", die einen wesentlichen Bestandteil des gegenwärtigen Lebensraumes ausmacht. Dagegen ist der „Inhalt" des Zieles als „objektives" soziales oder physikalisches Geschehen ein zukünftiges „Ereignis" 1 7 . Entsprechendes gilt für die Vergangenheit. Wirklichkeit ist was w i r k t 1 8 , aus dieser Erklärung w i r d deutlich, daß eine Strukturierung der Realität vor allem durch Kräfte angenommen wird. Die Feldtheorie besteht daher darauf, daß die Herleitung des Verhaltens aus der Vergangenheit metaphysisch ist, da vergangene Ereignisse jetzt keine Wirkimg haben können. Die Wirkung der Vergangenheit auf das Verhalten kann nur indirekt sein. Das vergangene psychologische Feld ist einer der Ursprünge des gegenwärtigen Feldes, doch beeinflußt nur dieses das Verhalten 1 9 . Das kann auch i n Forschungsbereichen nicht anders sein, i n denen motiviertes Handeln die Einbeziehung von Kategorien der Vergangenheit und Zukunft als eine i n der Vorstellung von Personen zu erforschende Wirklichkeit verlangt 20 . „Existenz oder Nichtexistenz und die Zeitlage eines psychischen Faktums sind unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz 15 K. Lewin, Grundzüge der topologischen Psychologie (zit.: Grundzüge), übertragen und hrsg. v. R. Falk und F. Winnefeld, Bern 1969, S. 55. 16 K. Lewin, Grundzüge, S. 57. 17 K. Lewin, Grundzüge, S. 57. 18 K. Lewin, Grundzüge, S. 41. 19 K. Lewin, Feldtheorie, S. 105. 20 K. Lewin, in: Grundzüge, S. 41: „Hier wird wie in vielen anderen Punkten deutlich, daß man auch in der Psychologie die „Erscheinungsweise" von der dahinterstehenden Wirklichkeit in einem dynamischen Sinne unterscheiden muß." Ders., in: Die Lösung sozialer Konflikte (zit.: Konflikte), 3. Aufl. 1968, Bad Nauheim, S. 94: „Versuche auf dem Gebiet des Gedächtnisses und der Macht der Gruppe über das Individuum zeigen, daß das, was für das Individuum als »Wirklichkeit' existiert, zu einem hohen Grad davon abhängt, was in der Gesellschaft als Wirklichkeit gilt. Das stimmt selbst auf dem Gebiet des Physikalischen: Für den Südseeinsulaner mag die Welt flach sein; für den Europäer ist sie rund,,Wirklichkeit' ist daher nichts absolutes, sie ändert sich mit der Gruppe, zu der das Individuum gehört.
V . Der Weg der Feldtheorie
und der Zeitlage des Faktums, auf das es sich inhaltlich bezieht 21 ." Dabei bedeuten Verschiedenheiten der Zeitbestimmungen und der existentiellen Eigentümlichkeiten des Inhalts eine qualitative Differenzierung der psychischen Fakten selbst 22 . Soweit K. Lewin sich mit den Problemen der Sprache auseinandersetzt, geschieht dies nicht unter dem Gesichtspunkt der Objektsprache, sondern als einem zu erforschenden Teil der Realität. I n bezug auf das Verhältnis der Sprache zur Zeit schreibt er i m Hinblick auf den Momentschnitt: „Andernfalls könnte nur eine bestimmte Mund- und Körperhaltung festgestellt werden; mit einer solchen Charakterisierung des ablaufenden Prozesses w i r d sich aber der Psychologe gewöhnlich nicht zufrieden geben. Er w i l l vielmehr wissen, ob dieses „a" zum Wort „kann", „Apfel" oder zu irgendeinem anderen Wort gehört 23 ." Den sich hiernach für die Objektsprache ergebenden Folgerungen geht er nicht weiter nach und führt zu diesen nur aus, daß gleichwertig und mit der Ermittlung der Gesetze unlösbar verknüpft die Aufgabe bestehe, konkrete Situationen so darzustellen, daß aus ihnen nach den durch die allgemeinen Gesetze gegebenen Prinzipien das wirkliche Geschehen begrifflich abgeleitet werden könne 2 4 und fährt fort: „Die gewöhnliche „Beschreibung" einer Situation bietet diese Möglichkeit nicht. Die Aufgabe kann i n der Tat nur mit Hilfe einer konstruktiven Darstellung der Situation gelöst werden 25 ." Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Situation ist jedoch nicht mit dem von Th. Geiger eingeführten inhaltsgleich. Die epistomologisch zulässigen Begriffe verlangen nach K. Lewin erstens, daß sich aus ihnen eindeutig Geschehnisse als möglich oder unmöglich ableiten lassen. An die Stelle von klassifikatorischen müssen nach K. Lewin konstruktive Begriffe treten, die unmittelbare Beziehungen zu den Gesetzen haben 26 , zweitens müssen sich wirklich alle vorkommenden Verhaltens21
K. Lewin, Grundzüge, S. 57. K. Lewin, Grundzüge, S. 58. 23 Feldtheorie, S. 93. 24 Feldtheorie, S. 195: „ Z u häufig hat der Psychologe bei dem Versuch, objektiv zu sein, vielmehr die grammatikalische Form des Satzes oder die physikalische Form des Verhaltens als ihre soziale Bedeutung zum Kriterium gemacht." 25 Grundzüge, S. 31. 26 Hierzu die Überlegungen von J. v. Kempski, Zur Logik der Ordnungsbegriffe, besonders in den Sozialwissenschaften, in: Theorie und Realität, hrsg. v. H. Albert, Tübingen 1964, S. 109 ff. In der Jurisprudenz tritt der übrigens auch von K. Lewin verwendete Begriff des „Typus" als Geschehenstyp in den Vordergrund, u.a. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin 1979, S. 200 ff., D. Leenen, Typus und Rechtsfindung, Berlin 1971, R. Zippelius, Der Typenvergleich als Instrument der Gesetzesauslegung in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, hrsg. v. W. Maihofer und H. Schelsky, Bd. II, Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Bielefeld 1972, S. 482 ff., J. Tiemeyer, Zur Methodenfrage der Rechtssoziologie, Berlin 1969, S. 67 ff., entsprechendes gilt für die Historiographie mit den gleichen ungelösten Problemen, u. a. B. Zittel, Der Typus in der Geschichtswissenschaft in: Studium Generale Bd. V (1952), S. 378 ff. 22
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V . Der Weg der Feldtheorie
weisen aus der Darstellung des Lebensraumes 27 ableiten lassen, drittens muß von dem Lebensraum als von einem Ganzen ausgegangen werden und viertens verlegt sich dadurch der Schwerpunkt der Untersuchung und Begriffsbildung von Objekten auf das Geschehen28. In diesem Zusammenhang unterscheidet die psychologische Feldtheorie zwischen Gebilden und Geschehnissen. Bei diesen Entitäten besteht die Aufgabe einer phänotypischen und einer konditional-genetischen Bestimmung, die letztere, zu der auch Zustandstypen zählen, ist das, was als Gesetz bezeichnet wird. Der konditional-genetische Geschehenstypus - den auch die Gestalttheorie übernommen hat 2 9 - soll - wie K. Lewin hervorhebt - nicht als etwas phänomenal Eindeutiges, Starres charakterisiert werden, sondern nur mit Hilfe eines Inbegriffs von Verhaltensweisen - der übrigens auch bei Th. Geiger bei der Definition der Situation s auftritt 3 0 . In der Verwendung dieses Begriffs treten die mit einem Inbegriff von Verhaltensweisen verbundenen heuristischen Probleme klar zutage 31 . Dabei gilt es, eine konkrete psychische Situation so darzustellen, daß die dynamischen Eigenheiten des Ganzen gerade dieser Situation in ihrer besonderen Konstellation voll wiedergegeben werden; und damit, „die konkrete Aufbaustruktur der psychischen Person, ihre inneren dynamischen Fakten einer wirklichen Abbildung zu unterziehen" 32 . Damit stellt sich die Frage, wie sich eine feldtheoretische Situation darstellen läßt. Deutlich geworden ist nach dem Vorangegangenen angesichts der unterschiedlichen epistemologischen Grundlagen von Th. Geiger und K. Lewin, daß der von beiden verwendete Begriff der Situation dem Inhalt nach identisch nicht sein kann 3 3 . Dennoch rechtfertigen die für die Bestimmung einer Situation i m Sinne der Theorie Th. Geigers gezeigten Schwierigkeiten eine Überlegung, wo die Unterschiede im einzelnen liegen, ob sie unüberbrückbar sind und, sofern das nicht der Fall ist, ob die Grundlagen der Feldtheorie in der Normtheorie Th. Geigers weiterführen können. Bei der Bestimmung der Größeneinheit einer Situation der Feldtheorie für die Beobachtung ist es - und eine solche Klärung erscheint auch bei 27 Lebensraum ist nach K. Lewin die Gesamtheit der Tatsachen, die das Verhalten V eines Individuums in einem gegebenen Augenblick bestimmen. Der Lebensraum enthält die Person Ρ und die Umwelt. Er kann durch einen begrenzt strukturierten Raum dargestellt werden. 28 Grundzüge, S. 38. 29 E. Rausch, S. 870. 30 Th. Geiger, Vorstudien, S. 247. 31 K. Lewin, Gesetz und Experiment in der Psychologie, in: Symposion, Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache Bd. 1 (1927), Nachdruck Darmstadt 1967, S. 414 (415). 32 K. Lewin: Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise, in: Biologie und Psychologie (1930/31), Nachdruck Darmstadt 1971, S. 45. 33 Obgleich in einer der letzten Arbeiten Geigers von einer sozialen Entität (die politische Partei) nicht mehr als von einem Intégrât, sondern als von einem Prozeß die Rede ist. Th. Geiger, Soziologie, S. 97.
VIII. Der Weg der Feldtheorie
Th. Geiger geboten - notwendig, eine die Situation einschließende Handlung eindeutig zu bestimmen. Das Ergebnis hängt regelmäßig von der Beobachtungsdauer 34 ab, das heißt, eine adäquate psychologische Beschreibung der Natur und Richtung eines ablaufenden Prozesses „kann und muß" auf verschiedenen mikro- und makroskopischen Ebenen erfolgen 35 . Jeder „Größenordnung von Verhaltenseinheiten" kann eine entsprechende „Größenordnung der Situation" zugeordnet werden 36 . Jedes Verhalten oder jede sonstige Veränderimg innerhalb eines psychologischen Feldes ist - nach einem der Hauptsätze der Feldtheorie aber - „einzig und allein vom Feld in dieser Zeit abhängig" 37 . Wie schon an früherer Stelle hervorgehoben, w i r d die Strukturierung der Wirklichkeit des Feldes vor allem durch energetische Entitäten angenommen. Dem w i r d bei der Bildung der für die Beobachtung eingeführten Konstrukta dadurch Rechnung getragen, daß anstelle von „objektiven" soziologischen oder physikalischen Kategorien „psychologische" verwendet werden sollen 38 . Die Konstrukta sind ferner so zu bilden, daß sie unter Wahrung des Bezuges zur Wirklichkeit dem formalen System, das sie miteinander verbindet, durch entsprechende Definitionen strukturidentisch sind und schließlich, daß sie die Messung psychologischer Vorgänge zulassen 39 . U m die geforderte Quantifizierung der beobachteten Tatsachen und Geschehen zu fördern, verwendet K. Lewin bevorzugt mathematische Symbole und verweist auf mathematische Verfahren, indem er vektorielle Konstrukta für gerichtete Kräfte einführt und Begriffe der topologischen Mathematik übernimmt, die sich mit den qualitativen Lageverhältnissen von Regionen beschäftigt. Da ihm der topologische Raum jedoch zu „allgemein" erscheint, um dynamische psychologische Probleme abzubilden, welche die außerdem von ihm verwendeten Begriffe der „Richtung", der „Entfernung" und der „Kraft" einschließen, geht er neben dem „Lebensraum" als einer „spezifischen psychologischen Geometrie" 40 von einem hodologischen Raum aus. Bei jenem hodologischen Raum handelt es sich hiernach um ein psychologisches Modell, mit dem über soziale Kategorien, wie sie im vorliegenden Zusammenhang mit - den Normen zuzuordnenden - Situationen in Betracht zu ziehen sind, nichts Näheres gesagt wird. Tatsächlich werden die Bereiche der psychischen und sozialen Welt, die zu einer Zeit den Lebensraum einer 34 35 36 37 38 39 40
Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie,
S. 194. S. 93, 277. S. 94. S. 88. S. 87. S. 80. S. 187.
V . Der Weg der Feldtheorie
74
Person nicht beeinflussen, nicht als Teil des psychologischen Feldes - zu dieser Zeit - angesehen41. Dem hiernach auszuscheidenden Bereich gilt jedoch weiterhin das Interesse des Forschers für den Fall, daß jene Bereiche insoweit relevant werden können, um die Zukunft abzuschätzen. Diese Aufgabe läßt sich als das Herausfinden jener psychischen oder sozialen Welt charakterisieren, die zu jeder Zeit die „Grenzzone" des Lebensraumes determinieren wird. Lewin spricht hierbei von „psychologischer Ökologie" 42 . Der für die Abbildung des psychischen Geschehens dienende „hodologische Raum" ist i n Regionen eingeteilt, denen bestimmte Bedürfnisse und Ziele der Person zugeordnet werden. Räumliche Beziehungen von Regionen sind der „Ort", wobei zu dieser Begriffsdimension psychologische Begriffe wie Gruppenzugehörigkeit eines Individuums, berufliche Stellung, Eingeschaltetsein i n den Arbeitsprozeß gehören können. Der Bezug zwischen Orten verschiedener Zeit, der als psychische Ortsveränderung dargestellt werden kann, fällt unter den Begriff Lokomotion. Diese w i r d durch das vektorielle Konstruktum der „Kraft" bewirkt, die auch als Tendenz zur Lokomotion definiert wird. Die Anordnimg von Kräften i m Raum, das „Kraftfeld" w i r d vom „Ziel" - i n feldtheoretischer Terminologie die positive Valenz - dann bestimmt, wenn alle Kräfte nach derselben Region zielen 43 . Die Größe und das Zusammenspiel der Kräfte innerhalb des psychologischen Kraftfeldes, das heißt die Anordnung von Kräften im Raum, bestimmen das Verhalten der Person 44 . Die Entfernung zwischen zwei Regionen ist die minimale Anzahl von Grenzüberschreitungen auf dem Wege von der gegenwärtigen Tätigkeitsregion zum Ziel. Die Richtung ist mithin identisch mit dem größten dynamischen Gefälle zwischen Ausgangs- und nächstfolgender Region 45 , wie das folgende Beispiel wiedergibt 4 6 :
Fig. 1. Felddarstellung der Bedingungen der Regression (gemäß Freuds Substitutionsthoerie der Regression). Ρ = Person; Z + = ursprüngliches Ziel; Z' = Ersatzziel, auf welches die Person regrediert; Β = Hindernis zwischen Ρ und Ζ + (Barriere); a, ò, c,... Regionen des Lebensraumes; k Pt Z = Kraft i n Richtung Ziel. 41 42 43 44
Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie, Feldtheorie,
S. S. S. S.
100. 101. 82. 82.
VIII. Der Weg der Feldtheorie
Das Gegenstück zur Ausrichtung aller Kräfte nach einer Region, dem „Ziel", hin, ist ihre Ausrichtung von einer Region weg. Letzteres w i r d unter dem Begriff der Abwendung erfaßt. Andere Arten von Kraftfeldern repräsentieren Begriffe wie „Schwierigkeit" oder „Barriere". Konflikte beruhen dagegen nicht auf einem Kraftfeld, sie verweisen vielmehr auf die Überschneidung von mindestens zwei Kraftfeldern, wie sie nachfolgend dargestellt sind 4 7 :
treibende Kraft, hkä^b ist eine hemmende Kraft, ph ist der physische Abschnitt der Barriere B. sl ist der soziale Abschnitt der Barriere
Die gleiche Dimension wie Konflikt hat auch der - später noch eingehender zu behandelnde - Begriff des Gleichgewichts, welcher eine andere bestimmte Konstellation sich überschneidender Kraftfelder darstellt 4 8 . „Werte" sind nicht Kraftfelder, sondern sie „induzieren" Kraftfelder 4 9 . Die hier angeführten Begriffskategorien K. Lewins, die er vor allem i n jener psychologischen Feldtheorie verwendet, lassen sein Bemühen deutlich werden, auf der Ebene einer allein gegenwärtigen Realität die Voraussetzungen für den Ablauf psychischen Geschehens i n „Feldern" wirkender „Kräfte" darzustellen. Dabei begreift er ein Feld durchaus i n dem früher wiedergegebenen Sinne als eine Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig, zu sehen sind. M i t den hier angeführten sachlichen Bereichen der Feldtheorie hat sich Th. Geiger nicht auseinandergesetzt. Auf der einen Seite, weil er eine soziologische Theorie vorlegt, i n der Soziales durch Soziales zu erklären ist 5 0 , auf der anderen Seite, weil die Motivation seiner Handelnden HH beim Normvollzug für ihn .ohne Interesse ist. Eine Voraussetzung der Theorie Geigers, die i n seiner Theorie zu den hier behandelten Schwierigkeiten geführt hat. 45 46 47 48 49 50
Feldtheorie, S. 26. Feldtheorie, S. 130. Feldtheorie, S. 296. Feldtheorie, S. 83. Feldtheorie, S. 84. E. Durkheim, S. 193 f.
76
VIII. Der Weg der Feldtheorie
Auch K. Lewin verwendet, wie wir gesehen haben, den Begriff der Situation vor allem als psychologische Situation. Für die topologische Struktur der psychologischen Feldtheorie ist eine psychologische Situation maßgebend, die durch die Zeitperspektive in Vorund Rückschau bestimmt wird. Bei der Darstellung der „Zeitperspektive" setzt sich K. Lewin der Gefahr aus, seinen eigenen Realitätsbegriff aufzugeben, den er nicht immer folgerichtig anzuwenden vermag. Stellt sich Vor- und Rückschau als der gegenwärtigen Realität zugehörig dar, so w i r d für die Wiedergabe der Situation nicht mehr die Diachronie, der „Momentschnitt", sondern eine „Periode" eingeführt. Mit dieser werden allerdings die sich aus einer Situation ergebenden Wirkungszusammenhänge zwischen Vor- und Rückschau und Ablauf der Situation in ihrer Differenziertheit nicht voll erfaßt. Der Verfasser führt hierzu aus 51 : „Übrigens w i r d man die einzelnen Zeitschnitte nicht als völlig ausdehnungslos zu betrachten haben, sondern als zeitliche Differenzialschnitte." Für sie verwendet er an anderer Stelle den Begriff der „Periode" 52 und stellt sie in der nachfolgenden Weise dar. Die Gefahr, den eingeführten Realitätsbegriff durch die Annahme von „Perioden" wieder aufzugeben, zeigt sich, wenn er zur Situation unter Hinweis auf eine der Fig. 3 entsprechenden Darstellung allgemein ausführt 53 : „Vielleicht ist es nützlich, für einen Augenblick das Vorgehen der Physik in Erinnerung zu rufen. Die vertikalen Linien auf der abgebildeten Figur stellen die sogenannten physikalischen „Weltlinien" dar. Ein Schnitt durch diese Linien zu einem gegebenen Zeitpunkt t bedeutet also eine Situation." Das hier unter Fig. 3 abgebildete Modell eines geschlossenen Systems w i r d für eine psychisch abstrakte Situation ohne konkreten, tatsächlichen Anhalt verwendet. Bei näherer Betrachtung w i r d deutlich, daß K. Lewin i m Interesse der Anschaulichkeit bei der Darstellung des Wandels mit der Einführung der zeitmetrischen Dimension die eigenen, von ihm entwickelten wissenschaftstheoretischen Grundlagen und damit den von ihm verwendeten Realitätsbegriff verläßt. Das könnte für die Fruchtbarkeit der Theorie folgenlos bleiben, wenn er sich dessen klar bewußt ist. Das steht im Zweifel. Unabhängig von diesem Problem der Darstellung w i r d die mit einer solchen Figur wiedergegebene Situation auch für eine Norm-Situation in Betracht kommen, indem nach K. Lewin das psychische Feld von i n einer Normsituation handelnden HH in dieser Weise strukturiert angenommen 51
Grundzüge, S. 55. K. Lewin, Feldtheorie, S. 92: „Eine Situation zu einer gegebenen Zeit ist in Wirklichkeit nicht eine Situation ohne zeitliche Dauer, sondern stellt eine bestimmte Periode dar." Den Begriff der Periode verwendet er, soweit ich sehe, nur in Zusammenhang mit dem aufgeführten Beispiel, nicht mehr an anderer Stelle. 53 Feldtheorie, S. 92. 52
VIII. Der Weg der Feldtheorie
Fig. 3. Von t-n bis t + η ist S ein „geschlossenes System"; doch ist S nicht genau identisch mit S'. s t i t + A t ist eine kleine Zeit-Feld-Einheit, die sich über einen relativ kleinen Bereich erstreckt und die relativ kurze Zeitdauer von t bis t + Δ t einschließt. S t ( t + j ' t ist eine größere Zeit-Feld-Einheit, erstreckt sich über einen größeren Bereich und schließt die längere Zeitdauer von t bis t + Δ ' t ein. ps und ps zeigen den Positionswechsel von χ während der kleinen beziehungsweise der großen Zeiteinheit an.
wird. Die feldtheoretisch vorausgesetzte Realität ist unter Einbeziehung der Riemannschen Weltlinien - jedenfalls als mehrfacher Zeitschnitt - nicht darstellbar. Die hier nur in den Grundzügen wiedergegebene psychologische Feldtheorie ist von K. Lewin als ein geschlossenes, auf jedes psychologische Ereignis übertragbares Modell, nicht vollständig entwickelt worden. Vor allem fehlt es an einer klaren Angabe der Wirkweise der von ihm selbst in der Realität des Feldes angenommenen Gedächtnisleistungen und Erwartungen i n Beziehung zum Umfeld. Am eingehendsten widmet K. Lewin sich diesem Problem bei der Erweiterung der psychologischen Theorie auf soziologische Fragestellungen in
78
VIII. Der Weg der Feldtheorie
bezug auf den Lebensraum, indem er allerdings Modell und Begriffsapparat aus der psychologischen Theorie noch beibehält. Bei der Lösung individualpsychologischer Fragestellungen i m Hinblick auf soziale Zusammenhänge lassen sich mehrere Wege einschlagen. Einmal lassen sich Vorhersagen über das Verhalten von Individuen aus ihren Lebensläufen bei Berücksichtigimg kultureller und sozialer Besonderheiten besser treffen. „Dieser Gesichtspunktwechsel von der Geschichte der Gruppe zu derjenigen des Individuums läßt sich als Ubergang aus der Soziologie i n die Psychologie verstehen 54 ." Zum anderen bietet sich ein Übergang von der Psychologie zur Soziologie über die Erforschung der Kleingruppe und der sich hier überschneidenden Lebensräume an. K. Lewin stellt diese Lebensräume für eine Ehe wie folgt dar, wobei er bereits hier von einem sozialen Feld spricht, ohne die besonderen Merkmale eines solchen - nur auf individuellen Lebensräumen beruhenden - i m einzelnen zu entwickeln 5 5 : Lebensraum des Ehemannes zum Zeitpunkt 1
Lebensraum der Ehefrau zum Zeitpunkt 1
Lebensraum des Ehemannes zum Zeitpunkt 2
Lebensraum der Ehefrau zum Zeitpunkt 2
intendierte Lokomotion erwartete Lokomotion
erwartete Lokomotion intendierte Lokomotion
Fig. 4. Die Lebensräume von Ehemann und Ehefrau und das soziale Feld, das beide enthält.
Neben diesen geschilderten beiden Wegen findet der Begründer der Feldtheorie einen dritten zur Soziologie über die Konfliktforschung. Einer der wichtigsten Faktoren für die Häufigkeit von Konflikten ist nach K. Lewin das allgemeine Spannungsniveau, in dem die Person oder Gruppe lebt und das er insoweit auch als Konstruktum in der Psychologie verwendet 56 . Von 54 Feldtheorie, S. 208. Feldtheorie, S. 231; ausführlicher in: Konflikte, S. 140 ff. 56 K. Lewin u.a., in: Feldtheorie, S. 54: „Annahme 1: der Vorsatz, ein bestimmtes Ziel Ζ zu erreichen, (eine nach Ζ hinführende Handlung auszuführen), entspricht einer Spannung (s) in einem bestimmten System (Sz) innerhalb der Person (P), wobei 55
V . Der Weg der Feldtheorie
diesem oder von der sozialen Atmosphäre hängt weitgehend ab, ob ein bestimmtes Ereignis zu einem Konflikt führt. Anlässe hierzu können der Grad sein, i n dem sich die Bedürfnisse einer Person i m Zustand des Hungers oder der Sättigung befinden, ferner der Umfang des Raumes freier Bewegung, den eine Person hat oder die äußere Barriere, das heißt die mangelnde Freiheit, einer Person auszuweichen. Innerhalb dieser Gruppe hängen Konflikte von dem Grade ab, i n dem sich die Ziele der Mitglieder gegenseitig widersprechen 57 . Die sich gegenseitig widersprechenden Ziele behandelt K. Lewin sowohl i n der Psychologie als auch in der Soziologie auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichgewichts. Dieses kann daher auch für eine soziale „Situation" und die Abhängigkeit der Bestimmung ihrer Merkmale vom sozialen Wandel, das heißt für die soziale Gruppe und der hier wirkenden Kraftfelder von Bedeutung sein. Eine solche soziale Gruppe w i r d als „soziales Feld" i n der Weise angesehen, „daß ein soziales Ergebnis als das Ergebnis einer Gesamtheit von gleichzeitig bestehenden Gegebenheiten wie Teilgruppen, Mitglieder, Barrieren, Kommunikationswege usw." 5 8 betrachtet wird. Eine der Haupteigenschaften dieses Feldes sind die Lagebeziehungen der Gegebenheiten, die Teile des Feldes sind. Die relative Lage stellt die Struktur der Gruppe und ihre ökologischen Bedingungen dar. Außerdem drückt sie die grundlegenden Möglichkeiten für die Lokomotion innerhalb des Feldes aus 59 . Neben jenen Gegebenheiten wie Teilgruppen, Barrieren, möglicherweise auch Kommunikationswegen werden von K. Lewin zur Strukturierung sozialer Gruppen „Kanäle" eingeführt, i n denen bestimmte Pfortenbereiche angenommen werden. An diesen Pforten, die von Individuen oder Gruppen - „Pförtnern" - beherrscht werden 60 , erfolgt der soziale Wandel in einer Gruppe, der häufig auf Veränderungen der Kräftekonstellationen i n diesen Bereichen beruht. Im Rahmen dieser strukturellen Voraussetzungen, die sich allerdings vor allem i n bezug auf die „Kanäle" nur schwer mit dem von K. Lewin zugrunde gelegten Verständnis der Realität i n Einklang bringen lassen, soll sich das Geschehen i n der Gruppe - i n Anlehnung an den i n der Physik verwendeten, von der Gestalttheorie 61 übernommenen Begriff - als „quasi-stationärer Prozeß" im Gleichgewicht vollziehen. s (Sz) > 0. Diese Annahme ordnet ein dynamisches Konstruktum (System i n Spannung) einem beobachtbaren Syndrom zu, welches man gemeinhin Vorsatz nennt. Annahme 2: Die Spannung s (Sz) löst sich, wenn das Ziel Ζ erreicht wird, d.h. s (Sz) = 0, wenn PcZ. 57 K. Lewin, Konflikte, S. 134 f. se Feldtheorie, S. 235. 59 Feldtheorie, S. 230. 60 Feldtheorie, S. 221. 61 W. Köhler, 1971, S. 68.
80
VIII. Der Weg der Feldtheorie
Für die Darstellung des Gleichgewichts und der hierbei wirkenden Kräfte in einem sozialen Feld hat K. Lewin am Beispiel der Diskriminierung von Negern in zwei Städten A und Β das nachstehende Diagramm verwendet 62 ,
Fig. 5. Gleichgewichtsniveau und Stärke entgegengesetzter Kräfte, die das Niveau der Diskriminierung i n zwei Städten bestimmen.
um zu zeigen, wie jene Kraftfelder in den quasi-stationären Prozessen wirken. Anstelle der für die Erfassung einer psychischen Situation eingeführten „Periode" treten mit entsprechend geänderter Bedeutung bei der Darstellung sozialer Kraftfelder von Gruppen „Phasenräume" als ein System von Koordinaten, in dem jede Koordinate unterschiedlichen Beträgen der Intensität einer Eigenschaft entspricht. Ein Phasenraum bildet nicht einen Aufriß des Feldes, sondern konzentriert sich auf eine oder wenige Bedingungen. Er stellt mittels graphischer Darstellungen oder mittels Gleichungen die quantitativen Beziehungen zwischen wenigen Eigenschaften, Variablen oder Aspekten des Feldes oder eines Ereignisses dar 6 3 , wie sie i n der Figur 5 wiedergegeben sind. Quasi-stationäre Gleichgewichte, wie sie am Beispiel des durch Aggressionen und Angegriffenwerdens veranlaßten Wechsels eines Individuums, von einer Gruppe zu einer anderen in der nachfolgenden Figur 6 dargestellt sind, 62 63
Feldtheorie, S. 236. Feldtheorie, S. 236.
VIII. Der Weg der Feldtheorie
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Fig. 6. Die Wirkung des Wechsels von einer Gruppe zu anderen.
sind nicht völlig konstant, sondern zeigen Fluktuationen um ein mittleres Niveau N. Veränderungen eines quasi-stationären Prozesses entstehen dann, wenn sich der numerische Wert N, für den die entgegengesetzten Kräfte gleich sind, ändert 6 4 (Fig. 7). In diesem Fall ist die resultierende Kraft auf dem mittleren Niveau gleich Null. Verliert das resultierende Kraftfeld seine Struktur als zentrales Feld, so verliert der soziale Prozeß seinen quasistationären Charakter. a relativ steiler Gradient
6 relativ flacher Gradient
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Fig. 7. Gradienten resultierender Kräfte (k*). 64
Feldtheorie, S. 240.
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V i l i . Der Weg der Feldtheorie
Die Fluktuationen um ihr mittleres Niveau Ν können dagegen zur Bildimg eines Kraftfeldes führen, wenn angenommen wird, daß sie ihre Ursache i n der Veränderung der Größe einer weiteren Kraft k haben 65 und der Betrag, um den die Fluktuation variiert, eine Funktion der Größe dieser Kraft ist. Dieses Kraftfeld ist so beschaffen, daß die entgegengesetzten Kräfte aller Niveaus zwischen Ν und (iV+n) und zwischen Ν und (N-n) ungleich sind, wobei die stärkere Kraft auf das Niveau Ν ausgerichtet ist. K. Lewin drückt das in einer Formel aus 66 : I k(N+n), iV| > I k(N+n), \k(N-n),N\>\ k(N-n),
-N|; -N\
Im Falle eines quasi-stationären Prozesses ist die resultierende Kraft k*N,x, wobei k* N>x = k N>s + k Ng. Dabei ist die resultierende Kraft auf dem Niveau Ν gleich Null. k* Nt X = 0 Die Richtung der resultierenden Kräfte der „benachbarten Niveaus" (N+n) weist auf das Niveau N. Dabei wächst ihre Stärke mit zunehmender Entfernung von Ν. Die resultierenden Kräfte haben i n der Nachbarschaft von Ν den Charakter eines positiven zentralen Kraftfeldes. Was hiernach i m sozialen Feld geschieht, hängt von der Verteilung der Kräfte und ihrer Wirkung i m ganzen Feld ab. Die Möglichkeit einer Vorhersage verlangt allerdings nicht nur, für die verschiedenen Punkte des Feldes die Stärke und die Richtung der resultierenden Kräfte zu bestimmen, sondern vor allem, sie auch zu quantifizieren, was i m Einzelfall mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden sein wird.
65 Die hier verwendeten Symbole sind von K. Lewin mit dem Ziel einer Quantifizierung für hierfür entwickelte Formeln eingeführt worden. k P i g ist hiernach eine Kraft, die auf die Person Ρ i n Richtung auf g wirkt. k P i _ g stellt eine Kraft dar, die auf Ρ weg von g wirkt. hkp, g ist eine hemmende Kraft, die sich gegen eine Bewegung i n Ρ in Richtung g wendet. k* p > g bedeutet eine resultierende Kraft, die auf g gerichtet ist. Die Stärke der Kraft k P i g wird durch | k P ( g | dargestellt. Für den Fall, daß die Gruppe als Angriffspunkt der Kraft in Betracht kommt, gilt für eine Kraft i n Richtung g mit k G r > g und von g weg k G r > _ g . Wirken Kräfte auf verschiedene Gruppen A und Β oder auf die gleiche Gruppe an verschiedenen Orten A und Β ein, so gelten die Bezeichnungen k G r A g und k G r B g oder abgekürzt k A g und k B g . Der Begriff Kraftfeld bezieht sich auf mehrere mögliche Orte, wenn davon äusgegangen wird, daß eine Kraft k A g an einem Ort oder Niveau besteht, d.h. wenn eine Kraft auf eine Gruppe im Ort A w i r k t oder wirken würde, wenn sie sich an diesem Ort befände. Feldtheorie, S. 238. 66 Feldtheorie, S. 239.
I X . Normen in der Feldtheorie Aus der vorangegangenen Wiedergabe einiger Grundzüge der Feldtheorie ist nicht nur die unterschiedliche Berücksichtigung der Zeit gegenüber der Theorie Th. Geigers, sondern sind auch die dadurch bedingten Gegensätze i n den Grundlagen für eine Klassifikation der Begriffe deutlich geworden. Während dieser die Zeit gleichsam als metrisches Kontinuum, als nicht weiter reflektierten Erlebnisstrom übernimmt, bestimmt sie sich in der Feldtheorie bevorzugt als Gegenwart, also von der nur i n der Gegenwart beobachtbaren psychischen oder sozialen Wirklichkeit her. In der Feldtheorie treten jedoch in der Darstellung der Wirkungszusammenhänge erkennbar Schwierigkeiten auf. Wirklichkeit ist, was wirkt, Wirken setzt aber begrifflich „Ablauf" von „Zeit" voraus, es ist auch nur mit diesem Ablauf erfahrbar. Soll die zeitmetrische Perspektive entsprechend dem auf die „Gegenwart" bezogenen Realitätsbegriff zurücktreten, so können Wirkungszusammenhänge nur als „Kraftfelder", also als in der Zeitebene bestehende, energetisch definierte Möglichkeiten dargestellt werden. Hierbei fällt jedoch auf, daß K. Lewin bei der Wiedergabe sozialer Kraftfelder die anschaulich abgebildeten Regionen der individual-psychologischen Theorie nicht übernimmt und dafür mit der Annahme von „Phasenräumen" einer eher zeitmetrischen Darstellung den Vorzug zu geben scheint. Im Gegensatz zur psychologischen Feldtheorie tritt in der sozialwissenschaftlichen weder der Begriff der Situation noch der der Periode auf, so daß sich von hier aus eine immittelbare Verbindung zu den Elementen der Normsituation s, Gebaren g und Verbindlichkeit v, wie sie Th. Geiger verwendet, nicht herstellen läßt. Schon der psychologische feldtheoretische Begriff der Situation hatte sich nicht als ohne weiteres auf die Theorie Th. Geigers übertragbar erwiesen. Auch der Begriff der Norm tritt i n der Theorie K. Lewins nicht als soziale Zusammenhänge strukturierendes Merkmal auf. Unter den von K. Lewin verwendeten Begriffen kommen aber einige i n Betracht, die i m psychischen oder i m sozialen Feld mit der Wirkung von Normen im Zusammenhang stehen könnten. In der Psychologie sind es - soweit sie unter dem Blickwinkel einzelner Handelnder HH in der Theorie Th. Geigers zu betrachten sind - „Barrieren", „Werte", „Gewohnheiten" aber auch „Valenzen" und die Entstehung der Erkenntnisstruktur i n der „Grenzzone". *
84
IX. Normen in der Feldtheorie
Sicher läßt sich in der psychologischen Feldtheorie die Wirkung einer Norm unter anderem auch dort annehmen, wo i m hodologischen Raum Barrieren angenommen werden. Damit ist aber noch nichts darüber zu erfahren, wie die Person die „Situation" einer Norm erfährt und vor allem, ob diese als „Barriere", als Norm immittelbar oder durch die zu erwartende Sanktion - nach der Terminologie Geigers durch die Reaktion r von Ω - wirkt, eine Frage, die für die Feldtheorie i n diesem Zusammenhang auch nur von geringem Interesse sein kann. Außer über die Barrieren könnte in der Feldtheorie unter dem Gesichtspunkt der „Werte" ein Hinweis auf das Problem, durch welche Umstände Situationen als die einer Norm für eine Person ausgezeichnet werden, gefunden werden. Werte werden ja sowohl i n der Soziologie als auch in der Jurisprudenz - i m Gegensatz zu Th. Geiger - mit Normen in Verbindung gebracht. Über die „Fairness", einen Begriff, der von ihm den Werten zugeordnet wird, führt K. Lewin aus: „Werte beeinflussen zwar das Verhalten, zeigen aber nicht die Merkmale eines Ziels, d.h. eines Kraftfeldes. Beispielsweise versucht man nicht den Wert „Fairness" zu erreichen, sondern Fairness lenkt jemandes Verhalten. Richtigerweise muß man wohl sagen, daß Werte darüber entscheiden, welche Handlungsweisen für ein Individuum i n einer bestimmten Situation positive und welche negative Valenz 1 bekommen 2 ." Diese Bemerkung läßt erkennen, daß zwar „Werte" nach der Feldtheorie für die Entstehung von Normen von Bedeutung sein können, für die Erkenntnis einer Normsituation i m Einzelfall geben sie jedoch immittelbar nichts her. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Begriff der „Gewohnheit", der von K. Lewin gelegentlich angeführt wird, der übrigens auch als soziale Gewohnheit mehrerer i n die Genesis der Ordnungsgefüge von Th. Geiger aufgenommen worden ist. Zwar entspricht die Gewohnheit nicht stets dem regelhaften Verhalten in einer Gruppe. Sie könnte aber i n ihrem Wiederholungscharakter auch für Situationen von Bedeutung sein, die schließlich einer Norm zugerechnet werden. Zur Gewohnheit heißt es bei K. Lewin: „Die Gewohnheiten, welche eine Person zu einer gegebenen Zeit hat, können und müssen als Teile i n das betreffende Feld eingehen. Ob sie teils als Glieder der Erkenntnisstruktur oder als Widerstand gegen eine Veränderung der Erkenntnisstruktur oder teils als Bedingungen oder als Fixierungen von Valenzen repräsentiert werden, oder ob sie auf andere Art und Weise in Begriffe gefaßt werden, steht hier nicht in Frage. Die feldtheoretische Forschung befaßt sich sowohl mit Handlungs- wie mit Denkgewohnheiten 3 ." 1 2
Valenz = Aufforderungscharakter; die Valenz entspricht einem Kraftfeld. Feldtheorie, S. 84.
IX. Normen i n der Feldtheorie
Die Vielschichtigkeit, i n der der Begriff der Gewohnheit hier verwendet wird, läßt für ihn eine bestimmte eindeutige Wirkung im Bereich von Normen nicht annehmen. Zur Klärung der uns beschäftigenden Frage trägt er damit nichts weiter bei. Die Bemerkung des Verfassers über die Erkenntnisstruktur oder über die Fixierung von Valenzen verweist jedoch i n bezug auf das normgemäße Verhalten einer Person i m Bereich des psychologischen Feldes einerseits auf ihre Motivationen, andererseits auf ihre Erkenntnisstruktur i n der Grenzzone. Im Motivationsbereich können die Valenzen durch die Norm beeinflußt werden, die Wirkung der Norm kann aber auch mit dem Blickwinkel auf die Sozialpsychologie als Barriere gesehen werden, wenn es heißt: „ U m die Strafandrohimg wirksam zu machen, müssen Barrieren (Β) gegen diesen Ausweg (das Feld zu verlassen, um zwei unangenehmen Tätigkeiten zu entgehen, d.V.) errichtet werden - Barrieren, die stark genug sind, um das Individuum innerhalb der Konfliktsituation zu halten. Diese Barrieren bestehen gewöhnlich aus sozialen Kräften, die dem Individuum durch eine Autorität auferlegt werden 4 ." Im Motivationsbereich kommt die Norm i n der Feldtheorie nur in bezug auf durch sie auftretende Valenzen zu bestimmten Norm-Merkmalen. Bei der Erkenntnisstruktur in der Grenzzone liegen die Dinge für die Bestimmung von Situationen als solche einer Norm nicht viel anders. Die Frage der Erkenntnisstrukturen w i r d i m Zusammenhang mit der Darstellung des Lernens 5 durch Wiederholen - auf der Grundlage der Theorien des bedingten Reflexes - behandelt. Wird hier eine spätere Situation S 4 (z.B. während der Auslöschung) auf eine frühere Situation S 1 (während des Lernens) oder auf eine Anzahl ähnlicher oder verschiedener früherer Situationen 5 1 , 5 2 , 5 3 zurückgeführt, so beruht das Verhalten auf der Anzahl der Wiederholungen 6 . Sie haben die Formel V t = F (S t - n ) V t = F(S t- n,
oder Sf-mt . . .).
Tatsächlich gehen die Formel und die ihr zugrunde liegenden Überlegungen vom Auftreten bestimmter, sich wiederholender Situationen aus. Der epistemologische Weg für diese Annahme ist auch auf der Grundlage eines konditional-genetischen Geschehenstypus vorgezeichnet. Dieser Geschehenstypus läßt die i m früheren Zusammenhang in Betracht gezogene Fest3
Feldtheorie, S. 97. Feldtheorie, S. 120. 5 K. Lewin unterscheidet verschiedene Arten des Lernens, je nachdem, ob das Wissen, die Motivation mit Gruppenzugehörigkeit oder die Körperbeherrschung verändert werden, Feldtheorie, S. 107. 6 Feldtheorie, S. 97. 4
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IX. Normen in der Feldtheorie
Setzung von singulären Situationen als die einer Norm durch den Beobachter ausdrücklich zu. Die Feldtheorie setzt in der Tat regelhaftes Verhalten der Person auch i n ihrer Eigenschaft als Mitglied einer Gruppe voraus. Das geschieht ebenso bei den Autoren, die den feldtheoretischen Ansatz i n den Sozialwissenschaften übernommen haben 7 . Das ist aber auch bei Autoren der Fall, die andere theoretische Modelle, wie z. B. G. Gurvitch 8 , G. C. Homans 9 oder T. Parsons 10 , entwickelt haben, die der Feldtheorie dadurch nahestehen, daß sie von bestimmten sozialen Systemen ausgehen. Auch K. Lewin geht i m sozialpsychologischen Feld vom Vorhandensein von Normen aus, ohne im einzelnen darzulegen, auf welche Weise die Mitglieder einer Gruppe bestimmte Situationen als solche zu einer Norm gehörenden erkennen. So ist von Grenzen die Rede, zu denen auch Gesetze gehören, innerhalb derer soziales Leben stattfindet und die darüber entscheiden, was möglich ist und was nicht 1 1 . Und i m Rahmen der Erörterimg des Problems der Gruppe als eine zu erforschende Einheit heißt es, daß dadurch nicht das Dilemma zwischen „subjektivem" und „objektivem" Aspekt des sozialen Feldes beseitigt werde. Es scheine unmöglich zu sein, das Verhalten der Gruppen vorherzusagen, „ohne die Gruppenziele, die Gruppennormen, die Gruppenwerte und die Art und Weise, wie die Gruppe ihre eigene Situation und die anderer Gruppen,sieht 4 , in Rechnung zu stellen" 12 . Tatsächlich w i r d das Wirken von „Standards" und „Werten" i m Rahmen der Behandlung quasi-stationärer Prozesse auf der Grundlage von Phasenräumen dargestellt, und es wird gezeigt, wie Kraftfelder auf die Einhaltung des Niveaus Ν wirken. In dieser Darstellung werden jedoch in den Kraftfeldern genormte Situationen 13 und das Sanktionsverhalten der Gruppe, durch die das Niveau bestimmt wird, als komplexe Erscheinung vorausgesetzt. Über die Einzelheiten wird nichts mitgeteilt. Auch wenn K. Lewin für die Entstehung von Normen keine ins einzelne gehende Erklärimg gegeben hat, fehlt es nicht an Versuchen hierzu i n der 7 B. Horvath, Field Law and Law Field, in: Österr. Zeitung für öffentliches Recht, Bd. 8 (1957), S. 44 (54 f.). Hierzu O. Lathinen: zu Barna Horvaths Field Law and Law Field, in: Arch. f. Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 45 (1959), S. 81 ff. J. Tammelo, On the Logical Structure of the Law Field, in: Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, Band 45 (1959), S. 95 ff. 8 G. Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, Neuwied 1960, S. 36f., ders.; Rechtssoziologie, in: Die Lehre von der Gesellschaft, ein Lehrbuch der Soziologie, hrsg. v. G. Eisermann, Stuttgart 1958, S. 182 ff. 9 G. C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, 2. Aufl., Köln 1965. 10 T. Parsons, Gesellschaften, 1. Aufl., Frankfurt/M. 1975, S. 34f.; ders., Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied 1964, S. 813 ff., 208 ff. » Feldtheorie, S. 97. 12 Feldtheorie, S. 201. 13 Feldtheorie, S. 260.
IX. Normen i n der Feldtheorie groß
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Fig. 8. Kraftfelder, bei denen der Gruppenstandard sozialen Wert hat beziehungsweise nicht hat.
feldtheoretischen Literatur. E. Mey 1 4 geht von der hierfür naheliegenden, von K. Lewin angeführten Veränderung der Erkenntnisstruktur beim Individuum durch Lernen aus. Er übernimmt das Beispiel von K. Lewin, der Umweghandlung eines Kindes, das seinen Lauf stall verlassen möchte (positive Valenz). Nachdem Versuche gescheitert sind, streckt es seine Arme einem Erwachsenen entgegen und wandelt damit die isolierte Betrachtung der Lage in eine soziale um 1 5 . Im sozialen Bereich legt E. Mey seinen Überlegungen die von K. Lewin vorgenommenen Untersuchungen der Veränderung der Essensgewohnheiten während des Krieges in den USA zugrunde 16 . Lewin zieht neben wirtschaftlichen und Zugangskriterien, bei denen der „Pförtner" von Bedeutung ist, als soziale Gründe für die Änderung von Essensgewohnheiten folgende drei Gesichtspunkte i n Betracht: Psychologischer Wandel: „Was bislang ,Speise für andere, aber nicht für uns4 war, kann zur ,Speise für uns4 werden. 44 14 E. Mey, Studien zur Anwendung des Feldbegriffs in den Sozialwissenschaften, München 1965, S. 138 ff. is Feldtheorie, S. 114 f. 16 Feldtheorie, S. 210 ff.
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Änderung durch Manipulation: Ernährungsgewohnheiten können durch Manipulation geändert werden, indem das Gewicht der Bezugssysteme verändert wird, z.B. der Hinweis auf nahrhaftes Essen verändert das Bezugssystem Gesundheit 17 . Änderung durch Gruppenwechsel: Die Veränderung kann ferner durch einen Wechsel i n der Zugehörigkeit zu Essensgruppen - Schulspeisung, Kantinenessen - eintreten, bei denen wieder der „Pförtner" Bedeutimg erlangt 18 . E. Mey fährt hierzu fort 1 9 , Essensgewohnheiten seien typische soziale Normen - sie könnten auch ,tabu-beladen' sein. Bezüglich des Gebrauchs von Brotsorten habe sich bei der Untersuchung K. Lewins ergeben, daß eine andauernde Umerziehung fast nur dann möglich gewesen sei, wenn die Person, deren Meinimg habe geändert werden sollen, ihren Meinungswechsel in der Gruppe vollzogen habe (Einfluß und Bindungswirkung). Mey setzt dieses Geschehen mit dem Konformitätsdruck i n einer Gruppe in Beziehung, der zwär nicht immer immittelbar von den Personen X, Y und Ζ ausgeübt werden müsse. Es müsse aber zumindest in der Wahrnehmung jedes mit einer Gruppe konfrontierten einzelnen ein über die beteiligten Personen hinausgehendes Wahrnehmungsbild der Situation „Gruppe" bestehen, das Kräfte i n ihm zu induzieren vermag. Als einen Weg zur Entstehung von Normen sieht E. Mey aber die von E. Katz und P. F. Lazarsfeld 20 entwickelten Rollenfelder 21 , die einen solchen Vorgang - lediglich in Teilbereichen einer Person - erklären sollen. Das geschieht über das Auftreten von Meinungen oder Gemeinplätzen, die E. Mey als eine Vorstufe von Normen ansieht. Mit der Entstehimg von Gemeinplätzen hat sich H. Linde 2 2 , auf den auch E. Mey verweist, befaßt, der von einem „polylogischen Feld" als einem Aussagekomplex ausgeht, dessen Bestandteile der subjektiven „Logik" verschiedener Menschen schon entstammten und der von Gerüchteverbreitern und denen, die ihnen glauben, ohne Rücksicht auf die logische Kohärenz übernommen werde 23 . 17
Feldtheorie, S. 143. Feldtheorie, S. 220 f. 19 Studien zur Anwendung des Feldbegriffs in den Sozialwissenschaften, S. 139. 20 E. Katz und P. F. Lazarsfeld, Personal Influence, The Part Played by the People in the Flow of Mass Communications, Glencoe/Ill. 1964. 21 E. Katz u. P. F. Lazarsfeld, S. 66, 82, „interpersonal networks". 22 H. Linde, Über die soziologische Analyse polylogischer Felder, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 114 (1958), S. 527 ff. 23 H. Linde: S. 528 „...einem Feld gegenüber, dessen Inhalt von Gemeinvorstellungen heterogener Genesis und unterschiedlicher Qualifikation nicht nur beherrscht, sondern geradezu additional definiert erscheint: sehr zufällig, sehr unbestimmt, sehr variabel, durch und durch subjektiv in den einzelnen Beiträgen, aber ohne Ursprünglichkeit und Geschlossenheit des oszillierenden Ganzen, solche Felder wollen w i r polylogische nennen."
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Der Weg von den polylogischen Feldern Lindes zu den Sprachfeldern W. Roesslers 24 ist naheliegend. E. Mey erweitert daher das Spektrum von Max Weber 25 ,Konvention - Sitte - Recht' oder die Genesis Th. Geigers ,soziale Gewohnheit (Brauch, Sitte) - Recht4 um eine Eingangsstufe „Gemeinplatz", die er wohl auch in germanisch-rechtlichen Weistümern anzutreffen meint. Gewicht erhalten Gemeinplätze durch „molecular leaders" 26 , die dem Pförtner Lewins gleichgestellt werden können und die an wichtigen Stellen des Netzes von Einflußbeziehungen stehen, das für jede Gesellschaft typisch ist und dessen Veränderung die Veränderung der Gesellschaft bedeutet. Die Inhalte dieser Einflußbeziehungen gehören zum Lebensraum des Individuums, so daß, schließt E. Mey seine Überlegungen hierzu, das Phänomen der Sprache hier wohl von besonderer Bedeutung sei. Die Erwägungen von E. Mey beantworten die uns beschäftigende Frage nicht. Selbst wenn eine Rückwirkung der Sprache i n ihrem Wandel auch auf den Inhalt der Normen anzunehmen ist 2 7 , so verändert sie die Norm, d.h. nach Th. Geiger, die Beziehung des beobachtbaren Geschehens s—>