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German Pages [161] Year 2014
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VERLAG KARL ALBER
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In der Geschichte der Philosophie gilt die Musik als Ausdruck von Affekten. Friedrich Nietzsche setzt sich mit diesem klassischen Topos aus einer metaphysischen, einer historisch-genealogischen und einer physiologischen Perspektive auseinander. Dabei gewinnt er ihm neue Dimensionen ab, indem er die Musik als eine Sprache zur Bewusstmachung des Unbewussten deutet und aus ihr ein Konzept affektiv gegründeter Vernunft entwickelt. Seine Deutung erfolgt unter dem Primat der praktischen Vernunft, da die Musik, indem sie die Affekte in Bewegung setzt, auf die Pluralität von Anschauungen und unbewussten praktischen Bedürfnissen aufmerksam macht.
Der Autor: Manos Perrakis promovierte 2009 in Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nietzsche und die Philosophie der Musik. Sein aktuelles Interesse gilt der Verbindung von Musikästhetik und philosophischer Anthropologie.
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Manos Perrakis Nietzsches Musikästhetik der Affekte
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musik M philosophie Band 1
Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Gießen) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt) Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)
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Manos Perrakis
Nietzsches Musikästhetik der Affekte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Die vorliegende Studie wurde als Dissertation vom Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin am 15. Mai 2009 angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48448-7 (Print)
ISBN 978-3-495-86015-1 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1.
2.
Einführung Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft .
13
Philosophie der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
2.1. Mousikffi als Einheit von Wort und Ton. Der antike Begriff der Musik . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Kant und die Rätselhaftigkeit der Affekte . . . . . . . . . 2.3. »Abstrakte Subjektivität«. Die Stellung der Musik bei Hegel 2.4. »Musikalisches Ideen-Instrument«. Musik in der Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Schopenhauer und die metaphysische Würdigung der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.
Die metaphysische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
Das Fragment Ueber Stimmungen . . . . . . . . . . . . Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« Musik versus Historismus. Die Musik als »unhistorische« Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Die Meeresmetaphorik. Eine Dramatisierung der Willenssymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Synkretismus als Beschreibungsmodell der Willenssymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Schlussbemerkung zur ersten Perspektive . . . . . . . . . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
24 26 30 32 34 39 42 42 47 55 66 77 83 91
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Inhaltsverzeichnis
4.
Die historisch-genealogische Perspektive . . . . . . . . . .
4.1. Die genealogische Erklärung der musikalischen Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Musik und die Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Zur Kritik der »unendlichen Melodie« als Paradigma der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Eine neue Symbolik des Erhabenen: Die Nachtmetapher 4.5. Zwischen Metaphysik und Formalismus: Die »unschuldige Musik« . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Schlussbemerkung zur zweiten Perspektive . . . . . . .
93
.
93
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. 103 . 109 . 111 . 122
5.
Die physiologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
125
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
Die Immanenz der Affekte als Wille zur Macht . . . . . Physiologie der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wille und Leib. Die vergessene Prämisse Schopenhauers Ecce Homo. Das »verstimmte Instrument« Mensch . . . Die anthropologischen Konsequenzen der musikalischen Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 128 135 139
. . . .
. 143
6.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Mein Dank gilt vor allem Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Gerhardt und Prof. Dr. Renate Reschke, die die Arbeit eingehend betreut haben. Den Kollegen vom Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin verdanke ich zahlreichen Anregungen, wie auch den vielen Freunden in Athen und Berlin. Mein Dank gilt ferner der Stiftung Sofia Saripolou der Universität Athen für die Gewährung eines großzügigen Promotionsstipendiums wie auch dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG-WORT für die Übernahme der Druckkosten. Dr. Stascha Rohmer und Jasmin Mersmann danke ich für ihr sorgfältiges Korrekturlesen und ihre wertvollen Hinweise. Nicht zuletzt möchte ich mich noch bei dem Leiter von Karl Alber, Lukas Trabert und den Herausgebern Lydia Goehr, Frank Hentschel, Oliver Fürbeth und Stefan Lorenz Sorgner bedanken, die das Buch in der neuen Reihe Musikphilosophie aufgenommen haben.
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Siglen
Für die Ausgaben der Werke Nietzsches werden die in der Nietzscheforschung und in den Nietzsche-Studien gebräuchlichen Abkürzungen verwendet: KGW (I 1–VIII 4) Kritische Gesamtausgabe, Werke KSA (1–15) Kritische Studienausgabe, Werke KSB (1–8) Kritische Studienausgabe, Briefe GT GMD DW UB HL WB MA M FW Za JGB GM WA GD EH NW
Die Geburt der Tragödie Das griechische Musikdrama Die dionysische Weltanschauung Unzeitgemäße Betrachtungen Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben Richard Wagner in Bayreuth Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Morgenröthe Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Ecce Homo Nietzsche contra Wagner
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Nachgelassene Fragmente
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1 Einführung Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
M e i ne Aufgabe: alle Triebe so zu sublimiren, daß die Wahrnehmung für das Fremde sehr weit geht und doch noch mit Genuß verknüpft ist: der Trieb der Redlichkeit gegen mich, der Gerechtigkeit gegen die Dinge so stark, daß seine Fr e ud e den Werth der anderen Lustarten überwiegt, und jene ihm nöthigenfalls, ganz oder theilweise, geopfert werden. Zwar giebt es kein interesseloses Anschauen, es wäre die volle Langeweile. Aber es genügt die z a rte st e Emotion! (KSA, NF, 9, 211) 1
Für Nietzsche ist das Ziel der Philosophie, die sinnliche Erfahrung so zu steigern, dass ein Maximum an Erkenntnis über sich selbst (»Trieb der Redlichkeit gegen mich«) und die Welt (»Gerechtigkeit gegen die Dinge«) erlangt wird, damit »die Wahrnehmung für das Fremde«, nämlich alles, was sich einem Subjekt als Objekt – inklusive seines eigenen Selbst – gegenüberstellt, »sehr weit geht«. Die Aufforderung, man solle dabei Vergnügen finden, verweist auf die Produktion und Rezeption von Kunst, auf eine an die Interessen des Individuums gebundene ästhetische Erfahrung.2 Für diesen Sublimierungsprozess engagiert Nietzsche die Musik, also jene symbolische Sprache, die die Affekte zum Gegenstand hat und die wirkungsmächtigste aller Künste ist. Insofern sie Affekte nachahmen und hervorrufen kann, ist die Musik »eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist« (KSA, NF, 7, 47) und die Vernunft zu erweitern vermag. Denn Nietzsche denkt die Musik in Analogie zu dem Übergang von der sinnlichen Erfahrung zur übersinnlichen bzw. interpretatorischen Bestimmung.
Siehe auch KSA, FW, 3, 627. Vgl. KSA, NF, 8, 36: »Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers […] Glück liegt in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein, denn er ist sehr geschwind.«
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Einführung
Für Nietzsche ist die Vernunft nichts anderes als die Bewegung einer »unendlichen Verdeutlichung« und keine Manifestation einer absoluten Wahrheit wie in der dogmatischen Metaphysik. Als Bewegung einer »unendlichen Verdeutlichung« ist die Vernunft deshalb mit der Mannigfaltigkeit und ständigen Erneuerung der Perspektiven gleichzusetzen. Die Mannigfaltigkeit der Perspektiven wiederum ist von der Mannigfaltigkeit der Affekte nicht zu trennen, denn: »je m e h r Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je m e hr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein.« (KSA, GM, 5, 365) Wie nun kann die Musik zu einer Erweiterung der Vernunft beitragen, und wie hängt diese Erweiterung mit den Affekten zusammen? Vorweg: Mit der Erweiterung der Vernunft ist hier kein neues Paradigma, keine besondere Art oder alternative Form der Vernunft, wie etwa eine ›ästhetische Vernunft‹ oder ein ›Anderes der Vernunft‹ gemeint, sondern die Rede von einer Erweiterung dient bloß dazu, auf die affektiven Qualitäten der Vernunft und auf die ihr zugrundeliegenden praktischen individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Beschreibt man die Musik als Sprache der Affekte, muss die philosophische Einstellung gegenüber der Musik von der Einstellung gegenüber den Affekten abhängig sein. Und tatsächlich weisen die Stellung der Musik im System der Künste und das Verständnis der Rolle der Affekte in der Geschichte der Philosophie viele Parallelen auf. Für fast zwei Jahrtausende war weder die eigenständige Musik innerhalb der Künste noch waren die Affekte in der Philosophie hoch geschätzt. Bis zum 18. Jahrhundert war die Musik vom Wort oder von einer bestimmten Funktion abhängig und unterlag einer strengen metaphysischen und sozialen Ordnung. Trat sie doch einmal als etwas Selbstständiges auf, erregte dies Verdacht und wurde zum Gegenstand heftiger Polemik. Denn in einer langen stoisch-christlichen Tradition waren die Affekte als Gefährdung der Vernunft gefürchtet, sie waren zu bändigen – wenn auch nicht um verbannt, so doch um einigermaßen kontrolliert zu werden. Das aber ändert sich seit der Aufklärung Schritt für Schritt, bis es im 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Umkehrung kommt. Musik und Affekte gewinnen immer mehr an systematischer Bedeutung und erfahren eine allmähliche Aufwertung, für die das Auftreten der Ästhetik als selbständige Disziplin als Katalysator wirkt. Ästhetik wird 14 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
nun von einer ›gnoseologia inferior‹ zu einer akzeptierten, der rationalen Logik ähnlichen Erkenntnisform. 3 Die Affekte, die von der Antike bis in die Neuzeit in Affektenlehren klassifiziert wurden, werden im Gefühl aufgelöst. Das Gefühl ist etwas, was im eigenen Selbst anerkannt wird, für die Eigenständigkeit des Individuums steht und den an objektiver Erkenntnis orientierten Verstand ergänzt. 4 Kants schillernder Begriff vom ›Geistesgefühl‹ in der ersten Einleitung der Kritik der Urteilskraft zeigt, wie sinnliche Erfahrung und übersinnliche Bestimmung zusammenfallen, und Schleiermacher wird in seiner Ethik (§ 207, § 216) ausdrücklich das Gefühl als unmittelbares Bewusstsein einer »echt synthetischen Combination« definieren, die den »relativen Werth alles Einzelnen für das Individuum« festsetzt. 5 Das Gefühl wird also nun ein Oberbegriff für die Affekte und immer auf ein ›Ich‹ bezogen, das die Romantik in ihrem Versuch, die Frage ›Wer bin ich?‹ zu beantworten, als ein inneres konzipiert. Die Aufwertung der Affekte durch den Übergang zum Gefühl geschieht allerdings auf Kosten ihres einstigen objektiven Charakters, da sie nun als ›Gefühl‹ auf ein ›Ich‹ bezogen werden. Dies betrifft auch die Musik. Gab es von der Antike bis zum Barock musikalische Affektenlehren, in denen z. B. jeder Tonart eine bestimmte Wirkung zugeschrieben wurde, ist jetzt die Deutung der Tonarten einem subjektiven Gefühl überlassen. Diese Aufwertung der Affekte zum Gefühl durch die Ästhetik ist verknüpft mit der Emanzipation der Instrumentalmusik, die im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnt und im 19. Jahrhundert kulminiert. Der berühmteste Musikästhetiker des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, kann deshalb in Einklang mit dem damaligen Zeitgeist behaupten: Denn nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von der Tonkunst als solcher. Wenn irgendeine allgemeine Bestimmtheit der Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre Grenzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von der Instrumentalmusik die Rede sein. Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf
Vgl. Alexandra Kertz-Welzel: Die Transzendenz der Gefühle: Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik, Sankt Ingbert 2001, 29. 4 Zum Übergang vom Affekt zum Gefühl siehe Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl, in: Stefan Hübsch und Dominic Kaegi (Hrsg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, 137–150. 5 Vgl. ebd., 140 f. 3
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Einführung
nie gesagt werden, die Musik könnte es; denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst. 6
Diese Emanzipation bereitet jedoch der philosophischen Ästhetik große Probleme, da das dominante mimetische Paradigma der Kunst vor der Unbildlichkeit der Affekte versagt, zumal diese durch den Übergang zum Gefühl ihren quasi-objektiven Charakter verlieren. Insofern sie ohne gesungenen Text auskommt, lässt sich die Instrumentalmusik kaum auf eine bestimmte Aussage festlegen. Kein anschauliches Objekt vermag die von ihr erregten Affekte des Publikums zu steuern, was dieses in eine große Verlegenheit brachte, die sich exemplarisch bereits in der berühmten Frage des französischen Dramatikers Fontenelle zeigt: »Sonate, que me veux-tu?« Anders als in den anderen Künsten, denen eine mimetische Funktion attestiert wird, ahmt die Musik nichts nach. 7 Tut sie es doch und imitiert z. B. einen natürlichen Klang, das Fließen eines Baches, ist sie bloß ›Tonmalerei‹, dekorative Begleitung, und nicht Musik im eigentlichen Sinne. Eine solch deskriptive Komposition ist dem Wesen der Musik nicht adäquat. 8 Da sie nicht von einem nachgeahmten räumlichen Objekt bedingt ist, kann sie nur eine Sprache sprechen, die wir in sie hineinlegen. Den Inhalt, den wir in der Musik wahrnehmen, können wir nur durch unsere eigene Sprache verstehen. Einen allgemeinen Konsens kann es folglich nicht geben, denn Affekte oder Gefühle sind nur individuell erfahrbar. Nur ein Teil von ihnen lässt sich mitteilen, der wichtigste, intimste und persönlichste Teil jedoch bleibt notwendig unsagbar. Die Schwierigkeit der Mitteilbarkeit dieses begrifflich unauflösbaren Teils ist der Grund, warum Affekte sich als hochabstrakt kennzeichnen, oder auch mystifizieren lassen. Insofern das Gefühl nur individuell zu denken ist, ist das Verstehen der Musik eng mit der subjektiven Welt des Individuums verbunden. Die Philosophie der Musik muss nach langen und schwierigen Formulierungen immer wieder zu dieser profunden Wahrheit gelangen. Denn die Musik wird von dem Paradox bestimmt, als Sprache der 6 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, in: Klaus Mehner (Hrsg): Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Aufsätze. Musikkritiken, Leipzig 1982, 57. 7 Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 132: »Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen – etwas nachzumusizieren gibt es in der Natur nicht.« 8 Vgl. KSA, GT, 1, 112.
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Affekte eine affektive Dimension auszusprechen, welche die Wortsprache nicht auszusprechen vermag. Trotzdem können wir das, was die Musik sagt und die Wortsprache nicht ausdrücken kann, nur mittels der Sprache untersuchen.9 Die Tatsache, dass man in einen solchen Zirkel gerät, mindert die Bedeutung dieses Versuchs nicht, denn jedes Ringen um das Verstehen dessen, was zwar jenseits oder abseits der Sprache, aber trotzdem in uns liegt, weil die Musik in unsere innere Welt eindringt, führt zu einer tieferen Selbsterkenntnis, die schließlich Grundstein und Anliegen aller Philosophie ist. Wenn wir in die Musik eine Sprache hineinlegen, müssen wir uns selbst über die praktischen Bedürfnisse, die uns dazu führen, befragen, denn: »Unsre Bedürfnisse sind es, di e di e We l t a us l e ge n« (KSA, NF, 12, 315). Die Musik stimuliert dazu, uns etwas bewusst zu machen, das uns vielleicht noch nicht oder nicht mehr bewusst ist, uns mit den eigenen Affekten zu konfrontieren, statt sie zu verbannen, sie für uns nützlich zu machen, um auf diese Weise neue Perspektiven zu gewinnen. 10 Genau dies postuliert Nietzsche im Nachlass: Üb e r wi nd ung de r Affe k te ? – Nein, wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll. So nd e rni nd i e ns tne hm e n: […] Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will. (KSA, NF, 12, 39).
Die Affekte bilden diejenige Instanz, die dem Individuum seine Individualität bewusst macht. Dies geschieht in einem Prozess der Selbsterfahrung, für den die Wahrnehmung der Musik exemplarisch steht. Eine unentbehrliche Leistung jedes Philosophen ist die Mitteilung der Selbsterfahrung, die er anhand der Dinge, über die er nachdenkt, macht. Das gilt besonders für diejenigen Philosophen, bei denen Leben und Werk so untrennbar miteinander verknüpft sind wie beispielsweise bei Augustinus und Pascal, Rousseau, Kierkegaard oder Wittgenstein, um nur ein paar Namen zu nennen. Ohne jeden Zweifel gehört Siehe dazu Carl Dahlhaus: Das ›Verstehen‹ von Musik und die Sprache der musikalischen Analyse, in: Peter Faltin und Peter Reinecke (Hrsg.): Musik und Verstehen, Köln 1973, 37–47. 10 Ich benutze hier mit Absicht diese Redewendung, denn Nietzsches Begriff des Unbewussten besteht zum großen Teil in der Dimension des noch-nicht und nicht-mehr Bewussten. Vgl. Erwin Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewusstseins, Berlin/New York 1999, 187. 9
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Einführung
auch Nietzsche zu diesen Denkern, die philosophische Probleme immer aus ihrer Lebenserfahrung heraus betrachten und ihre Einsicht für allgemeingültig halten, weil sie sich selbst als exemplarische Individuen wahrnehmen. Was die Musik betrifft, tut dies Nietzsche mit vollem Recht, denn er hat sich nicht nur philosophisch mit der Musik auseinandergesetzt, sondern auch als engagierter Hörer und leidenschaftlicher Klavierspieler. All dies in einer Epoche, in der die Musik eine außerordentliche Bedeutung im sozialen Bewusstsein hatte und man musikalische Werke kennenlernte, indem man selber musizierte. Wie Curt Paul Janz bemerkt, ist Nietzsche nach Rousseau der einzige Philosoph, der sich in diesem Ausmaß und aktiv, als Komponist mit der Musik auseinandergesetzt hat, und dies – im Gegensatz zu Rousseau – auch philosophisch fruchtbar werden zu lassen verstand. Er hat, – ganz anders als Plato, der sie nur als Erziehungsmittel gelten lassen wollte, oder Kant, der an dem klassischen Axiom festhält, Aufgabe der Kunst sei es, das Schöne zu verwirklichen, oder Schopenhauer, der ihr den ganzen Bereich, Kommunikationsmittel unter Menschen zu sein, nimmt, oder Kierkegaard, der ihre Aussagemöglichkeit auf das Unmittelbar-erotische einschnürt, – Nietzsche hat der Musik einen viel breiteren Aussagebereich zuerkannt, weil er selber deren einige durchschritten hat. 11
Dazu hatte Nietzsche das Glück, in enger Beziehung zu Richard Wagner und zahlreichen weiteren bedeutenden Persönlichkeiten des musikalischen Lebens seiner Zeit zu leben. 12 Da Nietzsches Verhältnis zur Musik zum großen Teil von Wagner geprägt ist, gibt es eine unendliche Liste von Publikationen, die sich mit dieser epochalen Beziehung beschäftigen. Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner macht ohne jeden Zweifel einen großen Teil seiner Beschäftigung mit der Musik aus, doch lässt sich Nietzsches Verhältnis zur Musik nicht auf diese Beziehung reduzieren: Zu lange hat man Nietzsche einseitig mit Wagner verbunden und so seinen systematisch-philosophischen Ansatz verfehlt. 13 Folglich hat man erst rela11 Curt Paul Janz: Die Kompositionen Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), 184. 12 Zu Nietzsches musikalischer Praxis vgl. vor allem die Arbeiten von Curt Paul Janz zu verweisen, besonders auf seine epochale Biographie. Janz hat auch den musikalischen Nachlass Nietzsches herausgegeben. 13 Vgl. auch Christoph Landerer: Neuerscheinungen zum Thema Nietzsche und die Musik, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), 441.
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
tiv spät verstanden, was ein Dichter mit hohen philosophischen Ansprüchen wie Rainer Maria Rilke, der sich in der Frühphase seines Schaffens auf Anregung von Lou Salomé intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt und einen immer noch überaus lesenwerten Kommentar zur Geburt der Tragödie geschrieben hat, sehr früh verstanden hatte: Es scheint mir, daß der Zufall Wagner Schuld hat, daß N[ietzsche] seine Erkenntnisse und Hoffnungen […] gleich auf diese nächste (zu nahe!) Gelegenheit anwandte. 14
Dieser Verdacht Rilkes lässt sich in Ecce Homo, Nietzsches Bilanz seines Lebenswerkes bestätigen: Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner zu thun hat; dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was i c h gehört hatte, – dass ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren musste, den ich in mir trug. (KSA, EH, 6, 313 f.)
Beide Äußerungen machen deutlich, dass Nietzsches musikphilosophischer Ansatz einen über den Bezug auf Wagner hinausgehenden, allgemein systematischen Anspruch besitzt. Nur so kann man ihn für die Philosophie gewinnen. Und tatsächlich nimmt die Zahl der Arbeiten, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Nietzsches Musikphilosophie auseinandersetzen, immer mehr zu. Der überwiegende Teil der Sekundärliteratur besteht allerdings aus Abhandlungen über das Verhältnis von Musik und Sprache, wobei es zwei Interpretationsrichtungen gibt. Von Nietzsches musikalischer Genealogie der Sprache, die bei diesen Arbeiten im Mittelpunkt steht, zieht die erste Gruppe eine negativ-theoretische Konsequenz, die zweite eine positiv-praktische. Die erste Gruppe leitet Nietzsches Sprach- und Metaphysikkritik aus der musikalischen Genealogie der Sprache ab und zeigt, inwiefern dadurch das Wahrheitsmodell der Sprache unterminiert wird. 15 Der zweiten Rainer Maria Rilke: Marginalien zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1966, 1174. Auf diese Passage verweist auch Susanne Dieminger: Die Musik im Denken Nietzsches, Essen 2002, 27. 15 Rudolf Fietz: Medienphilosophie: Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992; Ruth Bolten-Kölbl: Das Pathos des Dionysischen. Zum Verhältnis von Philosophie und Musik bei Nietzsche, Bonn 2001; Roger Häußling: Zur Rolle von Kreativität heute: Versuch eines Diskurses zwischen Gegenwartsphilosophie, Nietzsches Denken und aktueller Musik, Würzburg 1999. 14
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Einführung
Gruppe zufolge hat die Musik bei Nietzsche den Status einer transzendentalen Bedingung der Sprache, da sie einen vorsprachlichen ›sensus communis‹ stiftet. 16 Dazu kommen die Arbeiten, die Nietzsches musikalische Schreibweise behandeln, worunter die Studien von Babette Babich besonders hervorzuheben sind. 17 Von den größeren systematischen Arbeiten, die sich auf die Musik konzentrieren, ist vor allem die von Bertram Schmidt zu erwähnen, die den frühen Nietzsche aus der Perspektive der Wiener Klassik untersucht.18 Georges Liébert, Éric Dufour, Wen-Tsien Hong und vor allem Curt Paul Janz bemühen sich um eine Einbettung Nietzsches in den musikästhetischen Kontext des 19. Jahrhunderts, wobei auch seine musikalischen Kompositionen starke Berücksichtigung finden. 19 Ein zentrales Thema dieser Arbeiten ist die Positionierung Nietzsches gegenüber den beiden Haupttendenzen des 19. Jahrhunderts, der Romantik und dem musikalischen Formalismus, woraus sich die Frage ergibt, ob Nietzsche der romantischen Musikästhetik verhaftet bleibt oder sie überwindet. 20 16 Vgl. Kathleen Higgins: Nietzsche on music, in: Journal of the history of ideas 47 (1986), 663–672, Tracy B. Strong: Nietzsche and the Song in the Self, in: New Nietzsche Studies 1:1/2 (1996), 1–14; Ders.: The Tragic Ethos and the Spirit of Musik, in: International Studies of Philosophy 35:3 (2003), 79–100. 17 Babette Babich: On Nietzsche’s Concinnity: An analysis of style, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), 59–79; Dies.: Nietzsches Philosophy of Science, New York 1994. Siehe auch Claudia Crawford: Nietzsche’s Great Style: Educator of the Ears and the of the Heart, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 210–237; Gary Lemco: Nietzsche and Schumann, in: New Nietzsche Studies 1:1/2 (1996), 42–56; Luca Renzi: Das Ohr-Motiv als Metapher des Stils und der »Zugänglichkeit«. Eine Lektüre der Aphorismen 246 und 247 von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse«, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 331– 349. Thomas Medicus und Manfred Geier: »Neue Ohren für neue Musik«. Gedanken zur Musikalität der philosophischen Aphorismen und Gedichten Friedrich Nietzsches, in: Manfred Geier und Harold Woetzel (Hrsg.): Das Subjekt des Diskurses. Beiträge zur sprachlichen Bildung von Subjektivität und Intersubjektivität, Berlin 1983, 133–145. 18 Bertram Schmidt Der ethische Aspekt der Musik. Nietzsches »Geburt der Tragödie« und die Wiener klassische Musik, Würzburg 1991. 19 Georges Liébert: Nietzsche and Music (1995), übersetzt von David Pellauer and Graham Parker, Chicago & London 2004; Éric Dufour: L’esthétique musicale des Nietzsche, Villeneuve d’Ascq 2005; Wen-Tsien Hong: Friedrich Nietzsche und die Musik im Spiegel der Kompositions- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Komposition, Philosophie, Rezeption, Frankfurt a. M. u. a. 2004. 20 Curt Paul Janz: Nietzsche als Überwinder der romantischen Musikästhetik, in: Jörg Albertz (Hrsg.): Kant und Nietzsche – Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?, Wiesbaden 1988, 210.
20 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Ihr Hauptziel ist es jedoch zu zeigen, wie Nietzsche dem klassischen Topos der Musik als Ausdruck von Affekten neue Dimensionen abgewinnt, indem er die Musik als eine Sprache zur Bewusstmachung des Unbewussten versteht und auf die affektive Natur der Vernunft aufmerksam macht. 21 Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass Nietzsches Ausführungen über die Musik in eine umfassende kulturanthropologische These über die Natur des Menschen münden, indem sie zeigen, dass die Konfrontation mit dem ungegenständlichen und affektiven Element der Musik dazu beitragen kann, Nietzsches Bild des Menschen als einem nicht festgelegten Wesen im Werden zu begreifen. Ein kurzer Überblick über die Philosophie der Musik soll im ersten Teil der Arbeit mit dem klassischen Topos der Musik als Sprache der Affekte vertraut machen. Dazu soll zuerst der antike Begriff der Musik skizziert werden, der die Musik von der Sprache noch nicht trennt und die gesamte geistige Tätigkeit des Menschen erschließt. Am Beispiel von Kant, Hegel, den Frühromantikern und Schopenhauer wird dargestellt, wie sich die Philosophie vor Nietzsche am Paradigma der ›absoluten Musik‹ mit der Eigenartigkeit der musikalischen Form auseinandersetzt. Der Blick auf die musikphilosophische Tradition soll zum besseren Verständnis von Nietzsches Ansatz beitragen, der diese Tradition dramatisiert und ihre Positionen prüft, obwohl dies rein auf der Ebene gedanklicher Analogien und – außer im Falle Schopenhauers – nicht auf eine rezeptionsadäquate Weise geschieht. Im zweiten Teil der Arbeit wird untersucht, wie der klassische Topos von der Musik als Sprache der Affekte von Nietzsche rezipiert wird. Es soll gezeigt werden, wie Nietzsche seine grundlegende philosophische Methode des Perspektivismus in die Musikästhetik überträgt, indem er diesen Topos aus drei verschiedenen Perspektiven, einer metaphysischen, einer historisch-genealogischen und einer physiologischen, beleuchtet, wobei jede Perspektive einer seiner drei Werkphasen entspricht. Deswegen sollen die Texte Nietzsches ausgehend von 21 Wenn die Rede von einer Bewusstmachung des Unbewussten ist, geht es hauptsächlich um eine Perspektivierung und nicht um die Entzifferung des Unbewussten. Vgl. dazu ausführlich: Günter Gödde: Nietzsches Perspektivierung des Unbewußten, in Nietzsche-Studien 31 (2002), 154–194. Zum Nietzsches Begriff des Unbewussten siehe auch: Erwin Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewusstseins, Berlin/New York 1999.
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Einführung
der in der Nietzscheforschung gängigen Einteilung seines Schaffens in drei Phasen analysiert werden: einer ersten, an der Metaphysik Schopenhauers orientierten Phase (1871–1876), einer zweiten Phase unter dem Primat einer objektiven Kritik an metaphysisches Denken (1876– 1882) und einer letzten, radikal antimetaphysischen Phase (1883– 1889). Diese Phasen sind in systematischer Hinsicht miteinander verflochten und voneinander bedingt, weshalb jede zugleich auch auf die anderen verweist. Schließlich zeigt sich laut Karl Jaspers »eine Verwandtschaft aller Perioden dadurch, daß immer schon da ist, wenn kaum merklich, was nach seinem eigentlichen Ausmaß erst später zu kommen scheint, und daß auch das bleibt, was vorher war«. 22 Die chronologische Untersuchung soll trotz allen Brüchen und Differenzierungen eine Kontinuität im musikalischen Denken Nietzsches nachweisen. Dabei wird der Metaphorik Nietzsches besondere Aufmerksamkeit geschenkt, denn Nietzsche verfügt über die seltene Gabe, schwierige Konzepte durch eine metaphorische Sprache zu veranschaulichen. Vor allem bei Inhalten, die über das Begriffliche hinausgehen, operiert er mit Metaphern, die Hans Blumenbergs Konzept der ›absoluten Metapher‹ nahekommen. Bei der Behandlung der ersten Phase und der metaphysischen Perspektive soll zunächst auf theoretischer Ebene gezeigt werden, wie Nietzsche Schopenhauers eigene, zugespitzte Umschreibung der klassischen Auffassung der Musik als Sprache der Affekte, also seine Willenssymbolik der Musik, umkehrt und die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« interpretiert. Dann soll auf praktischer Ebene untersucht werden, wie er die Musik unter dem Primat der praktischen Vernunft als Mittel zur Lösung des Problems des Historismus engagiert, wobei die musikalische Metaphorik und das SynkretismusModell sich als wichtige methodologische Instrumente erweisen. In der Besprechung der zweiten Phase soll Nietzsches Kritik an der romantischen Auffassung der Musik, der er jetzt die Willensymbolik Schopenhauers zuschreibt, aus historisch-genealogischer Perspektive untersucht werden, wobei der systematisch-genealogische Zusammenhang zwischen Musik und Religion im Zentrum steht. Außerdem ist zu zeigen, inwiefern die ›absolute Musik‹ als Erbin der Religion eine wichtige Rolle übernehmen kann. Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1974, 46.
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Bei der Besprechung der dritten Phase soll Nietzsches Ausgehen von der ›großen Vernunft des Leibes‹ – Nietzsches Inbegriff der affektiven Natur der Vernunft – und die Annahme einer physiologischen Perspektive als Rückkehr zur Willenssymbolik der Musik interpretiert werden, die Schopenhauers Ansatz auf kongeniale Weise vollendet. Abschließend soll die musikalische Metaphorik anhand einer kaum beachteten Passage in Ecce Homo erneut eine wichtige Rolle spielen, denn die aus den Texten der Frühromantiker bekannte Instrumentmetapher kann helfen, die anthropologische These Nietzsches über das Wesen des Menschen als dem »n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e [ n ] T h i e r « (KSA, JGB, 5, 81) zu deuten. So versteht sich diese Studie als ein Versuch, Nietzsche als Klassiker der Philosophie der Musik zu profilieren und zwar nach dem Maßstab seiner eigenen Deutung des Klassischen: »Um Classiker zu sein, muß man a l l e starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn« (KSA, NF, 12, 433)
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2. Philosophie der Musik
2.1. Mousikffi als Einheit von Wort und Ton. Der antike Begriff der Musik Man verbindet die altgriechische Zivilisation mit dem Paradigma der plastischen Kunst, insbesondere der Skulptur, und denkt dabei wenig an die Wichtigkeit der Musik. Tatsächlich aber war die Musik wesentlich bedeutender. Es fällt auf, dass es keine Musen für die plastischen Künste gab und anders als für die Musik nur wenige theoretische Texte über die plastischen Künste existieren. Das von den Musen abgeleitete Wort ›mousikffi‹ hatte in der griechischen Antike eine sehr breite Bedeutung. Es bezeichnete nicht nur die Kunstgattung Musik und die Musikwerke, sondern auch die »musische Erziehung durch musische Betätigung«. 1 Anders ausgedrückt, stand das Wort Musik für nahezu alles, was die Ausbildung des Geistes betraf. Platon stellt im attischen Bildungssystem sogar die mousikffi der Gymnastik gegenüber. Einerseits gab es die sportlichen Disziplinen zur Ertüchtigung des Leibes, andererseits alles, was man als ›mousikffi‹ bezeichnete und die Einheit von Dichtung, Tanz und Tonkunst umfasste. 2 Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, dass Musik und Sprache zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. untrennbar waren und der Begriff Musik mithin eine Einheit von Musik und Wort umfasste. 3 Doch auch wenn die Musik keine autonome Kunst im westlichen Sinne war, wurde, wie Thrasybulos Georgiades schreibt, die »Einbindung der Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958, 45. 2 Zu diesen Ausführungen vgl. G. Scholtz.: Artikel: Musik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel u. a. 1984, 242. 3 Für diese Tendenz stehen exemplarisch die Arbeiten von Thrasybulos Georgiades: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985, 188 f.; Musik und Rhythmus bei den Griechen, 41–48. 1
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Der antike Begriff der Musik
Musik in ein ›polyästhetisches Ensemble‹ wie es im Begriff der mousiké als Einheit von Gesang, Tanz und musikalischer Begleitung ausgedrückt war, […] im Lauf des 5. Jahrhunderts abgelöst durch die freiere Entwicklung der solistischen Instrumentalmusik.« 4 Diese durch die Emanzipation der Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert intensivierte Trennung von Musik und Wort wurde schon in der Antike für ein Problem gehalten, welches die sittliche Einheit des Menschen gefährdete, da die Musik allein eine unkontrollierte Bewegung der Affekte verursachte. Das ist schon bei Platon zu merken. Platon hat der Musik kein eigenes Werk gewidmet. Trotzdem finden sich überall in seinen Schriften Gedanken über die Musik, die jedoch ein sehr ambivalentes Bild ergeben. So wird die Musik an einigen Stellen als das schlechthin Höchste erachtet, indem sie mit der Philosophie identifiziert wird (Phaidon 61 a), und an anderen (z. B. Politeia 424 b–c) als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung verworfen. Was von Platons Auseinandersetzung mit der Musik allgemein bekannt ist, sind die Ethoslehre und die damit verbundene Kulturkritik. Die Musik als Mimesis menschlicher Charaktere baut die Sittlichkeit des Menschen auf. Das bedeutet, dass es eine ontologische Sphäre des Wahren und Guten gibt, die die irdische Kunst nachahmen muss, wobei Nachahmung hier kein strenges Vorbild-Abbild Verhältnis meint. Mimesis war eine lebendige Darstellung und keineswegs eine im malerischen Sinne treue Abbildung. Wäre Mimesis photographische Abbildung der Wirklichkeit, wäre die Mimesis von Charakteren, die als Vorstellungen von Personen unsichtbar sind, nicht möglich. 5 Insofern ist die Musik – gerade weil sie keine Nachahmung ist – dem antiken Begriff von Mimesis im Sinne einer lebendigen Darstellung näher. Als Mimesis von Charakteren ist die Musik in Platons Vorstellung von einem ethischen Standpunkt her sehr wichtig, denn insofern die Musik gute oder schlechte menschliche Charaktere nachahmen kann, kann sie diese auch gefährden. Platon wendet sich gegen die freie instrumentale Musik, die zu seiner Zeit zunehmende Bedeutung gewann, und verurteilt sie als Gaukelei und Abirrung von den Musen Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen, 118. »Die moderne Nachahmungstheorie mit ihrem Vorbild-Abbildlichem hat jene griechische Einsicht deformiert«. Dorothea Glatt: Zur geschichtlichen Bedeutung der Musikästhetik Eduard Hanslicks, Heidelberg 1969, 19.
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Philosophie der Musik
(Gesetze II. 670 a). Platon interessiert jene Musik, welche die besten Vorbilder auf die beste Art und Weise nachahmt. Genuss ist ihm nicht nur unwichtig, sondern sogar hochgradig verdächtig. Moralisches und ästhetisches Urteil kommen überein: Nur ein sittliches Werk kann schön sein. Platon verlangt von der Musik einen sittlichen, vom Logos begreifbaren Sinn (Gesetze II. 660 b–670 a). Das Melos der Musik soll einer ethischen Prüfung unterliegen, da jede Harmonie ein Ethos, eine seelische Gesinnung repräsentiert, welche die klingende Musik dem Hörer einprägt. Platon ist gegenüber der Musik, die kein Text begleitet, sehr skeptisch, denn eine Musik ohne Text verweist auf nichts Konkretes, sondern bleibt interpretationsoffen und entzieht sich der Kontrolle des Logos. An dieser Stelle zeigt sich in paradigmatischer Weise das Problem der Philosophie mit der Unbildlichkeit der Musik, die erst durch einen außermusikalischen Inhalt ›nützlich‹ oder zumindest ›sinnvoll‹ sein sollte. Platon fühlt sich verpflichtet, die Musiktradition zu durchmustern, um die verderblichen Instrumente und Gattungen auszuscheiden und zu bestimmen, welche Musik dem Ideal seiner Politeia entsprechen würde (Politeia III. 318 c–399 c). Wie die Mythen zeigen, ist die Macht der Musik als Bewegung der Affekte so groß, dass sie der Begrenzung des Gesetzes bedarf. Wenn die Bewegung der Seele, wie Platon mit den Pythagoreern annimmt, mit der musikalischen Bewegung korrespondiert, ist die Musik unmittelbar mit der Eigenschaft des Menschen als Bürger verknüpft. Sittliche Musik erzieht die Bürger und stabilisiert den sittlichen Staat, während Änderungen der Tongeschlechter die staatliche Ordnung gefährden können (Politeia IV. 424 c). Allein in diesem Punkt wird sofort sichtbar, wie ernst Platon die Musik als Sprache der Affekte nimmt und versucht sie unter die Kontrolle des Logos zu bringen.
2.2. Kant und die Rätselhaftigkeit der Affekte Eine Einheit von Musik und Sprache, wie die Antike sie dachte, findet sich auch in der neuzeitlichen Philosophie. Allerdings wird diese Einheit in der Neuzeit erst auf dem Umweg einer formalen Trennung erreicht, nämlich indem man Musik und Sprache zunächst als zwei Einzelphänomene betrachtet, um dann ihre Gemeinsamkeiten zu finden. 26 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Kant und die Rätselhaftigkeit der Affekte
Ganz gleich wie autonom eine Erscheinung ist, – wenn man sie als Mitteilung wahrnehmen will – muss man sie in Analogie mit der Sprache denken. So geht beispielsweise Kant vor, wenn er die schönen Künste nach Wort, Gebärde und Ton oder Modulation einteilt. In seinem Prinzip der »Analogie der Kunst mit der Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen als möglich ist, einander, d. i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach mitzuteilen«, wird die Wichtigkeit deutlich, die er dem Mitteilungsmoment in der Kunst zuschreibt. 6 Nach diesem Prinzip unterscheidet Kant zwischen drei Arten von schönen Künsten: die redende Kunst (Rhetorik und Dichtkunst), die bildende Kunst (Plastik und Malerei) und die Kunst des »Spiels der Empfindungen«. 7 Als solche ist die Musik die »Sprache der Affekte«, 8 und folglich mehr »Genuß als Kultur«, 9 denn das von ihr erregte Gedankenspiel ist bloß assoziativ. Der anschauungslose Inhalt der Musik ist nicht begrifflich darstellbar. Obwohl Kant die Musik aus diesen Gründen weit unten in der Hierarchie der Künste ansiedelt, macht er auf einige sehr wichtige Punkte aufmerksam, die explizit zeigen, wieviel Kultur in diesem Genuss steckt. Zuerst weist Kant die Musik dem Bereich des Gemüts zu. Seine Bemerkung aber, dass die mathematische Grundlage der Musik in keiner Weise mit dem Bereich des Gemüts in Zusammenhang steht, darf nicht unberücksichtigt bleiben. 10 Denn er ist vielleicht der erste, der auf einen der Musik inhärenten Widerspruch so deutlich – obwohl auf implizite Weise – aufmerksam gemacht hat. Einerseits verfügt die Musik als solide Konstruktion über die Vollkommenheit der Zahlen, andererseits erzeugt sie eine skandalös abstrakte Wirkung im Gemüt, die nicht definiert werden kann. Kurz gesagt: Die Musik mag noch so logisch konstruiert sein, ihre Wirkung ist von außen her (objektiv) nicht rational begründbar. Trotzdem lässt sich der Reiz der Musik nach Kant allgemein mitteilen. Dafür braucht er eine Analogie mit der tönenden Sprache, denn die allgemeine Mitteilbarkeit der Musik beruht darauf, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2003, § 51, 211. Ebd., § 51, 211, 216, 218. 8 Ebd., § 53, 222. 9 Ebd. 10 Ebd., 224. 6 7
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Philosophie der Musik
daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinne desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und daß, so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem ganzen Nachdrucke, nämlich als Sprache der Affekte ausübe […] 11
Die Bedeutung dieser Passage liegt in der Erläuterung der Musik durch eine Analogie mit der Mitteilbarkeit der Sprache. Die Musik scheint die Form der Sprache ohne deren Inhalt zu haben, daher lässt sich die Musik als affektive Sprache ohne Worte denken. Die Affekte als Mitteilungen bleiben ohne Inhalt, bloße Formen der Mitteilungen. Was Kant also als das Spiel der Affekte bezeichnet, ist nichts anderes als die musikalische Form der Sprache, als wären die Worte die Interpretationen der Affekte, die in der Musik als ›ästhetische Ideen‹, nämlich als Vorstellungen der Einbildungskraft funktionieren, die viel zu denken geben. 12 Sprache und Musik stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit: Die Musik bildet die vorsprachliche, affektive Ebene der Sprache, besitzt jedoch zugleich selbst eine sprachliche Form. Dieser Punkt ist sehr wichtig, denn er verweist auf die Rolle der Musik in der Genealogie der Sprache. Durch die Analogie der Musik mit dieser affektiven, klingenden Ebene der Sprache lässt sich die Musik als Sprache vor der Sprache oder als ursprünglichere Sprache bezeichnen. 13 Eine letzte Bemerkung, die hinsichtlich ihrer Konsequenzen wesentlich ist, ergibt sich aus der Kombination der mathematischen Grundlage der Musik mit dem assoziativen Spiel der Empfindungen, das ästhetische Ideen, aber keine Begriffe hervorbringen kann, denn aufgrund dieser Kombination führt die Musik »die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« mit sich. 14 Die Musik bringt folglich nicht nur ästhetische Ideen hervor, sondern auch die Idee einer ästhetischen Idee selbst und wird so zum wichtigen ›Gedankenstimulans‹ für das Subjekt! Mit Rückgriff auf die Analogie von Musik und Sprache, ließe sich nun behaupten, Ebd., 222 f. Vgl. ebd., Kritik der Urteilskraft, § 49, 202. 13 Die musikalische Genealogie der Sprache ist ein allgemeiner Topos der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 14 Ebd., 223. 11 12
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Kant und die Rätselhaftigkeit der Affekte
dass die Musik die Idee einer ganzen Sprache hervorbringe, denn wie sonst wäre ein zusammenhängendes Ganzes einer unnennbaren Gedankenfülle zu interpretieren? Außerdem darf man nicht vergessen, dass ›ästhetisch‹ sich nicht primär auf das Urteil des Schönen bezieht, sondern ›aus den Sinnen kommend‹ heißt und demnach der Terminus ›ästhetische Idee‹ nichts anderes bedeutet, als dass die Sinne Ideenträger sind. Da die Musik in die innere Welt eindringt, vermag sie die Sinnlichkeit des Menschen auf eine besonders intensive Weise zu mobilisieren, so dass sie eine Vielfalt von Ideen hervorbringt. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass das Hervorbringen einer Vielfalt von Ideen individuell ist, denn die Sinne werden in jedem Individuum auf eine unterschiedliche Weise mobilisiert. Erstaunlich ist allerdings bei Kant die Tatsache, dass er die Musik nicht mit dem Phänomen des Erhabenen in Zusammenhang bringt. Durch das Moment der ›negativen Lust‹, das er dem Erhabenen zuschreibt, hätte er die abstrakte Bewegung der Musik im Gemüt beschreiben können, denn die negative Lust ist genau deshalb negativ, weil es keinen das Gefühl der Größe vermittelnden Begriff gibt. 15 Betrachtet man allein die Tatsache, dass diese Gedankenfülle das negative Attribut »unnennbar« trägt und diese unnennbare Gedankenfülle in einem zusammenhängenden Ganzen sofort auf das Mathematisch-Erhabene verweist, wäre zu fragen, ob »die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« nicht durchaus erhaben ist. Betrachtet man nun den ganzen Satz, dass »die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« ein – wie Kant das Erhabene charakterisiert – »übersinnliches Substrat« ist, 16 wäre zu fragen, ob die klingenden Empfindungen in der Sprache nicht das affektive Substrat der Sprache sind. Ein Zusammenhang zwischen Musik und dem Phänomen des Erhabenen verliehe der Musik eine metaphysische Würde, die allerdings begrifflich nicht begründbar wäre, denn Kant sieht die Kunst als Objekt, um sie mit der transzendentalen Erfahrung zu verbinden. Der eigentliche Grund aber ist systematischer Natur, denn bei Kant ist der Bereich der Kunst das Schöne und nicht das Erhabene. Das Phänomen
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Vgl. ebd. § 27, 127 f. Ebd. § 26, 120.
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des Erhabenen hingegen wird nicht mit der Kunst, sondern allein mit der Natur in Zusammenhang gebracht.
2.3. »Abstrakte Subjektivität«. Die Stellung der Musik bei Hegel Für Hegel ist die Musik die romantische Kunst schlechthin, da sie »sich das Subjektive als solches sowohl zum Inhalte als auch zur Form nimmt«. 17 Zentral für Hegels Musikphilosophie ist die Rolle der Subjektivität, denn die Form der Musik ist auf eine ›negative‹ Weise subjektiv; sie verfügt nicht über Objektivität, da sie keine Existenz im Raum hat, wie z. B. eine Skulptur oder ein Gemälde. Ihr Dasein hängt ausschließlich von der akustischen Rezeption durch ein Subjekt ab. Die Musik bleibt »in ihrer Objektivität selber subjektiv«. 18 Dieser Satz ist eine implizite Anerkennung der These, nach der der Gegenstand der Musik die Affekte sind, denn nur sie können aufgrund ihrer zeitlichen Beschaffenheit in ihrer Objektivität selber subjektiv sein. Tatsächlich hängt die Subjektivität in der Musik damit zusammen, dass die Musik die Kunst der inneren Empfindung der Zeit ist. Die Musik ist auf unsichtbare Weise im Raum ausgedehnt, und aus diesem Grund ist bei ihr keine Anschauung möglich. Allein mittels seiner eigenen Subjektivität vermag der Mensch der Musik einen Sinn zukommen zu lassen. Denn die Aufgabe der Musik besteht darin, »die Art und Weise widerklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst seiner Subjektivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist«. 19 Für Hegel ist das formelle Element der Musik die gegenstandslose Innerlichkeit und ihr Inhalt das innerste subjektive freie Leben. Gegenstandslosigkeit darf allerdings keineswegs mit Gehaltsleere identifiziert werden. Musik vermag die substantielle innere Tiefe eines Inhalts als solchen in die »Tiefen des Gemüts« eindringen lassen. 20 Bedenkt man nun die These Kants, dass die Musik die ästhetische Idee einer unnennbaren Gedankenfülle in sich schließt, kann diese ästhetische Idee keine andere als die von Hegel angesprochene »abstrakte
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G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Franfurt a. M. 1986, 133. Ebd. Ebd., 135. Ebd. 136.
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»Abstrakte Subjektivität«. Die Stellung der Musik bei Hegel
Subjektivität« sein. 21 Denn nur die Subjektivität als affektives Substrat der Sprache kann eine unnennbare Gedankenfülle hervorbringen, da jedem Ton ein Affekt entsprechen muss, welcher bei jedem Subjekt andere Gedanken hervorruft. Die Subjektivität des Kunstwerkes muss also mit der Subjektivität des Hörers korrespondieren. Wenn der Rezipient die bestimmende Instanz ist, spricht auch diese Tatsache für die Unbestimmtheit der Musik als Kunstform, eine Unbestimmtheit, die mit dem unbildlichen Charakter der Affekte korreliert. Hegel nimmt hier eine negative Haltung ein, weil er aus der Perspektive der Subjektivität des Kunstwerkes zu sprechen sucht. Doch die Unbestimmtheit der neu emanzipierten Instrumentalmusik löst bei ihm Ängste aus und könnte auch ein Grund dafür sein, dass er Beethoven nicht in seinen Schriften thematisiert, obwohl er ihn sicher kannte. In der Unbestimmtheit der Musik sieht Hegel das beste Beispiel der Emanzipation der Kunst von ihrer Rolle als Werkzeug des Geistes. Sein – nach Carl Dahlhaus’ bekannter Formulierung – »beredtes Schweigen« über Beethoven 22 zeigt exemplarisch eine dynamische Ambivalenz in der Einschätzung der Instrumentalmusik, die zwar als Apotheose der Subjektivität interpretiert werden kann, aber andererseits auch eine Entfremdung des Geistes, eine Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt bedeutet. Ihre leere Signifikanz, die jedoch keine Gehaltsleere bedeutet, kann zu einer unendlichen Polysemie führen, die ein Symptom für ein problematisches Ganzes ist. In der Musik wird die Form selbst zum Inhalt. Das Potential der unendlichen Interpretation der Musik sieht Hegel als Gefahr, denn die Subjektivität ist in der musikalischen Erfahrung bodenlos. Mit seiner Forderung nach einem Gleichgewicht von Form und Inhalt spricht Hegel natürlich vom Standpunkt eines Klassizisten, der die vom Kunstwerk ausgelösten Affekte durch klare Botschaften zu zügeln sucht. Dieses Phänomen ist, wie wir gesehen haben, kein exklusiv neuzeitliches, sondern existierte bereits in der Antike. In dieser Hinsicht ist Hegel in seinen Auffassungen gar nicht so weit von Platon entfernt.
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Ebd. 135. Vgl. Carl Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1995, 236.
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Philosophie der Musik
2.4. »Musikalisches Ideen-Instrument«. Musik in der Frühromantik Neben den systematischen Philosophen wird die frühromantische Schule, also der Kreis der Schriftsteller, der sich von 1795 bis 1800 um die Zeitschrift Athenäum und hauptsächlich um Friedrich von Hardenberg alias Novalis und die Gebrüder Schlegel bildete, durch seine spontane Auseinandersetzung mit dem neuen Paradigma der Instrumentalmusik in der musikalischen Reflexion besonders aktiv. 23 Die Frühromantiker, die in enger Verbindung mit dem philosophischen Idealismus stehen, räumen dem Musikalischen eine Sonderstellung im Prozess der Romantisierung ein. Was aber bedeutet Romantisierung? Darüber gibt Novalis in einem programmatischen Fragment Auskunft: Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifizicirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung. 24
›Romantisierung‹ heißt also nichts anderes, als eine Bedeutsamkeit in alles hineinzulegen, die dazu führt, dass alles aus einer unendlichen Perspektive reflektiert werden kann, was eine unendliche Intellektualisierung und Umwertung aller Dinge zur Konsequenz hat. So wird das Subjekt im Verhältnis zu dem, was ihm als Objekt gegenüber steht, zur bestimmenden Instanz. Außerdem zeigt dieses Fragment die Romantisierung als Umkehrung von Konventionen. Und wenn eine wichtige Methode des Romantisierens darin besteht, »dem Gemeinen einen hohen Sinn« oder »dem Endlichen einen unendlichen Schein« zu geben,
Neben diesen Hauptvertretern sind u. a. Schleiermacher, Tieck, Wackenroder, Caroline und Dorothea Schlegel zu erwähnen. 24 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1798], Logologische Fragmente II, 105, in: Richard Samuel (Hrsg.): Novalis: Schriften, Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophische Werk I, Stuttgart u. a. 1981, 545. 23
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»Musikalisches Ideen-Instrument«. Musik in der Frühromantik
wäre die Nobilitierung der lange Zeit als belanglos geltenden Instrumentalmusik ein gutes Beispiel dafür. Was die Musik betrifft, könnte man zwei Tendenzen unterscheiden: Die erste wird von Ludwig Tieck und Wilhelm Friedrich Wackenroder vertreten, die zweite von Friedrich Schlegel und Novalis. Für die ersten beiden ist die Musik eine Manifestation des metaphysisch Absoluten, eine »erschütternde und in Schauer des Göttlichen versetzende Offenbarung einer allem anderen verborgenen höheren Welt«. 25 Für sie und den größten Teil der Romantik nimmt die Instrumentalmusik den Platz ein, den früher Gott innehatte; nur dass Gott nun in dem von der Musik hervorgerufenen Gefühl lokalisiert wird. Nicht der Glaube, sondern das Gefühl wird zur vermittelnden Instanz zwischen Ich und Gott. In der musikalischen Erfahrung soll eine Tranformation des religiösen Gefühls stattfinden. Anders als Hegel bewerten die philosophisch orientierten Frühromantiker das formelle, das ›leere‹ Moment der Instrumentalmusik eindeutig positiv. Für Schlegel und Novalis ist die Musik ein vollkommenes, symbolisches System, weil sie als ›klingende Mathematik‹ selbstreferentiell ist und sich autonom konstituiert. Aus diesen strukturellen Merkmalen lässt sich auch die Gottessymbolik erklären, denn die Vorstellung eines im höchsten Maße autonomen Wesens führt direkt zu der Vorstellung, die man von Gott hatte und jetzt vom ›transzendentalen Ich‹ oder der ›Subjektivität‹ hat. Die Frühromantiker konzentrieren sich eher auf den poetologischen Aspekt der Selbstreferenz und auf die Autonomie der Instrumentalmusik. Die musikalischen Fragmente von Friedrich Schlegel und Novalis zeigen sogar eine Denkweise, die, wie später anhand der Instrumentenmetapher gezeigt wird, erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit Nietzsche aufweist. 26 Der nicht-begriffliche, nicht-referentielle Charakter der Musik und ihre Eigenschaft, »sich als hermetisch in sich geschlossene Kunstform aus dem eigenen Regelsystem heraus zu generieren«, machen sie »zur allgemeinsten und abstraktesten Kunst und garantieren gleichzeitig ihren Autonomiecharakter«. 27 Die Musik steht exemplarisch für die Stefan Lorenz Sorgner und Oliver Fürbeth: Einleitung, in: (Dies.) (Hrsg.): Musik in der deutschen Philosophie, Stuttgart/Weimar 2003, 10. 26 Zum Thema Nietzsche und die Frühromantik siehe: Ernst Behler: Nietzsche und die frühromantische Schule, in: Nietzsche Studien 7 (1978), 59–87. 27 Caroline Welsh: Das Musikalische in der frühromantischen Poetik, in: Musik und Ästhetik, 1:4 (1997), 98. 25
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Philosophie der Musik
Absolutheit der selbstreflexiven Form und eignet sich aufgrund ihres dynamischen – weil stimulierenden – Unbestimmtheitscharakters besonders für Unendlichkeits- und Totalitätsreflexionen, bzw. ästhetische Ideen. 28 Der Musik wird die Möglichkeit attestiert, »aus einer begrenzten Anzahl von Regeln eine unbegrenzte Anzahl von Kombinationen zu generieren«. 29 Gleiches trifft auf Kants »ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« zu. Dieses Potential der Musik nehmen die Frühromantiker in ihren poetologischen Untersuchungen auf. Besonders Friedrich Schlegel und Novalis untersuchen in ihrer Rezeption der Literatur die selbstreflexiven Strukturen, welche sprachliche Kunstwerke mit der Musik gemein haben. Die Sprache erhält ihre Bedeutung nicht aus einer semantischen Entsprechung, sondern aus dem spielerischen »In-Beziehung-Setzen« aller Elemente zueinander. Sinn und Bedeutung ergeben sich aus der Form der Darstellung innerhalb eines Textes. »Die Sprache fungiert nun als ›musikalisches Ideeninstrument‹, mit dem der Dichter und Philosoph unter Berücksichtigung seiner immanenten Gesetzmäßigkeiten frei komponieren und konstruieren können.« 30 Diese Selbstreferenz, die zur Polysemie führt und die Hegel als Leere empfunden hat, bewerten Schlegel und Novalis positiv, da sie sich allein für die Form und ihr Potential interessieren.
2.5. Schopenhauer und die metaphysische Würdigung der Musik Schreiben Kant und Hegel der Musik eher einen unteren Rang in ihren Systemen zu, erfährt die Musik bei Arthur Schopenhauer eine in der Geschichte der Philosophie einmalige Aufwertung. Für ihn steht die Musik höher als alle anderen Künste, denn sie ist Abbild des Willens, Schopenhauers Hauptprinzip. Er ist der erste moderne Philosoph, welcher der Musik so ausdrücklich eine metaphysische Würde zuspricht. Insofern Schopenhauer die Affekte unter dem Nenner des Willens zum Hauptprinzip seines Systems macht, erhält der Topos der Musik als Sprache von Affekten neues Gewicht. Barbara Naumann: »Musikalisches Ideen-Instrument«: das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990, 134–135; 139. 29 Caroline Welsch: Das Musikalische in der frühromantischen Poetik, 101. 30 Ebd. 28
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Schopenhauer und die metaphysische Würdigung der Musik
Schopenhauer beschreibt die Welt als Wille und Vorstellung. Das Wesen der Welt, das ›Ding an sich‹ ist für ihn der Wille. Der Form nach gleicht er dem platonischen ›Guten‹, nur wird er negativ als ein unbewusster, triebhafter, stets unerfüllter Drang aufgefasst und ist folglich wie ein vergrößerter negativer Affekt zu verstehen. Da alles was existiert, vom Willen bestimmt ist, und der Wille negativ aufgefasst wird, ist alles im Leben Leiden. Alle Vorstellungen und Erscheinungen stellen die Objektivität des Willens dar, die Welt als Vorstellung ist mithin die Objektivität des Willens. Allgemeine Form der Welt als Vorstellung ist der Satz vom Grunde in den Modi Raum, Zeit und Kausalität. Zwischen Wille und Vorstellung steht die platonische Idee als Bindeglied. Während die einzelnen Erscheinungen durch den Raum individuiert und dem Satz vom Grunde unterworfen sind, ist die platonische Idee allein unter der allgemeinen Form des Objektseins für ein Subjekt. Während die einzelnen Erscheinungen keine adäquaten Objektivationen des Willens darstellen, weil sie dem Satz vom Grunde unterworfen sind, ist die Idee allein die möglichst adäquate Objektivität des Willens. Sie ist der Wille unter der Form der Vorstellung. Die Idee wird erkannt, wenn das Subjekt das Objekt in reiner Kontemplation außerhalb aller Relationen anschaut. In der reinen Kontemplation hört das Subjekt auf, individuelles Subjekt zu sein und wird zum unbedingten Subjekt der Erkenntnis. Im System Schopenhauers wird der Kunst eine Erkenntnisfunktion attestiert, denn zwischen Kunst und Ideen gibt es eine innere Korrespondenz. Wenn die Welt als Vorstellung die Sichtbarkeit des Willens ist, ist die Kunst Verdeutlichung dieser Sichtbarkeit, sie ist wie eine ›camera obscura‹ oder eine Bühne auf der Bühne wie in Shakespeares Hamlet. 31 Kunst wiederholt und objektiviert die durch reine Kontemplation aufgefassten ewigen Ideen. Jede Kunst objektiviert bestimmte Ideen. Schopenhauer beginnt mit der Architektur, die den Kampf zwischen Schwere und Starrheit auf der niedrigsten bzw. unorganischen Stufe der Objektivation des Willens darstellt, und endet mit dem Trauerspiel als Ausdruck des Zwiespalts des Willens mit sich selbst auf deren höchster Stufe, den Menschen, bevor er zur Musik kommt. 32 Während alle anderen Künste Abbilder der Erscheinungen des 31 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Frankfurt a. M. 1993, 372. 32 Ebd. 356.
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Philosophie der Musik
Willens sind, ist die Musik »Abbild des Willens selbst« und die im höchsten Grade allgemeine Sprache. 33 Aufgrund ihres universalen Anspruchs stellt Schopenhauer die Musik neben die Philosophie und schreibt ihr sogar einen höheren Status zu. Die Universalität der Musik unterscheidet sich allerdings von jener der Begriffe darin, dass »die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahierten Formen, gleichsam die abgezogene äußere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich abstracta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern oder das Herz der Dinge gibt.« 34 Die Musik gibt die universalia ante rem, die Begriffe die universalia post rem, wobei sich hinter dieser Terminologie die zwei Ebenen der Sprache, also Affekt und Wort denken lassen. Die Allgemeinheit der Musik ist eine Allgemeinheit bloßer Form und »verbunden mit durchgängiger, deutlicher Bestimmtheit«. Als »ganz allgemeine Sprache« wird sie von jedem augenblicklich verstanden. 35 Sie ist »ein so ganz vertrautes und doch so ewig fernes Paradies […], so ganz verständlich und doch so unerklärlich«. 36 Intuitiv verständlich ist die Musik in dem Sinne, dass sie auf den Willen, d. i. Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers unmittelbar einwirkt. Ausgedrückt wird dabei kein bestimmtes Gefühl, beispielsweise die Freude eines Einzelnen, sondern eine allgemeine Freude, die Freude an sich. Die innersten Regungen, die Summe der Gefühle, Leidenschaften und Affekte werden ohne die Wirklichkeit und ihren schmerzhaften Charakter wiedergegeben. Die Musik drückt sämtliche Willensregungen folglich gleichsam »in abstracto«, d. h. unabhängig von ihren Gegenständen und Motiven aus. 37 Dieser Punkt ist wesentlich in seiner praktischen Dimension, denn indem die Musik abstrakte Gefühle evoziert, stimuliert sie unsere Kreativität: Hieraus entspringt es, daß unsere Phantasie so leicht durch sie erregt wird und nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende unsichtbare und
Ebd. 359 und 357. Ebd. 367. 35 Ebd. 357. Diese Allgemeinheit könnte durchaus im Sinne Kants verstanden werden, wenn er versucht, die Mitteilbarkeit der Musik zu erklären. Siehe das zitierte Fragment auf Seite 15. 36 Ebd., 368. 37 Ebd., 364 33 34
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Schopenhauer und die metaphysische Würdigung der Musik
doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie mit Fleisch und Bein zu bekleiden, also dieselbe in einem analogen Bespiel zu verkörpern. 38
Wenn sie den Willen abbildet, der hauptsächlich Schmerz ist, kommt der Musik eine ungeheuer erlösende Funktion zu, weshalb Schopenhauer sie als »Panakeion« [Allheilmittel] bezeichnet. 39 Diese Erlösung ist allerdings nur von kurzer Dauer und endet mit dem Verklingen der Musik. Anders als in der literarischen Romantik ist die Erlösung nicht in einem religiösen Sinne zu denken. Trotzdem erinnern die bereits erwähnten Formulierungen Schopenhauers an die romantische Gefühlsästhetik, die sich in drei Topoi zusammenfassen lässt: Musik ist Sprache des Gefühls, Ausdruck des Unsagbaren und Manifestation einer ursprünglichen Natur, denn der Wille ist Gefühl, Ursprung und Unsagbares in Einem. 40 Wenn die Musik Abbild des Willens, der Wille das ›Ding an sich‹ der Welt ist, und der Musik sogar ein höherer Status als den Begriffen zugeschrieben wird, wäre laut Schopenhauer die »wahre Philosophie« eine »vollkommen richtige, vollständige und in das einzelne gehende Erklärung der Musik«. 41 Dieser Aufforderung Schopenhauers scheint Nietzsche mit großer Konsequenz in seinem ganzen Leben nachgekommen zu sein. Aus Schopenhauers Diktum lässt sich eine komplette Denkstrategie entwickeln. Wenn die Musik die intimste Sprache der Welt sprechen und die inneren Regungen einer Kultur in Tönen wiedergeben kann, bedeutet es einen großen Gewinn für die Philosophie, wenn ein Philosoph versucht, die intime Sprache der Musik in die philosophische zu übersetzen. Allerdings gibt Schopenhauer keine Hinweise, wie diese Übersetzung zu realisieren wäre und die Musik als allgemeine Sprache von jedem und sogar mit der allergrößten Deutlichkeit verstanden werden könnte. Für Nietzsche kommt diese Übersetzung einem Versuch zur Artikulierung des Unbewussten gleich, bzw. dem Versuch, einen Bereich zu untersuchen, der mit inneren Bedürfnissen zu tun hat. In der Zeit seiEbd., 365. Ebd. 40 Zu den romantischen Wurzeln Schopenhauers siehe ausführlich: Alexandra KertzWelzel: Die Transzendenz der Gefühle, 211–216. Vgl. auch Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 80. 41 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, 369. 38 39
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Philosophie der Musik
ner starken Schopenhauer-Rezeption und seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Eduard von Hartmanns, dessen Werk Philosophie des Unbewussten einen Höhepunkt der Aufwertung der Affekte darstellt 42 –, schreibt Nietzsche: »Alle Erweiterung unsrer Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des Unbewußten.« (KSA, NF, 7, 116). Nietzsche macht die Musik zum Mittel der Bewusstmachung des Unbewussten, die allerdings weniger als eine potentielle Entschlüsselung des Unbewussten im Sinne der späteren Psychoanalyse zu deuten ist, sondern als Fortführung einer langen Tradition der Fokussierung auf die schöpferischen Kräfte des Menschen. 43 Die philosophische Aufwertung der Musik bedeutet folglich eine Aufwertung des Unbewussten oder umgekehrt könnte man sagen, die Aufwertung des Unbewussten bedeutet die philosophische Aufwertung der Musik, da dadurch die innere Welt (Gefühle, Leidenschaften, Affekte, Emotionen), die immer Gegenstand der Musik gewesen war, eine Bedeutsamkeit für unsere praktische Erkenntnis erhält. Insofern sie nicht mehr als Feindin, sondern als unentbehrlicher Teil der Vernunft anerkannt wird, wird die Musik zum Organon der Philosophie. Nietzsche hat sich immer Mühe gegeben, die geistige Botschaft der Musik anhand musikalischer Werke zu entschlüsseln. Als philosophischer Übersetzer der Musik zeigt sich Nietzsche auf der Spur Schopenhauers und als sein getreuester Schüler. Es gibt dennoch einen wesentlichen Unterschied: Während Schopenhauer eine allgemeine Philosophie der Musik als Teil seiner Metaphysik des Willens entwirft, Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten, 1869 erschienen, war ein sehr populäres Werk mit zahlreichen Neuauflagen und vielen Übersetzungen. Hartmann würdigt das Unbewusste philosophisch und erhebt es, wie Schopenhauer es mit dem Willen getan hat, zu einer metaphysischen Wesenheit, die ähnlich wie Hegels absolute Idee zu denken ist. Vgl. Mai Wegener: Unbewußt/Das Unbewußte, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB) Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, 223. Hartmann begreift das Unbewusste metaphysisch und teleologisch. Am Anfang fühlt sich Nietzsche von Hartmann angezogen, später wendet er sich jedoch gegen ihn. Zu Nietzsches Rezeption von Hartmann siehe vor allem: Federico Gerratana: Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869–1874), in Nietzsche-Studien 17 (1988), 391–433 und Günter Gödde: Nietzsches Perspektivierung des Unbewussten, 165–168. 43 Exemplarisch dafür steht das Fragment 1 [43] vom Herbst 1869 (KSA, NF, 7, 21), in dem das Unbewusste mit dem Produktiven identifiziert wird. Vgl. Günter Gödde: Nietzsches Perspektivierung des Unbewussten, 155 und Erwin Schlimgen: Das Unbewusste, in: Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2000, 347. 42
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Resümee
versucht Nietzsche immer zu zeigen, wie sich die Musik mit konkreten Problemen der zeitgenössischen Kultur und mit den geistigen Bedürfnissen des Menschen auseinandersetzt. Bewegt sich Schopenhauers Philosophie der Musik noch zu sehr aus Systemzwang in der Transzendenz, ist Nietzsches Ansatz streng anthropozentrisch.
2.6. Resümee Während die Musik in der Antike ein vielseitiges Phänomen war, das über die Kunstgattung hinausging und eine Einheit mit der Sprache bildete, trennt die Neuzeit Musik und Sprache. Trotzdem ist man aufgrund der Unbestimmtheit der musikalischen Form, die mit der Unbildlichkeit der Affekte zu identifizieren ist, genötigt, die Musik in Analogie mit der Sprache zu denken. Dies geschieht, indem man, nachdem Sprache und Musik formal getrennt sind, auf die musikalische, affektive oder klingende Ebene der Sprache aufmerksam macht. Eine Trennung bleibt jedoch trotzdem bestehen, denn die Tatsache, dass die Sprache eine musikalische Seite hat, reicht zur vollständigen Erklärung der Musik und ihrer Wirkung nicht aus. Die Analogie mit der gesprochenen Sprache ist eine Strategie der Konfrontation mit der Unbestimmtheit der musikalischen Form. Bei Kant, Hegel und den Frühromantikern erweist sich die Musik als eine extrem unbestimmte Form, die sich nicht begrifflich fassen lässt, da sie ohne Anschauung ist. Daraus aber wird eine merkwürdige Konsequenz gezogen: Wenn die Musik nichts sagen kann, muss sie auch alles sagen können. Aus diesem Grund eignet sich die Musik besonders für Totalitäts- und Unendlichkeitsreflexionen und wird daher zum Inbegriff der ästhetischen Idee. Auch wenn Kant und Hegel dies letztlich zugeben, weisen sie der Musik einen unteren Rang in ihren Systemen zu, weil sie die Unbestimmtheit der Musik negativ bewerten. Ganz anders die Frühromantik, weil sie als literarisch-kritische Bewegung die Reflexion nicht als Wahrheitskorrespondenz, sondern als Konstruktion sprachlicher Systeme betrachtet und daher nicht der Anschauung verpflichtet ist. Alle besprochenen Ansätze gehen mehr oder weniger ausdrücklich von der Annahme aus, dass die Musik Affekte ausdrückt, wobei der Ausdruck nicht mit Mimesis im bildlichen Sinne gleichzusetzen ist, 39 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Philosophie der Musik
sondern als lebendige Darstellung verstanden werden muss und so dem ursprünglichen Sinn des Wortes näher steht! War der Mangel an Anschauung und die damit verbundene Schwierigkeit, eine Begrifflichkeit zu finden, ein erstes Kriterium für die negative Haltung gegenüber der Musik, ist die Einstellung gegenüber den Affekten als ein zweites wichtiges Kriterium zu betrachten. Die Musik wird auch bewertet je nach dem, wie hoch jeder Philosoph die Affekte schätzt und daher lässt sich erklären, warum einerseits Kant und Hegel sich der Musik gegenüber extrem zurückhaltend verhalten, während andererseits Schopenhauers Theorie eine Apotheose der Musik darstellt. Bei Kant und Hegel haben die Affekte, was ihren erkenntnistheoretischen Status anbelangt, keine hohe Stellung. Bei Schopenhauer findet dagegen eine Aufwertung der Affekte statt, denn es ist ein vergrößerter Affekt – der Wille –, der die Welt bewegt und aus der Aufwertung der Affekte resultiert die Aufwertung der Musik. Aus der Perspektive der Affekte bzw. des Gefühls ließen sich der »Wille« Schopenhauers wie auch die »abstrakte Subjektivität« Hegels und die »ästhetische Idee einer unnennbaren Gedankenfülle« Kants als Deutungen des affektiven Substrats der Sprache, oder für die Intelligenz der Sinne verstehen. Bei Nietzsche wird die Musik auf eine explizite Weise zum Modell der Produktivität der Affekte. Die außerordentliche Stellung der Musik bei Schopenhauer und Nietzsche bleibt unverständlich, wenn man sie nicht als Umkehrung der Verlegenheit von Kant und Hegel bezüglich der Deutung des Wesens der Musik betrachtet. Vergleicht man den Ansatz Schopenhauers mit den Ansätzen von Kant und Hegel, könnte man ohne weiteres zu der Schlussfolgerung kommen, dass Schopenhauer systematisch dort anfängt, wo Kant und Hegel aufgrund des Mangels an Anschauung und aufgrund ihrer Reserve gegenüber den Affekten aufhören. Aus der affektiven Beschaffenheit der Musik können Kant und Hegel keinen Begriff machen, obwohl in ihren dichten und rätselhaft klingenden Formulierungen eine verborgene Dynamik liegt, vorausgesetzt, dass man ihre Ansätze als Versuche in Richtung einer Aufwertung der Affekte interpretiert. 44 Insofern sollten Kant und Hegel ebenfalls als ›Vorläufer‹ Nietzsches betrachtet werden, auch wenn sie keinen direkten Einfluss auf Zur Musikästhetik Kants und Hegels siehe inbesondere Jens Kulenkampff: Musik bei Kant und Hegel, in: Hegel-Studien 22, (1987), 143–163.
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Resümee
Nietzsche üben. Am zutreffendsten wäre im Rahmen der hier entwickelten Sicht, eine Traditionslinie zu postulieren, die mit Kant beginnt und neben der bei Schopenhauer stattfindenden Umkehrung in der Philosophie Nietzsches gipfelt.
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3. Die metaphysische Perspektive
3.1. Das Fragment Ueber Stimmungen Wie in der Einführung erwähnt, gibt es zwei Arten des Umgangs mit den eigenen Affekten: Man kann sie fliehen oder sich mit ihnen konfrontieren. Nietzsche entscheidet sich schon in seiner Jugend für die Konfrontation und setzt sich durch eigenes Komponieren und Musizieren intensiv mit der Musik auseinander. 1 Anhand des Fragments Über Stimmungen aus dem Jahre 1864 soll nun demonstriert werden, wie Nietzsche über die Musik von früh an reflektiert hat: auf eine erstaunliche Weise findet sich hier bereits alles, was Nietzsche später systematisch beschäftigen wird. Curt Paul Janz beschreibt das folgende Fragment als ein Selbstporträt Nietzsches, in dem Wesenszüge seines Charakters, wie »die Macht des Willens, die in ihm so groß ist, die Wachheit des Geistes, die sieht, wie dieser selbe scheinbar unbändige Wille oft schläft und nur die Triebe und Neigungen wachen läßt«, erkennbar sind. 2 Tatsächlich gilt dies auch für Nietzsches musikalisches Wesen, denn in diesem Fragment zeigt er sich als ein besonders aufmerksamer Hörer, der versucht, die Art und Weise zu beschreiben, in der Musik ihn animiert. Da dieses Fragment eine Präfiguration von Nietzsches Musikästhetik darstellt, soll es vollständig zitiert und im Anschluss ausführlich kommentiert werden.
1 Dazu siehe vor allem Curt Paul Janz: Die Kompositionen Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), 173–184, Ders.: Die Musik im Leben Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 72–86; Peter André Bloch: Nietzsche als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos, in: Nietzscheforschung 13 (2006), 93–114 und Manos Perrakis: Die intime Botschaft der Musik. Nietzsches Musizieren in drei Akten, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 53 (2008), http://www.theomag.de/53/mp1. htm. 2 Vgl. Curt Paul Janz: Nietzsche Biographie, Bd. 1, 119.
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Das Fragment Ueber Stimmungen
Ueber Stimmungen. Man vergegenwärtige sich, wie ich am Abende des erstehni Ostertages in einen Schlafrock eihnigehüllt zu Hause sitze; draußen regnet es fein; niemand ist sonst im Zimmer. Ich starre lang auf das vor mir liegende weißhei Papier, die Feder in der Hand, ärgerlich über die wirre Menge von Stoffen, Ereignissen und Gedanken, die alle niedergeschriebehni zu werden verlangen; und manche verlangen es sehr stürmisch, da sie noch jung und gährend wie Most sind; dagegen sträubt sich aber mancher alte, ausgereifte, geklärte Gedanke, wie ein alter Herr, der mit zweideutigem Blick die Bestrebungen der jungen Welt mißt. Sagen wir es offen, unsre Gemüthsverfassung ist durch den Streit jener alten und jungen Welt bestimmt, und wir nennen die jedesmalige Lage des Streites Stimmung oder auch, etwas verächtlich, Laune. Als guter Diplomat erhebe ich mich etwas über die zwistigen Parteien und schildere den Zustand des Staates mit der Unbefangenheit eines Mannheis, der Tag für Tag aus Versehn allen Parteisitzungen beiwohnt und denselben Grundsatz praktisch anwendet, den er auf der Tribüne verspottet und auszischt. Gestehn wir es, ich schreibe über Stimmungen, indem ich eben jetzt gestimmt bin; und es ist ein Glück, dass ich gerade zum Beschreibhein der Stimmungen gestimmt bin. Ich habe an diesem Tage viel die Consolations von Liszt gespielt, und ich fühle, wie die Töne in mich eingedrungen sind und in mir vergeistigt wiederklingen. Und ich habe kürzlich eine schmerzliche Erfahrung gemacht und einehni Abschied oder einehni Nichtabschied erlebt, und nun merke ich, wie dies Gefühl und jene Töne sich mit einander verschmolzen habehni und glaube, daß die Musik mir nicht gefallehni habehni würde, wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht. Das GleichartigealsosuchtdieSeeleansich [sic] zu ziehen, und die vorhandnhei Masse von Empfindungen drückt die neuehni Ereignisse, die das Herz treffehni aus wie eine Citrone, doch immehri so, daß nur ein Theil des Neuehni sich mit dem Alten vereinigt, daß aber doch ein Rest bleibt der noch nichts Verwandtes in der Seelheinwohnung findet und deshalb allein sich hier einlogiert, recht oft zur Unlust der altehni Bewohner, mit denehni er darum oft in Streit geräth. Aber siehe! da kommt ein Freund, da öffnet sich ein Buch, dort geht ein Mädchen, horch! da klingt Musik! – Schon strömehni wieder von allen Seitehni neue Gäste in das allehni offenstehende Haus und der eben allein Stehende findet viele und edle Verwandte. Aber es ist wundersam; nicht die Gäste komhmein weil sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es kommehni die welche müssen und nur eben die, welche müssen. Alles, was die Seele nicht reflektierehni kann, trifft sie nicht; da es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektierehni zu lassen oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will. Und das scheint vielehni wiedersinnig; denhni sie erinnern sich wie sie sich gegen gewisse Empfindungehni sträuben. Aber was bestimmt schliesslich den Wil-
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Die metaphysische Perspektive
len? Oder wie oft schläft der Wille und nur die Triebe und Neigungen wachen! Eine der stärkstehni Neigungen der Seele aber ist eine gewisse Neubegierde, ein Hang nach dem Ungewohntehni, und aus diesem erklärt sich, warum wir oft uns in unangenehmhei Stimmungehni versetzehni lassen. Aber nicht nur durch den Willehni nimmt die Seele an; die Seele ist aus demselbehni Stoff aus dem die Ereignisse gemacht sind oder aus ähnlichehmi und so kommt es, daß ein Ereigniß, das keine verwandte Saite trifft, doch mit der Last der hStimmungi schwer auf der Seele liegt und allmählich ein solches Uebergewicht erlangehni kann, dass es dehni andehrin Inhalt der Seele zusammendrückt und einengt. Stimmungen kommheni also entweder aus innern Kämpfen oder aus einem äußern Druck auf die innere Welt. Hier ein Bürgerkrieg zweier Heerlager, dort einhei Bedrückung des Volkes von Seiten eines Standes, einer kleinheni Minorität. Ist mirs doch oft, wenn ich meine eignehni Gedankehni und Gefühle belausche und stumm auf mich achte, als ob ich das Summehni und Brausen der wilden Parteihein hörte, als ob ein Rauschehni durch die Luft ginge, wie wenn ein Gedanke oder ein Adler zur Sonne fliegt. Kampf ist der Seele fortwährende Nahrung, und sie weiß sich aus ihm noch genug Süßes und Schönes herauszunehmen. Sie vernichtet und gebiehrit dabei neues, sie kämpft heftig und zieht [den] den Gegner doch sanft auf ihre Seite zu inniger Vereinigung. Und das Wunderbarste ist, dass sie nie auf das Äußre achtet, Name, Personen, Gegenden, schöne Worte, Schriftzüge, alles ist ihr von untergeordnetem Werthe, abehri sie schätzt das, was in der Hülle ruht. Das was jetzt vielleicht dein ganzes Glühcik oder dein ganzes Herzeleid ist, wird vielleicht in Kurzem nur noch das Gewand eines noch tiefern Gefühls sein und wird darum in sich verschwinden, wenn das Höhere kommt. Und so vertiefehni sich immehri mehr unsre Stimmungen, keine einzige gleicht einer andern genau, sondern jede ist unergründlich jung und die Geburt des Augenblicks. Ich denke jetzt an manches, was ich liebte; Namehni und Personehni wechseltehni und ich will nicht behauptehni, daß wirklich ihre Naturen immehri tiefer und schöner geworden wären; wohl aber ist es wahr, daß jede dieser ähnlichehni Stimmungehni für mich einheni Fortschritt bedeutet, und daß es dem Geist unerträglich ist, dieselbehni Stufen, die er durchschritt, noch einmal zu durchschreiten; immer mehr in Tiefe und Höhe will er sich breiten. Seid mir gegrüßt, liebe Stimmungen, wundersame Wechsel einer stürmischehni Seele, mannichfach wie die Natur ist, aber großartiger als die Natur ist, da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt; die Pflanze aber duftet noch jetzt wie sie am Tage der Schöpfung duftete. Ich liebe nicht mehr, wie ich vor Wochehni liebte; ich bin in diesem Augenblick nicht mehr so gestimmt, wie ich es beim Beginn des Schreibheins (KGW, I 3, 371–374).
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Das Fragment Ueber Stimmungen
Zuerst zum Titel: Das Fragment heißt Über Stimmungen. Wenn man z. B. die Definition Richard Eislers im Wörterbuch der philosophischen Begriffe berücksichtigt, nach der Stimmung: »die besondere, von äußeren und inneren Umständen abhängige Gemütslage, Gemütsverfassung, gemütliche ›Resonanz‹ eines Individuums, die Gefühlsdisposition zu einer bestimmten Zeit im Gefolge von Organempfindungen, Vorstellungen, Reflexionen, Erlebnissen heiterer oder trauriger Art« ist, scheint die Wahl des Wortes Stimmung hier sehr treffend. 3 Das Fragment aber hätte auch Über Affekte, Über Gefühle, Über Leidenschaften, Über Emotionen oder Über Empfindungen heißen können, denn Nietzsche verwendet all diese Termini zur Bezeichnung des inneren Lebens als Synonyme. 4 In diesem Fragment geht es um den Topos von der Musik als Ausdruck von Affekten, nur dass sie hier als ›Stimmung‹ bezeichnet werden. Bei diesem Ausdruck von Affekten geht es um eine innere Bewegung, die Anlass zu einer Selbstreflexion ist, da die Affekte des Werkes sich mit den Affekten des Hörers begegnen. Hier wird schon die Eigenart der musikästhetischen Untersuchungen Nietzsches deutlich. Denn Nietzsche spricht vor allem aus der Perspektive des Hörers, nicht aus der Perspektive des Werkes, des Komponisten oder des Interpreten. Doch kommen wir nun näher zum Text. Nietzsche sitzt vor einem weißen Blatt Papier und spürt eine Stimmung, die er als Antagonismus verschiedener Kräfte (Stoffe, Ereignisse, Gedanken) definiert und auf das Hören eines Klavierstücks zurückführt. Es handelt sich um die Consolations von Franz Liszt, einem Zyklus von sechs 1849–1850 entstandenen kleinen Klavierstücken, die von der gleichnamigen Gedichtsammlung des französischen Dichters Saint-Beuve inspiriert sind. Die Tatsache, dass Nietzsche selbst spielt, intensiviert sein Hörerlebnis. Stimmung wird in erstaunlicher Nähe zum späteren Konzept des Willens zur Macht als inneres Geschehen und »die jedesmalige Lage des Streites« zwischen verschiedenen Affekten, als das Faktum eines dynamischen Gleichgewichts definiert. Um diese Stimmung überhaupt R. Eisler: Artikel: »Stimmung«, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 3, Berlin 1910, 1429. 4 In der neueren Philosophie werden diese Begriffe nicht einheitlich und mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, doch gelten sie trotz der Nuancen im Grunde als Synonyme.Vgl. Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl, 137. 3
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Die metaphysische Perspektive
wahrnehmen zu können, versucht Nietzsche »als guter Diplomat« Distanz zu nehmen. Das Selbst, das er als Diplomat betrachtet, wird mit dem in den späten Jahren häufig verwendeten Bild eines Staates, in dem konkurrierende Kräfte sich streiten, veranschaulicht. 5 Um diesen Antagonismus von Kräften zu verstehen, muss Nietzsche die von der Musik erregten Stimmungen an seine eigene Erfahrungen binden und spricht auf zurückhaltende Weise von einer schmerzlichen Erfahrung, einem Abschied oder Nicht-Abschied. Dieser Satz lässt sich als Vorwegnahme eines Leitmotivs der Philosophie Nietzsches lesen, nach dem negative Erfahrungen manchmal eine erstaunliche Produktivität zeitigen können. Bei der Musik anerkennt die Seele, die an sich nichts Rätselhaftes in einem christlich-platonischen Sinne, sondern aus demselben Stoff wie die Ereignisse ist, etwas Verwandtes, und so verschmelzen die Affekte der Musik mit der eigenen affektiven Lage. Das Ergebnis dieses Prozesses der Verschmelzung ist eine persönliche Bereicherung, wobei es zu einer Konfrontation zwischen Altem und Neuen in der Seele kommt. Die Metaphorik ist hier besonders anschaulich. Die Seele, Ort dieses Antagonismus, ist wie ein Haus mit Bewohnern und Gästen. Neue Besucher kommen von allen Seiten ständig an, manchmal sogar zur Unlust der alten Bewohner. Allerdings werden gegenseitig Verwandtschaften festgestellt, so dass die Konstellation der alten Bewohner mit den neuen Gästen alles andere als zufällig erscheint: »es kommen die welche müssen und nur eben die, welche müssen.« Es gibt mithin eine Notwendigkeit dafür, welche Gäste bleiben und welche Gäste gehen. Diese Notwendigkeit liegt in der eigenen Konstitution des Individuums und seiner lebensgeschichtlichen Situation. 6 Die musikalische Erfahrung führt zur Bereicherung der Seele durch einen Konflikt zwischen den erregten Affekten. Deswegen ist die Neugierde samt einem »Hang nach dem Ungewohnten« sehr stark, und ein Grund, »warum wir oft uns in unangenehme Stimmungen versetzen lassen«. Die Bereicherung ist ein Kampf, ohne den jedoch nichts Neues zustande käme, wobei die Schönheit genau daraus resultiert, dass etwas Neues zustande kommt. Aus einer vorhandenen Stimmung entsteht eine neue Stimmung, die verklärt oder verdeutlicht wird, um dann selbst wieder verklärt zu werden in einem unendlichen 5 6
Vgl. beispielsweise KSA, NF, 11, 638. Siehe auch KSA, MA II, 2, 622 f.
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Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers
Prozess der Sublimierung, »da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt«. Jede neue Stimmung ist wie eine Eroberung zu bejubeln. Deswegen ist die Bewegung und die Konfrontation mit den eigenen Stimmungen eine Ursache der Freude, die aus dem Schlussakkord des Textes klingt: Nietzsche apostrophiert die Stimmungen nun direkt und heißt die »wundersame[n] Wechsel einer stürmischen Seele willkommen«. Dieses Fragment schreibt Nietzsche mit zwanzig. Die hier skizzierte Musikästhetik der Affekte wird er wenige Jahre später systematisch entwickeln. Als Katalysator wirkt dabei die Philosophie Schopenhauers, die Nietzsche ein Jahr später kennenlernt.
3.2. Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers In seiner ersten Phase, die mit der Geburt der Tragödie (1872) beginnt und bis zu dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) reicht, steht Nietzsche zum großen Teil im Banne Schopenhauers und dies in doppelter Hinsicht, denn zu der direkten Rezeption Schopenhauers tritt die des theoretischen Werk Wagners, der selbst von Schopenhauer geprägt ist. Aus textökonomischen Gründen werden wir auf den unmittelbaren Einfluss der Schriften Wagners auf Nietzsche nicht weiter eingehen, da er sehr ausführlich in der Sekundärliteratur besprochen worden ist. 7 Stattdessen werden wir im Folgenden versuchen zu zeigen, was Nietzsche von Schopenhauer mit Blick auf die Musik beibehält und weiterentwickelt, und worin er sich von ihm unterscheidet. Zuerst aber muss die praktische Konsequenz der Musikphilosophie Schopenhauers gezogen werden, damit der Hintergrund der Motivation Nietzsches deutlich wird. Wenn die Musik den Willen, das Wesen der Welt, zum Gegenstand nimmt und folglich für Schopenhauer eine umfassendere Sprache als die Wortsprache ist, die den Kern der Dinge trifft, während die Sprache der Begriffe nur die äußere Schale berührt, dann gewinnen Vgl. dazu ausführlich Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 52–67; Klaus-Detlef Bruse: Die griechische Tragödie als ›Gesamtkunstwerk‹ – Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 156–176 und Klaus Kropfinger: Wagners Musikbegriff und Nietzsches ›Geist der Musik‹, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 1–12.
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Die metaphysische Perspektive
beide, Musik und Affekte, automatisch eine unvergleichlich hohe Stellung. 8 Davon können vor allem die Musiker profitieren, deren Status so eine Aufwertung als Verwalter der Affekte erfährt. Das ist der Fall Richard Wagners, der die These Schopenhauers in Bezug auf die Erlösungsfunktion der Musik umdeutet, indem er die Musik zum Vehikel seiner Kunstreligion macht, – also der Auffassung, nach der die Kunst bzw. Musik ganz an die Stelle der Religion tritt. Während für Schopenhauer die Erlösung durch die Musik nur momentan ist und die einzige dauerhafte Erlösung durch Askese und Mitleid geschieht, macht Wagner aus diesem Moment einen kunstreligiösen Plan. 9 Nietzsche schreibt sein erstes Werk, die Geburt der Tragödie, um Wagners kulturpolitische Pläne zu unterstützen. Um diesen Zweck zu erfüllen, muss er die Konsequenzen von Schopenhauers Philosophie dramatisieren. Hat die Musik das Wesen der Welt zum Gegenstand, dann kann man mittels der Musik in das Wesen der Welt eingreifen und dies umso mehr, wenn man der seit der Antike verbreiteten Ethoslehre der Musik anhängt, nach der die Musik immer aufgrund der Macht ihrer Wirkung als diejenige Kunst profiliert worden ist, die am meisten affektiert und deshalb zum Guten oder zum Schlechten bewegen kann. Darauf lässt sich eine ganze Weltanschauung gründen, worauf beide – Nietzsche und Wagner – abzielen, indem sie an Schopenhauers Philosophie anknüpfen. Eine neue Weltanschauung entwerfen zu wollen, entspricht als Ursache nichts anderem als einem Unbehagen an der zeitgenössischen Kultur, die einen Prozess der Entfremdung darstellt. Das ist die Ausgangslage Wagners, eines enthusiastischen Revolutionärs, der mit seiner Kunst die Gesellschaft verändern will. Wie aber kann die Musik eine solche Funktion erfüllen? An diesem Punkt wird die kulturkritische Konsequenz der Metaphysik der Musik Schopenhauers gezogen. Die Musik eignet sich besonders für die Verneinung der zeitgenössischen Kultur, da sie unsichtbar ist und daher als Negation des Raumes exemplifiziert werden kann. Die Tatsache nämlich, dass die Musik keine im sichtbaren Raum feste Entität besitzt und in ständiger Bewegung ist, macht sie zur Verneinung des Scheins und gleichzeitig zum Ausdruck des Wunsches nach einer anderen Welt. Sie zeigt, dass es ein Wahres gibt (Schopenhauers 8 9
Später macht Nietzsche dies Schopenhauer zum Vorwurf (vgl. KSA, GM, 5, 346). Vgl. Alexandra Kertz-Welzel: Die Transzendenz der Gefühle, 254.
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Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers
»ante rem«), ohne es jedoch zu verraten. Wenn in Schopenhauers Metaphysik der Wille das Wahre hinter den Erscheinungen (Schein) ist, dann kann die Musik als Symbol oder als Wiederholung des Willens den Schein (die Welt der Erscheinungen) negieren. Diese Negation des Scheins stellt somit eine verkleidete Kulturkritik bzw. eine Stilisierung des Unbehagens an der zeitgenössischen Kultur dar: Wer, wie Schopenhauer, in der Musik eine Welt hinter dieser Welt sieht, die noch nicht in die Form der Individuation eingegangen ist, und wer andererseits gerade den gebrechlichen tief hoffnungslosen Charakter des Lebens aus der trennenden Gewalt der Indivhiduationi ableitet, muß in der Musik die wenngleich begriffs- und bildlose Conception einer besseren Welt machen, einer unschuldigen, liebevollen, heiter-tiefsinnigen [Hervorhebung von M. P.]. (KSA, NF, 8, 262)
Man sieht hier klar, dass der Willensmetaphysik der Musik praktische Interessen zugrunde liegen, denn dieses Konzept fungiert als Orientierungsinstanz. Dies ist der Grund für Nietzsches Adoption der Willenssymbolik Schopenhauers, von dem er sich jedoch, was das Prioritätsverhältnis zwischen Wille und Musik betrifft, distanziert. Anders als bei Schopenhauer ist der Wille für Nietzsche Gegenstand und nicht Ursprung der Musik. Das bedeutet, dass zwar der Wille ein Symbol der Musik ist, aber nicht umgekehrt. Die Musik ist Erscheinung und als solche erscheint sie in unserem Intellekt als Wille. 10 Damit stellt Nietzsche die erkenntnistheoretische Grundlage der Willensymbolik in Frage, ohne deren grundsätzliche Bedeutung zu negieren. Anders formuliert: Der Wille ist der wichtigste Gegenstand der Musik; daher ist es von größter Wichtigkeit, das Ziel dieser Gegenstandssetzung zu verfolgen. 11 Wenn der Wille Schopenhauers, das »Ding an sich«, Gegenstand und nicht Ursprung der Musik ist, dann bedeutet dies, dass man die Symbolik des Willens in die Musik hineinlegt. Nietzsche fragt sich nun, unter welchen (transzendentalen) Bedingungen die Rede von einer Willenssymbolik der Musik möglich ist. Um diese Frage zu beantworten, muss er näher auf den Willensbegriff eingehen. Der Wille Schopenhauers besitzt zwei Aspekte, den Willen als Ding an sich und den Willen als Erscheinung. Wir haben vorher gesagt, KSA, GT, 1, 50–51 ff. Vgl. auch Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 85. Nietzsches lebenslange Auseinandersetzung mit der Musik besteht m. E. genau in diesem Punkt. 10 11
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Die metaphysische Perspektive
dass der Wille als Ding an sich ein Nenner, ein Inbegriff für die innere Welt (Affekte, Gefühle, Leidenschaften, Emotionen) ist. Der reine Wille soll also dem harten Kern des Gefühls am nächsten stehen. Das Gefühl aber ist etwas, was nur als Erscheinung und allein in Bezug auf ein Individuum gedacht werden kann. Was aber ist das Besondere des Gefühls, die es als Erscheinung in nächste Nähe zum reinen Willen, wie ihn Schopenhauer begreift, bringen kann? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns Nietzsches Gefühlsbegriff zuwenden, welcher sich in der kleinen unveröffentlichten Abhandlung Die Dionysische Weltanschauung vom Juli 1870 findet: Was wir »Gefühl« nennen, das lehrt die auf Schopenhauers Bahnen wandelnde Philosophie als einen Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen begreifen. Die Strebungen des Willens aber äußern sich als Lust oder Unlust und zeigen darin nur quantitative Verschiedenheit. Es giebt keine Arten von Lust, wohl aber Grade und eine Unzahl begleitender Vorstellungen. Unter Lust haben wir Befriedigung des e i ne n Willens, unter Unlust seine Nichtbefriedigung zu verstehen. In welcher Weise theilt sich nun das Gefühl mit? Theilweise, aber sehr theilweise kann es in Gedanken, also in bewußte Vorstellungen umgesetzt werden; dies gilt natürlich nur von dem Theile der begleitenden Vorstellungen. Immer aber bleibt auch auf diesem Gebiet des Gefühls ein unauflösbarer Rest [Hervorhebung von M. P.]. Der auflösbare allein ist es, mit dem die Sprache, also der Begriff zu thun hat: hiernach bestimmt sich die Grenze der » P o e s i e « in der Ausdrucksfähigkeit des Gefühls. (KSA, DW, 1, 572)
Der Wille ist, wie oft behauptet wird, ein Oberbegriff des Gefühls. Auffällig ist hier, dass Nietzsche das Gefühl als eine Form des Verstandes definiert. Es handelt sich um einen Komplex unbewusster Vorstellungen und Willenszustände, der aber einen unkodifizierbaren Rest hat. Dieser begrifflich unauflösbare Rest wäre in der Terminologie Schopenhauers der reine Wille. Anders gesagt kann der reine Wille Schopenhauers nur für den unauflösbaren Rest des Gefühls stehen. Der reine Wille ist ein Symbol für diesen unbestimmten Teil des Gefühls. Damit wird die Musik zum Symbol des reinen Willens, der auch ein Symbol und kein Unbedingtes ist. Diese Symbolik ist aber nur durch die Sprache möglich, denn jede Symbolik ist auf ein hermeneutisches Paradigma zurückzuführen, welches nur sprachlich zu fassen ist. Erst kommt der Begriff des Willens und dann kann eine entsprechende symbolische Sprache für diesen Willen gefunden werden. Laut Nietzsche wäre die Musik als Erschei50 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers
nung primär und der Wille als Symbol sekundär. So ist die Musik Nachbild des reinen Willens, der ein Nachbild von diesem begrifflich unauflösbaren Rest ist, denn sie kann kein Abbild von einem unbekannten Urbild sein. Bereits hier wird ersichtlich, wie radikal Nietzsche sich von Schopenhauer abwendet und einen eigenen, differenzierten Gefühlsbegriff entwickelt. Dass Nietzsche von Schopenhauer Abstand nimmt, zeigt sich in der Tatsache, dass das Wort ›Wille‹ am Anfang der Geburt der Tragödie stets in Anführungszeichen gesetzt ist. 12 Dies ändert sich erst im 6. Kapitel, wo der Wille als Erscheinung, bzw. als Gegenstand der Musik bezeichnet wird. Als Wille erscheine die Musik im »Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe« (KSA, GT, 1, 50), worunter das Sprachparadigma notwendigerweise zu unterstellen ist, denn die Sprache ist »Organ und Symbol der Erscheinungen« (ebd., 51). Nur durch die Sprache können wir etwas empirisch Bekanntes, wie das Phänomen der Musik, als Ausdruck für etwas Unbekanntes (Wille) bzw. den unauflösbaren Rest des Gefühls benutzen. Das wird auch durch den Ausdruck »Geist der Musik« impliziert, denn nur die Sprache kann der Musik einen »Geist«, bzw. einen Inhalt geben, und folglich ist die Philosophie als gesteigerte Form sprachlichen Ausdrucks dafür am besten geeignet. So zeigt Nietzsche durch seine Kritik an Schopenhauer die Grenzen von dessen metaphysischer Perspektive der Musik als Ausdruck des Willens bei Schopenhauer, ohne jedoch mit Schopenhauers Willensymbolik der Musik zu brechen. Denn Nietzsche stellt zwar den Willen als Ursprung der Musik in Frage, nicht aber seine Bedeutung als Gegenstand der Musik. Man braucht eine mächtige symbolische Sprache für diesen unauflösbaren Teil des Gefühls, den reinen Willen, weil dieser Teil mit dem Phänomen des Lebens als unmittelbarer Erfahrung identisch ist. Die Übertragung des empirischen Phänomens der Musik ins Metaphysische hat zum Zweck, die Musik zum Organ einer tragischen Weltanschauung zu machen, im Rahmen derer die Musik als Gegenkraft zu der sprachlich-begrifflichen Abstraktion der zeitgenössischen Kultur wirken kann, die die vitalen Kräfte des Menschen unterdrückt. Die Willenssymbolik der Musik macht die Musik als Sprache der Affekte zu einer mächtigen Gegensprache. Doch wem gegenüber? 12 Vgl. KSA, GT, 1, 25;36;37;38. Dasselbe gilt für die Basler Schrift Die dionysische Weltanschauung (1870), die eine Vorstudie zur Geburt der Tragödie darstellt.
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Die Musik fungiert als Gegenpol zu allen abstrakten theoretischen Diskursen, die die Natur des Menschen als Empfindungswesen unterdrücken. Es wäre allerdings verfehlt zu glauben, dass Nietzsche von einer Opposition zwischen Verstand und Gefühl ausging. Hinter seinen Ausführungen steckt ein Prinzip des Gleichgewichts, das eine ungefähre Gleichheit von Mächten in jeder dynamischen Konstellation bzw. Kräfteorganisation voraussetzt. 13 Nietzsche kalkuliert hier wie immer im Rahmen eines Kräfteantagonismus. Das Gefühl als Movens, als innewohnende Kraft des Menschen und Inbegriff seiner eigenen Individualität wird im Zeitalter des Historismus verdrängt. Die Musik soll dem Prinzip des Gleichgewichts dienen, indem sie das Gefühl in der Konstellation eines Antagonismus von Kräften unterstürzt.14 Es wurde gezeigt, dass Nietzsche sich bezüglich des Prioritätsverhältnisses von Wille und Musik von Schopenhauer abgrenzt. Seine Abgrenzung besteht also in einer Umkehrung: Der Wille ist Gegenstand der Musik und nicht die Musik Abbild des Willens. Den Symbolismus behält Nietzsche jedoch bei, weil sich allein aus ihm die Hochstellung der Musik, und so ihre kulturpolitische Wirksamkeit ableiten lässt. So setzt Nietzsche unter dem Primat der praktischen Vernunft Schopenhauers Metaphysik der Musik fort. Nachdem wir den großen Unterschied zwischen Nietzsche und Schopenhauer skizziert haben, wollen wir nun zu der von Nietzsche unternommenen Dramatisierung seiner Thesen kommen. Unter dem Stichwort ›Dramatisierungen‹ sind Formen der Steigerung und der Umschreibung aus der Perspektive des Lebens zu verstehen. 15 Dadurch versetzt Nietzsche die Thesen Schopenhauers aus dem Bereich des Transzendenten ins Transzendentale. Der Wille ist bei Nietzsche keine transzendente Entität, die sich außerhalb des Menschlichen in einer anderen ontologischen Sphäre bewegt, sondern es ist ein empirisches Phänomen (die Musik), welches als Wille erscheint. Der Mensch will
Vgl. KSA, MA I, 2, 89 f. Die Formulierung eines Prinzips des Gleichgewichts findet sich erst wesentlich später (KSA, MA II, 2, 555). Der Gedanke aber durchzieht Nietzsches Werke von Anfang an und ist ein unentbehrlicher Bestandteil seiner Kulturkritik. 15 Zu dieser grundlegenden Struktur des Lebens siehe ausführlich: Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, bes. die Abschnitte Die Dramatisierung der Individualität (167–172) und Dramatisierung und Distanzierung (255–258). 13 14
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eine mächtige Symbolsprache schaffen, um die Fülle des Lebens auszudrücken und genau das ist in der Musik der Fall. Nietzsches Wort für den Willen ist das so genannte ›Ureine‹. Damit verlagert er den Willen in die Welt der Individuation, während er für Schopenhauer notwendig jenseits der Individuation liegt. 16 Inhaltlich und stilistisch betrachtet, ist das Ureine die subjektive Dramatisierung des Willens versetzt in die Gestalt eines Quasi-Subjektes versetzt, d. h. anthropomorphisiert, 17 und dann in zwei künstlerische Instinkte unter den Götternamen Apollo und Dionysos verteilt wird. Die Vergöttlichung ist dann als eine gesteigerte Dramatisierung der Subjektivität zu verstehen. Der Wille wird also im Menschen und dessen ästhetischer Produktivität lokalisiert. Dafür findet Nietzsche die Metapher vom Menschen als »Dissonanz« (KSA, GT, 1, 155). Den musiktheoretischen Terminus der Dissonanz übernimmt Nietzsche aus der Vorherrschaft der Dissonanzspannung vor der harmonischen Auflösung, die ihn stark Wagners Tristan so stark affektiert hat, und macht daraus eine Orientierungsmetapher: Der Mensch verhält sich zur Welt, wie der Hörer zu einer musikalischen Dissonanz. Wie aber nimmt man Dissonanzen wahr? Eine kleine Phänomenologie der musikalischen Dissonanz bietet Roger Häußling: Das akustische Vernehmen einer Dissonanz ist zunächst mit Schmerz verbunden, weil sie mit etwas Amorphem konfrontiert. Das kann natürlich Bedrohung bedeuten, denn die Dissonanz umgeht alle künstlich vom Menschen errichtete Schutzwälle. Die Konfrontation aber mit einer Welt jenseits der Ordnungen und Symmetrien eröffnet für den Menschen die Möglichkeit einer neuen Perspektive und eines neuen Zugangs zu seinen Wirklichkeiten. […] Die Dissonanz pertubiert die harmonische Ordnung in einem Musikstück und sprengt damit den Weg frei für einen neuen musikalischen Einfall, für eine unerwartete musikalische Wendung. 18
Das Aufnehmen der Dissonanz steht metaphorisch für den Prozess ständiger Selbstüberwindung und Aneignung des Neuen, sowie für die Fähigkeit des Menschen, sich immer neu innerhalb der Kultur zu erfinden. 19 Deswegen endet die Geburt der Tragödie mit folgender FraSiehe dazu KSA, NF, 7, 205. Siehe auch KSA, NF, 7, 831 f. 18 Roger Häußling: Zur Rolle der Kreativität heute, 86–87 ff. 19 Man könnte die Dissonanz auch über Hamanns Begriff des ›produktiven Regelbruchs‹ denken. Dazu siehe Ruth Bolten-Kölbl: Das Pathos des Dionysischen, 21. 16 17
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Die metaphysische Perspektive
ge: »Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch?« (KSA, GT, 1, 155). Nietzsches Charakterisierung des Menschen als inkarnierte Dissonanz ist seine Antwort auf die Grundfrage aller Anthropologie »Was ist der Mensch?« und soll wie eine Selbstverständlichkeit klingen, denn Nietzsche fragt »Was ist sonst [Hervorhebung von M. P.] der Mensch?«, als wäre eine andere Antwort auf diese Grundfrage undenkbar! Die inkarnierte Dissonanz ist die letzte Dramatisierung der Geburt der Tragödie. Zuerst war die Rede vom Ureinen, dann von Apollo und Dionysos als Subjekten der Musik, jetzt ist es der Mensch selbst. Zugleich fungiert die Dissonanzmetapher auch als Entladung, denn sie zeigt den Menschen als etwas Endliches und Unvollkommenes, stets im Werden Begriffenes. Der feierliche Ton Nietzsches sollte hier nicht von der Ambivalenz der Metapher ablenken. Diese emphatische Definition des Menschen als Musik, in der die Dramatisierung des subjektiven Elementes in der Musik kulminiert, zeigt überdeutlich, dass die Symbolik der Musik mangels mimetischer Beispiele so stark von der subjektiven Deutung abhängig ist, dass der Mensch sich selbst zum Objekt, zum Inhalt der Musik erhebt. Außerdem zeigt sie, wie sehr der Mensch sich in der Musik wiederfinden kann, um aus ihr Metaphern für sein Selbstverständnis zu entnehmen. An diesem Punkt sollte man nach den Motiven einer solchen Objektsetzung fragen. Die ergeben sich ähnlich wie bei der Sonderstellung der Musik: Der Mensch vermag eine mächtige symbolische Sprache zu finden, die seine innere Welt, die Welt der Affekte, ausdrückt, und diese mächtige Sprache gilt es weiter auszubauen und zu kultivieren. Dies erklärt, warum Nietzsche die Willenssymbolik Schopenhauers beibehält, obwohl er an ihrer metaphysischen Grundlage zweifelt. Hätte Nietzsche die Willenssymbolik nach seiner späteren Entfernung von Wagner preisgegeben, wäre der Fall klar. Die Tatsache aber, dass Nietzsche sie, wie wir im Laufe der Arbeit genauer feststellen werden, immer wieder eingehend geprüft hat, zeigt, für wie wichtig er die Musik als symbolische Sprache hielt.
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Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«
3.3. Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« Nach dem Schema der Willenssymbolik ist der Wille bei Nietzsche das Ureine. Wie der Wille zugleich reiner Wille und Erscheinung ist, so ist das Ureine in Dionysos als reiner Wille und in Apollon als Erscheinung geteilt. Überträgt man dieses Schema nun in einen kulturellen Kontext, wären das Dionysische und das Apollinische zwei dem Menschen inhärente Kunsttriebe der Natur. Dionysos steht für den Rausch und die Musik, Apollo für die Welt des Scheins und die plastischen Künste. Aus dem Antagonismus beider entsteht alle Kunst. Die Tragödie entsteht dagegen aus der Paarung dieser beiden Triebe, die in ihrer Form zu einem Gleichgewicht kommen. Obwohl beide Triebe in der Natur vorhanden sind, besitzt das Dionysische ein ontologisches Primat, da es mit dem Ureinen identisch ist. Dionysos ist die erste Objektivation des Ureinen und Apollo die erste Objektivation des Dionysos. Das bedeutet auch, dass die Musik einen ontologischen Primat als Erscheinung besitzt. Und dies ist in der Tat so, denn Nietzsche sagt ausdrücklich: die Musik »erscheint als Wille« (KSA, GT, 1, 46). Aus dieser Erscheinung der Musik als Wille lässt sich der »Geist der Musik« konstruieren. 20 Dieser Ausdruck bedeutet, dass alle Kunst und Kultur aus der Musik geboren wird. Der Geist der Musik ist der Geist der absoluten Musik, die nicht vom Wort oder von einer außermusikalischen Funktion bestimmt wird. Gemeint ist die Instrumentalmusik, obwohl streng genommen alle Musik aufgrund ihrer Unsichtbarkeit und der Tatsache, dass das Wort in Lied, Oratorium oder Oper, vor allem als Klangsignifikant wahrgenommen wird und in diesem Sinne der Musik unterworfen ist, im strikten Sinne als ›absolut‹ zu kennzeichnen wäre. ›Absolute Musik‹ gehört zu den meistdiskutierten Begriffen des 19. Jahrhunderts. Der Terminus stammt von Richard Wagner und erscheint zum ersten Mal 1846 in einem Programmheft zu einer Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie. 21 Dieser Terminus drückt die Dankbarkeit, die Wagner für Beethoven fühlt, aus, denn für
20 Zum »Geist der Musik« als Konstruktion siehe Tracy B. Strong: Nietzsche and the Song in the Self, in: New Nietzsche Studies 1:1/2 (1996), 1–14. 21 Vgl. dazu Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, 24 ff.
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Die metaphysische Perspektive
ihn sind die Symphonien Beethovens Ausdruck des ›Dinges an sich‹, Offenbarungen der Wahrheit der Welt, Manifestationen des Absoluten. Damit ist gemeint, dass die Instrumentalmusik aufgrund ihrer nicht durch Gegenständlichkeit begrenzten Symbolik eine ganze Welt erschließen kann. Den Symphonien Beethovens wurde eine solche unbegrenzte Symbolik zugeschrieben; für Wagner fungierten sie als Expositionen der Dramatik des menschlichen Daseins oder kurz: als ästhetische Ideen. Wagners Haltung gegenüber der Instrumentalmusik, für die Beethoven exemplarisch steht, ist allerdings ambivalent. Einerseits offenbart sich in seinen Augen in den Symphonien Beethovens das Wesen der Welt, andererseits bleibt die symphonische Form abstrakt und ist mit Beethoven an die Grenze der Abstraktion gelangt. Diese Ambivalenz hängt damit zusammen, dass Wagner, wie Carl Dahlhaus behauptet, mit zwei Musikbegriffen argumentiert, einem empirischen und einem metaphysischen. 22 Der metaphysische verweist auf Schopenhauer und bezieht sich hauptsächlich auf die Instrumentalmusik. Die Instrumentalmusik ist die höchste Kunstform und spricht die tiefste Wahrheit der Welt aus. Als Ausdruck der tiefsten Wahrheit der Welt soll deswegen die Musik nicht Mittel für etwas Außermusikalisches, sondern Zweck ihrer selbst sein. Der metaphysische Begriff der Musik ist Wagner wichtig, weil sich aus ihr die Hochstellung der Musik ableitet. Es ist aber Folgendes zu fragen: Wenn die Musik als Instrumentalmusik Selbstzweck ist, wie ist dann Wagners Musikdrama zu rechtfertigen? An diesem Punkt greift der empirische Begriff der Musik. Dieser Begriff setzt voraus, dass die Instrumentalmusik allein unbestimmt oder abstrakt ist. Zwar spricht sie die Dramatik des Lebens aus, doch tut sie dies auf eine sehr abstrakte, schwer kommunizierbare Weise. Wie wäre es aber, wenn die Musik, wie das Theater, das Leben sichtbar machte? Dafür sollte man über die Grenze der einzelnen Kunstform ›Musik‹ hinausgehen und eine neue Form schaffen, die alle Künste mittels der Musik vereinen soll. Das neue Ziel ist das Musikdrama nach dem Vorbild der Tragödie. Diese Auffassungen Wagners bedingen sich wechselseitig. Der metaphysische Begriff garantiert die
Siehe Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, 32. Vgl. auch Rudolf Fietz, Medienphilosophie, 23.
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Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«
Hochstellung der Musik, während der empirische den Übergang zum Musikdrama ermöglicht und der Instrumentalmusik aus ihrer Abstraktion heraushilft. Eine weitere Prägung des Begriffes der absoluten Musik ist formalistisch und stammt von dem Wiener Musikästhetiker, Hauptvertreter des Formalismus und Gegner Wagners, Eduard Hanslick. Unter absoluter Musik ist dann diejenige Musik zu verstehen, die von allen möglichen außermusikalischen Momenten (vor allem vom Gefühl) unabhängig und nicht nur Gegenstand ihrer selbst ist, sondern auch bleiben soll. Denn laut Hanslick hat die Verbindung der Musik mit dem Gefühl und der Religion das Musikpublikum zu einem pathologischen Hören verführt, das das Wesen der Musik auf ihre Wirkung reduziert: Ausschließliche Betätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich gerade pathologisch. 23
Die Verantwortung dafür tragen die Gefühlsästhetiker, die versuchen, aus dem Wirkungsmoment der Musik und – so könnte man im Sinne Nietzsches hinzufügen – dem begrifflich unauflösbaren Rest des von der Musik hervorgerufenen Gefühls, eine Metaphysik zu konstruieren und sich damit vom Wesen der Musik als Form entfernen. Nach Hanslick hat die Gefühlsästhetik – zu dessen prominenten Vertretern auch Wagner und Schopenhauer gehören – zu großen Missverständnissen geführt und das Publikum vom eigentlichen Wesen der Musik als selbständigem Kunstgebilde weggeführt. Kommen wir aber zur ersten, von Wagner geprägten Bedeutung des Begriffes zurück. Die Kategorie der absoluten Musik in ihrer metaphysischen Prägung ist aus einem Komplex von Exemplifikationen spezifischer Merkmale der Musik entstanden, vor allem der Unsichtbarkeit, bzw. dem Nicht-Mimetischen. Das Paradigma der absoluten, instrumentalen Musik war es, das Schopenhauer dazu geführt hatte, die Musik als unmittelbares Abbild des Willens zu sehen, denn der Wille als die bewegende Kraft hinter und in allen Erscheinungen kann nur unsichtbar sein. Wie der reine Wille Schopenhauers sich in mannigfaltigen Erscheinungen manifestiert, objektiviert sich der »Geist der Musik« all-
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Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1982, 41 f.
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Die metaphysische Perspektive
mählich in äußeren und inneren Anschauungen, in Bild und Begriff, ähnlich wie der Wille nur durch den Intellekt erscheinen kann. 24 Da es bei der Musik anders als in den bildenden Künsten keine direkte Anschauung eines Objektes gibt, die für die Rezeption des Hörers verbindlich sein könnte, hängen diese Objektivationen vollkommen von der Einbildungskraft des rezipierenden Subjektes ab 25. Da es zahllose Subjekte gibt, kann es zahllose Rezeptionen, bzw. Perspektiven der Musik geben. Der Mangel an verbindlichen Anschauungen und die zahllosen Möglichkeiten der Interpretation machen die Musik zu einer interpretatorisch besonders offenen Sprache und das Hören zum Exempel des ästhetischen Zustandes, den Nietzsche später folgendermaßen definieren wird: Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von M i tt he i l ungs m i tte l n, zugleich mit einer extremen Em pf ä ng l ic hk e i t für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen. (KSA, NF, 13, 296).
Diese Analogie zwischen Hören und ästhetischem Zustand macht die Musik zum Inbegriff der Ästhetik. Da es nichts Verbindliches im genannten Sinne gibt, ist die Einbildungskraft einerseits freier, andererseits muss sie besonders angestrengt werden, da keine Anschauung dem Werk der Einbildungskraft hilft. Geweckt werden nur Assoziationen, die aus der symbolischen Welt des hörenden Individuums stammen, denn das ›Dionysische‹ »enthält während seiner Dauer ein l e tha rgi sc he s Element, in das sich alles in der Vergangenheit Erlebte eintaucht [Hervorhebung von M. P.]« (KSA, DW, 1, 566). Das angeführte Zitat zeigt, wie konstitutiv die individuelle Erfahrung für das Verständnis der Musik ist, denn der Rezipient verarbeitet beim Hören unbewusst die Erfahrungen seiner eigenen Lebensgeschichte. Das soll nicht nur für den Hörer, sondern auch für den Interpreten gelten, der, wie es in einem späteren Aphorismus heißt, wie ein idealer Hörer sein muss:
Natürlich passiert dies blitzschnell und nicht bewusst, wenn man Musik hört. Versuchte man dennoch diesen Prozess zu verlangsamen, könnte man die Assoziationen des Hörers als Übersetzungen in Bild und Begriff beschreiben. 25 Siehe auch Rudolf Fietz: Medienphilosophie, 150: »Vielmehr ist die musikalische ›Sprache‹ gerade wegen des Fehlens einer verbindlichen Kodierung offen für je eigene, individuelle Rezeptionsvollzüge.« 24
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Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«
De n M e i ste r v e r ge ss e n m a c he n. – Der Clavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines [Hervorhebung von M. P.] Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes i st, wird Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der uns aus seinem [Hervorhebung von M. P.] Leben erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers für sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des »Virtuosentums«. (KSA, MA I, 2, 159)
Nach diesem Aphorismus ist der wahre Musiker derjenige, der das Werk erst ›gehört‹ hat. Um das Werk in diesem Sinne hören zu können, muss er die Affekte des Werkes mit seinen Affekten in Einklang bringen, ein Prinzip, das Nietzsche, wie das Fragment Über Stimmungen zeigt, an sich selbst angewendet hat. Sonst geht es um bloßes Nachspielen, um ein Virtuosentum ohne wahren Inhalt. Die musikalische Interpretation ähnelt der Begegnung von zweier Individuen, die ein lebhaftes Interesse füreinander haben. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Affekte des Hörers/Interpreten die des Werkes unterminieren. Die Anstrengung beim Hören nötigt den Hörer selber Künstler zu werden; die absolute Musik nämlich macht den Rezipienten zum »ä s t h e t i s c h e [ n ] Z u h ö r e r « (KSA, GT, 1, 143), einem produktiven Hörer-Künstler im Gegensatz zum ›kritischen‹ Zuhörer, der nur mit seinem Verstand, aber nicht mit allen seinen Sinnen teilnimmt. 26 Der kritische Zuhörer abstrahiert, während die Musik als leibliche Selbsterfahrung individuiert, und ist daher das genaue Gegenteil des ästhetischen Zuhörers. Der kritische Zuhörer macht seine Rezeption allein von einem isolierenden Verstand abhängig, während der ästhetische Zuhörer die Musik durch all seine Sinne wahrnimmt und das Gehörte kraft seines symbolischen Vermögens in unendlich viele Bilder, Gefühle, Gedanken usw. weiterleiten kann. Dadurch nimmt das Individuum die Position eines Schaffenden ein, der aus einem abstrakten Material symbolische Welten entstehen lässt. Sollte dies als starke Anstrengung empfunden werden, ist dies auf die anthropologische Verfassung zurückzuführen, denn »›Mensch‹ bedeutet ›Denker‹ : da steckt die Verrücktheit.« (KSA, NF, 7, 102) Um Sinn zu produzieren, ist der Mensch gezwungen, seine Sinnlichkeit zu sublimieren. 26
Vgl. Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 41; 50.
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Die metaphysische Perspektive
Dass man dahin kommt, eine Musik zu beschreiben, ist eher ungewöhnlich und äußerst schwierig. Wird er genötigt, beschreibt jeder Hörer dasselbe Werk anders. Die Eindrücke, die die Musik erzeugt, sind vielfältig und es ist durchaus möglich – wenn nicht sogar die Regel –, dass sie sich zueinander ambivalent und widersprüchlich verhalten. In dieser Hinsicht ist die Perspektive des Urhebers von sekundärer Bedeutung und keineswegs verpflichtend, wenn er ein Programm in seine Komposition hineinlegt. Wenn beispielsweise Beethoven seine Symphonie Pastorale nennt, handelt es sich um eine nachträglich von ihm geschaffene Allegorie und es ist sicher kein Zufall, dass Nietzsche in diesem Kontext von ›Allegorie‹ und nicht vom ›Symbol‹ spricht. Die Bedeutung dieser Aussage ist zu unterstreichen, denn sie zeigt, wie wenig der Rezipient an das Objekt der Musik gebunden ist. Bei der Allegorie ist der Zusammenhang zwischen Symbolisierendem und Symbolisiertem absolut frei. Für eine Allegorie muss es anders als für das Symbol keine Analogie zwischen dem Bild und der in es hineingelegten Bedeutung geben. Daher braucht die Musik kein Bild und keinen Begriff neben sich, sondern es ist lediglich erforderlich, dass sie ihn »neben sich e r t r ä g t « (KSA, GT, 1, 51). Wirkt die Musik so mächtig, wie beispielsweise in Wagners Tristan, ist ein Bild als Schutzschild erforderlich, damit der Hörer die Musik ertragen kann. Es wird im Inneren eine Spannung geschaffen, die zur Mobilisierung der Einbildungskraft führt, denn die im Gemüt hervorbrachte Aufregung bedarf einer Entladung: Sondern nur an diejenigen habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten Musiker [Hervorhebung von M. P.] richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von »Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz [Hervorhebung von M. P.] zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen? (KSA, GT, 1, 135)
Das Zusammenspiel von Wort und Bild, das nötig ist, wenn die affektive Wirkung der Musik zu stark ist, hängt allein vom Hörer ab. 27 Da die Musik keinen Gegenstand hat, ist es an dem Hörer, einen Gegenstand Vgl. auch KSA, NF, 7, 317: »Im Tristan ist Wort Gedanke und Bild Geg enge wicht gegen den völlig verzehrenden Idealismus der Musik.«
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zu finden. 28 Vielmehr wird der Mensch selbst zum Gegenstand, da die Musik den Körper und das Gemüt in Bewegung bringt. Der Akzent liegt in der Produktivität dieser Bewegung. Nietzsches Rede von ›echten‹ Musikern erinnert an Platons Dichotomie zwischen handwerklicher Musik und Philosophie als höchster Musik. Je mehr Entdeckungen man in der Musik macht, desto mehr wird man zum Musiker. Die in die Musik hineinprojizierten Begriffe, Bilder und Assoziationen vermögen die tiefsten Wünsche und Sehnsüchte eines Individuums auszudrücken: Durch seine Produktivität wird der Hörer zum Künstler (und durch die im Zustand des Tanzes kulminierende Mobilisierung seines ganzen Körpers zum sichtbaren Kunstwerk). So erklärt sich das große Projektionspotential der Musik, das sie, wie dies bei Schopenhauer der Fall war, zum Ausgangspunkt einer ganzen Metaphysik werden lässt. Die Projektionen entsprechen also der inneren Welt des Individuums und die Möglichkeit der Interpretation der Musik ist im verbalen wie im nonverbalen Sinne unendlich weit, da es zahllose Individuen und daher eine ungeheure Mannifaltigkeit von Affekten gibt. Dies demonstriert am prägnantesten die folgende Notiz Nietzsches, die in einem Satz nicht nur den Hauptgedanken der Geburt der Tragödie, sondern Nietzsches Philosophie der Musik überhaupt zum Ausdruck bringt und die Wichtigkeit der Musik als symbolische Sprache demonstriert: »Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist.« (KSA, NF, 7, 47). Diese Notiz bezieht sich zugleich unmittelbar auf die Willenssymbolik, wobei der Wille nur individuell, d. h. als Wille eines Individuums gedacht werden kann. Diese unendliche Verdeutlichung erlaubt uns – so könnte man hier eine spätere Notiz Nietzsches hinfügen – »Verschiedenes bei gleicher M us i k [zu] erleben!« (KSA, NF, 9, 579). In der Sekundärliteratur ist dieser Satz zwar bereits als einer der Grundgedanken von Nietzsches Philosophie der Musik hervorgehoben worden, aber nur aus der semantischen Perspektive der Autonomie des musikalischen Werkes, ohne Rücksicht auf die Affekte. Bei Rudolf Fietz heißt es z. B.: Einer »unendlichen Verdeutlichung fähig« […] ist sie [die Musik] gerade insofern, als sie auf keine erklärerischen Vermittler angewiesen ist wie die 28 Wäre man genötigt, analytisch mit seinen Gefühlen umzugehen, müsste man sie an Bilder und Begriffe knüpfen.
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Die metaphysische Perspektive
Sprache, die nur »durch Begriffe [deutet]« (ebd.) Geht es in der Sprache um die Deutlichkeit eines vom Signifikanten unterschiedenen Signifikats, so in der Musik, sofern von einem Signifikat noch gesprochen soll, um ein vom Signifikanten unterscheidbares Signifikat. Medium der Verdeutlichung des musikalischen Geschehens kann daher nur die musikalische Signifikanz selber sein. 29
Durch diese innere Perspektive des musikalischen Werkes wird diesem Satz Nietzsches implizit eine Metaphysik der Inkommensurabilität zugeschrieben, die fehl am Platz ist, denn die Musik kann nur im Sinne einer Mannigfaltigkeit von Affekten bzw. der sie rezipierenden Individuen unendlich sein. Geht man jedoch von der Definition der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« aus, muss man immer fragen, wer der Urheber dieser Verdeutlichung sein könnte. Ist es das Werk selbst, verfällt man in eine Metaphysik der musikalischen Autonomie: Nur dem Menschen kann die Verdeutlichungsleistung zugeschrieben werden. Die Bedeutung der Auffassung der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« liegt in ihren praktischen Konsequenzen: Das Hören von Musik erweist sich als die große, schöpferische Schule der Freiheit der Interpretation. Die Musik stimuliert das Interpretationsvermögen des Menschen und nötigt ihn, über den Sinn seiner eigenen Interpretationen nachzudenken. In dieser Hinsicht könnte man das negative Moment der Musik in ein Positives umkehren. Der Mangel an objektiver Begründung der Musik bedeutet ein Plus an subjektiver Begründung und fungiert als Exempel der Freiheit des Individuums. Die subjektive Begründung, die auf der Freiheit des Individuums basiert, bedeutet auch mehr Eigenverantwortung für die Interpretationen, die man tätigt. Was für einen Hörer und seine Einbildungskraft gilt, muss auch in einem größeren Kontext, etwa für eine ganze Kultur vorstellbar sein. Der ›Geist der Musik‹ objektiviert sich in mannigfaltigen kulturellen Erscheinungen, die wie die Bilder der Einbildungskraft zu denken sind. Damit dieser Prozess der Objektivationen immer weiter fortgesetzt wird, muss jede kulturelle Erscheinung (sei es Mythos, Lyrik oder Philosophie) an der Musik teilhaben. Damit ist ein nicht festgelegter, nicht petrifizierter Teil gemeint. Das ist der, »unauflösbare Rest« des Gefühls (KSA, DW, 1, 572), welcher der Sprache und dem Begriff entgeht und 29
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mit dem Element des Lebens in seiner sinnlichen Unmittelbarkeit zu identifizieren ist. Das ist genau derjenige Teil, der nach Schopenhauer die Musik als Ausdruck des reinen Willens ausdrücken soll, denn die »Musik ist etwas Lebendiges« (KSA, NF, 7, 229) und hier handelt es sich um eine Exemplifikation des tönenden Elementes der Musik, denn was sich im Leben bewegt, produziert einen Ton. Wie bereits erwähnt, meint Nietzsche mit dem Ausdruck »unauflösbarer Rest« den nicht sprachlich mitteilbaren Teil des Gefühls als »Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen« (KSA, DW, 1, 572), also das Moment der spontanen Empfindung, bevor es als Gefühl, bzw. bereits Gefühltes bewusst wird. Dieser Teil ist das Lebendigste, da er nicht stillgelegt werden kann. Man könnte hier Wille und Gefühl gleichsetzen oder einen Zwischenbegriff einführen, welcher ›Lebensgefühl‹ lauten könnte. Somit wird ersichtlich, dass die bloße Kunstgattung Musik nur Ausgangspunkt für Nietzsches Bestimmung des Begriffs der Musik bildet, dessen Bedeutung weit über den Gattungsbegriff hinausweist und den ganzen Bereich der Affekte einschließt. Insofern sich der Geist der Musik bereits in der tönenden Form der Sprache findet, geht es um die Bewegung von Natur (Sinnlichkeit) zu Kultur (Sinn). Das Gefühl in der Sprache offenbart sich im Ton, während die Sprache erklingt. Die Sprache ist primär Ton, der Ton allein zeigt eine Bewegung zum Ausdruck (die erste Bewegung ist der Schrei), die Stimme ist das physiologische Organ, wodurch man die Musik als Sprache der Natur begreifen kann, denn die Stimme ist unmittelbare Manifestation von Physis. Dass die Musik klingt, scheint wie eine Nachahmung des tönenden Teils des sprachlichen Ausdrucks, und im tönenden Teil der Sprache wiederum reflektiert sich die Lebendigkeit des sprachlichen Ausdrucks. Wie der Geist bei Kant »in ästhetischer Bedeutung, […] das belebende Prinzip im Gemüt« ist, 30 so wird die Musik bei Nietzsche zum belebenden Prinzip der Kultur, zu demjenigen affektiv-individuellen Moment, das seinerseits alle sprachlich fassbaren Konventionen belebt. Auf die Tatsache, dass aus Nietzsches Sicht die Musik ›Geist‹ ist, weist schon der Titelteil »aus dem Geist der Musik« hin und es ist erstaunlich, wie wenig beachtet worden ist, wie viel schon im Titel der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik verborgen ist. Was als Quelle oder Ursprung der Kultur zu kennzeichnen ist, 30
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, 201.
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muss als deren Zentrum gelten, als organisierende Kraft, die alle Teile durchtränkt und belebt. Der ontologische Primat der Musik macht das Zentrum aus, welches das Gleichgewicht zwischen allen kulturellen Erscheinungen garantiert. Die Teilhabe an Musik ist Garant des Gleichgewichts zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Kunsttrieb, zwischen unbewusster Kraft und Trieb zur Form. Dadurch wird gesichert, dass der Antagonismus ausgeglichen bleibt, während eine ständige Entfaltung von neuen Formen gewährt wird. So kommt es zur Tragödie. Die Tragödie ist genau deswegen die perfekte kulturelle Erscheinung, weil in ihr das Gleichgewicht zwischen den beiden Prinzipien vollkommen ist. Beim Dionysischen kann man nicht auf das Apollinische verzichten und umgekehrt. 31 Beide Elemente sollen ausgeglichen nebeneinander existieren. Probleme entstehen, wenn Kunst oder Wissenschaft, auch der Musik selbst, diese Teilhabe an der Musik und damit ihr Lebensgefühl, bzw. ihren Pathos verlieren, wobei auch der Wille neben Affekt und Leidenschaft als Übersetzung von Pathos gelten könnte. Natürlich gibt es aus Nietzsches Sicht Objektivationen, die dem ›Geist der Musik‹, der, nicht zu vergessen, der Geist einer Kunst ist, näher sind als andere. Es ist plausibel, dass die Gefahr des Verlustes bei abstrakten Systemen, wie Wissenschaft und Philosophie, näher ist. Aber das betrifft wieder einen bestimmten Stand der Wissenschaft und Philosophie, und nicht die Wissenschaft und die Philosophie als solche. Wie sonst könnte Nietzsche zu der Auffassung gelangen, dass Vertreter hochkomplexer Systeme wie Kant und Schopenhauer vom Geist der Musik geprägt sind? 32 Verurteilt wird nicht die Abstraktion allgemein, sondern nur die Trennung von Sinnlichkeit und Vernunft, die als Übersehen des Individuellen und Weglassen des Sinnlichen den dynamischen Charakter des Lebens verdrängt. Denn Nietzsche anerkennt, dass auch die Abstraktion tugendhaft ist, da ihr eine »unbedingte Wahrhaftigkeit« (KSA, NF, 7, 84) eignet. Man könnte sogar behaupten, das sei genau wonach man strebe, wenn man sich mit dem abstrakten Charakter der Musik und den eigenen Affekten konfrontiert. Das ist nicht nur bei
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Vgl. Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 16. Vgl. KSA, GT, 1, 128.
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Nietzsche, sondern bei allen Philosophen, die aus einem existentiellen Impuls her operieren, der Fall. Der Verlust dieser Teilhabe am Geist der Musik, der meistens einer übermäßigen zur Abstraktion führenden Intellektualisierung zu verdanken ist, bedeutet, dass diese Erscheinung ein gestörtes Verhältnis zum Ganzen hat und nicht mehr das gute oder richtige Leben versteht, befördern kann oder, letzten Endes, nicht überlebensfähig ist. Das ist der Fall, wenn aus der Erkenntnis, die vor allem ein Mittel des Lebens ist, Abstraktion wird, wenn eine Erscheinung den Bezug auf ihren Lebensinhalt, also ihren spontanen, unmittelbaren, individuellen Charakter verliert. 33 Die Abstraktion ist gefährlich, weil sie die Formen des Lebens petrifiziert und das Prinzip des Gleichgewichts verletzt; das apollinische Element als Trieb zur Form wird somit um der Form willen ins Extrem geführt und die Einheit der beiden Triebe, die der »Geist der Musik« stiftet, gefährdet. Aus dem Übermaß des Apollinischen, 34 das zur Petrifizierung führt, kommt das Prinzip des Sokratischen, das eine Dramatisierung und Petrifizierung des Theoretischen in Schrift ist: »Der Sokratismus unsrer Zeit ist der Glaube an das Fertigsein: die Kunst ist fertig, die Aesthetik ist fertig.« (KSA, NF, 7, 13) Der Verlust der Teilhabe an Musik ist die größte Fehlentwicklung, an der eine Kultur leiden kann. Sie war der Grund für den Untergang der Tragödie und den Beginn der Herrschaft des theoretischen Zeitalters, dessen Entstehung angeblich Sokrates zu verdanken ist. Die Tragödie beginnt zu sterben, als die Musik durch Euripides’ ›ästhetischen Sokratismus‹ allmählich aus ihr verschwindet.35 Sokrates fungiert als Dramatisierungsgestalt und Urtypus des theoretischen Menschen, denn Nietzsche braucht einen geschichtsphilosophischen Bruch, um den Verlust an Musik zu konstatieren. Insofern die Musik vor der Sprache und jeder kulturellen Erscheinung liegt, wie für Schopenhauer nach dem Schema der Willenssymbolik der Wille ursprünglicher als die Welt der Erscheinungen ist, dann
33 Vgl. Ruth Bolten-Kölbl: »Die unmittelbare Erfahrung des Lebendigen, seiner Person (im wörtlichen Sinne von personare verstanden), reduziert der theoretische Mensch zugunsten einer ›fertigen‹ Welt von Vorstellungen, die sich gegen seine Vorstellung vom eigentlich Lebendigen manifestiert.«, in: Ruth Bolten-Kölbl: Das Pathos des Dionysischen, 32. 34 Vgl. auch KSA, NF, 7, 134. 35 Vgl. KSA, GT, 1, 85.
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muss sie vor allen und in allen Erscheinungen gesucht werden. Die verbindende Kraft des ›Geistes der Musik‹, ergibt sich aus der Verbindung der antiken Auffassung der Musik als Einheit von Wort und Musik mit der Auffassung der (absoluten) Musik als Abbild des Willens. 36 Absolute Musik und Musik im altgriechischen Sinne sind in der Geburt der Tragödie voneinander bedingt. Die antike Auffassung der Musik setzt eine Einheit aller Erscheinungen voraus, die nur das Konzept der Willenssymbolik der absoluten Musik gewähren kann. Erst über die Auffassung der absoluten Musik mit ihrer leeren Signifikanz kann man die Musik zum Ursprung aller kulturellen Erscheinungen machen. Der antike Begriff bindet dann alle Erscheinungen zusammen. Die absolute Musik ist der Ursprung von allem, was man am Ende unter den Begriff der ›mousikffi‹ zusammenfassen könnte.
3.4. Musik versus Historismus. Die Musik als »unhistorische« Kunst Das Fazit der Geburt der Tragödie könnte folgendermaßen lauten: Damit eine kulturelle Erscheinung dem guten oder richtigen Leben dienen kann, muss sie an der Musik teilhaben. Die Tragödie ist die ideale kulturelle Erscheinung, weil in ihr die beiden Elemente, das Apollinische und das Dionysische, in einem Gleichgewicht stehen. Die Lebendigkeit der Tragödie zeigt sich vor allem in ihrem Kern, denn der Kern der Tragödie ist der Mythos. Was aber bedeutet Mythos? Mythos ist im Rahmen der Willenssymbolik die erste mögliche Übersetzung des Willens. Nietzsche nennt ihn »zusammengezogene[s] Weltbild«, »Abbreviatur der Erscheinung« (KSA, GT, 1, 145) und »das bedeutsamste Exempel« (ebd., 107). Der Mythos ist also ein Komplex von Bildern des Lebens, die im Fall des tragischen Mythos besonders vital sind. Die Musik stimuliert Anschauungen im Inneren des Menschen, indem sie die Einbildungskraft aktiviert. Diese Stimulierung macht die Musik zur Schöpferin von Mythen, die von sehr lebendigen Bildern gekennzeichnet werden. 37 Ihre Vitalität ist so groß, dass ein
Vgl. die Ausführungen von Bertram Schmidt: Der ethische Aspekt der Musik, 26–29. Siehe auch KSA, NF, 7, 77: »Der mythologische Trieb schwindet nicht: er spricht sich in den Systemen der Philosophen, der Theologen usw. aus.«
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kausales Verhältnis in ihnen kaum zu erkennen ist, oder von dieser Vitalität absorbiert wird. Die Bedeutsamkeit der Elemente des Mythos ist strikt intern, wie in einem Traum. Kausalität gehört allein zur Wissenschaft, weshalb diese in einem antagonistischen Verhältnis zu Mythos steht. In Kapitel 23 der Geburt der Tragödie wird die so genannte »Historienschrift«, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, vorweggenommen. Dort fordert Nietzsche, dass die schöpferischen Kräfte einer Kultur, die mittlerweile in »Historie und Kritik« verwandelt sind, durch die Musik zum Mythos zurückkehren. Die Verwandlung der schöpferischen Kräfte eines Volkes in Historie und Kritik gehört zu den Hauptmerkmalen einer epigonalen Kultur. Die in der Geburt der Tragödie erklärte Polemik gegen diese Kultur wird Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen fortsetzen. In der Ersten Betrachtung wird die Polemik gegen den Kulturphilister am Beispiel des zeitgenössischen Theologen David Strauss eine Fortsetzung finden, in der Zweiten wird explizit ausgeführt, was Nietzsche am Ende der Geburt der Tragödie angedeutet hat, nämlich dass Historie und Kritik die schöpferischen Kräfte der Kultur fesseln. Was die Thematik der Unzeitgemäßen Betrachtungen betrifft, korrespondiert die erste Betrachtung mit der dritten und die zweite mit der vierten. Die ersten zwei Betrachtungen sind Expositionen für Probleme, deren Lösung in den letzten beiden zu finden ist. Hier werden wir uns mit dem zweiten Paar beschäftigen, da die Musik dort eine Schlüsselfunktion einnimmt. Bevor wir genauer auf diese beiden Werke eingehen, wollen wir kurz bei dem Attribut ›unzeitgemäß‹ verharren. Der Titel Unzeitgemäße Betrachtungen ist zunächst rein rhetorisch zu verstehen. Denn diese Betrachtungen sollen genau das Gegenteil von ›unzeitgemäß‹ sein. So wird alles, was als ›zeitgemäß‹ diagnostiziert wird, zum Gegenstand von Nietzsches Kulturkritik, während alles, was als unzeitgemäß vorgestellt wird, eine Gegenmacht darstellt, die das Gleichgewicht in der Kultur wiederherstellen soll: »unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit« (KSA, HL, 1, 247) Das Zeitgemäße und das Unzeitgemäße verhalten sich antagonistisch zueinander. Diese innere Struktur muss sich in der Textstruktur widerspiegeln. Deshalb ist eine innere Korrespondenz zwischen Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und Richard Wagner in Bayreuth festzustellen. Die zweite Betrachtung ist nämlich die Ex67 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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position eines Problems, für das die vierte eine Lösung darstellt. Dieses Problem ist kein anderes als das des Historismus. Nun bleibt zu sehen, wie Nietzsche mit dem Historismus umgeht. Nietzsche lässt keine systematische Auseinandersetzung mit dem Historismus als Verfahren erkennen und lehnt das historische Wissen grundsätzlich nicht ab. Ihm geht es vielmehr um eine Proportion, um das Gleichgewicht zwischen zwei Elementen, denn »d a s Unhi s tori sc he u nd d a s H i stori sche i st gl e i che r m a a sse n fü r d i e Ge sun dhe i t e i ne s Ei n z e l ne n, e i ne s Vol k e s und e i n e r Cul tu r nöt hi g« (KSA, HL, 1, 252). Nietzsche glaubt, dass der exzessive Gebrauch des historischen Diskurses fatale Konsequenzen für das Leben hat. Während die Geschichte ein pädagogisches Mittel im Dienst des Lebens sein sollte, sein zeitgenössischer Diskurs über die Geschichte, der die Geschichte als eine reine Wissenschaft wie die Mathematik sieht, steht gegen das Leben. Die Dominanz des historischen Diskurses verwandelt die Geschichte in eine dem Leben feindliche Kraft. Aus dem übermäßigen Studium der Geschichte entstehen keine neuen Impulse für das Leben, sondern eine Weltanschauung unter dem Namen des Historismus, ein Studium der Geschichte nicht um des Lebens, sondern um des Historieschreibens willen. Die Kraft des historischen Wissens ist so stark, dass es den Willen, also die affektive Welt des Menschen, in der sich seine eigene, individuelle Vitalität manifestiert, unterdrückt. Diese Qualitäten sind nicht historisch bedingt, sondern betreffen im Gegenteil das unhistorische Element des Lebens, das in der Fähigkeit des Vergessens, einer der Hauptvoraussetzungen des Lebens, besteht: Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. (KSA, HL, 1, 250).
Die Erwähnung des Tiers scheint zu implizieren, dass dieses Vergessen gleichzeitig auf die Naturhaftigkeit des Menschen verweist, denn diese basiert auf der tierischen Seite des Menschen, die sich dort manifestiert, wo der Mensch ohne die Last der Erinnerung lebt. Um des Gleichgewichts willen muss es auch andere Gegenkräfte geben – als Kulturarzt entleiht Nietzsche aus der Medizin das Wort ›Antidot‹, und unterscheidet zwischen zwei Arten: Einerseits die unhistorische Kraft des Vergessen-Könnens und Sich-Einschließens in einen begrenzten Horizont, andererseits die überhistorischen Mächte der Kunst und Religion, »die den Blick von dem Werden ablenken, hin 68 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt« (KSA, HL, 1, 330). Durch diese Unterstellung gehört die Musik als Kunst und zwar als Inbegriff aller Kunst zu den überhistorischen Mächten. 38 Insofern die Musik nicht von der äußeren Welt bedingt ist, da sie im Gegensatz zu den plastischen Künsten keinen Gegenstand der Nachahmung hat, ist es nicht schwer vorzustellen, dass die Kunst der Musik auch die Kraft des Vergessens in sich enthält, denn das Vergessen, die Vernichtung des principium individuationis, ist ein Hauptmoment des mit der Wirkung der Musik zu identifizierenden ›Dionysischen‹. 39 Textstrategisch gesehen wird diese Unterstellung am Ende der Historienschrift gemacht, womit der erste Teil der Einheit, die die ersten beiden Betrachtungen bilden, abgeschlossen wird. Die Probleme werden in den ersten beiden Betrachtungen exponiert und das Ende der zweiten, die das Bedürfnis nach Korrektiven, nach Antidoten betont, bereitet den Leser auf die beiden letzten vor. Die Musik wird als »unzeitgemäßes« Korrektiv in der vierten Betrachtung und zwar exemplarisch mit Bezug auf die Person Wagners thematisiert. Wagner war demonstrativ gegen seine Zeit und glaubte sie durch seine Musik verbessern zu können. In der Geburt der Tragödie hatte Nietzsche Wagner die Fähigkeit attestiert, die tragische Weltanschauung durch die Wiedergeburt der Tragödie zu restaurieren. Wagner galt ihm als der einzige Ausweg aus der Krise der zeitgenössischen theoretischen Kultur. Diese Perspektive bleibt in Richard Wagner in Bayreuth erhalten. Es gibt aber einen wichtigen nicht zu unterschätzenden Unterschied zur Geburt der Tragödie. Nietzsche erhofft von Wagner nichts Neues mehr, er hält ihn nicht mehr für fähig, eine tragische Kultur neu zu beleben. Trotzdem besteht die ungeheure Bedeutung der Kunst Wagners darin, als Gegenmittel zum Historismus zu wirken. Nietzsche historisiert die Bedeutung der Musik, indem er sie auf die überhistorische Seite stellt.
38 Das Überhistorische ist die Perspektive der Ewigkeit: »Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens.« (KSA, GT, 1, 148). 39 Vgl. KSA, GT, 1, 29 f.
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Nietzsche attestiert der Musik als überhistorischer Kunst des Vergessens eine kathartische Kraft, denn die affektive Macht der Musik kompensiert die Überforderung des Individuums durch den Historismus. Die Musik soll eine Welt heilen, die an einem Übermaß an Historie leidet. Das Bayreuther Festival, das für die Aufführung von Wagners Werken errichtet wurde, wird als Ort einer solchen Katharsis geschildert. Die Ursprünglichkeit der Musik wird in einer reichen Metaphorik des Flüssigen beschworen: Das Publikum von Bayreuth, so heißt es, könne in dem ursprünglichen Element baden und dadurch seinen von der zeitgenössischen Kultur verursachten Verlust kompensieren: Wer bedürfte nicht des reinigenden Wassers, wer hörte nicht die Stimme, die ihn mahnt: Schweigen und Reinsein! Schweigen und Reinsein! (KSA, WB, 1, 434)
Richard Wagner in Bayreuth ist voll von solchen Ausdrücken, die der Musik die unhistorische und kathartische Kraft des Vergessens zuschreiben. Wie aber verhält sich die Musik zum Vergessen? Wir haben schon das Publikum von Bayreuth adressiert, nämlich den Hörer, der unserer Untersuchung ihre Perspektive gibt. Wie wir in der Einführung betont haben, versteht sich Nietzsche als exemplarisches Individuum, das aus seiner Selbsterfahrung her schreibt. Nietzsche hatte eine solche Erfahrung mit Tristan und anderen musikalischen Werken gemacht und erwartet dasselbe nun von einem ganzen Publikum in Bayreuth. Das Hören ist ein Selbstvergessen, welches dauert, solange die Musik klingt. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen bekräftigt Nietzsche den Aspekt des Vergessens durch die Kunst, indem er ihn zur anthropologischen Instanz durch die Polarisierung von historisch versus un- oder überhistorisch macht. Die Musik, wie sie besonders in den Unzeitgemäßen Betrachtungen thematisiert wird, dürfte kraft ihres ›unhistorischen‹ Potentials, da sie mehr als jede andere Kunst einen unhistorischen Effekt produziert, als eine besonders mächtige überhistorische Sprache charakterisiert werden. Überhistorisch sind alle Künste, indem sie die Befreiung vom principium individuationis stimulieren und zur transzendentalen Schau der Ideen führen. Die Musik aber wirkt besonders überhistorisch, indem sie unbildlich ist. Das Argument über den überhistorischen Charakter der Musik kann auch über die Lehre der Depotenzie70 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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rung des Scheins gedacht werden. Wenn die Musik die historische Kategorie des Scheins außer Kraft setzt, muss sie besonders überhistorisch wirken. Es bleibt nun zu sehen, wie es zu der Opposition zwischen Musik und Historismus kommen kann. Denn es muss eine Instanz geben, die den Vergleich möglich macht. An diesem Punkt werden wir wieder auf den Sprachcharakter der Musik stoßen. Die Musik wird von der affektiven, klingenden Ebene der Sprache her gedacht, als Sprache ohne Worte, während Historismus in Analogie mit der schriftlichen Sprache zu betrachten ist. Nietzsche sieht beide – Musik und Historismus – primär als Sprachen. Kriterium dafür ist die Lebendigkeit, weshalb man dieses Paar analog zur Dualität von Stimme und Schrift verstehen könnte, als eine Trennung, die eine Spaltung anzeigt. Die Stimme ist lebendige Sprache, sie hat einen Träger und einen Rezipienten, man agiert und reagiert durch sie, während die Schrift petrifizierte Sprache, getrennt von ihrem Träger und aus dem Rahmen eines performativen Aktes des Sprechens entnommen, ist. Die Dominanz der Kultur der Schrift ermöglicht den Historismus, der eine Sammlung von Schriften aus ihrem lebendigen – zeitlichen und örtlichen – Kontext entnommen ist. Die Musik ist aber nicht mit der Stimme identisch. Sie ist ein kompliziertes System, sie ist sogar eine hoch entwickelte Schrift, wenn man die Partitur einer Instrumentalmusik ansieht, die kein Wort begleitet. Die Musik ist keine unmittelbare Manifestation der Natur wie es für die Stimme behauptet werden könnte, sie kann aber so funktionieren. Indem sie erklingt und als Erinnerung an die Stimme erscheint, produziert sie, was ich hier einen ›Natureffekt‹ nennen möchte. Die Tatsache, dass man Gefallen an der Musik findet, dass man mit den Mitteln der Kunst einen Natureffekt produzieren kann, schafft die Hoffnung oder die Gewissheit einer gelungenen Kommunikation. Gelungene Kommunikation bedeutet eine Übereinstimmung zwischen Denken und Handeln, Fühlen und Reden, die auf die Möglichkeit einer Weltharmonie verweist. Die im Bild des Dionysischen geschilderte Vision zeigt nichts anderes als einen gelungenen Akt der Kommunikation: Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der »Freude« in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür, oder »freche Mode« zwischen den Men-
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schen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit (GT 1, KSA 1, 29 f.)
Nietzsche scheint in Richard Wagner in Bayreuth davon auszugehen, dass das, was eine symbolische Sprache von einer anderen unterscheidet, ihre kommunikative Kraft, ihre Mitteilungskraft ist. In diesem Zusammenhang bemerkt Albert Dammeyer sehr treffend, »dass das Kernproblem, um das Nietzsches Denken immer wieder kreist, in den Möglichkeiten ›authentischer‹ Mitteilung liegt, einer Mitteilung, die dem Unmittelbarkeitsverlust im Sog der allgemeinen und folglich individuell unverbindlichen Semantizität der Sprache entkommt.« 40 Dabei ist die Wahrheit einer symbolischen Sprache nicht als eine Wahrheit im Sinne einer richtigen oder falschen Entsprechung zwischen den Dingen und ihrer Bezeichnung, sondern in ihrer ›verbindenden‹, in ihrer lebensfördernden Kraft zu sehen. Verbinden heißt im Sinne Nietzsches, die Dinge mit sämtlichen symbolischen Kräften erleben, sie bedeutet eine Aufhebung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, und das genau leistet die Musik, indem sie durch die Befreiung vom principium individuationis den momentanen Schein einer überindividuellen Einheit schafft. Die Sprache dagegen – und damit ist eine durch Historismus erkrankte Sprache gemeint – trennt in dem Sinne, dass sie die Wahrnehmung der Welt auf den neutralen Standpunkt des Begriffs fixiert und die individuellen symbolischen Kräfte zum Verstummen bringt. Die Krankheit der Geschichte ist deshalb eine Erkrankung der Sprache. Sprache soll beides, Gefühl und Verstand, ansprechen können. Mitteilbarkeit als Grundlage der Kommunikation basiert auf einem ausgeglichenen Verständnis beider Instanzen. Historismus wird verurteilt aus dem Standpunkt einer Sprache, die keine wahre Kommunikation etablieren kann, weil es ihr an Unmittelbarkeit im Rahmen der traditionellen Opposition zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache mangelt und sie eben darum unfähig ist, neben dem Verstand auch das Gefühl anzusprechen. Man kann »sich nicht wahrhaft mittheilen« Albert Dammeyer: Pathos-Parodie-Provokation. Authentizität versus Medienskepsis bei Friedrich Nietzsche und Gustav Mahler, Würzburg 2005, 18.
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(KSA, WB, 1, 455). Die Kommunikation wird so zu einer Konvention: »so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C onve nt i on hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls.« (ebd.) Eine zur bloßen Konvention gewordene Sprache, die ihren Hauptzweck, die Mitteilbarkeit, nicht erfüllen kann, ist die größte Bedrohung für die eigene Individualität: Wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der »deutlichen Begriffe« einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgend einen Werth hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden [Hervorhebung von M. P.] zu machen. (Ebd., 456)
An diesem Punkt wäre folgende Frage aufzuwerfen: Worin besteht die Deutlichkeit der Musik, wenn man anerkennt, dass die Musik unbildlich und unbestimmt ist? Der Akzent muss wieder zur Perspektive des Hörers verschoben werden, denn deutlich ist die Musik, insofern man sie im eigenen Leib erfährt, ähnlich wie die Stimme direkt aus dem Leib kommt. Das Hören von Musik soll in Analogie mit dem Hören von Sprache gedacht werden, 41 denn es erinnert daran, dass allen Menschen als Sprachwesen ein Tonuntergrund zugrunde liegt und dass alle aufgrund des physiologischen Organs der Stimme erst affiziert werden, dann Affekte mitteilen und sich schließlich verständigen können: Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder – verkümmert. (KSA, NF, 7, 831)
Dass alle Menschen sich verständigen können, setzt also voraus, dass alle zum Mitempfinden fähig sind. Das zeigt sich auch explizit in einem Aphorismus der Morgenröthe, der hier komplementär stehen könnte: 41 Vgl. in unserem Abschnitt zu Kant das Zitat über die allgemeine Mitteilbarkeit der Musik, 14.
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M i te mp fi nd ung . – Um den Anderen zu verstehen, das heisst, um se i n G e fühl i n uns na c hz ub i ld e n […]. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefühlen und in der Mitempfindung sind: wenn nämlich Musik ein Nachbild von Nachbild von Gefühlen [Hervorhebung von M. P.] ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht […] (KSA, M, 3, 133).
Dieses Verständnis basiert primär auf der Empfindung, die mit dem musikalischen Teil der Sprache, dem Tonuntergrund, der eine gemeinsame Basis vor der Sprache schafft, zu tun hat. Kathleen Higgins, die auf den oben erwähnten Aphorismus aufmerksam gemacht hat, vertritt deswegen die These, die Musik sei für Nietzsche die transzendentale Voraussetzung der Sprache, eine Erfahrung, die auf die Sprache vorbereitet. 42 Das ist ähnlich wie bei Schopenhauer zu verstehen, wobei die Vernichtung des principium individuationis transzendentale Voraussetzung zur Schau der platonischen Ideen ist. Die platonischen Ideen sind nur durch die Sprache wahrzunehmen und der Stoff der Sprache ist Klang. Die Musik in uns, der tönende Teil, der für das Gefühl steht, bereitet also den Boden der Mitteilbarkeit, den ›sensus communis‹, dessen Bewusstsein Voraussetzung der Sprache ist, vor. Die Musik als »Nachbild von Nachbild von Gefühlen« kann nur als Erinnerung an den tönenden Teil der Sprache wahrgenommen werden, wenn die Stimme Gefühle nachbildet und die Musik die Form der Stimme. Als Ausdruck von Gefühlen ist die Musik ein Nachbild von Gefühlen. Da aber die Gefühle unbestimmt sind, ist die Musik Nachbild von dem, was wir für eine Bedeutsamkeit in den begrifflich unauflösbaren Teil des Gefühls hineinlegen. Der Ausdruck »Nachbild von Nachbild von Gefühlen« könnte als die Formel der Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers von Nietzsche gelten. Der Wille ist als Begriff ein Nachbild von Gefühlen und die Musik dessen Nachbild. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Rede vom ›Nachbild‹ und nicht vom ›Abbild‹ ist, denn die Willensymbolik, wie sie Nietzsche versteht, ist nachträglich. Sie setzt voraus, dass man erst den Willen als Inbegriff von Gefühlen kodifiziert und dann in der Musik eine entsprechende symbolische Sprache gefunden hat. Die »The human capacity to experience music, according to Nietzsche, is something like a transcendental precondition for the possibility of language« (Kathleen Higgins: Nietzsche on music, in: Journal of the history of ideas 47 (1986), 663).
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Musik versus Historismus. Die Musik als »unhistorische« Kunst
Rede vom Nachbild des Nachbildes stimmt mit dem Begriff der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« überein, denn es handelt sich bei diesem Nachbild-Verhältnis um einen Prozess der Verdeutlichung, in dem ein neues Nachbild ein schon vorhandenes Nachbild verdeutlicht. Von einem Abbild ist gar nicht die Rede. Wichtig ist dabei die praktische Dimension: Wir brauchen eine symbolische Sprache für die affektive Ebene der Sprache, die die natürliche Veranlagung zur Kommunikation zeigt. Indem die Musik diese Erinnerungs- und Verinnerlicherungsfunktion hat, steigert sie den sensus communis. Man wird daran erinnert, dass man als Erscheinung an einem gemeinsamen Willen teilhat. Diese intuitive Erkenntnis verbindet die Menschen miteinander und deswegen ruft die Musik die Erinnerung daran hervor, dass alle Menschen zur Mitempfindung fähig sind. Dass sie alle über den gleichen musikalischen Stoff verfügen (oder über dieselbe Teilhabe am reinen Willen), der durch ihre Stimme entäußert wird, ist die Grundlage eines Gemeinschaftsbewusstseins, denn die Befreiung oder Vernichtung des Individuationsprinzips macht dem Individuum seine Verwiesenheit auf andere Individuen bewusst. 43 Von diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie die Musik als Sprache der richtigen Empfindung stilisiert werden kann. ›Richtige Empfindung‹ aber klingt wie ein Pleonasmus in einer Epoche, der es überhaupt an Empfindung mangelt. Die Musik als Sprache der Affekte, nämlich als Nachahmung des klingenden (affektiven) Teils der Sprache fungiert als Erinnerung an die Stimme. Die Stimme nämlich zeigt, indem sie klingt, dass man seine Worte auch empfindet. Der Klang der Stimme ist individuell und schafft eine affektive Verbundenheit zwischen Menschen. In der Auffassung der Musik als Sprache der richtigen Empfindung, die mit der Richtigkeit eines zum Handeln orientierten Denkens zusammenhängt, kann man ohne Schwierigkeit die antike Ethoslehre der Musik sehen, kombiniert mit dem romantischen Topos, nach dem die Musik der Unmittelbarkeit des Gefühls Ausdruck verleiht: In dieser Welt der Formen und der erwünschten Verkennung erscheinen nun die von der Musik erfüllten Seelen, – zu welchem Zwecke? Sie bewegen sich nach dem Gange des grossen, freien Rhythmus’, in vornehmer Ehrlichkeit, in einer Leidenschaft, welche überpersönlich ist, sie erglühen von dem macht43
Vgl. KSA, NF, 7, 831 f.
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voll ruhigen Feuer der Musik, das aus unerschöpflicher Tiefe in ihnen an’s Licht quillt, – diess alles zu welchem Zwecke? Durch diese Seelen verlangt die Musik nach ihrer ebenmässigen Schwester, der Gym na s ti k, als nach ihrer nothwendigen Gestaltung im Reiche des Sichtbaren: im Suchen und Verlangen nach ihr wird sie zur Richterin über die ganze verlogene Schau- und Scheinwelt der Gegenwart. Diess ist die zweite Antwort Wagner’s auf die Frage, was die Musik in dieser Zeit zu bedeuten habe. Helft mir, so ruft er Allen zu, die hören können, helft mir jene Cultur zu entdecken, von der meine Musik als die wiedergefundene Sprache der richtigen Empfindung [Hervorhebung von M. P.] wahrsagt, denkt darüber nach, dass die Seele der Musik sich jetzt einen Leib gestalten will, dass sie durch euch alle hindurch zur Sichtbarkeit in Bewegung, That, Einrichtung und Sitte ihren Weg sucht! Es giebt Menschen, welche diesen Zuruf verstehen, und es werden ihrer immer mehr; diese begreifen es auch zum ersten Male wieder, was es heissen will, den Staat auf Musik zu gründen […] (KSA, WB, 1, 457 f.).
Stand in der Antike die Charakterbildung im Mittelpunkt der Ethoslehre, wird jetzt auf eine implizite Weise dem Gefühl eine solche ›plastische‹ Funktion attestiert: Die Musik hatte vor Wagner im Ganzen enge Gränzen; sie bezog sich auf bleibende Zustände des Menschen, auf Das, was die Griechen Ethos nennen, und hatte mit Beethoven eben erst begonnen, die Sprache des Pathos, des leidenschaftlichen Wollens, der dramatischen Vorgänge im Innern des Menschen, zu finden. (ebd. 491)
Dies geschieht aufgrund der Aufwertung der Gefühle und weil der Mensch sich selbst durch die Musik und die Kunst im Allgemeinen als Empfindungswesen entdeckt, was zu dem Prozess der Selbstbildung zum Vernunftwesen beiträgt. Das Verhältnis von Kopf und Herz, von Denken und Fühlen, ist ein zentrales Thema der Aufklärung. Erkenntnis ohne Gefühl ist unwirksam. Bei Kant heißt es beispielsweise: Man hat es nämlich in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfingen, das Gefühl sei. 44
An dieser Stelle sei Folgendes festgehalten: Wenn Nietzsche so intensiv für das Gefühl plädiert, geschieht dies nicht, weil er an eine Opposition
Immanuel Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764) IV, § 2, zit. nach: O. Ewert: Gefühl, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel u. a. 1976, 89.
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zwischen Verstand und Gefühl glauben würde, wie sie einem in der Romantik oft begegnet. Nietzsche kalkuliert hier vielmehr im Rahmen eines Antagonismus von Kräften. Das Gefühl als Movens, als innewohnende Kraft des Menschen wird in diesem Zeitalter verdrängt. Auch wenn eine Rückkehr in eine vorschriftliche Kultur des Sprechens unmöglich ist, kann die Musik ausgleichend wirken, indem sie das Gefühl in der Konstellation eines Antagonismus von Kräften unterstürzt, damit es besser die Leistung der Vernunft begleiten kann: Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu pflanzen. N i c ht die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. (KSA, NF, 9, 186)
So vermag die Musik – immer in Analogie mit der klingenden Wortsprache betrachtet – einen Natureffekt zu produzieren, und auf diese Weise den Mangel an Gefühl, der dem Historismus vorgeworfen wird, zu kompensieren.
3.5. Die Meeresmetaphorik. Eine Dramatisierung der Willenssymbolik Um den Natureffekt der Musik zu dramatisieren, entwickelt Nietzsche eine Metaphorik des Meeres. Die Metaphorik des Flüssigen hat eine sehr lange Tradition in der Beschreibung von Affekten, fast alle Texte, welche die Affekte thematisieren, knüpfen an eine solche Metaphorik an. Leibniz beschreibt in seinem Discours de métaphysique in einer schönen Metapher die Affekte als unendlich viele Wellen. 45 In Kants Anthropologie wirkt der Affekt »wie ein Wasser, was den Damm durchbricht«. 46 Man könnte ähnlich Johannes Mattheson, einen führenden Musikästhetiker des 18. Jahrhunderts, erwähnen, der in seinem Werk Der vollkommene Kapellmeister die Affekte vergleicht »mit einem unergründlichen Meer, so daß wie viel Mühe man sich auch nehmen mögte, etwas vollständiges hierüber auszufertigen, doch nur
45 Vgl. G. W. Leibniz: Discours de métaphysique suivi de Monadologie et autres textes, hrsg. von Michel Fichant, Paris 2004, 210–211. Den Hinweis verdanke ich Jasmin Mersmann. 46 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 74, Hamburg 2000, 170 f.
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das wenigste zu Buche gebracht, unendlich viel aber ungesagt bleiben und der eignen natürlichen Empfindung eines jeden anheimgestellt werden dürfte.« 47 Diese Tradition setzt Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth fort. Ein großer Teil des Werkes ist eine Antwort auf die Frage, womit Wagners Musik den Zuhörer konfrontiert. Diese lautet: Wir spüren es schon zu Anfang, dass wir widerstrebende einzelne Strömungen, aber auch über alle mächtig, einen Strom mit Einer gewaltigen Richtung vor uns haben: dieser Strom bewegt sich zuerst unruhig, über verborgene Felsenzacken hinweg, die Fluth scheint mitunter aus einander zu reissen, nach verschiedenen Richtungen hin zu wollen. Allmählich bemerken wir, dass die innere Gesammtbewegung gewaltiger, fortreissender geworden ist; die zuckende Unruhe ist in die Ruhe der breiten furchtbaren Bewegung nach einem noch unbekannten Ziele übergegangen; und plötzlich, am Schluss, stürzt der Strom hinunter in die Tiefe, in seiner ganzen Breite, mit einer dämonischen Lust an Abgrund und Brandung. (KSA, WB, 1, 494)
Wenn man aufmerksam auf diese Passage eingeht, kann man sie als allegorisches Bild für die Musik als Ausdruck des Willens betrachten. Die »widerstrebenden einzelnen Strömungen« sind die Affekte, welche die Musik repräsentiert, oder man könnte auch so interpretieren, dass die verschiedenen einzelnen Strömungen den Affekten von verschiedenen Individuen gehören, denn Nietzsche spricht von einer »streng individualisirte[n] Leidenschaft« (ebd., 493). Die »eine, gewaltige Richtung« oder »innere Gesammtbewegung« oder »Gesammtleidenschaft« wäre im Sinne Schopenhauers der reine Wille, an dem alle individualisierten Leidenschaften teilhaben. Damit kann aber nur der Wille eines Individuums gemeint sein bzw. der unauflösbare Teil des Gefühls, oder die sinnliche Unmittelbarkeit des Lebens, die alle Menschen auf individuelle Art teilen. Auffällig ist hier die Rede von »widerstrebenden Strömungen«, die der eine Strom vereinen soll, denn sie zeigt, dass die Gegenstandslosigkeit der Musik ein Plus an subjektiver Deutung bedeutet. Diese Anschauungen, die man beim Musikhören hat, sind nicht verbindlich von der Musik als Objekt, sie sind nur bedingt von einem Willen, der seine eigenen Anschauungen zur Auslegung der Musik setzt.
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Johann Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister, Kassel 1969, 19.
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Die Beschreibung erinnert stark an das Dynamisch-Erhabene von Kant. 48 Vorhanden sind hier alle Momente des Erhabenen: die chaotische Naturerscheinung im fließenden Element, die zur Grenze des physischen Widerstandsvermögens führt: (»die zuckende Unruhe ist in die Ruhe der breiten furchtbaren Bewegung nach einem noch unbekannten Ziele übergegangen«); dann die negative Lust, die augenblickliche Hemmung der Lebenskräfte: (»mit einer dämonischen Lust an Abgrund und Brandung«). Die Beschreibung der Lage eines Zuschauers von Bayreuth unterscheidet sich kaum von der oben erwähnten: Der Bayreuthbesucher »würde fühlen müssen, dass er hier plötzlich in ein warmes Gewässer gerathe, wie Einer, der in einem See schwimmt und der Strömung einer heissen Quelle nahe kommt: aus anderen, tieferen Gründen muss diese emporkommen, sagt er sich, das umgebende Wasser erklärt sie nicht und ist jedenfalls selber flacheren Ursprungs.« (KSA, WB, 1, 432) Betrachtet man die bereits zitierten Stellen, entdeckt man ein metaphorisches Feld des Flüssigen, zu dem Metaphern wie »Strömung«, »Gewässer«, »See«, »schwimmen« und »Flut« gehören. Diese Metaphern dienen nicht allein der Beschreibung der Musik Wagners, sondern geben Hinweise zur Konfrontation mit dem amorphen, unbestimmten, erhabenen Charakter der Musik als Sprache der Affekte, weil beides, Meer und Affekte, etwas Unbestimmtes und Unberechenbares besitzen, in dem man sich verlieren kann. Die Meeresmetapher wird von Nietzsche für die Musik im Allgemeinen und insbesondere für die absolute Musik, das Paradigma seiner Epoche, verwendet. Sie dient als Symbol für die Musik als Wille. Die Metaphorik des Flüssigen, dem Gegenteil des Nicht-Festgelegten, des Nicht-Petrifizierbaren, bringt das Werden, den niemals stillen Willen, zum Ausdruck. Da die Musik keinen Gegenstand hat, ist sie geeignet, den dynamischen Charakter des Lebens zu symbolisieren. In dieser Hinsicht sollte man die Meeresmetapher als eine »absolute Metapher« im Sinne Hans Blumenbergs verstehen. In seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie unterscheidet Blumenberg zwischen drei Funktionsarten der Metapher: Erstens: Metaphern sind als Schmuck der Rede, als Ornamente im Rahmen der Rhetorik zu sehen, die einen Inhalt lebendig machen und sich zur Steigerung der Wirkung empfehlen. Sie helfen, einen Inhalt in ästheti48
Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 28, 129 f.
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scher Hinsicht attraktiv zu machen, bringen aber nichts zum Ausdruck, »was nicht auch in theoretisch-begrifflicher Weise dargestellt werden könnte«. 49 Zweitens: Metaphern als Vorbegriffe der Sprache und Formen unklaren Denkens. Sie zeigen imaginativ vor, was ein präziser Terminus zu definitorischer Bestimmtheit bringen kann. Drittens: Metaphern als Grundbestände der philosophischen Sprache. Nach Blumenberg beantworten absolute Metaphern »jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.« 50 Oder: »Sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.« 51 Solche absoluten Metaphern sind beispielsweise das Licht oder die Nacktheit als Metaphern für die Wahrheit, die Uhr oder die Maschine für den Menschen, und das Befahren der See als Metapher für den menschlichen Lebensweg. Diese Metaphern stehen für Daseinstotalitäten, die dem wissenschaftlichen Diskurs entgehen, weil sie mehr oder weniger direkt mit Ursprungsfragen zu tun haben und sich so jenseits der Sphäre des Begriffes bewegen. Viel wichtiger aber ist ihre pragmatische Funktion als Orientierungsmuster, denn sie setzen »Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten« frei. 52 Aus diesem Grund dienen sie wie die Musik als Spiegel und Offenbarungen des Selbst. Insofern das Leben des Willens ein Symbol der Musik ist, und die Metaphorik des Flüssigen seit den Vorsokratikern das Moment des Werdens symbolisiert, soll diese Metaphorik auch für die Willenssymbolik der Musik gelten. Man braucht allein das Merkmal der Sukzession, das der Musik als Kunst eigen ist, zu erwähnen: Das Nacheinander der Töne symbolisiert die Sukzession von Lebensaugenblicken. Das Meer als Sinnbild der Musik hilft uns bei der Auseinandersetzung mit deren ungegenständlichen und zeitlichen Charakter. Zudem gehört die Meeresmetapher zu den Raummetaphern, die zeitliche Konzepte zu veranschaulichen vermögen, da der Raum eine Domäne konkreter 49 50 51 52
Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 8. Ebd., 19. Ebd., 20. Ebd., 20.
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und Zeit eine Domäne abstrakter Erfahrung ist. 53 Man braucht nur an Ausdrücke der Alltagssprache, wie »Strom« oder »Fluss der Zeit«, »lange« oder »kurze Zeit«, zu denken. Zeit ist innerer Sinn. Innerer Sinn hat nicht mit räumlicher Begrenzung sondern im Gegenteil mit einem Gefühl der Unbeschränktheit zu tun. Die Räumlichkeit des Meeres ist eher aus einer zeitlichen Perspektive gesehen. Wenn wir etwa sagen, der Ozean sei unendlich, geben wir ihm ein zeitliches Attribut. 54 Das Meer als Metapher für die Musik fasst die beiden wichtigsten Merkmale der Musik als Zeitkunst zusammen: Ihre Gegenstandslosigkeit und das Gefühl der Unbeschränktheit, die beide entweder als Potential oder als Gefahr betrachtet werden können. Diese Ambivalenz ist nichts Neues, sondern ein klassischer Topos der Meeresmetaphorik. Hegel schreibt z. B.: Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte. 55
Des Meeres »unendliche Fläche ist absolut weich, denn sie widersteht keinem Drucke, selbst dem Hauche nicht; sie sieht unendlich unschuldig, nachgebend, freundlich und anschmiegsam aus, und gerade diese Nachgiebigkeit ist es, die das Meer in das gefahrvollste und gewaltigste Element verkehrt.« 56 Nietzsche macht von der Metapher des Meeres nicht nur in Richard Wagner in Bayreuth, sondern in seinem ganzen Werk als Bild für Selbstüberwindung und Horizonterweiterung Gebrauch. Eines der Lieder des Prinzen Vogelfrei im Anhang der Fröhlichen Wissenschaft trägt die Überschrift »Nach neuen Meeren« (KSA, 3, FW, 649) und im Zarathustra geht Nietzsche sogar soweit, das Meer als Sinnbild für den Übermenschen einzusetzen! Der Übermensch gleicht einem Meer von Möglichkeiten, in dem viele Ströme fließen. Dieses Meer ist so unbegrenzt, dass es auch einen schmutzigen Strom aufnehmen könne, ohne Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar 2000, 344. Dazu siehe auch Walter Dimter: Musikalische Romantik, in: Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, 411. 55 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: TWA, Bd. 12, 118 f., zit. nach Michael Makropoulos: Meer, in: Ralf Konnersmann (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, 236. 56 Ebd. 53 54
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unrein zu werden. 57 Der Übermensch kann folglich Negatives in sich verwandeln oder sublimieren, oder auch seine negativen Affekte verklären. Ist die Meeresmetapher bei Nietzsche als Sinnbild für den erhabenen Charakter des menschlichen Geistes allgemein positiv konnotiert – besonders in den Werken der mittleren Periode, in denen die Figur des Freigeistes dominiert –, erscheint sie in Bezug auf Wagner stark ambivalent oder sogar negativ, besonders in den späten Schriften der Achtziger Jahre. In Richard Wagner in Bayreuth zeigt Nietzsche sich unentschlossen. Einerseits konnotiert das Meer dort etwas unheimlich Großes und die Angst des Selbstverlustes angesichts dieser Größe, die allerdings zugleich eine entlastende, kathartische Funktion besitzt, andererseits steht es für das Betreten von Neuland, welches nichts anderes als das Ergebnis der stimulierenden Wirkung der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« ist, also das Potential, die eigene symbolische Welt ständig zu erweitern. 58 Letztlich markiert die Meeresmetaphorik den Übergang von Nietzsches Apotheose Wagners zu einer zwiespältigen Haltung ihm gegenüber. 59 Dasselbe wird für die Nachtmetapher in Menschliches, Allzumenschliches gelten. Nacht und Meer haben dieselben Konnotationen des Erhabenen, denn beide sind Erscheinungen der Natur, »deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt« und beide, Nacht und Meer, münden in etwas Neues. 60 Es ist kein Zufall, dass der Nachtmetapher die Charakteristik der Musik als »Kunst der Morgenröte« folgt, mit der wir uns später beschäftigen wollen. In Nietzsches späten Werken wird die Metaphorik des Flüssigen eine negative Akzentuierung erfahren, indem Nietzsche auf eine ironische Weise die Metapher des »Schwimmens« im Zusammenhang Vgl. KSA, Za, 4, 15. Die Meeresmetaphorik hat auch religiöse Konnotationen. Bezeichnend dafür ist eine Stelle Freuds: »Ein Gefühl, das er die die Empfindung der ›Ewigkeit‹ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrentztem, Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹. […] Nur auf Grund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen, auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne.« Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M., 1948, 421–422 ff. 59 In der vierten Betrachtung wird Nietzsche, so Giorgio Colli, »vom Preisenden zum Kritiker.« (KSA 1, Nachwort, 908). 60 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 26, 120. 57 58
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mit der ebenso ironisch gemeinten »unendlichen Melodie« wiederholen wird. Dem »Schwimmen« stellt Nietzsche dann den rhythmischen Gang der südländischen Musik gegenüber.
3.6. Synkretismus als Beschreibungsmodell der Willenssymbolik Ist die Meeresmetaphorik in Richard Wagner in Bayreuth eine lebhafte Darstellung der Willenssymbolik, ist die Metapher des Synkretismus, die im gleichen Text vorkommt, in systematischer Hinsicht vielleicht von noch größerer Bedeutung, die jedoch in der Sekundärliteratur bislang kaum berücksichtigt wurde. 61 Das Wort Synkretismus mag befremden in einem Text, der die Musik zum Gegenstand hat, denn es ist ein Begriff aus dem Bereich der Religionswissenschaften, der das prozessuale Zusammenwirken verschiedener Elemente in religiösen Zusammenhängen bezeichnet. Dabei gilt es zwischen drei Varianten zu unterscheiden, die der Bewegung der Affekte in der Musik adäquat sind: Synthese, Assimilation und Auflösung. Die religiöse Synthese bedeutet, dass durch prozessuales Zusammenwirken eine neue selbstständige religiöse Gestalt entsteht. Bei der Assimilation dagegen werden aus der kulturellen Umwelt übernommene Elemente durch ein dominantes System in untergeordneter Form weitergeführt. Schließlich ist mit der Auflösung das Auseinandergehen vormals aufeinander bezogener Elemente oder die Aufhebung der Grenzen zwischen den Systemen gemeint. In allen Fällen wird die Harmonisierung als Zweck des Synkretismus akzeptiert. 62 Diese Harmonisierung muss aber einen praktischen Hintergrund haben. Diesen sieht man schon am Ursprung des Begriffs bei Plutarch. Ihm zufolge ist Synkretismus (gr. sugkrhtism@): »die Handlungsweise der Kreter, die zwar häufig miteinander stritten und gegeneinander Krieg führten, jedoch beim Angriff durch äußere Feinde 61 Nicht zuletzt könnte der Begriff des Synkretismus zur Erläuterung der Art und Weise, wie Nietzsche philosophiert, beitragen. Nach Volker Gerhardt ist »Nietzsche der Synkretist der romantischen Zeitstimmung, die sich nach den vorangegangenen politischen und philosophischen Erschütterungen durch einen Aufschwung der Gefühle zu befreien sucht.« Volker Gerhardt: Sensation und Existenz. Nietzsche nach hundert Jahren, in: Nietzsche-Studien, 29 (2000), 109. 62 Vgl. Michael Pye: Artikel: »Synkretismus«, in: Metzler Lexikon Religion, Bd. 3, Weimar/Stuttgart 2000, 416.
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ihre Feindseligkeit begruben und sich vereinigten; dies eben war es, was sie selbst Synkretismus nannten.« 63 Wenn die Harmonisierung der verschiedenen Elemente als Zweck genommen wird, muss es ein Bedürfnis dafür geben, sei es eine äußere Drohung, wie in der Passage Plutarchs, oder eine innere Krise. Dass eine Harmonisierung vonnöten ist, bedeutet, dass die verschiedenen nebeneinander existierenden Elemente kein solides Ganzes bilden können. Das ist ein Zeichen dafür, dass das Verhältnis der Teile zum Ganzen gestört ist, also eine Kulturkrise vorliegt, die eine Verunsicherung zur Folge hat. Damit kommen wir zu einem anderen wichtigen Punkt von Synkretismus, seinem reaktiven Charakter. Nach Ulrich Berner kann Synkretismus aufgefasst werden »als eine der möglichen Reaktionen auf eine Situation der Verunsicherung durch Begegnung verschiedener Systeme, eine Reaktion, die als Ziel verfolgt, diese Verunsicherung aufzuheben«. 64 Nachdem wir den Begriff des Synkretismus konturiert haben, wollen wir sehen, wie er auf die Musik anzuwenden ist. Man könnte zwei Lesarten wagen: Die erste Lesart betrifft die Affekte. Im Fragment Über Stimmungen wurde die Musik als inneres Spiel, als eine Begegnung von Affekten geschildert. Synkretismus könnte als Erklärungsmodell für diese Bewegung gebraucht werden, insofern die abstrakten Affekte des Werkes die Affekte des Hörers bewegen. In dieser Hinsicht könnten Synthese, Assimilation oder Auflösung Varianten sein für die Art und Weise, wie sich die Affekte des Hörers zu den Affekten des Werkes verhalten. Die Perspektive des Erklärungsmomentes ist diejenige des Hörers und in dieser Hinsicht wäre der Akt des Hörens ein Kampf von Affekten, nämlich derjenigen des Werkes mit denen des Hörers, wozu noch die Affekte des interpretierenden Künstlers hinzufügen wären. Verneint man, dass die Affekte des musikalischern Werkes an sich abstrakt sind, könnte man die Passage auch so interpretieren, dass die Abstraktion der Affekte in der Musik (Schopenhauers Gefühle in ›abstracto‹) das Ergebnis dieses Kampfes zwischen den verschiedenen Per63 Plutarch: Moralia. Von der brüderlichen Liebe 490b, in: W. R. Paton u. a. (Hrsg.): Plutarchi Moralia, Leipzig 1972, 249. Darauf stützen sich alle späteren Besprechungen des Terminus. 64 Ulrich Berner (Hrsg.): Synkretismusforschung. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1978, 12.
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Synkretismus als Beschreibungsmodell der Willenssymbolik
spektiven von Affekten (von Hörer und Werk) ist. Wie wäre nun diese Abstraktion zu verstehen? Nehmen wir an, die Affekte des Werkes haben einen Charakter x und die Affekte des Hörers einen Charakter y. Die Abstraktion wäre dann die Verwandlung der Affekte des Hörers je nach individueller Disposition. Die Harmonisierung im Sinne des Synkretismus wäre das Moment der Verwandlung. Diese Verwandlung bedeutete auch etwas Neues. Im Fragment Über Stimmungen wurde die Bildung von Stimmungen als ein Prozess der Verschmelzung beschrieben. Der Hörer war wie ein Haus zu denken, die Affekte des Hörers wie dessen Bewohner und die Affekte des Werkes wie dessen Gäste. Der stimmungsbildende Verschmelzungsprozess war die jeweilige Konstellation von Bewohnern und Gästen, die als notwendig erschien: da klingt Musik! – Schon strömehni wieder von allen Seitehni neue Gäste in das allehni offenstehende Haus […] Aber es ist wundersam; nicht die Gäste komhmein weil sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es kommehni die welche müssen und nur eben die, welche müssen. 65
In ähnlicher Weise lassen sich die zusammenwirkenden Elemente in den drei Synkretismus-Varianten als Bewohner, und als miteinander agierende, alte und neue Gäste, denken. Die zweite Lesart der Metapher würde den ›Geist der Musik‹, nämlich das Verhältnis der Musik zu den anderen Künsten betreffen, und als Erklärungsmodell für das Gesamtkunstwerk dienen. Die Musik wäre dann die koordinierende Kraft in einem Antagonismus der Kräfte, und eine Metapher für das Lebensgefühl, das in jeder kulturellen Erscheinung und jeder Kunst präsent sein muss. Denn sollte man nun die Gattung der Oper und das musikalische Drama Wagners aus der Perspektive dieses Begriffes sehen, dann könnte man behaupten, das Gesamtkunstwerk Wagners sei eine große synkretistische Leistung, in der sich die Künste vereinigen und verschiedene Inhalte mischen. Die innere Logik dieser Leistung verdankt sich der Tatsache, dass die Künste und die verschiedenen Inhalte im negativen Sinne absolut geworden sind. Das heißt, sie haben ihre vitale Verbindung zueinander verloren, sich verselbständigt und einen Entwicklungsstand erreicht, in dem sie nicht mehr erneuerungsfähig sind und keine gesellschaftliche Erneuerung bewirken können. 66 65 66
KGW, NF, I 3, 372. Dazu siehe Wolfgang Storch: Artikel:»Gesamtkunstwerk«, in: Ästhetische Grund-
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Die metaphysische Perspektive
Die historische Notwendigkeit des Gesamtkunstwerkes veranschaulicht Nietzsche durch eine Analogie mit einem großen Individuum der universalen Kulturgeschichte, nämlich Alexander dem Großen. Diese Analogie ist ex negativo formuliert: So ist denn jetzt eine Reihe von Ge g e n- Al e xa nd e rn nöthig geworden, welche die mächtigste Kraft haben, zusammen zu ziehen und zu binden, die entferntesten Fäden heran zu langen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren. Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, wie es Alexander that, so dass seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern ihn z u b i nd e n, na c hde m e r g e l ö st w a r – das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schliesst zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medicinischer Ausdruck erlaubt ist, eine a d st ri ng ir e nd e Kraft: in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ordnenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Ve re i nfa che r d e r We lt (KSA, WB, 1, 447).
Dieser Passus aus Richard Wagner in Bayreuth korrespondiert mit Kapitel 23 der Geburt der Tragödie. Dort wurde der Mythos thematisiert, der ein »zusammengezogenes Bild« und eine »Abbreviatur der Erscheinung« (KSA, GT, 1, 145) ist. In seiner Wichtigkeit für die Kultur ist er unentbehrlich: Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. (ebd.)
Der Mythos ist demnach in gewisser Weise das Fundament jeder – auch jeder theoretischen – Kultur. Deswegen ist gerade eine angeblich mythenlose theoretische Kultur dazu verurteilt, sich von anderen Kulturen zu nähren. Das Umsichsammeln und Vereinnahmen zahlloser anderer Kulturen für die eigene Tradition, womit alles in »Historie und Kritik« verwandelt wird, soll den Verlust des heimischen Mythus kompensieren. Nietzsche hatte anfangs geglaubt, Wagner sei der Wiederbelebung des heimischen Mythos fähig und davor gewarnt, bei dieser Wiederbelebung fremde Elemente einzubeziehen: begriffe (ÄGB) Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, 730–732 ff.
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Synkretismus als Beschreibungsmodell der Willenssymbolik
Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen heillos zu beschädigen: welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. (KSA, GT, 1, 149)
In Richard Wagner in Bayreuth tut Wagner jedoch als »Gegen-Alexander« genau das, wovon Nietzsche am Ende der Geburt der Tragödie abgeraten hatte: Er verbindet alle möglichen heterogenen Elemente, nur dass er sie nicht in »Historie und Kritik«, also in starren Formen wiederholt, sondern in etwas Neues, in ein lebendiges Ganzes, in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Zwar unterliegt Wagner der Notwendigkeit seiner Epoche, in der das Herumschweifen über alle Formen unvermeidbar ist, geht aber zugleich über sie hinaus. Mag Wagner auch nicht den heimischen Mythos wieder beleben können, so kann er doch zumindest fremde Mythen in einen neuen Mythos pflanzen. Nietzsche betreibt hier »Historie und Kritik«, indem er von der historischen Notwendigkeit Wagners ausgeht. Die Aufgabe, den gordischen Knoten zu binden, ist mit der Wiederbelebung des Mythos gleichzusetzen. Diese Möglichkeit der Wiederbelebung basiert auf der Fähigkeit der Musik, als Stellvertreterin des affektiven Substrats der Sprache ein dynamisches Ganzes in sich zu schließen. Mythos ist ein solches dynamisches Ganze in Form von Bildern, Prototyp des Gesamtkunstwerks. Wie wir in der Einführung betont haben, sollte man aus systematischen Gründen den Namen Wagner metonymisch für die Musik im Allgemeinen sehen, denn was für die Musik Wagners gilt, gilt für alle Musik, denn die Bewegung des Synkretismus zeigt, wie die Musik die Einbildungskraft mobilisiert. Das synkretistische Potential hängt mit dem negativ-unbildlichen, unmimetischen Charakter der Musik zusammen. Denn insofern die Musik keinen Gegenstand hat, kann sie alles als Gegenstand in sich aufnehmen. Hier könnte man wieder an das Schema der Willenssymbolik anknüpfen. Diese Eigenschaft kann die Musik natürlich nur als Symbol des Willens haben, denn die bindende Leistung ist eine Eigenschaft des Willens, der alle Vorstellungen vereinigt und darin das Einfache für sich selbst sucht. Wenn man Synkretismus in die Terminologie Schopenhauers übersetzt, ist Synkretismus ebenso eine unbewusste Bewegung, wie der Wille selbst, der immer unerfüllbar ist und sich seine Befriedigung in einer Mannigfaltigkeit von heterogenen Phäno87 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die metaphysische Perspektive
menen sucht, sie vereint und zu etwas Neuem kommt. Dieselbe Bewegung galt in der Geburt der Tragödie. Dort sollte die Musik die vereinzelten Künste in einem Gesamtkunstwerk vereinigen. Dort hatte die Vereinigung aller Künste im Gesamtkunstwerk einen programmatischen Status, der mit der Hoffnung einer neuen Kultur verbunden war. Diese Vereinigung jetzt als Synkretismus zu bezeichnen, bedeutet eine Abwertung des Gesamtkunstwerkes. Diese Abwertung wird durch die Betonung der Notwendigkeit des Synkretismus und mit der Profilierung Wagners als Gegen-Alexander kompensiert. Wäre Synkretismus pejorativ gemeint, würde Nietzsche mitnichten Wagner als großes Individuum genau wegen dieser Leistung darstellen. Die als Synkretismus zu bezeichnende Bewegung wird immer von etwas anderem verursacht – im Fall des Gesamtkunstwerkes durch die Trennung der Künste. Denn greift man auf dem etymologischen Ursprung des Wortes »sugkrhtism@« bei Plutarch zurück, erscheint als Symptom einer kulturellen Verunsicherung, als eine Abwehrstrategie, insofern Synkretismus nichts anderes meint als die Vereinigung von Kretern angesichts eines Feindes. Die Vereinigung im Synkretismus findet also in einer Krisensituation statt, die daher rührt, dass die Teile des Ganzen nicht mehr wirklich miteinander verbunden sind. Die Teile verselbständigen sich bisweilen so sehr, dass sie für das Ganze bedrohlich werden. Der Impuls ist hier kulturkritisch, zumal Historismus den Gegenstand der Polemik darstellt. In der Zweiten Betrachtung attackiert Nietzsche die Bewegung des Historismus, die die Gegenwart durch den Überdruss des historischen Wissens vergiftet. Damit stellt sich noch einmal die Frage, wie sich die Musik dieser Bewegung gegenüberstellt. Es ist bereits dargelegt worden, dass aus Nietzsches Sicht die Musik eine überhistorische Kraft darstellt, die als Gegenmittel zum Historismus wirken soll. Wenn wir aber parallel die in die absolute Musik gemündete Entwicklung der Musik und die Erscheinung des Historismus betrachten, dann wird ersichtlich, dass die beiden Bewegungen nicht in einem scharfen Gegensatz zueinander stehen, so als wäre die eine die Krankheit und die andere das Heilmittel. Wie die Gegenwart durch den Historismus eine fast leere, absolute Stelle wird, wo alle möglichen Epochen mit ihren Formen präsent sind, so stellt die (absolute) Musik eine Projektionsfläche dar, die mannigfaltige Anschauungen – auch einander widersprechende – beherbergen kann. 88 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Synkretismus als Beschreibungsmodell der Willenssymbolik
Das synkretistische Potential einer historischen Epoche kommt in der Musik sehr deutlich zum Ausdruck, da in ihr diverse historische Inhalte bzw. Mythen verschmelzen können. Genau danach strebt Wagner im Gesamtkunstwerk. Wagner ist der Synkretist schlechthin. Das 19. Jahrhundert ist nicht zuletzt deshalb das Jahrhundert der Utopien, weil man auf vielfältige Weise versucht, die historischen Formen für die Gegenwart zu nutzen. Nietzsche steht dem Phänomen des Historismus höchst ambivalent gegenüber. Einerseits hält er den Historismus für die Ursache und ein Zeichen von Entfremdung, andererseits spricht er dem Zeitalter des Historismus ein enormes Potential zu. Der Aphorismus 179 von Menschliches, Allzumenschliches II zeigt eine Bewertung, die in der vierten Betrachtung latent ist: Gl ück d e r Z e i t. – In zwei Beziehungen ist unsre Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Ve r g a ng e nhe it geniessen wir alle Culturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoosse jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Culturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren: aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurch drang. In Hinsicht auf die Z uk unft erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weltblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls giebt es Niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. (KSA, MA II, 2, 457)
Die Musik fungiert hier als eine den Synkretismus ermöglichende Kraft, da sie das Spiel verschiedener Anschauungen ermöglicht. Als solche gleicht sie der begrifflichen Bewegung des Historismus, die alle vorhandenen Formen der Vergangenheit in die Gegenwart bringt. Die Musik ist die Form, der Historismus der Inhalt. Das Vorhandensein aller Formen mag Verwirrung stiften, verweist aber auch auf die regulative Idee einer idealen Form durch Synthesis. Die Suche nach der optimalen Form bezeugt einen Glauben an die Fortschritte der Vernunft und an die Schaffung eines idealen Kom89 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die metaphysische Perspektive
munikationsmediums, das allerdings eine regulative Idee und nicht etwas Realisierbares ist. In der Geburt der Tragödie war der tragische Mythos die ideale Form und die Tragödie sein Wirksamkeitsmodus. Der Mythos als ästhetische Idee der Musik war für Nietzsche eine kulturelle Notwendigkeit, weshalb er – zumindest solange er an die kulturpolitische Bedeutung Wagners glaubte – der Musik eine mythosschöpferische Kraft attestiert. Hier ist der unstreitige Vorteil der Musik als einer unplastischen Kunst leicht einzusehen: ihre potentielle Offenheit. Die unsichtbare Form der Musik gibt unserer Freiheit, den Dingen selbst einen Sinn zuzuschreiben und sie auf eine beliebige Weise zu kombinieren, Boden, und erlaubt uns so in Form einer Synthesis eine Utopie als regulatives Prinzip vorzustellen. Für den Synkretismus ist folglich das ›vereinigende‹ Element am wichtigsten. Dementsprechend wäre die Musik ein Begriff zur Vereinigung aller Künste. Musik ist die bindende Kraft des Gesamtkunstwerks und bildet wie auch die antike mousikffi ein poetologisches Einheitsprinzip. Der innere Wille des Gesamtkunstwerks zeigt sich in der Musik. Die in den separaten Künsten wirksamen Leidenschaften finden in der Musik eine Bindung, die für das Musische oder den Willen zum Schaffen in allen Künsten steht. Indem Nietzsche den Begriff des Synkretismus in die Diskussion einbringt, fasst er ein wichtiges Merkmal der Willenssymbolik der Musik, ihren synthetisch-kombinatorischen Charakter ins Auge und setzt damit Schopenhauers Ansatz fort. Wille und Synkretismus verbindet die affektive Bewegung der Spontaneität. In beiden Fällen ist die Synthesis nicht harmonizistisch – wie im Falle des Eklektizismus –, sondern ein Ergebnis von vielen miteinander und gegeneinander spielenden Kräften. Synkretismus hilft uns als Erklärungsmodell, die Konfrontation der Subjektivität mit dem ungegenständlichen Charakter der Musik zu verstehen. Da die Musik keinen anschaulichen Gegenstand hat, wird der von der gehörten Musik überwältigte Hörer gezwungen, eine Synthesis von mannigfaltigen Anschauungen aus sich selbst hervorzubringen.
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Schlussbemerkung zur ersten Perspektive
3.7. Schlussbemerkung zur ersten Perspektive In seiner ersten Phase adoptiert Nietzsche die Willensymbolik der Musik Schopenhauers, dramatisiert sie und kehrt sie dabei zugleich um. Der wesentliche Unterschied zwischen Nietzsche und Schopenhauer ist der folgende: Nicht die Musik ist Symbol des Willens, sondern der Wille wird zum Symbol der Musik. Nietzsche korrigiert den Ansatz Schopenhauers, indem er zeigt, dass die Willenssymbolik nur transzendental gedacht werden kann, d. h. nur als innere Erfahrung eines Subjekts und nicht platonisch als Verhältnis von Urbild (Wille) und Abbild (Musik). Diese Symbolik dramatisiert und verdeutlicht er durch die Metaphern des Meeres und des Synkretismus, der ein adäquates Erklärungsmodell für die Bewegung der Affekte in der Musik ist. Im Kontext der Philosophie der Musik nun: Mit der Übernahme der Willenssymbolik Schopenhauers übernimmt Nietzsche zugleich auch die Auffassung, nach der die Musik Ausdruck von Affekten ist. Dieser klassische Topos gewinnt durch Nietzsches These, dass die Musik als Sprache der Affekte einer »unendlichen Verdeutlichung fähig ist«, eine neue Dimension. Dies kommt einer weiteren Aufwertung der Affekte gleich, da sie es sind, die »einer unendlichen Verdeutlichung« fähig sind. 67 Die unendliche Verdeutlichung bezieht sich auf die Mannigfaltigkeit von Affekten. Das betrifft aber die theoretische Ebene der Willenssymbolik. Da formuliert Nietzsche einen sehr abstrakten Begriff des Gefühls, als einem Komplex von bewussten Vorstellungen und etwas Unbewusstem. Dieses Unbewusste aber, ›der unauflösbare Teil des Gefühls‹, ist so stark, dass die Musik als Sprache des Willens eine kulturkritische Instanz gegen die abstrakten theoretischen Diskurse seiner Epoche, die unter den Nenner des Historismus zu subsumieren sind, darstellt. Dieser unbewusste Teil, der die Musik hauptsächlich ausdrückt, ist mit der individuellen Erfahrung der eigenen Sinnlichkeit, die die begriffliche Sprache unterdrückt, identisch. Auf der praktischen Ebene scheint Nietzsche die Willenssymbolik Schopenhauers unverändert beizubehalten. Man könnte ihn dafür kritisieren, denn er macht aus dem Gefühl etwas gänzlich Unbekanntes und Unbewusstes, das begrifflich nicht auflösbar ist und allein in der Musik zum Ausdruck gebracht werden kann. Damit wird die Musik 67 Die erste Aufwertung der Affekte stammt von Schopenhauer, der aus ihnen das Prinzip des Willens abgeleitet hat.
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Die metaphysische Perspektive
zur Sprache des Unsagbaren und des reinen Willens. So verdichtet er die Musik zu einer Gegeninstanz zur begrifflichen Welt, indem er den unauflösbaren Teil des Gefühls als reinen Willen intellektualisiert und dann in die Musik eine solche Bedeutsamkeit hineinlegt. Man könnte aber Nietzsche durchaus verteidigen, wenn man bedenkt, dass die Musik als Erinnerung an die affektive Ebene der Sprache fungiert. Und da die Sprache im Zeitalter des Historismus von einem Übermaß an Abstraktion bedroht wird, trägt das Konstrukt der Willenssymbolik der Musik zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Affekt und Wort, Gefühl und Verstand bei. Auch wenn Nietzsche die metaphysische Perspektive der Musik als Sprache der Affekte kritisiert, kann er auf sie aus praktischen Gründen nicht verzichten.
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4. Die historisch-genealogische Perspektive
4.1. Die genealogische Erklärung der musikalischen Bedeutsamkeit In der zweiten Periode von Nietzsches Schaffen, die mit Menschliches, Allzumenschliches beginnt, ist die Musik, aus deren Geist alle Kultur geboren wurde, nicht mehr die einzige privilegierte symbolische Sprache wie in der ersten Periode. Nietzsche distanziert sich vom romantischen Geist und seinen damaligen Vorbildern Wagner und Schopenhauer, und wendet sich dem kritischen Geist der französischen Aufklärung zu. Die Kunst wird nun zum Objekt analytischer Beobachtung, wobei Nietzsche sie zugleich auf ihre sozialhistorischen Voraussetzungen untersucht. Dabei ergibt sich bezüglich der Musik eine Änderung der Perspektive, denn Nietzsche versucht darzulegen, wie es historisch-genealogisch überhaupt zu dieser außerordentlichen Bedeutung der Musik gekommen ist. Im Aphorismus 215 von Menschliches, Allzumenschliches versucht Nietzsche die romantische Auffassung der Musik zu erklären, deren höchste Variante Schopenhauers Metaphysik der Musik ist. Schopenhauer macht zwei große Abstraktionen, die Nietzsche ihm implizit zum Vorwurf macht. Erst transzendiert er die Affekte als Willen, indem er aus der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Affekte ein einheitliches Prinzip macht und dann intellektualisiert bzw. instrumentalisiert er ein empirisches Phänomen, die Musik, als Ausdruck der als Wille transzendierten Affekte. Da traditionell die Welt der Affekte den Gegenpol zur begrifflichen Welt bildet, muss ein großer Affekt, nämlich der Wille, als etwas Unsagbares wirken, als etwas über den Verstand Hinausgehendes. Durch die Willenssymbolik der Musik wird ersichtlich, dass die Affekte als eine metaphysische Entität, als Wille transzendiert worden sind, denn aus dem unauflösbaren Teil des Gefühls wird eine Willensmetaphysik konstruiert. Dieses Unsagbare äußert sich in der mit dem Gefühl operierenden Musik und genau dieses 93 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die historisch-genealogische Perspektive
Gefühl ist es, was die Romantik mystifiziert und die Musik zum Medium einer religiösen Offenbarung macht. Nietzsche stellt genau diesen Zusammenhang der Musik mit dem unauflösbaren Teil des Gefühls durch die Annahme einer historisch-genealogischen Perspektive in Frage. Unter einer solchen Perspektive untersucht Nietzsche nun, warum die Musik in seiner Zeit als unmittelbare, überzeitliche Sprache des Gefühls gilt und stößt auf zwei schwerwiegende Gründe: Dichtung und Religion. Der erste Grund, warum der Musik eine so gewichtige Bedeutung zugeschrieben wurde, ist die uralte Verbindung von Musik und Poesie, man denke an alte und moderne Gattungen wie z. B. das Volk- und Kunstlied, das gesungene Epos, das antike Drama oder die Oper. Diese lange Verbindung ist dafür verantwortlich, dass man die Musik, insbesondere die Instrumentalmusik, im 19. Jahrhundert mit dem inneren Leben in Verbindung setzte, als hätte die Musik die Innerlichkeit der lyrischen Dichtung absorbiert. Das Hineinlegen der Bedeutsamkeit des inneren Lebens in die Musik resultierte aus der allmählichen Trennung beider Künste, im Zuge derer die Musik die ungeheure Symbolik der Poesie übernahm. Die Auffassung der absoluten Musik im metaphysischen Sinne und der Musik als überzeitlicher Sprache ist also Produkt einer langjährigen Symbiose, welche die Überladung der musikalischen Form mit Gefühl- und Begriffsbedeutsamkeit zur Folge hatte: Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unm it te l b a re Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wä hne n, sie spräche direct z um Inneren und käme a us dem Inneren. […] An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom »Willen«, vom »Dinge an sich«; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hi ne ing e le gt , wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist. (KSA, MA I, 2, 175)
Der zweite Grund liegt in der religiösen und kultischen Herkunft der Musik, wobei ein besonders wichtiges historisches Moment die religiöse Umstimmung, die mit dem Protestantismus stattgefunden hatte, war. Die Musik sei dadurch von ihrem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter im Katholizismus und ihrem im Zeitalter der Renais94 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die genealogische Erklärung der musikalischen Bedeutsamkeit
sance und Vor-Renaissance dominanten gelehrten Charakter befreit worden. So kam es zu einer ›Gegenrenaissance‹ im Bereich der Künste, durch die die Musik vollkommen dem Bereich der ›Innerlichkeit‹ zugeordnet wurde: Ohne jene tief religiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichsterregten Gemüthes wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik […] So tief sind wir dem religiösem Leben verschuldet. (KSA, MA I, 2, 179)
Diese Innerlichkeit hatte allerdings einen schwärmerisch-mystischen Kult zur Folge, weshalb am Ende von Menschliches, Allzumenschliches Beispiele für die Verknüpfung zwischen Musik, Innerlichkeit und Religion auf eine parodistische Weise aufgelistet werden: Bach: »als ob wir dabei wären, wi e Gott d i e We l t sch uf« (KSA, MA II, 2, 615); Händel: »und war froh […] – aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktags gewesen sind« (ebd., 615); Beethoven: »ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte« (ebd., 616); Wagner: »Nachahmung der Gebärden des g r o s s e n S ü n d e r s « (ebd., 617) – Verkehrung des Erlösungsgedankens; Chopins Barcarole: »dass selbst Götter dabei gelüsten könnten, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen« (ebd., 619); Robert Schumann: »seine Musik [erinnert] an die ewige ›alte Jungfer‹« (ebd., 619). Der übertriebene Ton Nietzsches richtet sich gegen die übermäßige Dominanz einer religiös gefärbten Gefühlästhetik. Der Sonderstatus der Musik als unmittelbarer Sprache des Gefühls wird also als Konstruktion eines historischen Moments entlarvt. Die Philosophie der Musik Schopenhauers, welche die Musik als Ausdruck des Wesens der Welt deutet, ist demzufolge Produkt einer historischen Entwicklung. Wenn wir aber von der Annahme ausgehen, dass die Musik die Sprache von Affekten ist und daher Musik und Affekte eine parallele Entwicklung durchlaufen, müssen auch die Affekte genealogisch untersucht werden. Die Musik ist die Sprache der Affekte. Sie ruft eine gefühlsmäßige Reaktion hervor und Gefühl ist ein Begriff für die Summe von Affekten. Die Fähigkeit, die immense Bedeutsamkeit der Musik durch das Gefühl wahrzunehmen, setzt ein weit entwickeltes Gefühl voraus, wenn wir – wie Schopenhauer behauptet – beispielsweise in den Sätzen einer Symphonie, die, rein formal gesehen, nichts anderes als eine Zusammenstellung von Tönen ist, ein Bild des Lebens in all seinen Mani95 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die historisch-genealogische Perspektive
festationen und Wenden wahrnehmen können. 1 Deswegen ist es, um die genealogische Perspektive Nietzsches besser zu verstehen, notwendig, uns erneut seinem Begriff des Gefühls zuzuwenden. In seiner ersten Phase hat Nietzsche das Gefühl als einen Komplex von unbewussten Vorstellungen und Willenszuständen mit einem unauflösbaren Rest definiert, – eine Auffassung Nietzsches, die sich gegenüber dieser Phase nicht gründlich verändert hat. Doch ist der Akzent nicht so stark auf den begrifflich unauflösbaren Teil des Gefühls gesetzt und außerdem zeigt Nietzsche jetzt, dass dieser Komplex von unbewussten Vorstellungen eine geschichtliche Entwicklung hat. Das Gefühl ist als eine verinnerlichte Form des Verstandes zu verstehen. Wie werden aber Gefühl und Verstand miteinander verknüpft? Der Verstand wird durch Wiederholung und Gewohnheit verfestigt. Er wird dadurch zum Instinkt und so wird er weiter in Generationen übertragen. Alles was Gefühl ist, war einmal Verstand. Gefühl ist also nichts Unmittelbares, sondern vom Gedächtnis geprägt. Das Gefühl ist sozusagen eine einfache bzw. einheitliche Erscheinungsform des Verstandes. Die Verknüpfung von Gefühlen und Gedanken wird nicht bewusst wahrgenommen, einerseits weil sie einfach zu schnell stattfindet, andererseits weil sie zu kompliziert ist und als Einheit erscheint: So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Ei nhe i te n empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen [Hervorhebung von M. P.] (KSA, MA I, 2, 35)
Die klassischen Topoi der romantischen Musikästhetik, dass die Musik in den Gefühlen, die sie erregt, die unmittelbare Sprache des Unsagbaren, der Natur, des Ursprungs, ist, werden angesichts dieser Sätze in ihrer Absolutheit unterminiert. Die Musik und die von ihr erregten Gefühle haben keinen inhärenten metaphysischen Charakter. Mag man diese Gefühle als tief bezeichnen, kommt ihre Tiefe von Außen, denn »diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt
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Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, 366.
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Die Musik und die Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen
werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten.« (ebd.) Die metaphysische Bedeutsamkeit der Musik ist also extern und ein historisch-genealogisches Produkt. Diese Tatsache muss auf einer historischen Notwendigkeit beruhen: Insofern das Gefühl eine instinktive Form des Verstandes ist, muss hinter der Bedeutsamkeit der Musik eine tiefere Logik stecken, denn das als spontan erscheinende Gefühl ist laut diesem Gefühlsbegriff durchaus logisch nachvollziehbar. Das Hineinlegen einer immensen Bedeutsamkeit kann also nur von einem praktischen Bedürfnis herrühren. Bedürfnisse pendeln zwischen Mangel und Steigerung. Ein Gefühl für tief zu halten kann daher ein Indiz für Mangel oder Steigerung sein. Wir wollen deshalb nun einen anderen Aspekt der genealogischen Perspektive in Betracht ziehen und zu der Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen kommen.
4.2. Die Musik und die Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen Wir haben gerade behauptet, dass Nietzsches Gefühlsbegriff keinen Platz für einen unauflösbaren Rest im mystisch-transzendenten oder verstandeswidrigen Sinne zulässt. Ein solcher Rest wäre ein Moment des Übergangs, der als solcher nicht bewusst werden könnte, da er schon Vorstellung gewesen wäre. Oder gibt es doch Platz für einen unauflösbaren Rest? Nehmen wir an, dass es ihn gibt, ist er mit dem begrifflich unauflösbaren Teil unserer eigenen Individualität und unmittelbaren sinnlichen Erfahrung identisch. Nach Nietzsches Denkweise lässt sich gerade dieser begrifflich unauflösbare Rest als unmittelbare Erscheinung eines transzendenten Gefühls mystifizieren. Der genealogische Vorgang zeigt eindeutig, dass der Grund für diese Mystifizierung oder Transzendierung die lange Symbiose von Musik und Religion war. Das ist eine historisch-genealogische Perspektive. Dazu gibt es aber eine begleitende systematische Perspektive, denn Nietzsche scheint zu implizieren, dass die Kunst und insbesondere die Musik nun die Rolle der Befriedigung derjenigen Bedürfnisse hat, für die früher die Religion zuständig war: Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber
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Die historisch-genealogische Perspektive
die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. (KSA, MA I, 2, 185 f.) 2
Wenn das affektive Moment der Religion, das religiöse Gefühl, in das von der Musik hervorgerufene Gefühl verlagert wird, und die Musik als unmittelbare Sprache des Gefühls bzw. des unauflösbaren Teils des Gefühls stilisiert wird, dann muss es ein Bedürfnis dafür geben. Dieses Bedürfnis wird bei den Romantikern, den dramatischen Individuen ihrer Epoche, offenkundig, denn sie sind die Urheber einer Ästhetik, die der Musik die Bedeutsamkeit einer Religion gibt. Nähme Nietzsche sein genealogisches Vorgehen nur als Entlarvung einer falschen Konstruktion wahr, wäre der Fall einfach und sein Argument gegen die metaphysische Bedeutsamkeit der Musik unanfechtbar. Nietzsche scheint aber auch die Notwendigkeit der historischen Konstruktion der Romantik zu würdigen. Das tut er, weil er ein Gespür für diejenige anthropologische Konstante besitzt, die Schopenhauer ›metaphysisches Bedürfnis‹ nennt, und an diesem Punkt möchte ich mich Jens-Peter Schütte, der auf die Wichtigkeit dieses Begriffs für die historisch-genealogische Perspektive Nietzsches aufmerksam gemacht hat, positiv anschließen. 3 Dieser Terminus Schopenhauers steht in Zusammenhang mit seiner Auffassung des Menschen als animal metaphysicum.4 Als animal metaphysicum hat der Mensch das Bedürfnis, seine Verwunderung über sich selbst (der antike Begriff von qaumasm@) und die BesinIn ähnlichem Sinne siehe KSA, NF, 8, 421: »Wir haben doch die Resultate langer Herrschaft der Metaphysik in uns, gewisse complexe Stimmungen und Empfindungen, welche zu den höchsten Errungenschaften der menschlichen Natur gehören«. Oder knapper formuliert: »Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen.« (KSA, MA I, 2, 144). 3 Vgl. Jens-Peter Schütte: Nietzsche und das Ende der Musik. Zum Verhältnis von Musik und Religion in Menschliches, Allzumenschliches, in: R. Barth (Hrsg.): Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth, Frankfurt a. M. 2005, 314–325. 4 Die folgenden Ausführungen basieren auf Kapitel 17 des ersten Buches des Ergänzungbandes zu Die Welt als Wille und Vorstellung, der die Überschrift trägt: Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen. Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, 206–243. 2
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Die Musik und die Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen
nung auf die Endlichkeit allen Daseins und die Vergeblichkeit allen Strebens, in symbolischen Sprachen wie Philosophie, Religion und Kunst zu sublimieren. Dieses Bedürfnis nennt Schopenhauer metaphysisch. Man könnte auch dieses Bedürfnis weiter durch Nietzsches Auffassung der überhistorischen Mächte der Religion und der Kunst deuten. Diese überhistorischen Mächte sind Ausdruck des Bedürfnisses des Menschen, sich selbst aus der Perspektive des Wahren und Ewigen zu betrachten. Das metaphysische Bedürfnis wäre demnach so zu denken, dass man sich selbst aus einer überhistorischen Perspektive betrachtet. Im Kapitel über Musik und Historismus haben wir behauptet, dass die Musik als eine besonders mächtige überhistorische Kraft wirken kann, weil sie sowohl das überhistorische wie auch das unhistorische Element in sich enthält. Das wird nun in einem geschichtlichen Kontext verdeutlicht. Dazu der Aphorismus 171 von Menschliches, Allzumenschliches II: Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem bestimmten Culturboden, unter bestimmten socialen und politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die le tz te aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörenden Cultur: während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. (KSA, MA II, 2, 450).
Wie Renate Reschke gezeigt hat, wiederholt Nietzsche hier den im 19. Jahrhundert sehr verbreiteten ›Historizitätsgedanken‹ der Musik, demzufolge die Musik zu den Spätformen der Kunst gehört. 5 Diese Vorstellung folgt Hegels historischer und systematischer Zuordnung der Musik zu den romantischen Künsten als Repräsentation der neuzeitlichen Subjektivität und dessen Anerkennung der tiefen Subjektivität der Musik. Doch diese Auffassung gilt allein für den ersten Teil des Aphorismus. Der zweite, so Reschke, zeige die Originalität Nietzsches: Daß sie [die Musik] wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hineinläute und von Vergangenem künde, in der
Renate Reschke: Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000, 210.
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Die historisch-genealogische Perspektive
unbestimmte Zone des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht, darin liegt der spezifische Blick Nietzsches. 6
Die Musik »rettet das Vergehende in eine Zukunft, die ihm nicht mehr gehört und der es schon fremd geworden ist und rettet so paradox die Gegenwart vor dem Substanzloswerden ihrer selbst und ihrer Kunst.« 7 Ich möchte mich der Interpretation Reschkes anschließen, denn sie scheint mir genau zu demonstrieren, wie die Musik im Moment des geschichtlichen Übergangs mit den metaphysischen Bedürfnissen des Menschen korrespondiert. Die für die Musik fundamentale Struktur des ›Nicht-Mehr‹ und ›Noch-Nicht‹ ließe sich dabei auch als Aussage eines ›Als ob‹ denken. Da die Musik ungegenständlich ist und folglich als Depotenzierung des Scheins verstanden werden kann, muss sie auch die Ahnung einer alternativen Welt, einer Utopie bieten können. 8 Diese Ahnung bezieht sich auf die praktischen Bedürfnisse des Menschen, was uns wieder zum Konzept der absoluten Metapher führt. Die Musik im oben erwähnten Aphorismus fungiert als absolute Metapher für die transzendentale Offenheit der Welt, die sich nicht auf einen Status festlegen lässt und stets alternative Deutungsmöglichkeiten gehabt hätte. Diese Denkweise ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Denkt man an Kant, ist der Modus des ›Als ob‹ ein transzendentalnotwendiges, kritisches Prinzip der Vernunft, mithilfe dessen die reflektierende Urteilskraft den Ideen praktische Realität in moralischer Hinsicht zu sichern vermag. Es handelt sich also um eine heuristische Regel, »auf dem Wege des Denkens so weit zu schreiten, als ob ein unbedingtes Ganzes als Ausgangs- oder Endpunkt des Erkennens, bzw. Handelns gegeben wäre«. 9 Das wäre in diesem Fall die Utopie als Endpunkt. Es geht um eine Leugnung objektiver Wirklichkeit als fiktives Urteil, das für die praktischen Bedürfnisse des menschlichen Betrachters notwendig ist. 10 Diese Struktur soll als eine kleine Phänomenologie des überhistorischen Charakters, den Nietzsche der Kunst zugeschrieben hat, geEbd. Ebd. 8 Vgl. KSA, NF, 8, 262. 9 Vgl. F. Lötzsch: Artikel: »Als-Ob«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel u. a. 1971, 198 f. 10 Ebd., 199. 6 7
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Die Musik und die Frage nach den metaphysischen Bedürfnissen
lesen werden. Das überhistorische Element besteht in der Hervorrufung eines Gefühls des ›Als ob‹, als ob das Gute und das Wahre einer Epoche ewig dauern würden und das Schlimme nicht passiert wäre. Die Musik verklärt die Affekte (oder Gefühle, Leidenschaften, Emotionen usw.) einer Epoche und hebt sie auf eine innerliche Weise in die Sphäre der Ewigkeit. Das rastlose Werden wird in der Kunst als verklärtes Sein stillgelegt und transzendiert, als hätte man vor sich die Geschichte als ein riesiges Gemälde. Das also ist die Leistung der Kunst und insbesondere der Musik, die für Nietzsche und das 19. Jahrhundert der Inbegriff von Kunst ist, da bei ihr alle Wirkungen der Kunst maximiert zu finden sind. Das heilende Moment besteht darin, dass die Musik die Affekte einer Epoche ›in abstracto‹ gibt. Damit nun das Gefühl abstrahiert werden kann, muss ihm etwas Lebendiges entgegentreten. Ein solches ist die Musik, die als klingende Kunst der Zeit im eigentlichen Sinne eine lebendige Kunst ist, die den Rezipienten während der Aufführung durchdringt, weil die Distanz der ästhetischen Anschauung kleiner ist als in den plastischen Künsten, die im Grunde genommen Stillleben sind. Weil die Musik als zeitliche Kunst so stark wirkt, vermag sie das Lebensgefühl einer Epoche ohne die Wirklichkeit und ihre Qual auszudrücken. Die Musik als Kunst, das heißt als überhistorische Macht, vermag den Unzeitgemäßen Betrachtungen zufolge jede Epoche als Moment des geschichtlichen Werdens aus der Perspektive des Ewigen und Gleichbedeutenden oder, immanenter gesagt, aus der Perspektive des ›Menschlichen, Allzumenschlichen‹ erfahrbar zu machen. Das bedeutet, dass jedes Epochenmoment in seiner Wichtigkeit als Teil eines größeren Ganzen abstrahiert wird. Die Perspektive ist die des ›Als ob‹, denn für unser Handeln ist es wichtig, die Dinge denken zu können, als wären sie nicht endlich und vergeblich, sondern ewig und gleichbedeutend. So sieht man klar, dass die überhistorische Bedeutsamkeit der Musik mit praktischen Bedürfnissen korrespondiert, die man unter Umständen als metaphysisch bezeichnen könnte. Das aber ist nur die eine Ebene. Die andere Ebene hat mit dem von der Musik erregten Gefühl als Ersatz des Glaubens an die Religion zu tun. Für Nietzsche stellt sich die Frage, ob das metaphysische Bedürfnis des Menschen in einer positivistischen Zeit noch ein kulturelles ›Anspruchsrecht‹ hat, oder ob diese Art von Bedürfnis nicht längst ver101 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die historisch-genealogische Perspektive
tilgt ist. Der Begriff des metaphysischen Bedürfnisses scheint Nietzsche angesprochen zu haben, denn er erwähnt ihn oft. 11 Allerdings ist er diesem Begriff gegenüber ambivalent gestimmt. Einerseits anerkennt er, dass ein metaphysisches Bedürfnis im Anschluss an Schopenhauers Begriff des Menschen als animal metaphysicum dem Wesen des Menschen inhärent ist, andererseits ist ein solches Bedürfnis etwas historisch Bedingtes, welches überwunden werden sollte und daher als Bremse des Fortschritts erscheint. 12 Könnte es aber einen Ausweg aus diesem Dilemma geben? Um Nietzsches Perspektive gerecht zu werden, müssen wir in Betracht ziehen, dass beim metaphysischen Bedürfnis nicht die Metaphysik, sondern der Wille im Vordergrund steht. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem vielsagenden Fragment 23 [164], welches lautet: Das sogenannte metaphysische Bedürfniß ist eine Gegeninstanz gegen die Wahrheit irgend einer Metaphysik. Der Wille commandirt. (KSA, NF, 8, 464)
So wird ersichtlich, dass dieses Bedürfnis keinem metaphysischen System unterzuordnen ist. Oder anders gesagt, ist dieses Bedürfnis nicht an eine bestimmte metaphysische Auffassung gebunden, sondern als Konstruktionstrieb metaphysischer Systeme unter dem Primat der praktischen Vernunft zu verstehen. Wenn ein Wille kommandiert, muss eine tiefere Logik herrschen, denn der Wille wäre in der Terminologie dieser Phase ›einverleibter Verstand‹ und keine metaphysischtranszendente Instanz. Vielmehr muss die Vorherrschaft des Willens als eine anthropologische Konstante betrachtet werden. Dass der Wille »commandirt«, bedeutet, dass man einen mächtigen symbolischen Ausdruck für diesen Willen finden muss. Diese Funktion übernimmt die Musik als Sprache der Affekte. Sind die metaphysischen Bedürfnisse dem Willen, also den Affekten, unterworfen, welche symbolische Sprache wäre geeigneter als die Musik, Ausdruck dieses ›Willenskommandos‹ zu sein? Was Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches tut, ist, die historischen Voraussetzungen der Willenssymbolik der Musik zu liefern. Durch seine genealogische Vorgehensweise bleibt die Hochstellung der Musik unter neuer Perspektive erhalten, wird jedoch ambivalent. Die neue Perspektive steht einerseits in Zusammenhang mit dem 11 12
Siehe KSA, MA I, 2, 47; KSA, WS, 2, 47; KSA, NF, 8, 399; KSA, NF, 8, 464. Vgl. KSA, FW, 3, 494 und KSA, JGB, 5, 26.
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Wunsch, eine historische Epoche durch eine mächtige überhistorische Sprache zu bewältigen und andererseits mit den einst durch die Religion befriedigten metaphysischen Bedürfnissen des Menschen. Durch die Verlagerung des affektiven Moments der Religion in das Wirkungsmoment der Musik kann sie die Funktion der Religion übernehmen. Das wäre ein Fortschritt des Verstandes, der die Bedeutsamkeit der Religion für die Musik gewonnen hätte. Akzeptiert man diese Bedeutsamkeit, nimmt man zwangsläufig auch an, dass die Wahrheit der Religion noch existiert, denn wie sonst könnte sie in die Musik transfiguriert werden? In diesem Fall käme man dadurch zu einer früheren Stufe des Verstandes. 13 Es gibt allerdings einen beträchtlichen Unterschied. Indem die Musik einer »unendlichen Verdeutlichung fähig ist«, eröffnet sie ein viel größeres Interpretationsfeld als die Religion, das Indiz einer Steigerung ist, denn sie verhindert das Erstarren des metaphysischen Bedürfnisses in einer Richtung, wie das bei der Religion der Fall ist. Diesen Aspekt des metaphysischen Bedürfnisses als Steigerungsmoment wird Nietzsche anhand der Formel von der »unendlichen Melodie« erörtern.
4.3. Zur Kritik der »unendlichen Melodie« als Paradigma der Moderne Der Aphorismus 374 des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft trägt die Überschrift Unser neues »Unendliches«, wobei die Redeweise zeigt, dass Nietzsche selbst in einem metaphysischen Vokabular verhaftet bleibt, was als Indiz für Nietzsches Einsicht in die Uneliminierbarkeit der metaphysischen Bedürfnisse gedeutet werden kann. In diesem Aphorismus spricht Nietzsche von dem perspektivistischen Charakter des Daseins, worunter zu verstehen ist, dass die Welt unendlich viele Interpretationen in sich schließt. Die Welt ist in Analogie mit dem unendlichen Interpretationspotential der Musik zu denken. Was Nietzsche früher für die Musik behauptet hat, nämlich dass 13 Vgl. Jens-Peter Schütte: Nietzsche und das Ende der Musik, 323. In dieser Hinsicht ist auch das Fragment 2 [64] aus dem Frühjahr 1880 (KSA, NF, 9, 44) von besonderer Bedeutung: »Einer, der etwas na che mpf inde t , schätzt es darauf höher, ja er will es wiederhergestellt haben z. B. das Religiöse (F. Schlegel)«.
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die Musik Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« ist, behauptet er jetzt für die Welt. Die unendliche Interpretation der Welt im Sinne einer infiniten Mannigfaltigkeit ist, anthropologisch betrachtet, eine transzendentale Fähigkeit des Menschen, Sinnlichkeit mit Sinn zu versehen. Natürlich ist nicht diese Fähigkeit an sich neu, sondern das Bewusstwerden dieser Fähigkeit. Dieses Bewusstsein kommt aus der Emanzipation des Menschen von seinen alten metaphysischen Gewissheiten, vor allem der Religion. Sie ist neu erworben, nachdem sie mit der kopernikanischen Wende, die einen neuen Anthropozentrismus gebracht hat, bewusst geworden ist. Ferner ist sie schwer zu ertragen, denn niemand möchte diese neue Unendlichkeit mit etwas Transzendentem in Zusammenhang bringen, denn »wer hätte wohl Lust, d i e se s Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?« (KSA, FW, 3, 627). Das Potential der unendlichen Interpretation, das Nietzsche der Moderne attestiert, wird von ihm durchaus feierlich anerkannt, damit aber auch die darin befindlichen Gefahren: Ach, es sind zu viele ungö ttl i c he Möglichkeiten der Interpretation […] zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, – unsre eigne menschliche, allzumenschliche [Hervorhebung von M. P.] selbst, die wir kennen … (ebd.)
Bilden Gott und Religion kein Zentrum mehr und wird das Zentrum in die Pluralität der Individuen und der Weltanschauungen verlegt, muss es auch viele Möglichkeiten der ›Fehlinterpretation‹ geben. Wenn die metaphysischen Gewissheiten untergehen, muss man das Zentrum der Welt in sich selbst finden. Das ist kein einfacher, oder schmerzloser Prozess, denn man hat sich lange an einen festen metaphysischen Glauben gewöhnt und daher fällt die Entbindung davon schwer. Wichtig ist dabei, dass im Moment des Übergangs Altes mit Neuem kollidiert. Das menschliche Gefühl oder der davon untrennbare menschliche Verstand sind aber entwickelt genug, so dass das Individuum Verantwortung für die Gestaltung seines eigenen Lebens übernehmen kann. Orientierung findet man nun durch die plastische Kraft seines eigenen Gefühls. Zwar gibt es keine metaphysischen Gewissheiten mehr, aber dafür das Potential für neue Entdeckungen. Diese neue Situation ist eine Herausforderung für den freien Geist, der diese Gefahren nicht scheuen darf. Wieder ist hier die Meeresmetaphorik ausschlaggebend: 104 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Zur Kritik der »unendlichen Melodie« als Paradigma der Moderne
In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, dass der »alte Gott todt« ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, uns e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer« [Hervorhebung von M. P.]. (KSA, FW, 3, 574)
In dieser Hinsicht hätte die Kunst eine doppelte Aufgabe. Einerseits soll sie den Übergang vom ›alten‹ zum ›neuen‹ Unendlichen erleichtern, indem sie weiterhin das affektive Moment als ihren besonderen Gegenstand pflegt. Andererseits ist die Kunst für die Orientierung in dieser Mannigfaltigkeit von ungeheurer Bedeutung, denn als Ausdruck von Lebensformen demonstriert sie deren Vielfalt und die Schwierigkeit der Orientierung. Die Pluralität der daraus resultierten Perspektiven ist für Nietzsche die neue Form der Unendlichkeit, die den Modus der Existenz des ›Freigeistes‹ bildet, der wie ein Seefahrer in einem offenen Meer ist. Für dieses »neue Unendliche« in der Welt der Kunst kann es nämlich kein besseres Beispiel als die absolute Musik und besonders die »unendliche Melodie« Wagners als deren Inbegriff geben, denn dieser Terminus steht stellvertretend für die absolute Musik und ist zentral für die Auffassung von der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«. Der Begriff der »unendlichen Melodie« stammt von Richard Wagner und wird folgendermaßen definiert: In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie. 14
Aus diesem Passus wird ersichtlich, dass dieser Begriff Wagners primär poetologisch-programmatisch und nicht kompositionstechnisch gemeint ist. Es geht mehr darum, dass die Musik die reine menschliche Natur offenbart, indem sie dem Menschen seine Affekte bewusst macht und den Hörer dazu bringt, sein eigenes Selbst zu entdecken. 14 Zit. nach Hans-Joachim Bauer: Richard Wagner Lexikon, Bergisch Gladbach 1988, 540.
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Dieses Konzept setzt voraus, dass der Rezipient wie der Urheber des Kunstwerkes ein Genie ist, wobei das Genie nicht von der Figur des ›Freigeistes‹, des genial empfänglichen Menschen zu unterscheiden ist. Der Musiker bringt das Verschwiegene zum Ertönen, der Hörer muss aber dieses Unaussprechliche selbst entdecken. Kurz gesagt, dürfte im Sinne Wagners jede geniale Entdeckungen stimulierende Melodie jenseits von Epochen und Stilrichtungen als ›unendlich‹ gelten. Der Terminus der »unendlichen Melodie« bezieht sich in der Geschichte der Musikästhetik auf die Kompositionstechnik Wagners im Sinne einer ununterbrochenen Melodie. Für Wagners Anhänger war die »unendliche Melodie« eine positive Formel für seinen Stil, während sie seinen Gegnern als Schlagwort für ihren Vorwurf der Formlosigkeit und des Melodiemangels galt. 15 Nach der Poetik Wagners passte das Attribut ›unendlich‹ zu jeder Melodie, die fähig wäre, den Menschen anzusprechen. Der Schwerpunkt wird eher auf den Rezipienten verlegt, der allein wählen muss, welche Melodie für ihn unendlich ist. Im poetologischen Sinne könnte jede Melodie als ›unendlich‹ gedacht werden. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Wagner die Melodien Bachs und Beethovens in diesem Sinne ›unendlich‹ waren, weil sie das Menschliche in seiner ganzen Tragweite offenbarten. 16 Aus diesem Grund galten beide Komponisten, besonders Beethoven, als große Vorbilder Wagners. Dementsprechend wäre dann Wagners eigene »unendliche Melodie« nur eine Möglichkeit, denn wenn man den Terminus »unendliche Melodie« ausschließlich auf den kompositorischen Stil Wagners bezieht, übersieht man, dass Wagner selbst diesen Terminus primär poetologisch und nicht kompositionstechnisch verstanden hat. ›Unendlich‹ ist also immanent, als das wahre Menschliche zu verstehen und hat nicht so sehr mit einer Transzendenz zu tun, obwohl aus genealogischen Gründen auch solche Konnotationen vorhanden sind. Wollte man Nietzsches Ausdruck benutzen, wäre die »unendliche Melodie« im Sinne Wagners mit Nietzsches Rede vom ›Menschlichen, Allzumenschlichen‹ gleichzusetzen. ›Unendlich‹ wäre dann jedes gelungene Kunstwerk jenseits von Vgl. Fritz Reckow: Unendliche Melodie, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, zit. nach: http://www.sim.spk/berlin.de/static/hmt/HTM_SIM_Unendliche_ Melodie.pdf. 16 Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, 122 ff. 15
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Kunstarten und Gattungen. Tatsächlich befand sich die Gattungspoetik zu diesem Zeitpunkt schon lange in einem Prozess der Auflösung, weshalb man dazu überging, ein Werk nicht mehr »an der Gattung zu messen, die es ausprägt, sondern es ausschliesslich als Individuum zu betrachten, dessen Kriterien in ihm selbst liegen. 17 Nun wollen wir zu der Frage kommen, wie eine Melodie unendlich und zugleich allgemein für den Menschen sein kann: Eine Melodie ist eine Relation von Tönen, die im zweifachen Sinne als unendlich verstanden werden kann: Einerseits ist die Melodie unendlich in dem Sinne, dass sie auf verschiedene Art und Weise im gleichen oder auch in verschiedenen Individuen wirken kann. So kommen wir erneut zur Mannigfaltigkeit der Interpretation, die der Modus des »neuen Unendlichen«, da eine Melodie bei jedem Hörer eine unnennbare Menge ästhetischer Ideen stimulieren kann. Andererseits ist eine Melodie unendlich in dem Sinne, dass dieselbe Melodie in verschiedene Stücke versetzt werden kann, was bedeutet, dass wir derselben Melodie in vielen Stücken begegnen können. Das hatte Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie attestiert: »Di e M e l odi e i st a l s o da s Erste u nd Al l ge m e i ne, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann.« (KSA, GT, 1, 48) 18 Das ist die Perspektive der musikalischen Form. Musikphilosophisch betrachtet, ist mit Wagners Terminus bewusst geworden, dass jede Melodie als ›unendlich‹ charakterisiert werden darf. Der Begriff der »unendlichen Melodie« stünde also in ›pragmatischer Hinsicht‹ für die Bewusstmachung des »neuen Unendlichen« als Mannigfaltigkeit und Perspektivismus. Bis jetzt haben wir anhand dieses Terminus nur den positiven Aspekt dieser neuen Form des Unendlichen aufgezeigt. Die »unendliche Melodie« zeigt aber auch etwas Negatives, nämlich die Unbestimmtheit des »neuen Unendlichen«, die Möglichkeit der Fehlinterpretation. Nietzsches Verwendung des Begriffs ist nicht einheitlich. Während er die »unendliche Melodie« in der frühen Phase positiv verinnerlicht, steht er ihr in der zweiten Phase ambivalent und schließend kritisch gegenüber: In seinen späten Werken schließt er sich den Attacken
Carl Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, 13–14. Dazu siehe auch den Kommentar von Rainer Maria Rilke: Marginalien zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie, 1168. 17 18
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von Wagners Gegnern an und verwendet die »unendliche Melodie« als Inbegriff der Formlosigkeit. Hatte Nietzsche der »unendlichen Melodie« zunächst ein unermessliches schöpferisches Potential, was er in der Geburt der Tragödie am Beispiel seiner Tristan-Rezeption demonstrierte, (auch wenn er dort nicht von »unendlicher Melodie«, sondern von einem »ungeheuren symphonischen Satz« (KSA, GT, 1, 135) sprach), wird dieses Potential jetzt als Unbestimmtheit abgewertet. Das wird deutlich im Aphorismus 134 von Menschliches, Allzumenschliches II, wo Nietzsche mit Rückgriff auf die Meeresmetaphorik die unendliche Melodie Wagners als kompositorisches Prinzip kritisiert. Die »unendliche Melodie« gleiche einem Meer, in dem man schwimmen soll, sie ist eine »Art B e we gu ng de r Se e l e «, welche »dem Schwimmen und Schweben verwandt ist« (KSA, MA II, 2, 434), zwei negativ konnotierte Bewegungen, die wenn nicht formlos, so doch zumindest unbestimmt sind. Die Kritik der »unendlichen Melodie« zeigt, wie nah Nietzsche einerseits der Antike und andererseits den systematischen Philosophen wie Kant und Hegel steht. Unbegrenztheit und Unbestimmtheit werden seit der Antike allgemein negativ bewertet 19 und sie waren bekanntlich der Hauptgrund für die Verlegenheit Kants und Hegels gegenüber der Musik und für Platons Verurteilung der Instrumentalmusik. Durch die Kritik der »unendlichen Melodie« werden die Konsequenzen aus der »unendlichen Verdeutlichung« der Musik, dem Hauptgedanken der Geburt der Tragödie, gezogen. Die Entfesselung der symbolischen Kräfte, welche die Musik durch ihre affektive Wirkung verursacht, kann, wenn sie ins Unermessliche getrieben wird, auch gefährlich werden. An diesem Punkt macht Nietzsche auf die Maximierung der romantischen Perspektive aufmerksam, die um die Idee der »unendlichen Verdeutlichung« kreist und eine bodenlose Entfesselung der Einbildungskraft und sämtlichen symbolischen Kräften darstellt.
19 Dazu siehe F. P. Hager: Artikel: »Apeiron«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel u. a. 1971, 434.
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Eine neue Symbolik des Erhabenen: Die Nachtmetapher
4.4. Eine neue Symbolik des Erhabenen: Die Nachtmetapher Um die schwer zu definierende Bewegung, die die »unendliche Melodie« beim Hörer hervorruft, zu beschreiben, hat Nietzsche in der vierten Betrachtung von der Metapher des Meeres Gebrauch gemacht, die allgemein als ein klassisches Bild des Erhabenen gilt. In Menschliches, Allzumenschliches setzt Nietzsche diesen Ansatz fort, indem er die Musik als ›Kunst der Nacht‹ darstellt. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied: Während die Meeresmetapher universell ist, ist die Nachtmetapher enger mit dem romantischen Paradigma verbunden. Die Romantik, man denke beispielsweise an Werke wie Novalis’ Hymnen an die Nacht oder an Wagners zweiten Akt von Tristan und Isolde, hat die Nacht als jenen Ort gelobt, wo sich alle Differenzierungen auslösen, wo das principium individuationis aufgehoben ist, und man sich im Schoß der Unendlichkeit, der ästhetischen Idee der Romantik schlechthin wiederfindet. Die Metapher des Meeres in der vierten Betrachtung war ambivalent konnotiert und dies stand in Zusammenhang mit der Textstrategie Nietzsches, der die Notwendigkeit der Musik Wagners als Korrektiv gegen den Historismus betonen wollte, obwohl er sich von ihm distanziert fühlte. Jetzt aber wird die »unendliche Melodie« mit der gesamten Romantik identifiziert, was sich besonders in der negativen Färbung der Nachtmetapher zeigt, die vor allem mit Furcht in Verbindung gebracht wird, um gleichzeitig einen Gegensatz zwischen Tag und Nacht, Auge und Ohr zu konstatieren. Die moderne Zuflucht zur Musik spiegelt die ängstliche Stimmung des modernen Zeitalters wieder, denn die Nacht ist auch der Ort der Weltflucht, eine zweite oder eine hintere Welt, ein Ort, wo das Irrationale herrscht, wo man Angst davor hat, was die Zukunft in sich birgt. Diese Charakteristika der Nacht fasst Nietzsche im Aphorismus 250 der Morgenröthe zusammen. Dort wird Nietzsche das Ohr als das Organ der Furcht profilieren: N a cht und M usi k ! – Das Ohr, das Organ der Furcht, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so reich entwickeln können, wie es sich entwickelt hat, gemäss der Lebensweise des furchtsamen, das heisst des allerlängsten menschlichen Zeitalters, welches es gegeben hat: im Hellen ist das Ohr weniger nöthig. Daher der Charakter der Musik, als einer Kunst der Nacht und Halbnacht. (KSA, M, 3, 205)
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Die historisch-genealogische Perspektive
Die Tatsache, dass das Ohr so wichtig ist, zeigt, dass das Zeitalter furchtsam ist, denn »im Hellen ist das Ohr weniger nöthig«. Indem Nietzsche die Musik als Kunst der »Nacht und Halbnacht« charakterisiert, macht er eine implizite kulturkritische Bemerkung, die den negativen Aspekt des ›metaphysischen Bedürfnisses‹ zeigt. Musik soll die Bedürfnisse einer ängstlichen Welt befriedigen, die ihre metaphysischen Gewissheiten verloren hat und statt ihre Emanzipation aus der Metaphysik und der Religion zu bejahen, durch die Musik zu ihnen zurückkehrt. Sie befriedigt die Bedürfnisse einer Welt, die sich von der alten Ordnung der Dinge verabschiedet und Angst, aber auch geheime Hoffnung angesichts des Neuen hat. Deswegen wollen wir jetzt zu den positiven Konnotationen der Nachtmetapher kommen. Dazu soll ein Vergleich mit dem in der Geburt der Tragödie exponierten Schema der musikalischen Dissonanz beitragen, denn hier sind ähnliche Strukturen zu bemerken. In der Geburt der Tragödie beschrieb Nietzsche den Menschen als inkarnierte Dissonanz, jetzt sieht er seine Epoche, die Romantik, als eine große Dissonanz. Jetzt allerdings ist der Begriff nicht mehr positiv, sondern negativ konnotiert. Wie ist dies zu erklären? In der romantischen Musik findet die Pathologie des 19. Jahrhunderts (ihre Unentschlossenheit zwischen verschiedenen Lebenshaltungen, ihr Pendeln zwischen Fortschritt und Reaktion, ihr Versunkensein im Meer der unbegrenzten Möglichkeiten) ihren intimsten und vollkommensten Ausdruck. Die Musik aber als überhistorische Macht kann das Lebensgefühl einer Epoche verklären. So geht die Macht der Musik für Nietzsche über den Inhalt der romantischen Musik hinaus. Die Musik als die Kunst schlechthin, welche die Entwicklung und das Werden symbolisiert, transzendiert durch die Einzigartigkeit ihrer Form zugleich den negativen Inhalt, der ihr als kultureller Erscheinung notwendig zukommt. Da die Musik die Welt der Erscheinungen durch die Vernichtung des Individuationsprinzips negiert, wird der Inhalt einer Epoche in deren Musik aufgehoben, ihr Schein depotenziert. Nacht wird vor allem mit Furcht, Trübheit und Unbestimmtheit assoziiert, wobei – wie bei der Meeresmetapher – immer zugleich der Eintritt von etwas Neuem, Unerwartetem in der Luft liegt. Dieselben Merkmale haben wir auch der musikalischen Dissonanz zugeschrieben. Dann kommt es wieder zur einen Konsonanz oder Harmonie. Deswegen charakterisiert Nietzsche in derselben Periode die Musik als die »K uns t de r M or ge nröt he !« (KSA, NF, 9, 597) Die Charakterisie110 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Zwischen Metaphysik und Formalismus: Die »unschuldige Musik«
rung der Musik als Morgenröte zeigt, dass die Dissonanz allmählich in eine neue Konsonanz mündet. Die Musik kann als Symbol durch die unhistorische Kraft ihrer Wirkung das historisch Neue beleben. Die Metapher der Morgenröte steht für das Moment des Werdens, welches auch ein Moment des Übergangs ist.
4.5. Zwischen Metaphysik und Formalismus: Die »unschuldige Musik« Eine solche »Kunst der Morgenröte« sollte in ihrer Offenheit und ihrem unendlichen Verdeutlichungspotential ›unschuldig‹ sein. In der Tat spricht Nietzsche von einer »un schu l di ge [ n] M us i k« […] welche ganz und gar nur an sich denkt, an sich glaubt, und über sich die Welt vergessen hat, – das Von-selber-Ertönen der tiefsten Einsamkeit, die über sich mit sich redet und nicht mehr weiss, dass es Hörer und Lauscher und Wirkungen und Missverständnisse und Misserfolge da draussen giebt.« (KSA, M, 3, 207 f.) Sollte man diese Zeilen wörtlich als Einführung einer neuen musikästhetischen Kategorie mit dem Namen »unschuldige Musik«, nehmen, was wäre dann die Bedeutung eines solchen Konzepts? Eine solche Musik jenseits des Menschen wäre natürlich wertfrei, ein reines Gedankenexperiment in einer rein ästhetischen Indifferenz. Außerdem ist jedes Kunstwerk ein Produkt des Menschen für Menschen und kann folglich nicht »unschuldig« sein. Deswegen lässt sich die Rede Nietzsches von einer »unschuldigen Musik« ohne Berücksichtigung des polemischen Hintergrunds nicht verstehen. Die Aufladung der Musik mit der aus Dichtung und Religion stammenden symbolischen Last von Jahrtausenden ist es, die Nietzsche hier zu dieser heftigen Geste der Entleerung bewegt, so als wollte er mit einem Schlag alle Symbolik der Musik eliminieren. Wenn Nietzsche nun für eine »unschuldige Musik« plädiert, scheint er auf den ersten Blick mit den Positionen des Formalismus übereinzustimmen, denn er verurteilt den nachträglichen Versuch von »Hörern« und »Lauschern«, aus dem gegenstandslosen Charakter der Musik eine Metaphysik zu machen, gehe es um das Unsagbare, die Natur oder den Ursprung. Er attackiert also das Lager der Gefühlsästhetiker, die das Gefühl vergöttlicht und in der Musik ein Mittel einer quasi religiösen Offenbarung gefunden haben. Insofern teilt er 111 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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mit dem Formalismus die Gegnerschaft gegen die übermäßige Dominanz der Gefühlsästhetik, die zu »Missverständnissen« und »Misserfolgen« führt. 20 Dies zeigt sich im Kontext des Aphorismus der Morgenröthe, auf den wir nun eingehen wollen. Der Aphorismus, in dem von der »unschuldigen« Musik die Rede ist, hat die Form eines Dialogs. Es geht um die Diskussion zweier Zuhörer, die wie Sophisten reden. Zuhörer A fragt Zuhörer B, was er über die Musik, die sie beide hören, zu sagen habe. Zuhörer B antwortet, er sei bloß überwältigt. A fragt B, ob er ihm ein Drama zeigen darf, das B beim ersten Hören nicht gehört hat. B akzeptiert das Angebot und fügt auf eine ironische Weise, die an Sokrates erinnern dürfte, hinzu, er habe »zwei Ohren und mehr, wenn es nöthig« (ebd., 206.) sei. Dann gibt A eine halb ironische Beschreibung der Musik, die auf den schwärmerischen Teil der romantischen Musikästhetik ausspricht, diese aber mit seinem letzten Satz unterminiert, denn er sagt: »Aber die Musik verstummt!« (ebd., 207) Zuhörer B, wahrscheinlich alles andere als mit der Beschreibung As zufrieden, begrüßt das Verstummen: Und gut, dass sie es thut! denn ich kann es nicht mehr ertragen, Sie zu hören! Zehnmal lieber will ich doch mich tä us che n l a s se n, als Einmal in Ihrer Art die Wahrheit zu wissen! (ebd., 207)
Zuhörer A entlarvt sich, indem er sagt, dass er gerade darauf hinauswollte, denn viele ließen sich von derartigen Beschreibungen täuschen. Dann erklärt er, was er mit »unschuldiger Musik« meint und gesteht, dass seine Beschreibung der Musik erlogen und diese Musik »unschuldig« sei. B schlägt ironisch zurück und schließt das Gespräch mit den Worten: »Oh, Sie lieben also di e se Musik auch? Dann sind Ihnen viele Sünden vergeben!« (ebd., 208) Nach Thomas Ahrend zeigt dieser Aphorismus, dass jede mögliche ›Bedeutsamkeit‹ der Musik von dem Deutungsvermögen des Zuhörers abhängt: »ob die Zeichensprache einer Musik unmittelbar oder fingiert ist, bleibt genauso den interpretatorischen Möglichkeiten oder Beschränkungen des Zuhörers überlassen wie die mögliche ›Bedeutsamkeit‹ der Musik.« 21 Diese Interpretation von Ahrend zeigt, dass es hier nicht um ein Vgl. auch KSA, NF, 9, 137 und KSA, NF, 9, 540. Thomas Ahrend: Das Verhältnis von Musik und Sprache bei Nietzsche, in: Nietzscheforschung 2 (1998), 160.
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Zwischen Metaphysik und Formalismus: Die »unschuldige Musik«
Entweder-Oder zwischen Gefühlästhetik und Formalismus geht, sondern um die Gefahren der Durchsetzung einer Perspektive. Der Formalismus jedoch böte eine Perspektive des Perspektivismus, eine objektive Perspektive, nämlich die Perspektive des Werkes selber. 22 Tatsächlich wirkt die Passage über die »unschuldige Musik«, als adoptierte Nietzsche hier eine formalistische Position, denn er fordert, die Musik von allen außermusikalischen Faktoren zu befreien und scheint hier die Musik, die »ganz und gar nur an sich denkt, an sich glaubt, und über sich die Welt vergessen hat«, als Form und nur als Form zu betrachten, als stimmte er der Aussage Hanslicks, dass das Schöne der Musik »unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt« zu. 23 Das scheinbare Primat der Musik als reine Form in Nietzsches zweiter Phase hat dazu geführt, dass Nietzsches Auffassung der Musik in dieser Phase als formalistisch (Éric Dufour) oder halbformalistisch (Christoph Landerer) bezeichnet wird. 24 Beide Interpreten übersehen meiner Meinung nach, dass Nietzsche die Musik immer an Bedürfnisse des Menschen bindet, seien sie metaphysisch oder nicht, was dem Formalismus, der sich auf den rein technischen, selbstreferentiellen Aspekt der Form beschränkt, fremd ist. Betrachtet man den folgenden Satz, darf man Nietzsche keine formalistische Kunstauffassung zuschreiben: Gesetzt, man schätzte den We rth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche »wissenschaftliche« Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr »Musik« ist! (KSA, FW, 3, 626)
Die Entsprechung mit einigen Thesen des Formalismus ist allerdings nicht ungerechtfertigt, obgleich es denkbar ist, dass Nietzsche die formalistischen Mittel u. a. gegen Wagner ausspielt – immerhin versteht sich Nietzsche schon in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches als geistiger Antipode Wagners. Denkbar ist auch, dass er den Formalismus gemäß dem Prinzip des Gleichgewichts als Korrektiv zur MetaVgl. ebd., 161. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 73. 24 Éric Dufour: L’esthétique musicale formaliste de Humain, trop Humain, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 37–42 und Christoph Landerer: Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik, in: Nietzscheforschung 13 (2006), 51–58. 22 23
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Die historisch-genealogische Perspektive
physik der Musik sieht, zumal Hanslick seine Theorie bekanntermaßen als Korrektiv gegen eine unermessliche Gefühlsästhetik in der Musik betrachtet hat: Leidenschaftliche Gegner haben mir mitunter eine vollständige Polemik gegen alles, was Gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder unbefangene und aufmerksame Leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die falsche Einmischung der Gefühle in die Wissenschaft protestiere […] Ich teile vollkommen die Ansicht, daß der letzte Wert des Schönen immer auf unmittelbarer Evidenz des Gefühls beruhen wird. 25
Wäre Letzteres der Fall, würde ihn dies trotzdem nicht zum Anhänger einer formalistischen Richtung machen. 26 Die Tatsache, dass jemand aus einem polemischen Impuls eine Gegenposition favorisiert, bedeutet nicht, dass er für sie plädiert, als wäre sie die richtige. Außerdem soll nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Nietzsche, um die metaphysisch geprägte Gefühlsästhetik zu bekämpfen, nicht nur des Formalismus bedient, sondern auch gelegentlich des historischen Relativismus und des Vergleichs mit anderen symbolischen Sprachen. 27 Hätte er sich nur des Formalismus bedient, wäre dann die Behauptung, dass er die Thesen des musikalischen Formalismus teilt, vielleicht gerechtfertigt. Nietzsche war mit dem Werk Hanslicks schon sehr früh vertraut und hat sich nie wirklich von seiner frühen aus der Zeit seiner Parteinahme für Wagner stammenden Einstellung gegen den Formalismus entfernt. 28 Seine Kritik findet sich bereits in seinen Einwänden gegen das kritische Hören in der Geburt der Tragödie und schließlich in der sehr prägnanten Formulierung einer Nachlassnotiz, die lautet: Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 35. Vgl. auch Christoph Landerer: Neuerscheinungen zum Thema Nietzsche und die Musik, 444. 27 Was das Relativitätsargument betrifft, siehe KSA, MA II, 2, 450: »Die Musik ist eben ni cht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt«. An anderer Stelle gibt Nietzsche der theoretischen Sprache den Vorzug, denn Gedanken sind das »Dauerhafteste und Haltbarste« (ebd. 452). 28 Dazu siehe Christoph Landerer und Marc-Oliver Schuster: Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragödie in ihrer Beziehung zur Musikästhetik Eduard Hanslicks, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), 115–133. Dazu ausführlich Dieter Schellong: Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, die nicht discutiren können oder dürfen« (Der Wanderer und Sein Schatten, Aphorismus 167). Musik ist nicht gleich Musik, in: Nietzscheforschung 13 (2006), 77–91. 25 26
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Zwischen Metaphysik und Formalismus: Die »unschuldige Musik«
»Hanslick: findet den Inhalt nicht und meint es gebe nur Form« (KSA, NF, 7, 273). Hätte Nietzsche wirklich die Perspektive des Formalismus übernommen, wäre es ihm nicht schwer gefallen, Hanslick gegen Wagner auszuspielen. Wenn ihm eine erstklassische Waffe in der Hand lag, warum sonst hätte er darauf verzichtet, wenn nicht, weil er den Formalismus tief ablehnte? Die formalistische Auffassung der Musik ist ein Zeichen einer Intellektualisierung der Kunst, die Nietzsche grundsätzlich verurteilt, da sie nicht produktiv ist im Sinne einer Neuschaffung (sei es des Werkes oder durch Rezeption) und daher mit dem ästhetischen Zustand unvereinbar ist, da sie die Rezeption durch sämtliche symbolische Kräfte reduziert und sie allein in Abhängigkeit von einem isolierenden, rechnenden Verstand setzt. 29 So verzichtet die Intellektualisierung auf das sinnliche Moment der Musik und dessen unmittelbare Evidenz, indem sie die Musik vom Verstand abstrahiert und eine »i n te re s sa nte H ä ssl i chke i t« (KSA, 3, M, 200) ermöglicht. Die Intellektualisierung bereitet den Boden für die Legitimierung des Hässlichen, denn die »formale« Schönheit, die darauf basiert, dass ein musikalischer Gedanke in der Komposition gut ausgeführt ist, geht über die Grenzen des Schönen, das von der Evidenz der eigenen unmittelbaren Empfindung ausgeht, hinaus. Intellektualisierung und Entsinnlichung der Kunst gehen Hand in Hand. 30 Dazu ausdrücklich der Aphorismus 217 von Menschliches, Allzumenschliches: Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwicklung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr »Lärm«, In meinem Sinne vgl. Albert Dammeyer: Pathos-Parodie-Provokation, 32 und Georges Liébert: »To refer to a work only in terms of its formal beauty, therefore, is either to overlook the symbolic capacity of musical language through a lack of learning or to deny its existence by coldly taking refuge behind the façade of Apolloninism.«, in: Georges Liébert: Nietzsche and Music, übersetzt von David Pellauer und Graham Parker, Chicago/London 2004, 172. 30 Hier wäre zu ergänzen, dass das Attribut »absolut« auf alle Künste angewendet sein sollte. Nietzsche spricht von »absoluten Künsten« im Griechischen Musikdrama: »die schlechte moderne Gewöhnung, daß wir nicht mehr als ganze Menschen genießen können: wir sind gleichsam durch die absoluten Künste in Stücke zerissen und genießen nun auch als Stücke, bald als Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw.« (KSA, GMD, 1, 518). 29
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Die historisch-genealogische Perspektive
weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Ve rnunft i n i hm hinzuhorchen […] Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem »es bedeutet« und nicht mehr nach dem »es ist« fragen, etwas abgestumpft worden […] Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. (KSA, MA I, 2, 177).
Die Rede von der bloßen Form der Musik und der Kunst im Allgemeinen bedeutet zwar als hohe Abstraktion eine Erweiterung des Inhalts, was ohne Zweifel Zeichen eines Fortschritts ist, erweist sich aber gleichzeitig als sinnenfeindlich. Das Paradigma des Erhabenen ist Ergebnis einer Entsinnlichung der Kunst, die zu einem abstrakten Formalismus führt. Kehren wir aber zum Attribut »unschuldig« zurück. Auch wenn man, wie z. B. Rudolf Fietz, das Adjektiv »unschuldig« als Metapher für das rein formale Element der Musik versteht, kann man die moralischen Konnotationen des Wortes nicht ignorieren. 31 Die Rede von einer »unschuldigen Musik« erinnert an die Auffassung der Musik als einer reineren Sprache, besonders wenn man dazu ihre Funktion als Korrektiv der Sprache berücksichtigt, die besonders in Richard Wagner in Bayreuth offenkundig war. Die Rede von einer »unschuldigen Musik« klingt vor allem wie ein Appell gegen jegliche Form der Intellektualisierung von Kunst, die gleichzeitig ihre Entsinnlichung bedeutet. Beide Gegenpole, Formalismus und Gefühlsästhetik wären in dieser Hinsicht Zeichen einer solchen Intellektualisierung und Entsinnlichung, während die Musik als Sprache der Affekte, d. h. als intimste Ausdruckssphäre des Individuums von außermusikalischen Konzepten unbelastet bleiben sollte. Um den Ansatz einer »unschuldigen Musik« besser zu verstehen, ist es sinnvoll, zu berücksichtigen, wie Nietzsche das Attribut »unschuldig« in anderen Kontexten benutzt. Deswegen soll nun ein Zusammenhang mit zwei anderen Begriffen der Philosophie Nietzsches hergestellt werden: dem Werden und dem Spiel. Für Nietzsche ist das Leben ein Werden und dieses Werden ist »unschuldig«, weil es antiteleologisch und schlechthin individuell ist. Deswegen spricht Nietz-
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Rudolf Fietz: Medienphilosophie, 48 f.
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sche von der »Unschuld des Werdens« (KSA, GD, 6, 95). Diese Formel steht für die »Einsicht in den subjektiven, n othwe ndi g ungerechten und unlogischen Charakter alles Lebens« (KSA, NF, 10, 238) Denkt man die Rede von einer »unschuldigen Musik« mit der Formel »Unschuld des Werdens« zusammen und knüpft dabei an die Willenssymbolik an, wäre »unschuldig« ein Attribut des Willens. Außerdem benutzt Nietzsche oft das Spiel als Metapher für die Unschuld.32 Die Unschuld des Werdens ist wie ein Spieltrieb. In diesem Sinne sollte das Spiel Basis, Logik und Intention jeder Musik sein. Nur so ist so etwas wie eine »unschuldige Musik« möglich. 33 Dieser Zusammenhang zwischen Spiel, Musik und Unschuld des Werdens wird noch stärker, wenn man das Fragment 34 [32] aus dem Nachlass Frühjahr – Sommer 1874 mitberücksichtigt. In diesem Fragment wird die These vertreten, die Bedeutung des Lebens des Einzelnen könne in nichts anderem bestehen als im Spiel. 34 Das Glück komme nicht von außen, sei es durch eine Beteiligung an der Geschichte, der Gattung, dem Staat o. ä., sondern resultiere vielmehr aus einem Spieltrieb. Schließlich geht Nietzsche sogar so weit, Musik mit Spiel zu identifizieren: Es giebt die Musik, welche dies erklärt: wie alles nur Spiel, im Grunde nur Seligkeit sein kann. Deshalb ist sie die verklärende Kunst, metaphysisch durch und durch. (KSA, NF, 7, 802)
Rekonstruiert man den Gedankengang Nietzsches und korreliert die »unschuldige Musik« mit dem Spiel, könnte m. E. der Einsatz des Spieles in der Problematik der »unschuldigen Musik« als eine Brücke zwischen Form und Inhalt der absoluten Musik gedacht werden. 35 Das würde beide Varianten der absoluten Musik, Gefühlsästhetik und Formalismus, betreffen. Im Fall der Gefühlsästhetik ginge es um ein Spiel
Siehe z. B. KSA, Za, 4, 31. Für Nietzsche ist ›unschuldig‹ ebenso wie ›glücklich‹ ein notwendiges Attribut des Spieles, vgl. KSA, M, 3, 470. 34 Vgl. auch KSA, NF, 7, 74: »Der Mensch erst Mensch, wenn er spielt, sagt Schiller: die olympische Götterwelt (und das Griechenthum) sind Repräsentanten.« 35 Nur so könnte ich Christoph Landerer teilweise zustimmen, wenn er schreibt: »In seiner Musikästhetik scheint mir Nietzsche ein Denker ›auf dem Weg zum Formalismus‹ zu sein, ein theoretisch Reisender, der sich zwar von einem Lager entfernt, ohne aber je ganz im anderen anzukommen.« Christoph Landerer: Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik, 58. 32 33
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von Affekten, beim Formalismus um ein Spiel von Formen. Wie dieses Spiel von Affekten von innen gesehen werden könnte, wurde bereits anhand des Synkretismus-Modells demonstriert. Wenden wir uns nun dem Formalismus näher zu. Hanslick spricht nicht vom Spiel sondern von der Arabeske. Wesentlich aber ist, dass der Inhalt der Musik als eine dem Spiel ähnliche Konstellation von tönend bewegten Elementen gefasst wird. Die Arabeske wird als eine Bewegung, als ein Spiel vorgestellt: Denken wir uns nun eine Arabeske nicht tot und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehen. Wie die starken und feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt – wird dieser Eindruck dem musikalischen nicht einigermaßen nachkommend sein? 36
Die Tatsache, dass Nietzsche das Wesen des Spiels anspricht, macht deutlich, dass er die formalistische Auffassung der Musik nicht als solche akzeptiert, sondern aus einem rein philosophischen Impuls heraus vielmehr als eine ethische Haltung interpretiert hätte. Das heißt, er würde die formalistische Perspektive soweit rechtfertigen, als der Inhalt hinter der formalistischen Auffassung der Musik das Spiel als Lebensform sein sollte. Das Spiel als Inhalt der Musik, also als Lebensform, wäre dann aber etwas Außermusikalisches und daher mit der formalistischen Perspektive unvereinbar. Da Nietzsche dem Spiel einen ›Geist‹ durch die Unschuld des Werdens attestiert, entfernt er sich sehr weit davon, die formalistische Auffassung der Musik aus einer rein formalistischen Perspektive zu sehen. Denn er verbindet reinen Formalismus mit der Intellektualisierung der Sinne und einem dadurch negativ konnotierten Erhabenen, das die »interessante Hässlichkeit« erlaubt. Der rein technisch-formale Diskurs ließe die Produktivität der sinnlichen Wahrnehmung beiseite. Nietzsche hingegen hat sich immer mehr an einem Menschen dionysischen Typs orientiert, der mit seinen sämtlichen symbolischen Kräften im
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Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 74.
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Interpretationsprozess tätig ist, also einem Menschen, der um die Interpendenz all seiner Kräfte weiß. 37 Was ist bis hierher festzuhalten? Nietzsche bedient sich mancher Argumente des Formalismus aus demselben Impuls wie Hanslick, nämlich um die übermäßige Dominanz der Gefühlsästhetik, wozu Wagner und Schopenhauer gehören, zu bekämpfen. Die Haltung Nietzsches Formalismus und Gefühlsästhetik gegenüber gibt den Schein einer Ambivalenz, wenn man ihn primär als Musikästhetiker und nicht als Philosoph sieht. Nietzsche interessiert sich nicht dafür, was die Musik ›ist‹, sondern hauptsächlich für das, was die Musik ›bewirkt‹. Es geht ihm nämlich nicht darum zu entscheiden, ob das Gefühl oder die Form die wichtigste Rolle in der Musik spielen, sondern viel mehr darum, was hinter diesen beiden Auffassungen steckt. Und mit beiden gibt er sich nicht zufrieden. Eine Ästhetik, in der das Gefühl die Dimensionen einer transzendenten Entität annimmt, ist ihm genauso verdächtig wie Formalismus, der laut Nietzsche nichts anderes als ein Zeichen der Intellektualisierung der Kunst und der Entsinnlichung des Lebens ist. Nietzsche ist kein Gefühlsästhetiker und noch weniger Formalist, denn er ist in erster Linie Philosoph und dann Musikästhetiker, und seine Sorge gilt primär der Frage, mit welcher Auffassung der praktischen Vernunft besser gedient wird. Wollte man aber Nietzsche unbedingt zwischen Formalismus und Gefühlsästhetik positionieren, würde ich ihn aus zwei Gründen der Gefühlsästhetik zuordnen. Erstens weil die Gefühlsästhetik produktiver ist und der unmittelbaren Evidenz der sinnlichen Empfindung und daher dem ästhetischen Zustand, in dem alle symbolischen Kräfte des Menschen tätig sind, näher steht. Wie der Gefühlsästhetik geht es Nietzsche eher um die Bewegung und nicht um die Repräsentation von Gefühlen. Dass die Musik eine Art von Gefühlen, z. B. religiöse, repräsentiert, stellt eine willkürliche Intellektualisierung dar, denn Gefühle in ihrem eigentlichen, begrifflich unauflösbaren Teil lassen sich nicht darstellen. Darstellen lassen sich allein die begleitenden Vorstellungen des Gefühls. Nietzsches Begriff des Gefühls als Einheit aller symbolischen Kräfte und instinktiver Verstandesform fundiert eine
37 Das ist eine intuitive Erkenntnis, die man im eigenen Leib spürt. Es ist deshalb kein Zufall, dass Nietzsche später von der ›großen Vernunft‹ des Leibes sprechen wird.
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Die historisch-genealogische Perspektive
Gefühlsästhetik, die sich von der pejorativ gemeinten Gefühlsästhetik der Romantik eindeutig abgrenzt. Doch wie »unschuldig« kann die »unschuldige Musik« sein? Eine Antwort auf diese Frage soll ein Argument dafür geben, dass Nietzsche eher zur Gefühlsästhetik neigt, denn »unschuldig« bezieht sich primär auf das Gefühl und nicht auf die Form. Dass die »unschuldige Musik« mit dem Spiel zu identifizieren und die ›Unschuld‹ nicht ganz »unschuldig« ist, verdankt sich deren wichtigstem Merkmal, ihrer Unwiderlegbarkeit. »Unschuldig« ist die Musik nicht aufgrund einer äußeren Sinnsetzung, also als Sprache der Natur oder des Gefühls, »unschuldig«, denn die Behauptung, Musik könne die Natur oder das Gefühl repräsentieren, ist genauso unbegründbar wie die Unterstellung, Natur und Gefühl seien »unschuldig«. Die Musik ist bloß »unschuldig«, weil sie nicht »schuldig« sein kann! So wird die Musik in der Fröhlichen Wissenschaft implizit als eine unwiderlegbare Kunst profiliert: Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen Ton zu wi d e r l e g e n? (KSA, FW, 3, 463).
Worin aber bestehen die Unwiderlegbarkeit und die daraus resultierte Verführungsfähigkeit der Musik? Diese Unwiderlegbarkeit besteht in der Wirkung auf das Gefühl des Subjekts, denn ein Gefühl ist eine unmittelbar mit der Subjektivität des Hörers und seiner leiblichen Reaktion verbundene Erfahrung. Diese Unwiderlegbarkeit stellt aber eine Gefahr dar, was die Mannigfaltigkeit der gefühlsmäßigen Reaktionen betrifft, weil sie alle möglichen Sinngebungen erlaubt. Denn eben aus dieser Unwiderlegbarkeit ergibt sich wieder jenes bereits erläuterte Moment der Unbestimmtheit, welches die Musik zur Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« macht. Was für die »unendliche Melodie« galt, gilt nun für die Musik im Allgemeinen. Dies aber bedeutet, dass jeder diese Unwiderlegbarkeit auf eine beliebige Weise ausnutzen und die Musik zu Irrtümern (z. B. der Rückkehr zu alten metaphysischen Vorurteilen) oder Wahrheiten (wie der Entdeckung des eigenen Selbst in der Musik oder der Konfrontation mit den eigenen Affekten) verführen kann, weil die Musik als Sprache des Gefühls immer einen begrifflich unauflösbaren Rest haben muss, welcher immer wieder instrumentalisiert werden kann. Ihre Unwiderlegbarkeit, die jede Sinngebung ermöglicht, macht die Musik »schuldig« und »unschuldig« zugleich. 120 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Unbestimmtheit ist ein Attribut von Gefühlen und Affekten und wenn ›unwiderlegbar‹ mit ›unbestimmt‹ gleichzusetzen sind, wird noch einmal deutlich, dass Nietzsches Rede von einer »unschuldigen Musik« primär aus dem Gefühl und nicht von der Form her zu denken ist. Außerdem hätte es keinen Sinn, das Formelhafte, das Mathematische der Musik zu widerlegen. Die Unwiderlegbarkeit der Musik ist also der wahre Grund ihrer verführenden Kraft. Folglich darf die Musik nicht für außermusikalische Zwecke gebraucht werden, dann wäre die Gefahr der Manipulation groß, denn so individuell Affekte sein mögen, sie haben einen unberechenbaren Faktor der Unbestimmtheit und können uns daher verwandeln. Die Verwandlung von Gefühlen ist ein klassischer Topos der Musikästhetik seit der Antike: Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dämon des Meeres, an sich keinen Charakter (Hervorhebung von M. P.) hat:« (KSA, M, 3, 277).
Die Unwiderlegbarkeit der Musik hängt mit ihrem Verwandlungspotential zusammen und ist ein zusätzliches Argument für die Auffassung der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«. Denn es ist vollkommen klar, dass das, was sich nicht widerlegen lässt, die unmittelbare Evidenz unseres Gefühls, unendlich verdeutlicht werden kann bzw. umgekehrt, dass das, was unendlich verdeutlicht werden kann, nicht zu widerlegen ist. Außerdem käme die Forderung, die Musik müsse sich in Alles verwandeln, dem Vertrauen in die plastische Kraft des eigenen Gefühls gleich. Demzufolge geht es darum, was man mittels seines Gefühls aus der Musik machen kann. So schreibt Nietzsche in Bezug auf Wagner: Was Rhichardi Whagneri werth ist, das wird uns erst der sagen, der den besten Gebrauch von ihm macht. Einstweilen haben wir Whagneri geglaubt, was er gern geglaubt haben möchte (KSA, NF, 9, 597).
Am Beispiel der Musik wird deutlich, wie man durch Denken und Fühlen seine eigene Deutung wagen muss und so am »neuen Unendlichen« teilhat. 38 Die Musik ist hier ein Beispiel für die Produktivität der eige38 Aus der Perspektive der musikalischen Performanz vgl. Ruth Bolten-Kölbl: »Die Musikpraxis eines Musikwerkes kann als Beispiel des ›neuen Unendlichen‹ angeführt werden, denn gerade hier geht es um keine ›wahre oder falsche‹ Interpretation, sondern um
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nen Interpretation als einem denkenden und fühlenden Zugang zur Welt. »Unschuldig« ist die Musik letztendlich nur in ihrem großen Potential.
4.6. Schlussbemerkung zur zweiten Perspektive Durch die Annahme einer historisch-genealogischen Perspektive kommt Nietzsche zu einer Kritik beider Haupttendenzen der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts. Sowohl die romantische Gefühlsästhetik wie auch der musikalische Formalismus werden als Zeichen einer Intellektualisierung und Entsinnlichung der Kunst entlarvt. Nietzsche positioniert sich nicht zugunsten der einen oder der anderen Richtung, sondern er scheint die eine Position gegen die andere auszuspielen. Ein Versuch zur Überwindung der beiden Positionen stellt das Konzept einer »unschuldigen Musik« dar. Es wurde aber gezeigt, dass diese Rede auf der unmittelbaren Evidenz des Gefühls basiert, was Nietzsche eher auf die Seite der Gefühlsästhetik bringt, zumal er in den von der Musik erregten Gefühlen eine Transformation des religiösen Gefühls sieht und trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Metaphysik die Bedeutung der Musik für die Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse des Menschen anerkennt. Durch diese Anerkennung bleibt die Hochstellung der Musik erhalten, wird aber in Frage gestellt. Indem die Musik die Rolle der Religion einnimmt und die Religion als etwas, das die Menschheit in einem positivistischen Zeitalter überwunden haben sollte, eine reaktive Rolle hat, stellt die Musik einerseits eine besonders mächtige symbolische Sprache und andererseits ein äußerst ambivalentes Phänomen dar. Auf der einen Seite ist die Musik, wie wir am Beispiel der »unendlichen Melodie« demonstriert haben, ein positives Beispiel für das »neue Unendliche« der Interpretation, andererseits ist sie noch zu sehr mit dem »alten Unendlichen« beladen und kann durch die Manipulation ihrer Wirkung zu alten »Wahrheiten« der Religion, wie Gott, Ewigkeit oder Unsterblichkeit der Seele zurückverführen. die in Konsequenz der musikalischen Logik durchgehaltene Perspektive der Interpretation, welche den Vollzug des Werkes individuell gestaltet und dadurch das Kunstwerk als ›lebend‹ und ›sprechend‹ konkludent macht.« Ruth Bolten-Kölbl: Das Pathos des Dionysischen, 278 f.
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Schlussbemerkung zur zweiten Perspektive
Im Fall des »neuen Unendlichen« und der »unendlichen Melodie« äußert Nietzsche starkes Vertrauen in die plastische Kraft des Gefühls und darin liegt die Besonderheit von Nietzsches Gefühlsästhetik, denn das Gefühl ist bei ihm eine kompakte Form des Verstandes und keine Gegeninstanz zum Verstand. Dabei ist ihm die Transzendierung des Gefühls seitens der Gefühlsästhetik samt den darin liegenden Gefahren durchaus bewusst, denn die von der Musik erregten Gefühle zu transzendieren, zeigt einerseits wie intellektuell das Gefühl geworden ist, bedeutet aber andererseits auch eine Intellektualisierung in eine Richtung, die bereits überwunden sein sollte. Die Tatsache, dass man dem von der Musik erregten Gefühl eine enorme Bedeutung zugeschrieben hat, zeigt, wie weit sich das menschliche Gefühl entwickelt hat, so dass man aus der Unbestimmtheit der musikalischen Form eine enorme Bedeutsamkeit gewinnen kann. Wichtig ist nun, wie man mit dieser Unbestimmtheit von Musik und Gefühl operiert. Die eigentliche Frage für Nietzsche ist, ob diese durch Gefühlsästhetik und Formalismus vorangetriebene Intellektualisierung und Entsinnlichung der Musik, die ohne Zweifel Zeichen eines großen kulturellen Fortschritts ist, mit praktischen Bedürfnissen des Lebens korrespondiert. Daran scheinen beide, Formalismus und Gefühlsästhetik, zu scheitern. Formalismus bedeutet einen Verlust an Sinnlichkeit und Entfremdung. Gefühlsästhetik dagegen ist reaktionär als Rückkehr in eine Metaphysik, die angesichts des positivistischen Fortschrittes als ein primitiver Zustand zu bezeichnen wäre. Man muss allerdings all dies nicht nur negativ wahrnehmen. Das Gefühl des Individuums ist entwickelt genug, um zwischen verschiedenen Positionen wählen zu können. Man darf den Blick vom intellektualisierten Stand der Musik nicht von außenmusikalischen Instanzen ablenken lassen und muss seine individuelle Vernunft gelten lassen. Bei der Musik als Sprache der Affekte muss immer etwas begrifflich Unauflösbares bleiben. Das scheint ihr zugleich Freiheit und Verhängnis, Schuld und Unschuld zu sein. Die Frage jedoch ist, wie man dieses begrifflich Unauflösbare konzeptuell festlegen kann. Wichtig ist vor allem ›wozu‹. Man konzeptualisiert dieses begrifflich Unauflösbare unbewusst auf eine den eigenen Bedürfnissen entsprechende Art und Weise – dies macht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die ›große Vernunft des Leibes‹ aus. Beide, Formalismus und Gefühlsästhetik sind nur zwei Möglichkeiten der Sinngebung, aber keineswegs
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Die historisch-genealogische Perspektive
die einzig möglichen. Ferner ist bei den metaphysischen Bedürfnissen des Menschen der Wille und nicht die Metaphysik wichtig. Die Auseinandersetzung Nietzsches mit dem von Schopenhauer übernommenen Terminus der metaphysischen Bedürfnisse hat im Kontext der Musik eine Schlüsselfunktion. Allerdings will Nietzsche, was diese Art von Bedürfnissen betrifft, das Attribut ›metaphysisch‹ streichen. Das wird durch die Annahme einer physiologischen Perspektive besonders deutlich.
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5.1. Die Immanenz der Affekte als Wille zur Macht In seiner zweiten Phase hat Nietzsche die übermäßige Intellektualisierung der Kunst genealogisch bewiesen und die Kategorie der ›absoluten Musik‹ in ihrer formalistischen und metaphysischen Variante entlarvt. Er hat gezeigt, dass sowohl Formalismus wie auch Gefühlsästhetik Zeichen einer immensen Intellektualisierung und Entsinnlichung der Kunst sind, die eine Verarmung des Lebens bedeuten. Aus diesem Grund fühlt sich der späte Nietzsche genötigt, auf das sinnliche Moment in seiner grundlegenden (d. h. im eigentlichen Sinne ästhetischen) Funktion aufmerksam zu machen. Deswegen postuliert er eine Physiologie der Kunst. Bevor wir darauf eingehen, wollen wir den Rahmen der physiologischen Perspektive skizzieren. Was uns in jeder Etappe von Nietzsches Philosophieren besonders interessiert, ist seine Stellung zu den Affekten, die den Gegenstand der Musik bilden. Und tatsächlich besitzen die Affekte in dieser Periode eine zentrale Bedeutung im Kontext von Nietzsches Versuch einer immanenten Begründung der Welt als Gegensatz zu jeder ein Jenseits postulierenden, metaphysischen Auslegung der Welt. Die metaphysischen Auslegungen der Welt basieren auf großen Abstraktionen jenseits des individuellen Charakters des Lebens. Nietzsche wird dagegen eine Begründung in dem suchen, was nur an einem Individuum demonstriert werden kann und Verallgemeinerungen Widerstand zu leisten vermag. 1 Das ist die Welt der in einem Leib wirksamen Affekte. Nietzsches ›Affektenlehre‹ könnte also folgendermaßen zusammengefasst werden: Der äußeren Welt muss eine innere Welt im Menschen entsprechen. Diese innere Welt im Menschen ist die affektive
In diesem Zusammenhang nennt Nietzsche die Moral »Zeichensprache der Affekte« (KSA, JGB, 5, 107).
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Die physiologische Perspektive
Welt. Affekte werden als inneres Geschehen wahrgenommen, was bekanntlich unter der Formel des ›Willens zur Macht‹ formuliert wird: Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Principien nicht los: ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende) Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen [Hervorhebung von M. P.]. Am Thier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle. (KSA, NF, 11, 563)
Der Wille zur Macht ist als Gegenkonzept zu Schopenhauers Willen gedacht. Diese Formel bedeutet nichts anderes als ein Spiel der Pluralität von Affekten in wechselseitigen Wirkungsverhältnissen. Im Gegensatz zum Konzept Schopenhauers gibt es nicht einen reinen Willen, sondern viele, in gegenseitiger Abhängigkeit von einander, die sämtlich im Leib verortet sind. Die Willen zur Macht sind begrifflich mit den Affekten gleichzusetzen. Dieses Spiel von Affekten hat nicht nur mit Fühlen oder Wollen oder Denken zu tun, es ist zugleich Fühlen und Wollen und Denken in einer Einheit. 2 Dieses innere Geschehen, in welchem Gegensätze wie Innen-Außen, Verstand-Gefühl aufgehoben werden, wird als Machtgefühl bewusst. Insofern dieses Spiel im Leib stattfindet, muss der Leib den Ausgangspunkt bilden. Die Lehre vom Leib heißt Physiologie. Dadurch wagt Nietzsche eine Umkehrung: Hatte man in einer vom christlichstoischen Paradigma dominierten philosophischen Tradition den Leib als Instrument des Geistes gesehen, sieht jetzt Nietzsche in seinem Kampf gegen die Metaphysik des Jenseits den Geist aus der Perspektive des Leibes, dem er eine große Vernunft attestiert: Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist
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Vgl. KSA, NF, 11, 607 f.
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Die Immanenz der Affekte als Wille zur Macht
auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. (KSA, Za, 4, 39)
Ist der Leib nicht mehr Werkzeug des Geistes, sondern umgekehrt der Geist ein Werkzeug des Leibes, bedeutet diese Umkehrung, philosophiegeschichtlich betrachtet, dass die untrennbar mit dem Leib verbundenen Affekte nicht mehr als vernunftwidrig gelten können. Die systematische Präzision mit der Nietzsche im Nachlass der Achtziger Jahre die Bewegung von Affekten beschreibt, zeigt, wie die Affekte alles andere als unvernünftig sind. Sie sind keine akuten, blinden Bewegungen, für die man sie traditionell hielt, sondern zweckmäßige Bewegungen. Nietzsche spricht nicht einfach von der Vernunft des Leibes, sondern von der ›großen‹ Vernunft des Leibes. Nicht nur ist der Leib in Analogie mit der Vernunft zu denken, sondern die Vernunft auch in Analogie mit dem Leib. Wie funktionieren die Affekte im Leib? Sie fungieren wie ein dynamischer Komplex, nicht separat und alogisch, sondern als Einzelteile eines großen Ganzen. Sie befinden sich in ständiger Bewegung und in ständigem Kampf. Es handelt sich um einen unendlichen Prozess der Selbstauslegung. 3 Jeder Affekt ist eine Perspektive, jeder Affekt entsteht aus mehreren Affekten und muss mithin auch mehrere Perspektiven enthalten. Diese Beschreibung der Affekte erinnert stark an die Beschreibung des »neuen Unendlichen« – die Tatsache, dass die Welt unendlich viele Interpretationen in sich schließt –, im Aphorismus 374 der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 626 f.). Was Nietzsche früher in einem kulturellen Kontext über die äußere Welt behauptet hat, behauptet er nun für die entsprechende innere Welt, die Welt der Affekte im Leib. Diesen dynamischen Komplex nennt Nietzsche den Willen zur Macht. Jeder Affekt ist im Sinne Nietzsches ein Wille zur Macht, d. h. jeder Affekt ist eine Pluralität von Affekten, ein interner Kampf untergeordneter Affekte. Die Affekte werden durch eine Instanz, ein Ich, ein Gefühl im Sinne eines Ich, welches sich seiner Affekte bewusst wird, koordiniert. Das Ich oder das Gefühl ist nichts als eine organisierende Instanz im Leib. Um die Bewegung dieses Komplexes zu beschreiben, müssen wir auf das Modell des Synkretismus, das wir im Ausgang der ersten Phase 3
Siehe KSA, NF, 12, 139 f.
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Die physiologische Perspektive
Nietzsches entwickelt haben, zurückkommen. Synkretismus könnte als Modell für den Willen zur Macht dienen, wie wir ihn als Modell für die Willenssymbolik der Musik in Anspruch genommen haben. Synkretismus war eine Metapher für das Hören als Geschehen der Begegnung vieler Willen. Dieses Zusammentreffen von Affekten äußerte sich in drei Varianten: Synthese, Assimilation und Auflösung. Im Leib befinden sich die Affekte in ähnlichen Konstellationen. Die Affekte regieren und werden regiert unter »Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen«, wobei eine »gewisse Unwi s se nhe i t, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regirt werden kann.« (KSA, NF, 11, 638). Ähnlich wie beim Synkretismus erfolgt eine Harmonisierung als Ergebnis, damit der Organismus funktionieren kann. Diese Harmonisierung ist bloß die Tatsache eines Gleichgewichts, die – um einen Ausdruck aus dem Fragment Über Stimmungen zu benutzen – »jedesmalige Lage des Streits«. Ferner werden Affekte in zwei Kategorien geteilt. Es gibt »ja-« und »neinsagende« Affekte, die als unendliche Verdeutlichungen von Lust und Unlust zu denken sind. 4 Beide Kategorien haben ihre Rechtfertigung als Momente eines lebendigen Ganzen, das der menschliche Organismus ist. Zusammenfassend ist die Physiologie im Sinne Nietzsches die Lehre vom Willen zur Macht in der Selbsterfahrung eines Leibes, oder, anders gesagt, heißt die Lehre vom Willen zur Macht bei Nietzsche Physiologie. Betrachten wir nun, wie sich der Wille zur Macht in der Kunst äußert, denn die Physiologie der Musik basiert auf der Annahme, dass die Musik Ausdruck des Willens zur Macht sei.
5.2. Physiologie der Musik In der Physiologie der Kunst wird die Kunst in Analogie mit dem menschlichen Organismus gedacht. Kunst bewirkt einen Rausch, ein Gefühl der Kraft und Fülle, eine Belebung des Leibes. Dieses Rauschgefühl des Leibes führt zum Idealisieren, bzw. ermöglicht den Übergang zum Geistigen: »das Kraft- und Fülleg e f ü h l im Rausche: seine 4
Vgl. dazu KSA, NF, 13, 222 f.
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Physiologie der Musik
i de a l i s i re nd e Wirkung« (KSA, NF, 13, 529). Die idealisierende Wirkung des Rausches besteht aus folgenden Momenten: Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kräfte des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die »›intelligente‹ S i n n l i c h k e i t « (KSA, NF, 13, 294). Unser Begriff des Schönen hängt von einer Belebung des Leibes ab. So ist das physiologisch Schöne »vollkommen a nthropoce ntri sc h« (ebd.). Die Erfahrung des physiologisch Schönen ist eine Selbsterfahrung des Willens zur Macht, in der die »jasagenden« Affekte überwiegen. Sie schließt »alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt ve rkl ä r e nde r Tugenden … alles Gutheißende, Jasagende, Jathuende –« ein. (KSA, NF, 13, 223) Dementsprechend erwartet man von der Kunst als Ausdruck des Willens zur Macht, dass sie unseren Sinn für das Lebendige steigert, dass sie Stimulans des Lebens ist. Wille zur Macht als Geschehen im Inneren des Menschen aber ist alles, inklusive dessen, was als Gegenteil eines starken Lebensgefühls bewirkt. Mag dies so sein, gilt unser Interesse dem, was unseren Sinn für das Lebendige steigert, ähnlich wie wir mehr Sinn für das Schöne als für das Hässliche haben wollen. Deswegen fühlen wir uns eher von einer Musik angesprochen, die so eindeutig wie möglich für die »jasagenden« Affekte (Stolz, Freude, Gesundheit, Liebe der Geschlechter, Feindschaft und Krieg, Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, Gegenstände, den starken Willen, die Zucht der hohen Geistigkeit, den Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben) steht. 5 Die Tatsache, dass Nietzsche so verschiedene und uneindeutige Sachen als Affekte kategorisiert und dann auch als »jasagend« bewertet, zeigt, dass er einen sehr breiten Begriff von Affekten hat. Er fängt mit traditionellen Affekten wie Stolz und Freude an und endet mit rätselhaften Abstraktionen wie »Zucht der hohen Geistigkeit« und »Dankbarkeit gegen Erde und Leben«. Was kann hier als Kriterium für eine Kunst, die für die »jasagenden« Affekte steht, dienen und wie kann man sie empfinden? Kriterium dafür ist eine unmittelbare Evidenz des Leibes, die mit der unmittelbaren Evidenz der Gefühle zu identifizieren ist, denn die Gefühle sind der großen Vernunft des Leibes unterlegen. So wird das 5
Vgl. KSA, NF, 13, 222 f.
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Gefühl metaphysischen Eingriffen gegenüber immun. Das ist die strategische Konsequenz dieser Versetzung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Gefühl etwas Einfaches ist, denn der Abstraktion gegenüber ist es nicht immun. Trotzdem bemüht sich Nietzsche, wie seine Metaphorik zeigt, um den Schein der Einfachheit. Wenn der äußeren Welt eine innere entspricht und umgekehrt, muss die Bewegung des Gemüts auch eine entsprechende Bewegung im Leib haben. Die »jasagenden« Affekte offenbaren sich in den Bewegungen des »Gehens« und »Tanzens«, die »neinsagenden« Affekte in den Bewegungen des »Schwimmens« und »Schwebens«. So scheint aus normativer Hinsicht eine Musik gut, die uns belebt und nicht eine, die uns unentschlossen macht, eine die uns bewegt, die uns zum »Gehen« und nicht zum »Schwimmen« aufruft: Die Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark, aber undeutlich, »unendliche Melodie« genannt wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll sc hwi m m e n. […] Schwimmen, Schweben – nicht mehr Gehn, Tanzen [Hervorhebung von M. P.]« (KSA, NW, 6, 421 f.)
Hier ist die Metaphorik besonders aufschlussreich. »Gehen« und »Tanzen«, also konkrete Bewegungen des Leibes, werden nun zu Kriterien, das »Schwimmen« steht nicht mehr für Katharsis wie in Richard Wagner in Bayreuth, sondern für das Gefühl einer Ermüdung, in der der Leib blockiert wird, weil er keine Richtung weiß. Für diese Erfahrung der Konfrontation mit der Unbestimmtheit steht die Metapher des »Schwimmens«. Die physiologische Bedingung ist aber streng individuell. Für den einen mag ein Stimulans sein, was für den anderen eine Bedrohung ist. Es kommt darauf an, was man ›nötig‹ hat, es geht um die Interessen der großen Vernunft des Leibes. Bei der gleichen Musik kann einer tanzen und einer in unbestimmten Gefühlen schwebend sitzen bleiben. Dabei könnte man sich fragen, ob eine Musik, die Unlust verursacht, nicht produktiver ist, ähnlich wie musikalische Dissonanzen, aus denen neue symbolische Welten entstehen können? Gibt es nicht ein Machtgefühl auch bei den »neinsagenden« Affekten? 6 Denn in diesem Sinne könnte Siehe auch KSA, NF, 13, 241, wo Nietzsche die Möglichkeit einer pessimistischen Kunst bestreitet: »Was bedeutet eine p es simi sti sche Kunst ? .. Ist das nicht eine contradictio? – Ja. […] Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst
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eine Musik idealisierend wirken, die eher mit den Gefühlen des »Schwimmens« oder »Schwebens«, die nun bei Nietzsche am Beispiel Wagners negativ konnotiert sind, zu tun hätte. Außerdem könnte man einwenden, »Schwimmen« könnte nicht nur durchaus rhythmisch sein, sondern auch erlernt werden, ebenso wie man mit musikalischen Dissonanzen vertraut werden könne. Das hat Nietzsche in einem seiner schönsten Aphorismen in der Fröhlichen Wissenschaft zugegeben: M a n m uss l i e b e n l e r ne n. – So geht es uns in der Musik: erst muss man eine Figur und Weise überhaupt hö re n le rne n, heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isoliren und abgrenzen; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu e rtr a g e n, trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: – endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer g e wohn t sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demüthigen und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. – So geht es uns aber nicht nur mit der Musik: gerade so haben wir alle Dinge, die wir jetzt lieben, l ie b e n g e l e r nt. Wir werden schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: – es ist sein Da nk für unsere Gastfreundschaft. Auch wer sich selber liebt, wird es auf diesem Weg gelernt haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch die Liebe muss man lernen. (KSA, FW, 3, 559 ff.)
Die Physiologie des Individuums, seine große leibliche Vernunft ist nicht etwas Unmittelbares oder Gegebenes, nicht etwas Festgelegtes, sondern eine ständige Entwicklung, in der Altes überwunden und Neues abgewonnen wird. Wenn die Physiologie der Kunst als »große Vernunft des Leibes« konsequent gedacht sein will, dann muss sie vollkommen als individueller Diskurs gedacht sein, wo es keinen Platz für Verallgemeinerungen gibt. Wenn Nietzsche in Der Fall Wagner und Nietzsche contra Wagner die Musik Wagners und der Romantik aus physiologischer Sicht schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht … Es giebt keine pessimistische Kunst .. Die Kunst bejaht. Hiob bejaht. Aber Zola? Aber de Goncourt? – die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber da ß sie dieselben zeigen, ist aus Lust an di e se m H äßli che n … – hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr’s anders behauptet«
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verurteilt, da sie für die »neinsagenden« Affekte steht, geht es um eine Verarmung des Lebens, um Gefühle einer Ermüdung und die Flucht ins Metaphysische, doch kann diese Aussage keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, denn die Rezeption durch die »große Vernunft des Leibes« ist absolut individuell. Die Vernunft des Leibes ist genau deswegen groß, und nur sie kann die ›kleine‹ Vernunft legitimieren. Die »große Vernunft des Leibes« ist die Lehre, dass allgemeine Kriterien ohne das letzte Wort des Individuums keine Gültigkeit beanspruchen können. Deswegen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Musik Wagners oder die romantische Musik für diese oder jene eine Bereicherung des Lebens bedeutet. Diese Annahme könnte man hier exemplarisch auf Nietzsche selber anwenden. Man könnte Nietzsche hier mit Recht vorwerfen, er mache die Reaktionen seines zu dieser Zeit hinfälligen Körpers zum allgemeinen Maßstab für die ästhetische Qualität der Kunst und insbesondere der Musik, wobei sich fragen lässt, wo genau die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit liegen: »Die Krankheit ist ein mächtiges stimulans. Nur muß man gesund genug für sie sein« (KSA, NF, 13, 535), bzw. ob die Krankheit eine Überwindung bedeuten kann: »ich schätze die M a cht eines Wi l l e ns darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß« (KSA, NF, 12, 524). Man sollte auch aus etwas, was einem vielleicht als krankhaft erscheint, etwas machen, »neinsagende« Affekte in »jasagende« verwandeln. Im kulturellen Kontext gibt es keine Krankheit und Gesundheit per se, sondern es geht darum, welchen Gebrauch man davon macht. In dieser Hinsicht muss es sogar als doppelt provozierend gelten, wenn Nietzsche schreibt, er sei »für diese ganze romanthischei Musik (Beethoven eingerechnet) nicht glücklich genug, nicht gesund genug.« (KSA, NF, 12, 285) Allein die Tatsache, dass Nietzsche die Physiologie der Kunst gegen Wagner ausspielt, ist schon verdächtig, denn Nietzsches Beziehung zu Wagner hat eine lange Vorgeschichte und daher kann es sich bei seinen physiologischen Einwänden gegen Wagner nicht einfach um einen allgemeinen Diskurs handeln. Durch seine Biographie, in der das persönliche Verhältnis zu Wagner eine große Rolle spielt, wird ersichtlich, dass Nietzsches »große Vernunft des Leibes« mit einem starken Gedächtnis gegen Wagner versehen ist. Die Affekte reagieren vor allem mit ihrem Gedächtnis, denn gemäß Nietzsches Begriff sind die 132 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Affekte verinnerlichter, einverleibter Verstand, und haben ihren Ort im Leib. Das bedeutet aber nicht, dass man keine ästhetische Richtung verschreiben soll. Unterscheidet Nietzsche zwischen »ja-« und »neinsagenden« Affekten, muss er dann auch an ästhetische Richtungen denken. Dies tut er im Falle des »Südens der Musik«. Ausgangspunkt hier ist Nietzsches Affektbegriff. Wenn zu den Affekten Abstracta wie ›Krieg und Feindschaft‹ oder ›Dankbarkeit gegen Erde und Leben‹ gezählt werden, warum dann auch nicht auch allgemeine Kategorien wie die anthropologischen Begriffe von Norden und Süden? Auf der Basis seines Affektbegriffs postuliert Nietzsche einen »Süden der Musik«. Die »jasagenden« Affekte wie Gehen und Tanzen werden im geographischen Süden, die »neinsagenden« Affekte wie Schwimmen und Schweben im geographischen Norden lokalisiert. Die Musik des Südens ist melodischer und deshalb leibesfreundlich, während die Harmonie, die der Musik des Nordens zugeschrieben wird, leibesfeindlich ist. Was Nietzsche mit der Dichotomie von Norden und Süden macht, ist auf den ersten Blick weder neu noch provokant und erinnert an die genealogischen Erörterungen Rousseaus oder die anthropologischen Kants. Die Opposition zwischen Harmonie und Melodie und ihre Lokalisierung im Norden bzw. Süden ist seit dem 18. Jahrhundert ein verbreiteter Topos, der immer ein Werturteil enthielt, nach dem die Melodie positiver als die Harmonie gefärbt war. Die Melodie galt als etwas Natürliches und stand daher der großen Vernunft des Leibes näher, die Harmonie als etwas Künstliches und deshalb Leibfeindliches. Einen sehr guten Überblick darüber gibt Hanslick: Man bestimmte die Melodie als Eingebung des Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und des Gefühls – bei dieser Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob; im Gegensatz zur Melodie wurde die Harmonie als Trägerin des gediegenen Gehalts aufgeführt, als erlernbar und Produkt des Nachdenkens. Es ist seltsam, wie lange man sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges zugrunde, doch gelten sie weder in dieser Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher Isolierung vor [Hervorhebung von M. P.] 7
Der Kontrast zwischen Harmonie und Melodie ist also allein relativ und keineswegs absolut. Doch man braucht sich nicht nur darauf zu 7
Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 81.
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berufen, um das Problematische diesen Kontrastes zu sehen. Das Neue, das Nietzsche in diesen etablierten Diskurs bringt, liegt an etwas Anderem. Denn der »Süden der Musik« ist nicht wörtlich gemeint. Man solle an einen gewissen Süden glauben, denn Nietzsches »Südländer« sind dies nicht »der Abkunft, sondern dem Gl a ube n nach« (KSA, JGB, 5, 200). Deswegen kann Nietzsche nicht nur Komponisten wie Chopin und Haydn 8 , die beide »Musik der Sehnsucht mit Verwendung der wirklichen italhienischeni Musik« (KSA, NF, 9, 38 f.) machten, als »Südländer« taufen, sondern auch den ihm vertrauten Komponist Heinrich Köselitz alias Peter Gast als die neue Hoffnung eines programmatischen »Südens der Musik« stilisieren. 9 Der »Süden« ist mithin nichts anderes als der Boden einer Synthesis zwischen Norden und Süden. Am besten gelingt dies in Frankreich, weshalb Bizet zum Inbegriff eines »Südens der Musik« wird: Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen [Hervorhebung von M. P.], – für die geborenen Mittelländer, die »guten Europäer«. – Für sie hat B i z e t Musik gemacht. (KSA, JGB, 5, 200)
Nietzsche entwirft hier, um Kant zu paraphrasieren, eine Anthropologie der Musik in pragmatischer Hinsicht, wobei der Akzent nicht so sehr auf dem liegt, was der Mensch als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, sondern vielmehr auf dem, was man aus sich selber machen kann und soll. 10 Was man machen kann und soll, ist aus Nietzsches Sicht eine Synthesis, das Gegenteil einer einseitigen Verankerung in einem bestimmten kulturellen Typus. Eine einseitige Verankerung bedeutete eine Petrifizierung und könnte sogar »jasagende« zu »neinsagenden« Affekten verwandeln. In Nietzsches Rede von einem »Süden der Musik« zeigt sich zweierlei: Dass »jasagende« und »neinsagende« Affekte relative Interpretationen sind, und dass sie nicht separat von einander sein dürfen. Es geht Vgl. KSA, MA II, 2, 616–618 und KSA, NF, 9, 38 f. Sehr treffend in diesem Zusammenhang charakterisiert Martin Lorenz Peter Gast als ›projektive Gestalt‹. Vgl. Martin Lorenz: Die Metaphysik-Kritik in Nietzsches CarmenRezeption, 15. Zum Verhältnis Gast/Nietzsche siehe: Frederick Love: Nietzsche’s Saint Peter. Genesis und Cultivation of an Illusion, Berlin/New York 1981. 10 Vgl. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000, 3. 8 9
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Wille und Leib. Die vergessene Prämisse Schopenhauers
darum, dass sich immer neue Zusammenhänge bilden, dass neue Affekte entstehen, die nicht mit einem Wort wie »ja-« oder »neinsagend« charakterisiert werden können, ohne dass man in grobe Abstraktionen verfällt. Eine Musik, die nur »jasagend« wäre, wäre letztendlich genauso unproduktiv wie eine, die nur »Nein« sagte. Das Postulat ist immer eine Synthesis. Wahre Physiologie als Einheit von Physis und Logos muss im Sinne Nietzsches immer auf eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abzielen. Die Fähigkeit einer Synthesis samt dem Bewusstsein von deren Notwendigkeit verrät, dass der Leib, dem eine große Vernunft, d. h. eine komplexe Struktur attestiert wird, auch von der kulturellen Verfassung des Individuums bestimmt wird. Den Leib zu bestimmen ist alles anderes als einfach, denn es handelt sich um ein höchst kompliziertes System mit vielen Schichten. Um dies zu demonstrieren, bedient sich Nietzsche einer Analogie mit dem höchst komplizierten Gebilde der Gesellschaft und nennt den Leib »Gesellschaftsbau vieler Seelen.« (KSA, JGB, 5, 33) Dies umso mehr, wenn man in Kauf nimmt, dass der Leib begrifflich nicht vom Selbst zu trennen ist. Der Leib besitzt seine eigene Vernunft, und hat also einen eigenen Willen, denn es gibt keinen Leib ohne Willen und keinen Willen ohne Leib. Der Gedanke dieser Einheit, die die »große Vernunft des Leibes« impliziert, findet sich schon bei Schopenhauer, nur dass es bei Nietzsche keinen Platz für einen reinen Willen gibt. Es geht nur um den Willen zur Macht als dezentralisierte Interaktion der Affekte eines Individuums und nicht um einen überindividuellen Willen. Nietzsche tut aber in der Tat nichts anderes, als diese Prämisse Schopenhauers in die Ästhetik zu übertragen. An diese vergessene Prämisse soll das folgende Kapitel erinnern.
5.3. Wille und Leib. Die vergessene Prämisse Schopenhauers Wir haben im Laufe dieser Arbeit gesehen, wie Schopenhauers Konzept des Willens im 19. Jahrhundert zum Inbegriff für die Transzendenz der Gefühle wurde. Nietzsche greift in der Genealogie der Moral wieder darauf zurück: Er [R. Wagner] begriff mit Einem Male, dass mit der Schopenhauer’schen Theorie und Neigung m e hr zu machen sei in majorem musicae gloriam, –
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nämlich mit der So uve ra i nit ä t der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich, ni cht , wie diese, Abbilder der Phänomenalität bietend, vielmehr die Sprache d e s Willens se l bs t redend, unmittelbar aus dem »Abgrunde« heraus, als dessen eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch d e r M usi k e r selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des »An-sich« der Dinge, ein Telephon des Jenseits, er redete Metaphysik: was Wunder, dass er endlich eines Tags a s ke ti sc he Id e a l e redete? (KSA, GM, 5, 346)
Hier wendet sich Nietzsche gegen die metaphysische Ausnutzung der Auffassung der Musik als Sprache des Willens. Durch die Rezeption des Willens als Metaphysikum ist außerdem der systematische Zusammenhang zwischen Leib und Wille in Vergessenheit geraten. Schopenhauer untersucht im § 18 des zweiten Buchs von Die Welt als Wille und Vorstellung das Verhältnis zwischen Leib und Wille und konstatiert eine Einheit zwischen beiden: »der Wille ist die Erkenntnis a priori des Leibes, und der Leib die Erkenntnis a posteriori des Willens.« 11 Noch ausdrücklicher wird dieser Zusammenhang an einer anderen Stelle: Endlich ist die Erkenntnis, welche ich von meinem Willen habe, obwohl eine unmittelbare, doch von der meines Leibes nicht zu trennen. Ich erkenne meinen Willen nicht im Ganzen, nicht als Einheit, nicht vollkommen seinem Wesen nach, sondern ich erkenne ihn allein in seinen einzelnen Akten, also in der Zeit, welche die Form der Erscheinung meines Leibes, wie jedes Objekts ist: daher ist der Leib Bedingung der Erkenntnis meines Willens. Diesen Willen ohne meinen Leib kann ich demnach eigentlich nicht vorstellen. 12
Diese Stellen zeigen deutlich, dass Schopenhauer den Willen grundsätzlich mit dem Leib zusammengedacht hat. Schopenhauer jedoch geht nicht auf die Rolle des Leibs in seiner Metaphysik der Musik ein. Dadurch hätte er die Allgemeinheit und die Unerklärlichkeit der Musik adäquater fassen können. Ihm lag aber zugrunde, die Musik als Quietiv des Willens im Rahmen der pessimistischen Perspektive seiner Philosophie zu profilieren. Es ist auch wohl denkbar, dass er nicht darauf
11 12
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Bd. I, 158. Ebd., 159 f.
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eingegangen ist, weil die Topoi der Allgemeinheit und Unsagbarkeit in seiner Zeit als unbestreitbar galten. Ignoriert man das Verhältnis zwischen Wille und Leib, das Schopenhauer in seine Musikästhetik nicht übertragen hat, verweilt man nicht zu Unrecht unter dem Eindruck des Willens als Metaphysikum. Wenn man aber Schopenhauers These von der Einheit zwischen Willen und Leib und Nietzsches Ansatz einer Physiologie der Kunst zusammen denkt, dann käme man wieder dazu, Musik und Willen miteinander zu verbinden. Nietzsche vollendet durch die »große Vernunft des Leibes« den Ansatz Schopenhauers, denn der Wille ist bei ihm ein Symbol der Musik und nicht umgekehrt, und dies bedeutet, dass der Leib sich durch seine große Vernunft entscheidet, welche Musik ein Symbol für seinen Willen sein soll. Dafür muss die ›große‹ Vernunft des Leibes mit der ›kleinen‹ Vernunft des Geistes aufs engste zusammenarbeiten. »Nietzsche«, so Volker Gerhardt, »sucht nicht, was immer das auch sein möge, nach dem ›Leib an sich‹, sondern nach der ›Vernunft im Leibe‹, also nach einer bildenden Kraft, die sich mitteilende Einheiten schafft.« 13 Der Leib an sich ist nichts Unmittelbares oder Einfaches, sondern eine komplexe Entität, die alles, was ein Individuum in sich hat, trägt, – wie etwa insbesondere Gedächtnis und Interessen. Die Affekte, die die basalen Leibeseinheiten sind, sind kulturell geformt, sie sind selbst Wertschätzungen, oder primäre Formen von Wertschätzungen, während die Urteile sekundäre Formen sind. 14 Nietzsche spricht sogar von »We r t h a f f e k t e n « (KSA, NF, 11, 511). Diese Wertschätzungen sind genealogisch durch Gewohnheit und lange Assimilationen geprägt und daher von der Genealogie der Kultur ganz und gar nicht zu trennen. Die »große Vernunft des Leibes« ist nicht eine andere Form der Vernunft, obwohl Nietzsche auch das aus kulturpolitischen, mit seinem Kampf gegen die Metaphysik zusammenhängenden Gründen und seinem Primat des Prinzips des Gleichgewichts darstellen mochte, sondern die Vernunft zeigt ihre Größe in der Organisation des Leibes selber. Die Rede von einer ›großen Vernunft‹ des Leibes macht dann auf die affektive Natur der Vernunft aufmerksam. Der Leib ist so vernünf13 Volker Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 392. 14 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Über Werden und Willen zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, 289 f.
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Die physiologische Perspektive
tig wie ein vernünftiges Individuum es sein kann. In einem Satz: Die Erfahrung des Leibes – und damit kann nur die Erfahrung des eigenen Leibes gemeint sein – ist aus Nietzsches Sicht mit der Selbsterfahrung des Subjektes schlicht identisch. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass es weniger darum geht zu sagen, dass die Physiologie der Musik vor einem biographischen Hintergrund zu verstehen ist, sondern dass die Physiologie der Musik die Biographie jedes mit der Musik konfrontierenden Individuums in den Vordergrund stellt. In einem Zeitalter der Autonomie des Kunstwerkes sollte auch der Rezeption eine Autonomie zugesprochen werden. In dieser Hinsicht ergänzt das Leben das Werk, denn die Selbsterfahrung Nietzsches koinzidiert vollkommen mit der Systematik seines Ansatzes. Daraus ergibt sich, dass der physiologische Ansatz die Rezeption der Musik völlig vom Individuum abhängig macht. Deswegen stellt die Physiologie der Musik eine Maximierung der These der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« dar, die darin besteht, dass jedes Individuum die Musik anders wahrnimmt, da die Musik selbst keinen verbindlichen Kode von sich selbst her durchsetzen kann. Durch die Physiologie der Musik präzisiert Nietzsche diesen Ansatz, indem er die individuelle Rezeption auf den Leib zurückführt und zeigt, wie »unendlich« die »mitteilenden Einheiten« des Leibes sind, denn es handelt sich um Affekte, die kontinuierlich miteinander agieren und sich ständig erneuern, so dass man sie nicht festlegen kann. Anders gesagt: Nietzsche zeigt, dass das Individuum eine Pluralität bzw. Mannigfaltigkeit in sich selbst enthält, die, wie es oft behauptet wurde, die neue Form der Unendlichkeit ist. Die Mannigfaltigkeit der Perspektiven, die Nietzsche der modernen Welt attestierte, hat ihren Ursprung in der leiblichen Verfassung des Menschen. Die Musik befreit diese Pluralität von Affekten, indem sie den Leib in eine ihm passende Richtung bewegt. In diesem physiologischen Sinne dürfte letztlich jede Melodie auch als ›unendlich‹ charakterisiert werden. Denkt man die Physiologie der Musik aus der Perspektive des Willens und der Ausführungen Nietzsches über den Leib, dann wird der Wille diesmal als Komplex von Kräften bzw. mitteilenden Einheiten, zum Symbol der Musik. Über seinen Leib-Diskurs bewegt sich Nietzsche von einer singulären zu einer pluralen Willenssymbolik. Der Wille ist jetzt ein Komplex von Mächten oder Affekten, die einem 138 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Ecce Homo. Das »verstimmte Instrument« Mensch
Leib innewohnen. Und wenn Nietzsche vom Willen zur Macht spricht, um das innere Agieren solcher Kräfte zu beschreiben, meint er nicht den Willen Schopenhauers, sondern den Willen als eine Pluralität von Affekten. Nietzsche vollendet durch den Leib-Diskurs die Willenssymbolik der Musik und man könnte ohne Unrecht behaupten, dass er auf eine paradoxe Weise Schopenhauer rehabilitiert, denn Schopenhauer hat den Willen zwar in einem engen Zusammenhang mit dem Leib gedacht, diesen Zusammenhang jedoch nicht in den musikalischen Diskurs übertragen. Allerdings hat Nietzsche sich zu diesem Zeitpunkt natürlich längst von Schopenhauer verabschiedet und nicht die Intention, Schopenhauers Willenssymbolik auf sicherem Grund zu restaurieren, obwohl dies eigentlich die systematische Konsequenz seiner Ausführungen zum Leib wäre. Indem Nietzsche dem Leib eine große Vernunft zuerkennt, macht er die Musik noch stärker vom Individuum abhängig. Die Quelle aller Schwierigkeiten in der Deutung der Musik, das affektive Moment, wird in Abhängigkeit vom Leib gesetzt, und auf diese Weise werden die Affekte endgültig entmystifiziert, denn die Romantik hatte aus dem affektiven Moment der Musik eine ganze Metaphysik geschaffen. Durch die Physiologie der Musik, die aus der großen Vernunft des Leibes entsteht, steht Nietzsche geschichtsphilosophisch betrachtet am Ende einer von Kant und Hegel bis Schopenhauer reichenden musikphilosophischen Linie, die eine allmähliche Aufwertung der Affekte und in diesem Sinn eine Erweiterung der Vernunft bedeutet. Denn er konkretisiert, was bei Kant und Hegel abstrakt und rätselhaft und bei Schopenhauer noch allzu metaphysisch war: die Affekte. Diese Konkretisierung besteht in der Lokalisierung und endgültigen Versetzung der Affekte in den Leib.
5.4. Ecce Homo. Das »verstimmte Instrument« Mensch In Ecce Homo, dem letzten Buch Nietzsches und der Bilanz seines Werkes, wird überaus klar, dass die Musik den Status einer absoluten Metapher für die transzendentale Fähigkeit des Menschen, Sinnliches mit Sinn zu versehen, seine Affekte zu sublimieren, oder Unbewusstes bewusst zu machen, hat. Nietzsche vergleicht dort den Menschen mit einem musikalischen Instrument: 139 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Die physiologische Perspektive
Dem Zufall bin ich immer gewachsen; ich muß unvorbereitet sein, um meiner Herr zu sein. Das Instrument, es sei, welches es wolle, es sei so verstimmt, wie nur das Instrument »Mensch« [Hervorhebung von M. P.] verstimmt werden kann – ich müsste krank sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, ihm etwas Anhörbares abzugewinnen. Und wie oft habe ich das von den »Instrumenten« selber gehört, dass sie sich noch nie so gehört hätten … (KSA, EH, 6, 269)
Ursprung der bereits in der Frühromantik verwendeten Metapher ist die Auffassung des Kosmos als eines wohlgeordneten Ganzen, der wie ein wohl gestimmtes Instrument klingt. 15 Die Vorstellung einer Weltoder Sphärenharmonie findet man beispielsweise bei Novalis: Elemente des Romantischen. Die Gegenstände müssen, wie die Töne der Aelosharfe daseyn, auf einmal, ohne Veranlassung – ohne ihr Instrument zu verrathen. 16
Mag dieses Konzept im 19. Jahrhundert unzeitgemäß klingen, ist seine Bedeutung als regulative Idee immer wichtig. 17 So schreibt Nietzsche: Vo m Tra um e e rwa c he n. – Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt: edle und weise Menschen glauben noch immer an die »sittliche Bedeutung des Daseins«. Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte« (KSA, M, 3, 89 f.)
Wichtig aber ist, den Paradigmenwechsel in dieser Metaphorik zu sehen. Denn innerhalb der Romantik erfährt die Instrumentenmetapher eine Akzentverlagerung von der Welt als Ganzes zum menschlichen Individuum, vom Transzendenten zum Transzendentalen, vom ›alten‹ zum ›neuen‹ Unendlichen. Der Akzent liegt jetzt auf dem Menschen, der selbst wie ein Instrument ist oder, mit anderen Worten, der selbst ›sein‹ Instrument ist. Anders als in frühzeitlichen Abbildungen, die die
15 Dazu siehe Y. Belaval: Harmonie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel u. a. 1974, 1001. 16 Novalis: Fragmente und Studien 1799–1800. Aufzeichnungen von Juni bis Dezember 1799. 18 Junius [1799], 17, in: Richard Samuel (Hrsg.): Novalis: Schriften, Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart u. a. 1983, 558. 17 Welches allerdings regulativ sein könnte. Nietzsche schreibt diesen Aphorismus, als er J. R. Mayers Mechanik der Wärme liest. So schreibt er an Gast: »[…] in solchen herrlichen schlichten und fröhlichen Büchern wie dem dem Mayer’s giebt es eine H a rm o n i e d e r S p h ä r e n zu hören: eine Musik, die nur für den w i s s e n s c h a f t l i c h e n Menschen bereitet ist«, KSB, 6, 103, 84.
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Ecce Homo. Das »verstimmte Instrument« Mensch
Welt als ein von der Hand Gottes gestimmtes Instrument zeigen, ist die Welt im Bewusstsein des modernen Menschen kein von oben geleitetes wohlklingendes Ganzes mehr. 18 Diesem ›alten‹ Unendlichen ist eine neue Form des Unendlichen gefolgt, jene der »unendlichen Verdeutlichung« und der freien Selbstverfügbarkeit. In der Romantik hat die Instrumentenmetapher etwas Schwebendes, da sie genau den Übergang vom alten zum »neuen Unendlichen« markiert. Unklar bleibt jedoch, wie man sich selbst als Instrument stimmt. Eine Anleitung dafür gibt Nietzsche im Gedicht An der Brücke (KSA, EH, 6, 291), in dem er »romantische Topoi (›Meine Seele, ein Saitenspiel‹ ; ›Seligkeit‹) und Verfahrensweisen (subjektive Erlebnisschilderung; Ironie) negativ auf sich selbst« anwendet: 19 An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang: goldener Tropfen quoll’s über die zitternde Fläche weg. Gondeln, Lichter, Musik – trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus … Meine Seele, ein Saitenspiel, sang sich, unsichtbar berührt, heimlich ein Gondellied dazu, zitternd vor bunter Seligkeit. – Hörte Jemand ihr zu? …
Die Selbststimmung des ›menschlichen‹ Instruments, also die Selbstbestimmung des Menschen ist keine leicht zu nehmende Sache. Im Gegenteil hat die freie Selbstbestimmung, auf deren Gefahren in Zusammenhang mit der »unendlichen Melodie« als Kunstparadigma der epistemologischen Wende der Neuzeit aufmerksam gemacht wurde, die unendliche Interpretation der Welt zum Modus. Wenn es keine metaphysischen Gewissheiten mehr gibt, läuft man Gefahr, sich in allen möglichen Richtungen zu zerstreuen. Nietzsche knüpft hier an die frühromantische Idee einer Selbststimmung des Menschen als musika-
18 Siehe beispielsweise die Abbildung Das göttliche Monochord aus Robert Fludd: Utriusque cosmi. Maioris scilicet Minores, metaphysica, physica atque technica historia, Oppenheim 1617, 90. 19 Thomas Ahrend: Das Verhältnis von Musik und Sprache bei Nietzsche, 164.
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Die physiologische Perspektive
lische Analogie zur Selbstbestimmung. Am besten bei Friedrich Schlegel: Ein recht freier und gebildeter Mensch müsste sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade. 20
Schlegels Ansatz hat hier einen fast phänomenologischen Status; wie ein Instrument sein bedeutet hauptsächlich ›Form‹ sein. Wenn der Mensch sich selbst als Instrument vorstellt, bedeutet dies, dass er sich selbst als Form wahrnimmt und sich selbst bildet, indem er als Kulturwesen immer von einer Sublimierung seiner Affekte ausgeht und auf diese Weise als »f orm e n bi l de n de s Geschöpf« (KSA, NF, 10, 651) sein Naturwesen vollendet. Der Mensch als Instrument stimmt sich selbst, weil er selbst wie ein Instrument ist. Das zeigt sich bereits in der musikalischen Ebene der Sprache und lässt sich durch eine Analogie mit dem physiologischen Organ der Stimme verstehen. Der Mensch verfügt über ein eigenes musikalisches Instrument, nämlich seine eigene Stimme. An diesem Punkt kann man wieder an Schopenhauer anknüpfen: Die Stimme ist der Ton des Instruments Mensch. Sie ist »ursprünglich und wesentlich nichts anderes als ein modifizierter Ton eben wie der eines Instrumentes und hat wie jeder andere, die eigentümliche Vorteile und Nachteile, welche eine Folge des ihn hervorbringenden Instruments sind.« 21 Nietzsches zitierte Passage aus Ecce Homo scheint aus einer unbewussten Erinnerung an dieser Aussage Schopenhauers hervorgebracht zu sein. Schopenhauer spricht von den eigentümlichen Vor- und Nachteilen der Töne, die aus dem Instrument Mensch stammen, während Nietzsche etwas spielerisch nur von Nachteilen spricht, indem er den Menschen ein verstimmtes Instrument nennt, was an die Metapher des Menschen als inkarnierter Dissonanz erinnert. Die menschliche Stimme steht für die Individualität des Menschen. Der Mensch stellt sich vor, stellt sich in die Welt, indem er redet, indem er seine eigene Stimme benutzt, weil keine Individualität ohne die Körperlichkeit der Stimme vorstellbar ist. Die Stimme ist der Beweis, dass die Musik dem Körper inhärent ist. Sie steht nämlich für den Friedrich Schlegel: Kritische Fragmente 55, Lyzeum, in: Ernst Behler (Hrsg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, München u. a. 1967, 154. 21 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, 575. 20
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Die anthropologischen Konsequenzen der musikalischen Metaphorik
ganzen Leib stellvertretend und gibt uns eine Idee, was der Leib eigentlich bedeutet. Die »große Vernunft des Leibes« äußert sich vor allem durch das tönende Instrument der Stimme.
5.5. Die anthropologischen Konsequenzen der musikalischen Metaphorik Die Stelle aus Ecce homo bestätigt nur, was von Anfang an schon da war. Bereits in der Geburt der Tragödie hat Nietzsche den Menschen als ›inkarnierte Dissonanz‹ gesehen. Wenn der Mensch als eine verkörperte Musik betrachtet wird, dann hat diese Metaphorik Konsequenzen als anthropologischer Begriff. Kombiniert man die These vom Menschen als Musikinstrument mit der Auffassung vom Mensch als inkarnierte Dissonanz und der von der Musik als Sprache, die einer »unendlichen Verdeutlichung fähig ist«, dann wird darin ein neues, innovatives Konzept Nietzsches vom Menschen transparent, dass man, etwa gewagt, so formulieren könnte, dass der Mensch ein Tier ist, das sich unendlich verdeutlichen kann. Mein Vorschlag zur Deutung von Nietzsches anthropologischem Begriff knüpft von hier ausgehend an seine berühmte Formel vom Menschen als dem »noch nicht festgestellte[n] Tier« (KSA, JGB, 5, 81) an. Das »noch nicht« ist dabei nicht auf eine Hoffnung der Perfektibilität zu beziehen, in dem Sinne, dass die menschliche Natur irgendwann einmal festgestellt werden könnte, sondern auf die Eigenschaft des Werdens, nicht festlegbar zu sein. Darin ähnelt es der Bewegung der musikalischen Dissonanz, die die dynamische Verfassung des Menschen ausdrückt. 22 Das Nicht-Festlegen-Können kann in Analogie mit der Bewusstmachung des Unbewussten gedacht werden. Was noch nicht bewusst war, wird dann nicht mehr bewusst und aus dem neu Bewussten entsteht wieder Unbewusstes. Alles findet in einem Prozess des Werdens statt. Die musikalische Metaphorik zeigt, dass Selbsterkenntnis Bedingung der Selbstwerdung ist. Das sokratische ›Erkenne Dich selbst‹ kann nur aus dem pindarschen ›Werde, der Du bist‹ begriffen werden, denn das Erkennen ist ein dynamischer, im ganzen Leben stattfindender Prozess, wobei sich allerdings fragen ließe, ob dieses Beharren auf dem 22
Siehe auch KSA, JGB, 5, 185.
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Die physiologische Perspektive
Werden nicht ein Unbehagen am Sein bedeutet. Nietzsche war sich dessen bewusst: Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zumessen als dem was »ist«. (KSA, FW, 3, 599)
Das wäre allerdings eine kulturkritische Betrachtung, die zweifelsohne ambivalent zu bewerten wäre. Anthropologisch betrachtet aber bedeutet die inkarnierte Dissonanz ein Erkennen im Werden. Und dieses Erkennen ist freie Wahl und unverbindlich wie das Eintauchen in die Welt des Ästhetischen. Die Instrumentenmetapher subsumiert einen großen Teil von Nietzsches Musikphilosophie und mündet in eine umfassende Theorie der menschlichen Natur. Der Mensch sublimiert ständig seine Affekte und wird dadurch zum Erkennenden. In der Geburt der Tragödie hat Nietzsche den Menschen als inkarnierte Dissonanz kulturalisiert. In Ecce Homo, der Bilanz seines Lebenswerkes, zeigt Nietzsche, dass etwas von seinem kulturalistischen Ansatz über die menschliche Natur zu gewinnen sein muss. Daher sollte man Nietzsches Philosophie als einen Versuch verstehen, dem »verstimmte[n] Instrument« Mensch »etwas Anhörbares« abzugewinnen.
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6. Zusammenfassung
Nietzsches Deutung der Musik als Sprache der Affekte steht in einer langen Denktradition über den Zusammenhang zwischen Musik und Affekten. Da die Affekte in der Philosophie meist als vernunftwidrig galten, hatte die eigenständige Musik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine niedrige Stellung im System der Künste. Im 19. Jahrhundert aber kommt es zu einer Wende: Die Musik emanzipiert sich vom Wort und von außermusikalischen Bestimmungen, was die Entstehung der Kategorie der ›absoluten Musik‹ zur Folge hat, die zwischen der Autonomie des musikalischen Werkes (formalistische Prägung) und der Vorstellung einer in der Musik verborgenen Einheit (metaphysische Prägung) pendelt. Andersherum werden die bis dahin als vernunftwidrig geltenden Affekte als ›Gefühl‹ in Abhängigkeit von einem ›Ich‹ gestellt und als eine dem Individuum seine Einmaligkeit bewusst machende Instanz aufgewertet. Die Haltung der Philosophen der Musik gegenüber ist von ihrer Haltung den Affekten gegenüber abhängig. So war es bei Platon, der die Musik unter die Kontrolle des Logos zu bringen versuchte und über die Unbestimmtheit der Instrumentalmusik klagte, und so war es bei Kant und Hegel, die sich der Musik gegenüber skeptisch verhalten, weil sie an der Urteilsfähigkeit der Affekte zweifeln, obwohl sie ihr, in ihrer Art das Gemüt zu bewegen, ein großes Potential als Gedankenstimulans einräumen. Dagegen erfährt die Musik bei Schopenhauer und Nietzsche eine bis dahin unvorstellbare Aufwertung, da die Affekte in ihrer Philosophie eine grundlegende Rolle spielen. Bei Schopenhauer, der die große Wende in der Geschichte der Philosophie der Musik markiert, ist alles eine Objektivation eines vergrößerten Affektes, des reinen Willens, während für Nietzsche alles seinen Ursprung in einem unter der Formel des Willens zur Macht bekannten Antagonismus ständig miteinander kämpfender Affekte hat. Im Vordergrund von Nietzsches musikästhetischem Ansatz steht die Perspektivierung des klassischen Topos der Musik als Sprache der 145 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Zusammenfassung
Affekte. Diese Perspektivierung erfolgt unter dem Primat der praktischen Vernunft, da die Musik, indem sie die Affekte in Bewegung setzt, auf die Pluralität von Anschauungen und unbewussten praktischen Bedürfnissen aufmerksam macht. Die Musik fungiert daher als Übung in perspektivistischer Wahrnehmung und wird so zum Stimulans der Vernunft. Affekt- und Musikbegriff sind voneinander abhängig und Nietzsche tritt ihnen aus drei Perspektiven gegenüber, die den drei Phasen seines Werkes entsprechen, einer metaphysischen, einer historisch-genealogischen und einer physiologischen Perspektive. Diese Perspektiven umfassen das weite Spektrum des musikalischen Denkens seiner Epoche, das die gegensätzlichen Positionen des von Eduard Hanslick geprägten musikalischen Formalismus und der romantischen Musikästhetik, für die Schopenhauers Willensymbolik der Musik der systematische Ausdruck ist, einschließt. In seiner ersten Phase plädiert Nietzsche als Advokat von Richard Wagners Kulturpolitik für die Willenssymbolik Schopenhauers, kehrt sie jedoch um, indem er deren Bedingungen klar konturiert und sich so von ihrem metaphysischen Charakter entfernt, dem ein platonisches Abbild-Vorbild-Verhältnis zugrunde liegt. Diese Umkehrung wird möglich, weil Nietzsche nach den transzendentalen Bedingungen der Willenssymbolik fragt und so zu einem Gefühlsbegriff gelangt, der es ihm erlaubt, das unsagbare Moment des Gefühls als etwas von Vorstellungen Bedingtes zu sehen, dem keine metaphysische Selbstständigkeit zugeschrieben werden kann, wie dies beim reinen Willen Schopenhauers der Fall war. Wichtig ist, dass er – wie Schopenhauer – den Willen nicht außerhalb, sondern innerhalb der Individuation denkt und den Willen zum Symbol der Musik macht. Aus Rücksicht auf Wagners Anliegen macht er diesen Bruch allerdings nicht offenkundig. Der Zweifel am metaphysischen Charakter der Musik vermindert nicht den hohen Status, den die Musik bei Nietzsche genießt. Im Gegenteil zeigt die Tatsache, dass die Musik einen solchen Charakter für sich beanspruchen kann, wie kräftig sie als symbolische Sprache ist, und welch großes Potential sie für die interpretatorischen Fähigkeiten des Menschen besitzt. Das zeigt sich in der Charakterisierung der Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«, die das Zentrum von Nietzsches musikphilosophischem Ansatz bildet, und demonstriert, wie wichtig die Musik als Übung der Freiheit der Interpretation der Welt ist. Die Musik steht exemplarisch für die transzendentale Fähigkeit des Menschen, Sinnlichkeit mit Sinn zu versehen. 146 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Zusammenfassung
Als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« wird die Musik zum Inbegriff aller Kultur, insofern diese auf einem lebendigen, affektiven Substrat basiert. Die Hauptthese der Geburt der Tragödie, nach der alle Kultur aus dem Geist der Musik geboren wird, bedeutet auch, dass die Musik eine Einheit zwischen allen kulturellen Erscheinungen zu stiften vermag – eine Fähigkeit, die Nietzsche in das Musikdrama Richard Wagners hineinprojiziert, das eine seit der Antike und dem Untergang der griechischen Tragödie verlorene Einheit wiederherstellen soll. Außerdem profiliert Nietzsche in den zweiten und vierten Unzeitgemäßen Betrachtungen die Musik als eine neben der Religion besonders mächtige überhistorische Macht, die einen Gegenpol zu der durch den Historismus zunehmenden sprachlichen Abstraktion seiner Zeit bilden kann. Als überhistorische Macht hat die Musik notwendigerweise auch bei Nietzsche einen metaphysisch-systematischen Charakter, der durch eine Analogie mit der mündlichen Sprache konstruiert wird. Wenn wir an die Wortsprache denken, denken wir sie als Schriftsprache, d. h. als Bedeutung. Wie aber wäre es, wenn wir die unfassbare Menge der Sprache als reinen Klang denken könnten? Diese Vorstellung hat etwas Metaphysisches, denn dem Klang wird die Form einer Sprache zugeschrieben, aber keine Bedeutung. Es muss daraus sogar negativ eine Bedeutung bestimmt werden und so bekommt die Musik eine Gegenrolle als Ausdruck all dessen, was die Sprache nicht ausdrücken kann und was jenseits der Individuation liegt. Das Motiv dieser Stilisierung hier ist ein praktisches. Nietzsche kalkuliert im Rahmen seines kulturkritischen Prinzips des Gleichgewichts. So macht er durch den Schein einer Metaphysik der Musik auf die affektive, sinnliche Ebene der Sprache aufmerksam, die von der durch den Historismus zunehmenden Abstraktion der Sprache bedroht wird. Bedroht ist auch die Individualität des Menschen, der der alleinige Träger dieser affektiven Ebene ist. In seiner zweiten Phase bettet Nietzsche die Musik in die Geschichte ein: Er steht durchaus in Einklang mit dem zeitgenössischen Topos der Musik als einer späten kulturellen Erscheinung, zeigt aber, wie sie über ihre historische Epoche hinausreichen kann. Als Kunst der Zeit und des Werdens wird die Musik zum Symbol des historisch Neuen und der Erneuerung, ja zur »Kunst der Morgenröte«. Damit bleibt der in der ersten Phase postulierte überhistorische Charakter der Musik unter neuem Gesicht erhalten. Am Beispiel der »unendlichen Me147 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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lodie« Wagners wird die Musik sogar zum besten Beispiel für das »neue Unendliche«, das in der Mannigfaltigkeit der Weltbetrachtungen besteht. Die Meeresmetaphorik zeigt auf dynamisch-ambivalente Weise, dass das »neue Unendliche« wie ein unbegrenztes Meer ist, auf dem man sich zwar verlieren, aber auch neue Länder entdecken kann. Zeigt Nietzsche in seiner ersten Phase die transzendentalen Bedingungen der Willenssymbolik, bzw. der Gefühlsästhetik der Musik, führt er diesen Ansatz in seiner zweiten Phase fort, indem er nun die historisch-genealogischen Bedingungen derselben zeigt. So entwirft er eine kritische Genealogie der absoluten Musik und zieht den Schluss, dass die Musik ihre immense Bedeutsamkeit durch ihre langandauernde Symbiose mit der Poesie und der Religion erhalten hat. Die absolute Musik wird dadurch in ihren beiden Varianten entlarvt. Sowohl Formalismus wie auch Gefühlsästhetik stellen eine historisch durchaus nachvollziehbare, doch willkürliche Intellektualisierung der Musik dar. Nietzsches Haltung ist allerdings ambivalent. Einerseits wertet er beide Theorien als Zeichen eines großen Fortschritts, weil sie der lange Zeit als belanglos geltenden Instrumentalmusik eine enorme Bedeutsamkeit abgewinnen und von dem hohen Entwicklungsgrad des menschlichen Gefühls zeugen, welches eine solche Bedeutsamkeit in einem abstrakten, an sich nichtssagenden Medium wahrzunehmen vermag, andererseits bedeutet diese Intellektualisierung einen Verlust an sinnlichem Genuss und allseitiger Rezeption der Kunst. In Abgrenzung von beiden Diskursen plädiert Nietzsche für eine »unschuldige Musik«, die zwar den Schein des musikalischen Formalismus besitzt, aber einer von außermusikalischen Bestimmungen freien Gefühlsästhetik näher steht. Denn das menschliche Gefühl ist nun so weit entwickelt, dass jeder das Richtige für sich wählen kann. Dagegen wirkt die Überzeugung, Musik bedeute dieses oder jenes in einem Zeitalter des aufgehenden Individualismus fast wie ein dogmatischer Glauben. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob die Musik die Erbin der Religion ist und wenn ja, bleiben darf, denn laut der genealogischen Untersuchung der Gefühlsästhetik haben die von der Musik hervorgerufenen Gefühle das religiöse Gefühl ersetzt. Die metaphysisch orientierte Gefühlsästhetik der literarischen Romantik führt also durch eine quasi-religiöse Bedeutsamkeit der Wirkung der Musik zur Religion zurück, und dies in einer Epoche, in der man eigentlich über die Stufe der Religion hinausgekommen sein sollte. So gesehen hat die 148 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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Musik als Umweg zur Religion eine fast reaktionäre Wirkung. Nietzsche fragt sich jedoch, ob diese religiöse Bedeutsamkeit nicht mit den praktischen Bedürfnissen des Menschen korrespondiert. Für diese Problematik hat Schopenhauers Begriff des metaphysischen Bedürfnisses, dem Nietzsche ambivalent gegenübersteht, eine Schlüsselfunktion. Wenn das metaphysische Bedürfnis, wie Schopenhauer behauptet, eine anthropologische Konstante ist, dann ist die Rolle der Musik als Erbin der Religion durchaus legitim. Nietzsche bezweifelt nicht, dass die Musik religiöse Bedürfnisse befriedigt, zögert jedoch, diese Bedürfnisse als metaphysisch zu bezeichnen, weil er den Verdacht hegt, dass solche Diskurse das, was sie eigentlich überwinden wollen, letztlich festigen. Versteht man metaphysische Bedürfnisse als anthropologische Konstante, hat man in seinen Augen den Glauben an Gott für immer gerettet. In seiner dritten, radikal antimetaphysischen Phase erklärt Nietzsche mit einem strategischen Manöver die metaphysischen Bedürfnisse zu Bedürfnissen des Leibes. Um Musik und Affekte jeder Art von Metaphysik gegenüber zu immunisieren, bindet Nietzsche beide an die für ihn unfehlbare »große Vernunft des Leibes«. Daraus ist die Perspektive einer Physiologie der Musik abzuleiten, denn als Interpretationsspiel ständig miteinander agierender Affekte im Leib lässt sich die Musik erneut als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung« beschreiben. War in der ersten Phase die Rede von einem begrifflich unauflösbaren Teil des Gefühls, wird dieser nun im Leib lokalisiert. Die Physiologie der Musik ist eine Rückkehr in die Willenssymbolik der Musik, nur dass der Wille streng im Leib und daher tiefer im Individuum positioniert wird. Nietzsche macht nichts anderes, als Schopenhauers systematischen Zusammenhang zwischen Wille und Leib in die Musik zu übertragen, wodurch er unbewusst zum Vollender von Schopenhauers Willenssymbolik wird, obwohl er Schopenhauer und Wagner inzwischen als Inbegriffe einer romantisch-metaphysischen Ästhetik versteht, die zur Verarmung des Lebens führt. Nietzsche unterscheidet zwischen »ja-« und »neinsagenden« Affekten und fordert eine Kunst, die die ersteren fördert. Sein Umgang mit den Affekten in dieser letzten Phase zeigt, dass man in einem durchaus vernünftigen Prozess Affekte erkennen, isolieren oder miteinander kombinieren und so zu neuen Perspektiven gelangen kann. Die Musik stellt den Idealfall eines solchen synthetischen Verfahrens dar, weil in ihr der Verschmelzungsprozess von Affekten, was die Wir149 https://doi.org/10.5771/9783495860151 © Ver
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kung betrifft, am stärksten ist. Das wird mit der Einführung der Kategorie des »Südens der Musik« ersichtlich, die eher einen Aufruf zum interkulturellen Experimentieren, einem Perspektivenaustausch zwischen Norden und Süden, als eine musikästhetische Kategorie darstellt. 1 Kehren wir aber zu der für die Nietzsche-Forschung zentralen Frage nach der Positionierung Nietzsches zwischen beiden dominanten Diskursen der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts zurück. Sollte man Nietzsche unbedingt für die eine oder die andere Position gewinnen, käme man dahin zu behaupten, Nietzsche stünde der Gefühlsästhetik näher, da er seine Willensymbolik der Musik im Grunde nie preisgab und sogar bereits einsetzte, bevor er mit Schopenhauers Werk in Kontakt gekommen war. Dies belegt das in dieser Arbeit quasi als Leitfaden benutzte Fragment Über Stimmungen, das als eine immanente Variante der romantischen Gefühlsästhetik zu fassen ist. Deswegen könnte man sagen, Nietzsche vertrete eine immanente und keineswegs irrationale Gefühlsästhetik, in der es keinen Platz für metaphysische Prägungen gibt. Die Frage von Curt Paul Janz, ob Nietzsche die romantische Musikästhetik überwindet, muss daher positiv beantwortet werden. 2 Durch seinen Affektbegriff, in dem der Unterschied zwischen Gefühl und Verstand aufgehoben ist, einerseits und seine eigenartige Physiologie am Leitfaden der großen Vernunft des Leibes andererseits, setzt Nietzsche die romantische Gefühlsästhetik in feste Grenzen. Sein großes Verdienst ist es, den metaphysischen Charakter der romantischen Musikästhetik überwunden zu haben. Dies gelang ihm auf eine wirksamere Weise als dem Formalismus, denn er versucht nicht, die Gefühlsästhetik jenseits der Affekte zu überwinden, sondern sie von innen heraus, aus der Perspektive der Affekte selber. Nietzsche hat auf eine filigrane Weise das Gefühl in der Musik sowohl von einem pejorativen Missbrauch (Romantik) wie auch von seiner Beseitigung durch den Formalismus gerettet, ohne im Geringsten auf ihren intellektuellen Anteil zu verzichten. Stellen Formalismus und Gefühlsästhetik isolierende und trennende Diskurse dar, ist Nietzsches »große Vernunft 1 Dazu siehe Manos Perrakis: Der »Süden der Musik« als System interkulturellen Experimentierens, in: Andreas Urs Sommer (Hrsg.): Nietzsche-Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, 255–262. 2 Curt Paul Janz: Nietzsche als Überwinder der romantischen Musikästhetik, 210.
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des Leibes«, am Beispiel der Musik gedacht, ein integrativer Diskurs, der den intelligenten Modus der sinnlichen Wahrnehmung, den einzigen sicheren Zugang zur Welt, mit aller Deutlichkeit demonstriert. Das Interesse Nietzsches gilt aber nicht so sehr der theoretischen, als der praktischen Ebene der Musikästhetik. Aus der Musik als Sprache der Affekte entwickelt er schon in jungen Jahren ein Mittel für die Konfrontation mit den eigenen Affekten, weil er an deren Bedeutung für die Selbsterkenntnis des Menschen und die Selbstbestimmung des Individuums glaubt. Für Nietzsche ist der Mensch zugleich Vernunftund Empfindungswesen. Die musikalische Metaphorik demonstriert genau dies. Die musikalische Dissonanz, als deren Inkarnation Nietzsche den Menschen bezeichnet, steht für die Kreativität dieses Prozesses und die Eigenschaft des Menschen, immer neue, höhere Zusammenhänge mit seiner Umwelt zu bilden. Dass dieser kreative Prozess von vielen Faktoren bestimmt ist und unbewusst stattfindet, zeigt die Metapher des Synkretismus. Die kulturelle Bewältigung oder Sublimierung der Affekte wiederum gleicht der Eroberung vom Neuland bei einer Seefahrt, bei der man – wie Nietzsches Meeres- bzw. die Nachtmetapher zeigen – Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren. Die Instrumentenmetapher schließlich erinnert daran, dass die Selbstbestimmung des Menschen in Analogie mit einem sich selbst stimmenden Musikinstrument zu denken ist. Diese Analogie wird umso stärker, wenn man das dem Menschen inhärente Musikinstrument, also die Stimme, bedenkt. Der Prozess der Selbstbestimmung ist ein Prozess der »unendlichen Verdeutlichung«, da die Natur des Menschen wie die Musik nicht festlegbar ist. Nietzsches Musikästhetik der Affekte leistet so einen anthropologischen Beitrag zur Deutung des affektiven Substrats der Vernunft.
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