Die Macht der Affekte: Spinozas Theorie immanenter Individuation 9783787339259, 9783787339242

Mit der aktuellen Konjunktur der Philosophie Spinozas stellt sich die Frage, was wir seinem spekulativen System heute no

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German Pages 356 [357] Year 2020

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Die Macht der Affekte: Spinozas Theorie immanenter Individuation
 9783787339259, 9783787339242

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Kerstin Andermann

Die Macht der Affekte Spinozas Theorie  immanenter Individuation

Paradeigmata · Band 40

Meiner

PARADEIGMATA 40

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

KERSTIN ANDERMANN

Die Macht der Affekte Spinozas Theorie immanenter Individuation

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3924-2 ISBN eBook 978-3-7873-3925-9

Als Habilitationsschrift der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg angenommen und begutachtet durch Christoph Jamme (Lüneburg), Martin Saar (Frankfurt/M) und Andreas Schmidt (Jena). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Metaphysik des Menschen

................................

7

Erster Teil: Immanenz als Voraussetzung I

Immanente Ontologie I.1 I.2 I.3 I.4 I.5 I.6 I.7 I.8

II

................................

Der Anfang als Ursache seiner selbst (causa sui) . . . . . . Exkurs: Der Anfang als Differenz an sich selbst (Deleuze) Gott oder Substanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substanz und Substanz (Descartes) . . . . . . . . . . . . . . . Substanz und Attribute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Substanz als Ausdrucksgeschehen (Deleuze) . . . Modi als Affektionen von Substanz . . . . . . . . . . . . . . . Essenz und Existenz im Monismus . . . . . . . . . . . . . . .

Die zwei Seiten der Natur

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31

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31 39 45 52 57 70 79 87

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II.1 natura naturans und natura naturata . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II.2 Exkurs: Natur und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III Immanente Erkenntnistheorie III.1 III.2 III.3 III.4 III.5 III.6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Erkenntnistheorie des Menschen . . . . . . Perspektivismus der Erkenntnis . . . . . . Endlichkeit als Bedingung der Erkenntnis Adäquate und inadäquate Ideen . . . . . . Drei Arten der Erkenntnis . . . . . . . . . . Theorie der Gemeinbegriffe . . . . . . . . .

... ... .. ... ... ...

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111 118 122 126 134 140

Zweiter Teil: Affekte und Körper I

Theorie der Affektionen und der Affekte I.1 I.2 I.3

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

affectio und affectus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Affektion und Affekt in ontologischer Hinsicht . . . . . . . . . 170 Affektion und Affekt in pragmatischer Hinsicht . . . . . . . . . 177

6

Inhalt

I.4 I.5 I.6 II

Affektion als Selbsterhaltung (conatus) . . . . . . . . . . . . . . . 188 Potentialität des Affektionsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 212

Theorie der Körper II.1 II.2 II.3 II.4

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Was ein Körper ist und was ein Körper kann Körper in ontologischer Hinsicht . . . . . . . Körper in pragmatischer Hinsicht . . . . . . . Körper in Ruhe und Bewegung . . . . . . . . .

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223 226 231 235

Dritter Teil: Individuation und Macht I

Theorie der Individuation und der Individualität I.1 I.2 I.3 I.4 I.5 I.6

II

Individuation und Antiindividualismus . . . . . . . . . . Individuation in ontologischer Hinsicht . . . . . . . . . Exkurs: Individualität und Negation (Hegel) . . . . . . Individuation in pragmatischer Hinsicht . . . . . . . . . Individualität und Transindividualität . . . . . . . . . . . Exkurs: Individualität als Transindividualität (Balibar)

Theorie der Macht II.1 II.2 II.3 II.4 II.5

. . . . . . . . . . . . 245 . . . . .

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245 248 258 263 267 276

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Macht als Individuationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht in ontologischer Hinsicht (potentia) . . . . . . . . . . . Macht in pragmatischer Hinsicht (potestas) . . . . . . . . . . . Macht und Menge (potentia multitudinis) . . . . . . . . . . . . Exkurs: Machtverhältnisse als Kräfteverhältnisse (Foucault)

Immanente Ethik

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291 294 302 308 317

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Zitierweise und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Metaphysik des Menschen

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it dem Namen Spinozas wird heute vielfach das Versprechen verbunden, die Stellung des Menschen in der Welt überdenken zu können. Damit wird eine Philosophie aufgerufen, die den Seinszusammenhang menschlicher Individuen in metaphysischer Ausrichtung zu erfassen sucht. Die ordnende Funktion der Ontologie wird dabei ganz im Sinne des frühneuzeitlichen Anspruchs genutzt, die Welt als Ganzes und in ihren Zusammenhängen erklärbar zu machen. 1 Um die Weltkonvergenz der metaphysischen Bestimmungen sicherzustellen, unterzieht Spinoza seine ontologischen Grundbegriffe einer immanenten Begründung und legt ihnen die selbstursächliche Einheit einer einzigen Substanz mit mannigfaltigen Binnendifferenzierungen zugrunde. Von der Immanenz dieser unbedingten Substanz ausgehend, verfolgt er nicht nur eine radikale Ablehnung extramundaner oder transzendenter Herleitungen, sondern stellt auch das transzendentale Konstitutionsverhältnis infrage, das in der cartesianischen Teilung der Seinssphären angelegt ist. 2 Der ontologische Grundbegriff der Substanz bezieht sich in seiner nominalen Funktion auf Gott und die Natur, denn gemäß seiner berühmten Formel deus sive natura ist Gott für Spinoza zugleich die Natur, und aus dem Gesamtzusammenhang der Natur folgen die unterschiedlichen Modi der Existenz. Die Annahme der grundlegenDie Zuordnung dieses philosophischen Anspruchs zu einem eher rationalistischen oder einem eher empiristischen Denken, wie sie in den philosophiegeschichtlichen Übersichten häufig anzutreffen ist, soll hier direkt zurückgewiesen werden, da sie, wie sich zeigen wird, für den beabsichtigten Zugriff auf das Denken Spinozas wenig nützlich ist und es lediglich in ein Schema dualistischer Interpretation einfügt. Vgl. zum Umgang mit den historiographischen Einordnungen des frühneuzeitlichen Denkens insgesamt den instruktiven Vorschlag von Dominik Perler, »Was ist ein frühneuzeitlicher Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus / Empirismus Schema«, in: Helmut Puff / Christopher Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 55–80. 2 Diese immanenztheoretische Lesart der Ontologie Spinozas hat sich mit den Kommentaren von Deleuze und Matheron seit den späten 1960er Jahren durchgesetzt und in ganz verschiedenen Hinsichten ausgewirkt. Antonio Negri bringt die Reichweite der immanenten Ontologie Spinozas auf den Punkt: »These readings reconstructed an ontology that attributed to Spinoza, philosopher of the modern, the surpassing – within the limits of the metaphysical sequence of modernity – of all the essential charakteristics that distinguished the modern: an ontology of immanence that destroyed even the faintest shadow of transcendentalism, an ontology of experience that refused every phenomenalism, an ontology of the multitude that undermined the immemorial theory of forms of government that was rooted in the sacredness of an arché [. . . ], a genealogical ontology that related the ethical and cognitive responsibility for the world to human doing [fare].« Antonio Negri, Subversive Spinoza. (Un)contemporary Variations, Manchester 2004, S. 115. 1

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Metaphysik des Menschen

den Einheit einer einzigen Substanz war für Spinoza nicht nur wichtig, um die Wirklichkeit in ihrer immanenten Totalität erkennen zu können, sondern vor allem auch, um die Individuation der Einzeldinge aus einem metaphysischen Modell des Ganzen heraus erklären zu können. Mit dem holistischen Anspruch der Herleitung des Einzelnen aus dem Zusammenhang des Ganzen ergibt sich, dass auch die Frage nach dem Menschen von der Individuation der Einzeldinge her gestellt werden muss, bevor sie als Frage der Bedingungen der Konstitution menschlicher Individuen gestellt werden kann. Das bedeutet, dass es im Folgenden nicht wie selbstverständlich um den Menschen gehen kann, sondern ein Vorgang der immanenten Individuation von Einzeldingen ausgewiesen wird, von denen der Mensch vorerst nicht notwendig zu unterscheiden ist. 3 Die Aufgabe der Ontologie besteht in diesem Zusammenhang darin, die Wirklichkeit der einzelnen Dinge als Modulationen des Ganzen und dieses Ganze als einen umfassenden immanenten Wirkungszusammenhang zu erkennen zu geben. Ihre Aufgabe ist es nicht, starre Wesensbestimmungen der Entitäten vorzunehmen, vielmehr soll sie die Individuation einzelner Modi in ihrer singulären Gegenwart verstehbar machen. 4 Spinozas ontologische Konzeption von Substanz ist aber auch eine Provokation für das moderne Denken, scheint sie doch allen defundierenden und dezentrierenden Bemühungen zuwiderzulaufen und eine generalisierbare Einheit wesensmäßig determinierter Entitäten zu unterstellen. Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht darin nachzuweisen, dass Spinozas Begriff der Substanz nicht mit einer deterministischen Bestimmung der wesenhaften Essenz der Individuen einhergeht, sondern multiple und dynamische Individuationsprozesse ausweisbar macht, 3 Vgl. in dieser Richtung auch den Beitrag von Yitzhak Y. Melamed, der Spinoza als »the most radical anti-humanist among modern philosophers« ausweist und dessen nivellierende Einordnung des Menschen unter die anderen Naturdinge in Auseinandersetzung mit einem weit gefassten Humanismusbegriff anhand von vier Punkten verdeutlicht: der marginalen und begrenzten Stellung des Menschen im unendlichen Universum, der Anthropomorphismuskritik Spinozas, seines radikalen Naturalismus, der keine Unterscheidung einer Humanität vom Rest der Natur erlaubt, und schließlich anhand seiner Amoralität. Wir werden auf alle diese Aspekte im Folgenden zurück kommen. Vgl. Yitzhak Y. Melamed, »Spinoza’s Anti-Humanism: An Outline«, in: Carlos Fraenkel, Dario Perinetti, Justin E.H. Smith (Hg.), The Rationalists: Between Tradition and Innovation, Dordrecht u. a. 2011, S. 147–166. 4 In seiner Analyse der ontologischen Ordnung der Gegenwart stellt Foucault die allgemeine Funktion der Ontologie als einen Aspekt der Aufklärung dar. Diese habe sich weniger um die Frage zu drehen, ob wir mündig geworden sind oder nicht, sondern vielmehr darum, ob wir eine spezifisch moderne Denkhaltung realisieren und den Erfahrungszusammenhang unserer eigenen Gegenwart in seiner gewordenen Struktur erfassen können. Foucault sieht in der ontologischen Analyse des Denkens einen spezifischen Diskurs der Moderne über die Moderne. Vielleicht besteht auch der spezifisch moderne Zug Spinozas genau darin, ein ontologisches Modell für seine Gegenwart gefunden zu haben. Vgl. Michel Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4 (1980–1988), Nr. 351, S. 837–848.

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die einen Möglichkeitsspielraum der Individuation eröffnen. Substanz ist hier keine fundierende Wesenseinheit, aus der die einzelnen Dinge herzuleiten und auf die sie zurückzuführen wären, sondern vielmehr eine nominale Einheit, die die Kontinuität unendlicher Modifikationen und ihre immanente Individuation in relationalen Verbindungen zu denken erlaubt. Spinozas grundlegende Konzeption einer immanenten Substanz des Ganzen ist damit als ein nominaler Rahmen zur Bestimmung dynamischer Verhältnisse immanenter Individuation auszuweisen, und in diesem Rahmen werden auch die Bedingungen der Möglichkeit der Individuation des menschlichen Individuums erklärt. Die Auseinandersetzung mit Spinoza ist traditionell von der Vorannahme geprägt, sein konsequenter Naturalismus sei zugleich ein Determinismus und es gebe keine Freiheit des Individuums in der Natur. Folgt man aber dem, was über das strenge geometrische System der Lehrsätze, Axiome und Definitionen hinaus zum Ausdruck kommt, ergibt sich ein anderes Bild. Die vorliegende Bestimmung immanenter Individuation zielt darauf, die Kontinuität der Individuen im Gesamtzusammenhang der Natur sichtbar zu machen und das menschliche Individuum aus einem immanenten Seinszusammenhang herzuleiten. Dabei besteht die Herausforderung darin zu verstehen, wie menschliche Individuen in die umgebende Natur eingelassen sind und in welchem Sinne sie als frei, handlungsfähig und wirkmächtig angesehen werden können. Mit der Konzeption immanenter Individuation geht also eine Bestimmung individueller Freiheit einher, und die immanenztheoretische Durchdringung des Individuationsprozesses kann zeigen, dass es eine steigerbare Form der affektiven und der erkenntnismäßigen Selbstsuffizienz des menschlichen Individuums gibt, die es ihm möglich macht, sich zur Ursache seiner selbst zu machen. 5 Eine grundlegende Annahme der vorliegenden Untersuchung besteht damit darin, dass die Freiheit des menschlichen Individuums an eine Form affektiver Vernunft gebunden ist, die durch die Affektionen des Körpers und die daraus entstehenden Ideen herausgefordert wird. Affektionen sind nicht durchgehend vorbestimmt, sondern ergeben sich aus den dynamischen Verhältnissen, in denen ein jedes Individuum steht. Mit der adäquaten Erkenntnis der umgebenden Affektionszusammenhänge ist die Möglichkeit des menschlichen Individuums verbunden, sich selbst zur Ursache der Affektionen zu machen und die eigenen Affekte zu handhaben. 6 Diese emanzipatorische Dimension war besonders für Gilles Deleuze wichtig, der im Begriff der Immanenz und in der Vorstellung eines »gemeinsamen Plans der Immanenz (plan commun d’immanence)« auch »eine Lebensweise, eine Art zu leben« (un mode de vie, une façon de vivre) gesehen hat. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin 1988, S. 159. 6 Étienne Balibar hält im Ausgang seiner Darstellung der Freiheitsproblematik fest, dass es für Spinoza nicht darum ging, Freiheit in der menschlichen Natur anzusiedeln und vom Reich der 5

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Besteht die Lektion, die Spinoza uns heute erteilen kann, also nicht eigentlich darin, das Verhältnis von Natur und Freiheit zu überdenken? Nimmt man den Grundsatz der Immanenz ernst, so entfaltet sich das Individuum nicht in Absetzung von der Natur, sondern in einer Kontinuität mit den umgebenden Entitäten. Und so muss auch seine Freiheit im Ausgang dieser Kontinuität gedacht werden, denn der Mensch steht der Natur nicht gegenüber, sondern kann die Macht der Natur als seine eigene Macht begreifen und sich selbst im Gesamtzusammenhang der Natur erkennen. Das nominalistische Modell einer unendlichen und unbedingten Substanz, die sich nach den Gesetzen immanenter Kausalität in variablen Modi ausdrückt, zeigt auch, dass es keine eigentliche Natur des menschlichen Individuums geben kann. So ist es wichtig zu verstehen, dass Spinoza ein Modell von Individualität als Vollkommenheit aufzeigt, in dem sich jedes Individuum zur individuellen Vollkommenheit aktualisieren und nach Maßgabe seiner Macht entfalten kann. Individuation wird so als ein Vorgang modaler Formbildung erkennbar, und ein Individuum ist in diesem Sinne vorerst nichts anderes als eine graduelle Modifikation der Substanz. So entgeht Spinoza auch dem Problem der normativen Beurteilung, denn menschliche Individuen können nicht in einem normativen Sinne als vollkommen oder unvollkommen angesehen werden. Sie sind lediglich graduell individuierte Modi der Substanz, die mal mehr und mal weniger in der Lage sind, die Macht der Affekte zu nutzen. Spinoza wollte den Gesamtzusammenhang der menschlichen Existenz also vollständig und immanent aus sich selbst begründen, ohne dabei auf unhinterfragte Vorannahmen des Denkens und des Seins zu bauen. 7 So ist sein Name inzwischen zu einem Referenzpunkt geworden, wenn es darum geht, Notwendigkeit zu trennen, sondern vielmehr darum, Freiheit selbst als Notwendigkeit zu begreifen. Vgl. Étienne Balibar, »What is Man in Seventeenth-Century Philosophy?«, in: Janet Coleman (Hg.), The Individual in Political Theory and Practice, New York 1996, S. 215–241. Balibar markiert einen wichtigen Punkt, denn in der Tat dreht sich die Bestimmung der Individuation letztlich auch um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit des Individuums, denn wäre das Individuum vollständig determiniert, gäbe es keine individuierenden Prozesse und alles wäre wie es ist. 7 In einer provokativen Bemerkung hebt Derrida Spinoza als den einzigen Philosophen der Geschichte der Philosophie hervor, der sein Denken nicht in Form eines Narrativs und nicht in einer teleologischen Perspektive anlegt. Zwar herrsche Einigkeit mit Platon darüber, dass die Frage nach dem Sein nur ohne Mythen zu erzählen sei, doch gleichwohl, so Derrida, erzählen die Philosophen in gewisser Weise immer ihre Geschichten zur Geschichte des Seins. »Except for Spinoza. Spinoza does not tell a story about the history of philosophy, does not insist on putting things in a teleological perspective.« Die Bedeutung dieser Diagnose Derridas wird im Laufe der Darstellung deutlicher, denn es geht hier weniger darum, dass Spinoza keine Geschichten erzählt, was nach meiner Einschätzung falsch wäre, denn bereits die zentralen Bestimmungen, die im ersten Teil der Ethica gesetzt werden, weisen auch narrative Züge auf. Es geht vielmehr darum, dass mit der grundlegenden Voraussetzung einer Substanz, die Ursache ihrer selbst ist und immanent begründet wird, eine ontologische Operationsweise ausgewiesen wird, die nicht teleologisch sein kann, weil

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die Entgrenzung und die Kontinuität unterschiedlicher Seinsregionen und ihre Teilhabeverhältnisse zu verstehen. 8 Mit der immanenten Schließung dichotomischer Denkfiguren zu einer differenziell operierenden Einheit unterschiedlicher Modi ist dann auch der Umbau von einer vertikalen zu einer horizontalen Konstitutionsordnung verbunden. Daraus ergibt sich, dass das menschliche Individuum als eine Entität unter vielen im Seinszusammenhang und in relationalen Verbindungen zu den Individuen der umgebenden Welt zu sehen ist. 9 Individuation wird so als ein fortlaufendes immanentes Prinzip verstehbar, aus dem die Individuen wie temporäre Ereignisse einer bestimmten Dauer hervorgehen. Sie ergibt sich aus der relationalen Kontinuität der immanenten Beziehungen, in denen das Individuum situiert ist und die den Determinationszusammenhang seiner Existenz bilden. Individuen werden hier also weder aus Urformen einer übergeordneten Ideenwelt noch aus inneren Formwerdungsprinzipien einer Materie hergeleitet, sondern vielmehr aus immanenten Individuationsprozessen, die nicht auf das menschliche Individuum beschränkt sind.

Antiindividualistische Individuation

Angesichts dieser Voraussetzungen stellt sich nun die Frage, was es überhaupt bedeutet, bei einem frühneuzeitlichen Denker wie Spinoza nach dem Menschen und seinen Affekten zu fragen. 10 Zwar ist es mitnichten so, dass das sie sich ihrer inneren Struktur nach vollständig aus sich selbst speist und nicht über sich selbst hinausgeht. Die Äußerungen Derridas zu Spinoza sind Teil einer Diskussion zu Descartes und zu Heideggers Auseinandersetzung mit Descartes. Vgl. Robert Bernasconi, »Descartes in the History of Being: Another Bad Novel?«, in: Research in Phenomenology, 17 (1987), S. 75–102, hier S. 96. 8 Von dieser Annahme einer Kontinuität ausgehend, wird der Beginn der Moderne mitunter als Beginn einer großen Trennung aufgefasst, von der die Teilung der ausgedehnten und der denkenden Welt und die daran anschließenden Unterscheidungen ihren Ausgang genommen haben. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008. Auch Philippe Descola untersucht das ontologische Erbe als eine »große Trennung« und würdigt dabei das Denken Spinozas in seiner Zeit: »Spinoza ist wirklich allein, als er eine solche Teilung zurückweist, dazu auffordert, das menschliche Verhalten als ein vom universellen Determinismus geregeltes Phänomen zu betrachten, und die Vorurteile derer anprangert, die die Absicht der Natur in Analogie zum Selbstbewusstsein betrachten.« Vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011, hier: S. 116. 9 In dieser Richtung schließt aktuell auch das Denken der new materialisms an die immanente Ontologie Spinozas an. So etwa Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham 2010, sowie zum Überblick: Diana Coole / Samantha Frost (Hg.), New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics, Durham 2010. 10 Für die Aufhebung jeder überzeitlichen Gewissheit in der Möglichkeit der Frage nach dem Menschen hat freilich Foucault gesorgt, dessen Analyse der neuzeitlichen Entstehung des

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menschliche Individuum für Spinoza keine Rolle gespielt hätte, es ist innerhalb seines Systems vielmehr gerade der wiederkehrende Umschlagplatz von der Ontologie zur Erkenntnistheorie, von der Erkenntnistheorie zum Körper und den Affekten und von hier zu den Fragen der Macht und der Freiheit. 11 Der Gewinn seines Unternehmens besteht aber gleichwohl gerade darin, dass er es nicht als eine Anthropologie ausgeführt hat, sondern als eine metaphysische und in einem bestimmten Sinne erst philosophische Theorie des Menschen. 12 Wenn wir davon ausgehen, dass die Frage nach dem Menschen überhaupt erst aus der Entkopplung metaphysischer und naturwissenschaftlicher Systeme hervorgegangen ist und der moderne Einsatzpunkt einer philosophischen Anthropologie in den Bemühungen Kants besteht, diese zu einer eigenen Disziplin zu machen, dann lässt sich das Denken Spinozas vielleicht als eine Theorie des Menschen ausweisen, aber darf eben nicht als eine Anthropologie verstanden werden. 13 Mit der Rückkehr zu Spinoza stehen wir gewissermaßen Begriffs des Menschen in den Veränderungen der abendländischen Episteme hier nur kurz mit einer prägnanten Formulierung in Erinnerung gebracht werden soll. Foucault schreibt: »[K]eine Philosophie, keine politische oder moralische Option, keine empirische Wissenschaft gleich welcher Art, keine Beobachtung des menschlichen Körpers, keine Analyse der Sinneswahrnehmung, der Vorstellungskraft oder der Leidenschaft ist jemals im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert auf etwas wie den Menschen gestoßen. Der Mensch existierte ebenso wenig wie das Leben, die Sprache und die Arbeit.« Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, S. 373. 11 Wolfgang Bartuschat kann von einer Theorie des Menschen bei Spinoza sprechen, weil er zwei Perspektiven unterscheidet: Zum einen gesteht er zu, dass der Mensch hier lediglich ein Teil der Natur ist und durch diese Determination ein vollkommen unselbständiges Element des unendlichen Ganzen ist. Zum anderen ist der Mensch aber eben auch selbständig in diesem Ganzen und kann durch sich selbst zu einer graduellen Erkenntnis seiner selbst und damit zur Freiheit kommen. Bartuschat will zeigen, dass die Ethica als Ethik auf den Menschen hin organisiert ist, d. h. auch wenn für Spinoza unendlich vieles auf unendlich viele Weisen aus Gottes Natur folgt, kann es für den Menschen nur um das gehen, was er durch sich selbst erkennen und verstehen kann. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 1–36. Im Unterschied zu Bartuschat geht es mir im Folgenden nicht darum, eine Theorie des Menschen nur als mögliche Perspektive zu behandeln. Vielmehr soll deutlich werden, dass die Frage nach dem Menschen als Frage der Individuation zu begreifen und aus den immanenten Voraussetzungen einer Ontologie herzuleiten ist, in der die Affektionen eine wesentliche Rolle spielen. 12 Eine Erschließung der vielfältigen und umfassenden Bedeutung der metaphysischen Einheit der Individualität für eine Theorie des Menschen, die sich zugleich der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit bewusst ist, Individualität im ganzen Horizont der Welterfahrung des Menschen abzuschreiten, bietet Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000. Ders.: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999. 13 Zwar wird immer wieder von anthropologischen Elementen im Denken Spinozas gesprochen, doch wird damit nach meiner Meinung die Möglichkeit verspielt, von einer Ontologie auszugehen, die eben nicht auf den Menschen gerichtet ist, sondern das menschliche Individuum in der Kontinuität eines immanenten Ganzen verstehbar macht. Die Entstehung der modernen Anthropologie bestimmt Odo Marquard in einem begriffsgeschichtlich orientierten Beitrag, indem er diese von allen anderen in der Geschichte der Philosophie ausweisbaren menschenbezüglichen

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vor der Abhebung eines transzendentalen Vernunftsubjekts aus dem Determinationszusammenhang der Natur. Daher geht es im Folgenden nicht um eine anthropologische Theorie des Menschen, sondern um eine metaphysische Theorie immanenter Individuation, die eben unter anderem auch das menschliche Individuum betrifft. 14 Es gilt zu verstehen, wie sich die Singularität des endlichen Dings, das das menschliche Individuum ist, in einem unendlichen Zusammenhang herausbildet, der an sich keinen spezifischen Einsatzpukt des menschlichen Individuums beinhaltet. 15 Wir haben es im Denken Spinozas also mit der fruchtbaren Paradoxie einer antiindividualistischen Konzeption von Individualität zu tun, und mit dieser Paradoxie ist eine mindestens dreifache Entgrenzung verbunden: die Entgrenzung der Idee des Individuums als einer an sich existierenden, selbstständigen und einzelnen Entität, die Entgrenzung der Idee des Körpers als eines an sich existierenden, fest umrissenen Individuums und die Entgrenzung der Idee des Aussagen abgrenzt und zeigt, dass die Frage nach dem Menschen mit einer Wende zur Lebenswelt und zur Natur verbunden ist. Zwar kommt der Begriff der anthropologia zur Unterscheidung des menschlichen Lebendigen vom nicht-menschlichen Lebendigen bereits im 16. Jahrhundert auf, doch ist der historische Einsatzpunkt der Anthropologie für Marquardt ihr (sich im ausgehenden 18. Jahrhundert anbahnender) Aufschwung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wird hier als Beginn der Theorie des Menschen als philosophischer Anthropologie gekennzeichnet. Vgl. Odo Marquard, »Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts«, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1992, S. 122–248. Mit Blick auf das Immanenzdenken Spinozas wird deutlich, dass es nicht nur der für Kants Vorlesungen charakteristische pragmatisch-lebensweltliche Zugriff ist, der diesen zum Vorläufer einer philosophischen Anthropologie macht, sondern vielmehr dessen parallel entstandene transzendentale Erkenntnislehre und die daraus abgeleitete Stellung des Erkenntnissubjekts gegen sein Außen, denn erst aus dieser Abhebung gegen das Ganze ergeben sich die spezifischen Züge einer anthropologischen Vernunft. Vgl. dazu Marc Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin 2011. Zur Frage der Anthropologie auch: Andrea Sangiacomo, What are Human Beings? Essences and Aptitudes in Spinoza’s Anthropology, in: Journal of Early Modern Studies (2013) 2, S. 78–100. 14 Vor allem bei Deleuze ist die Auseinandersetzung mit Spinoza an eine Überwindung der Transzendentalphilosophie Kants geknüpft. Knox Peden stellt das Gewebe der französisch-deutschen Theorielinien dar, die über Heidegger zurück zu Spinoza gehen, und schreibt zu Deleuze: »In his attempt to progress beyond Kantianism, Deleuze deliberately regresses to a metaphysics prior to Kantianism, with the result that what was simply a site of epistemological synthesis in Kant’s philosophy becomes formally transformed into a site of ontological genesis.« Knox Peden, Spinoza Contra Phenomenology. French Rationalism from Cavaillés to Deleuze, Stanford 2014, S. 209. Für eine Verhältnisbestimmung von Phänomenologie und Immanenzphilosophie allgemein auch: Leonard Lawlor, »The End of Phenomenology: Expressionsm in Deleuze and Merleau-Ponty«, in: Continental Philosophy Review, 31 (1998), S. 15–34. 15 Eine kurze philosophiegeschichtliche Einordnung der paradoxen Herausforderung, Individualität in den metaphysischen Systemen der Frühneuzeit zu finden, gibt Étienne Balibar, »What is Man in Seventeenth-Century Philosophy?«, in: Janet Coleman (Hg.), The Individual in Political Theory and Practice, New York 1996, S. 215–241.

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Affekts als einer klassifizierbaren primären Einheit individueller Erfahrung. Die Entgrenzung der Idee des Individuums erlaubt es nicht, von einer subjektiven oder personalen Identität auszugehen, denn es geht vielmehr darum, die Singularität der menschlichen Individuen von einem Prozess der Individuation ausgehend zu denken, der nicht in die Bestimmung einer Identität mündet, die je an einen identischen Körper gebunden ist. 16 Mit der Konzeption immanenter Individuation soll vielmehr die vorintentionale und in einem gewissen Sinn auch anonyme Struktur eines Prozesses aufgezeigt werden, der erst durch eine relationale Bestimmung überindividueller und dynamischer Wirkungszusammenhänge zu verstehen ist und aus dem sich ein relationaler Begriff von Individualität ergibt. 17 Diese Wirkungszusammenhänge werden im Folgenden als Affektionsverhältnisse dargestellt, und das bedeutet, dass die an den nominalen Begriff der Substanz geknüpfte Bestimmung von Relationalität sich in ihrer Übertragung auf das menschliche Individuum als dessen Fähigkeit zeigt, zu affizieren und affiziert zu werden. Dabei wird mit Spinoza deutlich gemacht, dass menschliche Individuen zu ihrer Selbsterhaltung konstitutiv auf Affektionen angewiesen sind, die von außen auf ihren Körper und damit auf Daher spreche ich im Folgenden auch nicht vom Subjekt oder der Subjektivität, sondern vom menschlichen Individuum und seiner Singularität. Die Frage nach dem Subjekt ist zurückzuweisen, um die Theorie immanenter Individuation nicht anthropologisch zu verengen. Zur Diskussion um Subjekt und Subjektivität bei Spinoza vgl. auch Caroline Williams, »Subjectivity without the Subject: Thinking Beyond the Subject with / through Spinoza«, in: Beth Lord (Hg.), Spinoza Beyond Philosophy, Edinburgh 2012, S. 11–27. Ausgehend von der Untersuchung des Begriffs der conscientia kommt auch Balibar dazu, Spinoza als »an adversary of subjectivity« auszuweisen und die Kontinuität der Modi des Denkens als »a process of consciousness without a subject« zu verstehen. Spinozas Denken gerade nicht als eine Subjektphilosophie zu verstehen, muss nach Balibar aber nicht bedeuten, die Stellung des Bewusstseins in seinem System infrage zu stellen. Es ist vielmehr so, dass gerade die Frage des Bewusstseins es unmöglich macht, von einem Subjekt zu sprechen. Wir finden, so Balibar, bei Spinoza ein sehr klassisches philosophisches Thema: »an anthropology of consciousness without a subject«. Étienne Balibar, »A Note on ›Consciousness / Conscience‹ in the Ethics«, in: Studia Spinozana 8, Würzburg 1992, S. 37–53, hier S. 49 f. Eine sehr aufschlussreiche Geschichte der Entbehrung des Subjekts in den theoriegeschichtlichen Linien des Strukturalismus und des Poststrukturalismus bietet Balibar auch in: »Structuralism: A Destitution of the Subject?«, in: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, 14/1 (2003), S. 1–21. 17 Vgl. dazu auch die Diskussion der Relationalität bei Brian Massumi, dessen Auseinandersetzung mit Spinoza und Deleuze die aktuelle kulturtheoretische Debatte um Affekte bestimmt. Brian Massumi, »The Political Economy of Belonging and the Logic of Relation«, in: ders., Parables for the Virtual, Durham and London 2002, S. 68–88. Vgl. auch ders., »Autonomy of Affect«, in: Cultural Critique, 31 (1995), S. 83–109. Siehe aber auch die kritische Auseinandersetzung von Moira Gatens, die Massumis »Autonomy of Affect« einer differenzierenden Diskussion unterzieht. Moira Gatens, »Affective Transitions and Spinoza’s Art of Joyful Deliberation«, in: Marie-Luise Angerer / Bernd Bösel / Michaela Ott (Hg.), Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, Berlin 2014, S. 17– 33. Sowie auch: Ruth Leys, »The Turn to Affect: A Critique«, in: Critical Inquiry, 37/3 (2011), S. 434– 472. 16

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ihren Geist einwirken. Individuation ereignet sich in dieser Perspektive als ein komplexes und dynamisches Spiel der Konstitution durch Affektionen, und die Singularität des Individuums muss von den äußeren Affektionszusammenhängen her verstanden werden. Für Spinoza bedeutet das: je isolierter ein Individuum ist, desto weniger singulär ist es, und umgekehrt, je mehr ein Individuum in relationalen Bezügen steht, desto singulärer ist es in seiner Individualität. Daraus folgt auch, dass jedes Individuum ein charakteristisches Gleichgewicht des Affizierens und des Affiziertwerdens realisieren muss, um sich selbst zu erhalten und sich selbst zur Ursache seiner Affektionen zu machen. Entgegen der Annahme, Spinoza habe gar keinen Begriff von Individualität gehabt und nur Gott als ein unbedingtes Individuum angesehen, geht es also im Folgenden darum, Individualität als eine graduelle und temporäre Einheit in einem übergreifenden Individuationsprozess zu verstehen, der sich als ein offener Ereigniszusammenhang von Affektionen ausweisen lässt. Eine weitere Entgrenzung wird in Spinozas Konzeption des Körpers deutlich, denn schließlich müssen wir die Individuation des menschlichen Individuums als eine Individuation von Körpern und ihren Ideen behandeln. In seiner physikalischen Theorie der Körper zeigt sich, dass Spinoza die Bestimmung der Verhältnisse von Körpern in Ruhe und Bewegung auf ganz verschiedene Individuen bezieht und Formen komplexer und weniger komplexer Individuation bestimmt. Er weist die Dynamik zwischen Körpern als einen physikalischen Vorgang aus und verschränkt seine Ausführungen zur Metaphysik mit einer Physik, die die Verhältnisse zwischen individuellen Körpern nach allgemeinen Gesetzen der Natur bestimmt. 18 Spinozas physikalische Theorie der Körper ist wie ein Modell zu verstehen, durch das ein relationales Konstitutionsgeschehen und damit eine prinzipielle Heteronomie sichtbar wird, der jeder individuelle Körper mitsamt dem ihm zugehörenden Geist unterliegt. Dabei bilden die Affektionen, die sich zwischen Individuen ereignen und denen ein jedes Individuum, sofern es einen Körper hat, ausgesetzt ist, die Grundlage des Individuationsgeschehens. Individuation ist so gesehen ein prozesshafter Vorgang der Herausbildung von Individuen, die als Körper und als Geist in Verhältnissen von Ruhe und Bewegung stehen und dadurch in dieser oder jener Weise affiziert werden und andere Individuen affizieren.

Vgl. auch die Ausführungen von Michael Hampe zur Idee eines individuellen Gesetzes bei Spinoza. Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt a. M. 2007, S. 96– 107. 18

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Affectio und affectus

Spinozas Theorie der Affekte liegt in der Mitte der Ethica, das heißt, erst wenn die Voraussetzung der immanenten Selbstursächlichkeit des Ganzen bestimmt, die Grundlage der Substanz und das Zustandekommen ihrer modalen Formen dargestellt und die Theorie der Erkenntnis darauf aufgebaut wurde, wird die konstitutive Einbindung des menschlichen Individuums in ein umfassendes Affektionsgeschehen deutlich. Sein methodischer Intellektualismus und die kühne Klarheit seiner geometrischen Vorgehensweise täuschen leicht darüber hinweg, dass Spinoza die Affektionen und die Affekte und damit auch die Körperlichkeit der menschlichen Lebensform in den Mittelpunkt seines Denkens stellt und zur Grundlage eines vernunftgeleiteten und freien Lebens macht. 19 Spinoza betont die körperlich-affektive Verfasstheit des menschlichen Individuums und seiner Ideen, ohne seinen Rationalitätsanspruch preiszugeben, und zeigt damit eine Möglichkeit auf, die Bezugnahme auf vitale und kinetische Elemente in der Begründung menschlichen Lebens zu objektivieren, ja geradezu zu formalisieren und dadurch einsichtig zu machen. Die Komplexität seiner Theorie der Affekte hat damit zu tun, dass das Affektionsgeschehen einerseits als eine allgemeine ontologische Dimension ausgewiesen wird und andererseits in Form individueller Gefühle betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die klare Unterscheidung von affectio und affectus zwingend ist, um die immanente Konstitutionsleistung der Affektionen nicht von vornherein in transzendentalphilosophischen oder anthropologischen Bestimmungen des Bewusstseins und der Gefühle zu verengen. 20 Affektionen werden im vorliegenden Kontext als kausalitätstheoretisch Diesen scheinbaren Widerspruch hat auch Althusser ausgewiesen: »[T]his man who reasons more geometrico through definitions, axioms, theorems, corollaries, lemmas, and deductions – therefore, in the most ›dogmatic‹ way in the world – was in fact an incomparable liberator of the mind. How then could dogmatism not only result in the exhaltation of freedom but also ›produce it‹?« Louis Althusser, »The Only Materialist Tradition, Part I: Spinoza«, in: Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza, Minneapolis 1997, S. 2–18, hier S. 3. 20 Begriffsgeschichtlich sind die Begriffe affectio und affectus aber auch interessant, denn an ihnen lässt sich beobachten, wie die Verengung eines allgemeinen ontologischen Affektionsbegriffs auf einen individualisierten Affektbegriff des menschlichen Individuums verläuft. So stellt sich die Frage, was die Anthropologisierung der Affekte bedeutet und welche Konsequenzen die Verengung eines überindividuellen Affektionszusammenhangs in die Form des Menschen hat. Deutlich wird diese Bewegung auch an der Verschiebung des griechischen pathos zum lateinischen passio, durch die ein allgemeiner Begriff dessen, was einem Seienden widerfährt, auf den Bereich der individuellen Leidenschaften eines einzelnen Handlungssubjekts verengt wird. Diese begriffliche Verschiebung ist auch als ein Verlust der Dimension des Pathischen zu beschreiben, der mit der europäischen Erfindung des Menschen als eines aktiven und autonomen Handlungssubjekts einhergeht. Zur Begriffsgeschichte des Pathosbegriffs vgl. auch »Pathos«, in: Historisches Wörterbuch der Philo19

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zu bestimmende Impulse und damit als Wirkungen aufgefasst, die die Verfasstheit eines jeden Individuums ausmachen. 21 Das bedeutet, dass sie auch als Affekte nicht in einer Perspektive introspektiv erschlossener Erfahrung behandelt werden sollen, die die Form des menschlichen Individuums immer schon voraussetzen würde, sondern als Funktionselemente einer immanenten Kausalität (causa immanens) des ganzen Seinszusammenhangs. 22 Im Unterschied zur Substanz (substantia) des Ganzen ist die Essenz (essentia) des menschlichen Individuums nun zuallererst ein Streben, sich selbst zu erhalten (conatus perseverandi), und dieses Streben nach Selbsterhaltung ist allen Dingen in der Natur gemeinsam. Es wird als die Essenz eines jeden Individuums ausgemacht und zeigt sich im Falle des menschlichen Individuums vor allem in der Begierde (cupiditas), die von Spinoza als ein Primäraffekt ausgewiesen und allen anderen Affekten vorgeordnet wird. Mit dieser Bestimmung der Essenz des Menschen als ein Streben und ein Begehren ist der dynamische Charakter der Individuation des menschlichen Individuums im umfassenden Affektionszusammenhang des Ganzen ausgemacht. Affekte sind vor diesem Hintergrund also zuallererst als Affektionen zu verstehen, das heißt, sie sind keine abgeschlossenen und fixierbaren Zustände, sondern stehen im Zusammenhang eines übergreifenden Affektionsgeschehens, durch das sie vermehrt oder vermindert werden und aus dem sich die Potentialität des Individuums ergibt. Die Aufgabe der Theoriebildung ist an dieser Stelle eine modellhafte Darstellung der Wirkungen zwischen Körpern und ihren Ideen und den Zusammenhängen, in die sie eingelassen sind. Selbst wenn sich eine Einheit in der sophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 194 ff., sowie ebenfalls zur genannten Verschiebung: Kathrin Busch / Iris Därmann (Hg.), »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 7–31. 21 Die lateinischen Begriffe affectio und afficere als Einwirkung und einwirken wurden in der Scholastik eingeführt und auch von Descartes zur Bestimmung der Einwirkung von Dingen auf die Sinne genutzt. Vgl. René Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1996, II, 1. Bei Kant wird der Begriff der Affektion zum Schlüsselbegriff, denn Affektion als grundlegende äußere und innere Einwirkung auf die Erfahrung ist für Kant die notwendige und objektive Bedingung der Anschauung und damit der Art, wie wir uns selbst und wie uns die äußeren Dinge erscheinen. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, B 33 und B 152 f. Siehe auch: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 100 f. 22 Im Unterschied zur vorliegenden affekttheoretischen Perspektivierung immanenter Kausalität untersucht Katja Diefenbach in ihrer umfangreichen Studie, wie Spinozas Modell immanenter Kausalität über Althusser in den Marxismus und die postmarxistische Philosophie eingezogen ist. Sie weist das Prinzip der immanenten Kausalität als Leerstelle der materialistischen Philosophie aus und führt mit Althusser (und gegen Hegel) Spinoza als den metaphysischen Vorläufer des strukturalistischen Marxismus vor, der sich in ganz unterschiedlichen Linien seit Mitte der 1960er Jahre entwickelt hat. Vgl. Katja Diefenbach, Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie, Wien / Berlin 2018.

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Definition dessen andeutet, was wir heute unter Affektion und Affekt verstehen, bleibt ihre relationale und dynamisch übergreifende Verfasstheit schwer zu greifen und erfordert ein Umdenken in den theoretischen Grundlagen. Die Rede von Affektion und Affekt ist damit in gewisser Weise auch eine heuristische Konstruktion, durch die die immanente Kausalität und die relationalen Verbindungen mannigfaltiger Entitäten erfassbar werden. Mit der Bestimmung eines umfassenden Affektionsgeschehens zeigt sich die Resonanz des menschlichen Individuums in seiner materiellen wie in seiner ideellen Umgebung. Dabei wird eine unhintergehbare und unreduzierbare Äußerlichkeit sichtbar, die es nicht erlaubt, das menschliche Individuum als gegeben vorauszusetzen. Affectio und affectus werden also im Folgenden vorerst als immanente Wirkungen beschrieben, die das Vermögen des Individuums voraussetzen, in einem imaginären Raum der Ideen wie auch in einem realen Raum der Körper affiziert zu werden und zu affizieren. Dieses Vermögen soll als Affektfähigkeit des menschlichen Individuums ausgewiesen werden und je größer diese Affektfähigkeit ist, desto größer ist die Fähigkeit, die kausalen Verhältnisse im Gesamtzusammenhang der Natur zu erkennen und durch diese Erkenntnis zu Freiheit und Handlungsmacht zu gelangen. So ergibt sich die Macht eines Individuums aus den dynamischen Verhältnissen von Ruhe und Bewegung, in die es eingelassen ist und an die seine Aktivität und seine Passivität gebunden sind. 23 Dabei ist die reversible Umkehrung dieses Verhältnisses von Aktivität und Passivität zentral, denn eines der wichtigsten Ziele der Ethica als Ethik besteht darin, Passivität in Aktivität umzuwandeln und durch die Erkenntnis der kausalen Zusammenhänge des Affektionsgeschehens handlungsfähig und frei zu werden, d. h. nicht von Affektionen und Affekten beherrscht zu werden, sondern unter eigenem Gesetz zu stehen. 24

23 Im Unterschied zur Grundlegung der Macht als eines ontologischen Grundbegriffs geht es hier also um Affektion und Affekt als Grundbegriffe, durch die funktionale Strukturprinzipien des immanenten Zusammenhangs der Entitäten ausgewiesen werden. Würde man den Machtbegriff in einer solchermaßen überindividuellen Funktion ausbuchstabieren, so bliebe lediglich ein metaphysisch hypostasiertes Seinsprinzip, das als nicht weiter erklärbar auf eine allgemeine Natur zurückgeführt werden müsste. Affektion hingegen lässt sich als eine immanente Operation ausweisen, die überall dort wirksam wird, wo die Einheit des Körpers und der Ideen auf andere Einheiten von Körpern und Ideen tritfft und diese in ihrer Macht fördert oder hemmt. Vgl. zum Begriff der Macht als Grundbegriff im Denken Spinozas Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013. Zu Aktivität und Passivität und der sich daraus ergebenden Bestimmung von Macht vgl. auch Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997. 24 Auf die Annahme, dass das Konstitutionsverhältnis, das hier mit der Bestimmung der Macht der Affekte ausgewiesen wird, allumfassend und unausweichlich ist, kommen wir noch zurück. Und zwar vor allem im Kontext der Foucaultschen Diskussion von Macht als einem immersiven Prinzip

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Es dürfte nun bereits deutlich geworden sein, dass die folgende Auseinandersetzung mit der Affekttheorie Spinozas sich nicht um die Bestimmung einzelner Gefühle in ihrer intentionalen Ausrichtung oder ihrer phänomenalen Zuständlichkeit dreht. Vielmehr wird hier die Konzeption eines Affektbegriffs verfolgt, die die Heteronomie des Affektionsgeschehens und die immersive Einlassung des menschlichen Individuums in äußere Zusammenhänge deutlich macht. Die Bemühungen um eine ontologische Umwertung individueller Affekte und eine Rehabilitierung ihres grundlegend affirmativen und immanenten Charakters haben selbst bereits eine kleine Tradition hervorgebracht, die nicht auf ihre Thematisierung als individuelle Leidenschaften, Stimmungen und Gefühle und nicht auf einzelne Gefühlsphänomene wie etwa Angst, Scham oder Trauer beschränkt ist. 25 Das Ziel der Verbindung des metaphysischen Rahmens der Ethica mit der Frage nach dem menschlichen Individuum und seiner Individuation in Affektionszusammenhängen ist es auch, die fruchtbare Paradoxie einer antiindividualistischen Konzeption des Individuums aufzuzeigen. Mit der folgenden Aufschließung der ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen soll deutlich gemacht werden, dass Spinoza eine höchst dynamische Konzeption von Individualität verfolgt und die Einzelnheit und Selbständigkeit des Individuums nicht substanziell denkt, sondern von äußeren Affektionszusammenhängen und letztlich vom Zusammenhang des Ganzen einer Natur her, die dem Menschen nicht gegenübersteht, sondern von der er ein Teil ist. 26 und von Kritik als der »Kunst nicht dermaßen regiert zu werden«. Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992. 25 Seit Ende der 1990er Jahre ist vielfach die Rede von einem affective turn, der sich in verschiedenen Feldern kritischer Kulturtheorie niedergeschlagen hat und in dem die Diskussion der Affekte zu einem produktiven Forschungsrahmen geworden ist. Der allgemeinste Nenner dieser in sehr heterogenen Feldern geführten Diskussion besteht wohl darin, ein kritisches Verständnis des durch Affektionen geprägten Lebens in den Umwelten unserer Gegenwart zu gewinnen. Dabei soll der Begriff des Affekts die immersive Einlassung des menschlichen Individuums in Affektionszusammenhänge aufzeigen und diese nicht zuletzt auch kritisch als Machtzusammenhänge ausweisen. Jenseits der allgemeinen Feststellung eines affective turn hängt die Auseinandersetzung darüber, was mit dem Begriff Affekt eigentlich gemeint ist, aber von der jeweiligen disziplinären Zugangsweise ab. Dementsprechend ist das Feld der sogenannten affect studies umstritten und es gibt neben psychologischen und neurobiologischen Studien interaktionistische und entwicklungspsychologische Perspektiven, aktivistisch-politische Interventionen und auch metaphysische Zugänge, die sich locker an die philosophische Tradition anbinden und diese nutzen. Spinozas immanente Ontologie und die sich daraus ergebende Affekttheorie finden hier einen bemerkenswerten Resonanzraum, weil in ihnen die immersive Einlassung des Individuums in affizierende Umwelten abgebildet und mit empirisch ausgerichteten Forschungsfragen zu produktiven Anschlüssen geführt werden kann. Vgl. zur Bedeutung Spinozas in diesem Feld das Vorwort von Michael Hardt in: Patricia Ticineto Clough (Hg.), The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham 2007, sowie Jan Slaby / Christian von Scheve (Hg.), Affective Societies. Key Concepts, London / NewYork 2020. 26 In dieser Richtung wären auch Fragen einer allgemeinen Ökologie an Spinoza anzuschließen, die, wie die Ethica auch, einerseits Ontologie sein müsste, weil sie die elementaren Strukturen der

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Zurück zu Spinoza

Die vorliegende Untersuchung nimmt sich mit Baruch de Spinoza einen der wichtigsten Denker und eines der ambitioniertesten Werke der Philosophiegeschichte zum Ausgangspunkt. Die Veröffentlichung seines unumstrittenen Hauptwerks Ethica erfolgte noch im Jahr seines frühen Todes 1677 in den von Freunden herausgegebenen Opera posthuma in Amsterdam. 27 Spinoza behandelt in der Ethica ganz verschiedene Teilbereiche der Philosophie, und ihre unterschiedlichen Sätze bilden ein hochgradig durchformtes System verschiedener Erläuterungen für das, was als wahr bewiesen werden soll. Ihr Aufbau orientiert sich an der euklidischen Geometrie und ist gegliedert nach Definitionen, Axiomen, Postulaten, Propositionen, Demonstrationen und Anmerkungen. 28 Jede Proposition eröffnet einen neuen Schritt der Argumentation und leitet sich gleichzeitig aus den vorhergehenden Beweisführungen her. Durch die Verweisstruktur wird der systematische Zusammenhang der einzelnen Teile gewährleistet, die zwar unterschiedlichen philosophischen Disziplinen angehören, aber in der übergeordneten Argumentation miteinander aufgehen. 29 In Wirklichkeit bestimmt, und andererseits Ethik, weil sie die normativen Bedingungen der Kontinuität von Mensch und Natur untersucht. Vgl. den kurzen und eher praktisch ausgerichteten Vorschlag von Anthony Paul Smith, »The Ethical Relation of Bodies: Thinking with Spinoza Towards an Affective Ecology«, in: Beth Lord (Hg.), Spinoza Beyond Philosophy, Edinburgh 2012, S. 48–65. Sowie: Genevieve Lloyd, Part of Nature: Self-knowledge in Spinoza’s Ethics, Ithaca und London 1994 und Hasana Sharp, Spinoza and the Politics of Renaturalization, Chicago 2011. 27 Der historische Kontext der Entstehung der einzelnen Schriften, wie auch ihr innerer Zusammenhang und ihre Aufnahme, sind dargestellt in: Piet Steenbakkers, »The Textual History of Spinoza’s Ethics«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, Cambridge 2009, S. 26–41 und in den Einleitungen der Einzelausgaben. Zum politischen und ideengeschichtlichen Kontext einer radikalen Aufklärung vgl.: Jonathan Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, New York 2001. 28 Vgl. zur Methode und ihrer Einlösbarkeit die umfangreiche Darstellung von Roland Braun, Metaphysik und Methode bei Spinoza. Eine problemorientierte Darstellung der Ethica ordine geometrico demonstrata, Würzburg 2017, besonders S. 21–59. Zur geometrischen Methode sind auch die Ausführungen des Mathematikers und Philosophen Alain Badiou zu beachten, der zu dem Schluss kommt, dass das unendliche Sein nur durch den mos geometricus zu denken ist. Vgl. Alain Badiou, »Spinoza’s Closed Ontology«, in: ders., Theoretical Writings, London 2004, S. 81–93. Zum widersprüchlichen Zusammenhang der dogmatischen Darstellungsweise im mos geometricus und den Freiheitseffekten, die sich genau aus dieser Darstellungsweise ergeben, vgl. auch die Ausführungen Althussers zu seiner Auseinandersetzung mit Spinoza in: Louis Althusser, Materialismus der Begegnung, Zürich 2010, S. 103–123. Zu Spinozas Gebrauch der Mathematik als Wissenschaft der Erlösung vgl. Françoise Barbaras, Spinoza: la science mathématique du salut, Paris 2007. 29 Deleuze hat auf den Unterschied zwischen dem streng sachlichen Verlauf der Lehrsätze und ihrer Beweisstruktur und den eher essayistisch anmutenden und lebensweltlich orientierten Anmerkungen hingewiesen. Er betont, dass die Vermittlung rationaler und lebensweltlicher Ansprüche kein Widerspruch ist und die Ethica sich gerade durch diese Überschreitung eines

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dieser Systematik wird die Transparenz des Beweisgangs hergestellt, denn Spinoza hält bestimmte Erkenntnisse im Bereich der theoretischen Philosophie für so zwingend, dass andere Einsichten im Feld der praktischen Philosophie erst durch diese Systematik gewonnen werden können. 30 Der thematischen Vielschichtigkeit steht eine geometrische Strenge gegenüber, die den Gang der Argumentation leitet. Aus dieser Systematik ergeben sich verschiedene übergreifende Anknüpfungspunkte an psychologische, moraltheoretische oder politische Fragen, die eher in den Anmerkungen als im Verlauf des mos geometricus und vor allem in den politischen Traktaten Tractatus theologico-politicus und Tractatus politicus behandelt werden. Über die Ethica hinausgehend sind auch die anderen Schriften Spinozas und der Briefwechsel einzubeziehen, denn auch der kurze Traktat über Gott, den Menschen und dessen Glück und die Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes enthalten wesentliche Aspekte der Erkenntnistheorie und der Theorie des menschlichen Geistes, die dann in der Ethica ausgeführt wurden. Beide Texte geben Einblicke in die Argumentation des erst posthum in den Opera erschienenen Hauptwerks, und auch die 1663 im Anhang zu Spinozas erster Schrift, Descartes' Prinzipien der Philosophie, zu findenden Cogitata Metaphysica enthalten Überlegungen, die dann in der Ethica wiederaufgenommen wurden. So gehen zwar auch die anderen Schriften in die vorliegende Untersuchung ein, ihren systematischen Mittelpunkt bildet aber die Ethica, zumal erst in ihrer Komposition der voraussetzungsvolle und hoch durchformte Charakter der Theorie der Individuation deutlich wird.

strengen philosophischen Rationalismus auszeichnet. Deleuze macht drei Ethiken in der Ethica aus, deren gelungene Bestimmung hier angeführt werden soll. »Die Ethik der Definitionen, Axiome und Postulate, Beweise und Folgerungen ist ein Strom-Buch, das seinen Lauf entfaltet. Aber die Ethik der Anmerkungen ist ein Feuer-Buch, ein unterirdisches Buch. Die Ethik des fünften Teils ist ein Luft-Buch, ein Licht-Buch, das sich in Blitzen entwickelt. Eine Logik des Zeichens, eine Logik des Begriffs, eine Logik der Wesenheit: Schatten, Farbe und Licht. Jede der drei Ethiken bleibt neben den anderen bestehen und reicht in die anderen hinein, trotz ihrer Wesensunterschiede. Sie sind ein und dieselbe Welt. Jede schlägt ihre Brücken, um die Leere, die sie voneinander trennt, zu überwinden.« Gilles Deleuze, »Spinoza und die drei ›Ethiken‹«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a. M. 2000, S. 204. Siehe dazu auch: »Brief an Réda Bensmaïa über Spinoza«, in: Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 237 ff. 30 Dieser Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie ist für Deleuze einer der wesentlichen Apekte gewesen und dementsprechend hat er sein zweites Buch zu Spinoza von 1981 unter den Titel Spinoza. Philosophie pratique gestellt. Er bemerkt hier, dass es, um die ambivalente Stellung Spinozas in der Philosophiegeschichte zu verstehen, nicht ausreicht, sich »den großen theoretischen Leitsatz des Spinozismus in Erinnerung zu rufen: daß es nur eine einzige Substanz gibt, die unendlich viele Attribute hat [. . . ]«. Es genüge nicht, nur zu zeigen, dass sich Pantheismus und Atheismus in ihrer Verneinung eines transzendenten Schöpfergottes kombinieren. Man müsse vielmehr, so Deleuze, »von den praktischen Thesen ausgehen, die den Spinozismus zum Skandal gemacht haben«. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 27.

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Die Rezeptionsgeschichte Spinozas ist selbst bereits eine kleine Geschichte der Philosophie von der Frühneuzeit bis in die Gegenwart, und in ihr haben sich unterschiedliche Verdichtungen und Rezeptionshöfe gebildet. 31 Die Stellung Spinozas in der Philosophiegeschichte ist vielschichtig und missverständlich, seine Charakterisierung so polemisch wie euphorisch und vielfach von Vorurteilen und ad hominem Argumentationen bestimmt. 32 Daher besteht der einzige Weg, heute einen Zugang zu diesem Denker zu finden, darin, wie Althusser es gefordert hat, zu ihm zurückzukehren, sein Denken neu zu arrangieren, ihm von heute her voranzugehen und ihn dadurch neu hervorzubringen. 33 Für diese Form der Auseinandersetzung steht vor allem Gilles Deleuze, für den es darum ging, »Spinoza von der Mitte her wahrzunehmen und zu verstehen« und sein Denken nicht zu zergliedern, sondern in seinen doppelten Perspek-

Zur Wirkungsgeschichte seien hier exemplarisch genannt: Norbert Altwicker (Hg.), Texte zur Geschichte des Spinozismus, Darmstadt 1971. Pierre Bayle, Artikel »Spinoza«, in: Historisches und kritisches Wörterbuch, Darmstadt 2003, S. 359–439. Hanna Delf / Julius H. Schoeps / Manfred Walther, Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994. Eckart Förster / Yitzhak Y. Melamed (Hg.), Spinoza and German Idealism, Cambridge 2012. Michael Hampe / Robert Schnepf, Baruch de Spinoza. Ethik, Berlin 2006. Jonathan Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, New York 2001. Pierre Macherey, »Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Spinoza. Ein Gespräch mit Pierre Macherey«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft V / 1 (Schwerpunkt: Spinoza), Marbach 2011, S. 5–14. Pierre-François Moreau, »Spinoza’s reception and influence«, in: The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge 1996. Rüdiger Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994. Winfried Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987. Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich (Hg.), Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Canstatt 2002. Manfred Walther (Hg.), Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg 1992. Yirmiyahu Yovel, Spinoza and Other Heretics. The Marrano of Reason (Volume I), The Adventure of Immanence (Volume II), Princeton 1989. Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza, Minneapolis 1997. 32 Die Motive dieser impliziten Tonlagen in der Spinoza-Rezeption zu untersuchen, wäre eine eigene Arbeit wert. So führt etwa die philosophiegeschichtliche Zuordnung zum Rationalismus dazu, dass die intensive Behandlung der Affekte häufig übersehen wird, was sowohl am Einfluss einer Aufklärungsphilosophie liegt, die in Spinoza lediglich einen dogmatischen Metaphysiker sieht, als auch an einem Verständnis von Philosophie als Wissenschaft, das die historischen Texte lediglich ausgehend von metaphysischen, naturwissenschaftlichen oder erkenntnistheoretischen Fragen behandelt. Für eine Kritik derartiger Reduktionen und Vereinseitigungen des Denkens der Frühneuzeit vgl. Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997, S. 15 ff. und dies., »The Passions in Metaphysics and the Theory of Action«, in: Daniel Garber / Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Vol. I, Cambridge 1997, S. 913–949. 33 Die spezifische Gegenwärtigkeit der Philosophie Spinozas und ihre Aufnahme besonders bei Althusser und Deleuze bestimmt Friedrich Balke in einer subtilen Interpretation. Vgl. ders., »Die größte Lehre in Häresie. Über die Gegenwärtigkeit der Philosophie Spinozas«, in: Pierre-François Moreau, Spinoza. Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 135–188. 31

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tiven und seinen Paradoxien aufrechtzuerhalten. 34 Während Deleuze immer wieder deutlich gemacht hat, wie wichtig Spinoza für sein eigenes Denken war, gibt es in jüngerer Zeit vielfache Anverwandlungen, die ihren gewichtigen Vorgänger eher verschleiern oder auf altbekannte Probleme reduzieren. 35 Mir geht es im Folgenden nicht um eine Auseinandersetzung mit den aktuellen impliziten oder expliziten Bezugnahmen auf das Denken Spinozas, sondern um eine tiefe und zugleich offene Interpretation seines Systems, die sich nicht von den gängigen Zuschreibungen eines starren Determinismus, eines exklusiven 34 »Essayer de percevoir et de comprendre Spinoza par le milieu«, heißt es bei Deleuze. Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza. Philosophie pratique, Paris 1981, S. 161. Deleuze sieht verschiedene Ebenen im Denken Spinozas und charakterisiert die Doppelung eines extrem ausgearbeiteten Rahmens und einer inneren Kraft. Er zeigt die Möglichkeit einer doppelten Lektüre auf: »einerseits systematisch, auf der Suche nach der Idee des Ganzen und der Einheit der Teile, andererseits aber, gleichzeitig, die affektive Lektüre, ohne Idee des Ganzen, in die man hineingerissen oder gestellt wird, in Bewegung oder Ruhe versetzt, heftig bewegt oder beruhigt entsprechend der Geschwindigkeit dieses oder jenes Teils«. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 167 f. Macherey beschreibt die Vorgehensweise von Deleuze als ein Vordringen ins Innere, als einen Versuch, sich ins Innere der Theorie zu versetzen, dorthin, wo sich das Werk lebendig entwickelt. Dabei geht es nicht um eine formale oder abstrakte Untersuchung, sondern darum, anhand einer philosophischen Intuition in das Werk einzudringen, es von innen heraus neu sichtbar zu machen und in seinen gedanklichen Bewegungen hervorzubringen. Vgl. Pierre Macherey, »In Spinoza denken«, in: Friedrich Balke / Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 55 f. Bergson bestimmt diese Form der Intuition gerade anhand der Philosophie Spinozas, die für ihn, durch den Kontrast zwischen Form und Inhalt, hinter einer »gewaltigen Masse von Begriffen, die dem Cartesianismus und dem Aristotelismus verwandt sind«, eine tiefe, eindrucksvolle Intuition zeigt, die durch keine Formel ausgedrückt werden kann. Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 132. 35 So beschreibt Balibar, wie er aus einer tiefen Auseinandersetzung mit der Ontologie heraus einen Übergang vom Begriff der Individualität zum Begriff der Transindividualität findet, während er z. B. bei Simondon eine zutiefst spinozistische Argumentation um den Begriff der Transindividualität herum aufgebaut sieht, die eben nicht auf Spinoza zurückgeführt, sondern lediglich über die Zuschreibung vermeintlich bekannter Probleme an ihn von ihm abgegrenzt wird. Vgl. Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, Delft 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71), S. 10, sowie Gilbert Simondon, L’individuation psychique et collective à la lumière des notions de Forme, Information, Potential et Métastabilité, Paris 1989. Ders., Une pensée de l’individuation et de la technique, Paris 1994. Zur Auseinandersetzung Simondons mit Spinoza siehe auch: Filippo Del Lucchese, »Monstrous Individuations: Deleuze, Simondon, and Relational Ontology«, in: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, 20/2–3 (2009), S. 179–193. Berücksichtigung findet Spinoza in David Scotts Auseinandersetzung mit Simondon: Ders., Gilbert Simondon’s Psychic and Collective Individuation, Edinburgh 2004. Zu Simondons relationistischer Individuationstheorie vgl. auch Alberto Toscano, The Theatre of Production. Philosophy and Individuation between Kant and Deleuze, New York 2006, S. 136–156, sowie: Gilles Deleuze, »Gilbert Simondon, Das Individuum und seine physikobiologische Genese«, in: Gilles Deleuze, Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, Frankfurt a. M. 2003, S. 127–132. Und zur Überschreitung der Differenzphilosophie bei Deleuze und Simondon in Richtung einer allgemeinen Individuationstheorie vgl.: Emmanuel Alloa / Judith Michalet, »Differences in Becoming. Gilbert Simondon and Gilles Deleuze on Individuation«, in: Philosophy Today 61/3 (2017), S. 475–502.

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Rationalismus oder einer holistischen Negation von Individualität und individueller Freiheit beirren lässt. Spinoza von der Mitte her zu verstehen, heißt für mich, die immanente Anlage des Systems zu erfassen, auf einen zentralen Punkt zu beziehen und sich von da in verschiedene Richtungen zu bewegen. Auf diese Weise lassen sich Fragen an die Theorie stellen und an sie anschließen, die für Spinoza selbst noch nicht thematisch werden konnten, die aber in unserer Gegenwart und durch unsere Gegenwart in bestimmter Weise herausgefordert werden. Die vorliegende Untersuchung versteht sich in diesem Sinne als eine Arbeit an theoretischen Grundlagen, von denen ausgehend die Stellung des menschlichen Individuums in der Welt und inmitten anderer Individuen zu verstehen und eben vielleicht sogar zu überdenken ist.

Aufbau und Kapitelübersicht

Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung ist einer ausführlichen Darstellung der immanenztheoretischen Voraussetzungen gewidmet, auf die Spinoza sein philosophisches System aufbaut. Dabei geht es zuerst darum, vorphilosophische Annahmen auszuschließen, die das ontologische Modell der Wirklichkeit, wie wir es im ersten Teil der Ethica finden, fundieren und implizit beherrschen könnten. Gegen solche Voraussetzungen wird die paradoxe Formel einer Essenz gesetzt, die ihre Existenz notwendig einschließt und Ursache ihrer selbst [per causam sui] ist. Diese Begründung der Selbstursächlichkeit des Ganzen ist die Grundlage für die nominale Explikation der immanenten Wirklichkeit anhand der nachfolgenden Begriffe der Substanz, der Attribute und der Modi. Bevor die einzelnen Elemente der Ontologie Spinozas ausführlich dargestellt werden, wird das Prinzip der Selbstursächlichkeit in I.2 von Deleuzes Konzeption einer »Differenz an sich selbst« (différence en elle-même) her beleuchtet, die ebenfalls von der Frage ihren Ausgang nimmt, wie in der Philosophie ein wahrer Anfang zu finden ist, der nicht auf außerphilosophische Vorannahmen aufbaut. Bevor Spinozas Substanzkonzeption dann in I.4 von Descartes' Unterscheidung der res extensa und res cogitans her betrachtet werden soll, geht es in I.3 darum zu klären, wie seine Vorstellung Gottes mit der immanenten Ontologie einer unbedingten und unendlichen Substanz verbunden ist. In I.5 wird die Aufteilung der Substanz in die Attribute besprochen, die der menschlichen Erkenntnis zugänglich sind, und in I.6 wird Spinozas Substanzkonzeption noch einmal in einem Exkurs zu Deleuze betrachtet, der Substanz als ein Ausdrucksgeschehen ansieht, das vollständig in seinen modalen Formen aufgeht. Abschnitt I.7 dreht sich dann um die Modi, die Spinoza für Affektionen von Substanz hält, und an dieser Stelle rückt erstmals der Vorgang der Affektion

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ins Bild, durch den sich die unendliche und unbedingte Substanz modifiziert und ausdifferenziert. Mit der Bestimmung der Modi sind wir dann auch bei der Frage angelangt, wie es überhaupt zur Herausbildung unterschiedlicher Modifikationen der einen Substanz des Ganzen kommen kann und welche Rolle die relationalen Konstitutionsverhältnisse zwischen den Modi für die Emergenz von Individuen spielen. Abschnitt I.8 thematisiert das Verhältnis von Essenz und Existenz im Monismus der einen Substanz und damit den Zusammenhang zwischen der nominalen theoretischen Substanzkonzeption und der praktischen Auslegung existenzieller Wirklichkeit. Hier wird erstmals die Unterscheidung einer pragmatischen Hinsicht, die die Existenz menschlicher Individuen betrifft, von einer ontologischen Hinsicht angeführt, die den Monismus der ganzen Substanz betrifft. Die Unterscheidung dieser Hinsichten kennzeichnet das durchgehende Problem der Vermittlung des Einzelnen und des Ganzen, und sie wird im zweiten Teil, der sich um Affekte und Körper dreht, wie auch im dritten Teil zu Individuation und Macht wie eine gliedernde doppelte Perspektive fortgeführt. Im zweiten Abschnitt des ersten Teils der vorliegenden Untersuchung geht es zuerst um die zwei Seiten der Natur, die Spinoza mit der scholastischen Unterscheidung von natura naturans und natura naturata kennzeichnet. Mit dieser Unterscheidung von schaffender und geschaffener Natur wird seine Vorstellung einer dynamischen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen wandelbaren Welt deutlich, die sich von ihrer Essenz abheben kann und nicht nur determiniert ist. Ein Exkurs in diesem Abschnitt dreht sich um die Frage der Vollkommenheit der Individuen in der einen Natur und um die Herausbildung von Normen als Potentialitäten, die nicht aus der Natur herzuleiten sind, sondern sich erst im Moment ihrer Wirkung realisieren. Mit dem dritten Abschnitt des ersten Teils sind wir dann bei Spinozas Erkenntnistheorie angelangt, und an dieser Stelle geht es erstmals wirklich um den Menschen und die menschliche Erkenntnis (III.1). Dabei wird in III.2 zuerst die parallelistische Grundeinstellung der Erkenntnis in ihren unterschiedlichen Perspektiven bestimmt, die sich aus den Attributen der Ausdehnung und des Denkens ergeben, bevor die Endlichkeit des menschlichen Individuums im Unterschied zur Unendlichkeit der ganzen Substanz in III.3 als eine Bedingung adäquter Erkenntnis ausgezeichnet wird. In III.4 geht es um Spinozas Trennung adäquater Ideen von inadäquaten Ideen, bevor in III.5 die drei Arten der Erkenntnis und in III.6 Spinozas auch in sozialtheoretischer Hinsicht wegweisende Theorie der Gemeinbegriffe diskutiert werden. Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung geht es dann um die Bestimmungen der Affekte und der Körper, die die Grundlage für die Theorie immanenter Individuation bilden. Dabei dreht sich der Abschnitt I.1 um die

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zentrale Unterscheidung von affectio und affectus und um Affektion als ein Konstitutionsgeschehen im immanenten Kausalzusammenhang der Natur. In I.2 und I.3 des zweiten Teils werden Affektion und Affekt erst in ontologischer und dann in pragmatischer Hinsicht ausgewiesen, um den allgemeinen kausalen Wirkungszusammenhang von Affektionen aufzuzeigen, der den Hintergrund der Affekttheorie des menschlichen Individuums bildet. Abschnitt I.3 thematisiert die Affekttheorie in einem engeren emotionstheoretischen Sinne; hier werden die Primär- und die Sekundäraffekte in ihren Affektionsmechanismen besprochen. In I.4 des zweiten Teils wird das Prinzip der Affektion als wesentlich für das Streben der Individuen nach Selbsterhaltung, also für ihren je eigenen conatus, ausgewiesen, denn paradoxerweise ist gerade die affektive Durchlässigkeit der Individuen eine Bedingung ihrer Selbsterhaltung. Die Potentialität des Affektionsgeschehens wird in I.5 von der Bestimmung eines gleichursprünglichen Zusammenhangs von Körper und Geist, Aktivität und Passivität sowie Wirklichkeit und Möglichkeit her entwickelt, um von hier aus in I.6 zur Bestimmung einer Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit zu gelangen. Der zweite Abschnitt des zweiten Teils dreht sich um Spinozas Theorie der Körper, die, wie in II.1 ausgeführt, an die Theorie der Affekte angeschlossen und dieser nicht vorgeordnet wird, da substanzielle Körper nicht unabhängig von ihrer Konstitution in Affektionszusammenhängen vorausgesetzt werden können. Auch mit Blick auf die Theorie der Körper wird zwischen einer ontologischen und einer pragmatischen Hinsicht unterschieden, wobei unterschiedliche Körper, wie in II.2 gezeigt wird, ontologisch nicht als unterschiedliche Substanzen, sondern lediglich als unterschiedliche Modi der einen Substanz bestimmt werden können. Aus den pragmatischen Affektionszusammenhängen von Körpern ergibt sich nun wiederum ihre Potentialität, und mit der pragmatischen Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, steigert sich, wie dann in II.3 dargestellt wird, die Wirkungsmacht des Körpers und damit auch die Wirkungsmacht des Geistes. In II.4 wird die Proportionalität von Körpern in Ruhe und Bewegung dargestellt, wie sie sich aus Spinozas kleiner Physik ergibt und für die antiessentialistische Konzeption des Individuums und der Individuation maßgebend ist. Der dritte und abschließende Teil der vorliegenden Untersuchung handelt von Individuation und Macht, wobei das Thema der Individuation zuerst (I.1) als ein klassisches Thema der Metaphysik ausgewiesen und von da auf die Frage der Individuation in Affektionszusammenhängen übertragen wird. Die Bestimmung von Individuation in ontologischer Hinsicht (I.2) erläutert die Individuation des Einzelnen aus dem Ganzen und die Unterscheidung einfacher und vielfacher Individuen, die dann für die Frage der Macht vielfacher

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Individuen im Kontext der politischen Philosophie wichtig wird. Ein weiterer Exkurs in I.3 dieses Abschnitts des dritten Teils dreht sich um Hegels Kritik an Spinozas Individuationsdenken, die darauf hinausläuft, dass es bei Spinoza keine Individualität geben könne. In I.4 geht es um die pragmatischen Dimensionen der Individuation in den parallelen Zusammenhängen des Denkens und der Ausdehnung, bevor wir in I.5 Individualität und Transindividualität thematisieren und das Affektionsgeschehen als eine grundlegende Form der Transindividualität ausweisen, ohne die auch Individualität nicht zu verstehen ist. Ein weiterer Exkurs (in I.6) dreht sich um Balibars radikale Konzeption von Individualität als Transindividualität und um die affektive Konstitution transindividuell verfasster vielfacher Individuen, von der ausgehend die Verbindung von Ontologie und Politik und die Bestimmung von Macht im abschließenden Teil vorbereitet wird. Dieser letzte Teil der Untersuchung erläutert Macht als ein Prinzip der Individuation (II.1), denn Macht ist für Spinoza die dynamische Essenz eines jeden Individuums und ergibt sich proportional zur Erkenntnis der Affektionszusammenhänge, in denen Individuen stehen. In II.2 wird Macht in ontologischer Hinsicht und als potentia ausgewiesen, in II.3 dann in pragmatischer Hinsicht und als potestas, wobei diese beiden Konzeptionen von Macht als aufeinander aufbauend ausgewiesen werden sollen. Der Abschnitt II.4 dieses letzten Teils dreht sich schließlich um Spinozas Konzeption einer potentia multitudinis, wie sie in seiner politischen Philosophie zu finden und für verschiedene zeitgenössische Diskussionen im Kontext der politischen Theorie bedeutsam geworden ist. In einem abschließenden Exkurs wird der Einfluss der spinozanischen Machtkonzeption auf das Denken Foucaults und dessen Analyse von Machtverhältnissen als Konstitutionsverhältnissen dargestellt, wie sie zur Grundlage einer immanenten Ethik gemacht werden könnten, auf die zuletzt ein kurzer Ausblick gegeben wird.

Erster Teil: Immanenz als Voraussetzung

I Immanente Ontologie

I.1 Der Anfang als Ursache seiner selbst (causa sui)

Spinoza verbindet mit seinem Hauptwerk Ethica den Anspruch einer umfassenden und abschließenden Erklärung aller für die Fragen der Ethik relevanten Bereiche der Philosophie. Dabei geht es nicht nur um die im engeren Sinne praktische Philosophie der Affekte, der Macht und der Freiheit, sondern auch um deren theoretische Rahmung durch eine Ontologie und eine sich daraus ergebende Erkenntnistheorie. Um seinem umfassenden Anspruch gerecht zu werden, theoretische und praktische Philosophie ineinander abzubilden, stellt Spinoza eine ontologische Theorie der elementaren Dimensionen der Wirklichkeit an den Anfang seines Hauptwerks. 1 Dabei werden alle außerphilosophischen oder vorphilosophischen Annahmen vermieden, die das ontologische Modell der Wirklichkeit in einer letzten Begründung fundieren und das System implizit beherrschen könnten. Mit dieser Vorgehensweise ist bereits eine Kritik unreflektierter Voraussetzungen verbunden, die in das philosophische Denken eingehen könnten. 2 Spinoza bewältigt die Herausforderung, einen voraussetzungsneutralen Anfang für sein Denken zu finden, indem er eine nominale Setzung einer ersten Essenz vornimmt, die Ursache ihrer selbst ist und damit ihre eigene Existenz begründet: »Unter Ursache seiner selbst [per causam sui] verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann (E1d1).« 3 Mit dieser paradoxen Formel einer Essenz, die Ursache ihrer eigenen Existenz ist, wird etwas vorausgesetzt, das nicht nicht existieren kann und damit die Qualität seiner eigenen Existenz in sich einschließt. Das paradoxe Prinzip der causa sui bildet eine immanente Selbstursache, d. h., Spinoza stellt eine sich selbst erzeugende Zum grundsätzlichen Verständnis der Ontologie vgl. Konrad Hecker, Spinozas allgemeine Ontologie, Darmstadt 1978. 2 Die Notwendigkeit dieser Kritik der Voraussetzungen des Denkens hat Hegel auf den Punkt gebracht: »Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein. Die Seele muß sich baden in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist diese Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muß; es ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a. M. 1996, S. 165. Auf das Verhältnis Hegels zu Spinoza kommen wir im dritten Teil unter dem Aspekt der Individuation wieder zurück. 3 »Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam, sive id, cujus natura non potest concipi nisi existenz.« 1

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Unterscheidung an den Anfang, um die Emergenz seines Systems voraussetzungskritisch und ohne transzendente Herleitungen aufzubauen. 4 Mit dem Begriff der causa sui wird die nominale Explikation der immanenten Wirklichkeit anhand der nachfolgenden Begriffe der Substanz, der Attribute und der Modi eingeleitet und deren radikal immanente Konzeption gesichert. Die Konzeption der Selbstursächlichkeit zeigt gerade nicht Gottes Macht an, sondern ist vielmehr ein ontologisches Argument, durch das die Existenz Gottes und damit der Substanz aus sich selbst begründet werden kann; sie zeichnet nicht etwa eine wirkende Ursache aus, sondern vielmehr den formalen logischen Zusammenhang der Essenz und der Existenz Gottes. 5 Mit dieser selbstursächlichen Begründung der Wirklichkeit macht Spinoza gleich zu Beginn deutlich, dass das Prinzip der Immanenz der absolute Horizont der Philosophie sein muss und jede letzte Begründung aus etwas anderem ersetzt. Der paradoxe Charakter des causa-sui-Prinzips geht gerade aus dieser Selbstursächlichkeit und Selbstbezüglichkeit hervor und besteht darin, dass die Unterscheidung von Essenz (essentia) und Existenz (existentia) nicht aufrechterhalten, die essentia vielmehr von vornherein nur als existierend begriffen werden kann. 6 Die Struktur dieser Paradoxie besteht in einer im Denken vorDie problematische Situation des Anfangs, mit der jede Theorie konfrontiert ist, die den Anspruch einer umfassenden und allgemeinen Geltung erhebt, reflektiert auch Thomas Kisser zu Beginn seiner Untersuchung zu Spinozas Theorie der Individualität. Allerdings bringt Kisser diese Ausgangslage nicht mit dem von Spinoza an die erste Stelle gesetzten Prinzip der causa sui in Verbindung, sondern markiert eher ein theoriestrategisches Problem. »Erhebt eine Theorie den Anspruch allgemeiner Geltung, muß sie sich selbst als Sprechakt in die Theorie einordnen und als solcher aus ihr erklären, die Theorie muss sich in diesem Sinne auf sich selbst beziehen. Würde sie sich als Aussage eines externen Beobachters verstehen, zeigte sie als Inanspruchnahme eines äußeren Standpunktes die Eingeschränktheit des Prinzips, dessen Absolutheit und Umfassendheit sie gerade behauptet.« Wir haben es also im Falle metaphysischer oder ontologischer Systeme von monistischem Charakter notwendig mit einer Selbstreferenzialität zu tun, die, um ihre Absolutheit zu gewährleisten, ihre Einsatzpunkte aus sich selbst nehmen muss. »Grundproblem der Metaphysik wird damit die Realisierung dieser Selbstbezüglichkeit in der menschlichen Erkenntnis und Existenz.« Denn wenn sich das Denken auf ein vorgegebenes Erstes bezieht, erklärt es sich nicht mehr aus sich selbst, sondern ordnet sich der Fremdreferenz unter. Hieraus ergibt sich die Problematik einer »allgemeinen Zirkularität im Gang der metaphysischen Theoriebildung«, der sich Spinoza sehr bewusst gewesen sein dürfte und wegen der er seinen paradoxen Ausgangspunkt in der Selbstursächlichkeit der Substanz suchte. Vgl. Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, Würzburg 1998, S. 9 f. 5 Vgl. zur Begründung dieses Zusammenhangs von essentia und existentia auch die Bemerkungen von: László Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik. Freiburg / München 2014, S. 123. 6 Robert Schnepf diskutiert die Frage der Funktionsweise der zentralen metaphysischen Begriffe Spinozas anhand der Figur des in se esse, dessen selbstreflexive Struktur auch in anderen Bestimmungen, wie etwa der der causa sui, zu finden ist. Er führt die drei paradigmatischen Spinoza-Interpretationen von Hegel, Gueroult und Wolfson an, um zu zeigen, wie unterschiedlich 4

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geführten und nur im Denken erkennbaren Verquickung der Kategorien der Essenz und der Existenz und damit in der Zurückweisung ihrer Unterscheidung. 7 Form und Materie, Ursache und Wirkung fallen zusammen und gehen in einer Natur auf, die sich selbst enthält, auf sich selbst Bezug nimmt, sich selbst bestätigt und so eine immanente Einheit des Ganzen darstellt. Die beiden Teile der Unterscheidung von Essenz und Existenz werden ineinandergeführt und ergeben das Bild einer in sich asymmetrischen Einheit, in der sich die Ursache als Wirkung selbst produziert. Ursache und Wirkung fallen zusammen, insofern die Ursache sich in ihrer Wirkung selbst hervorbringt. 8 die Interpretationen der Begriffsarbeit und des gesamten Programms der Ethica sind und inwiefern sie von ihr äußerlichen theoretischen Vorentscheidungen abhängen. Schnepf verankert den Begriff des in se esse, wie Spinoza ihn gebraucht, letztlich da, wo er herstammt, nämlich in der Tradition der allgemeinen Metaphysik, wo er der Ausdifferenzierung verschiedener Typen des Seienden dient. Eine ausführlichere Besprechung der causa sui bietet Schnepf dann in Auseinandersetzung mit Gueroults Interpretation. Vgl. Robert Schnepf, Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996, S. 16 ff. und 73 ff. 7 Die These, dass Spinoza in der Ethica »durchgehend mit logischen Paradoxien arbeitet«, wird von Werner Stegmaier stark gemacht. Er identifiziert mindestens drei Paradoxien, die aus dem Grundparadox der causa sui folgen: »die Paradoxie der Ununterscheidbarkeit von Schöpfer und Schöpfung, die Paradoxie der Erfaßbarkeit des Ganzen nur durch eines seiner Teile und die Paradoxie der Liebe Gottes zu sich selbst«. Vgl. Werner Stegmaier, »Start-Paradoxien moderner Orientierung. Über Spinozas Ethik und ihr höchstes Gut im Blick auf Luhmanns Systemtheorie«, in: Hubertus Busche (Hg.), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400– 1700), Hamburg 2011, S. 207–216. Stegmaier behauptet, dass die Paradoxien der Ethica bisher nicht thematisiert wurden – was freilich nicht stimmt, denn gerade die Paradoxien Spinozas werden häufig, wie z. B. bei Althusser, als die interessantesten Ausgangspunkte identifiziert –, sondern dass Spinoza vielmehr gerne im Ganzen als ein Paradoxon ausgewiesen werde. So beschreibt es z. B. Manfred Walther: »Vor dem Hintergrund dieses Dogmas von der Einheit von Theorie und Praxis, von Lehre und Leben, wie es die Anhänger des Überlieferten jedenfalls ihren Gegnern entgegenschleuderten, nimmt sich Spinoza als das große Paradoxon aus: keiner hat – in den Augen der Umwelt – so radikal wie er das traditionale Denken in Frage gestellt, hat Gott und Natur identifiziert, die Positivität aller überlieferten Religionen aufgewiesen, alle weltjenseitige Begründung von Moralität und Tugend abgelehnt, jeden auf des Menschen Wohl ausgerichteten Zweck im Weltlauf verneint: Er war einer der großen Betrüger, Verführer der Menschen, nein: er war der größte und gefährlichste unter ihnen.« Baruch de Spinoza, Lebensbeschreibungen und Dokumente, neu herausgegeben von Manfred Walther, Hamburg 1998, Vorbemerkungen S. X. 8 Auch Hegel diskutiert das Prinzip der causa sui und konstatiert, dass Spinoza zwar die Substanz aus sich selbst erklärt, aber nicht zu erklären vermag, was in ihr liegt. »Es ist dies ein ganz spekulativer Begriff. Wir stellen uns vor, die Ursache bewirkt etwas, und die Wirkung ist etwas anderes als die Ursache. Hier hingegen ist das Herausgehen der Sache unmittelbar aufgehoben, die Ursache seiner selbst produziert nur sich selbst; es ist dies ein Grundbegriff in allem Spekulativen. Das ist die unendliche Ursache, in der die Ursache mit der Wirkung identisch ist. Hätte Spinoza näher entwickelt, was in der causa sui liegt, so wäre seine Substanz nicht das Starre.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 168. Mit der angeblichen Starrheit dieser Substanz hat es Hegel zufolge auch zu tun, dass Spinoza das Besondere negiert und nichts Konkretes in der Substanz sieht, d. h. auch keine Individuen und keine Subjektivität. »Von der

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Die paradoxen, epistemologischen, aber selbst noch nicht ontologischen Voraussetzungen der Ontologie werden hier axiomatisch und als unbedingte Gesetze der Natur eingeführt. Dementsprechend betont Spinoza immer wieder, dass es die Natur der Substanz ist, zu existieren: »ihre Essenz schließt notwendigerweise Existenz ein, anders formuliert, zu ihrer Natur gehört es zu existieren« (E1p7dem). 9 Der essenzielle Charakter bzw. die Eigenschaft der selbstursächlichen Essenz ist Existenz, und daher kann sie nur als existierend verstanden werden. Diese Erklärung der immanenten Selbstursächlichkeit der Substanz hängt auch mit der ontologisch zwingenden Bedingungshaftigkeit von Gründen zusammen, die Spinoza u. a. in Descartes' Prinzipien der Philosophie in Form verschiedener Axiome darstellt, die er zum Teil von Descartes übernimmt. So erklärt sich die Begründung der Substanz aus sich selbst, wie sie in E1d3 vorgenommen wird, aus dem folgenden Cartesischen Axiom: »Kein Ding und keine tatsächlich existierende Vollkommenheit eines Dinges kann ein Nichts, d. h. ein Ding, das nicht existiert, zur Ursache seiner Existenz haben« (PPC1a7). 10 Der axiomatische Ausschluss des Nichts aus der Begründung von Etwas führt also zur paradoxen Begründung der Substanz aus sich selbst am Anfang des Systems, denn es kann grundsätzlich kein Ding existieren, dessen Ursache oder dessen Grund nicht auszumachen ist. Vielmehr bezieht jedes Ding seine vollständige Realität oder seine Vollkommenheit »in eminenter Weise« aus »der ersten und adäquaten Ursache dieses Dinges« (PPC1a8). Die Ursache einer Wirkung muss die Realität der Wirkung sogar in vollkommenerer Weise enthalten als diese selbst, denn wäre das nicht der Fall, »dann wäre ein Nichts in der Ursache die Ursache der Wirkung« (PPC1a8), und das ist eben ausgeschlossen. Auch die Erhaltung eines Dings und sein Verharren in der Existenz erfordern zwingend dieselbe Kraft der Ursächlichkeit wie seine erstmalige Hervorbringung (vgl. PPC1a10). Spinoza erklärt weiter, Substanz als solcher ist nichts mehr anzugeben; es kann nur von dem Philosophieren über sie und den in ihr aufgehobenen Gegensätzen gesprochen werden.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 166. Und auch Nietzsches Bemerkungen zur causa sui sind zu berücksichtigen: Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 21, KSA 5, S. 35. 9 Und dazu ebenfalls zentral E1p7: »Zur Natur einer Substanz gehört es zu existieren.« 10 Vgl. auch die Definition der Substanz im ersten Teil von Descartes’ Principia Philosophiae: René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2005, S. 57 f. Die Frage der Ursachen und der Gründe zieht sich als Bedingung der immanenten Kausalität Gottes implizit durch das gesamte Denken Spinozas, wird aber vor allem in der einzigen zu seinen Lebzeiten publizierten Schrift, nämlich in Descartes’ Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt von 1663, und im ersten Teil der Ethica behandelt. Zu einer radikalen Interpretation der Rolle von Ursachen und Gründen vgl. Michael Della Rocca, Spinoza, London 2008 und dazu die Auseinandersetzung von Ursula Renz, »Der neue Spinozismus und das Verhältnis von deskriptiver und revisionärer Metaphysik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63/3 (2015), S. 476–496.

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dass Existenz etwas Positives ist und es daher auch eine positive Ursache bzw. einen positiven Grund des Existierens geben muss, der entweder außerhalb des Dinges selbst liegt oder eben in der Natur des existierenden Dinges enthalten ist. 11 Mit dieser vorausgesetzten Gegebenheit der Dinge und ihrer Ursachen unterläuft Spinoza die negativitätstheoretische Unterscheidung von Sein und Nichtsein und weist die immanente Unendlichkeit der Substanz als Grund für die »unbedingte Bejahung der Existenz« (E1p8s1) aus. 12 Er macht die immer schon existierende Essenz zu ihrer eigenen Voraussetzung und nimmt damit die Paradoxie einer Erklärung der Essenz aus sich selbst in Kauf. 13 Auf diese Weise überwindet Spinoza die ontologische Erstunterscheidung von Sein und Vgl. PPC1a11. Diese zentrale Bedeutung der Gründe und der Ursachen als generische Bedingungen des Seins ist für die Philosophie der Frühneuzeit insgesamt kennzeichnend. Sie bezieht sich nicht allein auf den zeitlichen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, sondern vielmehr auf die aktive Hervorbringung und die Übereinstimmung im Verhältnis von Dingen und ihren Ursachen. Vgl. dazu auch Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984 und Edwin M. Curley, Spinozas’s Metaphysics: An Essay in Interpretation, Cambridge, MA 1969. 12 »Weil endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist und unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur, folgt [. . . ], daß jede Substanz unendlich sein muß« (E1p8s1). Vgl. zum Zusammenhang von Sein und Nichts in einem metaphysischen Verständnis der Moderne auch: Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016. 13 Spinozas Umgang mit dem Problem der Paradoxie ist ambivalent, d. h. er baut zwar auf die Anfangsparadoxie der causa sui auf, versucht aber im Folgenden, alles einer strengen, rationalistischen Logik zu unterwerfen. Rosalie L. Colie kommt zu dem Schluss, dass Spinoza den Gegenstand seiner Abhandlung, die Natur, zwar für paradox hält, aber gerade aus diesem Grund auf Logik, Klarheit und Eindeutigkeit aus ist. In Auseinandersetzung mit der Paradoxie in Literatur und Philosophie der Renaissance schreibt sie: »The point is that some philosophers deal paradoxically with their inevitable paradoxes, as for example, Nicholas of Cusa and Bruno, so deliberately paradoxical in their formulations; and others reject the style altogether. Spinoza is a case in point. It would be impossible to deny that Spinoza dealt in extraordinary paradoxes and effected extraordinary tautologies. After all, few philosophers have so completely devoted themselves to the rationalization of the infinite as he did. All the same, the infinite universe of Spinoza, filled with an infinite number of an infinite variety of things, was always orderly; his logic led progressively and inexorably to the total unity of mind and matter; in spite of the infinite puzzles involved in validating such a paradoxical union. Self-reference is inevitable in Spinoza’s system. [. . . ] He required his readers to understand the ineluctable logic of his views, since, for him, those views were the truth. Though about a subject naturally paradoxical, the philosophy of Spinoza is rigorously organized upon the principles of linear logic; it is noticeably stripped of verbiage, of puns, and, insofar as possible, of double meanings. The remarkable thing about the structure of Spinoza’s book is its aesthetic classicism, its genuine geometrizing of both the infinite varieties of matter and the infinite modes in which that infinite matter was also spiritual. His subject might well have encouraged paradox, but for Spinoza conviction had to be intellectual rather than emotional. The shortcuts of paradox were as unacceptable to him as they were to Galileo and to Locke: rationalist and empiricist alike turned away from the method of paradox.« Rosalie L. Colie, Paradoxia epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton 1966, S. 514 ff. 11

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Nichtsein und bringt seine gesamte Philosophie auf die Seite des Seins. 14 Alles in der Substanz Vorhandene ist als Sein und nichts als Nichts zu qualifizieren, und das bedeutet, dass alles, was ist, alles, was im Sein seiend ist, auch der Erkenntnis zugänglich und erkenntnismäßig erfassbar sein muss. 15 Da das Nichtsein in diesem Monismus der Substanz ausgeschlossen und die vorhandene Welt vollständig immanent eingeschlossen wird, erscheinen Denken und Sein in einem horizontalen Kontinuum aufeinander abbildbar. Durch den Ausschluss der Negativität aus dem immanenten Monismus der Substanz wird die vorhandene Welt für den Menschen potenziell verstehbar, und das erkenntnistheoretische Postulat der Erkennbarkeit und der Erklärbarkeit allen Seins verbürgt sich in ihrer ontologischen Gliederung und Bestimmbarkeit. Die immanente Anlage der Ontologie Spinozas, d. h. die Ausklammerung von Negativität aus dem Gesamtzusammenhang des Seins, ist also Voraussetzung für die Erklärbarkeit und die Verstehbarkeit der Natur und des Menschen in

14 Das ontologische Denken zeigt sich hier, wie allgemein im Übergang zur Neuzeit, als Reaktion auf Krisen und auf die unüberschaubare Zunahme vielfältigen Wissens, und es wird als metaphysischer Überbau der physikalischen Welt der Natur eingeführt. In dieser Situation übernimmt es eine Ordnungsfunktion, indem es das Ganze der Natur nach Gesetzen der Paradoxiefreiheit und der zweiwertigen Logik strukturiert und auf diese ordnende Weise auch begrenzt. Welt wird so zur Gesamtheit erkennbarer Entitäten, und in ihr hat das präsente Sein, das, was ist, die Vormachtstellung. Die Welt besteht in diesem Sinne aus seienden Entitäten und den Relationen zwischen ihnen, wobei die substanziell identifizierende Frage nach dem Seienden dazu führt, dessen Sein in Relationen zurückzustufen. Auf diese Weise wird die Orientierung an einer eigenständigen Substanzialität der Dinge geprägt, die am Ende prekäre Mischformen aus den Schemata ontologischer Identifizierungsarbeit ausschließt. Im Hintergrund dieses Ordnungsgeschehens arbeitet die Unterscheidung von Sein und Nichtsein als eine Zweiwertigkeit, die zugunsten der Privilegierung der Einwertigkeit des Seins verläuft. Für Luhmann bildet diese »fundierende Asymmetrie [. . . ] den Grund für alle anderen asymmetrischen Operationen der Tradition, auch für die der normativen und der ästhetischen Wertung«. Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 899. Vgl. zur sozialtheoretischen Dimension dieser Asymmetrien auch Louis Dumont, Homo Hierarchicus: The Caste System and its Implications, London 1970, sowie ders., Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt a. M./New York 1991. Sowie zu den normativen Konsequenzen metaphysischer Modelle insgesamt: Adrian Pabst, Metaphysics. The creation of Hierarchy. Michigan 2012. 15 Luhmann beschreibt diese geschlossene Ontologie mit Blick auf die Position eines Beobachters, der selbst immer nur Teil des Seinsmonismus sein kann. »Da es kein Nichts gibt, ist die als Sein oder als Seiendes bezeichnete Realität einwertig gegeben. Sie läßt sich auf eine ontischontologische Grundformel zurückführen. Das Nichts konsumiert sich sozusagen selbst. Es kann daher unbeobachtet bleiben. Als Bezeichnung im Rahmen der Unterscheidung Sein / Nichtsein kann es nur die Aufforderung ›zurück zum Sein‹ bedeuten. Das Kreuzen der Grenze von Sein und Nichtsein und zurück bringt keinen Zugewinn, es ist nichts anderes als ein Wiederauslöschen der Operation. [. . . ] Das Nichtsein ist ein notwendiges Implikat der Beobachtung des Seins.« Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O., S. 898.

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der Natur. Ontologie und Erkenntnistheorie gehen miteinander einher, weil die Erklärbarkeit der Welt erst aus der immanenten Ontologie herzuleiten ist. 16 Vor diesem Hintergrund muss auch der Determinismus bei Spinoza verstanden werden, denn die Ontologie nimmt, sofern ihre Funktion in der Bestimmung von Dingen durch Ausschluss des Unbestimmbaren besteht, einen stark normativen Zug an. 17 Eine nachvollziehbare Kritik könnte sich in diesem Sinne darauf richten, dass die immanente Ontologie einer einzigen Substanz eine positive Erklärbarkeit der Welt und der Erfahrbarkeit von Welt voraussetzt und insofern keinen Raum für prekäre Entitäten lässt, die sich ontologischen Kategorisierungsmustern entziehen. Wie im Folgenden deutlich wird, wusste Spinoza eine solche Fehlinterpretation der Immanenzphilosophie zu umgehen, indem er der Substanz ein mannigfaltiges, variables Ausdrucksgeschehen der Modi zuordnete. Mit der paradoxalen Selbstbezüglichkeit der causa sui wird zudem eine immanente Bewegung in Gang gesetzt, durch die aporetische Wesensbestimmugen der Modi verhindert werden. Die paradoxe Selbstbezüglichkeit des Anfangs erzeugt zwar eine geschlossene Einheit des Monismus, doch ist diese Einheit in sich selbst keineswegs statisch und unveränderlich, sondern kann Komplexität und Kontingenz ausprägen und sich durch die Ausdrucksvariationen ihrer Modi immer weiter unterscheiden. Spinoza begründet also eine Ontologie, in welcher der Gesamtzusammenhang des Seins nicht aus etwas Größerem hergeleitet wird und keine prima causa unterlegt bekommt, sondern aus sich selbst begründet wird. Der allgemeine Horizont des Ganzen ist die Immanenz, und in der Immanenz findet Spinoza die Möglichkeit, Gott, die Substanz und damit letztlich die Natur nach ihren eigenen Bedingungen zu verstehen. In der paradoxen Selbstursächlichkeit des Prinzips der causa sui wird die zweiwertige Logik von Sein und Nichts in den Substanzmonismus hineingenommen, und an den Anfang wird das differenzielle Ereignis der Selbstursächlichkeit einer Unterscheidung gesetzt, die alle weiteren Unterscheidungen erst in Gang setzt. Die Einheit des Ursprungs aus einem vorgelagerten transzendenten Nichts (oder aus Gott) wird aufgegeben, und fortan ereignen sich alle Unterscheidungen als immanente Unterscheidungen des Seins. Mit dem Ausschluss des transzendenten NichtDie Möglichkeit einer vollständig naturalistischen und damit selbstreferentiellen Theoriearchitektur, in der Erkenntnis als »innere Folge des Seins« verstehbar wird, behandelt Thomas Kisser, »Vom Sein der Idee zur Idee des Seins – Die Konzeption der Erkenntnis und der Versuch der Selbstbegründung der Metaphysik bei Spinoza«, in: Michael Czelinski u. a. (Hg.), Transformation der Metaphysik in der Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und der praktischen Philosophie Spinozas, Würzburg 2003, S. 18–31. 17 Zu den normativen Implikationen der Ordnungsschematik in der ontologischen Erstunterscheidung von Sein und Nichtsein vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O., S. 896 ff. 16

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seins aus der Welt wird die Unerklärbarkeit der Welt aufgehoben und diese wird zu einer immanenten und damit durch und durch erklärbaren Gesamtheit von Entitäten. So bildet die Figur der Immanenz nicht nur die Grundlage der Ontologie, sondern auch den Hintergrund der Erkenntnistheorie. Die vorausgesetzte Intelligibilität der Welt wird durch den immanenten Substanzmonismus verbürgt. Immanenz ist also nicht nur ontologisch, sondern auch erkenntnistheoretisch relevant, denn durch die Voraussetzung einer absoluten Immanenz wird die Möglichkeit gesichert, das Sein denkend zu verstehen und zu durchdringen und die Philosophie damit zu einem Abschluss zu bringen. Spinoza steckt den immanenten Horizont seiner Philosophie auch durch die vorausgesetzten Axiome ab, die er direkt nach den acht Eingangsdefinitionen festlegt: »Alles, was ist, ist entweder in sich selbst oder in einem anderen« (E1a1). Auf das Modell von Substanz, Attributen und Modi übertragen bedeutet das, dass die eine Substanz in sich ist, sich in sich selbst erschöpft und durch nichts bedingt und überschritten wird und dass Attribute und Modi stets in einem anderen, nämlich in der Substanz sind. Für die Gesamtanlage der Substanz folgt daraus, was bereits durch die an den Anfang des gesamten Systems gesetzte Paradoxie des causa-sui-Prinzips begründet wurde: »Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muß durch sich selbst begriffen werden« (E1a2). 18 Durch diesen Grundsatz will Spinoza verdeutlichen, dass der ontologische Grundbegriff der Substanz nach außen abgeschlossen und aus nichts anderem herzuleiten ist. Spinozas Substanz wird eben durch nichts überschritten und muss dementsprechend radikal aus sich selbst heraus verstanden werden. Mit der ontologischen Setzung der causa sui ist ein reines Anfangsprinzip gemeint, d. h. ein Ereignis des Anfangs, das zwar absolut und zentral für alle weiteren Unterscheidungen des Seienden ist, sich aber als Gesetz nicht in allen weiteren Unterscheidungen fortsetzt. Es ist ein initiierendes Ereignis, das die Immanenz des ganzen Systems sichert, aber bereits bei den Attributen endet und in keiner Weise für die Modi als einzelne Individuen gilt. Das Gesetz der 18 Dieses Axiom hat Luhmann zum Motto seines 1997 erschienenen, die Theorie der Gesellschaft abschließenden Werks Die Gesellschaft der Gesellschaft gemacht. Er eröffnet damit die Konzeption eines seine eigenen Beschreibungen bereits enthaltenden Systems von Gesellschaft, das sich selbst beschreibt und sich damit gewissermaßen von vornherein auf eine paradoxe Verfassung festlegt, weil es keinen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann, sondern auf die differenzierende Wiederbeschreibung seiner selbst angewiesen ist. Die Gesellschaft der Gesellschaft ist der Versuch der Beschreibung von Gesellschaft unter der Voraussetzung dieser Paradoxie; die allerdings als solche erkannt wird und ihren Gegenstand als wiederholende Kommunikation über sich selbst versteht. Spinozas Axiom dient hier als Auftakt einer immanenten Theorieoperation, die die paradoxe Struktur der Erklärung ihres Gegenstandes aus sich selbst produktiv wendet und über die Operation einer immanenten, differenzierenden Wiederholung kritisch werden lässt. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O.

Exkurs: Der Anfang als Differenz an sich selbst (Deleuze)

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causa sui ist der Einsatzpunkt einer unbedingten immanenten Dynamik, die alle weiteren Ereignisse als Ereignisse einer Differenz zwischen mindestens zwei Attributen der Substanz und in der weiteren Folge zwischen einer unendlichen und variablen Anzahl mannigfaltiger Modi in Gang setzt. Modi sind im Ausgang dieser selbstursächlichen Anfangsparadoxie nicht aus sich selbst erklärbar, sondern nur in relationaler Abhängigkeit zu den umgebenden Kräften und Wirkungen, durch die sie konstituiert werden. Aus dieser relationalen Verbindung der Modi ergibt sich ein Konstitutionsverhältnis, das die Bedingung der Individuation jedes einzelnen Modus ist. Die Dynamik der Konstitution der Modi, also das, was einem Modus widerfährt und ihn konstituiert, verläuft nicht nach determinierenden Regeln und Mustern, sondern ereignet sich mit einer gewissen Kontingenz. So gilt zwar das Gesetz der kausalen Bedingtheit der Modi, aber es wird nicht im Sinne transzendenter Normen ausgelegt, die die Modi bestimmen würden. Selbstursächlichkeit und Immanenz sind zwei der wesentlichen Prinzipien im Denken Spinozas: Während das Gesetz der Selbstursächlichkeit den Gesamtzusammenhang der Substanz begründet, besteht das auf ihm aufbauende Prinzip der Immanenz für alle weiteren Modifikationen der Substanz. Diese Voraussetzungen sind auch für Deleuze bedeutsam geworden, der sich intensiv mit der immanenten Ontologie Spinozas befasst hat.

I.2 Exkurs: Der Anfang als Differenz an sich selbst (Deleuze)

In seinem systematischen Hauptwerk Différence et répétition beginnt auch Deleuze seine Überlegungen zum »Bild des Denkens« (L'image de la pensée) mit dem Problem des Anfangs: »Das Problem des Anfangs in der Philosophie wurde mit vollem Recht immer als äußerst heikel angesehen. Denn Anfangen heißt alle Voraussetzungen ausschließen.« 19 Dabei geht es sowohl um subjektive wie auch um objektive Voraussetzungen und mit Blick auf Descartes beschreibt Deleuze, wie einerseits bestimmte Voraussetzungen anhand von Definitionen und axiomatischen Setzungen gebannt werden sollen, wie aber andererseits zugleich Voraussetzungen anderer Art in die philosophische Reflexion eingehen. Das heißt »Voraussetzungen, die in einem Gefühl und nicht in einem Begriff verpuppt sind: Es wird vorausgesetzt, daß jedermann ohne Begriff weiß, was Ich, Denken, Sein bedeute. Das reine Ich des Ich denke ist also ein Anschein von Anfang nur, weil es alle seine Voraussetzungen ins empirische Ich verlegt hat.« 20 Deleuze bestimmt die Situation eines ersten Philosophen: Ein erster 19 20

Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 169. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 169.

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Philosoph muss diese Voraussetzungen ausschließen und darf sich nicht darauf verlassen, dass jeder weiß, was Denken und Sein bedeuten. Er darf das, was jedermann zu wissen und niemand zu bestreiten vermag, nicht annehmen, sondern muss sich auf die Seite des Unwissenden stellen, der auf keinerlei subjektive oder objektive Voraussetzungen bauen kann. »Die Philosophie schlägt sich auf die Seite des Idioten als eines Mannes ohne Voraussetzungen.« 21 Der erste Philosoph kann sich nicht auf den common sense verlassen, sondern steht als singulärer Einzelner da, der alles infrage stellt, um die Vorurteile des Denkens auszuschließen und um alles abzustreiten, was jedermann zu erkennen glaubt. »Er allein ist ohne Voraussetzungen. Er allein beginnt wirklich und wiederholt wirklich.« 22 Für Deleuze ist Spinoza ein solcher erster Philosoph oder sogar der »Erste unter den Philosophen«, weil er in der Immanenz »die alleinige Freiheit gefunden« hat. 23 »[R]eif genug sein für einen spinozistischen Gedanken« bedeutet daher für Deleuze, nichts vorauszusetzen, die Immanenz nicht in etwas Größeres einzuschließen, ihr keine vertikalen Transzendenzen überzuordnen und ihr keine prima causa zu unterlegen. 24 Wenn nun aber die Voraussetzungen des Denkens erst einmal auszuschließen sind, dann können wir davon ausgehen, »daß es keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder vielmehr, daß der wahre philosophische Anfang, d. h. die Differenz, an sich selbst bereits Wiederholung ist«. 25 Am Anfang aller Bewegungen des philosophischen Denkens steht für Deleuze daher »ein Element, das an sich selbst Differenz ist«, das die Unterscheidung von sich selbst in sich selbst trägt, eine »Differenz an sich selbst« (différence en elle-même). 26 Diese Lösung hat nichts mit einer etwaigen Kreisförmigkeit oder Zirkelhaftigkeit der Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 170. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 171. 23 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 1996, S. 57. 24 Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 57. Reif genug zu sein für einen spinozistischen Gedanken heißt aber auch, die Bedeutung der Immanenz und damit die Bedeutung Spinozas für »unser modernes Leben« zu verstehen. Die Tragweite des Immanenzprinzips von Differenz und Wiederholung für den »Geist der Zeit« bemisst Deleuze auf den ersten Seiten seines Hauptwerks von 1968 und stellt sie dem Denken des Identischen und des Negativen gegenüber. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 11 f. 25 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 169. 26 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 11, aber auch S. 187, wo Deleuze diesen Begriff im Kontext seiner Konzeption des transzendentalen Empirismus darstellt. Dabei geht es darum, die Ableitung und den Abklatsch des Transzendentalen aus dem Empirischen und umgekehrt des Empirischen aus dem Transzendentalen zu unterlaufen und die »Differenz an sich selbst« als eine freie Bewegung und als eine Intensität zu denken, die die Vermögen des Sinnlichen und die des Denkens an ihre jeweiligen Grenzen treibt. Der ontologische Grundgedanke einer »Differenz an sich selbst«, den wir hier als voraussetzungslosen Anfang von Spinozas Einsatz der causa sui her verstehen, zieht sich bei Deleuze durch das Feld der Ästhetik, wie er sich bei Spinoza durch das Feld der Ethik (und im Kontext der politischen Traktate auch durch das Feld des Politischen) zieht. 21

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Philosophie zu tun, denn im Bild des Kreises zeigt die Philosophie »eher eine Unfähigkeit zum wirklichen Anfang, aber auch zur echten Wiederholung«. 27 Um zu zeigen, »daß der wahre philosophische Anfang, d. h. die Differenz, an sich selbst bereits Wiederholung ist«, begründet Deleuze eine selbstursächliche Verkettung von Differenzen und setzt Differenz und Wiederholung als sich selbst generierende Mechanismen ein. 28 Differenz und Wiederholung treten dabei an die Stelle vorausgesetzten Seins als Identität und vorausgesetzten Nicht-Seins als Negativität und wirken unterhalb des Identischen und des Negativen. »Wir wollen die Differenz an sich selbst und den Bezug des Differenten zum Differenten denken, unabhängig von den Formen der Repräsentation, durch die sie auf das Selbe zurückgeführt und durch das Negative getrieben werden.« 29 Für Deleuze ist diese Bewegung einer immanenten Differenz, die aus sich selbst hervorgeht und ihre Ursache in sich selbst hat, ein Prinzip der Wiederholung, und dieses Prinzip der Wiederholung wird als strikt unbegrifflich oder vorbegrifflich bestimmt, da es sich eben gerade durch die Singularität dessen auszeichnet, was sich aus der Wiederholung ergibt. Deleuze unterscheidet zwei Formen von Wiederholung in diesem Verhältnis von Differenz und Wiederholung: Es lässt sich einerseits von Wiederholung sprechen, wenn sich identische Elemente unter ein und demselben Begriff wiederholen, es muss aber andererseits von diesen wiederholten Elementen etwas unterschieden werden, das über sie hinausgeht, etwas, das sich als Differenz in der Wiederholung erweist und nicht auf eine einfache Wiederholung reduzierbar ist. In diesem zweiten Sinne verschiebt und zerstreut die Wiederholung ihre Elemente in einer schöpferischen Bewegung und erzeugt Differenz als Abweichung von einer reinen Wiederholung desselben. Die erste Wiederholung ist also eine Wiederholung desselben, die sich im identischen Begriff oder in der identischen Repräsentation expliziert, die zweite ist eine Wiederholung der Differenz, des Neuen, des Heterogenen. »Die eine ist negativ, aufgrund des Mangels des Begriffs, die andere affirmativ, aufgrund des Überschusses der Idee. Die eine ist hypothetisch, die andere kategorisch. Die eine ist statisch, die andere dynamisch.« 30 Man könnte nun auch sagen, dass das immanente Prinzip einer Differenz an sich selbst von der Bewegung der Wiederholung seinen Ausgang nimmt und Differenz in der immanenten Selbstursächlichkeit von Wiederholung entsteht. Spinozas zweites Axiom im ersten Teil der Ethica bestätigt gerade die schöpferische Seite des Wiederholungsprinzips, denn wenn das Neue, das Nicht-Identische und Heterogene nicht durch etwas anderes, durch 27 28 29 30

Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 170. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 169. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a.a.O, S. 11 f. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 42.

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etwas bereits Gegebenes begriffen werden kann, muss es aus der Bewegung der Wiederholung des bereits Gegebenen begriffen werden. In diesem Sinne hält Spinoza im eben genannten Axiom fest: »Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muß durch sich selbst begriffen werden« (E1a2). Die unbedingte Bejahung der Existenz unter dem Gesetz der Unendlichkeit und die Annahme, dass die wahre Definition eines jeden Dings nichts anderes einschließen kann als die Natur des Dings selbst, weisen bereits auf das selbstursächliche Prinzip der Wiederholung hin. Und auch der strikte Rahmen der immanenten Kausalität (causa immanens), wie Spinoza ihn vorgibt, erlaubt nichts als die Erzeugung von Differenz in der immanenten Wiederholung. 31 Wie oben dargestellt, übt auch Spinoza in seiner Ontologie als Theorie der elementaren Wirklichkeitsdimensionen eine Kritik der Voraussetzungen, die in die Philosophie eingehen, indem er mit der paradoxen ersten Setzung einer Essenz beginnt, welche die eigene Existenz einschließt, weil sie Ursache und Voraussetzung ihrer selbst ist. Diese voraussetzungskritische Begründung einer Ontologie, in der die Struktur- und Wirkungszusammenhänge des Seins in der Immanenz angesiedelt werden, dürfte für Deleuze einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte an das Denken Spinozas gewesen sein. Die paradoxe Bestimmung eines Anfangs als Ursache seiner selbst und der Gedanke einer immanenten Verkettung der Dinge werden von Deleuze übernommen und durch ihre Übertragung in die Funktionsweise von Differenz und Wiederholung in ihrer paradoxen Struktur aufgelöst. »Welches ist der Begriff der Differenz – der sich nicht auf die bloße begriffliche Differenz reduzieren läßt, sondern eine eigene Idee, gleichsam eine Singularität in der Idee beansprucht? Und welches ist andererseits das Wesen der Wiederholung – das sich nicht auf eine begrifflose Differenz reduzieren läßt, [. . . ] sondern seinerseits die Singularität als Macht der Idee bezeugt? Die Begegnung der beiden Begriffe, Differenz und Wiederholung, kann nicht mehr von Anfang an gesetzt werden, sie muß vielmehr durch Interferenzen und Überschneidungen zwischen diesen beiden Linien zur Erscheinung gelangen, von denen die eine das Wesen der Wiederholung, die andere die Idee der Differenz betrifft.« 32 Deleuze betont, dass die Immanenz für Spinoza eine reine Ontologie, d. h. eine Theorie des Seins impliziert, in der die Eigenschaft der Substanz nur das Eine ist, was ist. Immanenz erfordere also ein Prinzip der Seinsgleichheit: »[D]as Sein ist nicht allein gleich in sich, sondern erscheint gleichfalls in allen Vgl. dazu auch die Bestimmung der Philosophie Spinozas als ein »radikales Entmystifizierungsunternehmen oder als Wissenschaft der Wirkungen« bei Deleuze: Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 19. 32 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 47. 31

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Seienden anwesend.« 33 Damit ist auch das Prinzip der Kausalität dem Gesetz der Immanenz unterworfen, denn Ursachen sind im Sinne der immanenten Kausalität überall gleich nahe Ursachen und nicht unterschiedlich entfernte Ursachen ihrer Wirkungen: »Die Seienden sind nicht durch ihren Rang innerhalb einer Hierarchie definiert, sie sind nicht mehr oder weniger vom Einen entfernt, vielmehr hängt jedes direkt von Gott ab, indem es an der Gleichheit des Seins partizipiert und unmittelbar das empfängt, was es davon je nach Eignung seines Wesens empfangen kann, unabhängig von jeder Nähe oder Entfernung.« 34 In diesem Sinne betont Deleuze auch immer wieder, dass Immanenz wie eine horizontale Ebene zu denken ist, und verbindet ihre Bestimmung mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht mit Begriffen verwechselt werden darf, da sie vielmehr die Grundlage aller Begriffe ist. »Die Immanenzebene ist kein gedachter oder denkbarer Begriff, sondern das Bild des Denkens, das Bild, das das Denken sich davon gibt, was denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren . . . bedeutet.« 35 Fasste man die Immanenzebene selbst als einen Begriff auf, so würde sie die Offenheit und die unendliche Bewegung preisgeben, als die sie sich in sich selbst bewegt und als die sie einen »Zusammenschluß der Begriffe mit stets anwachsenden Verbindungen garantiert«. 36 Die hier gemeinte Bewegung ist nicht die Bewegung von Körpern im Raum, 33

Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993,

S. 155. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 155. Vgl. zur weiteren Diskussion einer Neutralität oder einer Gleichheit des Seins auch die Ausführungen zu Nietzsche und Deleuze bei Alain Badiou. Badiou fragt: »[W]elches Denken kann wohl bei Konstruktion seiner Intuitionen auf der Höhe der Neutralität des Seins sein? Wie kann man zum Kreuzungs- und Abweichungspunkt der Bewegungen, zum unpersönlichen, nicht zuweisbaren und ununterscheidbaren Punkt kommen? Wie kann man die geschlossenen Ambitionen unseres Aktuell-Seins im großen, vollständigen Kreislauf des Virtuellen auflösen?« Alain Badiou, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs. Wien 2007, S. 66. Die Tendenz dieser Frage sensibilisiert uns bereits dafür, dass auch die Entfaltung des Substanzbegriffs und die damit verbundene Konzeption von Natur als eine Neutralität zu verstehen ist, aus der sich die Perspektiven und damit die Normen der menschlichen Handlungszusammenhänge zwar ergeben, die aber an sich selbst keine normativen Perspektivierungen bereithält und nicht als Quelle von Normen dienen kann. Vgl. dazu auch den Exkurs zu Natur und Norm in II.2 dieses Teils. 35 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 44. In Was ist Philosophie? verknüpfen Deleuze und Guattari die Bestimmung der Immanenz mit ihrer Konzeption philosophischer Begriffsarbeit. Diese besteht darin, Begriffe zu erschaffen und dabei die Immanenzebene immer wieder zu errichten. Denn im »strengeren Sinne ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht«, Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 1996, S. 9. Als Teile der Immanenzebene müssen die Begriffe auf ihr angesiedelt werden, sie dürfen die Immanenz nicht in sich einschließen und sie erst recht nicht zum Merkmal einer anderen Sache machen. »Die Begriffe sind gleichsam die mannigfaltigen Wellen, die sich heben und senken, die Immanenzebene aber ist die eine Welle, von der sie auf- und abgewickelt werden.« Ebd., S. 42. 36 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 44. 34

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sondern eine unaufhörliche Bewegung des Austauschs zwischen Denken und Sein. »Jedenfalls entwerfen die ersten Philosophen eine Ebene, die unablässig von unbegrenzten Bewegungen durchlaufen wird, und zwar auf beiden Seiten, von denen die eine als Physis bestimmbar ist, insofern sie dem Sein Materie verleiht, die andere als Nous, insofern sie dem Denken ein Bild verschafft.« 37 Mit diesem fortlaufenden Bestimmungswechsel wird eine Möglichkeit geschaffen, Konsistenzen anzunehmen, die in einer unendlichen Bewegung modifizierbar bleiben. Ein zentrales Problem der Philosophie besteht für Deleuze nämlich darin, Konsistenz annehmen zu können, ohne die unendliche Bewegung und die damit verbundene Oszillation von Bestimmungen preiszugeben. Die Philosophie muss Konsistenz annehmen, darf aber dabei die unendlichen Veränderungsprozesse nicht aus dem Blick verlieren, durch die auf der Immanenzebene ein Austausch zwischen Denken und Sein, zwischen Idealität und Materialität entsteht, der sich immer wieder neu in Gang setzt und »Rückkopplungen, Verbindungen, Wucherungen erzeugt« 38. Durch diese Bewegung wird das Prinzip der Mannigfaltigkeit innerhalb einer äußeren Einförmigkeit bestimmt, und die Einförmigkeit des immanenten Seins bezeichnet Deleuze mit dem Begriff der Univozität. Die Immanenz erfordert ein univokes Sein, »das eine Natur bildet und das aus positiven Formen besteht, die dem Hervorbringer und dem Hervorgebrachten, der Ursache und der Wirkung gemeinsam sind«. 39 Die äußere, einheitliche Form der Immanenz ist univok, und das bedeutet, dass Immanenz allumfassend ist und nicht von etwas Äußerem begrenzt wird. Das univoke Sein ist für Deleuze vollkommen in sich selbst bestimmt, es ist das, was von der in sich bestehenden Substanz durch die Modi zum Ausdruck kommt. Die Univozität ist für Spinoza reine Bejahung, sie ist mit der »Idee der immanenten Ursache« verknüpft und findet in der Immanenz ihren Ausdruck. 40 Immanenz kann nie die Immanenz von etwas sein, denn als solche verstanden fügt sich ihr die Transzendenz unmittelbar hinzu. »Immer wenn man die Immanenz als ›einer‹ Sache immanent interpretiert, entsteht eine Verwechslung von Ebene und Begriff, so daß der Begriff ein transzendentes Universal und die Ebene ein Attribut im Begriff wird. Derart missverstanden, setzt die Immanenzebene das Transzendente von neuem in Gang [. . . ].« 41 Mit diesem Vergleich der Selbstursächlichkeit des Prinzips der causa sui und der Selbstursächlichkeit der différence en elle-même ist die notwendige Voraussetzung der Voraussetzungslosigkeit des Denkens geklärt, 37 38 39 40 41

Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 53. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 46. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O, S. 155. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 61. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, a. a. O., S. 53 f.

Gott oder Substanz?

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die für Spinoza und Deleuze gleichermaßen bestimmend ist. Beide nehmen die axiomatische Setzung ernst, die besagt, dass das, was nicht durch anderes begriffen werden kann, durch sich selbst begriffen werden muss. In der Anordnung der ersten Definitionen, wie Spinoza sie im ersten Teil der Ethica angelegt hat, wird schnell deutlich, dass das Prinzip der causa sui vor der ersten ontologischen Bestimmung steht. In den ersten beiden Definitionen klärt Spinoza also die Voraussetzungen seiner Ontologie, um in der dritten Definition mit der Bestimmung des ersten ontologischen Grundbegriffs einzusetzen, nämlich mit dem Begriff der Substanz, um den es im Folgenden gehen wird.

I.3 Gott oder Substanz?

Eine der Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit der Metaphysik Spinozas besteht darin, sein metaphysisches Denken als eine Ontologie zu verstehen und seinen Gottesbegriff nicht mit einem theologischen Gottesbegriff in Verbindung zu bringen. 42 Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die implizite Umwandlung theologischer Aussagen in ontologische Aussagen systematisch intendiert war, fordert die Ethica doch besonders gegen Ende (in den Lehrsätzen E5p35 und E5p36) Zweifel an einer rein ontologischen Auslegung heraus, denn hier tritt Gott in einer abschließenden Weise mit dem Prinzip des amor Dei intellectualis wieder in den Zusammenhang von Spinozas Denken ein. 43 Die Frage, ob wir es in der Ethica mit einer theologischen Metaphysik oder Auch Ursula Renz weist Spinozas Metaphysik noch einmal dezidiert als eine allgemeine Ontologie aus und betont, dass wir es trotz des Titels De Deo im ersten Teil der Ethik nicht mit einer Gotteslehre, sondern mit einer Seinslehre zu tun haben. Hinter den theologischen Topoi stünden in den allermeisten Fällen ontologische Fragen, und so spreche Spinoza zumeist nicht von Gott, sondern von res. Die Annahme, dass es nur eine Substanz geben könne, hänge an der Annahme, dass Gott eine Substanz mit unendlich vielen Attributen ist. Renz führt hier E1p11 an: »Gott, anders formuliert eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt, existiert notwendigerweise.« Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 2010, S. 52 ff. Vgl. insbesondere zum Begriff res auch: Robert Schnepf, Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996, sowie Manfred Walther, Metaphysik als Anti-Theologie. Die Philosophie Spinozas im Zusammenhang der religionsphilosophischen Problematik, Hamburg 1971. 43 Für die ontologische Auslegung von Spinozas Herleitung der notwendigen Existenz Gottes aus dem Gesetz des hinreichenden Grundes siehe die Begründung bei Don Garrett: »From Spinoza’s point of view, however, our knowledge of the principle is not to be challenged, and so he believes he has succeeded in showing that the essence of God must involve his existence – a truth which could be directly discovered only by those who have the private experience of a clear and distinct idea of God. This is how Spinoza is able to give a nontrivial and non-›analytical‹ proof of the content of a ›rational perception.‹« Vgl. Don Garrett, »Spinoza’s ›Ontological‹ Argument«, in: The Philosophical Review 88 (1979), S. 198–223. 42

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mit einer allgemeinen ontologischen Lehre des Seins und des Seienden zu tun haben, soll an dieser Stelle lediglich insofern berücksichtigt werden, als der Beginn der Ethica eben von der Immanenz ausgehend und nicht aus einer schöpferischen Transzendenz hergeleitet wird. Während der Kurze Traktat über Gott, den Menschen und dessen Glück seinen systematischen Ausgangspunkt noch in Gott nimmt, ist der Ausgangspunkt der Ethica eben nicht Gott, und das ist für die Begründung von Immanenz von Bedeutung. 44 Mit der methodischen Reflexion der Entwicklung seines Systems findet Spinoza auch die Möglichkeit, den Ausgangspunkt in der durch die Figur der causa sui begründeten Substanz zu finden. Wie Deleuze in Anlehnung an Gueroult festhält, setzt der Kurze Traktat die Gleichung von Gott und Natur voraus, während die Ethica auf der Gleichung von Gott und Substanz beruht; im ersten Fall gehören die verschiedenen Substanzen einer Natur an, während im zweiten Fall die unterschiedlichen Naturen einer Substanz angehören. 45 Zwar suche Spinoza auch in der Ethica den kürzesten und schnellsten Weg, um zu Gott zu kommen, und entwickele zu Beginn seines Systems eine Geschwindigkeit, von der aus sich dann alles dehnt und verlangsamt, aber er setze diese Möglichkeit eben keineswegs einfach und vor allem nicht in aller Unmittelbarkeit voraus. Von den Ursachen zu den Wirkungen zu gehen, kann nicht bedeuten, Ursachen einfach unhinterfragt vorauszusetzen. 46 Erst an sechster Stelle der der Ethica vorausgeschickten Definitionen erklärt Spinoza, was er in seinem System von Substanz, Attributen und Modi unter Gott versteht. »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d. h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt« (E1d6). 47 Die unendAuch wenn Spinoza im ersten Teil des Kurzen Traktats wiederum Gott als Quelle der Erkenntnis ausweist: »Wenn es eine Idee von Gott gibt, muß deren Ursache an sich existieren und alles in sich enthalten, was die Idee gegenständlich enthält. Nun gibt es eine Idee von Gott. Also. . . [. . . ] Wenn nur eine Fiktion des Menschen die Ursache seiner Idee war, wäre es unmöglich, daß er etwas begreifen könnte. Nun kann er aber etwas begreifen. Also. . . « Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Hamburg 1965, S. 14 (Erster Teil, Erstes Kapitel). In der Annahme, dass auch die Ursache einer Idee existieren muss, wenn die Idee selbst existiert, zeigt sich auch der rationalistische Umgang Spinozas mit den hinreichenden Gründen sehr deutlich. (Im Folgenden wird die kurze Abhandlung mit dem Sigel KV zitiert, und zwar stets nach der neuen Übersetzung von Wolfgang Bartuschat, die unter einem veränderten Titel erschienen ist: Kurzer Traktat über Gott, den Menschen und dessen Glück, Hamburg 2014. Zur Genese der Kurzen Abhandlung und ihrer systematisch zentralen Bedeutung für die Entwicklung der Ethica vgl. die Einleitung von Carl Gebhardt in der von ihm herausgegebenen deutschen Ausgabe von 1922. 45 Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 147. 46 Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 148. 47 Auch in den Briefen betont Spinoza häufig die Notwendigkeit, auf seine sechste Definition zurückzukommen, und ermahnt seine Adressaten, dieser Definition Beachtung zu schenken. So 44

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lichen Attribute gehören also grundsätzlich der Substanz an, genauer gesagt der einen Substanz, die als Gott angesehen wird und die unendlich und unteilbar ist. »Kein Attribut einer Substanz kann richtig begriffen werden, wenn aus ihm folgte, daß die Substanz geteilt werden kann« (E1p12). 48 Außer Gott kann es für Spinoza keine Substanz geben (vgl. E1p14), alles was ist, ist in Gott (vgl. E1p15), und aus der Notwendigkeit Gottes folgt »unendlich vieles auf unendlich viele Weisen« (E1p16). 49 Gott handelt nur nach seiner Natur und wird durch nichts Äußeres in seinen Handlungen gezwungen (vgl. E1p17). Gott ist für Spinoza die immanente Ursache (causa immanens) der Dinge und die Natur selbst, d. h. eine unbedingte, immanente Substanz, die aus nichts anderem als aus sich selbst herzuleiten und durch nichts als sich selbst zu begreifen ist. »Gott ist etwa in Brief 2 und 4 an Heinrich Oldenburg und in den Briefen 35 und 36 an Johannes Hudde. Als würde er dieser Mahnung folgen, macht Deleuze das exprimit der sechsten Definition zum unscheinbaren, aber wesentlichen Ausgangspunkt für die Theorie des Ausdrucks, die er im Anschluss an Spinoza entwickelt. 48 Siehe auch E1p13: »Eine unbedingte unendliche Substanz ist unteilbar.« 49 Dieser Lehrsatz lautet vollständig: »Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen [modis] folgen (d. h. alles, was unter einen unendlichen Verstand fallen kann).« Matheron diskutiert diesen Lehrsatz als den vielleicht wichtigsten und zugleich paradoxesten im ersten Teil der Ethica – auch mit Blick auf den Brief Nr. 82 von Tschirnhaus an Spinoza, in dem Tschirnhaus eine Erklärung für das Zustandekommen ganz verschiedener Eigenschaften von Dingen erbittet. Diese verschiedenen Eigenschaften, so Tschirnhaus, erwachsen nicht einfach aus der Bewegung, die von Gott als eine Wirkung in den Dingen hervorgebracht wird, sondern entstehen aus deren Verbindung und sind daher nicht allein in der Ausdehnung erklärbar, wie Descartes meint, dem Spinoza hier in seiner Antwort vorhält, die Materie zu Unrecht einfach nur durch die Ausdehnung zu definieren. Dass aus Gottes notwendiger Natur, d. h. aus seinen notwendigen Eigenschaften, unendlich viele verschiedene Effekte folgen, scheint Matheron erklärungsbedürftig. Seine Lösung soll hier angeführt werden, da sie die Frage der Pluralität im Substanzmonismus und damit den Prozess der Individuation der Modi unmittelbar betrifft: »God, by definition, necessarily produces within himself infinitely many things, each of them in infinitely many ways: all conceivable things, in all conceivable ways. God, as a substance, is thus the productive activity immanent to all things, producing in itself all possible logical structures. Each of the structures which it produces is a mode. Each of the absolutely determined ways in which it produces them (by extending them, by thinking them, etc.) is a substantial attribute. The totality of attributes is thus strictly equivalent to the substance and renders it totally intelligible, without any residue; for a productive activity considered independently of any manner of producing would be strictly nothing. But it is the unity of a single productive activity throughout all these attributes which welds them into a single continuous entity, making it into one unique substance.« Alexandre Matheron, »Essence, Existence and Power in Ethics I: The Foundations of Proposition 16«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 23–34, hier S. 33. Siehe zu diesem Lehrsatz auch die Auseinandersetzung um das Problem von Tschirnhaus und die Macht der göttlichen Natur, vieles auf viele Weisen hervorzubringen, bei: André Scala, »Puissance et définition: La proposition 16 du Livre I de l‘Ethique«, in: Myriam Revault d’Allonnes / Hadi Rizk (Hg.), Spinoza: puissance et ontologie. Actes du colloque organisé par le College International de Philosophie 13, 14, 15 mai 1993 à la Sorbonne, Paris 1994, S. 25–38.

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Immanente Ontologie

die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge« (E1p18). 50 Und er ist ewig (vgl. E1p19). Seine Existenz und seine Essenz sind eins, und so sind auch seine Attribute ewig, und es drückt sich in ihnen ewige Existenz aus (E1p20). 51 Spinoza betont, dass er Gott als »absolute infinitum«, d. h. als unbedingt unendlich ausweist und nicht nur als »in suo genere« (E1d6), also nicht nur als in seiner Gattung unendlich, denn was nur in seiner Gattung unendlich ist, kann durch unendliche Attribute anderer Gattungen begrenzt werden. Als unbedingt Unendliches aber gehört es zu Gott, sich als Substanz restlos zu erfüllen und nicht durch Äußeres negiert zu werden (negationem nullam involvit). Gott ist die absolut unendliche Substanz mit unendlich vielen Attributen, die vollständig im Gegebenen aufgeht, nichts für sich zurückbehält und Ursache sowohl ihrer selbst wie aller Modi in der Welt ist: »[U]m es kurz zu sagen, in der Bedeutung, in der Gott Ursache seiner selbst genannt wird, muß er auch Ursache aller Dinge (causa omnium rerum) genannt werden« (E1p25s). Das Prinzip der causa sui realisiert sich nur in der Selbstsuffizienz Gottes, da Gott in vollem Umfang Ursache seiner selbst ist und Ursache und Wirkung in ihm verbunden sind. 52 Gott ist also das durch nichts Äußeres zu negierende Prinzip einer alles begründenden immanenten Kausalität und kommt im Gefüge von Substanz, Attributen und Modi zur Entfaltung als aus sich selbst heraus existierende Substanz. Um Gott als Substanz und damit als Ursache seiner selbst verstehbar zu machen, beginnt Spinoza sein System zwar nicht mit Gott und vor allem nicht mit Gott als einem extramundanen Schöpfer, doch paradoxerweise kann die erste Definition durchaus als Ausgangspunkt für die Definition Gottes gehalten werden, wenn die Immanenz Gottes als Natur und die Natur vom Prinzip der causa sui her verstanden wird. Spinoza beginnt, wie

50 Gott und Natur als immanente Ursachen und die Bedeutung dieser immanenten Selbstursächlichkeit z. B. für die aktive und die passive Bewegung von Körpern werden auch im Kurzen Traktat unter der Frage »Was Gott ist« diskutiert. Vgl. KV, Erster Teil, Zweites Kapitel, S. 17–33. Zur ausführlicheren Interpretation Gottes als immanenter Ursache vgl. Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013, S. 25 ff. 51 Vgl. zusätzlich E1p14 bis E1p28. 52 Alain Badiou verdeutlicht diese Konzeption Gottes anhand der Unterscheidung eines Gottes der Metaphysik von einem Gott der Religion und einem Gott der Dichtung. Von der Metaphysik her aufgefasst, werde man sehen, daß Gott, »da er reiner Akt ist, kein anderes Amt hat, als sich selbst zu denken, da er keinerlei zulässigen Grund hat, irgend etwas anderes zu denken als seine eigene Reinheit«. In der Theorie der Substanz, so Badiou, ist Gott ein losgelöst agierendes Prinzip, durch das das rätselhafte Spiel der Zusammensetzung von Materie und Form, Akt und Potenz abgerundet wird und durch das die Einzartigkeit des Vereinzelten erschöpfend hervorgebracht wird. Vgl. auch in Auseinandersetzung mit Spinoza und Deleuze: Alain Badiou, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, Wien 2007, S. 13.

Gott oder Substanz?

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dargestellt, mit dem Gesetz der causa sui und der Aufteilung der Substanz. 53 Gott ist Ursache seiner selbst, und »Gottes Macht ist genau seine Essenz« (E1p34). 54 »Aus der bloßen Notwendigkeit der Essenz Gottes folgt nämlich, daß Gott die Ursache seiner selbst [. . . ] und [. . . ] aller Dinge ist« (E1p34dem). Was Spinoza unter Gott versteht, wird also erst in der sechsten Definition und nicht schon in der ersten bestimmt, und so wird deutlich gemacht, dass Gott keine der Welt übergeordnete Substanz ist und dieser nicht begründend vorsteht, sondern die Substanz selbst ist. Bedeutsamer aber als die sechste Definition ist Lehrsatz 15 des ersten Teils der Ethik, in dessen umfangreicher Anmerkung Spinoza die Gleichsetzung von Gott und Natur einführt, den Substanzmonismus erklärt und die Abhängigkeit der Modi von der Substanz verdeutlicht bzw. diese als Affektionen der Substanz vorstellt. »Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden« (E1p15). Es ist für alle weiteren Schritte, die zur Erklärung von Individuation führen, wichtig zu verstehen, dass Gott nicht von seiner Schöpfung getrennt zu sehen ist, oder besser gesagt, dass die Substanz keine Entität ist, die von den zahlreichen, variablen Einzeldingen der Natur getrennt Im Unterschied zu seinem großen Vorgänger Descartes wendet Spinoza das Prinzip der causa sui auch nicht dezidiert auf Gott an, sondern führt seine Definition Gottes erst in die Begründung der Selbstursächlichkeit ein, nachdem das Selbstverursachungsprinzip und die begriffliche Struktur seiner ontologischen Theorie der Wirklichkeit gesetzt sind. Descartes wendet das Prinzip der causa sui im Unterschied zur causa efficiens als Wirkungsursache wie einen Gottesbeweis an: »Nun gestehe ich aber ganz offen, daß es etwas geben kann, dessen Macht so groß und unerschöpflich ist, daß es keiner Beihilfe zu seiner Existenz bedurft hat, und das also auch jetzt zu seiner Erhaltung dessen nicht bedarf, so daß dies gewissermaßen Ursache seiner selbst (causa sui) ist, und ich denke mir, daß Gott derart ist. [. . . ] Ebenso scheint es, daß Gott – obwohl er ja zu allen Zeiten gewesen ist –, weil er doch ebenderselbe ist, der sich wirklich erhält, in nicht ungeeigneter Weise als Ursache seiner selbst bezeichnet werden kann.« Descartes betont, dass das durch sich nicht einfach meint, die Ursache, beispielweise eines Körpers, nicht zu kennen, denn damit sei nur die Unvollkommenheit desjenigen bewiesen, der etwas beurteilt. Die Begründung Gottes aus sich selbst ist keine negative Abwesenheit von Ursachen, sondern nur aus der Positivität der Macht Gottes zu verstehen. »[W]enn wir sagen, Gott sei durch sich, können wir dies zwar auch negativ meinen, [. . . ] aber wenn wir vorher nach der Ursache, warum er ist, oder warum er im Sein verharrt, geforscht haben, wenn wir auf die unermeßliche und unfaßliche Macht achten, die in seiner Idee enthalten ist, und sie dabei als so überragend erkennen, daß offenbar sie die Ursache ist, warum er im Sein verharrt, und daß es keine andere neben ihr geben kann, dann sagen wir, daß Gott durch sich ist, und nicht mehr negativ, sondern im Gegenteil so positiv wie nur möglich.« Gott ist für Descartes durch sich selbst und hat keine von sich verschiedene Ursache, was aber nicht bedeutet, dass er durch etwas Negatives oder durch Nichts ist, sondern vielmehr, dass er eine unermessliche Macht ist, die sich positiv aus sich selbst erzeugt. Vgl. zu dieser immanenten Gottesvorstellung bei Descartes dessen Antwort auf die ersten Einwände gegen die Meditationen. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, herausgegeben von Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 98 f. 54 »Dei potentia est ipsa ipsius essentia.« 53

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Immanente Ontologie

zu verstehen ist. Spinoza referiert auch verschiedene Annahmen zur Vorstellung Gottes, so etwa die, dass Gott nicht körperlich sein könne, weil Körper für uns eine lange, breite und tiefe Quantität von bestimmter Gestalt (figura) sind, »was von Gott als einem unbedingt unendlichen Seienden zu sagen höchst widersinnig (absurdius) wäre« (E1p15s). Auch werde argumentiert, dass Gott nicht in solcher Weise körperlich sein könne, weil er es sei, der die ausgedehnte, körperliche Substanz überhaupt erst hervorbringe. Gegen diese Vorstellungen stellt Spinoza nun gerade die Annahme, dass Gott selbst Substanz und Ausdehnung sei, dass Substanz und Ausdehnung zwei seiner unendlichen Attribute seien. 55 Als Ausdehnung ist er unteilbar, weil unendliche Substanz unteilbar ist und durch nichts Äußeres begrenzt wird, und zur Natur dieser seiner Substanz gehört es eben zu existieren. Gott ist also sein eigener immanenter Grund, seine Essenz schließt Existenz ein, und zu seiner Natur gehört es zu existieren. 56 Zwar ist Gott nicht vergleichbar mit dem Menschen, da »weder Verstand noch Wille zu Gottes Natur gehören«, d. h., auch Gott kann an den Gesetzen der Natur nichts ändern und nicht bewirken, »daß aus der Natur des Dreiecks nicht folgte, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind« (E1p17s). Materie ist der göttlichen Natur aber keineswegs fremd, sondern Gott selbst ist ausgedehnte, unteilbare und unendliche Substanz und wird mit der gleichermaßen bestimmten Natur in eins gesetzt. Spinoza betont, dass nicht einzusehen sei, warum Gott nicht Materie sein könne, da es doch außer ihm keine Substanz gebe, durch die er etwas erleiden könne. Zwar meinen die Gegner dieser Argumentation, körperliche Substanz bestehe aus Teilen und könne daher nicht unendlich sein und folglich nicht zu Gott gehören, doch Spinoza will zeigen, dass auch ausgedehnte Substanz unendlich sein kann. Das Missverständnis der Menschen bestehe darin, dass sie unendliche Größen für messbar und teilbar halten. Gott aber ist weder teil- noch messbar und auch nicht aus endlichen Teilen zusammengesetzt. Die Menschen »denken sich körperliche Substanz, die nur als unendlich, nur als einzig und nur als unteilbar begriffen werden kann [. . . ], als aus endlichen Teilen zusammengesetzt, [. . . ] um daraus auf deren Endlichkeit zu schließen« (E1p15s). Wenn Gott alles ist und alles in Gott ist, gibt es keinen Grund, ihn nicht als die eine allumfassende Substanz zu verstehen. Es ist nicht nachvollziehbar, »warum die Materie der göttlichen Natur unwürdig wäre, da es doch [. . . ] außerhalb von Gott keine Substanz geben kann, von der her [die göttliche Natur] etwas erleiden könnte« (E1p15s). Die Gleichsetzung von Gott und Substanz erfolgt also aus dem Grunde, dass alles, was ist, in Gott ist, und Die genaue Erklärung der Aufteilung der Substanz nach Attributen und Modi folgt in I.5 und I.7 dieses Teils. 56 Vgl. auch E1p7 und E1p7dem. 55

Gott oder Substanz?

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alles, was geschieht, sich aus der Notwendigkeit ergibt, die Gott als Substanz darstellt. »Alle Dinge, sage ich, sind in Gott, und alle Dinge, die sich ereignen, ereignen sich durch die bloßen Gesetze der unendlichen Natur Gottes, folgen also aus der bloßen Notwendigkeit seiner Essenz« (E1p15s). Im Anhang zum ersten Teil der Ethica schließt Spinoza die Behandlung der Frage der Verfasstheit Gottes vorerst ab und leitet resümierend zu den Problemen über, die der Erkenntnis der Gesetze der Natur Gottes entgegenstehen. »Hiermit habe ich Gottes Natur und seine Eigenschaften entwickelt: daß er notwendigerweise existiert; daß er einzig ist; daß er aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur ist und handelt; daß er die freie Ursache aller Dinge ist und in welcher Weise er es ist; daß alles in Gott ist und so auf ihm beruht, daß es ohne ihn weder sein noch begriffen werden kann; und schließlich, daß alles von Gott vorherbestimmt worden ist und zwar nicht aus Freiheit des Willens oder unbedingtem Gutdünken, sondern aus Gottes unbedingter Natur oder unendlicher Macht« (E1app). Mit der Formulierung »et denique quod omnia a Deo fuerint praedeterminata« wird bereits die Frage provoziert, warum diese Betonung eines absoluten Determinismus an so prominenter Stelle noch einmal auf den Punkt gebracht wird, wenn Spinoza doch eigentlich mit der Ethica als Ethik auf die Freiheit des Menschen hinauswill. Wichtig ist hier vor allem die Betonung der Vorherbestimmtheit aus Gottes unbedingter Natur oder unendlicher Macht, »ex absoluta Dei natura sive infinita potentia«, denn mit diesem Begriff seiner Natur als einer Macht zeigt sich die Fassung dieser Macht als potentia und damit als alles bewirkende Kraft und Seinsmacht, die vom menschlichen Individuum als die eigene potentia agendi erkannt werden kann. 57 So wird bereits in dieser Darstellung erkennbar, dass Spinoza die Idee der Freiheit des menschlichen Individuums nicht preisgibt, selbst wenn er die Notwendigkeit betont, mit der alles aus Gottes Natur folge. 58 Freiheit und Notwendigkeit dürfen nicht für zwei verschiedene Gesetze gehalten werden, sondern sind vielmehr in diesem Begriff der Natur und der Macht Gottes ein und dasselbe. 59 Diese Natur ist als eine unbedingte und unendliche Substanz zu Vgl. dazu auch den Abschnitt II.2. des dritten Teils. Zum Problem des sogenannten Nezessitarismus bei Spinoza vgl. Don Garrett, »Spinoza’s Necessitarianism«, in: Yrmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 191–217, und auch Dominik Perler, »Das Problem des Nezessitarismus (1p28-36)«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 59–80. 59 Macherey betont, dass Spinoza sich dieses Einwands der Widersprüchlichkeit von Freiheit und Determinismus durchaus bewusst war, und, dass er den ersten Teil der Ethica daher nicht als ihre doktrinäre Grundlage verstanden wissen wollte, sondern vielmehr als einen Standpunkt, von dem aus die Bedingungen des Anfangs einer möglichen Ethik, die uns durch die »Erkenntnis des menschlichen Geistes und seiner Glückseligkeit« (E2paef) leiten kann, überhaupt geklärt werden. 57 58

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Immanente Ontologie

verstehen, die aus sich selbst und durch sich selbst begriffen werden kann und für den Menschen erklärbar ist. Substanz ist also Gott und die Natur selbst, und daher kann es für Spinoza nicht darum gehen, die kausalen Zusammenhänge der Dinge zu erkennen und dann am Ende alles auf etwas ganz anderes, nämlich auf eine Substanz zurückzuführen, die den Einzeldingen äußerlich ist. Wenn wir die kausalen Relationen der Dinge erkennen wollen, bedeutet das nicht nur, ihren je unmittelbaren Grund zu verstehen, sondern es bedeutet, von einzelnen kausalen Relationen zu weiteren und damit zu einem Bild des Ganzen zu gelangen, das sich im Gesamtzusammenhang der Natur, der Substanz oder in Gott vervollständigt. Spinozas Begriff Gottes wird also im ersten Teil der Ethica vom Begriff der Substanz ausgehend eingeführt und ist daher durchaus im Sinne einer Ontologie und nicht unbedingt im Sinne einer Theologie zu verstehen, und von hierher wird auch erkennbar, wie sich die immanente Individuation von Einzeldingen aus der Substanz des Ganzen herleitet.

I.4 Substanz und Substanz (Descartes)

Spinozas geometrische Methode orientiert sich an einem Ideal der Folgerichtigkeit, um die immanente Struktur und die Funktion der in der Ordnung der Natur wirkenden Kräfte darzustellen. Der erste Teil der Ethica setzt daher nach der Erklärung der Selbstursächlichkeit mit einer ontologischen Theorie der Wirklichkeit ein, in der die unterschiedlichen Dimensionen des Seins klar dargelegt und als Substanz, Attribute und Modi voneinander unterschieden werden. 60 Der grundlegende Begriff ist dabei der der Substanz, wie er seit Aristoteles das metaphysische Denken beherrscht. Doch wie für Aristoteles bleiben auch für Spinoza die Einheit des Seins und die Vielheit des Werdens bestimmende Probleme, die anhand des Substanzbegriffs und seiner Potentialität verhandelt werden. Als in sich differente Einheit von Substanz und Pierre Macherey, »From Action to Production of Effects: Observations on the Ethical Significance of Ethics«, in: Yrmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 161–180. 60 Zur Darstellung der Metaphysik und der Ontologie Spinozas insgesamt: Konrad Hecker, Spinozas allgemeine Ontologie, Darmstadt 1978; Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013; Robert Schnepf, Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996; Michael Della Rocca, Spinoza, London 2008, insbesondere S. 33–88, sowie zur weiteren Diskussion der radikal-rationalistischen Position Della Roccas und zum Aufschwung der analytisch geprägten amerikanischen Philosophiegeschichte: Ursula Renz, »Der neue Spinozismus und das Verhältnis von deskriptiver und revisionärer Metaphysik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63/3 (2015), S. 476–496. Die Beziehungen von Substanz und Modi in Hinblick auf das übergeordnete Thema des ontologischen Monismus diskutiert Valterri Viljanen, »Spinoza’s Ontology«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 56–79.

Substanz und Substanz (Descartes)

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Akzidens wird die ousia zum Grundbegriff des ontologischen Denkens und in der Unterscheidung von Substanz – Akzidens – Relation weitergeführt. Auch Descartes begründet die Unabhängigkeit des Cogito aus dieser Unterscheidung, indem er die Einheit der Substanz als äußere Natur auslegt und gegen die innere Einheit des Cogito stellt. Die aristotelische Unterscheidung wird bei Descartes von der phänomenal feststellbaren Erfahrung des Denkens her betrachtet und die Natur in einer geometrisch-mechanistischen Begründung als Ausdehnung dem Denken gegenübergestellt. Während Descartes das Denken also gegen die ausgedehnte Natur stellt und in einer übergeordneten Selbständigkeit befestigt, hebt Spinoza diese Selbständigkeit in einer allgemeinen intelligiblen Struktur der Natur auf und zeichnet das Denken in diesem Sinne als unselbständig aus. Aus der cartesischen Frontstellung des Denkens gegen die Ausdehnung ergibt sich die Aufteilung nach res extensa und res cogitans. Es ist ebendiese Gegenüberstellung, die einen Riss im Ganzen des Seins erzeugt und uns als das Vorurteil der bipolaren Gliederung von Subjekt und Objekt begleitet. Die Seinsweise des Denkens als ausdehnungsfremde, innere Einsicht und Empfindung wird der Seinsweise der Ausdehnung als der messbaren und mechanisch-rechnerisch erschließbaren äußeren Welt entgegengesetzt. Dabei geht die Trennung von res extensa und res cogitans durch den denkenden Menschen hindurch und setzt ihn von der ausgedehnten Natur ab. 61 Die aristotelische Gliederung von Substanz – Akzidens – Relation wird bei Descartes zur Gliederung von Substanz – Substanz – Relation. Dabei werden die Substanzen derart unabhängig voneinander gedacht, dass sie zum Verständnis des menschlichen Individuums und seiner Handlungszusammenhänge erst wieder vermittelt werden müssen. 62 Spinoza findet die Unterscheidung von Substanz, Attributen und Modi also vor und verbindet Substanz und Attribut in der Weise, dass die Substanz über die verschiedenen Attribute verschieden identifizierbar wird: als Substanz im Siehe zur Diskussion des cartesianischen Dualismus bei Spinoza auch Jonathan Bennett, der schreibt: »Spinoza’s Dualism involves a logical and causal split between extension and thought – between physics and psychology, as one might say.« Bennett bestimmt aber auch die Unterschiede zu Descartes’ »property dualism«. Siehe Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984, S. 40–50, hier: S. 50. Vgl. auch: Jonathan Bennett, Learning from Six Philosophers: Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Berkeley, Hume, Oxford 2003, sowie Tammy Nyden-Bullock, Spinoza’s Radical Cartesian Mind, New York 2007. 62 Vgl. Werner Stegmaier, Substanz. Grundbegriff der Metaphysik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 18. Zur Kritik der cartesianischen Aufteilung und der aus ihr resultierenden Rückführung von Erscheinungen auf die Alternativen von Ausdehnung und Innerlichkeit sowie zu den Konsequenzen in den Wissenschaften vom Menschen vgl. die weitreichenden Ausführungen im ersten und zweiten Kapitel der Stufen des Organischen von Helmuth Plessner; siehe ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, S. 3–79. 61

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Attribut der Ausdehnung und als Substanz im Attribut des Denkens. Dass diese Trennung nicht die Natur des Menschen in der Natur des Ganzen betrifft, sondern vielmehr eine Perspektivierung seines spezifischen Standpunkts darstellt, dürfte für Spinoza klar gewesen sein. Daher ist seine Unterscheidung der durch den Menschen erkennbaren Attribute der Ausdehnung und des Denkens auch keine reale Unterscheidung, sondern nur eine spekulative Perspektivierung der einen Substanz in der menschlichen Erkenntnis. Spinoza hält die folgenreiche dualistische Denkungsart zweier gegeneinander abgrenzbarer Substanzen also nicht für die Wirklichkeit der Natur, sondern für eine nominale Unterscheidung, die lediglich einen denkerischen Perspektivismus in das Ganze der einen Substanz einführt. 63 Er sucht seinerseits die Einheit des Seins der Welt mit der veränderlichen Vielfalt des einzelnen Seienden in einer Substanz zu erfassen und verwirft dabei die Ideen Descartes' nicht, sondern geht über sie hinaus, indem er in der Unterscheidung der Substanz nach verschiedenen Attributen eine nominale Strukturbestimmung der Wirklichkeit durch den Verstand aufzeigt. 64 Im Gegensatz zu Descartes, der mit der Einführung der Michael Della Rocca diskutiert die Bezugnahme Spinozas auf Descartes sehr ausführlich unter der Frage »How many things are there in the world?« und zeigt, dass »Spinoza’s understanding of substance is, in many ways, a principled transformation and criticism of Descartes’s conception«. Er geht noch weiter und zeigt, dass Spinoza Descartes’ Motivation viel konsistenter folgt, als dieser selbst es getan hat. Spinoza übernehme die Unterscheidung von Substanz, Attribut und Modi und leite daraus seine Argumente für den Substanzmonismus und für die Überzeugung her, dass es im fundamentalen Sinne nur eine Substanz in der Welt geben kann und alle Dinge Modi einer Substanz und nicht verschiedene Substanzen sind. Michael Della Rocca, Spinoza, London 2008, S. 33. 64 Im Gegensatz zur Diagnose einer Überwindung des cartesischen Substanzdualismus steht auch die Interpretation Han van Rulers, der »Residuen des cartesischen Dualismus« bei Spinoza sieht und dessen Aufnahme des »Dualismus der Attribute« sogar für eine Radikalisierung des Cartesianismus hält. Es ging Spinoza und seinen Zeitgenossen weniger, so van Ruler, um die Überwindung der Geist-Körper-Unterscheidung, sondern vielmehr um die Überwindung der einhellig für vollkommen unzulänglich gehaltenen cartesianischen Erklärung ihrer Wechselwirkung aus der Zirbeldrüse. Besonders die Frage der Wechselwirkung wollte Spinoza aber mit der parallelistischen Ineinanderführung der Attribute in ihrer Affizierbarkeit sowie der Verschränkung des Denkens und der Ausdehnung in einer Substanz lösen – und daher bleibt unklar, inwiefern wir es hier mit einer Radikalisierung zu tun haben. Vgl. Han van Ruler, »Spinozas doppelter Dualismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/3 (2009), S. 399–417. Dass Spinoza die Philosophie von Descartes nicht abgelehnt, sondern vielmehr ausgeführt hat, hat allerdings schon Hegel festgestellt: »Die Spinozistische Philosophie verhält sich zur Philosophie des Descartes nur als eine konsequente Ausführung, Durchführung dieses Prinzips. [. . . ] Spinozas Philosophie ist die Objektivierung der Cartesianischen, in der Form der absoluten Wahrheit. [. . . ] Was wahr ist, ist schlechthin nur die eine Substanz, deren Attribute Denken und Ausdehnung (Natur) sind; und nur diese absolute Einheit ist wirklich, ist die Wirklichkeit, – nur sie ist Gott. Es ist wie bei Descartes die Einheit des Denkens und des Seins oder das, was den Begriff seiner Existenz in sich selbst enthält.« Hegel führt den entscheidenden Unterschied zu Descartes weiter aus: »Cartesius’ Substanz, Idee, hat wohl das Sein selbst in ihrem Begriffe, aber es ist nur das Sein als abstraktes Sein, nicht Sein als reales Sein oder 63

Substanz und Substanz (Descartes)

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realen Unterscheidung der Substanzen in der Natur eine Privilegierung des Denkens als gesetzgebender Instanz vornimmt, macht Spinoza in der nominalen Konstruktion zweier paralleler Zugänge zur einen Substanz ein Verhältnis der Implikation und der Affirmation der Attribute der einen Substanz deutlich. Diese ineinanderspielenden Dimensionen beruhen nicht auf der Negation oder dem identifizierenden Ausschluss einer Dimension durch die andere, sondern auf einem Verhältnis der Affirmation und der Bejahung. Mit der Absetzung von Descartes' Position wird also deutlich, dass Spinoza dessen Substanz-SubstanzUnterscheidung nicht verwirft, sondern weitergehend ausdeutet. Deleuze streicht heraus, dass uns »die reale Unterscheidung [. . . ], so wie sie Descartes gebrauchte, auf den Weg zu einer bedeutenden Entdeckung [brachte]: die unterschiedenen Seiten bewahrten jede ihre Positivität, statt sich durch den Gegensatz der einen zur anderen zu definieren. Non opposita sed diversa war die Formulierung der neuen Logik.« 65 Dass mit der Feststellung des Denkens bei Descartes auch eine Negation der Ausdehnung verbunden sein sollte, liegt für Deleuze darin begründet, dass Descartes seiner Unterscheidung der Substanzen einen numerischen Wert und eine funktionale Konnotation beigelegt habe, was dazu geführt hat, dass die Realität in ihrer Teilung stets qualitativ und als Forderung einer positiven und vollkommenen Realität eines Dings wahrgenommen wurde. Da die Dinge von unterschiedlicher Realität sind, erscheine in ihnen auch eine Forderung nach mehr und damit vollkommenerer Realität. 66 Deleuze sieht im cartesianischen Substanzdualismus einen numerischen bzw. normativen Wert, an dem die Wirklichkeit bemessen wird und der zu einer qualifizierenden Beurteilung der Dinge führt. Hier wird deutlich, dass mit der hierarchischen Interpretation der cartesischen Unterscheidung und der Überordnung des Denkens über die Ausdehnung etwas eingeführt wird, was Spinoza für die Natur der Dinge strikt ausschließt: ihre Unvollkommenheit. Spinoza betont vielmehr die Vollkommenheit einzelner Dinge auf der jeweiligen Stufe ihrer Realität, bis hin zu der Feststellung, dass es in der Natur kein gut und kein schlecht, kein falsch und kein richtig gibt, da alle einzelnen Formen des Seienden ohne jede Beschränkung in ihrer Natur als Ausdehnung, sondern Körperlichkeiten, anderes als die Substanz, kein Modus derselben. Ebenso ist Ich, das Denkende, für sich, auch ein selbständiges Wesen. Diese Selbständigkeit der beiden Extreme hebt sich im Spinozismus auf, und sie werden zu Momenten des einen absoluten Wesens.« Bei Spinoza komme es gerade darauf an, so Hegel, das Sein als eine Einheit der cartesianischen Gegensätze zu fassen, den Gegensatz nicht zu negieren, sondern Denken und Ausdehnung zu vermitteln. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 157 ff. 65 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 55. Vgl. dazu den Hinweis von Deleuze auf: Lewis Robinson, Kommentar zu Spinozas Ethik, Leipzig 1928, S. 113 ff. 66 Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 55.

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zu bejahen sind. Aus seiner Konzeption der einen vollumfänglichen Substanz folgt damit auch eine strikt antimoralische Haltung den Dingen der Natur gegenüber, d. h., die Natur und die natürlichen Dinge werden nicht als mehr oder weniger vollkommen oder unvollkommen betrachtet, sondern als unterschiedliche Modi der Natur. In Hinblick auf die Vollkommenheit der Substanz wird bereits im Kurzen Traktat festgehalten: »Es existiert keine begrenzte Substanz; vielmehr muß jede Substanz in ihrer Gattung unendlich vollkommen sein, denn im unendlichen Verstand Gottes kann keine Substanz vollkommener sein als die, die schon in der Natur existiert.« 67 Es gehört also jedes Ding eines jeden Attributs unbegrenzt zur göttlichen Natur, und so bejahen die Attribute die Modi, wie sie selbst von der positiven Natur der einen Substanz bejaht werden, in der es keine Negativität und keinen Mangel gibt, der das eine Ding unvollkommener machen würde als das andere. Um diese »Logik der Bejahung« zu begreifen, so Deleuze, musste Spinoza »sich bis zur Idee einer einzigen Substanz erheben, die sämtliche real unterschiedlichen Attribute besitzt«. 68 Spinozas Entwicklung des Dreischritts Substanz – Attribute – Modi geht also über Descartes auf Aristoteles und die Unterscheidung Substanz – Akzidens – Relation zurück und erweist sich doch zugleich als ganz anders. 69 Spinoza expliziert sein Verständnis von Substanz mit dem Begriff der substantia vor allem in der Ethica, während er ihn in seinen kleineren Schriften und Briefen eher uneinheitlich und zumeist in Verbindung zur cartesischen Darstellung von Substanz und Attribut verwendet. In Descartes' Prinzipien der Philosophie wird noch ganz im Sinne des cartesischen Rationalismus festgehalten: »Geist und Körper sind real unterschieden« (PPC1p8). 70 Spinozas Begriff der Substanz rekurriert also durchgehend auf die aristotelische und KV, Erster Teil, Zweites Kapitel, S. 18 f. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O. 1993, S. 56. Wie Deleuze schreibt: »Die Philosophie Spinozas ist eine Philosophie der reinen Bejahung. Die Bejahung ist das spekulative Prinzip, auf dem die ganze Ethik beruht.« Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 55. 69 Zur Diskussion dieses Bezugs auf die aristotelische Unterscheidung im historischen Kontext und zu Spinozas Ersetzung von Substanz und Akzidens durch Substanz und Modi vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 48 ff. 70 Im Beweis führt Spinoza weiter aus: »Was auch immer wir klar wahrnehmen, kann von Gott zustande gebracht werden, so wie wir es wahrnehmen [. . . ]. Wir nehmen aber klar den Geist wahr, d. h. [. . . ] eine Substanz, die ohne den Körper, d. h. ohne irgendeine ausgedehnte Substanz, denkt [. . . ]; und umgekehrt klar den Körper [als etwas, das] ohne den Geist [ist] (wie jeder ohne weiteres einräumt). Deshalb kann, wenigstens durch göttliche Macht, der Geist ohne den Körper sein und der Körper ohne den Geist.« Spinoza hält fest, dass diese Substanzen ohne einander sein können und damit real unterschieden sind, und folgt damit an dieser Stelle noch Descartes. Vgl. PPC1p8. 67 68

Substanz und Attribute

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die scholastische Tradition, wird aber in der Ethica mit Gott verbunden und von Gott als einer unbedingten Substanz ausgehend in einen Parallelismus der Attribute überführt, der auf der einheitlichen Gleichursprünglichkeit der Ordnung der Ideen und der Ordnung der Körper aufbaut. 71 Denkende Substanz und ausgedehnte Substanz sind für Spinoza eine Substanz, die einmal unter diesem, einmal unter jenem Attribut begriffen wird. Auch wenn er sich eng an Descartes orientiert, ist seine parallelistische Anlage der Attribute in einer Einheit der Substanz der entscheidende Unterschied zur dualistischen Anlage der Attribute in zwei Substanzen. Für Spinoza ist auch das Denken ein Teil der intelligiblen Natur selbst und wird nicht gegen die Ausdehnung gestellt. So erscheint seine Lösung nicht nur in Hinblick auf die Vermittlung von Körper und Denken als eine fortschreitende Überwindung des Cartesianismus, sondern sie hebt jede Überschreitung der einen Substanz und damit die Notwendigkeit der Vermittlung zweier Substanzen auf. Das Problem, das Descartes hinterlassen hat, nämlich den Zusammenhang der Substanzen plausibel zu erläutern, löst Spinoza auf, indem er sie ineinanderführt und als Akzidenzien bzw. als Attribute einer Substanz denkt, die Gott und damit Natur ist. Was für Descartes also zwei unterschiedliche Substanzen sind, sind für Spinoza zwei Attribute einer Substanz, die durch nichts Äußeres bedingt und durch eine in ihr selbst bestehende Differenz erkennbar ist. Sie ist an sich unendlich und unbedingt in dem Sinne, dass sie nur durch sich selbst begriffen werden kann und aus sich selbst hervorgeht, und sie ist an sich unbestimmt, da sie ihre Gliederung nach Attributen und Modi erst und nur in der Erkenntnis des Menschen annimmt.

I.5 Substanz und Attribute

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Ethica steht nun Spinozas Bestimmung von Gott als Substanz. Man könnte meinen, dass mit E1p14 und E1p15 alles gesagt sei, da hier die Gleichsetzung Gottes mit der Substanz erfolgt und eine absolute Singularität Gottes herausgestellt wird, aus der folgt, dass alles mit Notwendigkeit aus der göttlichen Natur hervorgeht. 72 In seiner Gleichsetzung mit Gott Allerdings lassen sich die Ideen des menschlichen Geistes nicht aus der einfachen Parallelität der Attribute herleiten. Melamed verdeutlicht ihre Verschiebungen, in dem er zwei verschiedene Formen des Parallelismus anführt, und zwar zum einen den »ideas-things parallelism« und zum anderen den »inter-attributes parallelism«, wobei er im ersten eine Strukturähnlichkeit des Denkens und anderer Attribute betont sieht und im zweiten eine parallele Struktur zwischen den Modi des einen und den Modi des anderen Attributs. Vgl. dazu: Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013, S. 139 ff. 72 Vgl. E1p16: »Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen (d. h. alles, was unter einen unendlichen Verstand fallen kann).« 71

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und der Natur weist der Substanzbegriff eine innere Struktur auf, die für alles Folgende bestimmend ist. 73 Spinoza definiert: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich selbst ist (in se est) und durch sich selbst begriffen wird, d. h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müßte« (E1d3). 74 Dass die Substanz in sich ist (in se est), bedeutet, dass sie aus sich selbst heraus existiert, nicht in anderem ist (in alio est) und nicht erst von anderem in Kraft gesetzt wird. Die radikale Selbständigkeit und Unbedingtheit der Substanz als Ursache ihrer selbst setzt voraus, dass es nur eine Substanz geben kann, da jede neben ihr existierende Wirklichkeit sie begrenzen würde. Der lateinische Begriff der substantia und die zugehörigen Begriffe substare und subsistendo zeigen bereits etymologisch ein Durch-sichselbst-Sein und damit die Selbständigkeit der Substanz im Sinne eines Subsistenzverhältnisses an. 75 Substanz ist in sich selbst, während Attribute und Modi in einem anderen sind und erst durch dieses andere begriffen werden können. Diesen Grundsatz hält Spinoza im ersten Axiom des ersten Teils fest: »Alles, was ist, ist entweder in sich selbst oder in einem anderen« (E1a1). Die Gegenüberstellung von Substanz auf der einen Seite und Attributen und Modi auf der anderen Seite verdeutlicht die Selbständigkeit der Substanz im Gegensatz zu den unselbständigen Modi. Außer Substanz und Modi gibt es nichts, und da die Substanz nur aus sich selbst zu begreifen ist, die Modi hingegen ohne die eine Substanz nicht zu begreifen sind, ist für Spinoza klar, dass nichts ohne Gott sein oder begriffen werden kann und alles in der Natur aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bewirkt wird. 76 Zum Monismus der Substanz und der Funktion der Attribute im Kontext des Satzes vom hinreichenden Grund vgl.: Michael Della Rocca, »Explaining Explanation and the Mulitplicity of Attributes«, in: Michael Hampe und Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, Berlin 2006, S. 17–35. 74 Auch in den Briefen kommt Spinoza immer wieder auf den Aufbau seiner Ontologie und den Grundbegriff der Substanz zu sprechen. Besonders eingehend im Brief an Ludwig Meyer vom 20. April 1663: »Was ich von der Substanz bemerken will, ist: erstens, daß zu ihrem Wesen die Existenz gehört, d. h. daß es bloß aus ihrem Wesen und ihrer Definition folgt, daß sie existiert, wie ich Ihnen schon früher, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, mündlich und ohne die Hülfe anderer Lehrsätze bewiesen habe; zweitens, was aus dem ersten folgt, daß die Substanz nicht mehrfach, sondern daß nur eine einzige von derselben Natur existiert; drittens endlich, daß jede Substanz nicht anders als unendlich gedacht werden kann« (Ep 12:48). In der Korrespondenz mit Tschirnhaus (Ep 80 und Ep 81) wird der Brief Nr. 12 an Meyer als Brief über das Unendliche bezeichnet. Vgl. dazu auch: Martial Gueroult, »Spinoza’s Letter on the Infinite (Letter XII, to Louis Meyer)«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 182–212. 75 Vgl. zum Begriff der »Substanz« den entsprechenden Eintrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie und zu Spinozas Terminologie allgemein: G. T. Richter, Spinozas philosophische Terminologie I: Grundbegriffe der Metaphysik, Leipzig 1913. 76 Vgl. E1p15dem, E1p29 und den Brief Heinrich Oldenburgs an Spinoza vom 17. September 1661. Oldenburg stellt hier die Möglichkeit eines Beweises der Existenz Gottes infrage, weil 73

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Nachdem Spinoza Gott in das Modell seiner Ontologie eingeführt hat, wird die immanente Singularität seines Substanzbegriffs anschaulicher und damit noch deutlicher: »Außer Gott kann es keine Substanz geben und keine begriffen werden« (E1p14). Als unbedingt unendliches Seiendes kann keines seiner Attribute verneint werden, und wenn es etwas außerhalb Gottes gäbe, müsste es durch ein Attribut Gottes erklärt werden und es würde zwei Substanzen eines Attributs geben, was unmöglich ist. Gott ist einzig, weil es in der Natur nur eine unendliche und unbedingte Substanz gibt oder weil die Natur nur diese unendliche und unbedingte Substanz ist. Ausdehnung und Denken sind also die für den Menschen erkennbaren Attribute Gottes bzw. die Affektionen der Attribute Gottes und damit der einen Substanz. Die Substanz ist also in ihren Attributen verschieden und gleichwohl kann es nur eine Substanz geben. »In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen derselben Natur, d. h. desselben Attributs, geben« (E1p5). Falls es unterschiedene Substanzen geben sollte, so sind sie nur aufgrund ihrer Attribute oder aufgrund ihrer Affektionen verschieden, denn es gibt eine Verschiedenheit der Attribute und eine Verschiedenheit der Affektionen der Substanz, aber eben keine Verschiedenheit der Substanz selbst. »Zwei oder mehrere unterschiedene Dinge unterscheiden sich voneinander entweder anhand einer Verschiedenheit der Attribute der Substanzen oder anhand einer Verschiedenheit der Affektionen dieser Substanzen« (E1p4). Spinoza zeigt, dass die Substanz ihren Affektionen und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Modi vorgeordnet ist. Wenn Substanz etwas ist, das in sich selbst durch sich selbst ist (vgl. E1d3), und Modi das sind, was in einem anderen ist (vgl. E1d5), dann wird klar, was Spinoza in E1p1 betont, nämlich die Vorgängigkeit der Substanz vor ihren Affektionen: »Eine Substanz geht der Natur nach ihren Affektionen voran« (Substantia prior est natura suis affectionibus) (E1p1). Die in der Einheit der Substanz herrschende Vielheit wird durch ihre interne Selbstmodifikation hervorgebracht, doch wie hier anklingt, bleibt die Substanz dabei eine grundlegende und fundierende Einheit. Auf diese Weise entsprechen sich die Modi in ihrer Substanz, d. h., sie könnten nicht vollkommen anders sein, als sie als Teile der Substanz sind, und bleiben in den Voraussetzungen ihrer jeweiligen Ausprägung identisch. Diese Vorgängigder Geist sehr vieles begreifen könne, was nicht existiert, und er daher nicht aus einem Begriff von Gott auf dessen Existenz schließen will. Er könne aber durchaus, »aus der idealen Summe aller Vollkommenheiten [. . . ] aus Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralien usw. [. . . ] den Begriff einer einzigen Substanz bilden [. . . ]. Mein Geist vermag sogar diese ins Unendliche zu vervielfachen und zu vermehren und so sich die Vorstellung eines allervollkommensten und ausgezeichnetsten Wesens zu bilden, aber daraus kann keineswegs die Existenz eines derartigen Wesens geschlossen werden« (Ep 3:9).

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keit der Substanz, die als letzter Grund der vielfachen einzelnen Modi erhalten bleibt, ist eine der umstrittensten Annahmen, die Spinozas Begriff unbedingter, absoluter Substanz mit sich bringt und auf die wir noch mal zurückkommen. Es ist deutlich, dass die Substanz als Essenz eine Macht und damit eine Kraft ist, etwas zu bewegen, und dass sie in dieser Macht aufgeht. »Gottes Essenz ist genau seine Macht«, schreibt Spinoza in E1p34. Ihre Attribute sind die Formen, in denen wir die Substanz und damit auch uns selbst erkennen können, und dabei ist entscheidend, dass die Substanz nicht finalisierend ausgerichtet ist, sondern als eine unendliche und in sich unendlich variable Bewegung von Differenzen zu verstehen ist, die sich aus ihren inneren Relationen ergeben. Die absolute Substanz erscheint für das menschliche Individuum als res cogitans und res extensa und es gibt keinen darüberhinausgehenden Grund ihrer Einheit, der nicht in ihren Attributen enthalten wäre. Sie geht in ihrer immanenten Kausalität auf, und ihre innere Komplexität und Variabilität ist auf die beiden essenziellen Attribute zurückzuführen, in denen sie für den Menschen erkennbar ist. In genau dieser Weise ist die Substanz für die menschlichen Individuen determinierend, d. h. sie könnte für den Menschen nicht etwas ganz anderes sein, sondern ist notwendig in ihren Attributen. »Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind« (E1p33). Die Substanz bringt ihre Attribute nicht hervor und ist in diesem Sinne nicht von ihnen verschieden, aber sie bringt durch die Attribute die Modi hervor, die damit stets auf eine Ursache außerhalb ihrer selbst verwiesen bleiben. 77 Daher zeigen sich die Modifikationen in einem Attribut jeweils auch im anderen Attribut, d. h. Modifikationen der Ausdehnung sind immer auch Modifikationen des Denkens, und die individuierten Modi sind zugleich getrennte Einzeldinge und Elemente eines verbundenen Ganzen. Die Substanz ist also unbedingte Ursache ihrer selbst und wird durch nichts anderes hervorgebracht, sondern existiert aus ihrer eigenen Natur heraus. »Zur Natur einer Substanz gehört es zu existieren« (E1p7) und ihre eigene Ursache zu sein, denn würde sie von etwas anderem hervorgebracht, so müsste auch ihre Erkenntnis von der Erkenntnis Siehe dazu die Argumentation von Wolfgang Bartuschat, der sich ebenfalls gegen eine Verabsolutierung der Substanz ausspricht, in der zwar die Vielfalt der Modi vorhanden wäre und aus der diese hervorgingen, aber eben als ursprünglich und notwendig an diese gebunden. Die Totalität der Modi würde hier zur absoluten Einheit selbst und es gäbe keine besondere Auszeichnung eines einzelnen Seienden. Vgl. Wolfgang Bartuschat, »Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten«, in: Hans Radermacher u. a. (Hg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer, Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 99–121, hier: S. 101 ff. Wieder aufgenommen in: Wolfgang Bartuschat, Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 104–129. 77

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einer äußeren Ursache abhängen. 78 Da Substanz aber notwendigerweise unendlich ist, kann sie nicht von einer anderen Substanz begrenzt werden und nicht durch etwas anderes erkannt werden. Unter Substanz ist also nur das zu verstehen, was durch sich selbst begriffen werden kann und zu dessen Erkenntnis es keines anderen Dinges bedarf. Wie sich zeigen wird, stehen die Modi im Unterschied zur Substanz stets in einem anderen Zusammenhang und ihr Begriff wird vom Begriff eines anderen Dinges her gebildet. Sie unterliegen dem Gesetz der Kausalität und sind durch äußerliche Ursachen determiniert. Substanz ist für Spinoza also immanent und singulär, d. h., es kann nur die eine absolute und unendliche Substanz geben. 79 78 Vgl. dazu auch E1p7d. In einem Brief an Heinrich Oldenburg führt Spinoza z. B. auch das Attribut der Ausdehnung als durch sich und in sich begreifbar an, wohingegen die Bewegung nicht aus sich begreifbar ist, »denn sie wird in einem anderen begriffen und ihr Begriff schließt die Ausdehnung in sich« (Ep 2:6). 79 Dass der Begriff der Substanz nicht nur für Spinoza ein Grundbegriff ist, der in seiner Stellung für das ontologische Denken unhintergehbar ist, hat Hegel dazu veranlasst, ihn als den metaphysischen Rest zu kennzeichnen, von dem die frühneuzeitliche Philosophie nach seiner Ansicht nicht loskommt. Die »Philosophie der neuen Welt« fängt für Hegel mit Descartes an; erst hier findet er eine »selbstständige Philosophie, [. . . ] welche weiß, daß sie selbstständig aus der Vernunft kommt« und über ein von sich selbst ausgehendes Denken verfügt. Diese neue Epoche philosophischen Denkens setze die Innerlichkeit des eigenständigen und unabhängigen Denkens gegen die Übermacht der Außenwelt und gegen die Äußerlichkeit. Was hier als Festes gelten und anerkannt werden soll, gelte nur durch das Denken und muss sich im Denken bewähren. So werde das Denken als das allgemeine Prinzip der Welt und der Individuen ausgemacht. In Abhebung von der philosophischen Theologie des Mittelalters, die nicht auf ein freies, von sich selbst ausgehendes Denken bauen konnte, ist diese neue Epoche für Hegel eine »Periode des denkenden Verstandes« und damit ein »Wiederanfang der Philosophie«. Nun kann die Philosophie der neuen Welt zwar das Denken als unabhängig und aus sich heraus selbständig begreifen, sie bleibt aber trotzdem Metaphysik, insofern sie alles Gedachte, Erlebte und Beobachtete gleichermaßen aus einem denkenden Verstand und als Metaphysik aufbaut. Insbesondere diese Ableitung der Dinge aus dem denkenden Verstand hat die Kritik immanent und detranszendental verfahrender Theorien von Erfahrung auf den Plan gerufen, für die im vorliegenden Kontext stellvertretend Deleuze steht. Zwar habe sich die Philosophie der Frühen Neuzeit von der philosophischen Theologie des Mittelalters emanzipiert, sei aber gleichwohl Metaphysik geblieben, und daher gelinge es ihr nicht, so Hegel, das Viele und die Pluralität und nicht nur das Eine zu denken. Sie suche nicht die Pluralität von Formen und Gehalten, nicht das Viele, sondern nur das Eine. Genau dieses Vorurteil soll hier ausgeräumt werden, indem Spinoza von Deleuze (und damit implizit auch von Nietzsche) her als ein Denker der Pluralität vorgestellt wird, dem es gelingt, die Einheit und das Viele in einen begründeten Zusammenhang zu stellen. Für Hegel hält die frühneuzeitliche Philosophie alles in einer Einheit, und in diesem Sinne weist sie eben eine »Tendenz zur Substanz« auf. Hegel zögerte nicht, die Metaphysik in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie schlechthin als eine »Tendenz zur Substanz« auszuweisen und in ihr einen strikten »Gegensatz von Substantialität und Individualität« zu sehen. Insbesondere in dieser Phase des Wiedererwachens der Philosophie sieht Hegel die Aporien substanzverhafteten Denkens am Werk, und besonders deutlich erscheint ihm diese Tendenz bei Spinoza. Hegel führt die frühneuzeitliche Philosophie dann anhand der Unterscheidung von Rationalismus und Empirismus aus. Rationalistische und empiristische Erkenntnisweisen, Bestimmungen

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Mit ihrer Unendlichkeit wird auch ihr affirmativer Charakter ausgewiesen, denn durch ihre Unendlichkeit ist alles in positiver Weise in ihr vorhanden und es gibt keine Negativität. »Weil endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist und unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur (et infinitum absoluta affirmatio existentiae alicujus naturae), folgt [. . . ] dass jede Substanz unendlich sein muss« (E1p8s). Würde Substanz für endlich gehalten, so würde sich aus ihrer Begrenztheit je ein verworfener Bereich der Negativität ergeben, d. h. eine partielle Verneinung (parte negatio). Der affirmative Charakter der Substanz ist verbunden mit der Annahme, dass sie alle Teile des Ganzen vollumfänglich erfasst, also monistisch ist und damit alles in sich aufhebt und affirmativ miteinander in Beziehung setzt. Die Attribute differenzieren sich für Spinoza als verschiedene Formen der Wirklichkeit der Substanz aus. Sie gehören ihr unmittelbar an, sind aber für den Menschen nur in der beschriebenen Trennung von res extensa und res cogitans erkennbar. Ihre Bestimmung verläuft in zwei Richtungen: einerseits sind sie die unendliche Substanz, also Gott selbst, wie Spinoza in E2p1 und E2p2 festhält. 80 Andererseits sind sie die Voraussetzung der Erkenntnis einzelner, endlicher Dinge als Essenz (essentia) der Substanz (substantia). »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz [quod intellectus de substantia] als deren Essenz ausmachend erkennt [percipit tanquam ejusdem essentiam constituens]« (E1d4). Die Attribute sind also, wie die Substanz selbst, von der Unendlichkeit her zu verstehen, und die unendliche Substanz modifiziert sich durch die Attribute. 81 Gemäß einer eher subjektivistischen Deutung besagt dies, dass der menschliche Verstand die Substanz nicht in ihrer Unendlichkeit des Denkens und Bestimmungen der Erfahrung überkreuzen sich hier, sie nehmen ihren Ausgang gleichermaßen von der Erfahrung. So erzeuge das eigenständige Denken der neuen Zeit zuerst eine Metaphysik (Descartes und Spinoza – mit der Fixierung auf die Methode des Denkens) und dann einen Skeptizismus gegen diese Metaphysik, d. h. erst Rationalismus und dann Empirismus. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., 2003, S. 122 ff. und 157 ff. Zu der Frage, ob die immanente Totalität des Ganzen nun eher mit dem Begriff der Substanz oder besser doch mit Hegels Begriff des Geistes zu fassen sei, siehe auch das Kapitel zu Hegel und Spinoza in Yovels umfassender Auseinandersetzung mit der Konzeption von Immanenz. Yirmiyahu Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 2012, S. 330–361. 80 E2p1 lautet: »Denken ist ein Attribut Gottes, anders formuliert, Gott ist ein denkendes Ding«, und E2p2 lautet: »Ausdehnung ist ein Attribut Gottes, anders formuliert, Gott ist ein ausgedehntes Ding.« 81 Für eine feministisch-geschlechtertheoretische Auslegung des ontologischen Modells Spinozas im Sinne eines mimetischen und strategisch-essentialistischen Feminismus sei auf die Auseinandersetzung von Luce Irigaray mit dem ersten Teil der Ethica hingewiesen. Vor allem sollte dazu allerdings die Kritik von Sarah Donavan beachtet werden, die Irigarays Spinoza-Lektüre einer differenzierenden Überarbeitung unterzieht. Luce Irigaray, »The Envelope. A Reading of Spinoza’s Ethics, ›Of God‹«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 155–164, (auch abgedruckt in: Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza. Minnea-

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erkennen kann, sondern nur in Form von zwei Attributen. Eine eher objektivistische Auffassung käme zu dem Schluss, dass sich in den erkennbaren Attributen die Substanz zeigt, und dass die Substanz nur in den Attributen als ihrer Essenz vorhanden und erkennbar ist. 82 Die Attribute sind also sowohl auf Seiten der Substanz als auch auf Seiten der Modi anzusiedeln, sie organisieren in gewisser Weise das System der Einzeldinge, und dabei sind auch die noch nicht existierenden Einzeldinge in ihnen angelegt. In E2p8 hält Spinoza fest: »Die Ideen von Einzeldingen oder von Modi, die nicht existieren, müssen in der unendlichen Idee Gottes so einbegriffen sein, wie das Sein der Essenzen von Einzeldingen oder von Modi in Gottes Attributen enthalten ist.« Das heißt, auch die noch nicht existierenden Einzeldinge sind in der unendlichen Idee Gottes enthalten und gehen in Abhängigkeit von den Affektionen der Attribute Gottes in die Existenz über. In der zweiten Definition des zweiten Teils der Ethica erklärt Spinoza, dass die Essenz eines Dinges sein Gegebensein bedingt und Dinge als Essenz (im Unterschied zur Substanz) gegeben oder aufgehoben werden. »Zur Essenz irgendeines Dinges gehört meinem Verständnis nach das, mit dessen Gegebenheit das Ding notwendigerweise gesetzt und mit dessen Aufhebung das Ding notwendigerweise aufgehoben wird; anders formuliert dasjenige, ohne das das Ding weder sein noch begriffen werden kann, und das seinerseits ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann« (E2d2). Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen der Abgrenzung der Essenz eines Dinges von der Substanz (vgl. E1d4) und den Attributen. Denn die Attribute sind das, was der Verstand an der Substanz als Essenz auszumachen vermag, was der Verstand also von der Substanz in Form des einen oder des anderen Attributs erkennen kann. Spinoza macht aber auch deutlich, dass die Substanz über weit mehr als nur die zwei erkennbaren Attribute verfügt und die Zahl der Attribute von der Realität eines jeden Dinges abhängt: »Je mehr Realität oder Sein ein jedes Ding hat, umso mehr Attribute kommen ihm zu« (E1p9). Mit der Steigerung der Realität, d. h. der Vollkommenheit eines Dings, steigert sich auch die Zahl seiner Attribute und das heißt, dass wir es in der Vollkommenheit Gottes, und möglicherweise auch in den seiner Erkenntnis nahekommenden höheren Erpolis 1997, S. 36–44), sowie: Sarah Donavan, »Re-reading Irigaray’s Spinoza«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 165–187. 82 Vgl. Harry Austryn Wolfson, The Philosophy of Spinoza. Unfolding the Latent Processes of his Reasoning, Cambridge, MA 1934, Vol. I, S. 142 ff., sowie Edwin Curley, »On Bennett’s Interpretation of Spinoza’s Metaphysics«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 35–51, und Alan Donagan, »Essence and the Distinction of the Attributes in Spinoza’s Metaphysics«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 164–181.

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kenntnisstufen, mit einer je höheren Anzahl von Attributen zu tun haben. Mit der Überschreitung des an Descartes angelehnten Schemas zweier Attribute in die Unendlichkeit eröffnet Spinoza die Potentialität einer Erkenntnis, die sich über das dualistische Schema zweier Attribute und ihrer Reduplikation hinaus steigern kann. 83 Erfahrung und Erkenntnis erschöpfen sich also nicht in der Aufteilung nach einem Attribut der Ausdehnung und einem Attribut des Denkens, sondern in ihnen ist eine Möglichkeit angelegt, dieses Schema und insbesondere das in ihm zugrunde gelegte Deckungsverhältnis der Welt der Ausdehnung und der Welt des Denkens zu überschreiten. Auch wenn die Substanz entweder nur in Form der Attribute erkannt werden kann oder sie nur in zwei Attributen vorhanden ist (subjektive und objektive Variante), so ist doch festzuhalten, dass »die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird« (E2p7s). 84 Die getrennten Attribute werden in ihrer parallelistischen Anlage umklammert, d. h., Ausdehnung und Denken sind zwar unterschiedliche Attribute der einen Substanz, aber nicht zwei verschiedene Substanzen, wie Spinoza in Abgrenzung von Descartes unmissverständlich festhält. 85 »Zwei Substanzen, die verschiedene Attribute haben, haben nichts miteinander gemein« (E1p2). Und: »Von Dingen, die nichts miteinander gemein haben, kann das eine nicht die Ursache des Zum Verhältnis der Attribute hinsichtlich der Identitiät von Körper und Geist siehe auch: Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy. Oxford 1997, S. 136–145. Sowie auch die ausführlliche Diskussion der Einheit von Körper und Geist mit Blick auf die Affekte bei Jaquet: Chantal Jaquet, L’unité du corps et de l’esprit. Affect, actions et passions chez Spinoza, Paris 2004. 84 Vgl. zu diesem Scholium auch die Erläuterungen von Jonathan Bennett: »Eight Questions about Spinoza«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind. Leiden 1994, S. 11–25, hier S. 12. 85 Zur Identifikation der Attribute und der damit einhergehenden Identifikation von Geist und Körper im psychophysischen Parallelismus vgl. Michael Pauen, »Spinoza und die Identitätstheorie«, in: Michael Hampe und Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, Berlin 2006, S. 81–100. Pauen stellt die Identitätsthese im Kontext der Philosophie des Geistes dar und unterscheidet die Identität auf der Objektebene vom erkennenden Zugang zu den Objekten. Damit ergibt sich für ihn klar, dass Spinoza auf eine Identität geistiger und körperlicher Bezugnahme auf die Objekte hinauswill. Im Unterschied dazu soll hier betont werden, dass sich das Denken nicht einfach nur aus der Parallelität der Attribute ergibt, sondern an ihre Einheit in den Affektionsverhältnissen gebunden ist. Ideen ergeben sich nach meiner Einschätzung zwar aus der Parallelität von Körper und Geist, doch ist diese Parallelität stets von ihrer Einbindung in die äußere Ausdehnung und das äußere Denken, d. h. in körperlichen und geistigen Affektionsusammenhängen zu sehen. Interessant wird die Frage der Identiät jedoch vor allem, wenn es um Abweichungen von dieser Parallelität geht, wenn also Erfahrungen im Denken nicht mit Erfahrungen des Körpers übereinstimmen oder umgekehrt. Die Frage der Identität der Attribute diskutiert auch Michael Della Rocca, »Spinoza’s Argument for the Identity Theory«, in: The Philosophical Review, 102/2 (1993), S. 183–213, sowie ders.: »Causation and Spinoza’s Claim of Identity«, in: The Ethics, 2001, S. 127–139. 83

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anderen sein« (E1p3). 86 Spinoza stellt die Attribute der Ausdehnung und des Denkens in ein horizontales Verhältnis und vermeidet ihre Hierarchisierung, somit gibt es keine Überordnung des Intelligiblen über das Körperliche und nichts, was der Natur übergeordnet wäre, sondern nur ihre verschiedenen Attribute und daraus hervorgehend ihre Modi in mannigfaltigen Verbindungen. Das menschliche Individuum ist dabei nicht eine Verbindung von Ausdehnung und Denken, sondern es ist als Einheit von Ausdehnung und Denken vielmehr ein einzelner Modus, der aus den Perspektiven beider Attribute betrachtet werden kann. 87 Auch im Scholium zu E1p15 führt Spinoza aus, dass eine unendliche Größe wie die Substanz weder messbar ist noch aus einzelnen, endlichen Teilen zusammengesetzt sein kann. Die Materie, so wird immer wieder betont, ist überall dieselbe und ihre Teile unterscheiden sich nur, sofern wir sie als verschieden affiziert begreifen, d. h. als modal, aber nicht real unterschieden. 88 Aus dem reinen Begriff der Ausdehnung kann die Verschiedenheit der Dinge also nicht bewiesen werden. Daher, so schreibt Spinoza in einem der letzten Briefe an Ehrenfried Walther von Tschirnhaus aus dem Jahr 1676, sei »die Materie von Descartes zu Unrecht durch die Ausdehnung definiert« (Ep 83:300). Sie müsse vielmehr durch ein Attribut erklärt werden, »das ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt« (Ep 83:300); durch ein Attribut der unendlichen Substanz Gottes also, dessen genaue Erörterung als eine durch Attribute erklärbare Materie Spinoza nicht weiter ausarbeitet. 89 Hinreichend deutlich gemacht wird aber, dass ein jedes Attribut »ein und derselben Substanz« zugehört und trotzdem »durch sich selbst begriffen werden« muss. 90 Gegen Ende der Anmerkung zu E1p10 macht Spinoza die Grundlagen dieses Lehrsatzes noch deutlicher und zeigt auf, »daß ein unbedingt unendliches Seiendes zwingend als ein Seiendes zu definieren ist (wie wir es in Definition 6 getan haben), das aus unendlich Vgl. auch die Ausführungen im Brief an G. H. Schuller von 1675. Vgl. dazu Michael Della Rocca, Spinoza, London / New York 2008, S. 89–136, insbesondere: S. 99–104. 88 Vgl. E1p15s. 89 Im genannten Brief an Ehrenfried Walter von Tschirnhaus vom 15. Juli 1676 hält Spinoza fest, dass er zur Frage der durch Attribute erklärbaren Materie »noch nichts in der gehörigen Ordnung« habe abfassen können. Dieses Problem der Materie ist zur Physik zu rechnen, die bei Spinoza insgesamt eher unausgearbeitet bleibt, wenngleich die physikalischen Ausführungen zum Körper in Ruhe und Bewegung, wie sie im zweiten Teil der Ethica gemacht werden, im Folgenden gerade als eine pluralistische Denkungsart des Körpers vorgeführt werden sollen. 90 E1p10 lautet vollständig: »Jedes Attribut ein und derselben Substanz muß durch sich selbst begriffen werden.« Diese Negation der Verbindungen zwischen den Substanzen zieht Della Rocca heran, um sich mit dem Problem der Unterschiedlichkeit der Modi und der Attribute und der Frage des Substanzmonismus auseinanderzusetzen. Vgl. Michael Della Rocca, »Spinoza’s Substance Monism«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza: Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 11–37. 86 87

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vielen Attributen besteht, von denen jedes eine bestimmte ewige und unendliche Essenz ausdrückt« (E1p10s). In einem Brief an Schuller aus dem Jahr 1675 verdeutlicht er die axiomatischen Voraussetzungen der Annahme, dass jedes Attribut ein und derselben Substanz zugehört und es damit keine »Wesen gibt oder geben kann mit drei, vier oder mehr Attributen« (Ep64:250). Spinoza reagiert damit auf Schullers Forderung nach Beispielen »für das, was von Gott unmittelbar und für das, was durch Vermittlung einer unendlichen Modification hervorgebracht ist«, wobei »zur ersten Art Denken und Ausdehnung, zur letzteren der Verstand im Denken, die Bewegung in der Ausdehnung« gehören. (Ep 63:247). In seinen drei zwar wenig anschaulichen, aber theoretisch aufschlussreichen Beispielen erläutert er daraufhin für den ersten Fall das Denken als »schlechthin unendliche[n] Verstand« und die Ausdehnung als »Bewegung und Ruhe« sowie für den zweiten Fall »das Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modis sich ändert, aber immer dasselbe bleibt«. 91 Die erste Unterscheidung, durch welche die Einheit der Substanz aufgespaltet wird, ist also die Unterscheidung der Attribute, die als zwei Essenzen der einen Substanz durch den menschlichen Verstand erkannt werden können und den gleichen Gesetzen unterstehen. »Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen« (E2p7). In der Anmerkung zu diesem Lehrsatz verdeutlicht Spinoza weiter, dass das, »was auch immer von einem unendlichen Verstand als eine Essenz der Substanz ausmachend wahrgenommen werden kann, nur zu einer einzigen Substanz gehört, und daß folglich die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird« (E2p7s). Attribute sind also nicht wie Eigenschaften der Substanz, sondern Substanz wird für den Menschen erst durch die Attribute erkennbar, d. h., ohne die Attribute bleibt die unendliche und absolute Substanz vollkommen unbestimmt und es kann kein endlicher Modus aus ihr hergeleitet werden. Gleichwohl aber folgen auch die endlichen Modi aus der Substanz und daran zeigt sich, dass 91 (Ep 64: 250) Was Spinoza hier mit der Rede vom »Angesicht des ganzen Weltalls« (facies totius universi) meint, wird auch auf der Ebene der Physik der Körper unter E2p13lem7 ausgeführt und bedeutet, dass ein zusammengesetztes Individuum seine Natur behält, wenn sich seine Teile nur nach den Gesetzen der Bewegung und der Ruhe verbinden. Der Begriff facies totius universi, den Spinoza in diesem Brief an Schuller verwendet, kann durchaus der Theorie des Körpers und der Individuation zugeordnet werden, da Spinoza das ganze Weltall als einen unendlichen und in sich selbst unendlich variablen Körper vorstellt. Auch in E2p13s geht er nochmals darauf ein, dass die gesamte Natur ein Individuum ist, dessen Teile sich unendlich verändern können, ohne dass sich das gesamte Individuum verändert, d. h. es bleibt eine trotz aller Veränderungen des Einzelnen gleichbleibende Gestalt des Ganzen, also die nach außen ungeschiedene und nach innen durch Ruhe und Bewegung modifizierte Einheit der gesamten Substanz. Vgl. dazu auch Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S. 207 ff.

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die Substanz von Spinoza bereits aus der Perspektive eines endlichen Seienden, also aus der Perspektive des Menschen, hergeleitet wird. Die Abhängigkeit von der absoluten Substanz kann nur aus der Perspektive des Menschen festgestellt werden, und der Mensch kann ohne die Substanz weder sein noch begriffen werden. Über den Menschen zu sprechen, bedeutet hier also, aus der Perspektive des Menschen dessen Abhängigkeit von der Substanz festzustellen. Im Rahmen der Gotteslehre, die der erste Teil der Ethica ja auch darstellt, ist der Mensch also bedeutsam, weil nur er durch seine Erkenntnis den Beweis Gottes erbringen kann und die Theorie Gottes damit bestimmt und bestätigt. 92 Hier zeigt sich das bereits erwähnte Problem der Abkunft und der Rückbindung der Modi an die Substanz und damit die Frage ihrer essenziellen Vorgängigkeit im Sinne einer Wesensgrundlage. Auch wenn sich Spinozas Theorie der Substanz und seine Theorie des Menschen wechselseitig bedingen und der Mensch von der Substanz abhängt, bedeutet das nicht, dass der Mensch dabei vollkommen unselbständig und nur von dieser Substanz her zu bestimmen wäre. Die Erkenntnis Gottes und der Substanz vollzieht sich notwendig aus der Perspektive des Menschen und damit in den Attributen der Ausdehnung und des Denkens. Und mit der Notwendigkeit dieser Erkenntnisperspektive ist auch die Möglichkeit verbunden, sich selbst erkennend in der Natur zu orientieren und aus eigener Macht zu handeln. Sofern Spinoza die Attribute des Denkens und der Ausdehnung also als menschliche Perspektiven in der Substanz begreift, kann diese ihnen nicht vorgeordnet sein. Substanz kann vielmehr gar nicht unabhängig von den Attributen erkannt werden, sondern drückt sich für den Menschen eben erst in diesen aus, und das heißt, dass Gott sich in diesen Perspektiven ausdrückt und durch die menschlichen Perspektiven erkannt werden kann. Spinoza kann also über Descartes hinausgehen, indem er die vertikale Hierarchisierung zwischen den Modi verschiedener Attribute ausschließt. Ausdehnung und Denken verlaufen parallel und es gibt keine Überordnung des Intelligiblen über das Körperliche oder des Cogito über die Ausdehnung und nichts, was der Natur übergeordnet wäre, sondern nur ihre verschiedenen Attribute und daraus hervorgehend ihre Modi in mannigfaltigen Verbindungen. Wenn Spinoza die Attribute in seiner zentralen Definition als das versteht, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmacht, stellt sich aber auch die Frage, ob damit eine rein erkenntnistheoretische Bestimmung gemeint ist. Ob sich also die Bestimmung nur auf die Erkenntnis der Substanz Für Bartuschat gehören Spinozas Theorie Gottes und seine Theorie des Menschen daher unweigerlich zusammen. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 15. 92

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durch den Verstand bezieht oder ob mit der Bestimmung der Attribute als Erkenntnisweisen der Substanz bereits eine ontologische Aussage verknüpft ist, die sich auf die Verfasstheit der in der Substanz angelegten Vielheit von Ausdrucksformen bezieht. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, zunächst den erkenntnistheoretischen Aspekt zu sehen, doch im Durchgang durch die dann folgenden Bestimmungen wird deutlich, dass die durch den Verstand erkennbare Essenz (essentia) der Substanz, von der hier die Rede ist, nur entweder ausgedehnt oder geistig sein kann, also nur res extensa oder res cogitans ist, da nur diese beiden Attribute für den Menschen erkennbar sind. Erkennt der Verstand etwas als res cogitans oder als res extensa, so erkennt er die Essenz bzw. ein Attribut der Substanz und erst durch diese Perspektivierung die Substanz selbst. Die in E1d4 gewählte Formulierung »Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens« führt zu der Schwierigkeit, dass die gemeinte Substanz sowohl die ganze Substanz sein kann, die Gott und Natur ist, als auch die Substanz eines jeden Dings. Es dreht sich dabei nicht um eine Verwechslung der Substanz der Dinge in ihren Attributen mit der univoken Substanz des Ganzen. Es ist vielmehr gerade ein zentraler Gedanke der Ontologie Spinozas, dass alles die eine Substanz ist, sowohl die Dinge, die unter dem Attribut der Ausdehnung stehen, als auch die Dinge des Denkens. Und auch wenn »zwei Attribute als real unterschieden begriffen werden, [. . . ] [können] wir daraus gleichwohl nicht schließen [. . . ], daß sie zwei Entitäten oder zwei verschiedene Substanzen ausmachen. Das hat nämlich die Natur einer Substanz an sich, daß jedes ihrer Attribute durch sich selbst begriffen wird« (E1p10s). 93 Substanz ist also stets alles – entscheidend ist, unter welchem Attribut der Verstand die Substanz erkennt und als was er sie ausmachen kann. 94 Den Attributen kommt die Stellung einer Vermittlungsinstanz von Substanz und Modi zu, und sie verbinden damit das Einzelne und das Ganze. Gerade in ihrer Zwischenposition erfüllen sie die Funktion, das Individuum in seiner Seinsweise als ausgedehntes und denkendes Ding in einem offenen und dynamischen Individuationsprozess mit der starren Ordnung des Ganzen zu vermitteln.

Vgl. auch E1p10. Was Spinoza unter Substanz versteht, soll hier noch einmal anhand von drei Aspekten auf den Punkt gebracht werden, die er im bereits erwähnten zweiten Brief an Heinrich Oldenburg anführt: »Erstens, daß in der Natur der Dinge keine zwei Substanzen existieren können, ohne daß sie ihrem ganzen Wesen nach verschieden wären. Zweitens, daß eine Substanz nicht hervorgebracht werden kann, sondern daß es vielmehr zu ihrem Wesen gehört zu existieren. Drittens, daß jede Substanz unendlich oder, in ihrer Art, höchst vollkommen sein muß.« Baruch de Spinoza, Briefwechsel, herausgegeben von Manfred Walther, Hamburg 1977, S. 6 (Brief Nr. 2). 93 94

Substanz und Attribute

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Die im vorliegenden Zusammenhang einer Theorie immanenter Individuation verfolgte These zielt darauf, den privilegierten Seinsrang der Substanz und ihre damit verbundene wesensphilosophische Fundierungsfunktion zugunsten einer Potentialität immanenter Ausdrucksformen in der Substanz aufzuheben. Die grundlegende Einheit der Substanz bleibt dabei erhalten, doch durch den Dreischritt von Substanz – Attributen – Modi lassen sich die Modi als dynamisch vermittelte Individuen ausweisen, die sich in den kausalen Relationen ihrer Umgebung konstituieren und sich erst in dieser Relationalität entfalten. 95 Wie sich zeigen wird, kommt den Affektionen in dieser Ontologie eine bedeutsame Rolle zu, denn erst aus dem dynamischen Spiel pluraler Affektionen ergibt sich die Vielfalt der Modi in der Einheit der Substanz. Wenn die Abfolge von Substanz und Relation umgekehrt, die fundierende Funktion der Substanz aufgehoben und das dynamische Spiel relational aufeinander bezogener (affizierter und affizierender) Modi an den Anfang des Individuationsprozesses gestellt wird, sehen wir die Potentialität der Dinge und ihre Macht, sich dynamisch in Relationen zu aktualisieren. Geht man von einer Vorrangigkeit der Relationen aus, so muss die Konzeption von Individuation, wie sich im Folgenden noch deutlicher zeigen wird, insgesamt generisch aufgefasst und einer Temporalisierung unterzogen werden, durch die das dynamische Potential des Individuationsprozesses freigelegt werden kann. 96 Philosophiegeschichtlich gesehen ist die ontologische Bestimmung von Individuation als ein relationales Prinzip selbstverständlich nicht so einfach zu haben, denn wer eine relationale Bestimmung des Seins ausweisen will, muss sich auch mit den Stationen der Überwindung ontologischen Substanzdenkens auseinandersetzen. Und zwar allem voran mit Kants Anspruch der Umwandlung eigentlicher Metaphysik in eine Analytik des reinen Verstandes, aber auch mit der modernen Betonung der Erkenntnis- und der Erfahrungsrelativität ontologischer Bestimmungen etwa bei Heidegger und bei Husserl. Da eine solche historische Durchdringung des Substanzbegriffs gänzlich von Spinoza wegführen würde, sei hier zur Stützung der Annahme einer dynamischen Relationalität lediglich auf die relationistischen Tendenzen des Neukantianismus verwiesen, für die vor allem Ernst Cassirer bekannt ist. Cassirer diskutiert in seiner Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« den Zusammenhang der Grundformen des Denkens und der Aufassungen von der Gliederung des Seins, d. h. die Orientierung des Denkens am logischen Vorrang des Substanzbegriffs und die damit verbundene Nachordnung der Relationen, um von hier aus die Erkenntniskritik anders aufzubauen, nämlich im Sinne einer Theorie der Wirklichkeit als einer Theorie der Relationen und der relationalen Verhältnisse. Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Gesammelte Werke, Band 6, herausgegeben von Birgit Recki, Hamburg 2000. Zu Cassirers Interesse an der Philosophie der Frühneuzeit vgl. auch die neu herausgegebenen Vorlesungen und Vorträge: Ernst Cassirer, Descartes, Leibniz, Spinoza. Vorlesungen und Vorträge. Nachgelassene Manuskripte und Texte, herausgegeben von Paolo Rubini und Christian Möckel, Hamburg 2017. 96 Vgl. zur Diskussion um Substanz und Relation allgemeiner auch: Norbert Meder, »Sein als Relation«, in: Kathi Beier / Peter Heuer (Hg.): Ontologie. Zur Aktualität einer umstrittenen Disziplin, Leipzig 2010, S. 131–144, sowie Kurt Flasch, der, in einer sehr speziellen Auseinandersetzung mit 95

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I.6 Exkurs: Substanz als Ausdrucksgeschehen (Deleuze)

Gilles Deleuze war davon überzeugt, dass Spinozas Stellung in der Geschichte der Philosophie nicht einfach in eine progressive Entwicklungslinie zur Moderne einzuordnen ist. Für ihn stellt das Denkens Spinozas vielmehr einen neuen Einsatzpunkt in der Philosophiegeschichte dar, von dem aus die alternative Linie einer immanenten Philosophie der Differenz gezogen werden kann, die ihren Bewegungsgrund nicht in der Logik der Negation sieht, sondern in einem immanenten Ausdrucksgeschehen, das sich im Monismus der Substanz vielfach ereignet. 97 Das Problem oder die Figur des Ausdrucks bildet für Deleuze das Zentrum in Spinozas Metaphysik, denn als Ausdrucksgeschehen realisiert sich das Ganze im Einzelnen und das Einzelne im Ganzen. 98 Im Ausdruck, so Deleuze, zeigt sich die bildende und formende immanente Macht Gottes und der Natur. 99 Mit dem Begriff des Ausdrucks wählt Deleuze einen Zugriff, den Spinoza selbst, im Unterschied zu den anderen klar ausgewiesenen Bestimmungen seines Systems, nirgendwo genauer definiert und suggeriert. 100 dem Beziehungsdenken des Johannes Eriugena (815–877) der »Minimalisierung der Relation« in der Tradition nachgeht, um deutlich zu machen, dass die Beziehung oder die Relation mehr ist als eine »nachträgliche Hinzufügung[en] zu bereits konstituierten Dingen«. Kurt Flasch, »Zur Rehabilitierung der Relation. Die Theorie der Beziehungen bei Johannes Eriugena«, in: Wilhelm F. Niebel / Dieter Leisegang, Philosophie als Beziehungswissenschaft. Festschrift für Julius Schaaf, Frankfurt a. M. 1971, I / 5 f. 97 Für eine Abgrenzung dieser alternativen Linie zur dialektischen Logik Hegels vgl. Simon B. Duffy, »The Logic of Expression in Deleuze’s Expressionism in Philosophy: Spinoza: A Strategy of Engagement«, in: International Journal of Philosophical Studies, 12 (1), 2004, S. 47–60. Ebenfalls liegt von Duffy ein (leider nicht mehr ganz aktueller) Literaturbericht zum Stand der Spinozaforschung vor: Simon B. Duffy, »Spinoza Today: The Current State of Spinoza Scholarship«, in: Intellectual History Review, 18 (2009), S. 111–132. 98 Eine kritische Auseinandersetzung mit Deleuze’s Konzeption des Ausdrucks bietet Gillian Howie, Deleuze and Spinoza: An Aura of Expressionism, Basingstoke 2002. 99 Eine ähnliche Lesart der Metaphysik Spinozas insbesondere unter dem Aspekt des Ausdrucks hat Fritz Kaufmann bereits 1940 unternommen. Kaufmann stellt das Ausdrucksgeschehen ebenfalls als ein dynamisches Kraft- und Machtgeschehen der Natur dar, das sich im Denken und in der Ausdehnung zeigt und für das Spinoza nicht zufällig die physiognomische Metapher facies totius universi gewählt hat. Deleuze erwähnt Kaufmann in seiner großen Studie zu Spinoza, stellt dessen Fassung des Ausdrucksbegriffs aber als eine Vereinfachung und eine Verengung auf allgemeine mystische und ästhetische Aspekte dar. Das greift nach meiner Ansicht wesentlich zu kurz, denn Kaufmann diskutiert verschiedene zentrale Punkte unter dem Aspekt des Ausdrucks und sucht die bis dahin bekannten Stoßrichtungen der Spinoza-Interpretation (Atheist, Pantheist, Rationalist usw.) zugunsten einer Einheit zu integrieren. »Or is there, perhaps, a clue that leads through the labyrinth and rehabilitates the assumption of a systematic whole?« Fritz Kaufmann, »Spinoza’s System as Theory of Expression«, in: Philosophy and phenomenological research, 1 (1940), S. 83–97, hier: S. 83. 100 Pierre Macherey bekräftigt wiederholt, dass der Begriff des Ausdrucks bei Spinoza keinen systematischen Platz hat und nur indirekt Verwendung findet: »The noun expressio does not once

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Deleuze betont selbst: »Die Idee des Ausdrucks ist bei Spinoza nämlich nie der Gegenstand einer Definition oder eines Beweises, und sie kann es nicht sein. Sie erscheint in der Definition 6: weder aber wird sie näher definiert noch dient sie der Definition. Sie definiert weder die Substanz noch das Attribut, denn diese sind es bereits (Definitionen 3 und 4), noch auch Gott, dessen Definition ganz ohne den Bezug auf den Ausdruck auskommt.« 101 Deleuze hebt in seiner immanenten Interpretation der Ontologie als einer Philosophie des Ausdrucks die nominale Funktion des Begriffs der Substanz hervor. Substantia ist für ihn eine nominale Einheit gleichursprünglicher und variabler Elemente und dynamischer Relationen, die sich über ihr differenzielles Konstitutionsgeschehen stabilisiert. Es geht dabei nicht um Substanz als vorgängige Einheit eines Ursprungs, aus dem die einzelnen Entitäten ihrem Wesen nach abzuleiten wären. Als nominale Konstruktion bildet der Begriff der Substanz keine reale, fundierende Einheit, sondern stellt den theoretischen Rahmen eines dynamischen Ausdrucksgeschehens dar. Durch die Betonung dieser Funktion entzieht Deleuze den Substanzbegriff einer Verdinglichung und betont auf diese Weise eine dynamisierende Desubstanzialisierung des Zusammenhangs von Substanz und Modi. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass das Sein der Substanz ihre Ausprägung in verschiedenen Modi ist, die über die Attribute in ihrem Zusammenhang erkannt werden. Gehen wir also davon aus, dass Spinozas Substanz nicht real fundierend und nicht in apriorischer Unabhängigkeit gegen ihre Ausdrucksformen in den Modi besteht, dann lässt sich eine immanente Konzeption von Kräften und Relationen aufweisen, die auf vielfache Weise miteinander verbunden sind und sich in ihrer Relationalität konstituieren. Spinozas Darstellung der unbedingten Substanz als einer immanenten Einheit, die ihre eigene immanente Ursache (causa immanens) ist, bedeutet also nicht, dass alles Seiende ein und dasselbe wäre, und auch nicht, dass alles Seiende aus ein und derselben Grundlage der Substanz herzuleiten wäre. Innerhalb der äußeren Einförmigkeit des Substanzmonismus haben wir es vielmehr mit einer Mannigfaltigkeit des Seienden zu tun, das vielfach und different ist und sich in relationalen Affektionen konstituiert. occur, and the idea of expression is suggested only through the use of the verb exprimere, which occurs in various forms [. . . ].« Pierre Macherey, »The Encounter with Spinoza«, in: Paul Patton (Hg.), Deleuze: A Critical Reader, Oxford, MA 1996, S. 144. Sowie ders., »In Spinoza denken«, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 55– 60. Siehe zum Begriff exprimere bei Spinoza auch Emilia Giancotti Boscherini, Lexicon Spinozanum, 2 Bde., Den Haag 1970. Zur allgemeinen Verortung der Begriffe in ihren Kontexten Michel Gueret / André Robinet / Paul Tombeur, Spinoza: Ethica. Concordances, index, listes de fréquences, tables comparatives, Louvian-la Neuve 1977. 101 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 22 f.

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Die formale Funktionsweise des Substanzbegriffs ist also von entscheidender Bedeutung, um das Verhältnis von Einheit und Vielheit überhaupt in den Blick zu bekommen. Den umfassenden und rahmenden Charakter des Substanzbegriffs vermittelt Deleuze mit der ebenfalls begriffsstrategischen Feststellung der Univozität (univocité) des Seins. 102 Wenn Substanz als radikal immanent und unbedingt selbständig gedacht wird, dann kann es nur eine Substanz geben, die durch nichts Äußeres beschränkt wird und in der alles Vielfache in affirmativen Verbindungen enthalten ist. In diesem Sinne hebt der nominale Begriff der Substanz alle Seinsbereiche des Denkens und der Ausdehnung in sich auf und wird absolut. 103 Aus der absoluten Substanz gehen die Modi hervor, sie stehen nicht in einer äußerlichen Relation zur Substanz und werden auch nicht durch sie konstituiert (wie eben in I.5. diskutiert), sondern sie sind vielmehr in ihr und folgen aus ihr. Deleuze bestimmt den Begriff der substantia also in seiner nominalen Funktion und ergänzt dessen Darstellung durch die Betonung der Univozität des Seins, d. h. die Annahme, dass alles Seiende unter die Substanz fällt, die als einzig und umfassend gesetzt wird. Er fasst Spinozas Darstellung zusammen: »Das univoke Sein verschmilzt mit der einzigen, universalen und unendlichen Substanz: Es wird als Deus sive Natura gesetzt. [. . . ] Gegen die ganz von Analogie durchdrungene kartesianische Theorie der Substanzen, gegen das kartesianische Konzept der Unterscheidungen [. . . ] organisiert Spinoza eine bewundernswerte Aufteilung der Substanz, der Attribute und Modi.« 104

Deleuze bezieht sich mit seiner Konzeption des Seins als Univozität auf den Scholastiker Johannes Duns Scotus und beabsichtigt mit der begriffslogischen Strategie der Univozität, eine einheitliche Konzeption von Sein und Seiendem zu erreichen, in der die ontologische mit der epistemologischen Bestimmung des Seins verschmilzt und insofern immanent und vollumfänglich gedacht werden kann. Im ersten Kapitel von Differenz und Wiederholung wird der Begriff der Univozität eingeführt, um zu zeigen, wie das Sein selbst in Differenz übergeht. »Es gab immer nur einen ontologischen Satz [proposition]: Das Sein ist univok. Es gab immer nur eine Ontologie, die des Duns Scotus, die dem Sein eine einzige Stimme verleiht. Wir nennen Duns Scotus, weil er das univoke Sein zu höchster Subtilität zu erheben wußte, sei es auch um den Preis der Abstraktheit.« Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 58, und auch: Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 58–66. 103 Vgl. zur ausführlichen Kritik an Deleuzes Umgang mit der Frage nach dem Sein und der Erklärung der Univozität auch den Beitrag von Milan Prucha. Prucha meint, Deleuze könne die Seinsfrage nicht in derselben Weise stellen, wie sie seit den Vorsokratikern und mit Aristoteles gestellt wurde, sondern müsse von einer grundsätzlich anderen Seinserfahrung ausgehen, die die Philosophie nicht in Richtung auf Mythos und Religion verlässt. Vgl. Milan Prucha, »›Das Sein ist univok.‹ Deleuzes Ontologie: eine kritische Betrachtung«, in: Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, S. 393–408. 104 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 64. Vgl. zum Prinzip der Univozität auch Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 148. 102

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Das einzelne Seiende wird dabei nicht im direkten Sinne als Substanz selbst angesehen, denn es ist über die Attribute vermittelte Modifikation von Substanz, d. h. ein Modus der Substanz. Die Univozität des Seins bedeutet also nicht, dass alles Seiende nur ein und dasselbe wäre: »Alles Seiende ist im Gegenteil vielfach und different, immer von einer disjunktiven Synthese hergestellt.« 105 Die strategische Betonung der Univozität des Seins bedeutet aber sehr wohl, dass mit dem formalen Begriff der Substanz eine umfassende, einheitliche Perspektive verbunden wird, in der sich das Prinzip der Immanenz als immanentes Ausdrucksgeschehen realisiert. »Die Bedeutung des Spinozismus scheint uns die folgende zu sein: die Immanenz wird als Prinzip behauptet und der Ausdruck von jeder Unterordnung unter eine emanative oder exemplarische Ursache befreit. Der Ausdruck selbst hört auf zu emanieren, wie auch ähnlich zu machen. Nun kann ein solches Ergebnis nicht anders als in einer Perspektive der Univozität erhalten werden.« 106 So ist die Substanz zwar absolute, aber gleichwohl nur indirekte Grundlage aller Formen, die als Modi zum Ausdruck kommen. Alles in der Welt ist dieser univoken Substanz immanent, sie ist das selbständige und univoke Sein, und in ihr ereignen und differenzieren sich die Modi als innere Vielheiten. 107 Mit der Betonung des nominalen Charakters der Substanz lässt sich ihr absoluter Status verdeutlichen, aus dem zwar notwendigerweise alles folgt, aber eben nicht notwendig in der jeweiligen Form, in der es aus ihr folgt, sondern in einer relativen Kontingenz und Pluralität. Auch die Attribute sind Teil dieser univoken Substanz. Sie erscheinen als differenzielles Spiel zwischen Ausdehnung und Denken, zwischen Seinspotenz und Denkpotenz, sind aber formal unendlich. Deleuze sieht in Spinozas Attributen die verschiedenen Dimensionen der Substanz und in den Modi individuierte Grade des Ausdrucks der Substanz. »Die Attribute verhalten sich in Wirklichkeit wie qualitativ verschiedene Bedeutungen [sens], die sich auf die Substanz als ein und dasselbe Bezeichnete beziehen; und diese Substanz verhält sich ihrerseits wie eine ontologisch eine Bedeutung im Verhältnis zu den Modi, die sie ausdrücken und in ihr individuierenden Faktoren oder intensiven innerlichen Graden entsprechen. Daraus entspringen eine Bestimmung des Modus als Grad an Fähigkeit [puissance] und eine einzige ›Verpflichtung‹ für den Modus, nämlich seine ganze Fähigkeit oder sein Sein in der Grenze Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt a. M. 1993, S. 223. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 161. 107 Alain Badiou kritisiert, dass Deleuze die These der Univozität nicht durchhalte bzw. die Univozität verabsolutiere und dadurch das Mannigfaltige und die Differenz im Seienden zu großen Trugbildern werden lasse. Vgl. Alain Badiou, Das Geschrei des Seins, Zürich / Berlin 2003, S. 38 ff. Vgl. ebenfalls zur Univozität und zum Übergang des Seins in die Differenz Ralf Krause, Deleuze. Die Differenz im Denken, Berlin 2011, S. 200 f. 105

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selbst zu entfalten. Die Attribute sind also der Substanz und den Modi absolut gemein, obwohl Substanz und Modi nicht dieselbe Wesenheit besitzen; das Sein selbst sagt sich in ein und derselben Bedeutung von der Substanz und den Modi aus, obwohl Modi und Substanz nicht dieselbe Bedeutung besitzen oder dieses Sein nicht auf dieselbe Weise [. . . ] innehaben.« 108 Deleuze legt Spinozas Konzeption von Substanz also als ein dynamisches Ausdrucksgeschehen der Modi aus, die sich in ihr entfalten und über die Vermittlung durch die Attribute an der Unendlichkeit der Substanz teilhaben. Und er betont dabei den Unterschied von Substanz und Modi, denn im Modus finden wir immer nur einen gewissen Grad an Sein realisiert, und so bleibt die Substanz letztlich immer unabhängig von ihren Ausdrucksformen in den Modi und ihnen gegenüber indifferent. »Trotzdem bleibt noch eine Indifferenz zwischen der Substanz und den Modi bestehen: Die spinozistische Substanz erscheint als unabhängig von den Modi, und die Modi hängen von der Substanz ab, allerdings als von etwas anderem.« 109 Diese vorgeordnete Unabhängigkeit der Substanz, die wir bereits in I.5. dieses Teils problematisiert haben, will Deleuze überwinden und schlägt vor, nicht die Identität der Substanz primär fundierend zu setzen, sondern die in ihr angelegten Differenzen und die Pluralität ihrer Ausdrucksformen zum Ausgangspunkt zu machen. »Die Substanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussagen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren kategorischen Umkehrung erfüllt werden, derzufolge sich das Sein vom Werden, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt.« 110 Das Identische will Deleuze also nicht als primäres, sondern als ein sekundäres und werdendes Prinzip der Differenz verstanden wissen, das nicht unter einem herrschenden Begriff steht, sondern diesen erst eröffnet und expliziert. Dazu müssen die Elemente der Einheit von Substanz und Modi ineinander übergehen und sich implizieren, und die Substanz darf nicht gegen die sich explizierenden Formen des Ausdrucks gestellt oder ihnen gar zugrunde gelegt werden. »Jede Hierarchie, jeder Vorrang wird verneint, sofern die Substanz von allen Attributen derem Wesen gemäß auf gleiche Weise bezeichnet wird, von allen Modi gemäß ihres Grades an Fähigkeit auf gleiche Weise ausgedrückt wird.« 111 In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass das Sein der Substanz ihre Ausprägung in verschiedenen Modi und verschiedenen Attributen und damit ein rein immanentes Ausdrucksgeschehen ist.

108 109 110 111

Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 64. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 64 f. Ebd. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 64.

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Deleuze macht diese Ausdrucksleistung stark, um die Unabhängigkeit der Substanz und damit ihre wesensbegründende Fundierungsfunktion zu überwinden. Der erste Grund der Ausdrucksformen in der Natur ist für ihn also nicht die Substanz selbst, sondern der erste Grund ist das Gesetz der Immanenz, dem auch der Begriff der Substanz untersteht. »Alle Welt kennt das erste Prinzip Spinozas: eine einzige Substanz für alle Attribute. Doch ebenso kennt man das dritte, vierte oder fünfte Prinzip: eine einzige Natur für alle Körper, eine einzige Natur für alle Individuen, eine Natur, die selbst ein auf unendlich viele Weisen variierendes Individuum ist. Das ist nicht mehr die Affirmation einer einzigen Substanz, das ist die Aufdeckung eines gemeinsamen Plans der Immanenz (plan commun d'immanence), in dem alle Körper, alle Seelen, alle Individuen enthalten sind.« 112 Deleuze will mit der Betonung des immanenten Ausdrucksprinzips die Unabhängigkeit der Substanz und damit ihre fundierende und begründende Funktion überwinden. Substanz immanent zu denken bedeutet dementsprechend, ihre Unabhängigkeit aufzuheben und sie von den Modi her zu verstehen, in denen sie zum Ausdruck kommt. »Kurz: wenn wir Spinozisten sind, definieren wir ein Ding weder durch seine Form, noch durch seine Organe und Funktionen, noch als Substanz oder Subjekt.« 113 Das Seiende soll vielmehr wie ein immanenter Ausdrucksakt verstanden werden, und in diesem Sinne wohnt dem Ausdruck, wie Deleuze – auch mit Blick auf Leibniz – betont, eine theologische, eine ontologische und eine erkenntnistheoretische Dimension inne. In der Idee eines immanenten Ausdrucks liegt die Möglichkeit der Überwindung der Probleme des Cartesianismus, da das transzendentale Konstitutionsverhältnis zwischen den cartesischen Substanzen zugunsten des Ausdrucksvermögens einer Substanz aufgehoben und die vertikale Funktionsordnung des Cogito durch eine horizontale Affizierung der Entitäten untereinander ersetzt wird. Der cartesische Rationalismus wird so durch eine Philosophie des Ausdrucks der einen Substanz und der divinisierten Natur ausgetauscht, d. h. durch eine Naturphilosophie, die das Prinzip der Individuation in den Erhaltungs- und Entwicklungskräften des Lebens selbst ansiedelt. 114 In diesem sich selbst erhaltenden Wirkungszusammenhang Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 159. Plan commun sollte hier besser als gemeinsame Ebene der Immanenz übersetzt werden, wobei der Begriff plan allerdings auch im Sinne eines Vorhabens oder eines Entwurfs zu verstehen ist, denn das Denken Spinozas auszufüllen bedeutet für Deleuze, sich auf diesem Plan zu installieren, an ihm zu arbeiten, ihn zu konstruieren und mit dem Leben zu verbinden. Eine solche Auslegung der theoretischen Philosophie Spinozas als praktische Philosophie ist der Gegenstand von Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O. 113 Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 165. 114 Immer wieder stellt Deleuze die Beziehung zwischen einem naturphilosophisch gedachten Ausdrucksgeschehen und einem Vitalismus her, den er bei Spinoza sieht und dem er – zumindest 112

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des Lebens ist das geistig-körperliche Individuum ein Individuum unter vielen und in relationalen Affizierungen mit seiner Umgebung verbunden. Die Idee des Ausdrucks wird bei Spinoza, wie oben bereits erwähnt, an keiner Stelle genauer bestimmt und erstmals in der sechsten Definition der Ethica eingebracht, also dort, wo Gott in den Argumentationsgang eingeführt wird: »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d. h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt« (E1d6). Gott ist die aus unendlich vielen Attributen bestehende Substanz, durch die sich ebenso ewige und unendliche einzelne Essenzen als einzelne Wesen ausdrücken. Gott drückt sich also in den Formen aus, und dieser Ausdruck bildet eine Beziehung zwischen Substanz, Attributen und Modi. »Es scheint demnach die Idee des Ausdrucks allein als die Bestimmung der Beziehung aufzutauchen, in die Attribut, Substanz und Wesen eintreten, sobald Gott seinerseits als Substanz definiert wird, die aus unendlich vielen jeweils unendlichen Attributen besteht.« 115 Deleuze verdichtet diesen Zusammenhang noch in Hinblick auf die »unmittelbare Darstellung der absolut unendlichen Substanz« in ihren Beweisen (démonstrations), also in ihren kausalen Zusammenhängen und Gründen. 116 Die Attribute, so schreibt er, seien Gesichtspunkte (points de vue) der Substanz, die sich im unendlichen Absoluten verlieren, die Modi leiten sich ab wie die Eigenschaften eines Dings, verlieren sich im Absoluten, aber auch in einem unendlichen Zusammenhang. Als Ausdruck der Substanz explizieren sich die Modi und fallen unter einen unendlichen Verstand bzw. stehen unter dem Gesichtspunkt der Unendlichkeit. Der Ausdruck muss nicht eigens ›bewiesen‹ werden, sondern er stellt den ganzen Zusammenhang des ›Beweises‹ eines Modus und damit diesen selbst ins Unendliche. In ihrer Herkunft aus dem absolut Unendlichen explizieren sich die Modi, denn sie fallen unter das Gesetz der Intelligibilität der Natur, und die Natur wird erst unter dem Aspekt der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) voll erkennbar. Der Beweis und die Herleitung aus der Ewigkeit machen die Dinge in ihren Ausdrucksformen verstehbar. Aus diesem Grund betont Spinoza den rationalen Zugang zur Welt und zielt auf das Verständnis der Intelligibilität der aus der Sicht seiner Kritiker – auch selbst anhängt. Vgl. dazu Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 21. Dazu auch Gilles Deleuze, »Die Immanenz: ein Leben«, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 29–33. Vgl. zur Frage der Individuation bei Deleuze auch die Darstellung von Alberto Toscano, der die Komplexität des philosophischen Problems der Individuation im Ausgang von Kants Naturphilosophie bestimmt. Alberto Toscano, The Theatre of Production. Philosophy and Individuation beetween Kant and Deleuze, New York 2006, S. 157–201. 115 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 23. 116 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 25.

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Natur in ihrer immanenten Kausalität. 117 »Ohne Beweis ist es unmöglich, die Attribute zu verstehen; der Beweis ist die Darstellung dessen, was nicht sichtbar ist, und zugleich der Blick, von dem erfaßt wird, was sich darstellt.« 118 Die Herleitung der immanenten Kausalität aus der Ewigkeit macht das Ausdrucksgeschehen also überhaupt erst verstehbar, und erst über die Beweise, d. h. über ihre hinreichenden Gründe, sehen wir die Dinge in ihrem Zusammenhang. Im Tractatus theologico-politicus stellt Spinoza diesen Zusammenhang wie folgt dar: »Wenn einer sagt, es sei gar nicht nötig, Gottes Attribute zu begreifen, vielmehr reiche es, einfach und ohne Beweis an sie zu glauben, dann redet er offensichtlich Unsinn. Denn Dinge, die unsichtbar sind und als diese der Gegenstand reinen Denkens, können mit keinen anderen Augen gesehen werden als mit denen der Beweise; wer keine Beweise hat, sieht also von diesen Dingen überhaupt nichts« (TTP 13:6). 119 In Anbetracht dieser Ausführungen wird auch verständlich, warum Deleuze erklärt, dass allein die sechste Definition, also die Definition Gottes, eine Realdefinition ist, während die Definitionen drei und vier, also die der Substanz und der Attribute, nur Nominaldefinitionen sind. Substanz und Attribute sind demnach Konstrukte, die der Herleitung des Einzelnen aus dem Ganzen dienen und nur nominalen Wert haben. Gottes Macht ist daher sein Vermögen, in den mannigfaltigen Dingen zum Ausdruck zu kommen, wie Spinoza dann in E1p36dem auch unter Verwendung des Begriffs »exprimit« deutlich macht. »Was auch immer existiert, drückt Gottes Natur oder Essenz auf bestimmte und geregelte Weise aus [. . . ], drückt Gottes Macht, die die Ursache aller Dinge ist, auf bestimmte und geregelte Weise aus« (E1p36dem). Das Ausdrucksvermögen Gottes und der Substanz zeigt sich als erschaffende Natur (natura naturans), und in diesem Sinne kann Deleuze mit Spinoza das univoke Sein selbst als ein bejahendes Ausdrucksgeschehen und von einer Logik der Bejahung her bestimmen. »Seit Spinoza ist das univoke Sein nicht länger neutralisiert, wird vielmehr expressiv und zu einem wahrhaften bejahenden expressiven Satz.« 120 117 Spinozas Herleitung der Erkenntnis der einzelnen Dinge aus der offenen Unendlichkeit steht seinem Anspruch auf Vollendung des philosophischen Denkens eigentlich entgegen. Durch die erkenntnistheoretische Bedingung der Unendlichkeit holt er in gewisser Weise die Dimensionen des Undenkbaren, des Unsagbaren und des Unsichtbaren ein. Er bestimmt die Erkenntnis damit von einer Dimension der Unbestimmtheit und des Unbestimmbaren her, die offensichtlich im Widerspruch zu seinem Anspruch steht das mögliche Denken und die wesentlichen Fragen der Philosophie in seinem System abzuschliessen. 118 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 25. 119 So auch bei Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 25. 120 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 64. Zum Prinzip der Bejahung als spekulativem Prinzip in der Theorie der Substanz, als praktischem Prinzip in der Theorie der Modi

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Gegen die Vorstellung der Repräsentation betont Deleuze auch, dass der Ausdruck der Substanz oder der Ausdruck Gottes in den Modi nicht etwa bedeute, dass diese nur Erscheinungen (Gottes oder der Ideen) seien. Es ist vielmehr so, dass der Ausdruck der Substanz in den mannigfaltigen Modi ihre Teilhabe an der Natur zeigt. Modi sind keine Erscheinungen im Sinne von Repräsentationen einer übergeordneten Idee, sondern Ausdruck der Substanz in den Formen der Natur. 121 »Die Dinge auf Modi einer einzigen Substanz zu reduzieren, ist kein Mittel, daraus Erscheinungen zu machen, Phantome, wie Leibniz es befürchtete oder vorgab zu befürchten, es ist vielmehr im Gegenteil für Spinoza das einzige Mittel, daraus ›natürliche‹ Seiende zu machen, die mit Kraft oder Vermögen begabt sind.« 122 Die mannigfaltigen einzelnen Modi der Substanz sind allesamt Teil der Natur, und das bedeutet auch, dass an ihnen nichts falsch oder richtig sein kann, denn sie sind lediglich Ausdruck der Substanz, die Natur ist. Aus dieser Substanz sind keine Abbilder oder Erscheinungen abzuleiten, sondern sie bringt sich selbst zum Ausdruck und zeigt sich in der Vielheit ihrer mannigfaltigen Formen. Auch in den Attributen Ausdehnung und Denken zeigt sich die eine Substanz; d. h. dass das, »was auch immer von einem unendlichen Verstand als eine Essenz der Substanz ausmachend wahrgenommen werden kann, nur zu einer einzigen Substanz gehört, und daß folglich die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, die bald unter diesem, bald unter jenem Attriund als Grundprinzip der Ethica als ethischer Philosophie der Freude vgl. auch Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 241. 121 Pierre Macherey bestimmt den antiessentialistischen und antirepräsentationalistischen Zug in Spinozas Theorie des Körpers ebenfalls in einer Philosophie des Ausdrucks. »Dieser Ausdruck in actu ist das genaue Gegenteil einer Repräsentation: Spinoza hat die repräsentative Konzeption der Idee, die für das Cartesische Denken zentral ist, widerlegt. Indem er die Triade des Ausdrucks an die Stelle dessen setzte, was Foucault [. . . ] die ›Verdoppelung der Repräsentation‹ genannt hat, die ein Widerspiegelungsverhältnis zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem voraussetzt, hat Spinoza den Ausdruck als Konstitution und Produktion begriffen.« Pierre Macherey, »In Spinoza denken«, in: Friedrich Balke / Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, a. a. O., S. 59. 122 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 83. Im Hintergrund dieser Bestimmung der Modi als Ausdrucksformen der Substanz steht die Kritik des Platonismus, die Deleuze auch ausgehend von Nietzsches Idee einer »Umkehrung des Platonismus« formuliert. Dabei geht es um die Teilung von Wesen und Erscheinung, von Urbild und Trugbild, und man sieht sehr deutlich, dass es die Auseinandersetzung mit Spinoza ist, die Deleuze eine Alternative zum Repräsentationsdenken bietet. Diese Alternative läuft auf eine Kritik jeder Interpretation hinaus und will die Welt als eine von nomadischen, anonymen und präindividuellen Singularitäten wimmelnde Welt verstanden wissen, deren Formen unter dem Aspekt ihrer reproduktiven Potenz bzw. ihrer Wiederholung oder ihrer Wiederkehr betrachtet werden müssen, d. h. unter dem Aspekt ihrer Ewigkeit. Vgl. zur Kritik des Platonismus: Gilles Deleuze, »Platon und das Trugbild«, in: ders., Logik des Sinns, a. a. O., S. 311–324.

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but aufgefaßt wird« (E2p7s). Vor dem Hintergrund dieser Interpretation der Substanz als eines Ausdrucksgeschehens wird der Vorgang der Individuation als ein Vorgang der Abgrenzung von Ausdrucksformen und ihrer gleichzeitigen Verbindung ersichtlich. Versteht man Substanz, wie Deleuze, als einen Ausdruckszusammenhang und nicht als ein reales Wesen oder einen realen Ursprung, so wird sie als ein nominales Prinzip mannigfaltiger Formenbildung und damit als ein Prinzip der Individuation erkennbar.

I.7 Modi als Affektionen von Substanz

Dem Begriff der Susbtanz kommt also die Funktion zu, den Zusammenhang der Ebenen des ontologischen Modells der Wirklichkeit abstrahierend und modellhaft darzustellen. In dieser Funktion und in dieser Struktur muss er vorerst von allen subjekttheoretischen und individualistischen Anklängen freigehalten werden und darf nicht vorschnell mit der Frage nach dem Menschen in Verbindung gebracht werden. 123 Der Substanz als einer nominalen Einheit des ontologischen Modells ist insoweit keine Spur menschlicher Individualität eigen und doch sind die menschlichen Individuen für Spinoza durch die Attribute und in den Attributen erkennbare Modi der Substanz. Eine Theorie immanenter Individuation ist also in ihren Grundbegriffen von diesen ontologischen Voraussetzungen her aufzubauen. Sie muss die nominale Abstraktion des Substanzbegriffs aufzeigen und seine theoretische Funktion als Grundbegriff des immanenten Systems sichern, auch wenn mit dem Begriff der Substanz nicht auf »substantielle Formen« (PPCApp II: 152) der Natur zu schließen ist und dieser gewissermaßen leer bleibt. 124 Mit dem Begriff des Modus kommen wir nun zum Übergang von der ontologischen Theorie der Substanz zur Frage des menschlichen Individuums. VerUrsula Renz spricht in diesem Sinne von einer »Dissoziation von Substanzbegriff und Subjekttheorie« und macht diese Trennung zum entscheidenden systematischen Ausgangspunkt der Ethica. »Weder ist die Substanz ein Subjekt, noch sind jene Dinge, die wir als epistemische oder als Handlungssubjekt verstehen können, Substanzen.« Renz betont an dieser Stelle, dass diese Dissoziation von Subjekttheorie und Substanzbegriff die Voraussetzung für die »nicht-anthropomorphistische Stoßrichtung« der Ethica darstellt. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 45 f. 124 Im zweiten Teil des Anhangs mit den Gedanken zur Metaphysik, der sich in der Auseinandersetzung mit Descartes’ Prinzipien findet, spricht Spinoza über die Einteilung der Substanzen: »Schon zuvor haben wir dargelegt, daß es in der Natur nichts gibt als Substanzen und deren Modi. Deshalb wird nicht zu erwarten sein, daß wir hier etwas über substantielle Formen und reale Akzidenzien sagen werden; derlei Dinge und anderes dieses Zuschnitts sind in der Tat ganz unnützes Zeug« (PPCApp II: 152). 123

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mittelt über die Attribute bilden sich die Modi in den Perspektiven der Ausdehnung und des Denkens aus. Daher muss geklärt werden, welche Funktion die Modi in Spinozas Dreischritt einnehmen und in welchem Verhältnis die Modi zur Substanz stehen. Der lateinische Begriff modus entfaltet seine Bedeutung erst im Gefüge von Substanz und Attributen und wird als eine Affektion von Substanz vorgestellt. 125 Er bildet die dritte zentrale Kategorie des ontologischen Modells, das Spinoza der Ethica zugrunde legt, und seine Darstellung baut auf der Begründung von Substanz und Attributen auf. »Unter Modus verstehe ich die Affektionen [affectiones] einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird« (E1d5). Die Modi werden damit bereits in der Ontologie des ersten Teils der Ethica vom Vorgang der Affektion her und als Affektionen der Substanz verstanden. Mit der Definition des Modus gewinnt also auch der Vorgang der Affektion seine ontologische Kontur, denn erst durch Affektionen individuieren sich Modi als Einzelnes aus der Substanz des Ganzen. Ein Modus kann nur ein modifizierter Teil der Substanz sein, denn wie Spinoza bereits zu Beginn axiomatisch deutlich macht, ist alles, was ist, »entweder in sich selbst oder in einem anderen« (E1a1). Der Substanz selbst darf kein Anfang unterstellt werden, denn die Substanz ist in sich und wird allein durch sich selbst begriffen, wohingegen die Modifikationen in einem anderen sind und durch das andere erst begriffen werden können. 126 Um zu erkennen, wie die Dinge hervorgebracht werden, muss man zwischen der Substanz und den Modifikationen der Substanz unterscheiden und sich ihre kategoriale Differenz klarmachen. 127 Modi sind endliche Affektionen der unendlichen Substanz, und ein einzelnes Seiendes ist damit nichts als eine 125 Die allgemeinere Geschichte des Modusbegriffs erläutert Karin Hartbecke. Sie hebt dabei die Ähnlichkeit der Konzeption des Modus bei Descartes und Spinoza hervor und zeigt, dass Spinoza das Denken des Modus bei Descartes fortführt. Karin Hartbecke, »Zur Geschichte des Modusbegriffs. Suárez – Descartes – Spinoza – Holbach«, in: Studia Spinozana, 16 (2008), S. 19– 40, vor allem 30 ff. 126 Vgl. E1a1 und E1a2. Die Annahme des Inneseins der Modi in der Substanz wird auch in E1p7 und E1p15 dargestellt. Die Verwirrung der Formen der Substanz in ihren unendlichen Modifikationen führt Spinoza darauf zurück, dass die Menschen »nicht zwischen den Modifikationen von Substanzen und den Substanzen selbst unterscheiden und auch nicht wissen, wie Dinge hervorgebracht werden. [. . . ] Wer nämlich die wahren Ursachen von Dingen nicht kennt, wirft alles durcheinander« (E1p8s2). Zur Rolle des Begriffs der Form im Zusammenhang der Substanz und der Modi vgl. Pierre-François Moreau, »The Metaphysics of Substance and the Metaphysics of Forms«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind., Leiden 1994, S. 27–35. 127 Vgl. E1p8s2. Im Kurzen Traktat macht Spinoza die Unterscheidung von Substanz und Modi am Beispiel der Teilung von Elementen in der Natur deutlich. »Im Übrigen sagen wir zu den Teilen in der Natur noch, daß Teilung [. . . ] niemals in der Substanz auftreten kann, sondern immer in den Modi der Substanz und nur dort auftritt. Will ich Wasser teilen, teile ich nur einen Modus der Substanz und nicht die Substanz selbst, welche, hier vom Wasser, dort von etwas anderem modifiziert, immer dieselbe ist.« KV, Erster Teil, Zweites Kapitel, S. 25.

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durch Affektion entstandene Modifikation der Substanz. 128 Spinoza beschreibt Modi demnach nicht als feststehende Entitäten, sondern als Modifikationen, die durch Affektionen entstehen. Die Begriffe modum und modificare werden immer wieder synonym verwendet, und als Modifikationen von Substanz sind Modi das, was in einem anderen ist und dessen Begriff von einem anderen her gebildet wird. Das lateinische Verb modificare zeigt den Prozess der Modifikation ebenso an wie die Veränderung selbst, und dabei ist besonders zu betonen, dass mit der Modifikation nicht eine Veränderung der Substanz gemeint sein muss, sondern lediglich eine Variation des Maßes, der Grenzen, der Form und damit des Ausdrucks der Substanz gemeint sein kann. 129 Die Modifikation der Modi anzunehmen, ist also kein Widerspruch zu den stringenten Gesetzen der Notwendigkeit der Natur, wie Spinoza sie besonders in E1p29 vorgibt. Vermittelt über die Attribute eröffnet der Vorgang der Modifikation vielmehr gerade die Möglichkeit der Variabilität der Modi als plurale Ausdrucksformen der Substanz. Modi sind also Modifikationen der Substanz, die durch Affektionen ausgelöst werden und sich sowohl im Attribut des Denkens als auch im Attribut der Ausdehnung ereignen können. 130 Modi bilden sich in Form dynamisch-transitorischer Modifikationen affizierter Substanz aus und es ist wichtig zu verstehen, was Spinoza in E1p1 bereits betont: »Substanz geht der Natur nach ihren Affektionen voran« Vgl. dazu Ursula Renz, die zu der Einschätzung kommt, dass die Modi der Substanz nicht inhärent sind, sondern dass ihr Verhältnis gerade durch eine Differenz markiert ist. Dass Modi als Affektionen der Substanz definiert werden, markiere nur einen »Anhaltspunkt« für ihre kategoriale Unterscheidung und aus dieser schließt Renz, dass Modi nicht unabhängig zu denken sind, sondern stets von anderem abhängen. Modi als Affektionen der Substanz und als Ausdruck von Substanz zu verstehen, sei also gerade der Weg, ihre Inhärenz zwar als Abhängigkeit von der Substanz, nicht aber als Notwendigkeit eines bestimmten Modifikationsverlaufs zu sehen. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 57 f. 129 Van Rompaey diskutiert diese Bedeutung des Verbs modificare entlang der lateinischen Etymologie und kann dabei zeigen, dass im Konzept des Modus und der Modifikation Veränderungen denkbar sind, ohne die Einheit der Substanz mit allen ihren kausalen Notwendigkeiten infrage zu stellen. Chris van Rompaey, »Language and Meaning in the Ethics. Or, Why Bother with Spinoza’s Latin?«, in: Parrhesia, 24 (2015), S. 340 f. 130 Wie van Rompaey mit Blick auf die Auseinandersetzung zwischen Yitzhak Y. Melamed und Edwin Curley feststellt, ist es hochumstritten, was hier eigentlich modifiziert wird. Ist es ein einzelner Modus unter zwei Attributen, oder ist es die Substanz, also Gott selbst? Auf diese Diskussion soll hier nicht weiter eingegangen werden, da es im vorliegenden Kontext nicht um die Frage geht, ob Gott mit den Attributen identisch ist und in der kausalen Ordnung mit den endlichen Dingen aufgeht oder ob seine Substanzialität über die Substanz der Natur hinausgeht. Hier geht es vielmehr um die konstitutive Bedeutung der Affektionen für die Individuation und die damit verbundene Möglichkeit kontingenter Ausdrucksformen der Substanz. Vgl. zu dieser Debatte: Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013, S. 6–12. 128

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(E1p1). An dieser Stelle soll vorerst offenbleiben, was genau diese Vorgängigkeit bedeutet und welche Konsequenzen sie für das Ausdrucksgeschehen der Modi hat. Festzuhalten ist aber, dass die Annahme einer fundierenden Substanz, die ihren Modi vorhergeht und nicht in ihnen aufgeht, entscheidend für die antiessentialistische Interpretation Spinozas ist. Wie oben dargestellt, hat Deleuze dieses Problem aufgegriffen und wollte die Vorgängigkeit der Substanz überwinden, indem er die in ihr angelegten Differenzen, also etwa die Unterscheidung der Attribute, in die Modi einzieht und der Annahme einer einheitlichen Identität der Modi voranstellte. Es ist also vor dem Hintergrund dieser Vorgängigkeit der Substanz zu verstehen, wenn Spinoza meint, die Modi seien etwas, das in einem anderen ist [quod in alio est], und das erst von diesem anderen her begriffen werden kann. Ein Modus ist nicht ein einzelnes Seiendes, sondern existiert in der Substanz und als die Substanz, ist durch die Attribute erkennbar und bildet sich in konstitutiver Relation zu anderen Modi aus, die ihrerseits ständigen Veränderungen unterliegen. Modi hängen von der Substanz ab, die Substanz bleibt aber höchstens indirekt ihre Ursache, denn ein Modus bildet sich erst durch die Attribute, die ihn für den Menschen erkennbar machen. So ist ein Körper, wie wir noch sehen werden, ein Modus, der Gottes Essenz als ein ausgedehntes Ding zum Ausdruck bringt, und er ist damit ein indirekter und vermittelter Ausdruck der Macht Gottes und der Natur. 131 In den Affektionen der Substanz, deren Essenz wir durch die Attribute erkennen, bilden sich die Modi wie in einem konstituierenden Spiel von Relationen aus. Das Verhältnis der Attribute ist sowohl von ihrer Gleichheit in den Modi wie von der Gleichheit ihrer Ordnung und ihrer Verknüpfung bestimmt. »Die Modi eines jeden Attributes haben Gott nur insofern zu ihrer Ursache, als er unter dem Aspekt des Attributes angesehen wird, dessen Modi sie sind, und nicht insofern er unter dem Aspekt irgendeines anderen Attributes angesehen wird« (E2p6). In Descartes' Prinzipien der Philosophie diskutiert Spinoza den Begriff des Modus kurz im Zusammenhang der aristotelischen Bestimmung von Akzidens, also der zufälligen und damit unwesentlichen Veränderlichkeit der Substanz. Die Modi sind in ihrer Variabilität der Substanz inhärent, sie wohnen ihr als ihre Potentialität ein und kommen als ihre Modulation zum Ausdruck. Ein Modus ist also einerseits als eine zufällige Eigenschaft der Substanz zu verstehen, die über die Attribute für den Menschen erkennbar wird, andererseits ist er die Kraft, die der Substanz ihren jeweiligen Ausdruck gibt und ihr, wie in der Vgl. zur Indirektheit der Abkunft der Modi aus der Substanz auch Henri Krop, »Modus«, in: Wiep van Bunge, Henri Krop / Piet Steenbakkers / Jeroen van de Ven (Hg.), The Bloomsbury Companion to Spinoza, London / New York 2011, S. 261. 131

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Denotation des lateinischen Begriffs modus deutlich wird, ein Maß verleiht. 132 Dabei setzt Spinoza den akzidentiellen Charakter der Modi gerade nicht in Opposition zur Substanz, sondern sieht die Modi durch Affketionen und als über die Attribute vermittelten Ausdruck aus ihr hervorgehen. Es ist dieser einerseits akzidentielle und damit relativ kontingente und andererseits formende und ausdrückende Charakter der Modi, der Spinozas Konzeption des Modus so interessant macht für eine pluralistische Konzeption des Individuums. Mit dem Eintritt der Modi in das ontologische Modell gerät aber auch eines der zentralsten Probleme Spinozas in den Blick, nämlich die Frage, wie die Vielheit unterschiedlicher einzelner, endlicher Modi überhaupt mit der einen unbedingten und unendlichen Substanz in Einklang zu bringen ist. Kann die Unterscheidung von Substanz und Modus einer Vermittlung unterzogen werden, die es erlaubt, den Substanzmonismus als theoriearchitektonischen Rahmen der Individuation zu verstehen. 133 Wenn, wie Spinoza in der ersten Definition behauptet, die Selbstursächlichkeit des unendlichen Ganzen darin besteht, dass seine Essenz von vornherein Existenz beinhaltet, muss mit den Ausführungen zum Modus auch das Verhältnis von Substanz und Modus bestimmt werden. Es versteht sich nicht von selbst, dass es verschiedene Modi geben kann, wenn es nur eine Substanz gibt, und damit letztlich auch nicht, inwiefern unterschiedliche Modi als unterschiedliche menschliche Individuen betrachtet werden können. Von der Bestimmung der Modi hängt also auch ab, in welchem Verhältnis Individuen, d. h. auch menschliche Individuen, zur Substanz des Ganzen stehen und in welcher Weise Individuen in ihrer Existenz als ein Teil des Ganzen zu verstehen sind. Die starre Gliederung des Seins muss mit der spezifischen Dynamik der Individuation konfrontiert werden und das

132 In seiner ursprünglichen Bedeutung hat der lateinische Begriff modus auch den Charakter eines Maßes oder eines Maßstabs, »a measure with which, or according to which, any thing is measured, its size, length, circumference, quantity. [. . . ] a measure which is not to be exceeded, a bound, limit, end, restriction«. Vgl. Charlton T. Lewis, A Latin Dictionary, Oxford 1996. Hier zitiert nach: Chris van Rompaey, »Language and Meaning in the Ethics. Or, Why Bother with Spinoza’s Latin?«, in: Parrhesia, 24 (2015), S. 340. 133 Kisser wendet die theoretische Notwendigkeit der Vermittlung der Differenz von Substanz und Modus systemtheoretisch und zeigt das re-entry, also das Wiedereintreten der Unterscheidung von Substanz und Modi in ihre Unterscheidung, von der Position des individuierten Subjekts aus. Damit wird nicht nur die ontologische Operation Spinozas deutlich, sondern diese wird auch mit dem Vorgang der Subjektivierung als Vorgang der Herausbildung eines konkret existierenden menschlichen Individuums verknüpft, das sich durch die Operation des Unterscheidens als Teil der Unterscheidung erkennt und dessen Existenz in gewisser Weise an dieses Erkennen gebunden ist. Vgl. dazu die eher systemtheoretisch hergeleitete Wendung bei Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 68 f.

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bedeutet mit der Erkenntnisfähigkeit und der Affektfähigkeit des menschlichen Individuums. 134 Wie wir sehen werden, macht Spinoza das menschliche Individuum im weiteren Verlauf der Ethica immer mehr zum entscheidenden Handlungssubjekt des Individuationsprozesses. Er verleiht ihm das Potential, sich mithilfe seiner Erkenntnis- und Affektfähigkeit als endlicher Modus im Unendlichen zu orientieren und im Gesamtzusammenhang der Substanz zu seiner individuellen Freiheit zu gelangen. Die Teilhabe des Individuums am Sein und an der Positivität der Natur lässt sich dabei nicht allein erkenntnistheoretisch bestimmen. Sie muss auch ontologisch abgebildet werden, und daher sind der Aufbau der Ordnung von Substanz, Attributen und Modi und die Bestimmung des Verhältnisses von Essenz und Existenz so wichtig für die Frage der Individuation. Es ist aber durchaus noch genauer zu begründen, wie die relativ kontingente Erscheinungsweise der Modi mit der Notwendigkeit der Substanz als göttlicher Natur in Einklang zu bringen ist. Da die unterschiedlichen Modi allesamt Teile der Substanz und damit der Natur sind, ist ihre Notwendigkeit eben aus der Notwendigkeit der Natur herzuleiten, was aber nicht heißt, dass sie nicht in mannigfaltiger und pluraler Weise zum Ausdruck kommen können, denn die Natur ist nicht einfach immer dieselbe, sondern sie weist ihrerseits eine Potentialität auf, durch die sich Spielräume der Individuation eröffnen. Das Verhältnis der Substanz und der Modi als Affektionen von Substanz ist kausal in dem Sinne, dass Modi von der Substanz als ihrer notwendigen Grundlage abhängen und aus ihr hervorgehen, aber nicht in unmittelbarer Weise, sondern indirekt und vermittelt durch die Attribute und die Affektionen der

Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist eine Perspektive der Objektivierung der Individuen im Ganzen des Seins. Thomas Kisser bestimmt dieses Problem (im Ausgang von Luhmann) als ein Problem der Fremdreferenz des Individuums und moniert eine Perspektive, die das Individuum »sozusagen bei sich selbst« belässt. Das Problem einer solchen Objektivierung des irreduziblen Individuums sehe ich an dieser Stelle nicht, denn es geht bei Spinoza nicht, und vor allem nicht auf der Ebene der Ontologie, um die Erfahrung des Individuums, deren Unmittelbarkeit z. B. durch den Einzug einer Perspektive der ersten Person gegen seine Objektivierung verteidigt werden müsste. Ich stimme Kisser dagegen zu, wenn er meint, dass Individualität nicht einfach als eine »heterogene Wirklichkeit« zu bestimmen ist, sondern sich erst im »eigenen Vollzug« und durch sich selbst gründet. »So wird mit dem Gedanken der Selbstbezüglichkeit des Denkens die Problematik der Individualität erst angemessen formuliert, und es erscheint die Möglichkeit, das Wesen der Individualität als konkrete Form der Subjektivität zu begreifen.« Kisser fordert also zu Recht, eine »genuine Form der Vermittlung der Individuen, eine Medialität des Seins zu denken«. Über den Begriff des Medialität ließe sich an dieser Stelle streiten, aber der Aspekt der Vermittlung von Individualität im Prozess der Individuation muss gesichert und systematisch gegen die determinierende Bindung an essentielle Voraussetzungen verteidigt werden. Vgl. Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 30. 134

Modi als Affektionen von Substanz

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Attribute. 135 So ist der Körper ein Modus, der die Substanz unter dem Aspekt der Ausdehnung ausdrückt, wie die Ideen Modi sind, die die Substanz unter dem Aspekt des Denkens ausdrücken. Ein Modus ist also stets beides, ein einzelnes Individuum, das in der Dynamik der Affektionen entsteht, und ein Teil der ganzen Substanz, durch die es determiniert ist. 136 In einem Brief an Ludwig Meyer von 1663 führt Spinoza eine weitere Definition des Modus an: »Die Affektionen der Substanz nenne ich Modi; ihre Definition kann, sofern sie nicht die Definition der Substanz selber ist, keine Existenz in sich schließen. Darum können wir sie auch, wenn sie gleich existieren, doch als nicht existierend denken. Daraus folgt weiter, daß wir, sobald wir bloß das Wesen der Modi, aber nicht die Ordnung der ganzen Natur ins Auge fassen, nicht daraus, daß sie jetzt existieren, darauf schließen können, daß sie später existieren oder nicht existieren werden oder früher existiert oder nicht existiert haben« (Ep 12:48). Im Modus zeigt sich für Spinoza also das Verhältnis der endlichen einzelnen Dinge zum unendlichen Ganzen, und wir können, wie in diesem Brief deutlich wird, ihre Existenz nicht ohne die Existenz des Ganzen begreifen. 137 Aus der konstitutiven Verbindung der einzelnen Modi mit der »Ordnung der ganzen Natur« leitet Spinoza ihre Unterscheidung nach Ewigkeit und Dauer her. Mit seiner Theorie der kausalen Verschränkung der einzelnen Modi im Ganzen der Substanz ist auch ihre Endlichkeit im Verhältnis zur Unendlichkeit des Ganzen bestimmt. Die Modi können nur von einer gewissen Dauer sein, während die Substanz eine Sache der Ewigkeit und des »unendlichen Teilhaftseins der Existenz oder [. . . ] des Seins« ist (Ep 12:49). Die Existenz und die Dauer der Modi dürfen also nicht aus dem Modus selbst bestimmt, sondern müssen stets in ihren Verbindungen im Gesamtzusammenhang der Natur gesehen werden, durch die sie zugleich endlich und unendlich sind. Spinoza führt die infiniten Modi in E1p23 ein (wobei E1p21 und E1p22 vorbereitend hinzuzunehmen sind) und unterscheidet hier die Modi, die direkt und notwendigerweise aus der unbedingten Natur Gottes oder aus einem seiner Attribute folgen, von denen, die indirekt aus der Modifikation eines Attributes So wird es in E1p25c deutlich, wo Spinoza die res particulares als »Affektionen der Attribute Gottes« bzw. als »Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden« bestimmt. 136 Und in diesem Sinne entspricht der Begriff des Modus auch der ursprünglichen Bedeutung des lateinischen modus als Maß und Maßstab, denn als ein bestimmter Ausdruck der Substanz ist der Modus, wie eben erklärt, ein Maß der Substanz. 137 Zur Frage der unendlichen Substanz im Verhältnis zur Endlichkeit der Modi ist auf die folgenden Arbeiten zu verweisen: Augustin Giovannoni, Immanence et finitude chez Spinoza. Études sur l’idée de constitution dans l’Ethique, Paris 1999; Jean Marie Vaysse, Totalité et finitude, Spinoza et Heidegger, Paris 2004; James Thomas, Intuition and Reality: A Study of the Attributes of Substance in the Absolute Idealism of Spinoza, Aldershot 1999. 135

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Gottes folgen. 138 In Lehrsatz 24 des ersten Teils wird Gott daher zur Ursache der Existenz der Dinge in ihrem Anfang und ihrem Verharren erklärt, denn das Wesen der Dinge an sich schließt weder Existenz noch Dauer ein. Einerseits wird hier alles von Gott als einziger Ursache hervorgebracht, andererseits betont Spinoza aber auch die wechselseitige Verursachung der endlichen Dinge untereinander und in unendlichen Beziehungen, in denen Gott keine oder nur indirekt eine kausale Funktion zukommt. So etwa in E1p28: »Jedes Einzelding, d. h. jedes Ding, das endlich ist und eine bestimmte Existenz hat, kann weder existieren noch zu einem Wirken bestimmt werden, wenn es nicht von einer anderen Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird, die ebenfalls endlich ist und eine bestimmte Existenz hat; und auch diese Ursache kann wiederum weder existieren noch zu einem Wirken bestimmt werden, wenn sie nicht von einer anderen, die ebenfalls endlich ist [. . . ] und so weiter ins Unendliche.« 139 Modi sind also nicht einfach beliebig zu gliedern, sondern müssen vom Ganzen der Ordnung der Natur her verstanden werden, denn sie sind »nichts als Affektionen der Attribute Gottes« (E1p28dem). Es sind diese Affektionen, die die Substanz in bestimmbare Modi übersetzen, die in Wechselwirkungen mit anderen Modi stehen und deren Dauer und Verfasstheit nur von der Substanz und ihrer Ewigkeit her zu begreifen ist und nicht aus sich selbst hergeleitet werden kann. In dieser Begründung der Modi aus der Substanz, der Teile aus dem Ganzen und der Dauer aus der Ewigkeit wird Spinozas antiessentialistischer Zug besonders deutlich. Er leitet die Modi aus relationalen Konstitutionsverhältnissen in ihrer Umgebung her, stellt sie in den Gesamtzusammenhang des Ganzen der Natur und lässt sie also nur indirekt aus der Substanz hervorgehen. Dem Begriff der Konstitution kommt damit eine doppelte Bedeutung zu, denn er bezeichnet sowohl die Dimension der relationalen Wechselwirkung zwischen Entitäten, die sich gegenseitig konstituieren (constituere), wie auch die Dimension der Verfasstheit bzw. des spezifischen Zustands eines Dinges im Sinne seiner jeweiligen Konstitution (constitutio) als eines Seinsmaßes.

138 Vgl. E1p23: »Jeder Modus, der notwendigerweise existiert und unendlich ist, hat notwendigerweise folgen müssen entweder aus der unbedingten Natur irgendeines Attributes Gottes oder aus irgendeinem Attribut, das von einer Modifikation modifiziert ist, die notwendigerweise existiert und unendlich ist.« 139 Die Bedeutung der relationalen Verbindung endlicher Modi für die Individuation in einer unendlichen Substanz, und die Konsequenzen der Endlichkeit für die Frage des Determinismus, diskutiert im Ausgang von E1p28: Noa Shein, »Causation and Determinate Existence of Finite Modes in Spinoza«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 97/3 (2015), S. 334–357.

Essenz und Existenz im Monismus

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I.8 Essenz und Existenz im Monismus

Ebenso wenig, wie es selbstverständlich ist, dass wir Spinozas Philosophie für eine Ontologie und nicht für eine theologische Metaphysik halten, versteht es sich von selbst, von einem Monismus zu sprechen. 140 Zwar ist der monistische Charakter der Substanzkonzeption die theoretische Grundlage für die Annahme der Immanenz, doch ist diese Charakterisierung nicht einfach vorauszusetzen. 141 Der Begriff des Monismus ist ebenso nominalistisch zu verstehen wie der Begriff der Substanz selbst, und in dieser Verwendung kommt ihm vornehmlich eine theoriestrategische Bedeutung zu, denn letztlich entziehen sich Gott wie auch die Substanz jeder Zählbarkeit, die sie als einfach oder als vielfach ausweisen könnte. 142 Die schematische Abgrenzung gegen den cartesischen Dualismus und dessen Unterteilung der Substanzen in res extensa und res cogitans ist dabei nur der oberflächlichste Ausdruck dessen, was Spinoza mit der in E1p14 festgehaltenen Annahme meint, dass es außer Gott keine Substanz geben und außer ihm keine Substanz begriffen werden könne. 143 Spinozas Monismus erschöpft sich nicht in der Überwindung des cartesischen Man könnte vielleicht auch von einer Onto-Theologie sprechen, wie es Pierre Macherey in der Nachfolge Heideggers tut. Vgl. Pierre Macherey, »Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Spinoza. Ein Gespräch mit Pierre Macherey«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft V / 1, Frühjahr 2011, Schwerpunkt: Spinoza. 141 Zumal der Begriff des Monismus mitunter auch als Kritik verstanden werden muss, da er seit dem 19. Jahrhundert eine ambivalente, weltanschauliche und politische Geschichte aufweist. Vgl. dazu Todd H. Weir, Monism: Science, Philosophy, Religion, and the History of a Worldview, New York 2012. Zum Monismus Spinozas und zu seiner Diskussion im Ausgang von Diltheys Unterscheidung einer vitalistischen von einer mechanistischen Lesart des Prinzips der Selbsterhaltung vgl. insbesondere: Tracie Matysik, »Spinozist Monism. Perspectives from within and without the Monist Movement«, in: Todd H. Weir (Hg.), Monism. Science, Philosophy, Religion, and the History of a Worldview, New York 2012, S. 107–134. 142 Möglicherweise wäre es also angemessener, von einem Holismus zu sprechen, da Spinoza alle Einzeldinge auf die Einheit des Ganzen zurückführt und letztlich keinem Einzelding eine vom Ganzen unabhängige Existenz zugesteht. Vgl. zum Holismus Spinozas: Michael Esfeld, Holismus. In der Philosophie des Geistes und in der Philosophie der Physik, Frankfurt a. M. 2002, S. 213–218. Des Weiteren zum Verhältnis von Teilen und Ganzem und dem Problem einer Außenperspektive auf den Holismus in der Theorie des Geistes: Martin Seel, »Für einen Holismus ohne Ganzes«, in: Georg W. Bertram / Jasper Liptow (Hg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie. Weilerswist 2002, S. 30–40. 143 Zum Problem des Monismus insgesamt siehe: Don Garrett, »Spinoza’s Ontological Argument«, in: The Philosophical Review, 88 (1979), S. 198–223; Michael Della Rocca, »Spinoza’s Substance Monism«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza: Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 11–37; Yitzhak Y. Melamed, »Why Spinoza is not an Eleatic Monist (Or Why Diversity Exists)«, in: Philip Goff (Hg.), Spinoza on Monism, London 2012, S. 206–222; Jon Miller, »Spinoza and the Stoics on Substance Monism«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 99–117; Jonathan Bennett, »Spinoza’s Metaphysics«, in: Don Garrett (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge 1996, S. 61–88; Pierre Macherey, »Spinoza est-il moniste?«, 140

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Dualismus, sondern greift wesentlich tiefer und ist unabdingbar, um die These der Intelligibilität und der Erkennbarkeit der gesamten Natur und des Menschen in ihr durchzuhalten, denn wer einen extramundanen Schöpfer oder sonstige Instanzen der Transzendenz voraussetzt, kann nicht die Absolutheit des universalen Zusammenhangs von allem mit allem und dessen rationale Durchdringung begründen. 144 Wie wir oben bereits festgestellt haben, lehnt Spinoza den Dualismus der Substanzen nicht ab, sondern führt ihn vielmehr aus, indem er auf die Objektivierung ihrer absoluten Einheit zielt. Hegels Interpretation dieses Problems ist sehr aufschlussreich, denn er überspitzt diesen Punkt und stellt fest, dass Substanz für Spinoza die eine absolute, schlechthin alleinige Wahrheit sei und es für ihn nur die eine Wahrheit und die eine Wirklichkeit der Substanz gegeben habe, die den Begriff ihrer Existenz eben in sich selbst enthält und alles umfasst. 145 Mit seiner Betonung der Absolutheit einer Substanz und ihrer Objektivierung macht Hegel, ohne es in dieser Weise zu markieren, den spezifischen Charakter der monistischen Konzeption deutlich, denn Substanz wird hier zu einer Formel, durch die das selbstursächliche Ganze mit seinen einzelnen Elementen zusammengeführt wird und sich aus sich selbst expliziert. 146 in: Myriam Revault d’Allonnes / Hadi Rizk (Hg.), Spinoza: puissance et ontologie. Actes du colloque organisé par le College International de Philosophie 13, 14, 15 mai 1993 à la Sorbonne, Paris 1994, S. 39–53. Zur Frage des Monismus insgesamt auch: Dieter Henrich (Hrsg.), All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, Stuttgart 1985, und im selben Zusammenhang zur Entfaltung von Subjektivität aus der All-Einheit der Welt: Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a. M. 2008. 144 Vgl. dazu auch Ursula Renz, die ebenfalls geltend macht, dass die Überwindung des Dualismus von Körper und Geist nicht das alleinige Ziel der Hinführung auf den Monismus ist, sondern dass dieser vielmehr die Grundlage der Kausalitätstheorie und der Erkenntnistheorie ist. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 55 f. 145 Hegel kommt zu dem übergeordneten Befund, dass es für Spinoza nur die eine Identität Gottes und sonst nichts in endlicher Wirklichkeit gegeben haben kann: »Spinoza behauptet, was man eine Welt heißt, gibt es gar nicht; es ist nur eine Form Gottes, nichts an und für sich. Die Welt hat keine wahrhafte Wirklichkeit, sondern alles dies ist in den Abgrund der einen Identität geworfen. Es ist also nichts in endlicher Wirklichkeit, diese hat keine Wahrheit; nach Spinoza ist, was ist, allein Gott.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 195. Eine ausführlichere Darstellung der Hegelschen Spinoza-Rezeption bietet: Klaus Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt 1983, S. 161– 196. 146 Im Zuge dieser Objektivierung kann die absolute Einheit Gottes bzw. der Substanz aber auch den Einzeldingen gegenübergestellt werden und diese in ihrer Existenz infrage stellen bzw. sie als nicht der einen Wirklichkeit zugehörend erscheinen lassen. Diese Version des Monismus wird aktuell unter dem Begriff des Existenzmonismus diskutiert und einer anderen Variante, nämlich dem Prioritätsmonismus, der die einzelnen Dinge in der Welt bestimmt, aber nur in Abhängigkeit vom Ganzen verstehen will, entgegengesetzt. Vgl. dazu die Debatte zeitgenössischer Metaphysik unter

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Zeichnen wir aber zunächst nach, woraus sich die Annahme eines Substanzmonismus bei Spinoza genau herleiten lässt: In E1p5 macht er deutlich, dass es nicht mehrere Substanzen einer Natur bzw. eines Attributes geben kann, und das bedeutet, es kann Substanz nur unter dem Attribut der Ausdehnung und unter dem Attribut des Denkens geben. In E1p6 wird erklärt, dass eine Substanz nicht von einer anderen hervorgebracht werden kann, und in E1p7 heißt es, dass es zur Natur der Substanz gehöre, notwendig aus sich selbst heraus zu existieren und in ihrer Existenz von nichts anderem abhängig zu sein. E1p11 dient dem Beweis der Existenz Gottes aus sich selbst, bevor die Unteilbarkeit der Substanz in E1p12 und E1p13 bewiesen wird und dann in E1p14 die alleinige Existenz und die alleinige Begreifbarkeit Gottes als einziger Substanz nachgewiesen wird. 147 Damit ist der Monismus, also die Einzigkeit Gottes als der einen Substanz, sichergestellt, denn diese eine Substanz ist »die bewirkende Ursache aller Dinge, die unter einen unendlichen Verstand fallen können« (E1p16c1), und aus ihrer Notwendigkeit »muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen« (E1p16). 148 Die Ursache dieser Macht der Substanz aus sich selbst ist die Macht Gottes, wie Spinoza dann in E1p34 deutlich macht: »Gottes Macht ist genau seine Essenz.« Die monistische Begründung der Substanz bzw. der Essenz als alleiniger Macht Gottes ist also die Voraussetzung des Grundprinzips der Immanenz und der Erklärung der Existenz aus der Essenz selbst. 149 So ist der Monismus aber anderem in dem von Philip Goff herausgegebenen Band Spinoza on Monism, London 2012. Darin besonders: Jonathan Schaffer, »Monism: The Priority of the Whole«, in: Philip Goff (Hg.), Spinoza on Monism, London 2012, S. 9–50; Terry Horgan / Matjaž Potrˇc, »Existence Monism Trumps Priority Monism«, in: Philip Goff (Hg.), Spinoza on Monism, London 2012, S. 51–76, sowie die Erwiderung von Schaffer usw. Aufschlussreich dazu sind auch die Ausführungen von Dominik Perler, der richtigerweise zeigt, dass Spinoza die Einzeldinge als von der Substanz abhängig und in Relation zu ihr auffasst, sie aber keineswegs als bloßen Schein versteht. Ders., »Gibt es Individuen? Überlegungen zu Spinozas Monismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63/3 (2015), S. 497–517. Ausführlich diskutiert wird die Annahme des Existenzmonismus, der die Einzelgegenstände zugunsten der einen absoluten Substanz negiert, auch bei Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013, und Michael Della Rocca, »Rationalism, Idealism, Monism, and beyond«, in: Eckart Förster / Yitzhak Y. Melamed (Hg.), Spinoza and German Idealism, Cambridge 2012. 147 Es folgt in E1p14c1 ganz klar: »daß Gott einzig ist, d. h. daß es in der Natur nur eine Substanz gibt und daß diese unbedingt unendlich ist [. . . ].« Vgl. auch: Jean-Luc Marion, »The Coherence of Spinoza’s Definitions of God in Ethics I, Proposition 11«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 61–77. 148 Aus dieser pluralistischen Auslegung der Substanz und des Substanzmonismus wird bei Deleuze die Formel: »Pluralismus = Monismus«. Gilles Deleuze, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1997, S. 35. 149 In Descartes’ Prinzipien der Philosophie stellt Spinoza den Zusammenhang von Essenz, Existenz, Idee und Macht bereits deutlich dar und erklärt, dass alles Erschaffene in eminenter Weise in Gott enthalten ist und die vier Begriffe sich daraus herleiten lassen: »Erstens, Essenz ist nichts

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auch die weitreichende Gewähr dafür, dass es für das endliche, menschliche Individuum überhaupt Erkenntnis geben kann und dass dieses sich, durch die ihm eigene Intelligibilität, in der Intelligibilität des Ganzen erfassen kann. Nur in der immanenten Substanz, und das heißt im Monismus, kann der Anspruch einer rationalen Erkenntnis der Wirklichkeit und ihrer Erklärbarkeit realisiert werden. 150 Für Spinoza ist klar, dass jede Vorstellung des Gesamtzusammenhangs der Natur, in der Gott die Welt als seine Schöpfung von sich absetzt, den Menschen nur in Unkenntnis darüber versetzen kann, wie diese Welt gemacht ist. Die Vorstellung Gottes als einer extramundanen Kraft gefährdet die rationale Erkenntnis der Menschen und versetzt sie in eine ohnmächtige Stellung einer Macht gegenüber, die sie nur für unbegreifbar halten können. Die Vorstellung Gottes als einer unerkennbaren Macht außerhalb der Welt lässt die Menschen in Unwissenheit zurück und lässt sie Zuflucht nehmen zu einem »ignorantiae asylum« (E1app). Der Monismus ist also auch eine Voraussetzung der Erkenntnis und des Wissens, denn um die immanente Kausalität zu verstehen, muss die Substanz die immanente Ursache aller einzelnen Dinge sein, und die immanente Kausalität muss in ihr aufgehen. In der Substanz bilden Ursache und Wirkung einen identischen Zusammenhang, in dem sie gewissermaßen übereinkommen, und die Voraussetzung dafür ist der Monismus der Substanz. 151 anderes als die genannte Weise, in der erschaffene Dinge in den Attributen Gottes einbegriffen sind. Zweitens, von Idee spricht man insofern, als alle Dinge in objektiver Weise in Gottes Idee enthalten sind. Drittens, von Macht spricht man allein mit Blick auf Gottes Macht, kraft derer er aus der unbedingten Freiheit seines Willens alles noch nicht Existierende hat erschaffen können. Viertens, Existenz ist genau die Essenz von Dingen außerhalb von Gott und in sich selbst betrachtet, die Dingen zugesprochen wird, nachdem sie von Gott erschaffen worden sind.« Vgl. PPCApp II: 137. 150 In dieser Richtung begründet auch Andreas Schmidt den Gebrauch des Substanzmonismus von seiner Funktion her. »In looking for Spinoza’s motive it will be advisable to pay closer attention to the consequences of his monistic thesis. For instance, monism provides him with a simple and ready explanation for why our clear and distinct ideas are always (and even necessarily) true: these ideas are ultimately divine ideas, and hence are identical to what they represent.« Andreas Schmidt, »Substance Monism and Identity Theory in Spinoza«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 79–99. 151 Nach Hegels Einschätzung geht Spinoza sogar so weit, den Unterschied von Ursache und Wirkung zu negieren. »Spinoza beginnt seine Ethik mit der Erklärung: unter Ursache seiner selbst verstehe ich, dessen Wesen Dasein in sich schließt; oder dasjenige, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann. – Nun ist aber der Begriff des Wesens oder der Natur nur setzbar, indem von der Existenz abstrahiert wird; eins schließt das andere aus; eins ist nur bestimmbar, so wie eine Entgegensetzung gegen das andere ist; werden beide verbunden als Eins gesetzt, so enthält ihre Verbindung einen Widerspruch, und beide sind zugleich negiert. Oder wenn ein anderer Satz des Spinoza so lautet: Gott ist die immanente, nicht die vorübergehende Ursache der Welt, so hat er, indem er die Ursache immanent, also die Ursache Eins mit der Wirkung setzt – weil die Ursache nur Ursache ist, insofern sie der Wirkung entgegengesetzt wird, den Begriff von Ursache und Wirkung negiert; eben so herrschend ist die Antinomie des Eins und Vielen; die Einheit wird mit dem Vielen,

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Mit der Feststellung des Substanzmonismus unmittelbar verbunden ist aber auch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit alles Einzelnen und nach dem Verhältnis des Einzelnen zu der einen Substanz des Ganzen. 152 Falls es so sein sollte, dass Ursache und Wirkung tatsächlich ineinander aufgehen, dann bedeutet das auch, dass die Substanz in den einzelnen Dingen aufgeht. In diesem Fall stellt sich erneut die Frage, ob sie restlos in ihnen zum Ausdruck kommt, ohne dabei dem Gesamtzusammenhang der Modi vorherzugehen und die Modi wie etwa aus einer primordialen Quelle zu begründen. Nimmt man den Monismus der Substanz in seinem immanenten Charakter ernst, dann gibt es kein Außen der Substanz, aber auch kein Außen der Modi, d. h. keine vorgängige erste Einheit, aus der sie herzuleiten wären. Es wäre vielmehr die innere Struktur und Funktion des Substanzmonismus, aus sich selbst zu sein und das Einzelne im Ganzen durch sich selbst variierend auszubilden. Dementsprechend stellt Spinoza in E1p16 fest: »Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen.« Und in »der Bedeutung, in der Gott Ursache seiner selbst genannt wird, muß er auch Ursache aller Dinge genannt werden« (E1p25s), denn die einzelnen Dinge sind Modi, in denen Gott als Substanz zum Ausdruck kommt. Der Monismus ist also eine notwendige Grundlage für die immanente Begründung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung im Ganzen, insofern die Substanz in sich selbst bleibt und Ursache der ihr innewohnenden einzelnen Dinge in ihren Wirkungsverhältnissen ist. Sie ist in allem, wie alles in ihr ist. Man kann sich dieses zentrale Problem der Vermittlung des Ganzen und seiner Teile – und damit die Frage nach der immanenten Kausalität im Monismus – am Verhältnis von Essenz und Existenz verdeutlichen. In der doppelten Struktur von Substanz und Modi zeigt sich der Unterschied von essentia und existentia, und gerade in dieser Hinsicht entwickelt die Ontologie Spinozas eine eingentümliche und ganz besondere Spannung. 153 Mit der Unterscheidung von Essenz und Existenz kommen wir an den Anfang der Ethica zurück, wo Spinoza die Substanz mit ihren Attributen identisch gesetzt.« G. W. F. Hegel, Jenaer Kritische Schriften (II), Hamburg 1983, S. 34–89, hier: S. 49. 152 Vgl. die Darstellung der Probleme des Substanzmonismus und der Vielheit der Dinge in diesen Lehrsätzen auch nochmals bei Robert Schnepf, »Die eine Substanz und die endlichen Dinge (1p16-28)«, in: Michael Hampe und Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, Berlin 2006, S. 37–57. 153 Diese bemerkt auch Kisser, der hier eine »doppelte Kausalität« am Werk sieht, in der sich »die Essenz des Modus von seiner Existenz und damit auch von der Explikation seiner Eigenschaften trennt«. Die Einheit des Systems, so Kisser weiter, werde durch dieses Spannungsverhältnis von Essenz als innerer Verfasstheit der Substanz und Existenz als praktischem Handlungsfeld der Modi erklärungsbedürftig. Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 66 f. Moreau erklärt diese Spannung, wie die zwischen essentia und existentia, auf der Ebene der Begriffe und als ein systematisch durchdachtes Verhältnis zwischen Begriffen,

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die causa sui als das Prinzip bestimmt, durch das »Essenz Existenz einschließt« (E1d1) und durch das die Natur als Ursache ihrer selbst und damit notwendig als existent verstanden werden kann. In E1p17s stellt Spinoza fest, dass die Dinge in ihrer Essenz so beschaffen sind, wie sie sind, weil sie genau so in Gottes Verstand existieren. »Deshalb ist Gottes Verstand, begriffen als etwas, das Gottes Essenz ausmacht, die Ursache sowohl der Essenz wie der Existenz der Dinge« (E1p17s). Wenn Gottes Verstand also die Ursache der Dinge in ihrer Essenz wie in ihrer Existenz ist, dann muss er von ihnen verschieden sein, denn das Verursachte »unterscheidet sich von seiner Ursache genau in dem, was es von der Ursache hat« (E1p17s). Am Beispiel des Menschen verdeutlicht Spinoza dieses Verursachungsgesetz; so kann ein Mensch zwar die Ursache der Existenz eines anderen Menschen sein, nicht aber die Ursache seiner Essenz, die eine ewige Wahrheit ist. Dementsprechend können Menschen in ihrer Essenz übereinstimmen, in ihrer Existenz aber ganz unterschiedlich sein. 154 Als bewirkende Ursache der Essenz wie der Existenz eines Dings ist Gottes Verstand aber von dieser Essenz wie von dieser Existenz verschieden, aus seiner Natur gehen die Dinge nur hervor. Die Essenz eines Dings ist also der Grund seiner Aktivität als Existenz, und sie ist von seiner Existenz verschieden. Zur eigentlichen Definition der Essenz gelangt Spinoza erst im zweiten Teil unter E2d2: »Zur Essenz irgendeines Dings gehört meinem Verständnis nach das, mit dessen Gegebensein das Ding notwendigerweise gesetzt und mit dessen Aufhebung das Ding notwendigerweise aufgehoben wird; anders formuliert dasjenige, ohne das das Ding weder sein noch begriffen werden kann, und das seinerseits ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann.« Essenz ist das, was ein Ding konstituiert, also gewissermaßen seine Natur, und diese Natur ist die Natur des Ganzen wie die des Einzelnen. Insofern ist der Mensch in seiner Essenz stets allgemeine Essenz und geht in seiner Existenz aus Gott bzw. der Substanz hervor. Das bedeutet aber nicht, dass er unbedingt und notwendig zum Sein der Substanz gehört, denn er existiert nicht notwendigerweise. »Zur Essenz des Menschen gehört nicht das Sein von Substanz«; das »Sein von Substanz schließt nämlich notwendige Existenz in sich. [. . . ] Gehörte also das Sein von Substanz zur Essenz des Menschen, dann wäre mit dem Gegebensein der Substanz notwendigerweise der Mensch gegeben [. . . ]« (E2p10 und auch die durch einander bestimmt werden: »those through which other terms – i.e. the key terms that we identify as the concepts of the system – are most often defined«. Pierre-François Moreau, »The Metaphysics of Substance and the Metaphysics of Forms«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind. Leiden 1994, S. 27–35, hier: S. 28. Zur Unterscheidung von essentia und existentia siehe auch: Albert Rivaud, Les notions d’essence et d’existence dans la philosophie de Spinoza, Paris 1906. 154 Vgl. dazu auch E1p17.

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E2p10dem). Das ist aber nicht der Fall, da der Mensch nicht notwendigerweise existiert, das Sein von Substanz aber Existenz in sich schließt. Als die Essenz des Menschen wird im dritten Teil der Ethica vielmehr das Streben (conatus) ausgemacht, »mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt« (E3p7). In diesem Sinne ist die Essenz des Menschen also sein Streben, in der Existenz zu verharren, und Existenz ist in diesem Sinne primär die Existenz einzelner Individuen, die sich voneinander unterscheiden. Damit ist nicht die Dauer der Existenz im Sinne einer abstrakten Größe gemeint, sondern vielmehr »jene Natur von Existenz, die Einzeldingen deshalb zukommt, weil aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgt« (E2p45s). Es geht bei diesem Begriff der Existenz um die Existenz von Einzeldingen, die in Gott bzw. in der Substanz sind. Zwar bestimmen sich die einzelnen Dinge gegenseitig, in bestimmter Weise zu existieren, doch folgt ihre Existenz auch aus der ewigen Notwendigkeit von Gottes Natur. In diesem Sinne ist die Existenz eines jeden einzelnen Dings notwendig mit der Essenz der Substanz verbunden. »Jede Idee eines wirklich existierenden Körpers, generell eines wirklich existierenden Einzeldinges (res singularis), schließt notwendigerweise eine ewige und unendliche Essenz Gottes in sich« (E2p45). Das Verhältnis von Essenz und Existenz steht also in einer Spannung zwischen der theoretischen Begründung des Substanzmonismus und der praktischen Auslegung konkreter, endlicher Zusammenhänge der Existenz. In E5p29s stellt sich das wie folgt dar: »Dinge werden von uns in zwei Weisen als wirklich begriffen: entweder insofern wir sie als existierend in Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Raum begreifen oder insofern wir sie als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend begreifen« (E5p29s). 155 Aus diesen zwei Weisen, die Wirklichkeit zu begreifen, ergibt sich die Aufgabe, Essenz und Existenz zu vermitteln und unsere menschliche Wirklichkeit als die Wirklichkeit des Ganzen zu verstehen. 156 Während der Monismus der Substanz nun Ursache seiner selbst ist und aus sich selbst begründet werden kann, stellt sich das Prinzip der Verursachung auf der Ebene der einzelnen Modi ganz anders dar. Es lässt sich ebenso immanent begründen, doch im Unterschied zur monistischen Einheit des Ganzen sind die einzelnen Modi durchaus ihren jeweils äußerlichen Konstitutionsprinzipien ausgesetzt. Sie bilden sich, wie wir später am Beispiel des Körpers sehen werden, erst Vgl. auch E5p29: »Was auch immer der Geist unter einem Aspekt von Ewigkeit einsieht, das sieht er nicht daraus ein, daß er die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpers begreift, sondern daraus, daß er die Essenz des Körpers unter einem Aspekt von Ewigkeit begreift.« 156 Wie Kisser formuliert, handelt es sich dabei um die »Herausforderung, die konkrete Wirklichkeit als die Wirklichkeit der Substanz zu denken«. Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 67. 155

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in Relation zu anderen Modi und in dynamischen Strukturen aus. Diese unterschiedlichen Beziehungen zwischen Innen und Außen auf der Ebene der Substanz und auf der Ebene der Modi stehen gleichermaßen in der monistischen Einheit des Ganzen. Daher gibt es einen Widerspruch zwischen der immanenten Wirkungsweise der Substanz, die sich in den Modi ausdrückt, und der heteronomen Wirkungsweise der Modi, die einander äußerlich sind und sich gerade durch diese Äußerlichkeit konstituieren. Das In-sich-selbst-Sein der Substanz und das Aus-anderem-Sein der Modi muss also auf der Ebene der Theorie vermittelt werden, und dafür ist der Grundgedanke der Immanenz mit seiner Voraussetzung des Monismus wichtig. Damit sind die beiden Seiten angesprochen, die eine Theorie immanenter Individuation zu vermitteln hat: die theoretische Seite des ontologischen Monismus der Substanz und die pragmatische Seite der Existenz des menschlichen Individuums. Wenn es sich tatsächlich so verhält, wie Deleuze annimmt, wie wir es bei Spinoza allerdings bisher nicht feststellen konnten, dass nämlich die Substanz sich in ihren modalen Ausdrucksformen restlos erschöpft und kein Einsatzpunkt außerhalb des Ausdrucksgeschehens bleibt, dann geht der ontologische Monismus auf der Ebene der Theorie vollständig auf. Praktisch sind wir dadurch unmittelbar vor die Frage gestellt, was diese absolute Immanenz für das menschliche Individuum bedeutet und welche feststehenden Einsatzpunkte ihm im Gesamtzusammenhang der Affektionen, in dem es sich als Modus ausbildet, bleiben. Ein wesentlicher Aspekt ist hier Spinozas Revision der Perspektive auf das Verhältnis von Körper und Geist. Der Zusammenhang zwischen der epistemologischen Dimension der Erkennbarkeit alles Seienden innerhalb des Monismus und dem Verhältnis von Körper und Geist deutet darauf hin, dass wir sowohl im Feld der Ausdehnung wie im Feld des Denkens alles erkennen können und es am Menschen nichts geben kann, was aus diesem monistischen Prinzip der Erklärbarkeit ausgeschlossen wird. Insofern korrespondiert die Begründung des Monismus aufs engste mit Spinozas antimoralischer Haltung der Natur gegenüber, in der es für ihn nichts Falsches und nichts Unvollkommenes geben kann, d.h nichts, was nicht aus der Natur des Ganzen heraus verstehbar ist. Einen Monismus anzunehmen, bedeutet also immer auch, die Freiheitsspielräume des Menschen von ihren Voraussetzungen her zu durchdenken und auszuloten. Für Spinoza ergeben sich diese Freiheitsspielräume aus der Möglichkeit einer Erkenntnis des Ganzen der Natur durch den Menschen, und diese Erkenntnisfähigkeit soll im vorliegenden Kontext zugleich als Affektfähigkeit vorgestellt werden.

II Die zwei Seiten der Natur

II.1 natura naturans und natura naturata

Der Begriff der Natur wird von Spinoza nicht in derselben systematischen Weise bestimmt wie die Begriffe der Substanz, der Attribute und der Modi. Zwar wird der Begriff der natura immer wieder verwendet, doch gleichwohl verlässt Spinoza sich hier auf die überkommene scholastische Bedeutung und fasst natura zumeist im allgemeinen Sinne einer Aktivität auf, die gleichzeitig hervorbringende Kraft und Effekt einer hervorbringenden Kraft ist. 157 Von Natur ist aber vielfach auch die Rede, wenn es etwa um die Charakterisierung eines Dings und seiner Möglichkeiten geht: so z. B. von der Natur Gottes und der Menschen, von der Natur des Dreiecks oder von Dingen, deren Natur als existierend oder der je eigenen Natur vergleichbar begriffen werden kann. 158 Darüber hinaus wird der Begriff der Natur aber auch in einem sehr weiten Sinn für das Ganze der existierenden Dinge in ihrem kausalen Zusammenhang gebraucht, und dieses Ganze der Natur ist für Spinoza zugleich Gott und Substanz. 159 In seiner immanenten Konzeption der Natur als Gott und als Substanz zeigt sich ein metaphysischer Naturalismus, der sich aber nicht darin erschöpft, Natur als eine physikalische Dimension zu verstehen, in der die Modi nach mathematischen

157 Vgl. die Einträge zur »Natur« sowie zur Unterscheidung von »natura naturans« und »natura naturata« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 422 ff. und 504 ff. 158 Chris van Rompaey thematisiert, wie bereits erwähnt, die sprachlichen Probleme, die mit Spinozas Latein verbunden sind. Zur Unterscheidung von natura naturans und natura naturata schreibt van Rompaey: »To be sure, one can gain a workable sense of the difference from Spinoza’s definition: the former expresses an ›eternal and infinite essence‹, the latter is a consequence of the ›necessity of God’s nature‹. [. . . ] The first word of each term is natura or ›nature‹, in classical Latin more particularly the nature of something. This in turn derives from natus, the past participle of nascor, I am born. So the nature of something is its inborn or innate character. The second word in each case comes from the same postclassical verb naturo, ›I give existence to‹, but with a different suffix. It will be recalled that the -ans suffix creates the present participle, while -atus, or in this instance the feminine -ata, is the form of the perfect or past participle which is passive. Thus Natura naturans is ›Nature that goes on giving existence‹ while Natura naturata is ›Nature that has been given existence‹.« Chris van Rompaey, »Language and Meaning in the Ethics. Or, Why Bother with Spinoza’s Latin?«, in: Parrhesia, 24, 2015, S. 336–366, hier: S. 359. 159 Die Potentialität der Natur, wie sie in der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata durchscheint, bezeichnet Canguilhem mit Blick auf Kants Begriff des logischen Horizonts als poetischen Horizont der natura naturans. Vgl. Georges Canguilhem, A Vital Rationalist, New York 1994, S. 311.

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und mechanischen Prinzipien zu erklären wären. 160 Spinozas monistische Substanzkonzeption ist vielmehr metaphysisch und naturphilosophisch geprägt, und Substanz ist als ein Gefüge zu verstehen, das sich unabhängig von transzendenten Gesetzen durch immanente Kräfte und aus eigenen Ursachen ereignet. 161 Wir haben es hier also mit einem starken Naturalismus zu tun, der alles in Zweifel zieht, was die Natur überschreitet und diese durch sich selbst zu verstehen sucht. Das bedeutet auch, dass es für Spinoza in der Natur keine Normen gibt, sondern nur die eine Natur, in der der Mensch zum Glück und zur Freiheit kommen kann. Deleuze spricht hier von einem neuen Naturalismus und einer anticartesianischen Reaktion auf die »Entwertung der Natur, der jegliche Virtualität und Potentialität entzogen wurde, jegliches immanente Vermögen, jegliches inhärente Sein. Die cartesische Metaphysik vervollständigt dieses Unternehmen, indem sie das Sein außerhalb der Natur sucht, in einem Subjekt, das sie denkt, und einem Gott, der sie erschafft.« 162 Spinozas Reaktion auf die cartesianische Transzendierung der Kräfte der Natur in Richtung auf ein übergeordnetes Denken und einen extramundanen Gott ist ein immanenter Naturalismus, d. h. eine ebenso vitalistische wie mechanistische Theorie dynamischer Modi, die sich in unendlichen Affektionen zusammensetzen, erzeugen und überwinden. Der Begriff der Natur und die in ihm angelegte scholastische Unterscheidung von natura naturans und natura naturata verdeutlichen vielleicht am ehesten Spinozas Vorstellung einer dynamischen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen wandelbaren Welt. 163 Natur ist für Spinoza ein grundlegendes Seinsprinzip, das die Macht der Einzeldinge und ihre dynamische Verfasstheit im immanenten Seinszusammenhang bestimmt. 164 Die Macht der Natur ist immer und überall dieselbe, »d. h. die Gesetze und Regeln der Natur, nach Zur Unmöglichkeit der Reduktion des Substanzmonismus auf ein physikalisches Geschehen äußert sich auch Renz. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 68. 161 Die unhintergehbare Bedeutung der Substanzkonzeption als ein ontologisches Argument (und dessen Funktion für die weiteren Themen der Ethica) werden behandelt in: William A. Earle, »The Ontological Argument in Spinoza: Twenty Years Later«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 220–226. 162 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 200. 163 Zum scholastischen Ursprung dieser Unterscheidung vgl. Henri Krop, »Natura naturans«, in: Wiep van Bunge / Henri Krop / Piet Steenbakkers / Jeroen van de Ven (Hg.) The Bloomsbury Companion to Spinoza, a. a. O., S. 272. 164 Genevieve Lloyd verfolgt die Idee des Individuums als Teil der Natur entlang der Paradoxie, dass Spinoza einerseits, in der rationalistischen Tradition neben Descartes und Leibniz, das geordnete Ganze einer intelligiblen Welt nach strengen Regeln erklären will und andererseits einer romantisch-naturphilosophischen Vorstellung vom Individuum als integralem Teil einer ungeteilten Natur anhängt. Deutlich ist, dass Spinoza mit der Ethica als Ethik einen Weg aufzeigt, wie das menschliche Individuum sich selbst in unterschiedlichen Erkenntnisarten als Teil eines intelligiblen 160

natura naturans und natura naturata

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denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere sich verändert sind immer und überall dieselben« (E3praef). Das bedeutet auch, dass ein jedes Einzelding, also ein jedes Individuum nach den Gesetzen und Regeln der Natur zu verstehen ist. 165 In der Konzeption von natura naturans und natura naturata zeigt sich ein Begriff der Natur, wie er dem lateinischen Verb naturare zugrunde liegt, das den aktiven, hervorbringenden Charakter der natura deutlich macht und weit über ihre reine Bestimmung als essentia hinausgeht. 166 Spinoza übernimmt das scholastische Doppelkonzept von natura naturans und natura naturata und unterscheidet damit zwischen Substanz und Attributen auf der einen und Modi auf der anderen Seite. Im ersten Teil des Kurzen Traktats über Gott, den Menschen und dessen Glück legt er diese Unterscheidung ausführlich dar und unterteilt »kurz die gesamte Natur« in natura naturans und natura naturata. »Unter natura naturans verstehen wir ein Seiendes, das wir durch es selbst klar und deutlich begreifen, ohne auf etwas anderes als es selbst zurückzugreifen, ein Seiendes, das Gott ist. Auch die Thomisten haben Gott unter demselben Ausdruck verstanden; doch war ihre Natura naturans ein Wesen (so nannten sie es) außerhalb aller Substanzen« (KV 1:8). 167 Die natura naturans ist das aus sich selbst herzuleitende und damit unbedingte Wesen Gottes (das für die Thomisten eben keine immanente Substanz, sondern abgelöste Transzendenz war). »Die Natura naturata unterteilen wir zweifach, in eine allgemeine und eine besondere. Die allgemeine besteht in all den Modi, die von Gott unmittelbar abhängen [. . . ]. Die besondere besteht in allen besonderen Dingen, die von den allgemeinen Modi verursacht werden, so daß die Natura naturata für ihr Ganzen und als Teil einer immanenten Totalität verstehen kann, ohne die es selbst nicht sein kann. Vgl. Genevieve Lloyd, Part of Nature: Self-knowledge in Spinoza’s Ethics, Ithaca und London 1994. 165 Die methodologische Vorbemerkung zum dritten Teil der Ethica, aus der dieses Zitat stammt und in der Spinozas strenge Auffassung der Bedeutung der Natur besonders deutlich wird, ist in verschiedenen Interpretationen zur Grundlage einer umfassenden Naturphilosophie geworden, vgl. etwa Stuart Hampshire, Spinoza, Harmondsworth, Middlesex 1951 oder Edwin Curley, Spinoza’s Metaphysics: An Essay in Interpretation, Cambridge, MA 1969. 166 Ob beide Aspekte der Natur, also die aktive Seite der natura naturans und die passive Seite der natura naturata, gleichermaßen, gemäß der in E4praef und E4p4dem gesetzten Formel »Deus sive Natura« Gott sind, diskutiert Melamed in Auseinandersetzung mit Curleys Meinung, dass der Pantheismus Spinozas ein Mythos sei. Für Curley ist lediglich die schaffende Natur Gott selbst, während die geschaffene Natur zwar von Gott hervorgebracht, aber nicht Gott selbst sein kann. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung: Edwin Curley, Spinoza’s Metaphysics: An Essay in Interpretation, Cambridge, MA 1969, S. 42, sowie Edwin Curley, »On Bennett’s Interpretation of Spinoza’s Monism«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature: Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 35–51, hier: S. 45, und Yitzhak Y. Melamed, Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought, New York 2013, S. 17 ff. 167 In der alten Übersetzung von Gebhardt ist etwas eigenwillig von der »naturenden Natur« und von der »genaturten Natur« die Rede. Vgl. Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Hamburg 1965, S. 53 f. In der neuen Übersetzung von Wolfgang Bartuschat werden die lateinischen Begriffe beibehalten.

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richtiges Verständnis einiger [Attribute der] Substanz bedarf« (KV 1:8). »Was nun die allgemeine Natura naturata angeht, d. h. die Modi oder Geschöpfe, die unmittelbar von Gott abhängen oder unmittelbar von ihm erschaffen sind, von ihnen kennen wir nicht mehr als zwei, nämlich Bewegung in der Materie und Verstand im Attribut Denken« (KV 1:9). Natura naturata unterteilt Spinoza hier in eine allgemeine Natur der Modi, die unmittelbar von Gott abhängen, und eine besondere Natur, die in den besonderen Dingen besteht, die durch die allgemeinen Modi verursacht werden. Die allgemeine natura naturata wird nach zwei weiteren Formen unterschieden, die unmittelbar von Gott abhängen und hier als Modi oder Geschöpfe bezeichnet werden, nämlich Bewegung im Attribut der Ausdehnung und Verstand im Attribut des Denkens. In der Ethica überträgt Spinoza die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata auf das ontologische Modell der Substanz, der Attribute und der Modi. Dabei ist Substanz als erschaffende Natur selbständig und durch das Prinzip der causa sui in Kraft gesetzt, während sie ihrerseits die Modi in Kraft setzt und sich in den Modi ausprägt. Wenn natura naturans die absolute Ursache und die Unendlichkeit unendlicher Attribute ist und natura naturata die einzelnen Modi umfasst, wie sie aus der schaffenden Natur folgen, stellt sich die Frage, wie die einzelnen Modi überhaupt für sich zu verstehen sind. Sie müssen von der schaffenden Natur, durch die sie determiniert sind, abgelöst und abstrahiert werden, um als Einzelne verstehbar zu sein, und das bedeutet, dass die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata weder wie ein Dualismus noch wie eine Analogie aufgefasst werden darf, denn in beiden Fällen würden die Modi nur wie Repräsentationen einer ihnen zur Seite gestellten und vorhergehenden Quelle erscheinen. 168 Als natura naturans ist die Natur vielmehr eine unbedingte produktive Macht (potentia), die in jedem Ding und jeder Idee zu einem eigenen Ausdruck gelangt. Sie ist keine Wesensgrundlage, aus der sich Erscheinungen ableiten, sondern das mannigfaltige Ausdrucksgeschehen der Formen selbst. Sie ist schaffende Natur, während die durch sie zum Ausdruck kommenden Modi geschaffene Natur (natura naturata) sind. Spinoza macht dann in der Ethica sehr deutlich, »daß wir unter ›Natura naturans‹ zu verstehen haben, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, also solche Attribute von Substanz, die eine ewige und unendliche Essenz ausdrücken, d. h. [. . . ] Gott insofern er als freie Ursache angesehen wird« (E1p29s). »Unter ›Natura naturata‹ [. . . ] dagegen alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes Vgl. dazu auch: Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011, hier S. 131. Und zu Spinozas Gebrauch der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata im Kontext einer Kulturanthropologie auch: Philippe Descola, Die Ökologie der Anderen. Die Anthropologie und die Frage der Natur, Berlin 2014, S. 32 ff. 168

natura naturans und natura naturata

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oder vielmehr der Natur irgendeines seiner Attribute folgt, d. h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge angesehen werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können« (E1p29s). Spinoza vermeidet also die Überordnung eines gesetzgebenden Gottes über die Welt, indem er diesen mit der Natur als einer unendlichen Substanz, aus der alles hervorgeht, immanent und horizontal in eins setzt. Seine Kritik an der transzendenten Auffassung Gottes und der Schöpfung findet ihren bekanntesten Ausdruck in der Formel deus sive natura, und in dieser Formel wird deutlich, dass der Naturalismus Spinozas auf eine Identität von Gott und Natur hinausläuft. 169 In der Gleichsetzung der Substanz als Natur mit Gott bedeutet das, dass Gott nicht der Welt gegenüber, nicht ein hinzunehmender und unbegreifbarer Sachverhalt außerhalb der Welt ist, sondern dass er als ein unbedingtes, unendliches Seiendes in jedem Ding und jeder Idee als deren Ursache und als eine produktive Macht (potentia) erscheint. 170 Wenn die Substanz mit ihren Attributen und ihren Modi durch sich selbst bestimmt und mit Gott und der Natur identisch ist, dann kann Gott eben nicht im Sinne einer transzendenten Größe von absoluter Freiheit behandelt werden, sondern nur als immanente Natur, die sich selbst hervorbringt (vgl. E1p25s). Als Ursache seiner selbst ist Gott auch Ursache der ganzen Natur, und so sind die Hervorbringung seiner selbst und die Hervorbringung der Natur ein und dasselbe. Gott verwirklicht sich gewissermaßen in der Natur, und das bedeutet auch, dass sich die natura naturans als natura naturata verwirklicht. 171 Die Gleichsetzung von Gott und Natur bedeutet für Spinoza nicht, Ursache und Wirkung auch in der Natur in eins zu setzen und nichts aus dem Gesetz der immanenten Kausalität folgen zu lassen. Er unterscheidet vielmehr in der Natur selbst zwischen schaffender und erschaffener Natur und erhält damit die dynamische Potentialität der Einheit, die die Natur ist, und so ist Gott Natur, wie die Natur Gott ist. Gleichwohl 169 Eine genaue Erläuterung der Formel deus sive natura bietet Steven M. Nadler, Spinoza’s Ethics. An Introduction, Cambridge 2006. Das sive wird zwar in der Regel mit oder übersetzt, kann aber auch als das ist verstanden werden. Vgl. dazu: Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 89– 112, hier: S. 91. Siehe zu der bekannten Formel auch: E4praef, E4p4dem und E1p24c. 170 Daher betont Nancy, dass es Spinoza gelungen sei, durch die strikte Äquivalenz von Gott und Natur ein Außen der Welt in ihrem Inneren zu bestimmen, und weist ihn als den ersten Denker der Welt aus. Vgl. Jean-Luc Nancy, Der Sinn der Welt, Paris 2001, S. 82. 171 Zur Kritik des Begriffs des Pantheismus und zur Gleichsetzung von Spinozismus und Pantheismus, wie sie sich vor allem im Gefolge Lessings bis ins 19. Jahrhundert etabliert hat, vgl. Winfried Schröder, »Deus sive natura. Über Spinozas so genannten Pantheismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57/3 (2009), S. 471–480. Schröder betont, dass die Vermischung religiöser und philosophischer Dimensionen im Begriff des Pantheismus, und dessen quasi-religiöse Indienstnahme nach dem Wegfall religiöser Angebote im Zuge der Aufklärung, es für ihn unmöglich machen, systematisch an die Metaphysik Spinozas anzuschließen.

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Die zwei Seiten der Natur

aber fällt hier nicht alles in ein ununterscheidbares Ganzes von Ursache und Wirkung zusammen, sondern die Natur oszilliert zwischen ihrem erschaffenen und ihrem erschaffenden Charakter. Die Individuation des menschlichen Individuums vollzieht sich in dieser Naturkonzeption nicht in Abgrenzung von der Natur und nicht als souveränes Selbstbewusstsein, das alles dem Denken unterwirft und seine Freiheit durch eine Absonderung von der materiellen Natur erreicht. Vielmehr entwickelt sich das menschliche Individuum als Teil der Natur zu seiner Freiheit und seiner Geistigkeit und ist in die Gesetze der immanenten Kausalität eingelassen. Das menschliche Individuum ist nicht das »imperium in imperio« (E3praef), sondern ein Teil der Natur und es muss sich in diesem Sinne erst zu dem machen, was es doch gleichzeitig immer schon ist. 172

Natur als Implikation und Explikation (Deleuze)

Deleuze stellt das Ineinandergreifen von schaffender und geschaffener Natur, durch das sich Spinozas Naturkonzeption auszeichnet, als ein Verhältnis von Implikation und Explikation dar, also als ein Verhältnis von Einschließung in die Natur und Ausschließung aus der Natur. 173 In diesem Vorgang wird die Natur als ein immanentes Ausdrucksgeschehen sichtbar, in dem die Ebenen von natura naturans und natura naturata verschränkt sind. »Zuerst und vor allem drückt sich die Substanz in ihren Attributen aus, und jedes Attribut drückt ein Wesen aus. Sodann aber drücken sich die Attribute ihrerseits aus: sie drücken sich in den von ihnen abhängigen Modi aus, und jeder Modus drückt eine Modifikation aus.« 174 Die erste Ebene stellt Deleuze als die Ebene einer Konstitution der Substanz durch ihren Ausdruck in den Attributen dar. Substanz wird durch ihre Attribute konstituiert, insofern sie durch den Ver-

172 Diese Theoriefigur hat Nietzsche erkannt und aus ihr die Überschrift seines Werks Ecce Homo. Wie man wird, was man ist abgeleitet, das er zwischen August 1888 und Januar 1889 verfasst hat. Vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 6, S. 255– 374. 173 Vgl. zum Prinzip von Implikation und Explikation auch: Knox Peden, Spinoza Contra Phenomenology. French Rationalism from Cavaillés to Deleuze, Stanford 2014, S. 211 ff., sowie: Peter Hallward, Out of this World: Gilles Deleuze and the Philosophy of Creation, London 2006. 174 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 18. So hält Deleuze auch fest, dass die Natur als Substanz eine Natur ist, die aber mannigfach in ihren Modifikationen ist. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 113.

natura naturans und natura naturata

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stand in ihren Attributen als ihrer Essenz erkannt wird. 175 Die zweite Ebene betrifft den Ausdruck der Attribute selbst, nicht als Ausdruck von Substanz, sondern als Ausdruck in den Modi und somit als Hervorbringung der einzelnen Modifikationen. Auf dieser Ebene haben wir es mit der eigentlichen Hervorbringung der Dinge zu tun. »In der Tat bringt Gott aufgrund seines unendlichen Wesens unendlich viele Dinge hervor; weil er aber unendlich viele Attribute hat, bringt er diese Dinge in einer unendlichen Zahl von Modi hervor, von denen jeder auf das Attribut verweist, in dem er enthalten ist.« 176 Schaffende Natur ist Gott, insofern er unendliche Attribute hat, die sich je in ihrer Gattung unendlich ausdrücken und aus denen unendlich vieles als geschaffene Natur auf unendlich viele Weisen folgt und als geschaffene Natur ist Gott gleichzeitig in allem enthalten, da sich seine Attribute ihrerseits in den Modi ausdrücken (vgl. E1p16dem). Für Deleuze weist die Natur als natura naturans und natura naturata also gleichzeitig einen implizierenden und einen explizierenden Charakter auf, da sowohl alles in ihr enthalten ist als auch alles aus ihr hervorgeht. »Gott drückt sich durch sich selbst aus, noch ›bevor‹ er sich in seinen Werken ausdrückt: Gott drückt sich aus, indem er durch sich die natura naturans konstituiert, bevor er sich ausdrückt, indem er in sich die natura naturata hervorbringt.« 177 Explicare und involvere betrachtet Deleuze als korrelierende Vorgänge des Ausdrucksgeschehens, das er in zwei Dimensionen gerichtet sieht, die die immanente Kraft der Natur als natura naturans und natura naturata ausmachen. In den Attributen wird das Wesen der Substanz nicht nur ausgedrückt, sondern es wird expliziert und ist in ihnen impliziert, so wie Gott alles expliziert und in allem impliziert ist. 178 Implikation und Explikation sind also zwei Aspekte des Ausdrucksgeschehens: »Einerseits ist der Ausdruck eine Explikation: eine Entwicklung dessen, was sich ausdrückt, eine Darstellung des Einen im Vielen (Darstellung der Substanz in ihren Attributen, dann der Attribute in ihren Modi). Andererseits aber schließt der vielfache Ausdruck das Eine ein. Das Eine bleibt eingeschlossen in das, wodurch es ausgedrückt wird, eingeprägt in das, wodurch es entwickelt wird, immanent im Ganzen dessen, wodurch es dargestellt wird: in diesem Sinn ist der Ausdruck ein Einschließen.« 179 Implikation und Explikation bedeuten 175 Vgl. dazu E1def4: »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erkennt.« 176 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 18. Vgl. auch E1pro16dem. 177 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 18. 178 Vgl. ebd. und dazu auch das Ein- und Ausschließen mit Blick auf die Erkenntnis Gottes in den Einzeldingen, wie es in E2p45 undE2p46 dargestellt wird. 179 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 20.

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Die zwei Seiten der Natur

also auch die Einschließung des Vielen im Einen und die Entwicklung des Einen aus dem Vielen. Und dabei ist die Bewegung der Entfaltung der Natur aus sich selbst die zentrale naturphilosophische Dimension, durch die Spinoza den Cartesianismus überwinden will. Natur ist hier nicht einfach eine unterlegte Substanz, sondern in ihrer dynamischen Einheit von natura naturans und natura naturata ist sie die immanente Antriebskraft der Individuation der Modi und ihrer Entfaltung. »Nun ist die Natur bei Spinoza eine, die alles einbegreift, alles enthält, während sie zugleich in jedem Ding impliziert ist und durch jedes expliziert wird. Die Attribute schließen die Substanz ein und explizieren sie, diese jedoch begreift alle Attribute in sich. Die Modi schließen das Attribut, von dem sie abhängen, ein und explizieren es, das Attribut jedoch enthält alle Wesen der entsprechenden Modi.« 180 Folgt man Deleuze, ist der Begriff der Natur, wie Spinoza ihn fasst, im Sinne eines Gemeinbegriffs (notion commune) zu verstehen und steht im Zusammenhang mit der Bildung adäquater Ideen, die die zweite Erkenntnisgattung ausmachen. Im Gemeinbegriff der Natur zeigt sich die Einheit der Natur als eine Zusammensetzung unter variablen Aspekten und in variablen Verhältnissen. Deleuze interpertiert ihn als eine Art Hypothese, als eine Setzung, durch die charakteristische Verhältnisse bestimmt werden, in denen Dinge sich mit anderen Dingen verbinden und von ihnen trennen.

II.2 Exkurs: Natur und Norm

Allgemein wird mit der philosophischen Frage nach der Natur unmittelbar auch die Frage der Existenz des menschlichen Individuums aufgeworfen, und im Begriff der Natur spiegeln sich die Dimensionen des Geistes, der Geschichte und der Kultur. So wird jeweils auch ein Bedürfnis der Abgrenzung gegen die Kontingenz des Weltgeschehens deutlich und der Selbstauslegung des Menschen steht dabei nicht selten das Leitbild einer natura incorrupta gegenüber. Natur nimmt regelmäßig die Funktion einer wesensbegründenden Einheit und damit den Charakter einer Norm an, die Abhebungen und Abweichungen als Formen nachträglicher Entfremdung erscheinen lässt. Zu diesem Problem eines Naturbegriffs, der als Quelle von Normen verstanden wird und aus dem Natürlichkeit als ein normativer Orientierungsbegriff abgeleitet wird, macht Spinoza ein interessantes Angebot. 181 Mit seiner Vorstellung der Einheit von Gott, Natur und Substanz wollte Spinoza die Wirklichkeit auf der Grundlage Ebd. Vgl. zur Konzeption von Natur auch: Gilles Deleuze, Logik des Sinns, a. a. O., S. 324 ff. Vgl. zur Frage von Natur und Norm auch: Jacqueline Lagrée (Hg.), Spinoza et la norme. Besançon 2002. Eine spinozistische Begründung von Normen schlägt auch Pierre Macherey in seiner Auseinandersetzung mit dem Denken Foucaults vor. Vgl. Pierre Macherey: »Für eine Naturge180

181

Exkurs: Natur und Norm

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einer Bestimmung des Ganzen erfassbar machen und dabei die eine Substanz und ihre vielen Ausdrucksformen in ein modales Verhältnis bringen. Die Einheitsbegriffe von Natur, Gott und Substanz werden hier von einem ontologischen Monismus ausgehend verstanden, der eine dynamische Pluralität von Formen umfasst. Durch seinen nominalistischen Gebrauch sperrt Spinoza vor allem den Begriff der Substanz gegen seine Verdinglichung und gelangt so zu einer dynamisierenden Desubstanzialisierung des Einheitsdenkens und damit zu einem antiessentialistischen Naturbegriff. Mit der eben beschriebenen Unterscheidung von natura naturans und natura naturata wird die Vorstellung einer dynamischen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen wandelbaren Welt deutlich gemacht und der Natur eine Potentialität verliehen. 182 Spinozas Natur kann also als eine Instanz verstanden werden, die keinen fundierenden Charakter hat und nicht in apriorischer Unabhängigkeit gegen ihre Ausdrucksformen steht, sondern vielmehr in einer immanenten Konzeption ihrer Potentialität und damit ihrer Macht aufgeht. Sie ist nicht einfach eine determinierende Instanz, die den Einzeldingen wie ein Grund vorhergeht, sondern in ihr zeigt sich gerade die Potentialität pluraler Verbindungen und Formen. Unter diesen Voraussetzungen ist Naturalisierung keine Rückführung auf eine vorgängige Wesenseinheit, sondern vielmehr eine Situierung der Einzeldinge in einem horizontalen Feld von Affektionskräften. Die Freiheit des Menschen wird aus seiner Erkenntnis der Natur selbst hergeleitet und muss nicht in einer epistemischen Frontstellung gegen die Natur begründet werden. Naturalisierung ist für Spinoza also eine Möglichkeit, die mannigfaltigen Modi des Ausdrucks der Natur je selbst als Natur zu verstehen. 183 Daraus folgt, dass Natur keine transzendente Instanz ist, die wie ein normgebendes Gesetz wirkt, aus dem sich normative Gehalte ableiten lassen. Für Spinoza ist die Natur in all ihren Erscheinungsformen eins, und in ihr ist alles in seiner Art vollkommen. Diese Annahme der Vollkommenheit der Dinge in der Natur wird aus der Vollkommenheit Gottes hergeleitet, denn wie in E1p29 deutlich gemacht wird,

schichte der Normen«, in: François Ewald / Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 171–192. 182 Zu den historischen Vorstellungen von schaffender und geschaffener Natur siehe: Jürgen Mittelstraß, »Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs«, in: Friedrich Rapp (Hg.), Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981, S. 36–69. Zur »Verwesentlichung des Zufälligen« in den Vorstellungen der schaffenden Natur und zur Natur als Möglichkeitsraum: Hans Blumenberg, »›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, S. 9–46. 183 Vgl. zur Naturalisierung auch: Hasana Sharp, Spinoza and the Politics of Renaturalization, Chicago 2011.

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Die zwei Seiten der Natur

gibt es in der Natur »nichts Zufälliges, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken«. Die »Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind« (E1p33). Und daraus folgt, »daß die Dinge in höchster Vollkommenheit von Gott hervorgebracht worden sind« (E1p33s2). Was also in der Wirklichkeit der Natur ist, ist vollkommen, so wie es ist, und daher gibt es nicht Sein und Sollen, nicht Gutes und Schlechtes in der Natur, sondern Wirklichkeit und Vollkommenheit werden gleichgesetzt: »Per realitem et perfectionem idem intelligo« (E2def6). 184 Wenn es aber keine normativen Maßstäbe in der erkennbaren Natur gibt, warum gibt es dann so unterschiedliche Einzeldinge in ihr? Und: »Wenn alles aus der Notwendigkeit von Gottes höchstvollkommener Natur gefolgt ist, woher kommen dann so viele Unvollkommenheiten in der Natur?« (E1app) Wie etwa: »Fäulnis von Dingen bis hin zum Stinken, ekelerregende Häßlichkeit, Unordnung, Böses, Sünde und anderes« (E1app). Spinoza begründet die Vollkommenheit der Dinge als ihre Potentialität, d. h. als Macht und Vermögen im Sinne der potentia. Gut und schlecht sind jeweils ein Mehr oder Weniger der entfalteten Potentialität der Natur, und somit ist die größere oder geringere Vollkommenheit der Dinge an ihrer Macht zu ermessen, sich in der Natur zu entfalten. Und auf die Frage, warum Gott diese Möglichkeit der Machtentfalung nicht allen Menschen gegeben hat, antwortet Spinoza: »weil es ihm nicht an Stoff gemangelt hat, alles zu schaffen, vom höchsten Grad der Vollkommenheit bis zum niedrigsten; oder [. . . ] weil die Gesetze seiner Natur so umfassend gewesen sind, daß sie ausreichten, alles hervorzubringen, was von einem unendlichen Verstand begriffen werden kann (E1app)«. Unter Vollkommenheit versteht Spinoza also die jeweilige Wirklichkeit eines Dinges, d. h. die Weise, in der es existiert und wirkend ist, und zwar unabhängig von seiner Dauer. 185 Im Vergleich sehen wir, dass die Dinge mehr Für Deleuze begründet sich die Gleichwertigkeit der Dinge in der Natur aus der Anlage der Immanenz bzw. aus dem »Immanenzplan«: »Man sieht wohl, daß der Immanenzplan, der Plan (plan) der Natur, der die Affekte zuteilt, Dinge, die natürlich genannt werden, überhaupt nicht trennt von Dingen, die künstlich genannt werden. Das Künstliche ist ganz und gar Teil der Natur, da sich nach dem immanenten Plan der Natur alles definiert durch die Anordnungen der Bewegungen und Affekte, die sie eingeht, ob diese Anordnungen nun künstlich oder natürlich seien.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 161 f. 185 »Denn kein Einzelding kann deshalb vollkommener genannt werden, weil es eine längere Zeit im Existieren verharrt hat, läßt sich doch die Dauer von Dingen nicht aus deren Essenz bestimmen, da nun einmal die Essenz von Dingen keine wohlbestimmte Zeit des Existierens in sich schließt« (E4praef). Es ist vielmehr so, dass die Kraft der Selbsterhaltung ein jedes Ding in gleicher Weise dazu führt, bestmöglich in seiner Existenz zu verharren, und in dieser Hinsicht sind alle Dinge gleich. 184

Exkurs: Natur und Norm

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oder weniger Wirklichkeit haben, und wir nennen sie vollkommen oder unvollkommen, je nach ihrem Grad an Wirklichkeit. Sofern Dinge einen gewissen Grad an Negativität aufweisen, d. h. eine Grenze haben und ein Ende ihrer selbst anzeigen oder nicht im vollen Besitz ihrer Kräfte sind, also ohnmächtig (impotentia) sind, nennen wir sie unvollkommen. In dieser Argumentation wird der Gedanke der Immanenz sehr deutlich, denn Spinoza nennt das in seiner Art vollkommen, was in der Natur ist und an der Positivität der Natur teilhat, und er nennt das unvollkommen, was einer Negativität untersteht, was also nicht oder graduell weniger an der immanenten Kausalität der Natur teilhat. So wird deutlich, warum das, was in der Natur ist, in der jeweiligen Art, in der es in der Natur ist, vollkommen ist, und die Gleichwertigkeit der Dinge wird aus der Immanenz der Natur erklärt. Die Dinge, deren Realität von Negativität geprägt ist, können uns nicht in gleichem Maße affizieren wie die Dinge, die im Sinne ihrer vollen immanenten Realität vollkommen sind. Unvollkommen erscheinen uns also die Dinge, die uns in geringerem Maße affizieren, und diese Dinge affizieren uns in geringerem Maße, weil sich ihre Realität der immanenten Positivität der Natur entzieht. Die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Dinge ist für Spinoza also keine Frage von gut und schlecht, denn derartige Werturteile entspringen nur den jeweiligen Affektionen der Menschen, durch die ihre Vorstellungen und Ideen sich verfestigen. Wie Spinoza auch in einem Brief an Heinrich Oldenburg betont: »Doch will ich Sie [. . . ] darauf aufmerksam machen, das ich der Natur keine Schönheit und Häßlichkeit, Ordnung und Verwirrung zuschreibe. Denn die Dinge können nur im Hinblick auf unser Vorstellungsvermögen schön oder häßlich, geordnet oder verwirrt genannt werden« (Ep: 32). Die Kritik der Unterscheidung von gut und schlecht, vollkommen und unvollkommen nimmt Spinoza bereits in der frühen und unabgeschlossen gebliebenen Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes auf und bemerkt, »daß ›gut‹ und ›schlecht‹ nur beziehungsweise ausgesagt werden, so daß ein und dasselbe Ding gemäß unterschiedlichen Hinsichten sowohl gut als schlecht heißen kann, gerade so wie dies für die Begriffe ›vollkommen‹ und ›unvollkommen‹ gilt. Denn nichts kann, der eigenen Natur nach betrachtet, vollkommen oder unvollkommen genannt werden, insbesondere sobald wir wissen, daß alles, was geschieht, nach einer ewigen Ordnung und nach bestimmten Gesetzen der Natur geschieht« (TIE 1:13). Spinoza beurteilt die Schwächen und Fehler der Menschen also nicht, sondern ist überzeugt, dass Vollkommenheit und Unvollkommenheit in der Natur auf verschiedene »Modi des Denkens (E4praef)«, also auf Ideen zurückgehen, durch die wir verschiedene Individuen vergleichen. Die Individuen selbst sind in ihrer Existenz vollkommen und ihre Realität ist eine Potentialität der Natur

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auf verschiedenen Stufen ihrer Aktualisierung. Zwar glaubt Spinoza nicht an den Wert von Urteilen wie gut und schlecht, aber er konstatiert doch die Notwendigkeit, Begriffe dieser Art zu bilden, um überhaupt zu Ideen zu gelangen. Dies betrifft vor allem die Idee des Menschen. »Denn weil wir eine Idee des Menschen bilden möchten, gleichsam als ein Musterbild der menschlichen Natur, auf das wir hinschauen sollten, wird es für uns von Vorteil sein, an diesen Wörtern in der genannten Bedeutung festzuhalten (E4praef).« Da die Bildung normativer Begriffe also von orientierendem Wert ist, nutzt Spinoza sie in einer qualifizierenden Weise zur Bestimmung dessen, was uns einem »Musterbild der menschlichen Natur« (E4praef) näherkommen lässt und zur Bestimmung dessen, was uns daran hindert, uns diesem anzunähern. Der Eindruck der Unvollkommenheit eines Individuums kommt also eigentlich nur dadurch zustande, dass wir es auf eine Gattung oder auf ein Wesen wie auf eine Norm zurückführen und daran abgleichen. »Wir sind nämlich gewohnt, alle Individuen in der Natur auf eine einzige Gattung zurückzuführen, die die allgemeinste genannt wird, nämlich auf den Begriff von Seiendem, der allen Individuen in der Natur ausnahmslos zukommt. Sofern wir also Individuen auf diese Gattung zurückführen, sie miteinander vergleichen und dabei erfahren, daß einige mehr Sein oder Realität haben als andere, sagen wir, daß einige vollkommener sind als andere« (E4praef). Diese Art der vergleichenden Urteilsbildung zeigt sich nicht nur im Falle der hergestellten Dinge, sondern auch im Umgang mit den Dingen der Natur. »Wir sehen also, daß Menschen gewohnt gewesen sind, natürliche Dinge mehr aus einem Vorurteil heraus vollkommen oder unvollkommen zu nennen als aus deren wahrer Erkenntnis« (E4praef). Auch natürliche Dinge werden vollkommen oder unvollkommen genannt, denn auch von natürlichen Dingen werden allgemeine Ideen gebildet, die dann als Musterbilder angesehen werden. Spinoza zeigt mit dieser Analyse des Zustandekommens von Werturteilen letztlich vor allem, dass es diese notwendige Orientierung an musterhaften Vorgaben ist, die abweichende Dinge als mehr oder weniger unvollkommen klassifiziert. Grundätzlich ist er überzeugt, dass nichts in der Natur geschieht, »was ihr selbst als Fehler angerechnet werden könnte; denn die Natur ist immer dieselbe, und was sie auszeichnet, ihre Wirkungsmacht, ist überall ein und dasselbe« (E3praef). So ist ein jedes Ding in seiner Natur nach den Gesetzen und Regeln der allgemeinen Natur zu begreifen und einer geometrisch geprägten Handhabung zu unterwerfen. 186 Wie wir sehen werden, meint Spinoza, auch die menschlichen Affekte genauso wie andere natürliche Dinge behandeln zu können, und sie, wie andere natürliche Dinge auch, einer geometrisch-mechanistisch geprägten Handhabung unterwerfen zu können (vgl. zu dieser Methode im Umgang mit den Affekten E3praef). 186

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Spinoza leitet aus seiner ontologischen Konzeption also eine strikt antimoralische Haltung den so unterschiedlichen Dingen der Natur gegenüber her. Realität und Vollkommenheit sind für ihn ein und dasselbe, weil die unterschiedlichen Dinge in ihrer jeweiligen Form ihr zur individuellen Vollkommenheit realisiertes Vermögen sind. Ihre Vollkommenheit ist ihre Potentialität, d. h. die Realisierung ihrer Macht im Sinne der potentia, (auf die wir unten noch zurückkommen). Folglich sind ›gut‹ und ›schlecht‹ ein mehr oder weniger entfaltetes Potential der Natur, und die Macht der Dinge ist ihre Macht, sich in der Natur zu entfalten. So wird deutlich, warum das, was in der Natur ist, in der jeweiligen Art, in der es in der Natur ist, vollkommen ist und warum die normative Gleichwertigkeit der Dinge aus der Immanenz der Natur erklärbar ist. Spinoza bietet uns eine immanente Konzeption von Normen, die nicht auf juridischen Modellen der Verwerfung, der Ausschließung, der Restriktion oder der Pathologisierung beruht, sondern eher ein Kräfteverhältnis bestimmt, in dem ein jedes Individuum die Macht der Natur zu seiner eigenen Macht machen kann. Der Gegenstand bzw. das Wirkungsfeld einer immanenten Norm, wie sie von dieser naturgeschichtlichen Begründung her verstanden werden kann, ist nicht vor dieser Norm vorhanden, geht ihr nicht voraus und kann sich dementsprechend auch nicht von ihr befreien. Eine Begründung der Wirkung von Normen im Rahmen immanenter Kausalität setzt die horizontale Koinzidenz und Gegenwärtigkeit der Elemente kausaler Beziehungen voraus, die eine wirkende Norm ausmachen. Subjekt und Objekt der Norm unterstehen dieser Norm nicht in einer transzendenten Konstitutionsbeziehung, sondern in einer immanenten Potentialität, die sich im Moment ihrer Wirkung realisiert. Eine Norm wirkt in diesem Sinne also nicht auf bereits vorhandene Elemente ein, sondern realisiert sich in ihrer Wirkung und führt ihr Objekt erst durch ihre Wirkung einem Ausdruck zu. Es gibt in diesem Sinne keine Wahrheit und keinen Wert von Normen, der unabhängig von ihren Wirkungen zu bestimmen wäre, sondern Normen aktualisieren sich in dieser spinozistischen Perspektive in einem immanenten Kräfteverhältnis und als Potentialitäten. Nimmt man Spinozas Grundsatz der Immanenz ernst, entfaltet sich das Individuum nicht in Absetzung von seiner Umwelt, sondern in einer Kontinuität zu den umgebenden Normen der Natur. So muss auch die Freiheit des Menschen im Ausgang dieser Kontinuität gedacht werden, denn der Mensch steht der Natur nicht gegenüber und sollte diese nicht als Beschränkung seiner Freiheit verstehen. Für die Frage der Freiheit in der Natur kommt es mit Spinoza darauf an, die Natur nicht gegen den Menschen zu wenden und nicht als etwas zu betrachten, von dem es sich abzusetzen gilt, sondern vielmehr das menschliche Individuum als Teil der Natur und die eigene Freiheit als Freiheit mit der Natur zu

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denken. 187 Frei zu sein kann also nicht heißen, sich der Natur entgegenzusetzen oder sich ihr zu unterwerfen, sondern frei zu sein heißt für Spinoza, die Intelligibilität der Natur zu verstehen und sich in ihr zu erkennen. Spinoza wusste, dass die Menschen das Verhältnis von Natur und Freiheit falsch verstehen und für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil. 188 Natur ist also keine Quelle der Normen unserer Existenz, sondern unsere Existenz ist die Natur, und daher müssen wir in dieser Natur und mit dieser Natur verwirklichen und zur Freiheit kommen. Was Spinoza über die jeweilige Vollkommenheit der Dinge in der Natur schreibt, betrifft dann auch die Frage ihrer Gleichheit. Der Begriff der aequalitas wird an keiner Stelle besonders betont, gleichwohl aber bezeichnet er einen wichtigen Punkt, denn letztlich sind die einzelnen Dinge in der Natur gleich, insofern sie Teile der Natur sind. Sie sind in gleicher Weise durch die Natur determiniert, unterstehen den gleichen Gesetzen der Natur und verfolgen je ein ihnen in gleicher Weise immanentes Streben nach Selbsterhaltung. Das Maß der Anerkennung von Gleichheit macht Spinoza vom Maß der rationalen Erkenntnis der Gesetze der Natur abhängig, denn nach E4p36 und E4p37 gilt, dass wir, was wir für uns begehren, auch für andere begehren, und zwar in Abhängigkeit von unserer Erkenntnis Gottes und der Natur. Menschen können einander also in dem Maße nützlich werden, in dem ihre Erkenntnis der Zusammenhänge der immanenten Kausalität zunimmt. Spinozas ontologische Auffassung von Immanenz ist mithin auch für das Verständnis von Normen von Bedeutung und führt zu einer Konzeption von Normen im Sinne konstitutiver Mächte. Ihre Wirkungsweise ist die Wirkungsweise einer Kraft, und sofern diese Wirkung der Norm als eine Machtwirkung verstanden werden kann, sind Normen auch als Affektionen zu verstehen, die auf Individuen einwirken An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Ausführungen zur Naturkonzeption Spinozas von Lloyd verwiesen: Genevieve Lloyd, Part of Nature: Self-knowledge in Spinoza’s Ethics, Ithaca und London 1994. 188 Mit diesen Worten werden bekanntlich im TTP die Unterwerfung der Menschen unter die Religion und unter die mit religiösen Mitteln auf sie einwirkenden Staatsformen bestimmt. »Aber mag es auch das letzte Geheimnis einer monarchischen Regierung sein [. . . ], die Menschen zu hintergehen und die Furcht mit der sie in Zaum zu halten sind, mit dem schönen Namen Religion zu verbrämen, damit sie für ihre Knechtschaft kämpfen als sei es für ihr Heil, [. . . ]« (vgl. TTP Praef). Sicherlich ist es nicht falsch, diese Wendung auch auf das Verhältnis von Natur und Freiheit zu beziehen und dadurch deutlich zu machen, dass die Unterwerfung und die Zurichtung der Natur im Dienste der Freiheit der Menschen diese letztlich wieder zu Knechten der Natur macht, da sie sich die eigene Lebensgrundlage entziehen. Spinozas Konzeption des Menschen als Teil der Natur und der menschlichen Freiheit in der Natur könnte für eine gegenwartsbezogene Debatte um Naturverhältnisse fruchtbar gemacht werden. Vgl. dazu auch: Susan James, Freedom and Nature. A Spinozist Invitation. Draft paper of the 108th Presidential Adress of the Aristotelian Society, http:// www.aristoteliansociety.org.uk. 187

Exkurs: Natur und Norm

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und sie auf je veränderliche Weise konstituieren. Die Affektion ist dabei keine Kraft, die ihren Wirkungen vorhergehen würde und ihre Wirkungen bereits in sich enthielte, und auch keine Kraft, die dem Gesamtzusammenhang der Wirkungen, in dem sie sich ereignet, vorgeordnet wäre. Ihre Wirkung erzeugt sich in der Wirkung der Norm, die wiederum selbst eine modale Ausdrucksform in Wirkungs- und das heißt in Affektionszusammenhängen ist. Normen immanent zu denken, heißt nicht, eine Trennung zwischen einer normierenden und einer normierten Kraft einzuziehen und diese Sphären in einem Verhältnis der Überordnung und der repressiven Wirkung aufeinander zu beziehen. Es heißt vielmehr, ein Verhältnis der gegenseitigen Konstitution anzunehmen, in dem sich zwei Kräfte affizieren und aufeinander wirken. Spinoza würde keinen Bruch und kein Verhältnis der Überwindung eines normierten Dings durch ein normierendes Ding, eines beherrschten Affekts durch einen beherrschenden Affekt annehmen, sondern in seiner Auffassung gehören beide Seiten der Norm einer Natur an, in der sich Individuation durch die Modulierung von Normen vollzieht. Das durch Normen affizierbare Individuum ist, um es noch einmal mit der bekannten Wendung aus dem Vorwort des dritten Teils der Ethica zu formulieren, kein Staat im Staat, sondern ein modale Form im Gesamtzusammenhang der Natur, und es individuiert sich unter dem Einfluss normierender Affektionen. Normen zu verstehen, könnte im Ausgang von Spinoza bedeuten, sich in der Dynamik normierender Kräfte zu bewegen und zu einer immanenten Kritik von Normen zu gelangen. 189 Normen immanent zu denken, bedeutet also nicht, sie aus der Natur abzuleiten und ihre Geltung durch den Rückgang auf Natur zu begründen, sondern sie als immanente Konstitutionsverhältnisse in der Natur zu denken und in ihrer immanenten Kausalität zu verstehen. Macherey beschreibt den immanenten Charakter der Norm wie folgt: »Wider die geläufige Vorstellung, nach der die Macht der Normen künstlich und willkürlich ist, legt dieses Prinzip den notwendigen und natürlichen Charakter dieser Macht offen, die sich in ihrem Handeln selbst ausbildet, die sich produziert, indem sie ihre Wirkungen produziert, tendenziell rückhaltlos und grenzenlos, das heißt ohne die Voraussetzung der bestreitenden Intervention einer Transzendenz oder einer Teilung. [. . . ] Eine positive Norm auch in dem Maße, wie ihre Intervention sich nicht auf die elementare Geste zurückführen läßt, Legitimationsbereiche abzutrennen, sondern im Gegenteil in einer fortschreitenden Inkorporation und einer fortwährenden Proliferation ihrer Bekundungen besteht, deren allgemeinste Form die der Integration ist.« Pierre Macherey: »Für eine Naturgeschichte der Normen«, in: François Ewald / Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M. 1991, S. 191. Macherey gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass eine derartige Naturalisierung des Denkens der Norm sich auch zu dem starken Begriff von Substanz verhalten muss, den Spinoza voraussetzt, da sie sonst Gefahr läuft, Norm als determinierende Ordnung in einer metaphysischen Perspektive wieder einzuführen. Wie bereits deutlich geworden ist, zeichnet sich das Denken Spinozas aber gerade dadurch aus, die Stelle eines derart fundierenden Begriffs von Substanz, aus dem sich die Gesetze der Norm ableiten ließen, offen zu lassen und Substanz nicht wesensphilosophisch, sondern nominalistisch zu verstehen, um mit ihr als einem holistischen Modell zu arbeiten. 189

III Immanente Erkenntnistheorie

III.1 Erkenntnistheorie des Menschen

Nachdem die ontologischen Grundlagen von Spinozas Ethica nun von der Selbstursächlichkeit der Substanz her dargelegt und ihre Strukturelemente auf die Frage immanenter Individuation zugespitzt wurden, soll es im Folgenden um die Erkenntnis der mens humana und damit erstmals dezidiert um den Menschen gehen. Aus all dem, was Spinoza im ersten Teil der Ethica über die unendliche und unbedingte Substanz wie über ihre Attribute und ihre Modi aussagt, folgt nicht notwendig die Existenz eines menschlichen Individuums. Mit dem Ende des ersten Teils kann lediglich festgestellt werden, dass das menschliche Individuum aus der unendlichen Substanz folgt (sequi), wie alle anderen Modi auch aus ihr folgen, und dass es Teil der immanenten Kausalität ist, wie die anderen Modi auch Teile des immanenten Kausalzusammenhangs der Natur sind. 190 Die Substanz ist also eine hervorbringende Macht und sie geht in den Modi auf, d. h., sie erschöpft sich in dem, was sie hervorbringt, und bleibt ihren Ausdrucksformen nicht vorgeordnet. 191 Sie lässt sich also 190 Dazu soll hier noch einmal auf E1p16 verwiesen werden, wo Spinoza anführt, dass aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen (sequi) muss. Dieses sequi ist der entscheidende Begriff für eine Individuationstheorie des Menschen, denn es wirft ganz unmittelbar die Frage auf, was da aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgt und wie dieser Vorgang zu verstehen ist. Deleuze bestimmt das Verhältnis der Modi zur Substanz als eine Form des Ausdrucks der Substanz, als einen Ausdruck, der aus der Substanz folgt. Für Bartuschat zeigt sich hier der Zusammenhang von Metaphysik und Ethik und er kennzeichnet die Ethica als »ein Verfahren, das zeigt, wie unter Bedingungen der spezifischen Verfassung des Menschen der Mensch überhaupt ein Seiendes sein kann, das aus sich heraus tätig ist und nicht nur von ihm Äußeren abhängig bleibt. In diesem Verfahren wird am Menschen selbst aufgezeigt, inwiefern er ein Modus der unendlichen Substanz ist.« Wolfgang Bartuschat, »Metaphysik und Ethik in Spinozas ›Ethica‹«, in: Studia Spinozana 7/1991, S. 15–37, hier S. 9. Vgl. auch die Darstellung der anderen Interpretationen des sequi bei Robert Schnepf, »Die eine Substanz und die endlichen Dinge (1p16-28)«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 37–57, besonders: S. 42 ff. 191 László Tengelyi verweist ganz richtig darauf, dass das ›folgen‹ (sequi) nicht auf eine »ursächliche Erzeugung« der Modi aus der Substanz verweist, sondern auf eine »logische Schlussbeziehung«. Die Erzeugung der Modi aus der Macht Gottes werde hier nicht genetisch verstanden, sondern vielmehr in Form einer deduktiven Ableitung. Es sei richtig, dass Spinoza der Macht Gottes und dem Streben nach Selbsterhaltung eine wichtige Rolle zuweise, aber er lasse »sich eher durch eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Handeln als durch eine Vorstellung von der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache überhaupt dazu hinleiten, diese dyanamischen Begriffe

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ohne jede transzendierende Überschreitung ihrer Ausdrucksformen verstehen und bleibt damit in reiner Immanenz. Ihr Gesetz ist die immanente Kausalität und durch ebendiese Kausalität ist dem Menschen die Erkenntnis seiner selbst im Gesamtzusammenhang der Natur möglich (vgl. dazu E1p15 bis E1p18). Allein aus der Unbedingtheit und der Unendlichkeit Gottes selbst ergibt sich nun allerdings noch nichts, was auf die endlichen Modi, die aus der Substanz hervorgehen, hinweisen würde. Es ist vielmehr so, dass in den Begriff Gottes eine Perspektive eingelassen ist, die die Erkenntnisperspektive des endlichen, menschlichen Individuums ist. Denn wenn die Substanz sich in den einzelnen Modi ausdrückt und es einzelne Dinge in der Welt gibt, dann ist die Substanz den einzelnen Dingen immanent, und jedes einzelne Ding ist als ein Ausdruck der Macht (potentia) Gottes anzusehen, der Macht also, die sich in jedem einzelnen Ding realisiert. Erst zu Beginn des zweiten Teils De Natura et Origine Mentis kündigt Spinoza an, nun das zu erörtern, was aus der Essenz Gottes notwendigerweise folgt. Dabei kann es nicht um alles gehen, denn aus ihr folgt eben »unendlich vieles auf unendlich viele Weisen« (E2praef). 192 Es kann also nur um das gehen, »was uns zu der Erkenntnis des menschlichen Geistes und seiner höchsten Glückseligkeit, gleichsam an der Hand, leiten kann« (E2praef). Da das menschliche Individuum eben nur ein Modus unter unendlich vielen anderen ist, die aus der Substanz folgen können, muss Spinoza achtgeben, nicht gerade das aus dem Blick zu verlieren, was die Ethica als Ethik auszeichnet. Er muss die Existenz des Menschen also unter den Bedingungen seiner Endlichkeit und als Teil des unendlichen Ganzen verstehen, und zwar vor allem vor dem Hintergrund, dass das einzelne menschliche Individuum die Bedingungen seiner Existenz für sich bewältigen und seine Macht zur Selbsterhaltung nutzen kann. 193 Selbsterhaltung wird also als Notwendigkeit und als Möglichkeit begriffen. Und als Ethik muss die Ethica erklären, was das menschliche Individuum im Ganzu bilden«. Tengelyi trifft mit dieser Gegenüberstellung den entscheidenden paradoxen Punkt der Determinismusproblematik, denn er betont die Dynamik individuellen Handelns in einer durch Gründe und Ursachen bestimmten Welt. László Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg / München 2014, 123. 192 Zur Struktur und zur Systematik des zweiten Teils der Ethica vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 28–32. 193 Vgl. dazu Bartuschat, der betont, »daß der Mensch einen Weg geht, den er geht unter Bedingungen seiner Endlichkeit, die es machen, daß er ihn auch verfehlen kann. Diese Bedingungen müßten enthalten, daß der Mensch den Weg gegen ein Verfehlen gehen kann.« Denn so liegt es am Menschen selbst, seine Freiheit zum Ausdruck dessen zu machen, was er aus seinem Leben gemacht und zustande gebracht hat. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 9.

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zen der Substanz und unter unendlich vielen anderen Individuen überhaupt auszeichnet und wie es von seiner Macht Gebrauch machen kann, sich im Rahmen seiner Endlichkeit im Sein zu erhalten. Nun geht das menschliche Individuum zwar in dieser Weise aus der Substanz hervor und kann ohne sie nicht begriffen werden, doch gleichwohl kann es nicht darauf reduziert werden, einfach nur ein notwendiger Modus der Substanz zu sein, denn ihm ist etwas eigen, das die Notwendigkeit der Substanz überschreitet. Würde die Ethica nicht fluchtpunktartig auf die Möglichkeit der Individuation des menschlichen Individuums durch die Erkenntnis seiner Macht und seiner Freiheit hinauslaufen, dann hätte Spinoza sein Werk mit dem Abschluss der Ontologie des ersten Teils beenden und sich anderen Fragen zuwenden können. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Mensch nicht irgendein beliebiger Modus der Substanz ist, sondern dass das Interesse am menschlichen Individuum als eines denkenden und handelnden Modus der Substanz die Ontologie wie die Metaphysik überhaupt motiviert. 194 Mit dem zweiten Teil der Ethica geht es nun also um die Erkenntnis des Menschen, also um eine möglichst adäquate Erkenntnis, die dem menschlichen Individuum das Verständnis der Natur und der Dinge in der Natur und damit auch das Verständnis seiner eigenen Existenz erlaubt. Im Ganzen der Ethica nimmt die Erkenntnistheorie letztlich den höchsten Stellenwert ein, denn erst durch die Erkenntnis wird das Individuum für Spinoza überhaupt in die Lage versetzt, nach der »Leitung der Vernunft« (E4p14) zu handeln und sich selbst zu erhalten. Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen wird einerseits vorausgesetzt und mit dem ganzen Unternehmen einer Ethik ja ohnehin von vornherein in Anspruch genommen. Sie ist aber andererseits erst aus der notwendigen Stellung des endlichen Modus Mensch in der unbedingten und unendlichen Substanz zu erweisen, und daher müssen die Bedingungen geklärt 194 In diese Richtung argumentiert wiederum Bartuschat, für den das Verhältnis von Metaphysik und Ethik nicht einfach darin besteht, dass die Ethik auf der Metaphysik aufbaut. Bartuschat verdeutlicht vielmehr, dass die Frage nach dem Menschen als Problem der Ethik die Metaphysik gerade erforderlich macht und dass die Konzeption der Metaphysik durch diese Perspektivierung von der Ethik her bestimmt wird. Man könnte auch konstatieren, dass es logisch nicht anders möglich ist, denn wie sollte eine durch den Menschen entwickelte Metaphysik eine andere Perspektive entwickeln als die des Menschen? Vgl. dazu Wolfgang Bartuschat, »Metaphysik und Ethik in Spinozas ›Ethica‹«, in: Studia Spinozana 7/1991, S. 15–37. Dieses Problem des point of view des Menschen durchzieht das gesamte Denken Spinozas und bildet an vielen Einzelstellen den Hintergrund der Argumentation, wie z. B. im Falle der Attribute, deren Unendlichkeit zwar immer wieder behauptet wird, von denen der Mensch aber nur zwei erkennen kann und die daher auch nur in dieser durch den Menschen erkennbaren Perspektive thematisch werden, oder im Falle der Modi, deren Individuation insgesamt von der Individuation endlicher Einzeldinge her bestimmt wird. Vgl. zu dieser Probematik auch: Michael Della Rocca, Points of View and the Two-Fold Use of the Principle of Sufficient Reason, Voorschoten 2014 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 94).

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werden, die dem menschlichen Individuum adäquate Erkenntnis ermöglichen. Als Ontologie zeigt uns die Ethica den Aufbau und die Struktur des gesamten Seinszusammenhangs und als Ethik zeigt sie uns die Stellung des menschlichen Individuums in diesem Ganzen. Und zwar ausgehend von der Frage, wie das einzelne menschliche Individuum in seiner Macht mit dem Ganzen verbunden ist und welche Freiheitsspielräume sich ihm in den Bedingungen seiner Existenz als Modus der Substanz eröffnen. Will sich der Mensch also im umfassenden Zusammenhang des Ganzen verstehen, muss er seine Stellung im Ganzen erkennen und sich durch sich selbst erkennend zum Ganzen ins Verhältnis setzen. Diese erkenntnismäßige Selbstbestimmung des menschlichen Individuums unter den durch die Ontologie vorausgesetzten Bedingungen ist nun Gegenstand des zweiten Teils der Ethica. Erst hier kommt Spinoza dezidiert auf den Menschen zu sprechen und nimmt eine Umstellung auf die Perspektive des menschlichen Individuums vor. Dabei macht er deutlich, dass die Essenz (essentia) des Menschen im Unterschied zur Substanz (substantia), die ihre eigene Ursache ist, nicht notwendig ihre Existenz einschließt, dass ein Mensch also existieren und nicht existieren kann (vgl. E2a1). Den Axiomen seiner genaueren Bestimmung wird einiges vorangestellt: Dabei geht es zuerst um eine allgemeine Definition des Körpers (corpus) als Modus der Essenz Gottes (vgl. E2d1) und um die Definition der Essenz (essentia) von Dingen. Erst mit der Gegebenheit ihrer Essenz werden die Dinge notwendig gesetzt und notwendig aufgehoben, und ohne diese essenzielle Gegebenheit kann ein Ding weder sein noch begriffen werden (vgl. E2d2). Weiter geht es um die Ideen (idea) als Begriffe des aktiven Geistes (mens), die gebildet werden, weil der Geist ein denkendes Ding (res est cogitans) ist (E2d3). Der endliche Körper und die unendlichen Ideen stehen im Mittelpunkt dieser vorausgeschickten Definitionen des zweiten Teils. Mit ihnen wird die Engführung der bisher ganz allgemeinen Bestimmung von Essenz und Existenz vorbereitet und letztlich auf das menschliche Individuum appliziert. Während der Körper als ein Modus die Essenz Gottes als ein ausgedehntes Ding ausdrückt, bildet der Geist Ideen, weil er ein denkendes Ding ist. Dementsprechend sind die weiteren Definitionen zu Beginn des zweiten Teils bereits in dieser Weise ausgerichtet und zeigen die Möglichkeit der Erkenntnis in adäquaten Ideen (idea adaequata) an, deren Wahrheit sich annehmen lässt (E2d4). Sie erklären die Dauer (duratio) als ein Prinzip unbestimmter Erhaltung der Existenz, die nicht von der eigenen Natur und nicht von der bewirkenden Ursache eines existierenden Dings ihren Ausgang nimmt (E2d5), führen die Übereinstimmung von Realität (realitas) und Vollkommenheit (perfectio) vor (E2d6) und bieten vor allem die Definition von einzelnen oder mehreren Individuen als Einzeldingen (res singulares) (E2d7). Mit diesen Definitionen, die dem zweiten

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Teil der Ethica vorangestellt sind, werden zahlreiche Aspekte angesprochen, auf die wir im weiteren Verlauf der Zuspitzung auf den Prozess immanenter Individuation wieder zurückkommen werden. Die kurze Darstellung der Definition des Körpers, der Essenz eines Dings, der Ideen des Geistes, der Möglichkeit adäquater Ideen des Geistes, der Dauer als eines unbestimmten Prinzips der Erhaltung, der Realität als Vollkommenheit und überhaupt der Bestimmung dessen, was ein Einzelding ist, dienen Spinoza zur Vorbereitung seiner Theorie des Menschen. Von diesem selbst ist nun erstmals in den Axiomen des zweiten Teils die Rede und erst hier erfährt die ontologische Aufteilung der Substanz ihre reale inhaltliche Ausarbeitung als essenzielle Aufteilung der Attribute von Ausdehnung und Denken. Den Rückbezug auf die ontologischen Grundlagen der Substanz und ihrer Attribute stellt Spinoza immer wieder her. Auch um damit zu zeigen, dass die Sphäre des Denkens und die Sphäre der Ausdehnung in der gemeinsamen Grundlage der Substanz angelegt sind. Nachdem also verschiedene Definitionen und Axiome vorausgeschickt wurden, drehen sich die ersten beiden Lehrsätze des zweiten Teils um die Aufteilung der Attribute. Spinoza konstatiert in E2p1: »Denken ist ein Attribut Gottes [. . . ]« und in E2p2: »Ausdehnung ist ein Attribut Gottes [. . . ]«. Hier geht es aber nicht allein um diese Attribute Gottes oder der Substanz als Prinzipien eines Seins an sich, sondern vielmehr gerade darum, zu zeigen, dass diese Bestimmungen auf den Menschen zurückzuführen sind. Also auf die Tatsache, dass der Mensch denkt und sich im Denken findet, wie er körperlich ist und sich in der Ausdehnung findet, in der er »auf vielfache Weise affiziert wird« (E2a4). Durch die Definitionen, die Axiome und die ersten Lehrsätze des zweiten Teils wird deutlich, dass menschliche Individuen ihr Denken und ihren Körper nur durch die Attribute Gottes erkennen können. Eingelassen in den Gesamtzusammenhang der Substanz sind Körper und Geist also Formen der Ausdehnung und des Denkens, und Gott ist, sofern er Substanz ist, die Aktivität des Denkens und die Aktivität der Ausdehnung selbst. Diese systematische Rückbindung einzelner Modi in den Zusammenhang des Ganzen ist für die Bestimmung der Individualität und der Transindividualität menschlicher Individuen notwendig, denn einen einzelnen Geist kann es ebenso wenig geben wie einen einzelnen Körper. Die Individuation einzelner Modi erfolgt erst in den Attributen von Ausdehnung und Denken und damit im Ganzen der Substanz und im gleichursprünglichen Zusammenhang der Attribute. 195 Dabei stellt sich Beth Lord diskutiert diese Verknüpfung der Attribute Gottes mit dem Körper und dem Geist des einzelnen Individuums und führt das Denken in dieser Weise auf die Ausdehnung zurück und umgekehrt. »If there were a creature, that only thought and had no physical being, not only would 195

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auch die Frage, ob der Geist des menschlichen Individuums in anderer Weise in den Zusammenhang des Attributs Denken eingebunden ist, als der Körper in den Gesamtzusammenhang der Ausdehnung eingebunden ist. Braucht das Denken also den Körper, um sich selbst als Denken zu erfahren, und benötigt der Körper in gleicher Weise das Denken, um sich als Körper zu erfahren? 196 Das Verhältnis der Attribute ist nach meiner Ansicht aus zwei Gründen nicht als eine Identität zu bestimmen. Zum einen bindet Spinoza die Ideen und das Denken, wie wir sehen werden, an die Affektionen des Körpers in Ruhe und Bewegung und setzt den Geist damit ständigen Affektionen aus, die nicht aus ihm selbst kommen und die für den Geist anders sind als für den Körper. Und zum zweiten können wir das Verhältnis von Geist und Körper nicht als ein Identitätsverhältnis bestimmen, weil die Mehrdimensionalität und die Unbestimmtheit von Erkenntnis und Erfahrung erst aus ihrer gegenseitigen Überschreitung herzuleiten sind. Das Verhältnis des Körpers und des Geistes muss von dieser doppelten Überschüssigkeit und Überschreitung her gedacht werden, denn erst in dieser Überschreitung öffnet sich ein Raum des Denkens. Festhalten lässt sich auf jeden Fall, dass wir es hier eben nicht mit einem Dualismus zu tun haben, sondern lediglich mit einer Trennung der verschiedenen Aspekte des Denkens und der Ausdehnung in der Substanz, also mit den Attributen, wie Spinoza sie in der Ontologie einführt (Vgl. dazu die Kapitel I.4 und I.5 des ersten Teils). Der immanente Monismus der Substanz wird durch diese Aspektdualität der Attribute nicht gestört, vielmehr wird die Dynamik in den Verhältnissen des Denkens und der Ausdehnung durch sie erst ermöglicht. Geist und Körper werden nicht getrennt, sondern bestehen in einer füreinander unentbehrlichen Korrelation, die eben keine einfache Repräsentation des einen im anderen ist. that creature be unable to feel sensation, it would also be unable to understand sensation. Sensation is therefore caused and conceived through something other than pure thought: the attribute of extension.« Beth Lord, Spinoza’s Ethics, Edinburgh 2010, S. 52. 196 Das Verhältnis der Attribute ist nach meiner Ansicht aus zwei Gründen nicht als eine Identität zu bestimmen. Zum einen bindet Spinoza die Ideen und das Denken, wie wir sehen werden, an die Affektionen des Körpers in Ruhe und Bewegung und setzt den Geist damit ständigen Affektionen aus, die nicht aus ihm selbst kommen und die für den Geist anders sind als für den Körper. Und zum zweiten können wir das Verhältnis von Geist und Körper nicht als ein Identitätsverhältnis bestimmen, weil die Mehrdimensionalität und die Unbestimmtheit von Erkenntnis und Erfahrung erst aus ihrer gegenseitigen Überschreitung herzuleiten sind. Das Verhältnis des Körpers und des Geistes muss von einer doppelten Überschüssigkeit und Überschreitung her gedacht werden, denn erst hier öffnet sich ein Raum des Denkens. Della Rocca diskutiert das Verhältnis von Körper und Geist als eine numerische Identität und verteidigt diese Lesart aufgrund der Annahme einer Übereinstimmung der Identität der Substanz und der Identität der Modi. Vgl. Michael Della Rocca, »Spinoza’s Argument for the Identity Theory«, in: The Philosophical Review 102/2 (1993), S. 183–213.

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Sie sind »ein und dasselbe Ding [. . . ], das bald unter dem Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird« (E3p2s sowie E2p21s). Und so kommt es, »dass die Ordnung der Aktivitäten und des Erleidens unseres Körpers mit der Ordnung der Aktivitäten und des Erleidens unseres Geistes von Natur aus zugleich ist« (E3p2s). Aus dieser Gleichsetzung der unterschiedlichen Aspekte der Substanz in den Attributen ergibt sich nun vor allem, dass es keine transzendente Überordnung des Geistes im Denken über das Körperliche in der Ausdehnung gibt, wie Descartes meinte. Wie Spinoza in E3p2 betont, ist es ein Fehler der Menschen, fest daran zu glauben, dass der Körper seine Verrichtungen nur nach den Anweisungen des Geistes vollzieht und dabei nur vom Willen des Geistes abhängt. Für ihn stellt sich das Problem der Vermittlung von Geist und Körper ganz anders dar als für Descartes, der im Zuge seines hyperbolischen Zweifels die hierarchische Ordnung zwischen Denken und Ausdehnung erst erzeugt hat. Für Spinoza ergeben sich die rationale Erklärbarkeit der Welt und die Möglichkeit eines positiven Wissens aus ihrer immanenten Gliederung selbst. Dass der Mensch denkt, »Homo cogitat«, wird im zweiten Axiom des zweiten Teils ebenso als axiomatische Tatsache vorausgesetzt, wie auch die Tatsache, dass die einzelnen Modi des Denkens die Idee des Gegenstands voraussetzen, auf den sie sich richten. Die unterschiedlichen Formen des Denkens werden an die Ideen gebunden, die im Individuum durch den Gegenstand des Denkens erzeugt werden, auf den sich das Denken richtet. Diese Begründung des Denkens aus den Ideen, die dem Individuum von außen zukommen, zeigt bereits die Veräußerlichung des denkenden Individuums und seine konstitutive Bezogenheit auf die von außen kommenden Affektionen. Erst unter der Bedingung einer solchen Äußerlichkeit wird das Individuum zu dem, was es ist, und erhält sich gemäß seiner Macht zur Selbsterhaltung. In diese Äußerlichkeit wie in einen übergeordneten Zusammenhang geht es durch seine Endlichkeit auch wieder über, da und wenn es sich in seiner Individualität nicht erhalten kann. Die immanente Veräußerlichung ist für Spinoza eine allgemeine Voraussetzung der Existenz des menschlichen Individuums. Er stellt sie in den ersten Sätzen zum Menschen ausgehend von den Affektionen dar, durch die sich im Individuum Ideen von Dingen bilden. Denn die »Modi des Denkens, wie Liebe, Begierde oder was sonst noch mit dem Ausdruck Affekte des Gemüts bezeichnet wird [nomine affectus animi insigniuntur]« (E2a3) kommen dem menschlichen Individuum von außen zu, sie widerfahren ihm als ereignishafte Affektionen seines Körpers und seines Geistes. Dementsprechend streicht Spinoza bereits in der Erkenntnistheorie heraus, dass wir einen Körper empfinden, »der auf vielfache Weise affiziert wird« (E2a4). So ist das Denken des Menschen immer das Denken eines Individuums, das aus Geist und Körper besteht und an die

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Existenz eines individuellen und affizierbaren Körpers gebunden ist, der die Bedingung der Möglichkeit seines Denkens ist. Zwar sollten wir es vermeiden, das Konstitutionsverhältnis zwischen Denken und Ausdehnung hier einfach umzukehren und dem Körper eine übergeordnete Stellung beizumessen, doch es zeigt sich ganz klar, dass der Körper zumindest der privilegierte Ausgangspunkt einer Theorie immanenter Individuation ist, die das Individuum in einem Feld von Kräften sieht, durch die es affiziert wird und aus denen sich Machtbeziehungen bilden, durch die es konstituiert wird.

III.2 Perspektivismus der Erkenntnis

Im Anhang zum ersten Teil der Ethica schließt Spinoza seine Darstellung der Verfasstheit Gottes und der Natur ab und setzt sich mit den Vorurteilen auseinander, die die Menschen daran hindern, die immanente Kausalität der Natur zu erkennen. Diese Vorurteile sind Werturteile, die aus der Affizierbarkeit der menschlichen Individuen hervorgehen bzw. im Zusammenhang ihrer Affektfähigkeit stehen und sich an dem Irrglauben orientieren, Gott habe die Welt in zweckmäßiger Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Menschen gestaltet. Wir haben es also mit einem Zweckperspektivismus zu tun, wenn Spinoza erklärt, dass das große Vorurteil der Menschen darin bestehe, anzunehmen, »alle natürlichen Dinge handelten, wie sie selbst, um eines Zweckes willen, und sogar für ausgemacht halten, Gott selbst leite alles auf irgendeinen Zweck hin« (E1app). Diese grundsätzlich falsche Annahme einer Zweckgebundenheit der eigenen Handlungen und der Handlungen Gottes führt Spinoza zufolge zu ganz verschiedenen normativen und moralischen Vorurteilen. Das Problem bestehe nämlich darin, so schreibt er, dass die Menschen »in Unkenntnis der Ursachen von Dingen zur Welt kommen (E1app)«; sie halten sich für frei, nur weil sie sich ihres Wollens bewusst sind, denken aber nicht an die Ursachen, aus denen resultiert, dass sie dieses oder jenes wollen. Sie orientieren sich lediglich an den Zwecken, die ihnen Vorteile verschaffen, und sehen überdies auch Gott alles auf einen Zweck hinleiten. Sie sehen nur die Zwecke dessen, was durch ihr Handeln zustande kommt, und leiten diese, sofern sie nicht aus etwas anderem herzuleiten sind, aus sich selbst her, was dazu führt, dass sie »zwangsläufig nach ihrer eigenen Sinnesart die Sinnesart des anderen« beurteilen. 197 Diese einseitige Ausrichtung auf die Zwecke des Handelns führt zu einer Ignoranz E1app. Bartuschat übersetzt diesen Vorgang der Beurteilung anderer nach den eigenen Maßstäben hier mit dem Begriff der »Sinnesart« – nach eigener Sinnesart die Sinnesart des anderen beurteilen – was unnötige Konnotationen weckt. Das Lateinische »reflectant et sic ex suo ingenio ingenium alterius necessario judicant« wird im Englischen viel einfacher mit »and so they necessarily 197

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gegenüber den Ursachen; und mehr noch, sie führt auch dazu, dass die Menschen »alle natürlichen Dinge als Mittel zum eigenen Nutzen ansehen (E1app)« und glauben, sie seien nur für sie bereitgestellt. Die Ausrichtung der Menschen auf einen lenkenden Gott und ihr Glaube an die vollständige Ausrichtung dieses Gottes auf sie selbst bewirken, dass die Menschen die Handlungen Gottes nicht verstehen, aber gleichwohl daran festhalten, dass Gott nur für sie existiert. Bevor sie die Ursachen von Ereignissen suchen und ihre fragwürdigen Annahmen überprüfen, glauben sie eher daran und halten es für ausgemacht, »dass die Entscheidungen der Götter menschliche Fassungskraft weit übersteigen« (E1app). Die Orientierung der Menschen an äußeren Zwecken verhindert also ihre Einsicht in die immanente Kausalität der Natur, denn Gott und die Natur sind nicht um eines weiteren Zweckes willen da, sondern ihr Zweck ist ihre Existenz selbst: »[J]enes ewige und unendliche Seiende, das wir Gott oder Natur nennen, handelt aus derselben Notwendigkeit heraus, aus der es existiert. [. . . ] Also ist der Grund oder die Ursache, warum Gott, d. h. die Natur, handelt und warum er existiert, ein und dieselbe« (E4praef). Weder ist also Gottes Existenz noch ist sein Handeln irgendeinem äußeren Zweck unterworfen, sondern alle Dinge in der Natur ereignen sich »nach einer ewigen Notwendigkeit und in höchster Vollkommenheit« (E1app). Für Spinoza ist es vorrangig die sich nur um »die Essenzen und Eigenschaften von Figuren (E1app)« und nicht um menschliche Zwecke drehende Mathematik, die den »Menschen eine andere Norm der Wahrheit« (E1app) zeigen kann. Neben ihr gäbe es zwar noch andere Ursachen, die (zumindest manchen) Menschen helfen, über ihre Vorurteile hinweg und zu wahrer Erkenntnis zu kommen, aber auch diese dürften, wie Spinoza selbst, an den Idealen der Mathematik orientiert sein. Festgehalten werden kann also, dass die Natur keinem ihr übergeordneten Zweck folgt und dass die Annahme von Zwecken in der Natur eine reine Einbildung der Menschen ist. Und mehr noch: Der Glaube an die Zwecke dreht das Verhältnis von Ursache und Wirkung um, denn er führt dazu, dass die Ursache von etwas für eine Wirkung gehalten wird und umgekehrt. Die vollkommensten Wirkungen sind für Spinoza die unmittelbar von der Natur hervorgebrachten Wirkungen, und je mehr vermittelnder Ursachen etwas zu seiner Hervorbringung bedarf, desto unvollkommener ist es. Dementsprechend diskutiert Spinoza verschiedene Beispiele, in denen nach angeblichen Zweckursachen gesucht wird, bis schlussendlich »Zuflucht zu dem Willen Gottes genommen« (E1app) wird, d. h. zu dem »Zufluchtsort der Unwissenheit« (E1app), der dann von den Menschen angeführt wird, wenn es keine weiteren zweckmäßigen Begründungen mehr gibt. judge other minds by their own« übersetzt. Vgl. Spinoza, Complete Works, herausgegeben von Michael L. Morgan, Indianapolis 2002, S. 239.

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Perspektivismus der Attribute

Spinoza integriert mit dem Monismus der Substanz eine Einheit des Ganzen, aber er führt in Gestalt der beiden erkennbaren Attribute zugleich einen Dualismus zweier Gesichtspunkte ein, unter denen dieses Ganze erkennbar und wahrnehmbar wird. Aus diesem ontologisch festgestellten grundlegenden Aspektdualismus ergibt sich ein folgenreicher Perspektivwechsel, den wir hier als einen Perspektivismus der Attribute bestimmen. Die verschiedenen Attribute sind je verschiedene Auffassungsweisen der Substanz, und so existiert das menschliche Individuum in einer parallelistischen Grundeinstellung seiner Wahrnehmung und seiner Erkenntnis. Es ist nun aber nicht erhellend, das Denken einfach aus der Parallelität der Attribute herzuleiten, und daher soll im Folgenden deutlich gemacht werden, dass die Affektionen und die Affekte eine wesentliche Rolle für die Ideenbildung und das Denken spielen und beides sich erst aus den Affektionen des Körpers ergibt. Das heißt daraus, dass Körper und Geist in die Attribute der Ausdehnung und des Denkens eingelassen sind und die Existenz stets durch beide Dimensionen der Substanz zugleich geprägt ist. So ergibt sich ein reversibler Wechsel zweier Perspektiven, deren dichter und untrennbarer Zusammenhang mit dem Begriff des Parallelismus nur höchst unzureichend erfasst ist. 198 Die Parallelität (und das muss heißen: die Gleichursprünglichkeit) der Perspektiven ist die Grundlage für Spinozas Verständnis von Normen, denn erst in ihr wird die Abhängigkeit des Geistes vom Körper wie des Körpers vom Geist deutlich. Und so ist das perspektivisch geprägte Erkenntnisgeschehen auch nicht ohne Folgen für die Frage des Zustandekommens von Normen, sofern diese hier vorerst einfach als Formen der Perspektivierung verstanden werden. Die Natur ist in Spinozas Substanzmonismus immer und überall ein und dieselbe; erst aus dem Wechsel der Perspektiven, die mit den Attributen verbunden sind, ergeben sich unterschiedliche Geltungszusammenhänge und damit auch unterschiedliche Normen. Von hier aus wird deutlich, dass Spinoza mit seiner Erkenntnistheorie auch eine Moralkritik verbindet, die als Kritik einer dem Körper entgegengesetzten und diesen beherrschenden Vernunft auftritt. Die Natur und damit auch den Körper in der Natur als intelligibel zu erkennen, heißt demgemäß auch, ihn aus Die Grundlage der Parallelismusthese ist vor allem E2p7 zu entnehmen, aber auch von E2p11 bis E2p13 wird der psycho-physische Parallelismus durchgespielt. Vgl. auch die Ausführungen zum Körper im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung. Klärende Bemerkungen zu E2p13 und der Setzung, dass der Körper das Objekt der Idee ist, die den menschlichen Geist ausmacht bietet auch: Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 97 ff., hier: S. 147, und die Ausführungen zum Körper selbst im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung. 198

Perspektivismus der Erkenntnis

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der beherrschenden Bestimmung durch eine Vernunft zu lösen, die immer schon zweckorientiert und damit normativ ist. Ein erkenntniskritisches Ziel der Verdeutlichung dieses Perspektivismus ist es also, das Zustandekommen von Normen aus den Affektionen von Körper und Geist zu erklären, denn nach Spinozas Analyse erfinden die Menschen eine normative Ordnung der Dinge, ohne wirklich Einsicht in die immanente Kausalität der Natur zu haben. Die Schemata der Ordnung von ›gut‹ und ›schlecht‹ beruhen für ihn auf einer affektiv bedingten Vorstellungskraft und so führt die Unwissenheit über die wahren Verhältnisse der Natur zum Glauben an eine bestimmte Ordnung der Dinge, die sich in ihrer Geltung normativ fortschreibt. Auch wird die Vorstellungskraft Spinoza zufolge von Begriffen affiziert, und so sind die Begriffe, anhand derer wir die Dinge ordnen, für ihn bloß verschiedene Weisen des Vorstellens. Die Qualifizierungen von gut und schlecht zeigen keine Qualität der Dinge selbst an, sondern sind Perspektiven einer den Attributen des Seins unterstehenden Erkenntnis. Gut und schlecht sind demnach »nichts anderes als Modi des Denkens« (E4praef). In dieser Kritik der erkenntnismäßigen Urteilskraft spielt die Affizierbarkeit des Körpers folglich eine zentrale Rolle. Spinoza zeigt, dass die Menschen die Affektionen ihrer durch den Parallelismus der Attribute geprägten Vorstellungskraft und damit die Affektionen, die zu ihrer Begriffsbildung führen, für die Dinge der Natur selbst halten. Was für den einen schlecht ist, ist für den anderen gut, und daher sind die Begriffe, die die Menschen bilden, Vorstellungsweisen, die den Affektionen unterliegen. Zugespitzt bedeutet das: Sie sagen nichts über die Natur der Dinge aus, sondern zeigen lediglich die affektive Beschaffenheit des menschlichen Urteilsvermögens an. Spinoza unterscheidet daher zwischen Begriffen, die ein Seiendes der Vernunft (ratio) anzeigen, und solchen, die ein Seiendes der Vorstellungskraft (imaginatio) anzeigen. Die Begriffe der imaginären Vorstellungskraft lassen sich zurückweisen, weil sie sich nicht an der Vernunft der Natur orientieren, sondern an den durch den parallelistischen Perspektivismus geprägten Affekten der Menschen. Was für gut und was für schlecht gehalten wird, ist eine Frage der Affektionen, die den Körper und damit auch den Geist perspektivisch prägen und bestimmen. Für die Bildung von Urteilen über Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind allerdings noch weitere spezifische Merkmale der menschlichen Erkenntnis verantwortlich, die, wie wir sehen werden, mit der Bildung von allgemeinen Ideen zusammenhängen.

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Immanente Erkenntnistheorie

III.3 Endlichkeit als Bedingung der Erkenntnis

Die Herausforderung der cartesianischen Trennung der Attribute der Ausdehnung und des Denkens besteht für Spinoza nicht allein darin, ihre Teilung zu überwinden und das Denken in Beziehung zu den Dingen der Ausdehnung zu setzen. Für ihn ist nicht in erster Linie die Aufteilung der Attribute innerhalb einer Substanz und nicht allein die Trennung der Innenwelt des Denkens von der Außenwelt der Ausdehnung das Problem. Wichtig ist vielmehr die Frage, wie sich das endliche menschliche Individuum auf die Unendlichkeit des Ganzen beziehen kann, denn die endlichen Dinge sind nur Modifikationen bzw. gemäß der Bestimmung der Modi nur Affektionen der unendlichen Substanz. 199 Im zweiten Teil der Ethica führt Spinoza daher aus, wie der menschliche Geist aus der Substanz und damit das endliche Individuum aus dem unendlichen Ganzen der Ewigkeit herzuleiten ist. Um Einsicht in die Natur des Körpers und die Möglichkeit der Erkenntnis zu gewinnen, ist es unabdingbar, das Verhältnis des endlichen Geistes zu Gott zu verstehen. Das menschliche Individuum steht der unendlichen Natur in einer erkenntnismäßigen Ohnmacht gegenüber, die aus der Bedingung seiner Endlichkeit, aber auch aus seiner Affizierbarkeit resultiert und es an der adäquaten Erkenntnis des unendlichen Seinszusammenhangs hindert oder diese zumindest trübt und verstellt. Um das Verhältnis der Unendlichkeit des Ganzen zur Endlichkeit des einzelnen menschlichen Individuums zu verstehen, müssen also die Bedingungen der Erkenntnis untersucht werden. 200 Spinoza will herausfinden, was den Menschen hindert und was ihn befördert, im relationalen Gesamtzusammenhang der immanenten Kausalität Erkenntnis und damit Handlungsmacht zu gewinnen. Das Problem von Endlichkeit und Unendlichkeit ist aber nicht nur erkenntnistheoretisch relevant, sondern wird bereits in E1d2 als Problem der Ontologie kenntlich gemacht. »Dasjenige Ding heißt in seiner Gattung endlich, das von einem anderen derselben Natur begrenzt werden kann. Z. B. heißt 199 Zur Unendlichkeit und zum Verhältnis endlicher und unendlicher Modi mit Blick auf Spinoza vgl. auch: László Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik. Freiburg / München 2014, 483 f. Ein interessantes Plädoyer für die Abschaffung der Endlichkeit bietet Alain Badiou, der es als die Aufgabe der Philosophie ansieht, mit der anthropomorphen Vorstellung der Endlichkeit Schluss zu machen und stattdessen die Unendlichkeit als ein Vielfachsein zu begrüßen – also anzunehmen, »daß das Schicksal jeder Situation die unendliche Vielheit der Mengen ist«. Alain Badiou, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, Wien 2007, S. 19 f. 200 Die Verbindung individueller Erkenntnis und systematisch wissenschaftlicher Erkenntnis zu einer Erkenntnis der Ewigkeit behandelt Genevieve Lloyd. Vgl. Genevieve Lloyd, »Spinoza’s Version of the Eternity of the Mind«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences, Dordrecht, Boston et al. 1986, S. 211–233.

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ein Körper endlich, weil wir stets einen anderen begreifen, der größer ist. So wird ein Gedanke von einem anderen Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht von einem Gedanken begrenzt, noch ein Gedanke von einem Körper« (E1d2). Endlichkeit entsteht also für Spinoza durch eine Begrenzung in der eigenen Natur (naturae terminari), d. h., ein ausgedehntes Ding wird durch ein anderes ausgedehntes Ding begrenzt, und zwar so, wie ein Akt des Denkens durch einen weiteren Akt des Denkens begrenzt wird. Dinge von unterschiedlicher Natur dagegen, also Dinge von unterschiedlichem Attribut, können sich nicht gegenseitig begrenzen, d. h., ein ausgedehntes Ding kann nicht das Denken begrenzen, wie das Denken nicht ausgedehnte Dinge begrenzen kann. Diese Bestimmung von Endlichkeit stellt Spinoza seinen Bestimmungen von Substanz, Attributen und Modi voran, um die Unendlichkeit der Substanz aufzuzeigen, die nicht durch ihr Äußeres begriffen werden kann und der nichts vorhergeht, sondern die sich selbst erzeugt und daher unendlich und damit ewig ist. 201 Unendlichkeit erkennen zu können, heißt daher, Erkenntnis »unter dem Aspekt der Ewigkeit« (sub specie aeternitatis) zu erreichen, und diese Form der Erkenntnis ist das Ziel des Weges, den Spinozas Ethica als Ethik anbietet. 202 Es gibt also eine adäquate Erkenntnis der Dinge für den Menschen, die ontologisch mit der immanenten Kausalität des Ganzen zusammenhängt und sich als Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit und der Not-

201 Maurice Merlau-Ponty benennt die Potentialität dieses Denkens von der Unendlichkeit her in einer Notiz seines fragmentarisch und unabgeschlossen gebliebenen Spätwerks. »Das Unendliche: sicherlich ist es eine Errungenschaft, das Universum als Unendliches begriffen zu haben – oder zumindest auf dem Hintergrund des Unendlichen (die Cartesianer) – Aber haben die Cartesianer dies wirklich getan? Haben sie die Tiefe des Seins, die nur erkannt wird anhand des Begriffs des Unendlichen [ein unerschöpflicher Fundus des Seins, der nicht nur dieses oder jenes ist, sondern auch anders hätte sein können (Leibniz) oder tatsächlich mehr ist als das, was wir wissen (Spinoza, die unbekannten Attribute)], haben sie diese wirklich erblickt?« Maurice Merlau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 220. 202 Die bekannte Wendung sub specie aeternitatis erscheint vor allem im fünften Teil der Ethica, wobei die Ewigkeit Gottes der Sache nach bereits in E1p33s2 als die Ewigkeit der Dinge eingeführt wird. Gottes Beschlüsse sind von der Ewigkeit her festgesetzt, denn wären sie es nicht, wären sie unvollkommen und unbeständig, und da es in der Ewigkeit kein Vorher und kein Nachher gibt, folgt alles aus der Vollkommenheit Gottes. In diesem Sinn wird Ewigkeit bereits mit Notwendigkeit gleichgesetzt, und damit ist Erkenntnis sub specie aeternitatis immer auch die Erkenntnis der Notwendigkeit der Dinge in der Natur. Vgl. auch E5p29: »Was auch immer der Geist unter einem Aspekt von Ewigkeit einsieht, das sieht er nicht daraus ein, daß er die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpers begreift, sondern daraus, daß er die Essenz des Körpers unter einem Aspekt von Ewigkeit begreift.« Zur Erkenntnis unter dem Aspekt der Dauer und der Ewigkeit siehe auch: Chantal Jaquet, Sub specie aeternitatis. Étude des concepts de temps durée et éternité chez Spinoza, Paris 1997; Nicholas Israel, Spinoza, le temps de la vigilance, Paris 2001; André Tosel, Durée, temps et éternité chez Spinoza, Paris 1997.

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wendigkeit realisieren muss. 203 Die Veränderung des Körpers und des Geistes steht übrigens nur indirekt im Widerspruch zum Aspekt der Ewigkeit, den Spinoza auch im fünften Teil der Ethica immer wieder anführt. 204 Spinozas Konzeption von Ewigkeit muss also von der Ewigkeit Gottes her verstanden und als Qualifizierung der Substanz und der Attribute gesehen werden. Den endlichen Einzeldingen kommt diese Ewigkeit nicht zu und daher kann Spinoza den Begriff der Substanz für sie auch nicht in Anspruch nehmen und die Individuen, wie wir sehen werden, nicht von ihrer Substanz her begründen. In E1d8 definiert er: »Unter Ewigkeit verstehe ich die Existenz selbst, insofern sie als etwas begriffen wird, das aus der bloßen Definition eines ewigen Dinges notwendigerweise folgt« (E1d8). Ewige Existenz ist also Existenz, die aus der Definition ewiger Dinge notwendig folgt, und Ewigkeit etwas, das aus der Bestimmung eines ewigen Dings folgt, d. h. Ewigkeit wird einerseits allgemein als Existenz ausgewiesen und andererseits als Existenz eines ewigen Dings. In der Erläuterung zu dieser Definition wird klarer, dass eine solche allgemeine Existenz von Ewigkeit, ebenso wie die ewige Essenz eines Dinges, als eine ewige Wahrheit (aeterna veritas) verstanden werden kann. Und insofern also die Ewigkeit allgemein und die Ewigkeit ewiger Dinge gleichermaßen ewige Wahrheit sind, können sie nicht von ihrer Zeitlichkeit und Dauer her verstanden werden, selbst wenn man Dauer als einen Zustand ohne Anfang und ohne Ende begreifen könnte. Spinoza grenzt sich also von der Vorstellung der Ewigkeit als einer unendlichen Dauer und damit von der Vorstellung der Ewigkeit als Zeit und Dauer insgesamt ab. Ewigkeit ist weder messbare Dauer noch messbare Zeit: »Eine solche [ewige] Existenz wird nämlich ebenso wie die Essenz eines 203 Genevieve Lloyd stellt diese Form der Erkenntnis, die das Individuum überschreitet, in den Zusammenhang wissenschaftlichen Wissens und betont die Kontinuität »between the individual mind and its contents, and the network of systematically interconnected ideas which makes up the totality of scientific knowledge«. Sie streicht heraus, dass das Individuum eine umfassende Selbsterkenntnis erst durch die Erkenntnis seiner selbst als Teil einer Totalität des Denkens erreicht, in der es sich selbst als ewig erkennt. Genevieve Lloyd, »Spinoza’s Version of the Eternity of the Mind«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences. Dordrecht et al. 1986, S. 211– 233, hier: S. 211. 204 Wie Gueroult vermutet, unterscheidet Spinoza nicht zwischen verschiedenen Formen der Ewigkeit, denn Ewigkeit ist nur Gott zuzuschreiben. Vgl. Martial Gueroult, Spinoza 1. Dieu, Paris 1968. Das würde bedeuten, dass der Körper zwar eine veränderliche Entität ist, er aber trotzdem unter dem Aspekt der Ewigkeit steht, und zwar insofern, als er ein Modus ist, der Gottes Essenz (die ewig ist) ausdrückt (vgl. E2d1). Besonders deutlich wird das im folgenden Lehrsatz: »Was auch immer der Geist unter einem Aspekt von Ewigkeit einsieht, das sieht er nicht daraus ein, daß er die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpers begreift, sondern daraus, daß er die Essenz des Körpers unter einem Aspekt von Ewigkeit begreift« (E5p29). Vgl. zu diesem ersten Band von Gueroults Arbeiten zu Spinoza auch den Kommentar von Deleuze: Gilles Deleuze, »Spinoza und die allgemeine Methode von Martial Gueroult«, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953– 1974, Frankfurt a. M. 2003, S. 210–225.

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Dinges als eine ewige Wahrheit begriffen und kann deshalb nicht durch Dauer oder Zeit erklärt werden, selbst wenn man die Dauer so begriffe, daß sie ohne Anfang und Ende ist« (E1d8ex). Über diese Bestimmung von Ewigkeit hinausgehend wird die Vorstellung von Ewigkeit aber auch mit ewiger Notwendigkeit verbunden. »Es liegt in der Natur der Vernunft, Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten« (E2p44, vgl. auch E1p11). Ewige Notwendigkeit wird als ein Gesetz der Natur behandelt, das den inneren Gesamtzusammenhang der Natur strukturiert, und dementsprechend ist Ewigkeit ein Gesetz ewiger Notwendigkeit. Die Stellung des Menschen in dieser Ewigkeit ist vermittelt durch seine Erkenntnis der Dinge unter einem Aspekt von Ewigkeit und ewiger Notwendigkeit, denn der Mensch selbst ist selbstverständlich nicht ewig, vermag die Dinge aber unter einem Aspekt von Ewigkeit, also sub specie aeternitatis zu erkennen. »Es liegt in der Natur der Vernunft, Dinge unter einem bestimmten Aspekt von Ewigkeit wahrzunehmen« (E2p44c2). In diesem Sinne liegt es auch in der Natur der Vernunft, Dinge nicht einfach als zufällig zu betrachten, sondern als notwendig und ihre Notwendigkeit in den Gesetzen der immanenten Kausalität zu erkennen. »Diese Notwendigkeit von Dingen ist aber (nach Lehrsatz 16 des 1. Teils [E1p16]) genau die Notwendigkeit der ewigen Natur Gottes; also liegt es in der Natur der Vernunft, Dinge unter diesem Aspekt von Ewigkeit zu betrachten« (E2p44c2dem). Die Erkenntnis sub specie aeternitatis ist also eine Erkenntnis der Dinge in ihrer natürlichen Notwendigkeit und ihren notwendigen kausalen Zusammenhängen, und daher ist Erkenntnisfähigkeit eine Fähigkeit zur Erkenntnis ewiger Notwendigkeit. Je mehr die Dinge sub specie aeternitatis erkannt werden, desto mehr werden sie in ihrer Notwendigkeit erkannt. Und die Einsicht in ihre Notwendigkeit befähigt das menschliche Individuum, sich selbst als Teil der notwendigen Zusammenhänge der Natur zu sehen und diese zu seiner Selbsterhaltung und zur Steigerung seiner Handlungsmacht zu nutzen. Die Ewigkeit und die Gesetze ihrer Notwendigkeit stehen selbst nicht in einem Verhältnis zum Menschen. Ewigkeit ist zwar vom Menschen unabhängig, doch gleichwohl hängt dieser in seiner Fähigkeit zur Selbsterhaltung von der Erkenntnis der Ewigkeit ab und muss die immanente Kausalität der Natur unter dem Gesetz der Ewigkeit erkennen können. Es gibt für Spinoza eine graduelle Erkenntnis der Ewigkeit durch das menschliche Individuum, denn je besser es sich im Gesamtzusammenhang der Natur und in den Gesetzen der immanenten Kausalität erkennt, desto besser versteht es, die Macht der Affekte zu nutzen und seine Handlungsmacht zu steigern. Die Endlichkeit des Menschen ist zwar unhintergehbar und damit eine konstitutive Bedingung seiner Erkenntnis, doch gleichwohl räumt Spinoza dem menschlichen Individuum die

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Möglichkeit ein, sich in den Zusammenhang der Unendlichkeit zu stellen und die Unendlichkeit Gottes zu erkennen. 205

III.4 Adäquate und inadäquate Ideen

Trotz der parallelistischen Grundlagen bleibt es also in Spinozas immanenter Erkenntnistheorie ein Problem, das Verhältnis zwischen dem Attribut des Denkens und dem Attribut der Ausdehnung zu erklären. Die Erkenntnisfähigkeit und der adäquate Bezug des Denkens auf die ausgedehnten Dinge sind nicht einfach aus ihrer Parallelsetzung abzuleiten. Die Ideen, die sich aus den vielfachen Affektionen des Körpers ergeben, erscheinen dem menschlichen Individuum, wie Spinoza in E2a4 bekräftigt, nicht aufgrund der Übereinstimmung von Denken und Ausdehnung, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, sie aus der immanenten Kausalität herzuleiten und die kausalen Zusammenhänge der Dinge und der Ideen adäquat zu erkennen. 206 In E2d4 erklärt Spinoza Spinoza betrachtet die Bedingung der Endlichkeit des Menschen als Bedingung seiner Erkenntnis und steckt damit einen ausnehmend modernen Erkenntnisrahmen ab. Zwar hebt sich das Individuum für ihn im Falle der umfassend gelungenen Erkenntnis in der Ewigkeit Gottes und der Natur auf, doch ist der Ausgangspunkt seiner Erkenntnistheorie gerade die Abhebung des Menschen aus der Unendlichkeit und die kritische Feststellung seiner Endlichkeit und seiner Affizierbarkeit als apriorische Bedingungen seiner Erkenntnis. Der Umstand der Endlichkeit und die Unvollkommenheit der körperlichen Existenz gelangen also als ein epistemologischer Rahmen in den Blick. Damit tritt das ein, was Foucault in seiner Archäologie der Humanwissenschaften und seiner Auseinandersetzung mit Kant für das abendländische Denken und das Verschwinden der Metaphysik so eindringlich beschrieben hat: nämlich das Aufkommen des »Menschen« als Subjekt und als Objekt der Erkenntnis zugleich und das Bewusstsein seiner empirischen Schwächen als Bedingung seiner transzendentalen Erkenntnis. »Der Mensch ist in der Analytik der Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.« Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971, S. 384. Für diesen Zusammenhang ist nicht nur Foucaults wichtige Studie zur Entwicklung der Humanwissenschaften interessant, sondern vor allem auch seine Auseinandersetzung mit Kants Anthropologie. Vgl. dazu Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, Berlin 2010, sowie zu Foucault und Kants Anthropologie auch: Kerstin Andermann, »Anthropologie und Kritik. Kant, Foucault und die philosophische Anthropologie«, in: Kerstin Andermann / Andreas Jürgens (Hg.): Mythos, Geist, Kultur. Festschrift zum 60. Geburtstag von Christoph Jamme, München 2013, S. 221–235. 206 Marc Rölli bringt die Frage adäquater Erkenntnis ganz unmittelbar mit den Affektionen in Verbindung und erklärt die inadäquate Erkenntnis daraus, dass die Ideen äußerer Körper immer zugleich die Verfasstheit des eigenen Körpers anzeigen. Erkenntnis besteht in dieser Hinsicht darin, die Verbindungen und die Gemeinsamkeiten von Körpern und ihren Ideen zu erkennen und einander nützlich zu werden. Mit Deleuze sieht auch Rölli einen Primat der Praxis in dieser Ausrichtung der Erkenntnistheorie Spinozas. Vgl. Marc Rölli, Immanent denken. Deleuze – Spinoza – Leibniz, Wien 2018, S. 117 ff. 205

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seine Vorstellung einer adäquaten Idee: »Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich selbst ohne Beziehung auf einen Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat« (E2d4). Eine adäquate Idee ist also eine Idee, die ohne einen äußeren Bezug wahr ist, d. h., sie ist Gottes Aktivität des Denkens, denn nur die auf Gott und damit auf das Ganze der Natur bezogenen Ideen sind wahr, wie in E2p32 deutlich gemacht wird. 207 Gottes unendlicher Verstand kann das Ganze der Natur verstehen und ist adäquat, während der endliche Verstand der menschlichen Individuen immer nur Teile des Ganzen verstehen kann und daher inadäquat ist. Zwar müssen Ideen auch mit ihren Gegenständen übereinstimmen, doch ist es letztlich nicht diese Deckung, die für Spinoza das entscheidende Kriterium adäquater Erkenntnis ist. Das Problem der Deckung als Übereinstimmung von Ausdehnung und Denken ist ein cartesianisches Problem, das Spinoza gerade hinter sich lassen will, indem er den Dualismus zurückweist und der Bestimmung der menschlichen Erkenntnis aus dem Verhältnis von Denken und Ausdehnung die grundsätzliche Unendlichkeit der Modi und der Attribute gegenüberstellt. 208 Die bereits im ersten Teil der Ethica immer wiederkehrende Hervorhebung der Unendlichkeit der Attribute und der Modi setzt Spinoza ein, um die gegebenen Verhältnisse einer ständigen Verschiebung auf weitere Horizonte zu unterziehen und ihre fortlaufende Unabgeschlossenheit in einer relativen Kontingenz zu verdeutlichen. So wird etwa in E1p8 die Unendlichkeit der Substanz dargestellt, um dann in E1p8dem festzustellen, dass »unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur« ist. Die Bedingung der Unendlichkeit hat also eine notwendige Bejahung der Existenz zur Folge, und so stellt die Annahme von Unendlichkeit eine absoluta affirmatio existentiae in dem Sinne dar, dass sie immer weiter auf andere Möglichkeiten der Verknüpfung und der Verkettung der Dinge verweist und in unendlichen Variationen immer wieder neue Individuationen ermöglicht (die sich, wie DeZur Herleitung der Ideen aus Gott siehe auch: J. Thomas Cook, »The Idea of Good and the Foundation of Knowledge«, in: Michael Czelinski u. a. (Hg.), Transformation der Metaphysik in der Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und der praktischen Philosophie Spinozas, Würzburg 2003, S. 64–76. 208 Es ist vor allem die fundamentale Situierung des menschlichen Individuums in einem Affektionszusammenhang der Natur, mit der sich Spinoza gegen Descartes wendet. Das Subjekt wird hier nicht zum Urheber eines Wissens von sich selbst, der sich nur durch seine Erkenntnisleistung seiner selbst versichern kann. Es kann absolute Erkenntnis erreichen, aber nicht auf dem Weg einer durch Meditationen erzeugten epistemischen Herrschaft über seine Sinne und seine sinnlichen Erfahrungen, sondern auf dem Weg der Erkenntnis und der therapeutischen Bearbeitung seiner selbst durch die Erkenntnis des Ganzen. Friedrich Balke spricht hier von einer »ethischen Dimension der affektiven Selbstsorge« im Gegensatz zu einer »epistemischen Reduktion des Subjekts«, die den freien Willen erst über die Negation und die Beherrschung der Affekte erreicht. Vgl. Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 203–237, hier: S. 203. 207

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leuze es dann weiter ausführt, wiederholen und sich in der Wiederholung unterscheiden und ausdifferenzieren). 209 Von der Unendlichkeit her wird also eine Verschiebung zwischen den Attributen des Denkens und der Ausdehnung eingeführt, die zur Folge hat, dass die Welt der Ausdehnung und die Welt des Denkens nicht vollständig adäquat aufeinander zu beziehen sind: weder kann die Ausdehnung durch das Denken adäquat ausgedrückt werden, noch erschöpft sich das Denken in der Ausdehnung. Die Attribute sind vielmehr lediglich in einer mimetischen Annäherung zu erfassen, die sich ihrer permanenten Verschiebung kritisch bewusst ist. Eine Theorie der Erkenntnis, die der unendlichen Pluralität der Natur und ihren dynamischen Ausdrucksformen angemessen sein soll, muss die Inadäquatheit dieses Verhältnisses offenlegen und darf nicht von einem adäquten Deckungsverhältnis zwischen Ausdehnung und Denken ausgehen. Die Bildung adäquater Ideen hängt für Spinoza also nicht an der Übereinstimmung des Denkens mit der Ausdehnung, sondern vielmehr an der Erkenntnis des immanenten Kausalzusammenhangs der Dinge und der Ideen. Wie bereits in E1p29 deutlich gemacht, gibt es für ihn nichts Zufälliges in der Natur, »sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt«, und daraus folgt, dass erst die kausale Herleitung von Ideen (auch unter dem Aspekt ihrer Ewigkeit) zur Bildung adäquater Ideen führen kann, wie eben das Unvermögen dieser Herleitung zur Bildung inadäquater Ideen führt. Die Unterscheidung adäquater und inadäquater Ideen ist eine Unterscheidung zwischen der vollen Erkenntnis der unbedingten Unendlichkeit Gottes in ihrer Notwendigkeit und der partialen Erkenntnis endlicher Modi, die unter dem bedingenden Einfluss von Affektionen stehen. In einem Brief aus dem Jahr 1675 erläutert Spinoza, dass er zwischen einer wahren und einer adäquaten Idee nur den Unterschied sieht, dass die Kennzeichnung von etwas als wahr sich auf die Abgleichung einer Idee mit ihrem Zur Veranschaulichung dieser Verschiebung im Falle der psycho-physischen Wahrnehmung sei hier eines der zahlreichen lebensweltlichen Beispiele angeführt, die Spinoza in den Anmerkungen der Ethica immer wieder gibt: »Es kommt sehr häufig vor, daß, während wir etwas, wonach wir verlangen, genießen, der Körper über diesen Genuß in einen neuen Zustand gerät, der ihn anders bestimmt und von dem her andere Vorstellungsbilder von Dingen in ihm hervorgerufen werden; und zugleich beginnt der Geist dann anderes sich vorzustellen und anderes zu begehren. Wenn wir z. B. uns etwas vorstellen, das uns in der Regel von seinem Geschmack her angenehm ist, begehren wir es zu genießen, nämlich zu konsumieren. Nun füllt sich, während wir es so genießen, der Magen, und der Zustand des Körpers wird ein anderer. Wenn also bei schon veränderter Verfassung des Körpers die noch gegenwärtige Speise ihr Vorstellungsbild lebhafter macht und folglich das Streben oder die Begierde sie zu konsumieren fördert, dann wird dieser Begierde jener neue Zustand des Körpers entgegenstehen, mit der Folge, daß uns die Speise, nach der wir verlangten, jetzt verhaßt sein wird; das ist es, was wir Überdruß und Ekel nennen« (E3p59s). 209

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Gegenstand bezieht, »so daß es in Wirklichkeit einen Unterschied zwischen der wahren und der adäquaten Idee nur hinsichtlich jener äußeren Beziehung« (Ep 60:242) der Wahrheitsqualifikation eines Gegenstands gibt. Wahrheit ist also, wie Spinoza auch in E1a6 feststellt, im klassischen Sinn einer Korrespondenztheorie der Übereinstimmung von Idee und Gegenstand zu verstehen. Der Begriff der Adäquatheit kennzeichnet hingegen die Idee an sich und zielt, wie in E2d4 dargestellt, auf die innere Kohärenz einer Idee, die in sich selbst wahr ist. Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Ausdehnung und als Angemessenheit von Erkenntnis findet ihren ontologischen Rahmen in der Annahme, dass der menschliche Geist ein Teil der Natur ist und in diesem Sinne eine Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Ausdehnung angenommen werden kann. 210 Wahrheit wird also vorausgesetzt und es kann aus der adäquaten Erkenntnis auf sie geschlossen werden, wie Spinoza in E2p34 festhält: »Jede Idee, die in uns unbedingt, adäquat und vollkommen ist, ist wahr.« Die Annahme adäquater Ideen bezieht sich aber nicht allein auf die Gegenstände der Ausdehnung, sondern auch auf das Denken selbst, auf die Idee als Idee einer Ursache und damit auf den erkennbaren Gesamtzusammenhang von Ursachen und Wirkungen. 211 Wird der immanente Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen im Denken und durch das Denken erkannt, dann haben wir es mit adäquaten Ideen des Denkens zu tun, denn die Idee einer Wirkung hängt von der Erkenntnis ihrer Ursache ab, wie auch in E2p7dem deutlich wird: »[D]ie Idee eines jeden verursachten Dinges hängt von der Erkenntnis der Ursache ab, deren Wirkung es ist« (E2p7dem).

Erkenntnis immanenter Kausalität

Im Ausgang der ersten Definition zur Selbstursächlichkeit ergibt sich für Spinoza das Gesetz der weiteren kausalen Abhängigkeit der Modi von äußeren Ursachen und Gründen. Ein bestimmter Modus nimmt in diesem Sinne seine Wirklichkeit immer durch einen Grund an, der ihm vorhergeht, und so legt Spinoza das grundlegende Gesetz der Kausalität fest: »Aus einer gegebenen Die Möglichkeit von Wahrheit wird auch durch den Substanzmonismus verbürgt, denn für Spinoza gibt es in der reinen Immanenz der Welt nichts, was nicht grundsätzlich in unseren Ideen aufzuheben und durch sie zu erkennen ist. Die Übereinstimmung der Erkenntnis mit den Dingen der Ausdehnung ist also grundsätzlich möglich und wird ontologisch sichergestellt. Vgl. dazu auch die Darstellung von Christof Ellsiepen, »Die Erkenntnisarten«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 133–150, hier S. 134 f. 211 Zum Begriff der Adäquatheit vgl. auch: Wolfgang Bartuschat, »The Infinite Intellect and Human Knowledge«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind. Papers Presented at the Second Jerusalem Conference, Leiden 1994, S. 187–208. 210

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bestimmten Ursache erfolgt notwendigerweise eine Wirkung; und umgekehrt, wenn keine bestimmte Ursache gegeben ist, ist es unmöglich, daß eine Wirkung erfolgt« (E1a3). Im vierten Axiom des ersten Teils wird das Gesetz der Kausalität dann komplexer, denn es dreht sich jetzt um die Erkenntnis von Dingen und wird auf diese übertragen: »Die Erkenntnis einer Wirkung (effectus) hängt von der Erkenntnis seiner Ursache ab und schließt diese ein« (E1a4). Die Erkenntnis eines Effekts, wie vielleicht in Anlehnung an das lateinische effectus besser zu übersetzen wäre, hängt also für Spinoza immer von der Erkenntnis der Ursache eines Effekts ab, d. h., das Wissen von etwas ist immer ein Wissen der Ursachen. Und je mehr wir über die Ursache von etwas wissen, desto mehr wissen wir über die Sache selbst. Die Dinge können nur durch die Erkenntnis ihrer kausalen Relationen verstanden werden und die Intelligibilität der Natur ergibt sich aus diesen kausalen Verhältnissen. Die Erkennbarkeit dieser Gesetze durch das menschliche Individuum ist aber nicht selbstverständlich gegeben, sondern sie ist vielmehr eine Möglichkeit. Für Spinoza ist klar, dass der Mensch, auch wenn die Natur im Ganzen intelligibel verfasst ist, zumeist in einem Zustand der Unkenntnis darüber bleibt, welche kausalen Relationen seine Existenz bestimmen. Daher kommt es gerade darauf an, die Gesetze der Kausalität auf je adäquate Weise zu erkennen und sie nach einer geometrischen Ordnung übertragen zu können: wie nach den Gesetzen der Geometrie, aus denen alles »immer mit derselben Notwendigkeit und auf dieselbe Weise folgt, wie aus der Natur eines Dreiecks von Ewigkeit her und in Ewigkeit folgt, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind« (E1p17s). Sind die Gesetze der Kausalität vollständig und adäquat erkannt, ist es auch möglich, sie in ihrer Unendlichkeit zu begreifen und die gesamte Natur in ihrer immanenten Intelligibilität und damit nach ihren eigenen Gesetzen (und nicht nach den Gesetzen einer transzendentalen Vernunft) zu erkennen. Die Natur in dieser Weise zu verstehen, heißt für Spinoza, Gott und die Ewigkeit Gottes zu sehen und zur Erkenntnis der Dinge unter dem Aspekt dieser Ewigkeit (sub specie aeternitatis) fähig zu sein. Die Erkenntnis unter dem Aspekt der Ewigkeit ist eine Erkenntnis der immanenten Kausalität, durch die die Verkettung der Dinge (rerum concatenatio) bewirkt wird. Im Sinne dieser Verkettung hängt alles mit allem zusammen, ist alles in der Natur immer zugleich ein Einzelnes und ein Teil des Ganzen. 212 Das Einzelne unter dem Aspekt der Ewigkeit des Vom Zusammenhang der Dinge im Sinne einer Verkettung (concatenatio) spricht Spinoza mehrfach und nicht nur im Hinblick auf ihre Erkenntnis durch den Menschen. Ihre Rolle für die Erkenntnis wird im Appendix zum Abschluss des ersten Teils noch einmal deutlich gemacht: »Weil aber immer noch viele Vorurteile bleiben, die Menschen in hohem Maße daran hindern konnten und können, die Verkettung der Dinge in der Weise, wie ich sie entwickelt habe, zu erfassen, habe ich es der Mühe wert gehalten, sie hier einer Prüfung durch die Vernunft zu unterziehen« 212

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Ganzen zu denken, bedeutet also, sich selbst als Teil der Verkettung des Ganzen und damit sich selbst als Teil der Natur zu erkennen und die eigene Existenz in ihr zu realisieren. In der Erkenntnis des Ganzen unter dem Aspekt der Ewigkeit liegt die Vollendung der Erkenntnis, d. h. die Erkenntnis des Einzelnen im Ganzen und durch das Ganze. Und in der Realisierung dieser Erkenntnis liegt letztlich auch ein durch die Natur vermittelter Selbstbezug des Individuums. Adäquat oder inadäquat ist also das Denken selbst, und in diesem Sinne ist adäquate Erkenntnis für Spinoza nicht die Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen der Ausdehnung, sondern adäquate Erkenntnis ist die Erkenntnis des kohärenten Zusammenhangs von Ursachen und Wirkungen in der Natur.

Der Körper der Erkenntnis

Das Problem adäquater und inadäquater Ideen hat also mit der Frage zu tun, ob und inwiefern das menschliche Individuum in der Lage ist, die immanente Kausalität der Affektionen zu erkennen. Denn der »menschliche Geist erkennt den menschlichen Körper selbst und weiß um dessen Existenz lediglich durch Ideen der Affektionen, von denen der Körper affiziert ist« (E2p19). Was sich im Körper ereignet, was ihm widerfährt und ihn affiziert, muss also vom Geist adäquat aufgenommen werden. In einem Brief an Schuller von 1675 führt Spinoza diesen Zusammenhang gesondert aus und zeigt, »daß der menschliche Geist nur das in seiner Erkenntnis erfassen kann, was die Idee eines wirklich existierenden Körpers in sich schließt oder was aus eben dieser Idee erschlossen werden kann. Denn das Vermögen eines jeden Dings wird allein durch sein Wesen definiert [. . . ], das Wesen des Geistes aber besteht [. . . ] allein darin, daß er die Idee eines wirklich existierenden Körpers ist, und darum erstreckt sich das Erkenntnisvermögen des Geistes nur auf das, was diese Idee des Körpers in sich befaßt oder was aus ihr folgt« (Ep 64:248 f.). Die gesamte Idee des Körpers enthält keine anderen Attribute Gottes als die der Ausdehnung und des Denkens: So hat der Körper Gott zur Ursache, insofern er unter dem Attribut der Ausdehnung angesehen wird, wie die Idee des Körpers Gott zur Ursache hat, insofern er unter dem Attribut des Denkens angesehen wird. Die (E1app). Im Folgenden werden dann verschiedene Vorurteile diskutiert, die auf der Unkenntnis der Verkettung in kausalen Verhältnissen beruhen. Vgl. zu den Vorurteilen des endlichen Menschen auch Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 22 ff., und zur Beeinflussung der verstandesmäßigen Ordnung der Affektionen auch E5p10. Deutlich gemacht wird die Figur der Verkettung, wie wir noch sehen werden, aber auch im Blick auf die Körper, die Ideen und die Affekte und letztlich auch im Blick auf die Machtwirkungen. Daran zeigt sich, dass die Verkettung der Modi in einem immanenten System begründet wird, dessen verschiedene Elemente alle immer wieder auf eine ähnliche ontologische Figur zurückzuführen sind.

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Idee der Idee des Körpers schließt damit die Erkenntnis Gottes in sich, sofern er vom Attribut des Denkens und von keinem anderen Attribut her gesehen wird. »Es geht daraus hervor, daß der menschliche Geist oder die Idee des menschlichen Körpers außer diesen beiden keine anderen Attribute Gottes in sich schließt oder ausdrückt« (Ep 64:248 f.). Der menschliche Geist, so betont Spinoza hier wiederholt, kann keine anderen Attribute Gottes erfassen als die des Denkens und der Ausdehnung mit den jeweiligen Affektionen im Denken und in der Ausdehnung, obwohl die Attribute an sich unendlich sind. Der Vorgang der Bildung der Ideen des Körpers im Geist wird daher in Gott und mithin im Gesamtzusammenhang der Natur angesiedelt, denn Gott wird »als von den Ideen sehr vieler Einzeldinge affiziert angesehen [. . . ]. Gott hat demnach die Idee des menschlichen Körpers, d. h. er erkennt den menschlichen Körper, insofern er [der Körper] von sehr vielen anderen Ideen affiziert ist, und nicht insofern er die Natur des menschlichen Geistes ausmacht [. . . ]« (E2p19dem). Da das menschliche Individuum aber ein endlicher Modus der Substanz ist, kann es, im Unterschied zu Gott, nur inadäquate Ideen haben, die bruchstückhaft und verworren sind, während Gottes unendlicher Verstand zu adäquaten Ideen gelangen kann. Wenn die endliche Existenz nur inadäquate Ideen hervorbringt, kann auch der Geist des Menschen kein adäquates Verständnis des eigenen Körpers und der äußeren Körper mit all ihren Affektionen bilden. Diese Unzulänglichkeit in der Erkenntnis des menschlichen Körpers und seiner Affektionen stellt Spinoza in E2p22 bis E2p29 dar. Da der Geist nicht vom Körper unterschieden ist, erkennt er sich selbst »lediglich insofern, als er die Ideen der Affektionen des Körpers wahrnimmt« (E2p23) und er erkennt auch andere äußere Körper als »wirklich existierend lediglich durch die Ideen der Affektionen seines eigenen Körpers« (E2p26). Das bedeutet auch, »daß der Geist umso fähiger ist, mehr Dinge adäquat wahrzunehmen, je mehr Eigentümlichkeiten sein Körper mit anderen Körpern gemeinsam hat« (E2p39c). Die Ideen des Geistes entstehen also erst durch den Körper und korrespondierend zu den Affektionen des Körpers, aus denen sie sich bilden, und sie sind mehr oder weniger adäquat, wie in der Unterscheidung der Erkenntnisarten deutlich wird. Die Idee eines äußeren Körpers schließt die Verfasstheit des eigenen Körpers ein, da sie unter der Bedingung der Affektionen des eigenen Körpers zustande kommt, wie Spinoza in E2p16 darstellt: »Die Idee einer jeden Weise, in der der menschliche Körper von äußeren Körpern affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die des äußeren Körpers in sich schließen.« Einerseits schließt die Erkenntnis immer die Idee des eigenen Körpers ein, andererseits kann es aber letztlich keine adäquate Idee des Körpers geben, da dieser immer schon von anderen Körpern affiziert ist und in

Adäquate und inadäquate Ideen

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einem Wechselverhältnis zu anderen Körpern steht. 213 Es zeigt sich also, dass der menschliche Geist für Spinoza nicht vom Körper zu trennen ist und dass Erkenntnis stets in Abhängigkeit von den äußeren Affektionen des Körpers erfolgt, die wiederum erst durch andere Körper hervorgerufen werden. Und in diesem Erkenntnisprozess nimmt der menschliche Geist andere Körper, die ebenfalls existieren, nur durch die Ideen wahr, die er sich aus den Affektionen des eigenen Körpers bildet, wie Spinoza in E2p26 erklärt hat. Die Affektionen und die daraus hervorgehenden Affekte, denen der Körper untersteht, bestimmen die Erkenntnis also in ganz grundlegender Weise und müssen der Erkenntnis möglichst umfänglich und im immanenten Zusammenhang ihrer Kausalität zugänglich gemacht werden. Spinoza stellt diese Ineinanderführung der Körper, ihrer Ideen und ihrer Affektionen im zweiten Teil der Ethica ausführlich dar. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass es für ihn keine transzendentalen oder apriorischen Kategorien des Geistes gibt, sondern dieser alles Wissen von sich selbst, vom eigenen Körper und von anderen Körpern und den Gebilden, die sich aus ihnen ergeben können, nur über Affektionen des eigenen Körpers wahrnimmt. Spinoza nimmt also an, dass es nichts im Geist gibt, mithin auch keine Ideen, die nicht von der äußeren Einwirkung der Affektionen auf den Körper her zu verstehen sind, denn Ideen sind immer Ideen von Affektionen. Diese Ideen der Affektionen des menschlichen Körpers schließen die adäquate Erkenntnis des menschlichen Körpers nicht ein, denn sie sind nicht notwendig klar und deutlich, sondern zuallererst verworren und getrübt, wie in E2p27 und E2p28 ausgeführt wird. In E2p29c wird diese Bestimmung der Erkenntnis durch die Affekte nochmals deutlich gemacht und Spinoza folgert aus E2p29, »daß der menschliche Geist, sooft er Dinge von der gemeinsamen Ordnung der Natur her wahrnimmt, weder von sich selbst, noch von seinem eigenen Körper, noch von äußeren Körpern eine adäquate, sondern nur eine verworrene und verstümmelte Erkenntnis hat. Denn der Geist erkennt sich selbst lediglich insofern, als er die Ideen der Affektionen des Körpers 213 Der zentralen Frage, wie in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes überhaupt ein Inhalt oder ein Gehalt von Ideen zustande kommen kann, ist Ursula Renz nachgegangen und zeigt, dass es sich hier vornehmlich um die Bestimmung des Aktes der Erkenntnis handelt. Der Erkenntniswert selbst ist dabei nur ein Aspekt der Ideen, und diese selbst sind nicht ontologisch-elementare Einheiten des Bewusstseins, sondern vielmehr Verdichtungen in einem »Netz von Bezügen«, wie Renz die Affektionsverhätnisse der Modi nennt. Im Gegensatz zur Vorstellung einfacher Ideen, die sich als einzelne Elemente herausbilden und ihren je eigenen Erkenntniswert haben, haben wir es bei Spinoza also vielmehr mit einem »Netz von Ideen« zu tun, die in ihren Verbindungen erkannt werden müssen. Renz spricht auch von einem »Holismus des Mentalen« und zeigt damit an, was ich als Spinozas Anspruch einer umfassenden Erkenntnis der immanenten Kausalität des Gesamtzusammenhangs der Natur bezeichne. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 97 ff., hier: S. 101.

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Immanente Erkenntnistheorie

wahrnimmt. [. . . ] Und seinen eigenen Körper nimmt er [. . . ] lediglich durch ebendiese Ideen der Affektionen wahr, durch die allein er auch äußere Körper wahrnimmt« (E2p29c). Spinoza führt ein Beispiel für diese Wahrnehmung über Affektionen und die daraus resultierende verworrene Erkenntnis an: Wir würden uns die Sonne in einem bestimmten Abstand von uns vorstellen, und selbst wenn wir lernten, dass sie viel weiter von uns entfernt sei, bliebe unsere Vorstellung doch dieselbe. Wir »stellen nämlich die Sonne nicht deshalb als so nah vor, weil wir ihre wahre Entfernung nicht kennen, sondern weil eine Affektion unseres Körpers die Essenz der Sonne in sich schließt, insofern gerade er von der Sonne affiziert wird« (E2p35s). Die Grundlage einer jeden Erkenntnis ist für Spinoza also die gemeinsame Essenz der Körper im immanenten Affektionszusammenhang der Natur und damit die Affizierung der Körper, die durch die Verbindung in diesem geteilten Affektionszusammenhang der Natur zustande kommt. Für Spinoza ist klar, dass die Menschen die wahren Ursachen ihres Handelns zumeist nicht kennen und ihre Unfreiheit in einem Mangel an Erkenntnis besteht. Relativ adäquate Erkenntnis zu erreichen, bedeutet daher, sich selbst durch den Körper in den relationalen Verbindungen zu erkennen, die den Affektionszusammenhang der Natur und seine immanenten Kausalität ausmachen.

III.5 Drei Arten der Erkenntnis

Ein weiteres zentrales Problem in Spinozas Theorie der menschlichen Erkenntnis besteht in der Frage, wie der Mensch angesichts seiner Endlichkeit und seiner körperlichen wie geistigen Affizierbarkeit die unendliche Wahrheit der Natur, die ihm vorausgeht, überhaupt erkennen kann. Während für Gott eine adäquate Erkenntnis aller Ideen möglich ist, gibt es für den Menschen zunächst nur inadäquate Ideen; da aber »der menschliche Geist ein Teil von Gottes unendlichem Verstand ist« (E2p11c), ist es ihm grundsätzlich auch möglich, zu einer Erkenntnis der Unendlichkeit und damit der Notwendigkeit Gottes und der Natur zu gelangen. Gemäß der ontologischen Ordnung der Attribute bleibt der menschliche Geist aber stets an einen Körper und an die damit verbundenen Affektionen gebunden und unterliegt daher bestimmten Bedingungen, die ihn beeinflussen und zur Inadäquatheit seiner Erkenntnis führen. 214 In214 Auf die Theorie der Körper als einer Theorie der Individuation kommen wir dann im zweiten Teil, aber bereits hier zeigt sich, dass der Körper auch für die Erkenntnistheorie und für die Bestimmung der Erkenntnisarten eine wichtige Rolle spielt. Zur Bedeutung des Körpers und der Affektionen für die Erkenntnistheorie vgl. auch: Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 97–123.

Drei Arten der Erkenntnis

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wiefern der Körper selbst äußeren Einflüssen unterliegt, die ihn affizieren und damit schwächen oder stärken, ihn verändern und auf unendlich viele Weisen beeinflussen, stellt Spinoza in seiner an Descartes' Physik angelehnten physikalischen Theorie der Körper dar, um die es im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung gehen wird. Zur Bestimmung der drei verschiedenen Arten der Erkenntnis (genera cognitionis), die Spinoza einführt, ist vorerst nur wichtig, dass die Erkenntnis in ganz unmittelbarer und gleichursprünglicher Weise an die Bedingung der körperlichen Existenz gebunden ist. Die Affizierbarkeit des Körpers wird damit zu einer voraugesetzten Bedingung der Ideenbildung erklärt, und damit lässt sich diese immer zugleich als ein affektiver Prozess verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt untersucht Spinoza die Erkenntnis und unterscheidet adäquate und inadäquate Ideen, die sich gemäß der Fähigkeit entwickeln, Ursachen zu erkennen, Wirkungen aus Ursachen abzuleiten und von passiven Affekten zu aktiven Affekten überzugehen. Dieser Zusammenhang ist dem Menschen zunächst unzugänglich, doch die Bedingung seiner Freiheit liegt gerade darin, dem zufälligen Einfluss von Wirkungen nicht nur ausgesetzt zu sein, sondern Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen zu erkennen und dadurch zu verstehen, was auf ihn einwirkt und seine Erkenntnis beeinflusst. Wie im fünften Teil der Ethica erklärt wird, können wir »uns kein Heilmittel für die Affekte ausdenken, das von unserer Gewalt abhängt und vortrefflicher wäre als das, das in ihrer wahren Erkenntnis besteht, weil es nun einmal im Geist keine andere Macht gibt als die zu denken und adäquate Ideen zu bilden [. . . ]« (E5p4s). Mit der Bestimmung dieser existenziellen Bedingung der Erkenntnis legt Spinoza seiner Erkenntnistheorie einen Perspektivismus der Erkenntnisarten zugrunde und führt eine dreistufige Hierarchisierung der Erkenntnis von der imaginatio über die ratio bis hin zur scientia intuitiva ein.

Imaginatio

Die verschiedenen Arten der Erkenntnis werden zuerst in E2p40s2 dargelegt. Die Erkenntnis der ersten Gattung, also die imaginatio, ist eine Begriffsbildung, die sich aus der unbestimmten Erfahrung von Einzeldingen oder aus Zeichen ergeben kann, die unbestimmte Erkenntnis auslösen: »Die Erkenntnis der ersten Gattung ist die einzige Ursache von Falschheit, während die der zweiten und dritten notwendigerweise wahr ist« (E2p41). Erst die Erkenntnis der zweiten und dritten Gattung befähigt den Menschen, wahr und falsch zu unterscheiden (vgl. auch E2p42). Die Erkenntnisse der imaginatio werden durch sinnliche Eindrücke der Affektion hervorgerufen, die auch zeichenhafte Wahrnehmungen der Vorstellungskraft sein können. Die imaginatio ist also eine

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Immanente Erkenntnistheorie

Form ungenauen und unsicheren Wissens, das sich aus unserer Wahrnehmung und unseren Vorstellungsbildern, aus Erinnerungen und Assoziationen ergibt, die für Spinoza immer Affektionen des Körpers sind. 215 Zur Erkenntnis der ersten Gattung zählt Spinoza die verworrenen, eingetrübten Ideen, die eben auf einen Mangel an Erkenntnis zurückzuführen sind, aber gleichwohl Inhalte der Erkenntnis und der Erfahrung erschließen und bereitstellen. 216 Auch in der Bestimmung der imaginatio ist der Körper von großer Bedeutung, denn die Erkenntnis nimmt ihren Ausgang von der Affektion durch andere Körper. Das menschliche Individuum weiß von äußeren Körpern nur aufgrund der Eindrücke des eigenen Körpers, und so kann der menschliche Körper von vielen Dingen auf viele verschiedene Weisen affiziert werden, die aber nur partial und inadäquat erscheinen. Im Vordergrund jedweder Erkenntnis steht, wie mit Blick Spinoza verdeutlicht diese Annahmen zur imaginatio in einem Brief an Peter Balling, in dem er (anhand eines Traumes) von einer imaginären Vorstellung berichtet, in der ihm ein unbekannter Brasilianer erscheint, den er nie zuvor gesehen habe. Der Eindruck sei bei Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf etwas anderes für eine Weile verschwunden, sei aber bei nachlassender Aufmerksamkeit wiedergekommen. Für Spinoza wird daran deutlich, dass die »Wirkungen unseres Vorstellungsvermögens [. . . ] aus der Beschaffenheit des Körpers oder des Geistes« (Ep17:72) entstehen. Er verweist weiter auf andere körperliche und seelische Zustände und schließt, dass das Vorstellungsvermögen »auf der Spur des Verstandes schreitet und seine Bilder und Worte in der gleichen Ordnung verkettet und miteinander verknüpft, wie der Verstand seine Beweise, und zwar so sehr, daß man nahezu nichts verstehen kann, von dem nicht das Vorstellungsvermögen sich unmittelbar auch ein Bild macht« (Ep 17:72). Die imaginatio ist, wie hier sehr deutlich wird, der ratio vorgeordnet, und daher kann das Vorstellungsvermögen zwar nicht antizipierend wirken, wohl aber können seine Wirkungen vorausgeahnt werden. Es kommt daher vor, dass Vorstellungsbilder, die aus der Verfassung des Geistes und des Körpers resultieren, etwas vorwegnehmen und höchst aktuell und lebendig erscheinen lassen. Vgl. auch Spinozas Brief an Hugo Boxel (Ep 52:212). In seiner Einleitung zu Binswangers Traum und Existenz beschäftigt sich Michel Foucault mit der Imagination und sucht ihre Bestimmung zwischen Traum und Existenz, da sich im Imaginären die Bedeutung des Traums als einer Grundform der Existenz zeige. Anhand der Beispiele Spinozas zeigt Foucault, dass die imaginatio eine spezielle, an die Verfassung des Körpers gebundene Form der Erkenntnis ist. Er bezieht sich dabei auch auf Spinozas Ausführungen zu den unterschiedlichen Stilen und Dispositionen der jüdischen Propheten im TTP, die, mit der Macht der imaginatio begabt, eine Verbindung zwischen Vorstellungskraft und Wahrheit der Offenbarung herstellen (vgl. TTP 2:2). Die imaginatio werde hier als die Verbindung zu einer Wahrheit dargestellt, die den Menschen überschreitet, während sie von ihm ausgeht und sich ihm darbietet. Vgl. Michel Foucault, »Einführung« (in Ludwig Binswangers Traum und Existenz) (1954), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Band 1 (1954–1969), Nr. 1, S. 107–174, hier: 128 f. Siehe zum Traum bei Spinoza auch: Ingo Uhlig, Traum und Poiesis. Produktive Schlafzustände 1641–1810. Göttingen 2015. 216 Vgl. zur Bestimmung unvollständiger und unzureichender Erkenntnis, auch in ihrer Bedeutung für die Gemeinbegriffe und die Erkenntnis der Menge, den Beitrag von Yirmiyahu Yovel, »Incomplete Rationality in Spinoza’s Ethics: Three Basic Forms«, in: Yirmiyahu Yovel / Gideon Segal (Hg.), Spinoza on Reason and the »Free Man« (Spinoza by 2000). Papers Presented at the fourth Jerusalem Conference (Ethica IV), New York 2004, S. 15–35. 215

Drei Arten der Erkenntnis

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auf E2p27dem deutlich wird, immer eine Form der Affektion des eigenen Körpers (certo quodam modo affici), die sich auf viele verschiedene Weisen (multis aliis modis) ereignen kann. Sie kann aber immer nur partiale Erkenntnis sein, da sie die anderen Körper nicht in ihren Affektionszusammenhängen erfasst. 217 Die imaginatio ist also durchaus von erkenntniskonstitutiver Bedeutung, und in ihr wird die unauflösliche Bindung der Erkenntnis an den individuellen Körper deutlich, der seinerseits in einen undurchschaubaren und immer nur partial erkennbaren Zusammenhang von Affektionskräften eingelassen ist. 218 Auf der Ebene der imaginatio ist die Erkenntnis also nicht in der Lage, Ideen zu bilden, die »gleichermaßen in einem Teil wie in dem Ganzen« (E2p37) sind, und ebenfalls nicht, Merkmale zu erkennen, »die allen Dingen gemeinsam sind und gleichermaßen im Teil wie im Ganzen sind« (E1p38). Anders ausgedrückt bedeutet das, dass das Individuum auf der Ebene der imaginatio nicht in der Lage ist, Gemeinbegriffe zu bilden, und dass es vor allem nicht in der Lage ist, die Dinge unter dem Aspekt der Ewigkeit zu erkennen, weil es die immanenten kausalen Zusammenhänge, in denen es steht, nicht überblickt. Diese Art der Erkenntnis von kausalen Zusammenhängen und ihre Generalisierung vom Einzelnen ins Ganze ist aber die Grundlage der adäquaten Erkenntnis.

Ratio

Die Erkenntnis der zweiten Gattung, die Vernunft oder die ratio, entsteht daraus, dass wir Gemeinbegriffe bilden und rational adäquate Ideen der Eigenschaften von Dingen haben. Das Wissen dieser Erkenntnisgattung ist wahr, Auf die Bedeutung des Körpers und der Affekte geht auch Christof Ellsiepen in seinem instruktiven Beitrag zu den Erkenntnisarten ein. Allerdings spricht Ellsiepen hier immer wieder von einem durch äußere Körper affizierten »Leib« und bringt dadurch eine Konnotation unmittelbarer Erfahrung der ersten Person in Spinozas physikalische Theorie der Körper ein, die einer Theorie immanenter Individuation entgegensteht und nicht nur phänomenologische, sondern auch theologische Assoziationen erzeugt, um die es Spinoza gerade nicht gegangen sein dürfte. Darüber hinaus ist die »Fassung des menschlichen Geistes als mentaler Repräsentation des Leibes« höchst diskussionsbedürftig, wenn man eine anti-dualistische Interpretation der Erkenntnistheorie Spinozas verfolgt, die ja gerade das Repräsentationsverhältnis zwischen Körper und Geist infrage stellen und immanent verstehen will. Vgl. Christof Ellsiepen, »Die Erkenntnisarten«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik,a. a. O., S. 133–150, hier S. 135 und 138 f. 218 Vgl. auch die Wendung der imaginatio in eine sozialtheorische Interpretation lebensweltlicher Voraussetzungen von Wissen und Erkenntnis bei Althusser: Louis Althusser, »The Only Materialist Tradition, Part I: Spinoza«, in: Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza, Minneapolis 1997, S. 2–18, besonders S. 5 f. Vgl. insgesamt die ausführliche Untersuchung der Auseinandersetzung Althussers mit Spinoza bei Knox Peden, Spinoza Contra Phenomenology. French Rationalism from Cavaillés to Deleuze, Stanford 2014, S. 127–190. 217

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Immanente Erkenntnistheorie

insofern es adäquat ist und den Ideen Gottes gleicht. Über diese Art adäquaten Wissens zu verfügen, bedeutet auch, stets zu wissen, dass das Wissen wahr ist, dass es »höchste Gewißheit in sich schließt« (E2p43s) und sich gewissermaßen selbst reflektiert. 219 Aus dieser Form rationaler Erkenntnis ergibt sich für Spinoza die Einsicht in die Notwendigkeit der immanenten Kausalität Gottes bzw. der Natur. Im Gegensatz zur imaginatio erscheinen uns die Dinge in der rationalen Erkenntnis der zweiten Art als stringent und notwendig miteinander verbunden. 220 So ermöglicht die rationale Erkenntnis auch ein Verständnis unserer selbst im determinierenden Gesamtzusammenhang der Natur und der in ihr wirkenden Kräfte und ist ein wichtiges Element der erkenntnismäßigen Bewältigung von Irrtümern. 221 Mit dieser Form der Selbsterkenntnis ist dann aber nicht nur der geistige Rückbezug auf sich selbst gemeint, sondern vor allem auch der ständige Bezug auf den eigenen Körper und dessen Verbindung zu anderen Körpern. In E2p47dem stellt Spinoza diese Form der Selbsterkenntnis als Erkenntnis der immanenten Kausalität Gottes dar: »Der menschliche Geist hat Ideen [. . . ], aus denen er [. . . ] sich selbst und seinen eigenen Körper und [. . . ] äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt; mithin hat er [. . . ] eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes.« Letztendlich bezieht sich die Fähigkeit zu rationaler Erkenntnis damit auf die Interaktion der Körper, die sich gegenseitig affizieren und deren Gemeinsamkeiten in ihren Verbindungen und im Blick auf das Ganze erkennbar werden. Die Fähigkeit zu dieser Form der Erkenntnis entwickelt sich also erst in den Affektionszusammenhängen, die das menschliche Individuum und seine Erfahrung prägen. Dabei muss es adäquate Ideen von anderen Körpern bilden können und darf nicht nur von der inadäquaten Weise der Erkenntnis des eigenen Körpers bestimmt sein.

Auf diese Form des »parallélisme intra-cogitatif« weist auch Gueroult hin. Vgl. Martial Gueroult, Spinoza II. L’âme, Paris 1974, S. 68. Vgl. auch Christof Ellsiepen, »Die Erkenntnisarten«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 133–150, hier: S. 139 f. 220 Beth Lord fasst die Verbindung von imaginatio und ratio präzise zusammen: »Every human being has both kinds of knowledge, in differing degrees. It is impossible to be the wholly imaginative, since every mind truly understands the very basic properties of extension [. . . ]; and it is impossible to be wholly rational, since every mind is a finite mode that necessarily interacts with others. Each person’s mind, or activity of thinking, is always in some position on a continuum of imagination and reason [. . . ].« Beth Lord, Spinoza’s Ethics, Edinburgh 2010, S. 81. 221 Zur paradoxen Bedeutung des Irrtums und seiner Bewältigung in der zweiten Erkenntnisart vgl. Yirmiyahu Yovel, »The Second Kind of Knowledge and the Removal of Error«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind, Leiden 1994, S. 93–110. Zur Paradoxie des Irrtums auch: Wim Klever, »The Truth of Error: A Spinozistic Paradox«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind, Leiden 1994, S. 111–127. 219

Drei Arten der Erkenntnis

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Scientia intuitiva

Die dritte Gattung der Erkenntnis ist die intuitive Erkenntnis, die scientia intuitiva, die von der Erkenntnis der Attribute Gottes zur Erkenntnis der Dinge selbst übergeht und ihr Wissen aus dem umfassenden Gesamtzusammenhang immanenter Kausalität herleiten kann. Durch diese dritte Erkenntnisform können Vorstellungen und Ideen abgeleitet und Ursachen in Wirkungen erkannt werden, sie erschließt Zusammenhänge und in ihr verbinden sich die einzelnen Dinge (res particulares) zu einem intelligiblen Gesamtzusammenhang. In der scientia intuitiva ist die Erkenntnis der Einzeldinge eine Erkenntnis Gottes in den Modi und je adäquater die einzelnen Modi erfasst werden, desto adäquater ist die Erkenntnis Gottes und damit einhergehend die Freiheit des Individuums in der Natur. In der Erkenntnistheorie des zweiten Teils der Ethica wird die scientia intuitiva lediglich angedeutet, da sie sich erst aus dem weiteren Argumentationsverlauf bis zum Ende ergibt. Sie hat mit der Vollkommenheit zu tun, die durch die umfassende Erkenntnis der Ewigkeit Gottes und der Natur erreicht werden und das menschliche Individuum zur Freiheit führen kann. 222 Im Durchgang durch die drei Arten der Erkenntnis kann das Individuum in der dritten Erkenntnisgattung zu einer vollkommenen Erfahrung seiner Individualität gelangen, indem es die Dinge aufnimmt und damit zu einer Idee seiner selbst im Gesamtzusammenhang des Ganzen gelangt. »Dieser dritten Erkenntnisgattung entspringt die höchste Zufriedenheit des Geistes, die es geben kann« (E5p27). Und sie stellt gleichzeitig die höchste Tugend dar, denn möglichst viele Dinge in der dritten Erkenntnisgattung einzusehen, steigert die Tugend des Geistes und die Individuation im Sinne einer Selbstentfaltung in der Natur des Ganzen. »Wer mithin Dinge in dieser Erkenntnisgattung erkennt, geht zu der größten menschlichen Vollkommenheit über und wird folglich [. . . ] mit der größten Freude affiziert und das [. . . ] unter Begleitung der Idee seiner selbst und seiner Tugend« (E5p27dem). Die größte menschliche Vollkommenheit (summa humana perfectio) ereignet sich also als ein Affekt der größten Freude (summa laetitia) des Menschen angesichts der Idee seiner selbst und seiner Tugenden. Sie ist der Kulminationspunkt der Individuation und läuft gerade nicht auf eine Aufhebung der Macht der Affekte durch die ErkenntHegel bringt diese vollkommene Einsicht in der scientia intuitiva auf den Punkt, wenn er schreibt: »Nichtig ist der Vorwurf, daß Spinozas Philosophie die Moral töte; man gewinnt ja aus ihr das hohe Resultat, daß alles Sinnliche nur Beschränkung und nur eine wahrhafte Substanz ist und daß darin die Freiheit des Menschen besteht, sich zu richten auf die eine Substanz und nach dem ewigen Einen in seiner Gesinnung und seinem Wollen sich zu richten.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 196. (Vgl. auch die ausführlichere Auseinandersetzung mit Hegels Spinoza-Interpretation in Abschnitt I.3 des dritten Teils.) 222

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Immanente Erkenntnistheorie

nis hinaus, sondern paradoxerweise auf die Aufhebung der Individualität in der Erkenntnis der Ewigkeit Gottes als eines Gemeinbegriffs des Individuums, d. h. als eines Gemeinbegriffs, den das Individuum auf der dritten Stufe der Erkenntnis intuitiv zu bilden vermag. 223 Spinozas Theorie der Gemeinbegriffe ist ein elementarer Bestandteil seiner Theorie immanenter Individuation, denn sie dreht sich um die Frage, wie überhaupt zu adäquaten Ideen zu gelangen ist und wie sich das einzelne Individuum in ein Verhältnis zum Ganzen zu setzen vermag.

III.6 Theorie der Gemeinbegriffe

Die Theorie der Gemeinbegriffe bildet einen wesentlichen Bestandteil des zweiten Teils der Ethica und steht ebenfalls im Zusammenhang der Erörterung dessen, »was aus der Essenz Gottes, d. h. des ewigen und unendlichen Seienden« (E2praef) folgt und was uns zur »Erkenntnis des menschlichen Geistes und seiner höchsten Glückseligkeit, gleichsam an der Hand leiten kann« (E2praef). Sie dreht sich um die Erkenntnisfähigkeit des Individuums, denn obwohl Spinoza zum Ende des ersten Teils der Ethica lediglich feststellen konnte, dass das menschliche Individuum aus der unendlichen Substanz folgt, reduziert er es nicht darauf, ein notwendiger Modus der Substanz zu sein. Ihm ist vielmehr etwas eigen, das die reine Notwendigkeit überschreitet: Es ist die Fähigkeit zur Bildung von Gemeinbegriffen, also von notiones communes, die es dem Menschen erlaubt, sich im Zusammenhang des Ganzen zu erkennen und sich mit anderen Individuen zu verbinden, um so seine Handlungsmacht zu steigern. Die Theorie der Gemeinbegriffe lässt sich in einer theoretischen und einer praktischen Perspektive entfalten, und sie ist ein wichtiges Beispiel für die Verschränkung von theoretischer und praktischer Philosophie im Denken Spinozas.

notiones communes

Die notiones communes sind in das ontologisch-erkenntnistheoretische System eingebaut und auf die Voraussetzungen zurückzuführen, die Spinoza im ersten 223 Auch die dritte Stufe der Erkenntnis wird von Althusser einer sozialtheoretischen Wendung unterzogen, um in ihr die Möglichkeit eines jeden menschlichen Individuums nachzuweisen, von seiner imaginären Lebenswelt zur universalen scientia intuitiva zu gelangen. Vgl. Louis Althusser, »The Only Materialist Tradition, Part I: Spinoza«, in: Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza. Minneapolis 1997, S. 2–18, besonders S. 6 f.

Theorie der Gemeinbegriffe

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und zweiten Teil der Ethica darlegt. So ergibt sich aus der Ontologie des ersten Teils, dass wir unseren Geist und unseren Körper nur durch die Attribute des Denkens und der Ausdehnung erkennen können. Für seine gedankliche Existenz braucht das menschliche Individuum das Denken, ebenso wie es für seine sinnliche Existenz die Ausdehnung braucht. Eingelassen in den Gesamtzusammenhang der Substanz und ihrer Attribute sind Körper und Geist des menschlichen Individuums somit Formen der Ausdehnung und des Denkens. Aus ihrer Einbindung in den Gesamtzusammenhang des Ganzen der Substanz ergibt sich, dass es einen einzelnen Geist ebenso wenig geben kann wie einen einzelnen Körper und dass Geist und Körper gleichermaßen auf die Attribute und damit auf das Ganze der Substanz zurückzuführen sind. Das Denken ist also an die Ideen gebunden, die dem Individuum durch die Affektionen des Körpers zukommen und erst unter der Bedingung dieser Affizierbarkeit des Körpers bildet sich ein Individuum. Für die Theoriearchitektur bedeutet das, dass die ontologische Theorie des Körpers und seiner Affizierbarkeit in die Theorie des Geistes und die Erkenntnistheorie eingelassen ist. 224 Erst aus den Affektionen des Körpers ergeben sich die Ideen des menschlichen Geistes, und dabei sind die Erkenntnisfähigkeit und der adäquate Bezug des Denkens auf die ausgedehnten Dinge nicht allein aus der Parallelität des Denkens und der Ausdehnung herzuleiten. Die Ideen, die sich aus den Affektionen des Körpers ergeben, erscheinen dem menschlichen Geist nicht einfach aufgrund der Gleichursprünglichkeit der Attribute des Denkens und der Ausdehnung, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, die immanente Kausalität des Ganzen adäquat zu erkennen und daraus Gemeinbegriffe herzuleiten. Dabei ist eine vollumfänglich adäquate Idee eine Idee, die ohne äußeren Bezug wahr ist, d. h., eine durch und durch adäquate Idee kann nur Gottes Aktivität des Denkens sein, denn nur die auf Gott und damit auf das Ganze der Natur bezogenen Ideen sind für Spinoza wahr. Gottes unendlicher Verstand ist das intelligible Ganze der Natur, und dieser göttliche Verstand ist adäquat, während der endliche Verstand der menschlichen Individuen immer nur Teile des Ganzen erkennen kann und daher weitgehend inadäquat ist. Mit der Unterscheidung adäquater und inadäquater Ideen führt Spinoza eine Perspektivierung zwischen der vollen Erkenntnis der Unendlichkeit Gottes und der partialen Erkenntnis endlicher Modi ein, die unter dem Einfluss der Affektionen ihres Körpers stehen. Adäquat ist das Denken in seiner Fähigkeit, Zusammenhänge der immanenten Kausalität auf je adäquate Weise zu erkennen, Deutlich wird diese Zusammenführung der Erkenntnis mit der Bedingung des Körpers als Ausdehnung bereits in den Axiomen des zweiten Teils, etwa in E2a4 als Konsequenz aus E2a2 und E2a3. »Wir empfinden einen Körper, der auf vielfache Weise affiziert wird.« 224

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Immanente Erkenntnistheorie

und sind die Gesetze der Kausalität in dieser Weise erkannt, ist es auch möglich, sie in ihrer Unendlichkeit zu begreifen und damit die Ewigkeit Gottes zu sehen und zur Erkenntnis sub specie aeternitatis zu gelangen. Die Grundlage der Erkenntnisfähigkeit ist also die gemeinsame Essenz der Körper im immanenten Affektionszusammenhang der Natur, und dabei sind es die äußeren Affektionen, durch die der Körper in immer neue Verbindungen gestellt, geschwächt oder gestärkt und auf unendlich viele Weisen bestimmt wird. Für Spinoza ist klar, dass die Menschen die wahren Ursachen ihres Handelns zumeist nicht kennen, und ihre Unfreiheit besteht für ihn in der mangelnden Erkenntnis der Zusammenhänge der Natur. Adäquate Erkenntnis zu erreichen, bedeutet daher, sich selbst als ausgedehnten Körper in den kausalen Verbindungen und Zusammenhängen zu erkennen, die den Affektionszusammenhang der Natur und seine immanente Kausalität durchziehen. In der ontologischen Ordnung der Attribute bleiben der menschliche Geist und die menschliche Erkenntnisfähigkeit stets an ihre körperliche und damit endliche Existenz gebunden, und insofern bildet die Affizierbarkeit des endlichen Körpers eine vorauszusetzende Bedingung des Denkens und der Ideenbildung. 225 Aus den dargestellten Bedingungen der Möglichkeit adäquater Erkenntnis leitet Spinoza die Theorie der Gemeinbegriffe ab, die im engeren Sinne als ein Teil der Erkenntnistheorie und der Bestimmung der Erkenntnisarten in den Lehrsätzen 37 bis 42 des zweiten Teils der Ethica entwickelt wird. 226 Es gibt Merkmale, so wird hier betont, »die allen Dingen gemeinsam sind und die gleichermaßen im Teil wie im Ganzen sind« (E2p38) und daher adäquat begriffen werden können. Gemeinbegriffe sind adäquate Ideen, denn sie vergegenwärtigen eine solchermaßen zusammengesetzte Einheit im Teil wie im Ganzen und müssen adäquat begriffen werden, weil sie den holistischen Zusammenhang Auf diese Weise bestimmt Spinoza auch die Erinnerung und das Erinnerungsvermögen, denn Erinnerungen sind Ideen von Affektionen des menschlichen Körpers, die dessen eigene Natur und die der anderen Dinge einschließen (vgl. z. B. E2p18). 226 Allerdings führt Spinoza bereits in Lehrsatz 29 des zweiten Teils eine Unterscheidung der Wahrnehmung nach ›innen‹ und ›außen‹ ein, durch die die Theorie der Gemeinbegriffe gewissermaßen vorbereitet wird. Er erklärt, »daß der Geist weder von sich selbst, noch von seinem eigenen Körper, noch von äußeren Körpern eine adäquate, sondern nur eine verworrene [. . . ] Erkenntnis hat, sooft er Dinge von der gemeinsamen Ordnung der Natur her wahrnimmt, d. h. so oft er von außen, nämlich von der zufälligen Begegnung mit Dingen her bestimmt wird, dieses oder jenes zu betrachten, nicht aber, sooft er von innen, nämlich dadurch, daß er mehrere Dinge zugleich betrachtet, bestimmt wird, an ihnen Übereinstimmungen, Unterschiede und Gegensätze einzusehen; wenn er nämlich [. . . ] von innen her disponiert ist, dann betrachtet er Dinge klar und deutlich« (E2p29s). Die Erkenntnis, die den äußeren zufälligen Affektionen untersteht, kann also nur inadäquat sein, während die adäquate Erkenntnis, die hier als interne bestimmt wird, mehrere Dinge zugleich in ihren Übereinstimmungen, Unterschieden und Gegensätzen einsehen und also Gemeinbegriffe bilden kann. 225

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solcher Einheiten vergegenwärtigen. Gibt es also etwas, »das allen Körpern gemeinsam ist und das gleichermaßen in dem Teil eines jeden Körpers wie in dem Ganzen ist« (E2p38dem), so muss es adäquat begriffen werden, denn »dessen Idee wird notwendigerweise in Gott adäquat sein, sowohl insofern er die Idee des menschlichen Körpers, als auch insofern er die Ideen von dessen Affektionen hat« (E2p38dem). Wie bereits deutlich geworden ist, spielt die Definition der Affekte, wie Spinoza sie zu Beginn des dritten Teils der Ethica anführt, schon für die Erkenntnistheorie und für die Theorie der Gemeinbegriffe eine entscheidende Rolle. Sie soll an dieser Stelle kurz vorweggenommen werden: »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers (corporis agendi potentia) vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen« (E3d3). Es geht hier also nicht nur um die Affektionen des Körpers, sondern um das Zusammenspiel von Ideen und Affektionen, denn die Ideen gehen aus den Affektionen des Körpers hervor und stehen insofern stets in der doppelten Wirklichkeit des Denkens und der Ausdehnung. Da Affektionen sich erst aus der Interaktion verschiedener Modi ergeben, explizieren sie sich auch erst im Zusammentreffen verschiedener Modi. Dabei hängt ihr aktiver oder ihr passiver Charakter je von der Adäquatheit der Idee ab, die den Vorgang der Affektion begleitet. Bleibt die Idee des affizierenden Körpers inadäquat und verworren, dann erleben wir Affekte als Leidenschaften; ist die Idee des affizierenden Körpers adäquat und drückt diesen unmittelbar aus, so stellt sich eine Übereinkunft unseres Körpers mit dem affizierenden Körper ein und aus der adäquaten Erkenntnis entstehen Gemeinbegriffe. Die Ideen der Affektionen des menschlichen Körpers schließen dessen eigene Natur wie auch die Natur der äußeren, affizierenden Körper ein und daraus folgt für Spinoza, »daß es einige Ideen oder Begriffe gibt, die allen Menschen gemeinsam sind« (E2p38c). In E2p39 wird weiter ausgeführt: »Was dem menschlichen Körper und einigen äußeren Körpern, von denen der menschliche Körper gewöhnlich affiziert wird, gemeinsam und eigentümlich ist [commune est et proprium] und was gleichermaßen in dem Teil eines jeden dieser äußeren Körper wie im Ganzen ist, auch dessen Idee wird im Geist adäquat sein« (E2p39). Als Formen der Erkenntnis können die Gemeinbegriffe von der zweiten in die dritte Erkenntnisart übergehen und damit zur Idee Gottes führen; das heißt auch, dass der Mensch, bevor er Gott überhaupt erkennt, bereits ein Teil der unendlichen Essenz Gottes und ein Teil seines unendlichen Verstandes ist. Die Gemeinbegriffe bilden die Grundlage unserer Schlüsse und Herleitungen (fundamenta explicui) und sie sind adäquat, weil sie letztlich Gott zur Ursache haben, der die Essenz des menschlichen Geistes ausmacht (vgl. E2p40dem). Spinozas Erkenntnistheorie dreht sich, wie nun deutlich geworden ist, in

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letzter Instanz um die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes, also um die Möglichkeit der Erkenntnis der Natur als Ganzes. 227 Diesem Problem widmet er sich auch in einem Brief an Heinrich Oldenburg, in dem es um die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen der Natur und seiner Teile und um die Gründe geht, die uns davon überzeugen, »daß jeder Teil der Natur mit seinem Ganzen übereinstimmt und mit dem Übrigen zusammenhängt« (Ep 32:147). 228 Spinoza betont hier, dass es ihm unmöglich sei, zu wissen, wie die einzelnen Teile der Natur wirklich zusammenhängen und inwiefern sie mit dem Ganzen übereinstimmen, denn um das zu wissen, müsse er die gesamte Natur und alle ihre Teile kennen. Er betrachte die Dinge »insofern als Teile eines Ganzen, als ihre Natur sich wechselseitig so aneinander anpasst, daß sie soweit wie möglich unter einander übereinstimmen« (Ep 32:146). Gleichwohl aber seien die Dinge verschieden voneinander; jeder betrachte sie jeweils als ein Ganzes und bilde sich daher eine andere Idee von ihnen. Wie etwa im Falle des Blutes, dessen Teile so aneinander angepasst seien, dass sie als Ganzes eine Flüssigkeit ergeben, das zugleich aber in seinen Teilen so verschieden sei, dass seine Teile je als Ganzes und nicht als Teil der Flüssigkeit gesehen werden könnten (vgl. Ep 32). In der Weise, in der Spinoza hier das Blut beschreibt, können auch die Körper begriffen werden, denn Körper sind verschieden voneinander und je als Teil wie auch als Ganzes wahrnehmbar. So steht ein jeder Körper zugleich für sich, im Zusammenhang zu anderen Körpern und im Zusammenhang des Ganzen. In diesem Sinne ist auch der Geist für Spinoza ein Teil der Natur und so wie es unendliche Variationen der Ausdehnung gibt, gibt es auch unendliche Variationen des Denkens in der Natur. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie wir überhaupt zu adäquaten Ideen gelangen, wenn doch die Erkenntnis permanent durch von außen kommende Affektionen beeinflusst wird. Für Spinoza ist klar, dass wir ein Vermögen zur Erkenntnis haben, allein insofern wir ein Teil der absoluten Vermögen Gottes sind. Was den Teilen und dem Ganzen gemeinsam ist, gibt uns eine adäquate Idee Gottes, eine Idee, die adäquat ist, nicht weil sie Gott als Ganzes Zur Theorie der Gemeinbegriffe und das Verhältnis von Teilen und Ganzem vgl. auch: Francis Amann, Ganzes und Teil. Wahrheit und Erkennen bei Spinoza, Würzburg 2000, S. 202 ff. Spinozas Erkenntnistheorie ist auch eine Theorie der Ausweitung des Körpers und des Geistes in die Natur wie in Gott, und insofern stellt sie das Verhältnis von Teilen und Ganzem auch am Menschen dar. Vgl. zur Erkenntnis als Erkenntnis von Teilen und Ganzem in der Natur den Beitrag von Guttorm Fløistad, »Spinoza’s Theory of Knowledge and the Part-Whole Structure of Nature«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind, Leiden 1994, S. 37–47. 228 Dieser Brief an Heinrich Oldenburg ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Bestimmung immanenter Individuation als eines reflexiven Verhältnisses des Ganzen und seiner Teile. In ihm wird exemplarisch deutlich, dass es hier nur um einen ontologisch offenen und weichen Begriff von Individualität gehen kann. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Abschnitt 1.2 des dritten Teils. 227

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abbilden würde, sondern weil sie in den Teilen und im Ganzen zugleich ist. »Deshalb ist das was Erkenntnis einer ewigen und unendlichen Essenz Gottes verschafft, allen Dingen gemeinsam und gleichermaßen im Teil wie im Ganzen« (E2p46dem). 229 Zwar ist die Idee Gottes selbst kein Gemeinbegriff, da sie im Hintergrund der sich zusammensetzenden und sich zersetzenden Verhältnisse steht, aber diese Zusammensetzung nicht selbst darstellt. Sie führt aber von der zweiten auf die dritte Erkenntnisstufe, da sie sowohl eine an den Gemeinbegriffen wie auch eine an der ewigen und unendlichen Essenz Gottes orientierte Seite hat. Die Idee Gottes gehört der dritten Erkenntnisform an, weil sie die Gemeinbegriffe impliziert, in denen sich die Essenz Gottes expliziert. 230 Gleichwohl aber haben die Menschen von Gott keine so klare Vorstellung wie von anderen Gemeinbegriffen, was daran liegt, dass sie Gott nicht vorstellen können und dass sie den Begriff Gottes nur mit gewohnten und bereits bekannten Vorstellungsbildern verknüpfen (vgl. dazu E2p47s). Eine Idee Gottes umfasst diesen nie als Ganzes und daher muss es für Spinoza Gemeinbegriffe geben, durch die Gott als das Verhältnis der Teile und des Ganzen vergegenwärtigt wird und die die Idee Gottes als wirkende Macht zum Ausdruck bringen. Gemeinbegriffe zeigen also im Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen die Idee Gottes an und sind dadurch adäquat, dass sie im Einzelnen das Ganze und im Ganzen das Einzelne erkennen lassen. 231 In seiner Erklärung der unterschiedlichen Begriffsbildungen führt Spinoza auch die notiones universales an, die aus der begrenzten Fähigkeit des Körpers entstehen, viele Vorstellungsbilder auf einmal zu bilden. Die allgemeinen Begriffe wie Pferd, Hund usw. beinhalten so viele Vorstellungsbilder, dass die 229 Im TTP führt Spinoza diesen Zusammenhang der Erkenntnis Gottes und der Gemeinbegriffe weiter aus: »Weil Gottes Existenz nicht durch sich selbst bekannt ist, muß sie notwendigerweise aus Begriffen geschlossen werden, deren Wahrheit so fest und unerschütterlich ist, daß keine Macht existieren und begriffen werden kann, von der sie verändert werden könnten« (TTP 6: 6). Spinoza verweist weiter auf eine Anmerkung, die diese Ausführung noch ergänzt. »Um aber die Natur Gottes klar und deutlich erfassen zu können, ist es nötig, an bestimmte sehr einfache Begriffe zu denken, die man Gemeinbegriffe nennt, und mit ihnen diejenigen, die der göttlichen Natur zukommen, zu verknüpfen« (TTP Anmerkung 6). Die hier bestimmte Unerschütterlichkeit der Gemeinbegriffe steht nicht im Widerspruch zur Annahme ihrer dynamischen Anpassung an plurale und wandelbare Verhältnisse, denn unerschütterlich ist ihre Wahrheit im Sinne einer mehr oder weniger adäquaten Idee, die je in ihrer Adäquatheit, aber nie als Ganzes wahr ist. 230 Wenn hier von der Essenz Gottes die Rede ist, ist damit die ewige und unendliche essentia gemeint, die Gott, aus unendlich vielen Attributen bestehend, ausdrückt und die nicht in den Gemeinbegriffen, sondern vielmehr erst auf der dritten Erkenntnisstufe aufscheint (vgl. dazu E1d6). 231 Deleuze sieht in dieser Darstellung der Gemeinbegriffe eine Kritik der Repräsentation Gottes, da wir Gott in den Gemeinbegriffen unmittelbar erkennen könnten, d. h. ohne Repräsentationen oder auch Analogien, sondern in der durch Gemeinbegriffe vermittelten adäquaten Erkenntnis, wie z. B. im Begriff der Natur, wo wir den Ausdruck Gottes als diesen selbst erkennen. Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S. 128 und auch 249.

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Vorstellungskraft überstiegen wird, der Geist die Unterschiede zwischen den vorgestellten Körpern nicht mehr erkennt und nur das aufnimmt, worin sie übereinstimmen und wodurch der eigene Körper am stärksten affiziert wird. 232 Auf diese Weise bildet sich für Spinoza übrigens auch der Begriff des Menschen heraus, der unendlich viele Einzelmenschen bestimmt, aber deren Unterschiedlichkeit in einem Bild des Menschen nivelliert, das durch die Affektionen und die daraus entstehenden Ideen geprägt ist. 233 Und auch die termini transcendentales, Begriffe wie »Seiendes«, »Ding«, »Etwas« usw., also die Begriffe der Philosophie, haben ihren Ursprung darin, dass der Körper des menschlichen Individuums beschränkt und nicht imstande ist, verschiedene Vorstellungsbilder auf einmal zu bilden, ohne sie zu verwirren: »Begriffe dieser Art geben Ideen zu erkennen, die in höchstem Maß verworren sind« (E2p40s1). Der Geist kann sich also gerade so viele Körper deutlich vorstellen, wie sich Vorstellungsbilder in seinem eigenen Körper bilden können. Gemeinbegriffe sind für Spinoza nicht Allgemeinbegriffe oder universelle Begriffe, die entstehen, weil der Geist eine Verallgemeinerung der verschiedenen einzelnen Dinge vornimmt (vgl. ebenfalls E2p40s1). Vielmehr vergegenwärtigen sie, was verschiedene Körper teilen und wodurch sich Verbindungen zwischen ihnen herstellen lassen, und zwar je mit Bezug auf ihre aktualisierte Existenz, die in unterschiedlichen Verbindungen zu unterschiedlichen Einheiten werden kann. Insofern der Körper etwas mit anderen Körpern gemeinsam hat, wird die Idee dieser Gemeinsamkeit verstärkt und der Geist kommt zu adäquaten Ideen. Dabei findet die Bildung von Gemeinbegriffen auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt, und die am wenigsten allgemeinen Gemeinbegriffe sind die, die etwas Gemeinsames zwischen zwei Körpern vergegenwärtigen, das diese positiv affiziert und zu ihrer Aktivität und ihrer Nützlichkeit füreinander führt. Von hier aus lassen sich allgemeinere Gemeinbegriffe bilden, die vergegenwärtigen, was mehreren Körpern gemeinsam ist, auch wenn es zwischen ihnen andere Dinge gibt, die nicht übereinstimmen oder einander entgegengesetzt sind. Auch bei verschiedenen Körpern, die sich stark unterscheiden, kann es eine Gleichartigkeit in ihrer Zusammensetzung unter einem allgemeineren Gesichtspunkt geben, der in letzter Instanz die Natur ist. Die Affektion des Körpers wird also zur Grundlage der Ideenbildung, und so bestimmt Spinoza auch andere Formen des Denkens wie z. B. die Erinnerung von den Affektionen her: »Erinnerung ist nämlich nichts anderes als eine gewisse Verkettung von Ideen, die die Natur von Dingen, die außerhalb des menschlichen Körpers sind, in sich schließen, eine Verkettung, die in dem Geist gemäß der Ordnung und Verkettung der Affektionen des menschlichen Körpers geschieht. [. . . ] in Wirklichkeit sind es nämlich [. . . ] Ideen von Affektionen des menschlichen Körpers, die dessen eigene Natur ebenso in sich schließen wie die äußerer Körper« (E2p18s). 233 Vgl. zum Begriff des Menschen als einem Gemeinbegriff auch Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S. 247. 232

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Der Begriff der Natur ist daher ein Gemeinbegriff des Zusammenhangs der Dinge und ein Gemeinbegriff dessen, worin die Dinge übereinkommen, d. h. eine veränderbare Zusammensetzung von Verhältnissen, die je das Gemeinsame zwischen allen Körpern und gewissen Körpern ausdrückt. 234 Aber auch das Attribut der Ausdehnung ist im weiteren Sinne ein Gemeinbegriff, denn es erfasst die Form verschiedener Körper in sich, so wie der Begriff der Essenz die Form der Ausdehnung verschiedener Körper erfasst. Als ein Gemeinbegriff ist der Begriff der Ausdehnung nicht im Sinne einer ursprünglichen Wesenheit der Modi zu verstehen, sondern als eine Implikation der Substanz, die sich als Ausdehnung expliziert, und der Modi, die die Ausdehnung impliziert. 235 Spinozas Theorie der Gemeinbegriffe lässt sich strikt antiessentialistisch interpretieren, denn die in ihr aufgezeigte Bildung von Einheiten verschiedener Modi verläuft nicht in Rückführung auf eine Bestimmung ihres Wesens, sondern richtet sich nach deren jeweiliger Aktualisierung und überführt die Modi in ihrer je aktuellen Form in verschiedene Zusammenhänge. Es wird also deutlich, dass Spinoza unter Gemeinbegriffen die Idee dessen erfasst, worin verschiedene Modi miteinander übereinstimmen, aber diese Übereinstimmung wird nicht im Rekurs auf ein gemeinsames Wesen oder einen gemeinsamen Ursprung erfasst, sondern in der dynamischen Verbindung ihrer pluralen Formen nach verschiedenen Aspekten. Gemeinbegriffe vergegenwärtigen also, was zugleich im Teil wie im Ganzen ist, ohne sich dabei auf die Essenz eines Einzeldings zu beziehen, denn, wie Spinoza in Lehrsatz 37 des zweiten Teils festhält, was »allen Dingen gemeinsam ist [. . . ] und was gleichermaßen in einem Teil wie in dem Ganzen ist, macht nicht die Essenz eines Einzeldinges aus« (E2p37). Es wird also deutlich, dass Spinoza unter Gemeinbegriffen die Idee dessen erfasst, worin Dinge miteinander übereinstimmen, aber nicht um sie auf ein gemeinsames Wesen zurückzuführen und sie in einem gemeinsamen Ursprung zu verdinglichen, sondern um die Mannigfaltigkeit ihrer Formen als Pluralität Vgl. auch die Bestimmung der Natur in der Interpretation der Gemeinbegriffe bei Deleuze: »Die Natur jedoch nimmt in der Ethik eine privilegierte Stellung ein: diese Zusammensetzung von Verhältnissen oder diese veränderbare Zusammensetzungseinheit, die zeigen wird, was es an Gemeinsamem gibt zwischen allen Körpern, zwischen einer gewissen Zahl oder einer gewissen Art von Körpern, zwischen solchen und solchen Körpern . . . Die Gemeinbegriffe – das ist immer die Idee dessen, worin die Körper übereinstimmen: sie stimmen in diesen oder jenen Verhältnissen überein, indem sich das Verhältnis zwischen mehr oder wenigeren Körpern vollzieht. Es gibt in diesem Sinn wohl eine Naturordnung, da sich nicht jedes Verhältnis mit jedem anderen Verhältnis zusammensetzt: es gibt eine Zusammensetzungsordnung der Verhältnisse [ordre de composition de rapport], von den universalsten Gemeinbegriffen bis zu den am wenigsten universalen und umgekehrt.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 151. 235 Vgl. dazu auch Deleuze, für den das Attribut der Ausdehnung eine Form ist, »die der Substanz, deren Wesenheit es konstituiert, und allen möglichen Körpern, deren Wesenheiten es einschließt, gemeinsam ist.« Ebd. 234

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zu verstehen, ohne dabei Abweichungen graduell als größere oder geringere Entsprechung zu einer ursprünglichen Substanz zu qualifizieren. Insofern kann von einer nominalistischen Handhabung der Gemeinbegriffe die Rede sein, d. h., sie dienen einer nominalen Bestimmung heterogener Entitäten zu einer Einheit. Ihr nominale Funktion ist dynamisch, denn das durch sie unter einen Gemeinbegriff Gebrachte verbindet sich nicht in einer Verallgemeinerung oder einem gemeinsamen Ursprung, sondern erst mit dem flexiblen Gebrauch seiner Benennung. 236 Im Gemeinbegriff vergegenwärtigen sich mithin Zusammensetzungen verschiedener Körper unter einem Begriff, wobei der nominalistische Charakter der Gemeinbegriffe nicht bedeutet, dass ihre Einheiten nicht existierten. Nominale Gemeinbegriffe vergegenwärtigen vielmehr variable Konstellationen in realen Verhältnissen existierender Individuen. 237 Wichtig ist dabei, dass Spinoza die Gemeinbegriffe aus der Annahme herleitet, dass die Körper in vielem übereinkommen, »das, so schreibt er, von allen adäquat, also klar und deutlich wahrgenommen werden muß« (E2p38c). Was dem eigenen Körper und den Körpern, die ihn affizieren, gemeinsam ist und was in jedem einzelnen Körper wie im Ganzen aller Körper ist, dessen Idee ist adäquat durch den Geist erkennbar. Es sind die äußeren Affektionen des Körpers, die zu Ideen und Vorstellungen führen und so ist die Erkenntnis des Geistes immer an eine Idee des Körpers gebunden. Dementsprechend muss das Individuum sich als Körper verstehen, sich im Körper orientieren, um andere Körper und ihre Ideen adäquat erkennen und überhaupt zu adäquater

236 Im Kontext einer historischen Ontologie spricht Ian Hacking von einem dynamischen Nominalismus bzw. kennzeichnet sich selbst als »dynamic nominalist«, dem es um die Frage geht, »how our practices of naming interact with the things that we name«. »I have called this process dynamic nominalism, because it so strongly connects what comes into existence with the historical dynamics of naming and the subsequent use of name.« Ian Hacking, Historical Ontology, Cambridge, MA 2002, S. 2 und 26. Es geht Hacking um die Konstitution von Existenzformen und Handlungsmöglichkeiten durch Begriffe und um die historisch-dynamische Kategorisierung dessen, was wir als existierend begreifen. Das Projekt einer historischen Ontologie und der dynamische Nominalismus richten sich an der Vermutung aus, dass die Philosophie ein Möglichkeitsraum von Ideen ist. In diesem Sinne hebt auch Deleuze immer wieder auf die Begriffsarbeit als Aufgabe der Philosophie ab und kennzeichnet die Philosophie als die Disziplin, »die in der Erschaffung von Begriffen besteht«. Gilles Deleuze, Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 1996, S. 9. Versteht man Spinozas Theorie der Gemeinbegriffe nun ausgehend von einer solchen hervorbringenden Funktion der Begriffsbildung, so wird ihr praktischer und affirmativer Charakter deutlich. Im Anschluss daran ließe sich ein strategischer Umgang mit den Gemeinbegriffen auch politisch begreifen, also ausgehend von der Wirkung nominaler Begriffe als Konstitutionskräfte im Raum des Politischen. 237 Deleuze hält fest: »Kurzum, der Gemeinbegriff ist die Vergegenwärtigung einer Zusammensetzung zweier oder mehrerer Körper und einer Einheit dieser Zusammensetzung.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 94 ff.

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Erkenntnis gelangen zu können. 238 Die Frage der adäquaten Erkenntnis wird also bemerkenswerterweise insgesamt im Feld der Körper angesiedelt, und Spinoza macht die Orientierung im eigenen Körper und im Umgang mit den Affektionen zur Bedingung für die Bildung der notiones communes.

Praxis der Gemeinbegriffe

Die Theorie der Gemeinbegriffe ist nach all dem bisher Gesagten nicht nur eine erkenntnistheoretische Angelegenheit, sondern sie ist eine Theorie der Erkenntnis des Körpers und seiner pluralen Affektionen. 239 Während die an Descartes' Physik angelehnte geometrische Theorie der Körper, die Spinoza interessanterweise ebenfalls im Rahmen der Erkenntnistheorie entfaltet, die Verhältnisbildung allgemeiner Körper erfasst, geht die Theorie der Gemeinbegriffe darüber hinaus und erlaubt es, die Bildung von Ideen von den Verhältnissen der Körper und ihrer gegenseitigen Affektion her zu verstehen. Die Affizierbarkeit des Körpers wird noch einmal hervorgehoben, wenn Spinoza folgert, »daß der Geist umso fähiger ist, mehr Dinge adäquat wahrzunehmen, je mehr Eigentümlichkeiten sein Körper mit anderen Körpern gemeinsam hat« (E2p39c). Aus dieser Gemeinsamkeit der Körper und den mit solchen Gemeinsamkeiten verbundenen Ideen ergeben sich die Gemeinbegriffe, und erst mit der Bildung von Gemeinbegriffen ergibt sich adäquate Erkenntnis. Es lässt sich also festhalten, dass die Bildung von Gemeinbegriffen ein Schritt zur adäquaten Erkenntnis ist, weil in den Gemeinbegriffen adäquate Ideen der sich zusammen- und 238 Auch Bartuschat hebt sehr deutlich auf die notiones communes als Erkenntnis des Körpers und seiner Affektionen ab und siedelt die Frage adäquater Erkenntnis »im Feld der Körper« an, wo die ratio ihre »Domäne« habe. Für Bartuschat ist die Möglichkeit von Freiheit daran gebunden, sich im Körper und als Körper orientieren und Ideen von anderen Körpern und ihren Affektionen im Sinne der notiones communes bilden zu können. »Körper können rational erfaßt werden, sofern an ihnen ein Allgemeines begriffen wird, dessen Ideen adäquat sind. Die Idee, die der menschliche Geist ist, kann aber nicht in dieser Weise begriffen werden, weil sie ein Singuläres ist, das, unter ein Allgemeines gebracht, gerade nicht adäquat erfaßt wäre.« Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 113 f. 239 Filippo Del Lucchese diskutiert den Zusammenhang zwischen der dritten Erkenntnisart und der Bildung von Gemeinbegriffen und überträgt diese Erkenntnisfunktionen auf die Bedingung pluraler Kollektivität, wie Spinoza sie dann vor allem im vierten Teil der Ethica (z. B. E4p37s2) und im zweiten Teil des Tractatus politicus diskutiert. Er fragt, ob die kollektiven Dimensionen des menschlichen Lebens und die damit verbundenen politischen Entscheidungsprozesse notwendig an die dritte Erkenntnisart gebunden sind und benennt damit nach meiner Einschätzung, das, was Spinoza mit den notiones communes wollte, nämlich rationale Zusammenhänge erkennbar und handhabbar machen, die das einzelne Individuum überschreiten und sich als multitudo zeigen. Vgl. Filippo Del Lucchese, »Democracy, Multitudo and the Third Kind of Knowledge in the Works of Spinoza«, in: European Journal of Political Theory, 8/3 (2009), S. 339–363.

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auseinandersetzenden Körper gebildet werden können, die diese Köper aber nicht unter ein Allgemeines bringen, sondern sie in ihrer dynamischen Pluralität bestimmen. Gemeinbegriffe sind adäquate Ideen dessen, worin Körper übereinstimmen, sowie der Verhältnisse, die sich in dieser Übereinstimmung zwischen ihnen bilden. Sie ermöglichen die adäquate Erkenntnis der Teile im Ganzen und des Ganzen in den Teilen, und zwar ohne dabei von der Konstruktion eines ursprünglichen Zusammenhangs auszugehen. Sie vergegenwärtigen Verbindungen, die nicht auf eine identitäre Fundierung zurückführen sind, sondern sich immer wieder neu bilden können. Gemeinbegriffe bilden also für Spinoza einen zentralen Aspekt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Und zwar nicht weil sie eine allgemeine Wahrheit der Erkenntnis unter Beweis stellen könnten, sondern weil sie die Angemessenheit von Ideen aus der Einheit von Ausdehnung und Denken herleiten und im Zeichen dieser Übereinstimmung Verbindungen erzeugen. 240 Gemeinbegriffe stellen ein Erkenntnisinstrument dar, insofern sie Ausdruck des Vermögens sind, adäquate Ideen zu bilden und sich mit anderen Körpern und ihren Ideen zu verknüpfen, d. h., sie vergegenwärtigen eine Idee, deren Ursache der jeweils geteilte Verbindungspunkt der Individuen ist. In der Bildung von Gemeinbegriffen kann sich das menschliche Individuum gewissermaßen generalisieren und sich aus seiner jeweiligen Gegenwart heraus in Verbindungen stellen, die der Erkenntnis seiner selbst im Zusammenhang des Ganzen dienen. Diese Generalisierung ergibt sich aus einer allen denkenden Individuen gemeinsamen Bedingung des Denkens, nämlich seiner Bezogenheit auf den Körper und seiner Auch Ursula Renz kommt zu dem Ergebnis, dass in E2p38 mit der Herleitung von Ideen und Begriffen, die allen Menschen gemeinsam sind und die daher nur adäquat begriffen werden können, nicht auf einen Beweis der Wahrheit unserer Erkenntnis gezielt wird, sondern lediglich auf den der Adäquatheit unserer Ideen. Bei den notiones communes handle es sich um Begriffe, die sich auf Eigenschaften von Dingen beziehen, die aber nicht notwendig die Existenz dieser Dinge unter Beweis stellen. Es geht also um die Frage, »aufgrund welcher semantischen Relationen zu welchen Ideen wir diese Eigenschaften kennen können«. Spinoza betont in E2p38dem, dass die Idee solcher Eigenschaften sich für uns aus dem Zusammenhang der Körper und ihrer Affektionen ergibt. Unter Verweis auf den relativ kontingenten Hintergrund der cartesischen Naturphilosophie, leitet Renz aus E2p38 und E2p38c nicht nur ebenfalls die prägnante Betonung der Rolle des Körpers und der Affektionen her, sondern meint, mit E2p38c beanspruche Spinoza, dass es Ideen oder Begriffe gibt, »die allen Menschen als Erkenntnissubjekten gemeinsam sind«. Die Pointe besteht für Renz gerade darin, »dass Menschen, weil sie alle qua Geist auf einen Körper bezogen sind und weil Körper gemeinsame Eigenschafen aufweisen, eine allen gemeinsame Physik und Naturphilosophie entwickeln können müssen«, sowie darin, dass die notiones communes als »Funktionsprinzip zuverlässiger Begriffsbildung« die Artikulation von Erkenntnis erst erlauben. Diese Erkenntnis wiederum ist für jedes menschliche Individuum von großer Bedeutung, denn wer die »Bewegungs- und Konstitutionseigenschaften von Körpern kennt und weiß, dass er auch ein Körper ist, der wird sich sein eigenes körperliches Erleben anders zurechtlegen können«. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 288. 240

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Bindung an den Körper und die Affektionen. Es ist also eine grundlegende Bedingung des menschlichen Individuums, ein Teil der Substanz unter dem Attribut der Ausdehnung zu sein und auch unter dem Attribut des Denkens an diese Ausdehnung gebunden zu bleiben. In den Gemeinbegriffen expliziert sich das Individuum durch die Erkenntnis seiner Übereinstimmung mit dem, wodurch es affiziert wird. Gemäß dieser Affektökonomie ergibt sich eine Form der Selbsttranszendierung und der vernunftgeleiteten Überschreitung unmittelbarer Erfahrung. Das Individuum kann sich mit dem, wodurch es positiv affiziert wird, verknüpfen, um seine Wirkungsmacht zu steigern, und insofern hat die Affektfähigkeit auch eine utilitaristische Dimension. »Was den menschlichen Körper so disponiert, daß er auf vielfache Weise affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf vielfache Weise zu affizieren, ist dem Menschen nützlich und umso nützlicher, je fähiger es den Körper macht, auf vielfache Weise affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren, während andererseits schädlich ist, was den Körper dazu weniger fähig macht« (E4p38). Um Gemeinbegriffe zu bilden, müssen wir uns mit dem verbinden, was uns ähnlich ist und uns positiv affiziert, da wir so zu adäquaten Ideen kommen, unsere Wirkungsmacht steigern und einander nützlich werden können. Gemeinbegriffe sind auch adäquate Ideen dessen, was wir mit anderen Körpern und ihren Ideen gemeinsam haben, und ihre Bildung ist ein Mittel, den inadäquaten Ideen zu entgehen und aus den adäquaten Ideen produktive Übereinstimmungen herzuleiten. 241 In der Bildung von Gemeinbegriffen verbindet sich also eine Selbsttranszendierung des Individuums mit einer Zunahme an Rationalität, die darin besteht, sich selbst im Gesamtzusammenhang der Natur zu erkennen, diese Erkenntnis für sich zu nutzen, um damit auch anderen nützlich zu werden. Immer wieder erwähnt Spinoza die Gemeinsamkeiten in den Körpern und den Ideen der Körper, aus denen sich die Fähigkeit zu adäquater Erkenntnis und damit die Steigerung der eigenen Wirkungsmacht, der potentia agendi herleiten lässt. Gemeinbegriffe stellen also eine Grundlage von Vergemeinschaftung als einer Zusammensetzung von Körpern und Ideen in verbundenen Einheiten dar. Dabei sind es keine normativen oder identitären Konstruktionen des Körpers, die zur Vergemeinschaftung führen, sondern es können eben auch geteilte Interessen und Erfahrungen oder andere freie Assoziationen von Kräften sein, durch die Individuen einander nützlich sein können. Spinoza spricht 241 Auf diesen Aspekt der Nützlichkeit geht Hasana Sharp besonders ein und stellt die Erkenntnis der Nützlichkeit der Menschen füreinander in den Rahmen einer allgemeinen Theorie der Renaturalisierung. Vgl. Hasana Sharp, Spinoza and the Politics of Renaturalization, Chicago 2011, S. 85 ff.; siehe für die Theorie der Gemeinbegriffe unter dem Aspekt der Nützlichkeit der Menschen füreinander auch S. 102 ff.

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wiederholt von Gemeinsamkeiten von Körpern, die die Fähigkeit adäquater Erkenntnis und damit die Handlungsmacht steigern, denn aus den Gemeinbegriffen ergibt sich erst die adäquate Erkenntnis der Affektionen und damit die Möglichkeit zu unterscheiden, was gut und was schlecht für uns ist. So führt uns im Falle negativer Affektionen nichts zur Bildung von Gemeinbegriffen mit den Körpern, die uns traurige Affektionen bereiten und uns in Passivität versetzen. Zwar könne der Mensch dem Menschen ein Gott sein, wie in E4p35c2 betont wird, aber gleichwohl ist es selten, dass die Menschen nach der »Leitung der Vernunft leben« und ihre Übereinstimmungen in praktizierten Gemeinbegriffen ausüben, »vielmehr ist es mit ihnen so bestellt, daß sie in den meisten Fällen einander beneiden und sich lästig fallen« (E4p35c2). Und so führt uns eigentlich nichts zur Bildung von Gemeinbegriffen mit den Körpern, die uns traurige Affektionen bereiten und uns in Passivität versetzen, während der Affekt der Freude und die freudige Affektion durch andere Körper uns im Gegenteil gerade den Anstoß geben, Gemeinbegriffe mit ihnen zu bilden. Daher hebt Spinoza im fünften Teil die Bedeutung der Freude für die adäquate Erkenntnis und für die Steigerung des Tätigkeitsvermögens hervor. »Je mehr wir mit Freude affiziert werden, so schreibt er, umso größer ist die Vollkommenheit, zu der wir übergehen, d. h. umso mehr partizipieren wir zwangsläufig an der göttlichen Natur« (E4p45s). Es sind also Affektionen und daraus resultierende Affekte von Lust und Unlust, die zur Bildung von Gemeinbegriffen führen. Dabei wirken die Affekte der Lust auf konkreten Ebenen, während Gemeinbegriffe auf allgemeineren Ebenen auch Körper integrieren können, die einander Unlust bereiten und einander schaden, etwa wenn Dinge in einem widerstrebenden Verhältnis stehen, aber unter einen Gemeinbegriff fallen. Von der affirmativen Kraft der Gemeinbegriffe und ihrem Nutzen zur Stärkung der Handlungsmacht ausgehend stellt sich nun die praktische Frage: Wie kommen wir dazu, Gemeinbegriffe zu bilden, und was sind die Regeln und die Möglichkeitsbedingungen ihrer Bildung? 242 Die praktische Dimension der 242 Um eine solche Praxis der Gemeinbegriffe geht es Deleuze, dem es nicht genügt, Spinozas theoretische Philosophie zu durchdringen, sondern dem es vielmehr darum geht, ihre praktischen Konsequenzen auszuloten. Für Deleuze sind die Gemeinbegriffe praktische Ideen der Übereinstimmung mit anderen Körpern, die sich nach der Affektfähigkeit der Individuen richten. »[E]ntgegen ihrer Darstellungsordnung, die nur die Ideen betrifft, betrifft ihre Bildungsordnung die Affekte, zeigt, wie der Geist ›seine Affekte ordnen und sie untereinander verketten kann‹. Die Gemeinbegriffe sind, so Deleuze, eine Kunst, die Kunst der Ethik selbst: die guten Begegnungen organisieren, die gelebten Verhältnisse zusammensetzen, Vermögen bilden, experimentieren.« Deleuze gewinnt dem ontologischen und erkenntnistheoretischen Denken Spinozas also eine praktische und soziale Dimension ab. Er versteht die Ethica als Ethik in einem strengen Sinne vom praktischen Ausgangspunkt der Bildung von Gemeinbegriffen her. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 155 f.

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Gemeinbegriffe besteht eben darin, dass ihre Bildung und ihre Anordnung mit dem Vermögen gekoppelt wird, die Affektionen des Körpers zu lenken und dadurch zu neuen oder anderen Ideen zu gelangen. 243 Überschreitet man also den rein erkenntnistheoretischen Rahmen der Theorie der Gemeinbegriffe auf ihre praktischen Dimensionen hin, so wird eine Potentialität der Affizierungsdynamik deutlich, die darin besteht, den je schon aktualisierten Formen neue Verkettungen von Affektionen gegenüberzustellen und neuen Impulsen zu folgen. Das Spiel der Affektionen, aus dem sich Gemeinbegriffe bilden können, ist also ein immanentes Konstitutionsprinzip, durch das sich verschiedene Elemente verbinden und zu unterschiedlichen Ereignissen und Handlungen verknüpfen können. Wenn die Kopplung eines individuellen Zusammenhangs von Denken und Ausdehnung an andere individuelle Zusammenhänge von Denken und Ausdehnung über die Gemeinbegriffe verläuft, und mit ihnen eine Generalisierung unserer selbst in der adäquaten Erkenntnis der Anderen einhergeht, spielt die Bildung von Gemeinbegriffen auch eine besondere Rolle für die Gemeinschaftsbildung. Die vernünftige Selbstüberschreitung des Individuums anhand seiner Generalisierung in den Gemeinbegriffen ist nicht allein ein Erkenntnisprozess, sondern geht mit der praktischen Bildung von Strukturen einher, aus denen sich eine gemeinsame Wirklichkeit der Individuen ergeben kann. Mit Blick auf die politische Philosophie Spinozas ergeben sich daraus Konsequenzen, denn wenn Spinoza, wie er im Tractatus politicus betont, die Politik »aus der Verfaßtheit der menschlichen Natur« (TP 1:4) herleiten und dabei die Affekte nicht negieren will, sondern sie rehabilitieren will, dann sind auch die Verbindungen vieler Körper und ihrer Macht zu einer Macht der Menge von der Theorie der Gemeinbegriffe her zu verstehen und es stellt sich die Frage, ob etwa auch der Begriff der Demokratie ein Gemeinbegriff ist. Spinoza untersucht die Gesetzmäßigkeiten der Gemeinschaft, wie sie sich anhand seiner Überzeugung von der Macht der Affekte darstellen. Der kluge Umgang mit den Affekten besteht für ihn auch in der Bildung gemeinbegrifflicher Allianzen, Vgl. dazu auch Thomas Kisser, der im Unterschied zur allgemeinen Behandlung der Gemeinbegriffe als eines rein erkenntnistheoretischen Problems auch auf deren praktische Bedeutung abzielt. Zur Praxis der Gemeinbegriffe schreibt Kisser: »Die Gemeinbegriffe bezeichnen dabei eine Eigenschaft mehrerer Individuen, unter die sich ein Individuum selbst rechnen kann kraft des Bewußtseins dieser Gemeinsamkeit, das wiederum nichts anderes ist als die Idee der hervorbringenden Ursache der Gemeinsamkeit. Diese Idee wiederum wird im Maße der Mitarbeit an dieser Gemeinschaft entwickelt, ein Vorgang, der sich im Prinzip auf alle Ebenen des Weltgeschehens beziehen läßt. Die Gemeinbegriffe niedrigerer Ordnung definieren konkrete Bezugssysteme, die Gemeinbegriffe höherer Ordnung allgemeinere Bezugssysteme. Der Aufbau der Gemeinbegriffe kann daher als eine experimentelle Praxis des Lebens verstanden werden.« Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 103 ff., hier S. 109. 243

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durch die die Handlungsmacht des Individuums gesteigert werden kann. Auf der theoretischen Ebene ermöglicht die Theorie der Gemeinbegriffe also eine Erkenntnis der Natur als dynamischer Einheit zusammengesetzter Körper. Und auf der praktischen Ebene ermöglicht sie ein Verständnis der Umsetzung positiver Affektionen in gemeinbegrifflich begründete Assoziationen von Individuen. 244 Spinoza versteht die Gemeinbegriffe also nicht als Abstraktionen, Verallgemeinerungen oder identische Ursprünge der Modi, sondern will in ihnen die verbindenden Zusammenhänge der Modi deutlich machen und aufzeigen, was im Einzelnen und im Ganzen ist und was den Individuen dabei gemeinsam ist. Die Gemeinbegriffe stehen daher in engster Verbindung zur politischen Philosophie und damit wiederum auch zu einer immanenten Konzeption des Konstitutionsgeschehens, das sich in den konkreten Zusammenhängen der Affektionen ereignet. Sie sind ein wesentliches Element der Erkenntnis, das sich nach Maßgabe des Gegebenen konstituiert und konstituierend auf das Gegebene zurückwirkt. Sie wenden das Einzelne ins Ganze und das Ganze ins Einzelne, das Konkrete ins Allgemeine und das Allgemeine ins Konkrete, und in diesem Wechselspiel vollzieht sich die Einheit des Denkens und der Ausdehnung. Die Theorie der Gemeinbegriffe bildet damit den idealen Übergang von der Erkenntnistheorie zur Theorie der Körper, der Affekte und der Individuen, denn in den Gemeinbegriffen zeigt sich der Zusammenschluss von Denken und Ausdehnung in der Individuation und sie bilden die Einheit des Denkens und der Ausdehnung ab. Gemeinbegriffe sind also so etwas wie Instrumente der Individuation, denn sie bilden die Scharnierstelle zwischen Denken und AusAuch für Negri steht die Theorie der Gemeinbegriffe deutlich in einem politischen Kontext und in ihr bildet sich die Verbindung des Denkens zum Konkreten und zur Materialität des Daseins ab. Die Theorie des Wissens und der Erkenntnis in Gemeinbegriffen ist für Negri eine Bewegung auf die materiellen Dimensionen der Existenz zu. Negri betont die Bedeutung der nominalistischen Konzeption der Gemeinbegriffe für die logische Umkehrung des Denkens in die Positivität eines dynamischen Materialismus. »Logical communication is based on ›common notions‹ that have nothing to do with the universal but are, instead, generalizations of nominalistic definitions of common properties of bodies.« Antonio Negri, The Savage Anomaly. The Power of Spinoza’s Metaphysics and Politics, Minnesota 1991, S. 107. Negri versteht die Erkenntnis in Gemeinbegriffen als eine Konstitution des Konkreten: »The accumulation of knowledge, as an adequate act of being, constitutes the concrete.« Er wendet den Mystizismus Spinozas in einen Asketismus und sieht hier einen »indefatigable march toward the concrete and an attempt to grasp it, to embrace it, to identify with it more and more closely. The mind is totally instrumental in its orientation toward this ›finality‹«. Die Gemeinbegriffe sind also mit dem Konkreten verbunden und insofern spielen sie die Rolle eines »organic instrument of the accumulation of being«. Ins Politische gewendet bedeutet das, dass die Gemeinbegriffe »social forms of knowledge« sind, die sich in ihrer Bewegung auf das Konkrete hin verfeinern und sich in ihrer Konstitution an diesem orientieren. Antonio Negri, The Savage Anomaly. The Power of Spinoza’s Metaphysics and Politics, Minnesota 1991, S. 162. Negri weist hier auch auf die Ausführungen zu den Gemeinbegriffen bei Gueroult hin. Vgl. Martial Gueroult, Spinoza II: L’ame, Paris 1974, S. 324 ff. 244

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dehnung und treiben die Individuation der menschlichen Individuen voran, indem sie deren Erkenntnis vom konkreten Sein und das konkrete Sein von der Erkenntnis her konstituieren.

Zweiter Teil: Affekte und Körper

I Theorie der Affektionen und der Affekte

I.1 affectio und affectus

Nachdem die Ontologie und die Erkenntnistheorie als systematische Voraussetzungen einer Theorie immanenter Individuation untersucht wurden, soll im Folgenden die Bedeutung der Affektionen und der Affekte für die immanente Konstitution des menschlichen Individuums ausgewiesen werden. Es geht dabei nicht um eine emotionstheoretische Fragestellung im engeren Sinne, sondern es soll aufgezeigt werden, dass das Affektionsgeschehen die Grundlage von Individuation ist. 1 Das begriffliche Feld der Affekte und der Affektionen ist nicht auf Gefühle in einem engen emotionstheoretischen Kontext zu reduzieren. 2 Spinoza hat die Grundlagen seiner Behandlung der Affektionen und der Affekte sorgsam vorbereitet und bereits in der KV eine eng an Descartes orientierte Affektenlehre entwickelt. 3 Auch im Vorwort zum dritten Teil der Zu den historischen Emotionstheorien liegen inzwischen zahlreiche einschlägige Untersuchungen vor, von denen hier nur eine Auswahl genannt werden soll: Wilhelm Dilthey, Die Affektenlehre des 17. Jahrhunderts, Gesammelte Schriften II, 1923; Stephen Gaukroger, The Soft Underbelly of Reason: The Passions in the Seventeenth Century, London 1998; Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997; Susan James, »The Passions in Metaphysics and the Theory of Action«, in: Daniel Garber / Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Vol. I, Cambridge 1997, S. 913–949; Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin 2008; Catherine Newmark, Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg 2008; Dominik Perler, Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670, Frankfurt a. M. 2011; Martin Harbsmeier / Sebastian Möckel (Hg.), Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Frankfurt a. M. 2009. 2 Das Problem der Äquivalenz von Affekttheorie und Emotionstheorie wird deutlich, wenn es etwa um Bestimmungen der Rationalität von Emotionen geht, die sich im Falle der Affekte, wie wir im Folgenden sehen werden, ganz anders darstellt als im Falle der Gefühle. Die Bedeutung der terminologischen Abgrenzung von affectus diskutiert auch: Chantal Jaquet, L’unité du corps et de l’esprit. Affect, actions et passions chez Spinoza, Paris 2004. In einem Beitrag von Michael Della Rocca wird deutlich, wie wenig die Untersuchung der Gefühle zugleich eine Untersuchung der Affekte ist und wie dringend geboten ihre genaue Unterscheidung ist. Vgl.: Michael Della Rocca, »Rationalism Runs Amok: Representation and the Reality of Emotions in Spinoza«, in: ders., Interpreting Spinoza: Critical Essays, Cambridge 2010, S. 26–52. Eine ausführliche und facettenreiche Darstellung der Affekttheorie Spinozas findet sich auch bei Michael Lebuffe, »The Anatomy of the Passions«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 188–222. 3 Zwar ist die KV nach Bartuschat als eine Frühform der Ethica anzusehen, doch gleichwohl kann die in der KV in enger Anlehnung an Descartes entfaltete Diskussion der Affekte noch nicht vom ontologisch-erkenntnistheoretischen System der Ethica ausgehend interpretiert werden. Einen 1

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Ethica wird noch einmal betont, dass das Affektionsgeschehen unabdingbar als ein Teil der Natur zu verstehen ist und nach den allgemeinen Gesetzen und Regeln der Natur behandelt werden muss. 4 »Mithin muß auch die Weise ein und dieselbe sein, in der die Natur eines jeden Dinges, von welcher Art es auch sein mag, zu begreifen ist, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur« (E3praef). 5 Daraus ergibt sich, dass jede Affektion und jeder Affekt ein Teil des notwendigen Kausalzusammenhangs der Natur ist, einen hinreichenden Grund hat und nicht moralisch behandelt werden sollte. Spinozas Affekttheorie ist nicht etwa als ein Gegenstück seiner Erkenntnistheorie zu verstehen, denn es geht nicht darum, die Erkenntnis und die Leidenschaften als gegensätzliche Ausdrucksformen zweier Substanzen zu polarisieren. 6 Es steht außer Frage, dass Menschen von den Affektionen, die auf sie einwirken, und den Affekten, die sich daraus ergeben, gelenkt werden, und zwar so weit, dass sie, wenn sie »von entgegengesetzten Affekten bedrängt werden, das Bessere sehen und dem Schlechteren folgen« (E3p2s). Für Spinoza waren die Affekte in den Weg einer Erkenntnis zur Freiheit zu integrieren bzw. sollten Erkenntnis und Affekt behandelt werden, als wären sie ein und dasselbe und als wäre die Erkenntnis der mächtigste Affekt. 7 Der kluge Umgang mit den Übergang zur Lehre von den Affektionen und den Affekten, wie sie dann in der Ethica ausgearbeitet wurde, findet sich am ehesten im Anhang, der den Titel »Von der menschlichen Seele« trägt und z. B. eine deutliche Bestimmung des Bestrebens eines jeden Dings aufweist, »seinen Körper zu erhalten« (KV, Anhang 125). Vgl. auch die Einleitung von Wolfgang Bartuschat, der auch den Zusammenhang zur Ethica ausführlich diskutiert. Zur Affektenlehre in der KV selbst siehe den ersten Teil der Arbeit von Gertrud Jung, deren zweiter Teil 1927 in den Kant-Studien erschienen ist. Vgl. Gertrud Jung, Spinozas Affektenlehre, Berlin 1926. 4 Zu dieser Herleitung der Affektionen und der Affekte aus der Natur vgl. E3prae und auch E4p57s. Diese allgemeine Einordnung entpricht auch der begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Affektbegriffs als »Zustand des Empfangens einer äußeren Einwirkung«. Vgl. »Affekt« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 89 ff. 5 Auch im Anhang zum vierten Teil der Ethica wird diese Aufhebung des menschlichen Individuums in der Natur noch einmal sehr deutlich gemacht. »Es ist unmöglich für den Menschen, kein Teil der Natur zu sein und der [allen Dingen] gemeinsamen Ordnung der Natur nicht zu folgen« (E4AppCaput7). 6 Vgl. zum Problem der Einheit von Körper und Geist in den Affekten, die sich durch diese Einheit auszeichnen auch Jaquet: Chantal Jaquet, L’unité du corps et de l’esprit. Affect, actions et passions chez Spinoza, Paris 2004. 7 Unter dem Eindruck seiner Spinoza-Lektüre hält auch Nietzsche auf einer Postkarte an Overbeck vom 30. Juli 1881 fest, dass die Erkenntnis der mächtigste Affekt ist, und zeigt damit Spinozas Ausrichtung des Affektdenkens an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine »Instinkthandlung«. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit – ; die Zwecke – ; die

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Affekten und ihre produktive Nutzung sind die wichtigsten Gesichtspunkte in Spinozas Vorstellung von der Freiheit des menschlichen Individuums durch die Erkenntnis Gottes und der Natur. Es ist also deutlich, dass die »Entscheidungen des Geistes nichts sind als die Triebe selbst, die entsprechend der verschiedenen Disposition des Körpers verschiedenartig sind. Denn ein jeder handhabt alles von seiner Affektivität her; wer von entgegengesetzten Affekten bedrängt wird, weiß nicht, was er will, und wer von garkeinem Affekt [angetrieben wird], läßt sich aus nichtigem Anlaß hierhin oder dorthin treiben« (E3p2s). Diese in der langen Anmerkung zur zweiten Proposition des dritten Teils aus der Erfahrung geschlossene Einsicht bedeutet für Spinoza, dass die Affektionen des Geistes und die Affektionen des Körpers zusammengehören und, mehr noch, ein und dasselbe sind, denn es kann keine Ideen ohne Körper geben: »Eine Idee, die die Existenz unseres Körpers ausschließt, kann es nicht in unserem Geist geben, sondern ist ihm entgegengesetzt« (E3p10). Für Spinoza ist klar, dass »das erste, was die Essenz des Geistes ausmacht, die Idee eines wirklich existierenden Körpers« (E3p10) ist. Und dabei ist es ein »erstes und ausschließliches Merkmal des Strebens unseres Geistes [. . . ] die Existenz unseres Körpers zu bejahen« (E3p10). Im Attribut des Denkens sind die Affektionen also Bestimmungen des Geistes und im Attribut der Ausdehnung sind sie Bestimmungen des Körpers. In beiden Fällen aber gehören die Affektionen, die das menschliche Individuum konstituieren, einer umfassenden Natur an und sind durch und durch »natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen« (E3praef) und nur im Ganzen des Naturzusammenhangs zu verstehen sind. Zwar haben die Philosophen schon viel über den rechten Umgang mit dieser affektiven Bedingtheit des Menschen geschrieben und viele kluge Hinweise gegeben, doch grundsätzlich hält Spinoza die Frage nach Affektion und Affekt für vollkommen ungeklärt, denn »was die Natur und die Kräfte der Affekte sind und was andererseits der Geist vermag, um sie zu mäßigen, das hat, soviel ich weiß, noch niemand bestimmt« (E3praef).

sittliche Weltordnung – ; das Unegoistische – ; das Böse – ; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!« Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Band 6, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1986, S. 111. Nietzsches intensive Auseinandersetzung mit Spinoza ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung, wird aber insbesondere mit Blick auf die Affekte behandelt von Stuart Pethick, Affectivity and Philosophy after Spinoza and Nietzsche. Making Knowledge the Most Powerful Affect, London 2015. Vgl. zur Diskussion der Erkenntnis als Affekt auch: Klaus Hammacher, »Spinoza’s conclusions drawn from systematic reflection on the Affections«, in: J. G. van der Bend (Hg.), Spinoza on Knowing, Being and Freedom: Proceedings of the Spinoza Symposium Leusden, Assen 1974, S. 82–96.

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Insbesondere in der Affekttheorie nimmt Spinoza immer wieder auf seinen großen Vorgänger Descartes Bezug. Zwar habe dieser sich bemüht, die Ursachen der Affekte in den Blick zu nehmen und sie aus ihren Ursachen herzuleiten, doch letztlich habe er nur die Größe seines Geistes unter Beweis stellen und nicht die Macht der Affektionen und der Affekte aufklären wollen. Trotz seiner fundamentalen Kritik orientiert Spinoza sich an Descartes, und nachdem er wie dieser betont hat, dass er die Affekte als Naturwissenschaftler und nicht als Redner behandeln will, macht auch Spinoza zum Ende seiner Einleitung in den dritten Teil der Ethica deutlich, auf welche Weise er die Affekte untersuchen will. 8 »Die Natur und die Kräfte der Affekte (affectuum) und die Macht des Geistes über sie werde ich [. . . ] nach derselben Methode behandeln, nach der ich in den vorigen Teilen von Gott und dem Geist gehandelt habe, und ich werde menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper« (E3praefatio sowie E4p57dem). Denen, die die Affekte nicht ernst nähmen, möge es komisch vorkommen, diese nach den Regeln der Geometrie zu behandeln und vernunftgemäß mit ihnen umzugehen, obwohl sie so oft nicht der Vernunft entsprächen. Spinoza ist aber überzeugt, dass Affektionen und Affekte wie alles andere in der Natur zu behandeln sind, da die Natur immer gleich ist und auch die Affektionen und die Affekte ein Teil der intelligiblen Natur sind. Der Hauptbezugspunkt für Spinozas Konzeption ist Descartes' letzte Schrift Les Passions de l'âme von 1649. Descartes negiert, was die Philosophen vor ihm über die passiones, also über das Leiden und die Leidenschaften gesagt haben, und will diese wie einen unberührten Gegenstand erforschen. Er hält fest, dass »alles, was geschieht oder sich ereignet, allgemein von den Philosophen ein Leiden genannt wird in Hinsicht auf dasjenige, dem es geschieht, und ein Tun in Hinsicht auf dasjenige, das macht, daß es geschieht; dergestalt daß, obgleich das Tätige und das Leidende oft sehr unterschiedlich sind, das Tun und das Leiden nicht aufhören immer ein und dieselbe Sache zu sein, die diese zwei Namen hat aufgrund der zwei verschiedenen Gegenstände, auf die man sie beziehen kann«. 9 Aktivität und Passivität sind für Descartes also dasselbe, und zwar insofern, als durch sie die Leidenschaft insgesamt als eine Eigenschaft 8 Descartes’ mechanistische Theorie der Gefühle behandelt Dominik Perler, »Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, a. a. O., S. 271–292. Und zum Vergleich unter den Zeitgenossen siehe auch die Darstellung von Thomas Hobbes’ mechanistischer Bestimmung der Affekte als Bewegungen des Gemüts durch Michael Hampe. Vgl. Michael Hampe, »Hobbes: Furcht und Bewegung«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, a. a. O., S. 293–308. 9 René Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1996, S. 4 f. (Erster Teil, Artikel 1).

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vernunftbegabter Menschen verstanden werden kann. Für Spinoza hängt die Unterscheidung von Aktivität und Passivität insofern mit den Affekten zusammen, als wir aktiv sind, »wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind«, und wir die Affektionen des Körpers und der Ideen also verstehen und bestimmen können, während wir passiv sind und etwas erleiden, »wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind« (E3d2). Es gibt mithin einen Unterschied zwischen Affekten als Aktivitäten und Affekten als Leidenschaften, der sich danach richtet, ob wir die adäquate Ursache von Affektionen sein können oder nicht (vgl. auch E3p1). Dabei ist die Fähigkeit des Individuums, sich zum hinreichenden Grund für die Affektionen zu machen, mit der Fähigkeit verbunden, sich selbst im Gesamtzusammenhang der Natur zu erkennen. Das bedeutet: »Wenn wir also die adäquate Ursache irgendeiner dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter dem Affekt eine Aktivität, im anderen Fall eine Leidenschaft« (E3d3). 10 Der zweite Artikel der Passions de l'âme markiert schon in der Überschrift Descartes' Annahme zweier Substanzen, durch die das Geistige vom Körperlichen unterschieden wird. 11 Descartes ist überzeugt, »daß wir keinen Gegenstand bemerken können, der unmittelbar in Bezug auf unsere Seele tätig ist, als den Körper, mit dem sie verbunden ist, und daß wir folglich denken müssen, was in ihr ein Leiden ist, gewöhnlich in ihm ein Tun ist«. 12 Aus diesem Zusammenhang der Seele und des Körpers und aus der Annahme, dass die unmittelbaren Regungen der Seele bzw. des Denkens nur auf den mit ihr verbundenen Körper zurückzuführen sind, schließt Descartes nicht etwa, dass der Zusammenhang beider als eine Einheit begriffen und als solche weiter erforscht werden müsse. Für ihn ist vielmehr klar, dass es keinen Weg gibt, »um zur Erkenntnis unserer Leidenschaften zu kommen, als den Unterschied zu untersuchen, der zwischen der Seele und dem Körper ist, mit dem Ziel, zu erkennen, wem von beiden wir jeweils die Funktionen zuteilen müssen, die wir in uns haben«. 13 Für Descartes lassen sich die Leidenschaften also nur unter der Voraussetzung verstehen, dass die Substanz des Körpers und die Substanz der Seele getrennt sind und in ihren Unterschieden und Funktionen untersucht werden. Für Spinoza ist hingegen Vgl. zu den Affekten der Freude (laetitia) und der Begierde (cupiditas) als Formen von Aktivität auch E3p58 und E3p59. 11 Vgl. dazu auch Art. 47 der Leidenschaften der Seele. In einem Brief an Elisabeth von der Pfalz hält Descartes aber fest, dass die »seelischen Tätigkeiten« [les opérations de l’âme], wie sie aus der Vereinigung der Substanzen hervorgehen, nur verstanden werden können, wenn die Imagination wieder mit den Sinneserfahrungen verbunden wird. Vgl. Brief an Elisabeth vom 28. Juni 1643, in: René Descartes, Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz, Hamburg 2015, S. 21. 12 René Descartes, Die Leidenschaften der Seele, a. a. O., S. 5 (Erster Teil, Artikel 2). 13 Ebd. 10

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klar, dass diese Trennung unhaltbar und weder der Geist dem Körper noch der Körper dem Geist überzuordnen ist (vgl. E3p2). Zwar ist Descartes der durchgehende Referenzpunkt von Spinozas Affekttheorie, doch sucht Spinoza die Verbindung der beiden Substanzen in der Einheit zu begründen, die sich aus einer immanenten Substanz des Ganzen ergibt. Nun ist auch bei Spinoza keineswegs immer klar, was eigentlich genau gemeint ist, wenn von affectio und affectus die Rede ist, und was die Affektfähigkeit des menschlichen Individuums, also seine Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, bedeutet. Die Ableitungen des Verbs afficere, das als lateinische Version des griechischen pathos bereits die ganze Dimension dessen enthält, was einem Seienden zukommt oder widerfährt, spielen für Spinoza eine zentrale Rolle. 14 So wird das semantische Feld des Affektbegriffs in verschiedenen Richtungen genutzt, und dabei sind mit Affekt (affectus) im engeren Sinne die gefühlten Bewegungen der Einheit von Körper und Geist bezeichnet, während der Begriff der Affektion (affectio) einen allgemeineren Vorgang der Bezugnahme und der Einwirkung zwischen verschiedenen Entitäten anzeigt. 15 Aus dem systematischen Zusammenhang von affectio und affectus wird schnell deutlich, dass Affekte temporär zuständliche Einheiten einer gelebten Dauer, also transitorische Vorgänge sind. Ebenso wie sich die Modi selbst als Affektionen und damit als verschiedene transitorische Formen von Substanz bestimmen lassen, müssen auch die Affekte im engeren Sinne als transitorische Vorgänge verstanden werden. Erst mit der genauen Unterscheidung von affectio und affectus wird deutlich, dass Affekte nicht einfach Zustände sind, die sich in einer jeweils ganz bestimmten Weise so oder so anfühlen und einen definitiv feststellbaren intentionalen Gehalt aufweisen. Sie sind vielmehr im Sinne Susan James verweist auf den Zusammenhang zwischen der negativen Bestimmung der Emotionen als Unvollkommenheiten der menschlichen Natur, wie sie sich durch die historische Literatur zieht und der negativen Konnotation, die sich in der Begriffsgeschichte der Leidenschaften zeigt. »An initial sense of uneasiness and trouble is reflected in the rich vocabulary used to describe the passions.« Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997, S. 10 ff. Siehe auch den Eintrag »Affekt« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 89 ff. 15 Für eine ausführliche Diskussion der Terminologie von affectio und affectus, auch in den unterschiedlichen Übersetzungen, vgl. Jean-Marie Beyssade, »Nostri Corporis Affectus: Can an Affect in Spinoza be ›of the body‹?«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist, Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 113– 128, sowie auch Edwin Curleys Glossaryindex, in: Benedictus de Spinoza, The Collected works of Spinoza, Princeton, New Jersey 1985–2016. Eine umfassende Erschließung der Begriffe affectio und affectus aus den Schriften Spinozas bieten auch die entsprechenden Lemmata in: Wiep van Bunge / Henri Krop / Piet Steenbakkers / Jeroen van de Ven (Hg.) The Bloomsbury Companion to Spinoza. A. a. O., S. 149 ff. Allgemein zur Theorie der Affekte: Pierre Macherey, Introduction à l’Éthique de Spinoza. La troisième partie: La vie affective, Paris 1995. 14

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eines Mehr oder Weniger an Handlungsmacht und eines Mehr oder Weniger an Vollkommenheit zu verstehen. So sind negative Affekte beispielsweise in diesem Sinne nicht falsch oder richtig, sondern eben graduelle Abstufungen eines klugen Umgangs mit Affektionen. Eine Klassifizierung von Affekten darf daher nicht als starre, typologische Feststellung eines bestimmten Charakters angelegt sein, sondern muss immer in Abhängigkeit von äußeren Kräften als ein Mehr oder Weniger in graduellen Abstufungen verstanden werden. Dieser Übergangscharakter ist den jeweiligen Einzeldefinitionen der Affekte zu entnehmen und wird auch in E3d3 deutlich, wo Spinoza die Affekte als Affektionen des Körpers bestimmt, von denen die »Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird« (E3d3). Die Unterscheidung von affectio und affectus ermöglicht also eine Bestimmung der Affekte als Phänomene des Übergangs und damit wird sie auch wichtig für die Infragestellung der Annahme, dass Affekte stets eindeutig auf etwas gerichtet sind und einen intentionalen Gehalt aufweisen, den sie in einer ganz bestimmten Weise repräsentieren. 16 Zwar ist für Spinoza klar, dass die Affektionen des Körpers als Ideen zugleich einen bestimmten Bewusstseinsgehalt aufweisen, der sich auf die äußere Quelle der Affektion richtet, mit der diese in einem notwendigen Zusammenhang steht. 17 Zugleich ist die ontologische Grundlage des Affektionsgeschehens aber so angelegt, dass das Verhältnis zwischen Körper und Geist in der Affektion nicht als eine Repräsentation des einen durch das andere bestimmt werden kann. Es muss vielmehr als eine Einheit begriffen werden, in der sich immer wieder Verschiebungen und Überschreitungen ergeben, durch die jeweils abweichende Gehalte zwischen Denken Das Problem der Intentionalität ist Gegenstand einer weitverzweigten Debatte, die mit Blick auf Spinoza vor allem geführt wurde durch: Francis Amann, »Liebe und Haß (3p13-21): Intentionalität, Repräsentation und Bewußtsein«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 37–57; Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984, S. 153–159, Michael Della Rocca, Representation and the Mind-Body Problem in Spinoza, New York 1996, S. 44–68; Daisie Radner, »Spinoza’s Theory of Ideas«, in: The Philosophical Review 80/3, S. 338–359. Das einfachste Argument gegen die Bestimmung intentionaler Akte besteht wohl darin, dass der gleichursprünglich-reversible Zusammenhang der Attribute es nicht erlaubt, von einer intentionalen Steuerung der Aktivität des Körpers durch den Geist zu sprechen, denn diese ergibt sich für Spinoza, wie wir unten noch sehen werden, aus dem Affektionszusammenhang der Körper und ihren Beziehungen in Ruhe und Bewegung. Vgl. Spinozas Argumentation in E3p2, die nicht auf eine vollständige Negation der gegenseitigen Einflussnahme von Körper und Geist hinausläuft, sondern vielmehr darauf, dass die Modi des Denkens andere denkende Dinge und letztlich Gott als denkendes Ding zur Ursache haben, und die Modi der Ausdehnung durch andere Modi der Ausdehnung bewegt werden (vgl. E3p2dem). Und erst aus der Einheit der Attribute ergibt sich das Zusammenspiel von Denken und Ausdehnung im Affektionszusammenhang der Natur. 17 Zur Zufälligkeit der Affektionen vgl. E3p15: »Jegliches Ding kann durch Zufall (per accidens) die Ursache von Freude, Trauer und Begierde sein.« 16

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und Ausdehnung erst wahrgenommen werden können. Die Elemente, die das Modell einer Intentionalität der Affekte vorsieht, d. h. der äußere Gegenstand der Affektion, die Affektion durch diesen Gegenstand und die geistige Erfahrung dieser Affektion, sind für Spinoza nicht zu trennen und nicht in einem bewusstseinstheoretischen Repräsentationsverhältnis abzubilden. Allein weil der Geist immer zuerst eine Idee des Körpers ist, gibt es den gerichteten Gehalt des Bewusstseins nur als eine Erfahrung des Körpers, der die Affektionen je als bestimmte graduelle Affekte der Wut, der Bestürzung, der Sehnsucht oder anderer möglicherweise sehr diffuser Ausrichtungen identifizierbar macht. Die affektive Erfahrung verläuft nicht in einer gerichteten Linie, in der sich alle drei Elemente in wechselseitiger Repräsentation decken würden, sie besteht vielmehr aus Schwankungen, Abweichungen und unbestimmten Eindrücken, die sich eben als eine mehr oder weniger adäquate Erkenntnis und damit als ein Mehr oder Weniger an Handlungsmacht zeigen. Diese variablen und transitorischen Erfahrungen machen die Existenz des menschlichen Individuums in den Affektionszusammenhängen, von denen es umgeben ist, zwar schwierig, aber zugleich erst lebendig. 18 Das dreistufige Modell der inadäquaten Erkenntnis, der adäquaten Erkenntnis und der intuitiven Erkenntnis ist an der Uneindeutigkeit affektiver Erfahrung ausgerichtet, denn erst wenn die dritte Erkenntnisstufe erreicht ist, erleben wir die Affektionen nicht mehr als Leidenschaften, sondern als Handlungsmacht und als vollkommene Existenz in der Natur des Ganzen. Die Bestimmung der Affekte ausgehend von einer intentionalen Gerichtetheit des Bewusstseinssubjekts ist problematisch, weil sie individualistische, aktivistische und repräsentationstheoretische Schematisierungen in das Modell immanenter Individuation in Affektionszusammenhängen einbringt, die zu einer Verengung der bei Spinoza angelegten Konzeption von Erfahrung führen. Die Theorie der Affekte muss daher, wie im Folgenden dargestellt wird, anhand der Unterscheidung von affectio und affectus und der parallel dazu verlaufenden Unterscheidung einer ontologischen und einer pragmatischen Dimension des Affektionsgeschehens aufgefächert werden. Francis Amann spricht davon, dass der »affektive Kontakt mit der Umwelt« imaginär sei, »weil die Repräsentationen, welche Affekte begleiten, die Dinge und Personen, auf die der Affekt gerichtet ist, nicht in ihrer Essenz darstellen, sondern in der aktuell wahrgenommenen zeitlichen Existenz und einer räumlichen Perspektive«. Die Affektivität für imaginär zu halten, weil sie den aktuellen zeitlichen und räumlichen Umständen angepasst ist und keine essenzielle Form des erfahrenen Objekts ausweist, scheint mir unangemessen, denn die Stärke von Spinozas Entwurf der affektiven Erfahrung besteht ja gerade darin, den essentialistisch verengenden Vorstellungen einer intentionalen Standardeinstellung den Boden zu entziehen und der Variabilität und Pluralität des Affektionsgeschehens in einer immanenten Konzeption affektiver Erfahrung Rechnung zu tragen. Vgl. Francis Amann, »Liebe und Haß (3p13-21): Intentionalität, Repräsentation und Bewußtsein«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 37–57, hier S. 173. 18

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affectio

Der Begriff der affectio wird bereits in den Definitionen des ersten Teils der Ethica verwendet und in einem ontologischen Sinn zur Bezeichnung der Affektionen der Substanz eingeführt, die für Spinoza Modi sind. »Unter Modus verstehe ich die Affektionen einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird« (E1d5 und dazu auch Ep12). Affektionen sind also die verschiedenen Modi der Substanz und das bedeutet, dass ein Modus und die Affektion eines Modus auf ein und derselben Ebene angesiedelt sind. Lediglich in E1p1 stellt Spinoza den Modi die eine Substanz voran: »Substantia prior est natura suis affectionibus« (E1p1). Demgegenüber werden die Affektionen auch in E1p4 als Affektionen der Substanz und damit als ihre verschiedenen Modi ausgewiesen und es wird betont, dass Dinge sich unterscheiden, weil sie entweder den verschiedenen Attributen der Substanz angehören oder verschiedene Affektionen der Substanz sind (vgl. E1p4). Und auch im zweiten Corollarium des vierzehnten Lehrsatzes des ersten Teils wird der Begriff der Affektion im Sinne eines ontologischen Grundbegriffs gebraucht, wenn Spinoza betont, dass es außer Gott eben keine Substanz geben kann und Gott einzig ist, und dass ausgedehnte Dinge und denkende Dinge entweder Attribute Gottes oder eben Affektionen dieser Attribute Gottes sind (vgl. E1p14c2). Affektionen sind in diesem Sinne spezifische modale Qualitäten der Substanz und aus ihnen entstehen Modi als verschiedene Ausdruckformen der Natur, die durch Attribute vermittelt sind. In diesem allgemeinen ontologischen Sinn sind die unterschiedlichen Modi und damit auch die unterschiedlichen Individuen unterschiedliche Affektionen der göttlichen Substanz. 19 Bereits im Anhang der zu Spinozas Lebzeiten und unter seinem Namen 1663 erschienenen Schrift Descartes' Prinzipien der Philosophie definiert er die Affektionen des Seienden. Er weist sie als das aus, was Descartes unter Attributen versteht: nämlich als Formen der denkenden und der ausgedehnten Substanz, wie sie eben auch für Descartes Attribute der Substanz sind, ohne die wir die Modi, also die Affektionen der Substanz, nicht erkennen könnten. 20 Spinoza schreibt hier: »Affektionen von Seiendem sind bestimmte Attribute, unter denen wir die Essenz oder Existenz eines jeden Dinges erfassen, von dem sich diese Attribute aber nur unter dem Gesichtspunkt unserer Betrachtung Die Annahme einer ontologischen und erkenntnistheoretischen Relevanz des Vorgangs der Affektion verfolgt auch Handwerker-Küchenhoff, allerdings ohne diese Relevanz auf eine Konstitutionstheorie des menschlichen Indviduums hin auszuarbeiten. Vgl. Barbara Handwerker-Küchenoff, Spinozas Theorie der Affekte. Kohärenz und Konflikt, Würzburg 2006, besonders S. 27–38. 20 Vgl. René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 2005, S. 57 (Erster Teil, Artikel 52). 19

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unterscheiden« (PPC Anhang 1 Kap. 3). Die Affektionen werden hier noch weiter in den Zusammenhang der notwendigen Bedingungen der Substanz eingeordnet, in dem sie strikt determiniert und nicht zufällig sind, denn in der Abhängigkeit von Gott ist für Spinoza nichts zufällig. Es stellt sich nicht die Frage, ob etwas existieren kann oder nicht, denn in der von Gott abhängigen Natur ist Essenz gleich Existenz, und damit sind die Affektionen des einzelnen Seienden immer existent. Zufällig können Affektionen in diesem an Descartes angelehnten Sinne also deshalb nicht sein, weil sie die Attribute der Essenz und der Existenz des Seienden sind. Spinozas eigener Begriff der Affektion ist, verglichen mit dessen cartesischer Bestimmung, von den Attributen der Substanz her weiter gefasst. Zwar setzt er den Rahmen der absoluten Notwendigkeit in der immanenten Substanz voraus und geht von notwendig Seiendem und nicht von zufällig Seiendem aus, gleichwohl aber hält er den Spielraum der Affektionen in diesem Notwendigkeitszusammenhang für plural und variabel. Es finden sich also unterschiedliche Definitionen dessen, was Spinoza unter affectio versteht. Festgehalten werden soll in jedem Fall die Gleichsetzung von Affektionen und Modi in der Bestimmung des Modus als Affektion von Substanz, wie sie zuerst in E1d5 vorgenommen wird. In dieser Gleichsetzung von Affektion und Modus scheint die Dimension der ontologischen Notwendigkeit ebenso auf wie die freie Dynamik der Affektionen, auf die die Theorie immanenter Individuation zielt. Und in der Bestimmung des Modus als Affektion der Substanz wird auch deutlich, dass der Begriff der affectio einen Vorgang der Konstitution bezeichnet, bei dem etwas durch von außen wirkende Kräfte bestimmt wird. Auf den lebendigen Körper übertragen bedeutet das, dass Affektion mit einer Plastizität des wahrnehmenden Körpers zu tun hat, der durch Affektionen bestimmt wird und mit dessen Affektion die Ideen verbunden sind. Der Begriff der affectio zeigt also, wie in der einschlägigen dritten Definition des dritten Teils der Ethica angelegt, den Vorgang der Affektion des Körpers und der Ideen dieser Affektion des Körpers an.

affectus

Über ihre ontologischen Bestimmungen hinausgehend spielen die affectiones also besonders im dritten Teil De Origine et Natura Affectuum eine wichtige Rolle, wo sie weniger in ihrer ontologischen Abstraktion als ein Affektionsvorgang zwischen unterschiedlichen Entitäten bestimmt werden, sondern vielmehr als konkrete Wirkungen, aus denen sich die Affekte (affectus) des Körpers und der Ideen ergeben. Spinoza leitet die Affekte also aus den Affektionen ab und definiert sie als Affektionen des Körpers, wie im dritten Lehrsatz des

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dritten Teils deutlich gemacht wird: »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers« (E3d3). 21 Er sieht die Veränderungen des Körpers und der Ideen als eine modale Verfasstheit an, die sich aus den Affektionen ergibt. Dabei ereignen sich Affektionen eben nicht nur als Affektionen des Körpers, sondern auch als Affektionen des Geistes, d. h., sie überschreiten ihre körperliche Dimension, während sie zugleich an diese gebunden bleiben. 22 Der Begriff des Affekts (affectus) bezeichnet also im Unterschied zur Affektion (affectio) die Leidenschaften und die gefühlsmäßigen Bewegungen der Einheit von Körper und Geist. Der Unterschied von affectio und affectus lässt sich aber auch mit einer etwas anderen Gewichtung darstellen. Für Deleuze liegt er »zwischen der Affektion des Körpers und seiner Idee [der] Natur des äußeren Körpers« und dem Affekt, »der für den Körper wie für den Geist eine Vermehrung oder Verminderung des Tätigkeitsvermögens einschließt«. 23 Eine Affektion zeigt für Deleuze die Gegenwart eines affizierenden Körpers und dessen Wirkung auf den affizierten Körper an. Affektionen sind das, was einem Modus widerfährt, und die Ideen gehören den Affektionen direkt an, d. h., sie »umfassen zugleich die Natur des affizierten Körpers und die Natur des äußeren, affizierenden Körpers«. 24 Ein Affekt dagegen zeigt den Übergang zwischen Zuständen und die entsprechende Veränderung der sich affizierenden Körper an. Deleuze markiert also den Unterschied zwischen Affektionen als Vorstellungsbildern einer äußeren Einwirkung und Affekten als Wirkungen, die das Tätigkeitsvermögen des Körpers hemmen oder steigern. 25 21 Zum Ende des dritten Teils der Ethica führt Spinoza eine allgemeine Definition des Affekts an: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft des Gemüts genannt wird, ist eine verworrene Idee, mit der der Geist von seinem Körper oder irgendeinem seiner Teile eine größere oder geringere Kraft des Existierens als vorher bejaht, und von der, wenn sie gegeben ist, der Geist bestimmt wird, eher an dieses als an jenes zu denken« (E3Affgd). 22 Zur Affektion des Geistes vgl. E3p52s und zu den Affektionen der imaginatio vgl. E1app. 23 Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 65. Deleuze unterscheidet in der Bestimmung, die er im Index der Grundbegriffe der Ethik vornimmt, verschiedene Dimensionen von Affektion und Affekt. Dieser bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Gewichtungen, die Deleuze innerhalb der Ethica vornimmt. Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 64–145. 24 Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 64. Hierzu gibt Deleuze E2Pro 16 an: »Die Idee einer jeden Weise, in der der menschliche Körper von äußeren Körpern affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die des äußeren Körpers in sich schließen.« 25 Der Zusammenhang von körperlichem Eindruck und geistiger Vorstellung in der Affektion wird hier anhand verschiedener, weniger prominenter Textstellen der Ethica rekonstruiert und auf diese Weise dringt Deleuze zu Spinozas Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Körper und Geist in Hinblick auf den Affekt vor. Vgl. z. B. die folgenden treffenden Stellen der Ethica: E2post5, E2p17s und E3post2.

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Theorie der Affektionen und der Affekte

Der Vorgang der Affektion ist nicht auf die Konstitution zwischen Körpern reduziert, denn es geht für Spinoza stets um das Zusammenspiel von Ideen und Affekten, und Affekte gehen aus Affektionen des Körpers und der Ideen hervor. Affekte stehen somit immer in der doppelten Realität der beiden Attribute, sie sind Affektionen des Körpers und zugleich die Ideen dieser Affektionen, d. h., sie können auch als Vorstellungen aufgefasst werden, die den äußeren affizierenden Körper umfassen und vergegenwärtigen. Diese Vergegenwärtigungen der Beziehungen von Körpern nennt Spinoza Vorstellungsbilder: »Weiter wollen wir [. . . ] die Affektionen des menschlichen Körpers (corporis humani affectiones), deren Ideen äußere Körper als uns gegenwärtig darstellen, Vorstellungsbilder von Dingen (rerum imagines) nennen, obgleich sie die äußere Gestalt von Dingen nicht wiedergeben. Und wenn der Geist Körper auf diese Weise betrachtet, wollen wir sagen, daß er vorstellt« (E2p17schol). Zwar baut auch der Affekt unter Umständen auf einer Vorstellung auf und wird durch eine Vorstellung ausgelöst, aber er ist keinesfalls auf die Repräsentation oder die Indikation einer Vorstellung reduzierbar. Ein Affekt ist vielmehr eine durch die Idee vermittelte Macht des Körpers, zu wirken (corporis agendi potentia), Wirkungen zu bejahen oder zu negieren und damit mehr oder weniger Realität in sich einzuschließen. Er ist ein transitiver Zustand gelebter Dauer, der sich als Übergang zwischen geringerem oder größerem Tätigkeitsvermögen zeigt. Als Übergang zur Steigerung des Tätigkeitsvermögens und der Vollkommenheit empfinden wir ihn als Lust und als Übergang zur Hemmung des Tätigkeitsvermögens empfinden wir ihn als Unlust. Da Affekte sich stets aus der Interaktion verschiedener Modi ergeben, explizieren sie sich auch erst im Zusammentreffen verschiedener Modi, und dabei hängt ihr aktiver oder ihr passiver Charakter je von der Adäquatheit der Idee ab, die den Vorgang der Affektion begleitet. Bleibt die Idee des affizierenden Körpers inadäquat und verworren, dann erleben wir Affekte als Leidenschaften. Ist die Idee des affizierenden Körpers adäquat und drückt ihn unmittelbar aus, so stellt sich eine Übereinkunft unseres Körpers mit dem affizierenden Körper ein und aus der adäquaten Erkenntnis entstehen Affekte als Tätigkeitsvermögen.

I.2 Affektion und Affekt in ontologischer Hinsicht

Im Folgenden soll zwischen einer ontologischen und einer pragmatischen Dimension der Affektionen und der Affekte unterschieden werden. Mit der Möglichkeit dieser Unterscheidung zeigt sich bereits, dass affectio und affectus Grundbegriffe im Denken Spinozas sind. Affektionen und Affekte sind nicht nur im engeren Sinne emotionstheoretisch von Bedeutung, sondern es kommt

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ihnen eine ganz grundlegende Funktion im Vorgang der Individuation zu; daher sind sie in ontologischer und in pragmatischer Hinsicht interessant. 26 Die permanente theoretische Rückbindung an die ontologischen Voraussetzungen bedeutet nicht, dass Affektionen und Affekte vornehmlich ein Gegenstand der theoretischen Philosophie wären. Ihre Explikation wird hier auf einen ontologischen Rahmen zurückgeführt, um die Annahme einer immanenten Einheit des Ganzen als Voraussetzung des Einzelnen durchzuhalten. 27 Es gibt also eine ontologische Dimension des Affektionsgeschehens, die besonders im ersten Teil der Ethica deutlich wird, der hier als eine immanente Ontologie im Ausgang der causa sui vorgestellt wurde. 28 Aus dieser immanenten Ontologie geht hervor, dass die eine selbstursächliche Substanz zwar unteilbar, aber zugleich vielfach und variabel in ihren Modifikationen ist. Das bedeutet, dass die einzelnen Modi zwar im determinierenden Rahmen der durch die Attribute erkennbaren Substanz stehen, doch zugleich mannigfaltig und verschieden sind. Ihre Verschiedenheit rührt von den Affektionen her, durch die sie konstituiert werden und sich in ihrer Vielfalt überhaupt erst ausprägen. Unterschiedliche Modi sind in diesem Sinne unterschiedliche Affektionen von Substanz und Diese Annahme einer grundlegenden Bedeutung der Affekte steht im Gegensatz zu Bennetts Einschätzung, der meint, Spinoza »classifies as ›affects‹ a large group of items which – roughly speaking – include all the emotions and all the immoderate desires. He has no common definition for the whole genus of the affects, only definitions of the two species. The unity of the genus lies only in the toxicity of all the species – how damaging they are to happiness and health.« Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984, S. 253. 27 Die Thematisierung der Gefühle zeichnet sich in der Frühneuzeit insgesamt durch ontologische Rahmungen aus, durch die die Fragen, die den Menschen und seine Leidenschaften betreffen, in einen metaphysischen Zusammenhang gestellt werden. Dominik Perler hebt die Verbindung von Ontologie und Emotionstheorie in der Frühneuzeit dezidiert hervor und betont die konstitutive Funktion der Ontologie für eine ganze Reihe von Autoren, die die Überzeugung teilen, dass Gefühle rational steuerbar sind. Eine Ausnahme bildet hier Michel de Montaigne, der theoretische Schematisierungen in der Erklärung der Emotionen als zu dogmatisch ablehnt und auf die skeptische und lebensweltlich-subjektiv erzählende Beschreibung setzt, um den phänomenalen Charakter von Gefühlen aufzufächern. Vgl. Dominik Perler, Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670, Frankfurt a. M. 2011. Den Zusammenhang von Metaphysik und Affekt behandelt auch: Michael Della Rocca, »Spinoza’s Metaphysical Psychology«, in: Don Garrett (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge, MA 1996, S. 192–266. Renz unterscheidet zwischen ontologischen, semantischen und rationalitätstheoretischen Gesichtspunkten und meint damit die ontologische Notwendigkeit, den zufälligen semantischen Gehalt und das Verhältnis von Affekt und Vernunft. Vgl. Ursula Renz, »Zwischen ontologischer Notwendigkeit und zufälliger Semantik. Zu Spinozas Theorie der menschlichen Affekte«, in: Hilge Landweer (Hg.), Gefühle – Struktur und Funktion. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 14, Berlin 2007, S. 35–56. 28 Donald Davidson diskutiert die Kontinuität des Denkens und der Ausdehnung in der Erfahrung und in den Handlungen ebenfalls vor ihrem ontologischen Hintergrund. Vgl. Donald Davidson, »Spinoza’s Causal Theory of the Affects«, in: Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 95–111. 26

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Theorie der Affektionen und der Affekte

jeweils erst durch ihre äußeren Affektionen begreifbar, wie Spinoza bereits in E1d5 herausstreicht. Ihr ontologischer Status ist determiniert, weil sie ein notwendiger Teil der Substanz des Ganzen sind, aber er ist zugleich auch kontingent, weil sie innerhalb der immanenten Substanz erst durch die zufälligen äußeren Affektionen konstituiert werden. 29 Dabei nennt Spinoza zufällig das, was in seinen Ursachen noch nicht vollständig erkannt ist, d. h., in der Erkenntnis und durch die Erkenntnis wird aus Zufall Notwendigkeit und daher ist die Erkenntnis das Mittel, die zufälligen Affektionen zu bewältigen und sich als Teil der notwendigen Natur zu begreifen. Ist die immanente Kausalität der Affektionen in ihrem Zusammenhang erkannt, so sind sie nicht mehr zufällig, sondern werden in ihrer jeweiligen Ausprägung als ein notwendiger Teil der Natur verstanden. Spinoza ordnet die Affektionen und die Affekte also in den Zusammenhang der Natur ein und unterzieht sie einer Naturalisierung, aus der sich ergibt, dass die natürliche Macht eines Individuums zugleich sein Recht ist und dass seine Natur nicht nach richtig oder falsch zu bemessen ist. Die Affektionen spielen also eine entscheidende Rolle im Prozess der Individuation und sie unterliegen im immanenten Rahmen einer gewissen Zufälligkeit, denn wie Spinoza mit Blick auf einzelne Affektformen festhält, kann jedes Ding »durch Zufall (per accidens) die Ursache von Freude, Trauer und Begierde sein« (E3p15). Im Unterschied zur unbedingten und unendlichen Substanz, die Ursache ihrer selbst ist, sind die Modi und damit die Individuen von etwas abhängig, das ihnen äußerlich ist und durch das sie affiziert und damit in ihrer jeweiligen Form erst hervorgebracht werden. Ein Modus ist also stets durch Affektionen geprägt, und es sind die Affektionen, die die Modi in ihrer jeweiligen Modifikation konstituieren, d. h., ein Modus kann durch unterschiedliche Affektionen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen und dementsprechend ist die Geschichte eines Modus als eine Geschichte seiner Affektionen zu verstehen. 30 Hebt man in dieser Weise den konstituierenden Charakter der Affektionen hervor, dann zeigt sich, dass Affektionen immer einen bestimmten Zustand oder eine bestimmte Verfassung des jeweils affizierten Körpers und seines Geistes bewirken. 31 Im Begriff der constitutio wird daher nicht nur der Vor29 Zur Frage der Möglichkeit von Kontingenz in Spinozas Determinismus und Nezessitarismus vgl. Hans-Peter Schütt, »Spinozas Konzeption der Modalitäten«, in: Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 165–183. 30 Vgl. dazu: Pierre Macherey, Introduction à l’Éthique de Spinoza. La troisième partie: La vie affective, Paris 1995, S. 39 ff. 31 Aus dieser jeweiligen Zuständlichkeit leitet Deleuze auch den zeitlichen Charakter der Affekte her. Affektionen bilden, wie er meint, einen bestimmten Zustand, »der mehr oder weniger Vollkommenheit impliziert als der vorhergehende Zustand. Von einem Zustand zum anderen, von

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gang der Affektion zwischen Körpern als konstituierende Bezugnahme ausgedrückt, sondern constitutio meint immer auch die jeweilige Verfasstheit und den jeweiligen Zustand der affizierten Einheit von Körper und Geist. Mit der Bestimmung der Modi der Substanz von ihren unterschiedlichen Affektionen her betont Spinoza gerade die Veränderlichkeit des Seienden, das durch das Affektionsgeschehen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann. 32 Im Feld der Affektionskräfte konstituieren sich unterschiedliche Modi durch die Verbindung mit anderen Modi. Auf den Gesamtzusammenhang des Naturgeschehens übertragen bedeutet das, dass wir es in der Natur mit einer unendlichen Affektion von Einzeldingen zu tun haben, die sich untereinander in vielfachen Variationen bedingen und konstituieren. Spinoza macht also einen variablen Zusammenhang von Affektionen deutlich und stellt Gott bzw. die Natur selbst als einen Zusammenhang dar, der durch Affektionen von Einzeldingen und ihre Ideen zustande kommt. Er verdeutlicht: »Die Idee eines wirklich existierenden Einzeldings hat Gott zur Ursache, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er als von einer anderen Idee eines wirklich existierenden Einzeldings affiziert angesehen wird, deren Ursache ebenfalls Gott ist, insofern er von einer anderen dritten [Idee] affiziert ist, und so weiter ins Unendliche« (E2p9). Auf das Ganze übertragen und zugespitzt würde dies bedeuten, dass sich in der unendlichen Substanz, die wir Gott oder Natur nennen, eine horizontale Verkettung von Affektionen ereignet. 33 Und vielleicht ließe sich einer Vorstellung oder einer Idee zu einer anderen gibt es also Übergänge, gelebte Durchgänge, Dauerzustände, durch die wir zu einer größeren oder kleineren Vollkommenheit übergehen. Darüberhinaus sind diese Zustände, Affektionen, Vorstellungsbilder oder Ideen nicht trennbar von der Dauer, die sie an den vorherigen Zustand wieder anknüpft und die sich zum nachfolgenden Zustand ausdehnen läßt. Diese Dauern oder kontinuierlichen Veränderungen der Vollkommenheit werden ›Affekte‹ oder Gefühle (affectus) genannt.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 65. Zum »Mehr oder Weniger« als einem Intensitätsmodell in den ontologischen Grundordnungen metaphysischen Denkens ist der Band von Thomas Kisser und Thomas Leinkauf aufschlussreich. Thomas Kisser / Thomas Leinkauf (Hrsg.), Intensität und Realität. Systematische Analysen zur Problemgeschichte von Gradualität, Intensität und quantitativer Differenz in Ontologie und Metaphysik, Berlin 2016. 32 Auch im Anhang zu seiner Auseinandersetzung mit Descartes’ Prinzipien der Philosophie, wo Spinoza die Punkte behandelt, die sich in Descartes’ allgemeiner Metaphysik zum Thema des Seienden und seinen Affektionen finden, betont er den offenen und dynamischen Charakter der Affektionen und will zeigen, »daß die gewöhnliche Logik und Philosophie nur dazu dienen, das Gedächtnis zu üben und zu stärken, damit wir die Dinge gut behalten, die uns zufälligerweise und ohne Ordnung oder Zusammenhang durch die Sinne dargeboten werden und von denen wir allein durch die Sinne affiziert werden können; nicht aber dienen sie (die Logik und die Philosophie, K.A.) dazu, den Verstand zu üben« (PPC Anhang, Erster Teil). 33 Dieser Zusammenhang wurde bereits im Kapitel über die adäquaten und die inadäquaten Ideen angedeutet, wo es darum ging, dass die Erkenntnis der Ewigkeit eine Erkenntnis der immanenten Kausalität ist, in der die Verkettung der Dinge (rerum concatenatio) als der Zusammenhang

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Theorie der Affektionen und der Affekte

sogar behaupten, dass der metaphysische Grundbegriff der Substanz letztlich die Aktivität der Affektion selbst bestimmt. In ihr ereignet sich eine Vielzahl differentieller Affektionsvorgänge, durch die sich Modi bilden, die dann je unter den Attributen des Denkens und der Ausdehnung erkannt werden können. Auf der theoretischen Ebene ist ein solches affekttheoretisches Verständnis von Substanz zugleich ein differenztheoretisches Verständnis der Individuation, denn Individuen bilden sich in dieser Interpretation durch das differentielle Spiel einer Verkettung von Affektionen. Das würde auch bedeuten, dass Affektionen einen grundlegend transitiven Charakter haben und dass Affekte, die aus Affektionen hervorgehen, immer nur Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen sind, die einen größeren oder geringeren Grad an Vollkommenheit erreichen (vgl. E3p11s). Der Gesamtzusammenhang der Substanz lässt sich also insgesamt vom Affektionsgeschehen her verstehen und die einzelnen Modi sind je Ausdruck dieser Affektionen. Sie konstituieren sich in einer relationalen Dynamik der Affektionen und werden dabei jeweils erst durch etwas anderes begreifbar, wie Spinoza auch in E4p2 betont. »Wir erleiden etwas, insofern wir ein Teil der Natur sind, der durch sich und ohne die anderen Teile nicht begriffen werden kann.« Und im vierten Teil der Ethica wird weiter deutlich: »Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil der Natur wäre und bloß solche Veränderungen erleiden könnte, die durch seine eigene Natur allein eingesehen werden können« (E4p4). Aus dieser Voraussetzung folgt, dass das menschliche Individuum »notwendigerweise immer Formen des Erleidens unterworfen ist, daß er der gemeinsamen Ordnung der Natur folgt und gehorcht und daß er sich in dem Maße anpaßt, wie die Natur der Dinge es verlangt« (E4p4c). Das Verhältnis der Einheit des Ganzen zu seinen variablen Teilen, wie es in der einen Substanz und ihren vielfachen Affektionen deutlich wird, scheint auch in einem kleinen Exkurs im ersten Teil der Ethica auf, wo Spinoza sich der Frage widmet, warum die Menschen so sehr dazu tendieren, Quantität zu teilen. Es liege daran, so schreibt er, dass Quantität einmal in bloß abstrakter Vorstellung und einmal substanziell im Verstand vorkommt: In der leichteren, üblichen Vorstellung (imaginatio) erscheint Quantität als endlich und aus verschiedenen Teilen, also teilbar und zusammengesetzt. Im Verstande hingegen, wo wir Quantität als Substanz verstehen, können wir sie als »unendlich, einzig und unteilbar erfahren« (E1p15s). Entscheidend ist daran für Spinoza, dass des Einzelnen und Ganzen erkennbar wird (vgl. erster Teil III, 3). Im Sinne dieser Verkettung hängt alles mit allem zusammen, ist alles in der Natur immer zugleich ein Einzelnes und ein Teil des Ganzen. In diesem Sinne lässt sich mit Spinoza über eine relationistische Naturphilosophie nachdenken, die wichtige Theorielemente für eine Revision unserer Naturauffassung bereitstellen könnte.

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Materie »überall dieselbe ist und Teile sich in ihr nur insofern unterscheiden lassen, als wir die Materie (materiam) als in verschiedener Weise affiziert begreifen, worin ihre Teile nur modal, nicht aber real unterschieden sind« (E1p15s). Hier wird die Konzeption der Modi als Affektionen von Substanz an der quantitativen Unteilbarkeit der Substanz deutlich gemacht und Modi werden von ihrer Affizierbarkeit her ausgewiesen. 34 Individuen sind also Affektionen von Substanz, die zugleich affiziert werden und selbst affizieren und in dieser Operation ihre natürliche Macht und ihr natürliches Recht haben. 35 Substanz ist unteilbar, aber sie drückt sich eben in verschiedenen Modi aus. Die Darstellung des quantitativ unteilbaren Charakters von Materie wird zur Begründung der Natur Gottes angeführt, also um die »Materie der göttlichen Natur« anzuzeigen und zu beweisen, dass alle Dinge in Gott sind. Alle »Dinge, die sich ereignen, ereignen sich durch die bloßen Gesetze der unendlichen Natur Gottes, folgen also aus der Notwendigkeit seiner Essenz« (E1p15s). Und aus der Notwendigkeit dieser Essenz muss »unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen«, denn der Verstand erschließt aus der Essenz eines Dings notwendigerweise mehrere verschiedene Eigenschaften bzw. Eigentümlichkeiten (proprietates), und zwar umso mehr, je mehr Realität der Essenz eines Dinges zukommt. 36 Unterschiedliche Dinge unterscheiden sich nach Spinoza also entweder, weil sie den unterschiedlichen Attributen der Substanz angehören, oder weil sie verschiedene Affektionen dieser Substanz, also verschiedene Modi 34 Diese Annahme, dass die Materie immergleich ist und sich einzelne Modi in ihr nur als unterschiedliche Affektionen begreifen lassen, ist der Ausgangspunkt der Interpretation der Ethik im Sinne einer Feldmetaphysik bei Jonathan Bennett. Für Bennett ist der Raum eine Substanz und die einzelnen Dinge sind lediglich lokale, situative Eigenschaften dieser einen Substanz, die sich nicht real bestimmen lassen, sondern nur als modale Differenzen im einem einheitlichen Materiefeld bestimmbar sind. In dieser Situiertheit wird der aktiv-passive Charakter der Individuen deutlich, die zugleich andere Individuen affizieren und selbst affiziert werden. Vgl. dazu Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Cambridge 1984, S. 92–106, sowie ders., »Spinoza’s Metaphysics«, in: Don Garrett (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge, MA 1996, S. 61–88. Norman Sieroka setzt die metaphysische Feldtheorie Bennetts ins Verhältnis zu feldtheoretischen Ansätzen der modernen Physik. Vgl. Norman Sieroka, »Spinozistische Feldmetaphysik und physikalisches Materieverständnis«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 35/2 (2010), S. 105–122. Valtteri Viljanen hingegen stellt die feldmetaphysische Diskussion Bennetts in den Kontext eines metaphysischen Machtbegriffs und gelangt von hier zu sehr interessanten Einsichten zur Individuation. Vgl. Valtteri Viljanen, »Field Metaphysics. Power and Individuation in Spinoza«, in: Canadian Journal of Philosophy, 37/3 (2007), S. 393–418. Vgl. auch die Diskussion in Abschnitt II.1 des dritten Teils. 35 Auf dieses Verhältnis von Macht und Recht, wie es besonders im Tractatus politicus dargestellt wird, kommen wir in III, 6 des zweiten Teils noch zurück. 36 Für die Frage nach Gott, die uns hier nur am Rande interessiert, bedeutet das, dass aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur, sofern sie unbedingte und unendliche Attribute hat, »von denen jedes ebenfalls eine unendliche Essenz in seiner eigenen Gattung ausdrückt, [. . . ] vieles auf unendlich viele Weisen« folgen muss (E1Pro16Dem).

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Theorie der Affektionen und der Affekte

sind. 37 Affektion ist in diesem ontologischen Sinne als ein allgemeines Wirkungsverhältnis zu verstehen, und mit der Grundlegung des Körpers in einem Feld horizontaler Verbindungen zielt Spinoza darauf ab, plurale und kontingente Affektionswirkungen aufzuzeigen, die das Individuum auf mannigfache Weise affizieren. Auf diese Weise wird nicht nur die radikale Veränderlichkeit des Seienden in einem Wirkungszusammenhang betont, sondern es wird auch deutlich, dass das Affektionsgeschehen nicht auf einzelne Individuen zu zentrieren ist. Es ereignet sich vielmehr als eine transindividuelle Dynamik im Feld interagierender Individuen, die sich in unterschiedlichen Verbindungen und wechselseitiger kausaler Bedingung herausbilden. Eine Affektion ist eine Modifikation der Substanz und ein Modus wird durch unterschiedliche Affektionen unterschiedlich konstituiert. So wird die Pluralität des Seienden im ontologischen Gefüge von Substanz, Attributen und Modi und in einem Wirkungszusammenhang von Affektionen bestimmt, und diese Bestimmung der Affektionen bildet den Hintergrund der Affekttheorie des menschlichen Individuums. Von hier aus wird verständlich, warum Spinoza die Affektionen als unabdingbare Wirkungen der Natur versteht und warum er die menschlichen Affekte nicht wie etwas behandelt, das außerhalb der Natur liegt, sondern, wie andere natürliche Dinge auch, nach den allgemeinen Gesetzen der Natur. »Denn ich betrachte [. . . ] menschliche Affekte und deren Eigenschaften ganz so wie andere natürliche Dinge. Immerhin zeigen menschliche Affekte, wenn sie schon nicht des Menschen Macht anzeigen, wenigstens die Macht und Kunstfertigkeit der Natur an, nicht weniger als viele andere Dinge, die wir bewundern und die zu betrachten uns Freude bereitet« (E4p57s). Affekte werden also naturalisiert und können in dieser Weise als natürliche Dinge angesehen werden, weil das Affektionsgeschehen, durch das sie konstituiert werden, ein Prinzip der Natur und der in ihr erkennbaren immanenten Kausalität ist. Affekte in ontologischer Hinsicht zu verstehen, bedeutet also, ihre Konstitution in einem immanenten Gesamtzusammenhang der Substanz zu verstehen, die die Natur des Ganzen und der Teile zugleich ist.

37 Zur Verschiedenheit der Attribute der Substanz und der Affektionen der Substanz vgl. nochmals E1p4 und E1p14cor2.

Affektion und Affekt in pragmatischer Hinsicht

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I.3 Affektion und Affekt in pragmatischer Hinsicht

Im Unterschied zur ontologischen Bestimmung der affectio als eines umfassenden Affektionsgeschehens zwischen verschiedenen Entitäten haben wir es beim Begriff affectus mit den Affekten im engeren Sinne zu tun. Spinoza unterscheidet zwischen den drei Grundaffekten der Begierde (cupiditas), der Freude (laetitia) und der Trauer (tristitia) sowie zahlreichen daraus abgeleiteten Sekundäraffekten, die im Verlauf des dritten Teils der Ethica genau beschrieben und am Ende in einem Katalog von Definitionen dargestellt werden. 38 Zunächst geht es um die Primäraffekte: »Wir sehen also, dass der Geist große Veränderungen erleiden und bald zu einer größeren, bald zu einer geringeren Vollkommenheit übergehen kann; diese beiden Formen des Erleidens erklären uns die Affekte der Freude und der Trauer« (E3p11s). Freude (laetitia) ist gemäß dieser Abstufung der Vollkommenheit die Leidenschaft, »in der der Geist zu einer größeren Vollkommenheit übergeht«, und Trauer (tristitia) »diejenige [,] in der er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht« (E3p11s). Dabei zeigt sich der Affekt der Freude unter anderem als Lust oder als Heiterkeit und der der Trauer beispielsweise als Schmerz oder als Schwermut. 39 Im Falle von Lust und Schmerz haben wir es mit einem Ungleichgewicht der Affektionen zu tun, da bestimmte Teile von Körper und Geist mehr affiziert sind als andere, während im Falle von Heiterkeit und Schwermut ein Gleichgewicht der Affektionen vorherrscht. Zu den Grundaffekten gehört auch die Begierde (cupiditas), die sich jedoch von den anderen beiden Primäraffekten der Freude und der Trauer unterscheidet und nicht als ein Affekt im engeren Sinne verstanden werden kann. Spinoza bestimmt die cupiditas zunächst in E3p9s, wo sie als ein auf Körper und Geist bezogener Trieb bzw. als ein »Trieb mit dem Bewußtsein des Triebes« (E3p9s) und als das Streben des Menschen ausgewiesen wird, sich selbst zu erhalten. 40 In der Bestimmung der Einzelaffekte zum Ende des dritten Teils 38 Zur Aufzählung und Definition der einzelnen Affekte am Ende des dritten Teils der Ethica, wie sie aus der Auseinandersetzung mit Descartes’ Les Passions de l’Ame von 1649 hervorgegangen sind, vgl. Stephen H. Voss, »How Spinoza Enumerated the Affects«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 63 (1981), S. 167–179; ferner Ursula Renz: »Der mos geometricus als Antirhetorik. Spinozas Gefühlsdarstellung vor dem Hintergrund seiner Gefühlstheorie«, in: Michael Paul (Hg.), Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen, Freiburg 2005, S. 333–349. 39 Die Primäraffekte der Freude und der Trauer werden auch in den drei Perspektiven des Körpers, des Geistes und des Parallelismus bestimmt, was bei den abgeleiteten Affekten nicht der Fall ist. Vgl. dazu die Ausführungen in den Scholien zu E3p11 und E3p59 sowie die Beispiele in E3agd. 40 Vgl. auch den Abschnitt zur Affektion als Selbsterhaltung. Zur Diskussion der Primäraffekte im Kontext des Prinzips der Selbsterhaltung vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des

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Theorie der Affektionen und der Affekte

wird die Begierde sogar als »des Menschen Essenz selbst« (E3affdef1) bezeichnet. 41 Dieser Bestimmung zufolge ist die Begierde also das Streben eines jeden Individuums, in seinem Sein zu verharren. Durch die graduelle Intensität der Begierde unterscheidet sich ein jedes Individuum vom anderen und lässt sich als eine singuläre Ausdrucksform der Natur ausweisen. »Nun ist die Begierde genau die Natur oder Essenz eines jeden [Individuums] [. . . ], also weicht die Begierde eines jeden Individuums von der Begierde eines anderen in dem Maße ab, wie die Natur oder Essenz des einen Individuums sich von der Essenz des anderen unterscheidet« (E3p57dem). 42 Im Unterschied zum transitorischen Charakter von Freude (laetitia) und Trauer (tristitia), die je als ein Mehr oder ein Weniger an Handlungsmacht verstanden werden können, ist die Begierde also die Essenz des Menschen selbst und damit ein dynamischer Antrieb der Selbsterhaltung, der der Konzeption der Affekte zugrunde liegt. Ausgehend von ihrem transitorischen Charakter sind also zunächst nur die Freude und die Trauer zu bestimmen, aus denen alle anderen Affekte in vielfachen Abwandlungen und in Variationen von mehr oder weniger Vollkommenheit und mehr oder weniger Handlungsmacht herzuleiten sind. 43 So Menschen. Hamburg 1992, 142 ff. In seiner Diskussion der intuitiven Erkenntnis als einer höchsten Realisierung des conatus weist Wolfgang Bartuschat darauf hin, dass die Begierde (cupiditas) die »Elementarbestimmung des sich affektiv artikulierenden conatus« ist, und damit gleichzeitig eben die Essenz des Menschen selbst. »Begierde ist des Menschen Essenz selbst, insofern diese als von irgendeiner ihrer gegebenen Affektionen zu einem Handeln bestimmt begriffen wird.« Bartuschat schließt daraus, dass Spinoza unter einer »Affektion des menschlichen Wesens auch dessen Zustand (essentiae constitutio) versteht« und dass dieser »allein unter dem Attribut des Denkens« begriffen werden kann. Daraus folgt wiederum, dass der Mensch im intuitiven Erkennen nicht mehr von äußeren Affekten bestimmt wird, die die Begehrensstruktur des conatus ausmachen, sondern in der höchsten Erkenntnis nur noch durch sich selbst und damit durch Gott bestimmt ist. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 335. Für die Frage der immanenten Individuation ist die Gleichsetzung von essentia und constitutio besonders interessant, denn wenn die Begierde als essentiae constitutio einen Zustand der Essenz des Menschen konstituiert und sein Zustand damit immer zugleich seine Essenz ist, wird die Unterscheidung einer ihren modalen Formen vorhergehenden Substanz aufgehoben. Konstitution hat demnach zwei Dimensionen, nämlich die Konstitution des Modus selbst in einem bestimmten Zustand, also etwas im Affekt der Trauer und die Erzeugung eines Zustands in Konstitutionsverhältnissen, die wir hier als Affektionen (im Unterschied zum Affekt selbst) bestimmen. 41 Wie eingang bereits angesprochen, entfaltet Spinoza den Teil der Ethica, den wir aus heutiger Sicht am ehesten als eine Anthropologie verstehen würden, zwischen der Bestimmung des Triebs (appetitus) in E3p9s und der Bestimmung der Begierde (cupiditas) in E3affdef1 und zeichnet den Trieb und die Begierde als die Essenz des Menschen aus. 42 Hier sieht Balibar die Umstellung von einer metaphysischen Bedeutung der Essenz als einer einheitlichen Klasse, zu einer Bestimmung der Singularität von Individuen in ihrer Essenz. Vgl. Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, Delft 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71), S. 4. 43 Von Lehrsatz 32 des dritten Teils an charakterisiert Spinoza verschiedene einzelne Affekte wie Liebe, Eifersucht, Sehnsucht, Hass usw. Vgl. die tabellarische Aufstellung aller erwähnten Affekte

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ist z. B. die Liebe »nichts anderes als Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache und Haß nichts anderes als Trauer unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache« (E3p13s). Und auch alle anderen Affekte sind auf die Primäraffekte der Freude und der Trauer zurückzuführen, d. h., sie gehen aus einem Mehr oder Weniger von Macht in den Grundaffekten hervor. So ist Hoffnung eine »unbeständige Freude, die dem Vorstellungsbild einer zukünftigen oder vergangenen Sache entsprungen ist, über deren Ausgang wir im Zweifel sind; Furcht andererseits ist eine unbeständige Trauer, die ebenfalls dem Vorstellungsbild einer ungewissen Sache entsprungen ist« (E3p18s2). Für Spinoza gibt es so viele verschiedene Arten von Freude und Trauer, wie es verschiedene Dinge gibt, von denen das Individuum affiziert werden kann. In E3p56 macht er deutlich, dass die vielen unterschiedlichen Arten der Freude, der Trauer und der Begierde auf der Unterschiedlichkeit der Körper, ihrer Konstitution, ihrer Geschichte und ihrer Verbindungen beruhen. Aus all diesen Bedingungen resultieren die Intensität und damit der zeitliche Charakter der Affekte, der sie wie Passagen zwischen verschiedenen Zuständen erscheinen lässt. 44 Betrachtet man Spinozas Affektenlehre aus einer therapeutischen Perspektive, so erweist sich der Primäraffekt der Freude in besonderer Weise als bedeutsam, denn die Transformation passiver Affekte in aktive Affekte ist eine Transformation im Zeichen des Grundaffekts der Freude. Spinoza knüpft die Freude direkt an die Aktivität der Erkenntnis und verbindet die Wirkungsmacht des Geistes mit der Freude zum Prinzip einer freudvollen Erkenntnis. 45 »Unter allen Affekten, die dem Geist zukommen, insofern er aktiv ist, gibt es keine, die nicht zu Freude oder Begierde gehören« (E3p59). Trauer ist für Spinoza eine Hemmung der Macht des Geistes, zu denken, und insofern ist die Traurigkeit des Geistes auch eine Hemmung der Macht, zu erkennen und wirksam zu werden. Sofern der Geist aktiv ist, kann es folglich keine Affekte der Trauer geben, sondern nur Affekte der Freude oder der Begierde (vgl. dazu E3p59dem). Mit diesem Prinzip einer freudvollen Erkenntnis unterstreicht Spinoza seine Überzeugung von der Macht des Geistes, aber nicht um diesen in idealistische Höhen zu treiben und souverän über die augedehnte Welt zu setbei Francis Amann, »Liebe und Haß (3p13-21): Intentionalität, Repräsentation und Bewußtsein«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 37–57, besonders S. 176 f. 44 Den transitorischen Charakter der Affekte und die Bedeutung situativer Veränderungen für ihre Intensität thematisiert auch Aaron Ben-Ze’ev, »Emotions and Change: A Spinozistic Account«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 129–154. 45 Vgl. Moira Gatens, »Affective Transitions and Spinoza’s Art of Joyful Deliberation«, in: MarieLuise Angerer / Bernd Bösel / Michaela Ott (Hg.), Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, Berlin 2014, S. 17–33.

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zen, sondern vielmehr um ihn in seinem pragmatischen Seinszusammenhang wirksam werden zu lassen. 46 Die Freude, die Trauer und die Begierde liegen also als transitorische Grundprinzipien eines jeweiligen Mehr oder Weniger an Wirkungsmacht allen anderen Einzelaffekten zugrunde. Durch diese graduelle Verfassung sind die unzähligen weiteren Einzelaffekte höchst verschieden und jeder Affekt eines Individuums ist anders als der gleiche Affekt des nächsten Individuums. »Jeder Affekt eines jeden Individuums weicht von dem Affekt eines anderen in dem Maße ab, wie die Essenz des einen sich von der Essenz des anderen unterscheidet« (E3p57). 47 Freude und Trauer sind also graduelle Intensitäten, durch die sich die Individuen in ihrer Handlungsmacht unterscheiden (vgl. E3p57dem). Ausgehend von dieser dynamischen Grundbestimmung der Affekte als größere oder geringere Macht und Vollkommenheit wird deutlich, dass Affekte letztlich nie im Sinne abgeschlossener und fixierbarer Zuständlichkeiten zu bestimmen sind. Sie sind vielmehr zeitliche Übergänge zwischen unterschiedlichen Graden von Macht und stehen im Zusammenhang eines übergreifenden Affektionsgeschehens, durch das sie bestimmt werden. 48 Mit seiner Darstellung des Affektionsgeschehens und der aus ganz unterschiedlichen Affektionen hervorgehenden Affekte meint Spinoza nicht nur alle wichtigen Affekte, sondern vor allem auch die weniger eindeutigen und zufälligen Schwankungen des Gemüts erklären zu können, die sich aus der graduellen Ökonomie gesteigerter oder gehemmter Freude und Trauer ergeben. 49 Vor allem aber ist er überzeugt, die Zur Verknüpfung der Erkenntnis mit den Affekten siehe auch die Beiträge von Francis Amann und J. Thomas Cook in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext. Hildesheim u. a. 2002, S. 149–163 und S. 164–181. 47 Die Unterscheidung der Individuen anhand der Primäraffekte von Freude und Trauer wird auch an den Tieren aufgezeigt. Anhand ihrer Unterscheidung zeigt Spinoza, dass das Leben (oder vielmehr die Lebendigkeit) der Individuen nichts anderes ist als ihr jeweiliger Affekt der Freude (vgl. E3p57s). 48 Diesen dynamischen und damit antiessentialistischen Charakter der Affekte hat auch Emilia Giancotti sehr gut herausgearbeitet. Vgl. Emilia Giancotti, »The Theory of the Affects in the Strategy of Spinoza’s Ethics«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist, Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 129–138, hier S. 136. 49 Von einer Ökonomie der Affekte lässt sich auch in Anlehnung an Foucaults Bestimmung einer Ökonomie der Macht und der Machtbeziehungen sprechen, die erst durch den Widerstand und das Wechselspiel der Elemente sichtbar werden, das sich in ihnen ereignet. Macht wird bei Foucault nicht als eine substanzielle Kraft analysiert, sondern als ein Wechselspiel von Kräften in Beziehungen. Vgl. auch: Kerstin Andermann, »Individuationskräfte. Metaphysik der Macht in Foucaults politischer Theorie«, in: Oliver Marchart / Renate Martinsen (Hg.), Foucault und das Politische. Transdisziplinäre Impulse für die politische Theorie der Gegenwart, Wiesbaden 2019, S. 111–135. Im Sinne des Vorhandenseins der Macht als Möglichkeit und als Wirklichkeit sowie als Aktivität und als Passivität lässt sich hier von einer Ökonomie sprechen. In einem ganz ähnlichen Sinne erwähnt Willi Goetschel eine Ökonomie der Affekte und weist Spinozas Konzeption der Affektökonomie 46

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Affekte mit seiner systematisch orientierten Vorgehensweise jeweils aus ihren Ursachen herleiten zu können und ihre Gründe zu erkennen, d. h., er betrachtet sie vor dem Hintergrund seines ontologisch-erkenntnistheoretischen Systems als Teil einer erkennbaren Natur und versteht sie ausgehend von der immanenten Kausalität des Ganzen. »Und hiermit glaube ich die wichtigsten Affekte und Schwankungen des Gemüts, die der Zusammensetzung der drei ursprünglichen Affekte, nämlich Begierde, Freude und Trauer, entspringen, erläutert und durch ihre ersten Ursachen erklärt zu haben« (E3p59s). Der Umgang des menschlichen Individuums mit den Affektionen, denen es, sofern es Teil der Natur des Ganzen ist, notwendigerweise ausgesetzt ist, und den Affekten, die variabel daraus resultieren, hat also durchaus pragmatische Dimensionen. 50

Mechanismen der Affektion

Diese pragmatischen Dimensionen sollen im Folgenden als Mechanismen der Affektion ausgewiesen und in vier verschiedenen Hinsichten unterschieden werden. Erstens zeichnet sich die rationalistische Abwägung der Steigerung und der Schwächung der Grundaffekte durch einen utilitaristischen Charakter aus, d. h., der Umgang mit den Affektionen ist an einem Kalkül des Nutzenstrebens orientiert. 51 Am deutlichsten wird diese utilitaristische Ausrichtung zwar in der Begierde (cupiditas), die, wie oben erwähnt, auch als ein reines Streben nach Selbsterhaltung zu verstehen ist, doch in einem allgemeineren Sinne liegt auch den anderen Affekten ein Motiv der Kalkulation von mehr oder weniger Handlungsmacht und damit mehr oder weniger Vollkommenheit zugrunde. Wichtig ist dabei allerdings, zu betonen, dass auch dieser utilitazudem als den Höhepunkt der politischen Theorie aus. Vgl. Willi Goetschel, Spinoza’s Modernity. Mendelssohn, Lessing, and Heine, Wisconsin 2004, S. 45 ff. und S. 66 ff. Zur Ökonomie auch: Michiel A. Keyzer, »Spinoza and Micro-Economics«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist, Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 265– 282; ders., »Conatus, Freedom and the Market«, in: Studia Spinozana, 8/1992, S. 117–146. 50 Die Ethica kann als eine praktische Therapeutik der Emotionen verstanden werden, insofern in ihr die Bedingungen eines klugen Umgang mit den Affekten untersucht und diese wie natürliche Dinge aufgefasst werden, die einer rationalistischen Handhabung zu unterwerfen sind. Ursula Renz untersucht die Affektenlehre unter dem Aspekt einer Therapeutik, die auf der Naturalisierung und der Entmoralisierung der Emotionen aufbaut. Vgl. Ursula Renz, »Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, a. a. O., S. 309–330. Vgl. zur Therapeutik der Emotionen auch Jerome Neu, Emotion, Thought and Therapy: A Study of Hume and Spinoza and the Relationship of Philosophical Theories of the Emotions to Psychological Theories of Therapy, London 1978. 51 Vgl. zur utilitaristischen Dimension der Affekttheorie auch: Hasana Sharp, Spinoza and the Politics of Renaturalization, Chicago 2011, S. 85 ff.

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ristische Charakter der Affektfähigkeit nicht als ein reiner Zweck zu sehen ist, sondern an die körperlichen und geistigen Befindlichkeiten des menschlichen Individuums gebunden bleibt. So orientiert sich der Umgang mit den Affektionen an einer variablen Kalkulation der Grundaffekte von Begierde (cupiditas), Freude (laetitia) und Trauer (tristitia) und diese utilitaristische Ausrichtung drückt sich auch in den zahlreichen anderen Affekten aus, die sich aus den Primäraffekten ergeben. Zweitens hat der rationalistische Charakter dieser Affektkalkulation auch eine Effizienzdimension, denn es geht letztlich immer darum, eine möglichst adäquate Erkenntnis der kausalen Affektionszusammenhänge zu erreichen und den Umgang mit den Affektionen so steuerbar zu machen, dass er zu einer Steigeruneg der Handlungsmacht führt. Drittens wird die pragmatische Dimension der Affektfähigkeit des menschlichen Individuums in der Art und Weise deutlich, wie die funktionalen Mechanismen des Affektionsgeschehens bestimmt werden. In E3p13 und E3p14 erläutert Spinoza die Funktionsweisen der Verknüpfung von Affekten: »Wenn der Geist etwas vorstellt, das die Wirkungsmacht des Körpers vermindert oder hemmt, dann strebt er, soviel er kann, sich an Dinge zu erinnern, die dessen Existenz ausschließen« (E3p13). 52 Spinoza folgert, dass, wenn es dem Geist widerstrebt, sich etwas vorzustellen, das seine eigene Macht und die des Körpers behindert, er die Verknüpfung damit verhindert und es vermeidet, sich Dinge auszumalen, die seinem Streben nach Selbsterhaltung und Wirkungsmacht entgegenstehen. Ein weiteres pragmatisches Prinzip der Verbindung von Affekten wird in E3p14 vorgestellt: »Wenn der Geist einmal von zwei Affekten zugleich affiziert worden ist, wird er später, wenn er von einem von ihnen affiziert wird, auch von dem anderen affiziert werden.« Es geht hier um die Verknüpfung von Affektionen im Denken, also um Assoziationen, wie bereits in E2p18 deutlich gemacht wird, wo Spinoza die Assoziationen eines Soldaten und die eines Bauern beim Anblick der Spuren eines Pferdes miteinander vergleicht. So werden unterschiedliche Erinnerungen und unterschiedliche Affekte erzeugt, die je auf bereits vorhandene Erfahrungen mit Pferden im Krieg oder mit Pferden bei der Arbeit auf dem Feld zurückgehen. Mit dieser Darstellung deutet Spinoza auf die individuelle Wahrnehmung und die daraus resultierenden Akte hin und zeigt den unbewussten Charakter und die individuelle Historizität von Affekten auf. Aus der rationalen Einsicht in diese Form der Verknüpfung von Affekten und Affektionen schließt Spinoza, dass es, solange »wir nicht von Affekten bedrängt werden, die unserer Natur entgegengesetzt sind«, in unserer Gewalt (potestas) steht, »die Affektionen des Körpers gemäß einer 52 Hier wäre agendi potentiam besser mit Macht des Handelns oder Handlungsmacht zu übersetzen. Vgl. zu diesem Übersetzungsproblem auch die Fußnote 113 dieses Teils.

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Ordnung zu ordnen und zu verketten, die dem Verstand gemäß ist« (E5p10). Affekte, die unserer Natur entgegengesetzt sind, hindern den Geist daran, zu adäquater Einsicht zu kommen und die Affektionen dem Verstand gemäß zu ordnen und zu verknüpfen. »Das Beste also, was wir tun können, solange wir nicht eine vollkommene Erkenntnis unserer Affekte haben, ist ein richtiges Prinzip, d. h. sichere Regeln, für unsere Lebensführung zu konzipieren, diese unserem Gedächtnis einzuprägen und sie beständig auf die besonderen Fälle, die im Leben häufig vorkommen, anzuwenden, damit so unsere Vorstellungskraft weitgehend von ihnen affiziert wird und sie uns jederzeit zur Verfügung stehen« (E5p10s). Viertens geht ein weiterer Aspekt dieser Verknüpfung von Affektionen auf ihre Ähnlichkeit zurück, wie sie in E3p16 und E3p17 und einigen weiteren Lehrsätzen besprochen wird: »Wir werden ein Ding allein aus dem Grund lieben oder hassen, daß wir es uns als etwas vorstellen, das mit einem Gegenstand, der den Geist gewöhnlich mit Freude oder Trauer affiziert, irgendeine Ähnlichkeit hat [. . . ]« (E3p16). 53 Dabei ist es nahezu irrelevant, ob diese Ähnlichkeit eine wirkliche Ähnlichkeit ist, ob sie rein zufällig ist oder eine Projektion oder auch nur eine Mutmaßung. 54 Aus dieser Form der Verknüpfung von Affektionen unter dem Aspekt ihrer Ähnlichkeit erklärt Spinoza auch die Gefühle von Liebe und Hass gegenüber anderen Nationen und anderen Menschen (vgl. E3p46). Das Prinzip der Ähnlichkeit liegt den pragmatischen Dimensionen des Affektionsgeschehens insofern zugrunde, als es ihre essenzielle Grundlage ist und darauf zurückgeht, dass die Essenz der Körper gleich und in der Substanz verbunden ist. Die essenzielle Ähnlichkeit der Körper ist also für das Affektionsgeschehen von zentraler Bedeutung und aus ihr lässt sich das Prinzip der Nachahmung zwischen Körpern und ihren Ideen herleiten.

Siehe auch E3p23: »Wer sich vorstellt, daß das, was er haßt, mit Trauer affiziert ist, wird sich freuen; sollte er sich andererseits vorstellen, daß es mit Freude affiziert ist, wird er traurig sein; und jeder dieser beiden Affekte wird größer oder kleiner sein, je größer oder kleiner der ihm entgegengesetzte in dem verhaßten Ding ist.« In den folgenden Lehrsätzen wird der mechanistische Schematismus, mit dem Spinoza die Affekte traktiert, besonders deutlich. Es ist auch diese mechanistische Handhabung, die zur Unterscheidung einer theoretischen-ontologischen und einer praktisch-pragmatischen Dimension in der Affekttheorie Spinozas führt. 54 Vgl. dazu ebenfalls: Pierre-François Moreau, »Imitation der Affekte«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 183–195. Und auch: Ursula Renz, »Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein. A. a. O., S. 326 f. 53

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affectuum imitatio

Aus dem Aspekt der Ähnlichkeit der Körper und der Ideen, auf den wir im nächsten Abschnitt zur Theorie der Körper noch zurückkommen werden, ergibt sich also die Funktion der Nachahmung. Spinoza bezeichnet diesen Vorgang der Nachahmung der Affekte in E3p27s selbst als affectuum imitatio und führt ihn an ganz unterschiedlichen Fällen von Primäraffekten der Freude, der Trauer und der Begierde und den aus diesen Primäraffekten hergeleiteten weiteren Affekten aus. 55 Nachahmung von Affekten ist es etwa, wenn wir uns vorstellen, jemanden mit Freude zu affizieren und dabei selbst mit Freude affiziert werden. Oder auch wenn wir uns vorstellen, jemanden mit Traurigkeit zu affizieren, und dabei selbst traurig werden. Das imitierende Verhältnis beruht darauf, dass die Natur des äußeren Körpers, durch den wir affiziert werden, gleich unserer Natur ist, und die Idee, die wir von diesem äußeren Körper haben, zu einer Affektion unseres Körpers führt. Die Struktur der Ähnlichkeit erweist sich hier also als ein mimetisches Funktionsprinzip, wie sich auch in E3p22 zeigt: »Wenn wir uns vorstellen, daß jemand ein Ding, das wir lieben, mit Freude affiziert, werden wir mit Liebe zu ihm affiziert werden. Wenn wir uns andererseits vorstellen, daß er es mit Trauer affiziert, werden wir hingegen auch mit Haß auf ihn affiziert werden.« 56 In diesem Beispiel vollzieht sich die Imitation sogar in einer zweiten Ordnung und nicht unmittelbar, wobei Spinoza auch noch das Beispiel der Kinder anführt, die »lachen oder weinen, weil sie andere lachen oder weinen sehen« und die begehren, »das nachzuahmen, was sie andere tun sehen« (E3p32s). Im Falle der kindlichen Nachahmung haben wir es mit einer unmittelbareren Nachahmung zu tun, die zunehmend komplexer und Moreau und Renz verweisen auf diesen Aspekt der Affektimitation. Beide gehen nach meiner Einschätzung dabei aber zu vorschnell von einem aktiven Handlungssubjekt aus, das solche Imitationen wie intentionale Akte vollzieht. Im Unterschied dazu sollten vielmehr die Ähnlichkeit der Körper als Elemente der immanenten Natur und ihr mimetischer Charakter als eine ontologische Bedingung aufgezeigt werden, denn hier findet die Übertragung von Affekten überhaupt ihre Grundlage. Spinoza spricht in der Anmerkung zu E3p27 selbst von imitatio affectuum und zudem ist hier nicht nur von imitation, sondern auch von simulare die Rede, was eben für die Hervorhebung der Bedingung essentieller Ähnlichkeit spricht. Vgl. Pierre-François Moreau, »Imitation der Affekte und zwischenmenschliche Beziehungen«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik, a. a. O., S. 183–195; Ursula Renz, »Philosophische Therapeutik der Emotionen«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, a. a. O., S. 326 f. Vgl. auch: Keith Green: Spinoza on Reflexive Affects and the Imitation of Affects, in: Gábor Boros, Judit Szalai, Olivér István Tóth (eds.). The Concept of Affectivity in Early Modern Philosophy. Budapest 2017, 124–141. 56 Vgl. auch E2p17s, wo Spinoza bestimmte »Affektionen des menschlichen Körpers« als »Vorstellungsbilder von Dingen [bestimmt] obgleich sie die äußere Gestalt von Dingen nicht wiedergeben«. 55

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von Imaginationen durchdrungen wird. 57 Die Imaginationen spielen für diese mimetische Verbindung menschlicher Individuen eine wichtige Rolle, denn die Identifikation mit anderen Individuen vollzieht sich auch auf der Ebene der Imagination, wie in E3p27 deutlich wird. In welchen Komplexitätsgraden diese Imitationsfunktion auch wirksam wird, sie bildet eine Verbindung zwischen Individuen, ihren Körpern und ihren Ideen, die letztlich auf die Einheit der Körper und ihrer Ideen in einem immanenten Affektionszusammenhang zurückzuführen ist. 58 Mit dieser Betonung der Ähnlichkeitsstruktur der Körper und der Ideen deutet Spinoza eine konstitutive Dichte des Gesamtzusammenhangs der Substanz in der Ausdehnung und im Denken an, die die ontologische Grundlage der immanenten Kausalität ist und durch die die immanente Verkettung der einzelnen Modi erst möglich wird. Auf dieses Merkmal bzw. diese Bedingung der Verkettung sind wir bereits mehrfach gestoßen und die Figur einer Verkettung der Modi (rerum concatenatio) findet sich in ganz verschiedenen Hinsichten, d. h. als Verkettung der Körper, der Ideen, der Affektionen und, wie wir sehen werden, auch der Machtwirkungen. Dass diese Betonung einer relationalen Verkettung der Entitäten immer wiederkehrt und sich wie eine grundlegende ontologische Operation in den einzelnen Bereichen ausweisen lässt, macht nicht nur die Stringenz und den systematischen Charakter der Ethica deutlich, sondern es zeigt auch einen grundsätzlichen Antirepräsentationalismus. Spinoza bestreitet, dass die beweglichen Verhältnisse und Relationen der Dinge in feste, endgültige und repräsentierbare Formen übergehen, und betont stattdessen den dynamischen Charakter immanenter Affektionsverhältnisse. Unter der Voraussetzung der Ähnlichkeit der Körper im Attribut der Ausdehnung und im Attribut des Denkens wird eine Übertragbarkeit der Affektionen und der Affekte deutlich. Dieses mimetische Übertragungsgeschehen ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Immanenz, denn in ihm zeigt sich eine gleichursprüngliche und reversible Verflechtung des Subjekt- und des ObjektSiehe für eine psychoanalytische Auslegung dieser Nachahmungsprinzipien auch Osamu Ueno, »Res Nobis Similis: Desire and the Double in Spinoza«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 81–91. 58 Vgl. auch noch die Ausführungen in E3p55 und die dazugehörigen Anmerkungen, in denen Spinoza kurz vor Ende des dritten Teils folgert, dass der Mensch nur das erstrebt und begehrt, »was aus seiner Natur, wie sie ist, folgen kann«. Hier wird sehr deutlich, dass die Affekte in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen immer wieder auf den Gesamtzusammenhang der Natur zurückgeführt und von hier aus begründet werden. Diese Form der Renaturalisierung zeigt sich als ein durchgängiges Prinzip, das eben auf den ontologischen Hintergund zurückzführen ist, in dem Spinoza seine Ausführungen fundiert. 57

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status im menschlichen Individuum, auf die wir noch einmal zurückkommen werden. 59 Das Prinzip der Ähnlichkeit ist wie eine ontologische Bestimmung der Verbindung von Körpern zu verstehen, denn es ist ihre grundsätzliche und naturgemäße Ähnlichkeit im Attribut der Ausdehnung, durch die sich Affekte im Denken und in der Vorstellung übertragen. Spinoza schreibt: »Wenn wir uns ein uns ähnliches Ding, mit dem wir nicht affektiv verbunden gewesen sind, als mit irgendeinem Affekt affiziert vorstellen (aliquo affectu affici imaginamur), werden wir allein dadurch mit einem ähnlichen Affekt affiziert (eo ipso simili affectu afficimur)« (E3p27). Die Vorstellung der Affektion eines anderen Körpers ist somit immer auch eine Affektion des eigenen Körpers und seiner Ideen, und durch diese Affektion werden andere Dinge überhaupt erst vorstellbar. Erst die essenzielle Ähnlichkeit der Körper und ihrer Ideen ermöglicht ein Verhältnis der mimetischen Ausrichtung der Körper und der Ideen aufeinander. »Wenn also die Natur des äußeren Körpers der Natur unseres Körpers ähnlich ist, dann wird die Idee des äußeren Körpers, den wir vorstellen, eine Affektion unseres Körpers in sich schließen, die der Affektion des äußeren Körpers ähnlich ist. Wenn wir uns jemanden, der uns ähnlich ist, als mit einem Affekt affiziert vorstellen, wird diese Vorstellung folglich eine Affektion unseres Körpers ausdrücken, die diesem Affekt ähnlich ist. Mithin werden wir dadurch, dass wir uns ein uns ähnliches Ding als mit irgendeinem Affekt affiziert vorstellen, mit einem ähnlichen Affekt affiziert werden« (E3p27dem). Wenn wir uns vorstellen, dass der Körper eines menschlichen Individuums durch andere Körper affiziert wird, dann folgt Als ein ursprüngliches Angesprochenwerden durch den Anderen wird das Affiziertwerden auch bei Emmanuel Levinas thematisiert, der aus dieser Beziehung die Verantwortlichkeit für den Anderen her leitet. Der primär relational gründende Übergriff durch den Anderen wird hier als ein vorreflexives, vorpersonales Affektionsgeschehen beschrieben und der konstituierende Vorgang der Affektion wird zur Grundlage einer Ethik als erster Philosophie gemacht. Mit der Bestimmung dieses Verhältnisses als vorontologisch will Levinas gerade den stiftenden Mechanismus des ursprünglichen Konstitutionsgeschehens betonen, aus dem er die universelle Verantwortung für den Anderen ableitet. Die phänomenale Welt der Individuen und der sie umgebenden Dinge geht erst aus diesem elementaren Konstitutionsvorgang, der hier eben als ein Vorgang primordialer Affizierung durch den Anderen und als affektive Empfänglichkeit gekennzeichnet wird, hervor. Diese Darstellung der Affektion als eines stiftenden Konstitutionsgeschehens bestätigt die These einer konstituierenden Rolle des Affektionsgeschehens und einer stiftenden Macht der Affekte. Ähnlich wie hier bei Spinoza aufgezeigt, betont auch Levinas eine immanente Vermittlung von Aktivität und Passivität und stellt damit nicht nur die Aktivität der handelnden Bezugnahme auf den Anderen, sondern auch die Passivität des Empfangs heraus, die ebenfalls als ein Vermögen gekennzeichnet wird. Vgl. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg / München 1998, S. 325 f. Vgl. auch: Judith Butler, »Laplanche and Levinas: The Primacy of the Other«, in: dies., Giving an Account of Oneself, New York 2005, S. 84–101, sowie die Diskussion der Verbindung von Spinoza und Levinas in: dies., Senses of the Subject, New York 2015, S. 63–89. 59

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der Affekt selbst aus einer Verbindung des affizierten und des affizierenden Körpers und der die Affektionen begleitenden adäquaten oder inadäquaten Erkenntnis. Die Erkenntnis dieses Affektionszusammenhangs hängt von der Durchdringung der kausalen Beziehungen ab, in denen der affizierbare Körper steht und aus denen die Affektionen folgen. Spinoza stellt in E2p23 fest: »Der Geist erkennt sich selbst lediglich insofern, als er die Ideen der Affektion des Körpers wahrnimmt.« Die Natur des menschlichen Körpers stimmt also gewissermaßen mit der Natur seines Geistes überein, und daher können die Ideen der Affektionen des Körpers und auch die variablen anderen Modi erkannt werden. Mit anderen Worten: Bewusstsein ist für Spinoza immer auch ein Bewusstsein des Körpers. Es kann durch diese Bedingung auf die immanente Natur des Ganzen zurückgeführt werden und ist in unterschiedlichen Graden der Erkenntnis in der Lage, sich selbst in den kausalen Wirkungen dieses Ganzen zu verstehen. 60 Unter dem Aspekt ihrer Ähnlichkeit in der Natur des Ganzen zeigt sich aber nicht nur ein Imitationsverhältnis der Affekte einzelner Individuen zueinander, sondern vielmehr auch eine mimetische Bedingung, die das Verhältnis vielfacher Individuen bestimmt und einen transindividuellen Zusammenhang der Individuen sichtbar macht. 61 Es geht dabei um einen transindividuellen Resonanzraum, der die einzelnen Individuen überschreitet und in dem selbstverständlich auch nicht-menschliche Akteure eine Rolle spielen. 62 Im Kontext 60 Diese Annahme ist zur Voraussetzung zahlreicher Untersuchungen im Bereich der affect studies geworden und kommt in ganz verschiedenen Feldern zum Einsatz; so z. B. in der Analyse traumatischer Erfahrungen von Verlust und Gewalt, die sich in melancholischen Inkorporationen und wiederholten traumatischen Effekten ausdrücken und so den Körper eines Individuums immer wieder heimsuchen, sich aber auch intergenerational auf die Körper weiterer Individuen übertragen können, wie z. B. im Falle der Übertragung von Traumatisierungen. Die Intervention in solche affektiven Wiederholungen besteht in der Setzung von Differenzen zwischen den sich wiederholenden Effekten, denen der traumatisierte Körper unterliegt. In der anhaltenden und sich übertragenden Ausdrucksaktivität wird eine Form der Selbstorganisation des Körpers deutlich, die sich sowohl seiner naturalistischen wie auch seiner kulturalistischen Auslegung widersetzt und eine affektivrelationale Verstrickung als Gesetz seiner Selbstorganisation begreift. Vgl. die kritische Auseinandersetzung von Pheng Cheah mit den Theorien des Körpers bei Judith Butler und Elizabeth Grosz und seine Analyse der ontologischen Voraussetzung einer dynamischen Konzeption des Körpers, die diesen als eine sich selbst organisierende Form von Materie in konstituierenden Umwelten begreift: Pheng Cheah, »Mattering«, in: Diacritics 26 (1996), S. 108–139. 61 Wie auch hier beotnt wird: »Thus, by the unconscious imitation of the affects of others, the human subject is integrated into the multitude in the end.« Osamu Ueno, »Res Nobis Similis: Desire and the Double in Spinoza«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 81–91, hier S. 88. 62 Von hier aus lassen sich sozialtheoretische Anschlüsse herstellen, die auf die mimetischen Verhältnisse zwischen Individuen ausgerichtet sind. In dieser Richtung finden sich freilich zahlreiche weiterführende Beiträge, die etwa an Deleuze oder Gabriel de Tarde anschliessen, auf deren

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des dritten Teils der Ethica bleibt die Bestimmung des Imitationsprinzips der Affekte zwar auf die Ausdifferenzierung der Primäraffekte von Freude, Trauer und Begierde beschränkt und wird wie eine individualpsychologische Angelegenheit behandelt. Im Kontext der politischen Theorie Spinozas aber bekommt der mimetische Charakter der Affekte eine andere Wendung und daher soll die Frage der Verbindung der Individuen durch Affektionen und Affekte im Kontext einer Konzeption von Transindividualität noch einmal aufgenommen werden.

I.4 Affektion als Selbsterhaltung (conatus)

Mit dem Prinzip der Selbsterhaltung identifiziert Spinoza ein Prinzip, das alle Individuen in der Natur beherrscht. In seiner Annahme eines dynamischen Strebens nach Selbsterhaltung kommen ganz verschiedene Elemente seines Systems zusammen, denn dieses Streben muss sowohl von den ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des Affektionsgeschehens als auch von der Affektfähigkeit des menschlichen Individuums her verstanden werden. 63 Mit der Bestimmung eines Selbsterhaltungsstrebens führt Spinoza eine elementare Dynamik in seine Theorie immanenter Individuation ein, an der die Existenz des menschlichen Individuums grundlegend ausgerichtet ist. Im Prinzip der Selbsterhaltung, wie es auch Hobbes zur anthropologischen Grundlage seiner Konzeption des Staates gemacht hat, zeigt sich das Streben des Menschen, sich in der dynamischen Bewegung des Lebens zu erhalten. Damit steht der Begriff der Selbsterhaltung allen Ausrichtungen der menschlichen Natur entgegen, die sein Handeln teleologisch an übergeordneten Zwecken oder an

Darstellung ich aber zugunsten einer kompakten Ausrichtung auf Spinoza verzichte. Vgl. Gabriel de Tarde, Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt / Main 2003. Michael Della Rocca behandelt Spinozas Theorie der Imitation der Affekte als Frage nach der Sorge um Andere und eröffnet damit einen weiteren sozialphilosophisch-ethischen Kontext der Diskussion um den mimetischen Charakter des Affektionsgeschehens. Vgl. Michael Della Rocca, »Egoism and the Imitation of Affects in Spinoza«, in: Yirmiyahu Yovel / Gideon Segal (Hg.), Spinoza on Reason and the »Free Man«. Papers Presented at The Fourth Jerusalem Conference (Ethica IV), New York 2004, S. 123–147. 63 Vgl. zum conatus auch die folgenden Darstellungen: Thomas Cook, »Self-Knowledge as SelfPreservation«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences, Dordrecht 1986, S. 191–210; Don Garrett, »Spinoza’s Conatus Argument«, in: Olli Koistinen / John I. Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 127–158; Thomas Cook, »Der Conatus: Dreh und Angelpunkt der Ethik«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Ethik, a. a. O., S. 151–170; Rüdiger Bittner, »Spinoza über den Willen«, in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., S. 200–214; Lee C. Rice, »Emotion, Appetition, and Conatus in Spinoza«, in: Revue internationale de philosophie, Vol. 31, No. 119/120 (1977), S. 101–116.

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einer Vervollkommnung seines Wesens orientiert sehen. 64 Wie für Hobbes ist das Prinzip der Selbsterhaltung auch für Spinoza eine ontologische Grundlage des politischen Denkens. Im Tractatus politicus schreibt Spinoza, dass er seine politische Untersuchung »aus einem notwendigen Element der menschlichen Natur erwiesen habe, wie immer man sie betrachten mag, nämlich aus dem allgemeinen Selbsterhaltungsstreben aller Menschen, aus einem Streben, das allen Menschen innewohnt, mögen sie töricht oder weise sein« (TP 3:18). Im Prinzip der Selbsterhaltung wird deutlich, dass menschliche Individuen ihren Zweck nur in sich selbst und in ihrer eigenen Erhaltung finden können. So ist alles menschliche Verhalten letztlich als ein Ineinandergreifen von Kräften zu verstehen, deren Grundprinzip das Streben eines jeden Individuums ist, sich selbst zu erhalten und fraglos an sich festzuhalten. Für Spinoza ist dieses Streben nach Selbsterhaltung eine ontologische Grundlage der menschlichen Wirklichkeit und so ist das menschliche Individuum letztlich eine auf sich selbst gerichtete Kraft unter unendlich vielen anderen je auf sich selbst gerichteten Kräften. 65 Aus dieser ontologischen Voraussetzung des Selbsterhaltungsstrebens eines jeden menschlichen Individuums ergibt sich Spinozas Lehre von den Affektionen und den Affekten und er erklärt das Prinzip des conatus zu Beginn des dritten Teils der Ethica zu einem wesentlichen Aspekt der Affektenlehre. Nachdem die Aktivität und die Passivität des Individuums in den ersten drei Lehrsätzen aus den adäquaten und den inadäquaten Ideen hergeleitet wurde, bestimmt Spinoza das Prinzip der Selbsterhaltung. Er stellt zuerst fest, dass kein Ding »anders als von einer äußeren Ursache zerstört werden« kann (E3p4) und Dinge von »entgegengesetzter Natur nicht in demselben Subjekt [in eodem subjecto] sein« können (E3p5). Die eigentliche Formulierung des Gesetzes der Dieter Henrich bietet eine kenntnisreiche Begründung der modernen Philosophie aus dem Prinzip der Selbsterhaltung. Vgl. Dieter Henrich, »Die Grundstruktur der modernen Philosophie. Mit einer Nachschrift: Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung«, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a. M. 1976, S. 97–143. Zum Prinzip des perseverare im begriffsgeschichtlichen Kontext des 17. Jahrhunderts und seiner theologischen und metaphorischen Rahmung vgl. Hans Blumenberg, »Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität«, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a. M. 1976, S. 144–207. Zu den historischen und begriffsgeschichtlichen Kontexten des conatus siehe Martin Mulsow, »Selbsterhaltung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, S. 393 ff.. Vgl. auch: Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 2010, S. 246–252, sowie insbesondere zu Descartes: Daniel Garber, »Descartes and Spinoza: On Persistence and Conatus«, in: Studia Spinozana 10/1994, S. 43–67. 65 Vgl. auch die Darstellung einer Ontologie des Menschen und die Bedeutung des conatus in einer auf die Selbsterhaltung reduzierten Theorie des Menschen bei: Konrad Hecker, »Spinozas Ontologie der Körperwelt«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 31 (1977), S. 604. 64

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Selbsterhaltung folgt dann im sechsten Lehrsatz, wo festgehalten wird: »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren« (E3p6). 66 Durch ihr Streben nach Selbsterhaltung stehen die Dinge also allem entgegen, was ihre Existenz aufheben könnte, und suchen sich in ihrem Sein zu erhalten. Spinoza macht dieses Streben zu einem essentiellen Prinzip und dynamisiert damit die Essenz eines jeden Dings in einer Bewegung der Selbsterhaltung: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges« (E3p7). 67 Mit dieser Bestimmung der Essenz der endlichen Einzeldinge als ein Streben wird deutlich, dass die einzelnen Dinge nicht einfach starr determinierte Teile des Ganzen sind, sondern in einer je bestimmten Weise an sich ausgerichtet und auf sich gerichtet sind, d. h., ihnen ist ein je spezifisches, dynamisches Streben nach Selbsterhaltung in den umgebenden Affektionszusammenhängen eigen. 68

Selbsterhaltung und Selbstüberschreitung

Spinozas Konzeption des conatus ist aber nicht einfach als eine zentrierende Befestigung des Individuums an sich selbst zu verstehen, die sich aus einer Abgrenzung gegen seine Umwelt ergeben würde. Mit der Bestimmung der Macht der Affekte als eines Prinzips immanenter Individuation wird vielmehr ein paradoxer Charakter des Strebens nach Selbsterhaltung deutlich, denn die In der lateinischen Version dieser Bestimmung des conatus ist noch nicht die Rede von einer Natur oder einer Macht, aus der die Selbsterhaltung sich ergibt: »Unaquaque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.« In der Übersetzung von Bartuschat heißt es dann: »Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur [. . . ]« und in der englischen Übersetzung von Curley ist die Rede von »by its own power [. . . ]«. Einmal wird also die Natur und das andere Mal die Macht hinzugefügt, die aber tatsächlich erst in E3p6dem erwähnt werden, wo Spinoza festhält, dass das Verhältnis der einzelnen Dinge zum Ganzen ein Verhältnis des Ausdrucks der Modi aus der Substanz des Ganzen ist und dass die einzelnen Dinge »die Macht (potentiam) Gottes«, also die Macht »durch die Gott ist und handelt [est et agit], auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken«. Vgl. zur Frage des Ausdrucks und zur Bestimmung eines Ausdrucksgeschehens als zentralem Einsatzpunkt den Abschnitt I.6 des ersten Teils zu Deleuze. Zur Deutung dieses Lehrsatzes aus dem Trägheitsprinzip ist auch die Diskussion in Lehrsatz 14 des zweiten Teils der PPC hinzuzuziehen, und zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Formulierung quantum in se est vgl. Bernard Cohen, »Quantum in Se Est: Newton’s Concept of Inertia in Relation to Descartes and Lucretius«, in: Notes and Records of the Royal Society of London, 19/1964, S. 131–155. 67 »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam« (E3p7). 68 Vgl. auch Laurent Bove, der den conatus als ein Verhältnis von Affirmation und Widerstand und als ein dynamisches Prinzip der Lösung von Entscheidungsproblemen in Ethik und Politik beschreibt. Laurent Bove, La stratégie du conatus. Affirmation et résistance chez Spinoza, Paris 1996. 66

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Selbsterhaltung des Individuums beruht gerade auf seiner affektiven und imaginären Durchlässigkeit. Sie beruht darauf, dass die jeweilige räumliche und zeitliche Gegenwart des Individuums durch Affektionen und Imaginationen überschritten wird und das Individuum in seinem Streben, sich selbst zu erhalten, einer konstitutiven Entgrenzung seiner selbst in den Affektionsverhältnissen ausgesetzt ist. 69 Mit der Herleitung des conatus aus der immanenten Gesamtanlage des ontologischen Modells der Ethica wird deutlich, dass das Selbsterhaltungsstreben nicht aus einer negativen oder defizienten Bedingung des Individuums, also etwa aus einem psychischen oder physischen Mangel, zu erklären ist, sondern eben als ein positives und affirmatives Konstitutionsgeschehen und als ein fortlaufender Individuationsprozess verstanden werden muss. 70 Spinoza legt eine durch und durch immanente Konzeption des Prinzips der Selbsterhaltung vor, die sich aus den Affektionen des Körpers und damit des Geistes ergibt. 71 In dieser Perspektive ist der conatus als ein Streben zu verstehen, das durch die Affektionen zwischen Körpern und durch ihre affirmativen Interaktionen in Ruhe und Bewegung angetrieben wird. 72 Wie wir im Yovel überträgt diese Überschreitung des Individuums in seinem Streben auch auf die Erkenntnis sub specie aeternitatis und schreibt: »As Spinoza’s theory unfolds, what emerges is a desire not only for self-preservation, but also for eternity: conatus is revealed to be the finite mode’s striving to overcome its finitude and link onto the atemporal and eternal.« Yirmiyahu Yovel, »Transcending Mere Survival: From Conatus to Conatus Intelligendi«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 45–62, hier: S. 47. 70 Auf einer praktischen Ebene kann das Prinzip der Selbsterhaltung allerdings durchaus auch negativ motiviert sein, denn menschliche Individuen können auch in negativen Situationen und negativen Gefühlen gefangen sein, und zwar bis hin zur Erfahrung von Lust durch äußere Einwirkungen, die ihre Unversehrtheit oder sogar ihre Selbsterhaltung bedrohen. 71 Zur Diskussion des Selbsterhaltungsstrebens im Kontext von Spinozas Monismus vgl. Tracie Matysik, »Spinozist Monism. Perspectives from within and without the Monist Movemement«, in: Todd H. Weir (Hg.), Monism: Science, Philosophy, Religion, and the History of a Worldview, New York 2012, S. 107–134. 72 Hans Jonas bestimmt diese Prinzipien einer dynamischen Selbsterhaltung mit Blick auf eine Theorie des Organismus bei Spinoza und macht in einem anschaulichen Beispiel deutlich, dass sich die Identität des Individuums, das hier als ein lebendiger Organismus verstanden wird, aus der Kontinuität des Prozesses der Selbsterhaltung ergibt: »As, in a burning candle, the permanence of the flame is a permanence, not of substance, but of process in which at each moment the ›body‹ with its ›structure‹ of inner and outer layers is reconstituted of materials different from the previous and following ones, so the living organism exists as a constant exchange of its own constituents, and has its permanence and identity only in the continuity of this process, not in any of its material parts.« Insgesamt untersucht Jonas die Bedeutung der Substanzkonzeption für eine vitalistische oder zumindest antimechanistische Theorie des Organismus und betont dabei, dass es freilich nicht Spinozas Interesse war, eine Theorie des Organismus zu entwickeln, dass seine metaphysischen Voraussetzungen und Annahmen aber besser als die dualistischen und mechanistischen Voraussetzungen des Cartesianismus geeignet sind, organische Existenz zu erklären. Hans Jonas, »Spinoza 69

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nächsten Teil zur Theorie der Körper deutlich sehen werden, benötigt ein jedes Individuum andere Individuen und die von ihnen ausgehenden Affektionen zu seiner Selbsterhaltung und dementsprechend sind die affektiven und imaginären Zusammenhänge, in denen es sich befindet, Grundlage seiner Selbsterhaltung. 73 Spinozas Konzeption des conatus ist also von einer paradoxen Bewegung her zu verstehen, nämlich von einer Begrenzung des Individuums durch seine Entgrenzung. Spinoza zeigt, dass die Konstitution des Individuums in seinem Streben nach Selbsterhaltung erst durch die Verbindung mit anderen Individuen erfolgt. So wird deutlich, dass das Streben nach Selbsterhaltung ein relationaler und, wie wir unten noch deutlicher sehen werden, ein transindividueller Prozess ist, aus dem sich nicht nur die Erhaltung des Individuums, sondern auch die Möglichkeiten seiner Transformation ergeben. Dabei ist es aber nicht der conatus selbst, der die paradoxe Dezentrierung des Individuums bewirkt, es ist nicht das Selbsterhaltungsstreben, von dem die Dekomposition des Individuums ihren Ausgang nimmt, sondern es sind die allgemeinen Affektionsverhältnisse, die das Individuum auseinanderstreben lassen und in denen es sich erst durch den conatus zu einer singulären Einheit integriert. 74 Der conatus ist das Prinzip, durch das die Einheit des Individuums in den umgebenden Affektionsverhältnissen bewirkt wird. Und so ist der Ursprung von Individualität nicht in einer originären Einheit des and the Theory of Organism«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 265. 73 In einer ähnlichen Stoßrichtung fragt auch Judith Butler, was das Streben nach Selbsterhaltung eigentlich mit Blick auf eine sozialtheoretisch gewendete Kritik des Individualismus bedeutet. Wie wir in der Konzeption der Theorie des Individuums im dritten Teil noch sehen werden, sind Individuen für Spinoza keineswegs nur einfache Individuen, sondern Individuen können auch vielfach sein und so ist die Macht, die im Streben nach Selbsterhaltung zum Ausdruck kommt, immer auch eine Macht der Anderen. Butler sucht nach einer, wie wir es unten mit Balibar nennen, transindividuellen Grundlage des Strebens nach Selbsterhaltung und fragt, was dieses Selbst eigentlich sein soll, das es im Streben nach Selbsterhaltung zu erhalten gilt, und inwiefern dieses Streben eine Rolle für ethische und psychologische Fragen nach dem gelingenden Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft spielt. Vgl. Judith Butler, Senses of the Subject, New York 2015, S. 63–89. Auch im Kontext ihrer Kritik ethischer Gewalt ruft Butler die Figur des conatus auf und diskutiert Hegels Theorie der Anerkennung vor dem Hintergrund des Strebens und des Begehrens (desire) nach Selbsterhaltung, um zu dem Schluss zu kommen, dass dieses Streben zugleich Grenze und Bedingung von Anerkennungsverhältnissen ist. Vgl. Judith Butler, »Against Ethical Violence«, in: dies., Giving an Account of Oneself, New York 2005, S. 41–44. 74 Vgl. dazu auch die Darstellung bei Caroline Williams, die den conatus versteht als »a fractural field of affective relations rather than a primary drive towards persistence and preservation. Together with the anonymous structure of imagination, it works to undo and decompose the subject.« Hier wird der conatus selbst als das Feld der Affektionen und als eine Dekomposition ausgewiesen, was nicht richtig sein kann, denn er bewirkt erst die Einheit des Individuums in diesem Feld. Vgl. Caroline Williams, »Subjectivity without the Subject: Thinking Beyond the Subject with / through Spinoza«, in: Beth Lord (Hg.), Spinoza Beyond Philosophy, Edinburgh 2012, S. 11–27, hier: S. 21.

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Individuums vorauszusetzen, sondern Individualität ergibt sich aus den Affektionsverhältnissen des Körpers und des Geistes und wird erst durch das Streben nach Selbsterhaltung konstituiert und integriert. Mit anderen Worten: In den relationalen Bezügen der Affektion richtet der conatus das Individuum auf sich selbst aus und hält es zusammen. Der Ausgangspunkt der Frage nach dem Individuum und der Individualität ist also immer das immanente Feld der Affektionen, und um diesen Ausgangspunkt überhaupt erst zu eröffnen, beginnt die vorliegende Untersuchung, wie wir im ersten Teil gesehen haben, mit der Bestimmung der immanenten Selbstursächlichkeit der Substanz und der relationalen Struktur ihrer modalen Ausdrucksformen. Im Rahmen einer Theorie immanenter Individuation lässt sich der conatus also als ein prozessuelles Individuationsprinzip bestimmen, das sich dynamisch an äußere Einwirkungen anpasst und so die Erhaltung des Individuums sichert. Durch das Streben nach Selbsterhaltung und durch die Vermittlung der Erkenntnis kann sich das Individuum aus den umgebenden Verhältnissen abheben und seine Singularität konstituieren. In dieser Konzeption des conatus wird also eine stetige Überwindung des Individuums durch sich selbst und damit gewissermaßen ein Prinzip der Selbsterhaltung durch Selbstüberwindung deutlich. 75 Es geht hier aber nicht in erster Linie um die Frage, ob wir es beim conatus mit einem Prinzip der Selbsterhaltung oder der Selbststeigerung zu tun haben, sondern vielmehr darum, den conatus als ein Prinzip der Individuation zu verstehen, die auf eine Steigerung der Erkenntnis der Natur angelegt ist. 76 Der conatus ist die Macht oder die Kraft des Individuums, sich in den Affektionsverhältnissen, in die es eingelassen ist und in denen es stetigen Einwirkungen von außerhalb seiner selbst ausgesetzt ist, zu erhalten, sich also an sich selbst auszurichten und sich, um es mit der paradoxen Formulierung Nietzsches auf den Punkt zu bringen, immer wieder zu dem zu machen, was es Von diesem Prinzip berichtet bekanntlich auch Nietzsches Zarathustra: »[D]iess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. ›Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.‹« Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. (Zweiter Theil 1883), KSA 4, S. 148. 76 Ob es sich um einen Vorgang der Selbsterhaltung oder der Selbststeigerung dreht, ist eine Frage des Ausgangspunkts. Wir können von Selbsterhaltung sprechen, sofern jedes Individuum, sei es ein einfaches oder ein vielfaches, für die Erhaltung seines Zustands sorgen muss, wie z. B. für den Erhalt einer beherrschten Sprache, den Erhalt der Demokratie oder den Erhalt des aufrechten Gangs. Zugleich kann Selbsterhaltung aber auch eine Selbststeigerung sein, denn für menschliche Individuen geht es immer auch darum, der Rückläufigkeit von Individuationsprozessen entgegenzuwirken oder sie in andere Richtungen zu lenken. Eine ausführlichere vergleichende Diskussion der Erhaltung in Spinozas Begriff des conatus und der Steigerung in Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht findet sich bei Yovel: Yirmiyahu Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 2012, S. 440 ff. 75

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bereits ist. 77 Wenn die Macht, sich selbst zu erhalten, nicht genutzt wird oder das Individuum nicht in der Lage ist, sie zu nutzen, so lässt der fortlaufende Prozess immanenter Individuation nach oder bricht sogar ab. Das Individuum geht dann in die umgebenden Verhältnisse über, verliert seine Singularität und wird unfrei. 78

Selbsterhaltung und Formerhaltung

Das Prinzip der Selbsterhaltung ist also auch ein Prinzip der Formerhaltung, und dabei geht es Spinoza nicht um einen aristotelischen Begriff von Form als Wesensrealisierung der Materie. Er gebraucht den Begriff forma in der kleinen Abhandlung zur Physik der Körper, auf die wir im nächsten Abschnitt genauer eingehen werden, und betont dort, dass ein Individuum, das aus mehreren Körpern zusammengesetzt ist und sich in dieser Zusammensetzung verändert, »seine Natur wie zuvor ohne irgendeine Veränderung seiner Form (formae) behalten« (E2p13lem4) kann. Spinoza bestimmt also ein dynamisches Geschehen, hält aber an einer Form der Individuen fest, die sich auch unter der Veränderung ihrer Teile erhält. Das Streben nach Selbsterhaltung dient demnach auch der Formerhaltung, und so ist die Erhaltung der Form eines Individuums auf seinen je eigenen conatus zurückzuführen. Für das menschliche Individuum bedeutet das, dass es sich durch die Affektionen, denen es unterliegt, zwar durchaus vielfach verändern, aber seine Form gleichwohl erhalten kann. In diesem Sinne wird mit dem Prinzip der Selbsterhaltung eine Formerhaltung bestimmt, die die Variabilität und die Pluralität der endlichen Modi, die die menschlichen Individuen sind, begrenzt. Wenn wir im Folgenden also das So lautet bekanntlich der Untertitel von Nietzsches Ecce Homo. Vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist, KSA 6, 255–374. 78 Bartuschat bestimmt das Versagen oder den Verlust des conatus in ähnlicher Weise als einen Verlust von Individualität und als einen Übergang des einzelnen Individuums in eine überindividuelle Kette von Ereignissen. »Strebt ein Individuum wesentlich danach, sich selbst zu erhalten, so ist sein Streben durch seine spezifische Natur bestimmt. Es geschieht im Kontext von Ereignissen einer dem Individuum äußeren Natur, gegen die es sich zu erhalten sucht, denen es aber, sofern sie wirkungsmächtiger als die eigene Natur sind, weitgehend erliegt. Der ontologische Status des Erhaltungsstrebens sagt deshalb noch nichts über das tatsächliche Sich-Erhalten eines Individuums. Vielmehr verliert es unter den Bedingungen des ihm Äußeren in seinem Streben, sofern dieses nicht von vernünftiger Einsicht geleitet ist, die ihm eigene Individualität, worin es zum Glied einer es übergreifenden Ereigniskette wird, als das es fremdbestimmt und somit unfrei ist.« Wolfgang Bartuschat, »Metaphysik und Ethik in Spinozas ›Ethica‹«, in: Studia Spinozana 7/1991, Würzburg 1991, S. 15–37, hier: S. 19. Vgl. auch Bartuschats Analyse des conatus in: »Vernunft und Affektivität bei Spinoza«, in: Stefanie Hübsch / Dominic Kaegi (Hg.), Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, S. 93 ff. 77

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Affektionsgeschehen, in das menschliche Individuen eingelassen sind, als ein Konstitutionsgeschehen ausweisen, das diese Individuen bestimmt, müssen wir bedenken, dass damit keine unendlich variable Veränderung des menschlichen Individuums gemeint sein kann, sondern nur eine Veränderung im Rahmen seiner Selbsterhaltung als Formerhaltung. Die Bestimmung des conatus macht also auch deutlich, dass dem Individuationsgeschehen Grenzen gesetzt sind, die die Grenzen der Form des menschlichen Individuums sind. Im Rahmen des ontologischen Systems bedeutet das allerdings nicht, dass Modi immer gleichbleibende Arten von Individuen sind, denn sie teilen sich durch das Affektionsgeschehen, und ihre Macht, sich selbst zu erhalten, richtet sich nach der graduellen Abstufung ihrer Aktivität und ihrer Passivität. 79 Auf der Ebene der Ontologie, und das heißt als Modi der Substanz, die wir im Attribut des Denkens und im Attribut der Ausdehnung erkennen können, wird also deutlich, dass die verschiedenen Individuen eigentlich nicht real unterscheidbar, sondern nur modale Differenzierungen im Ganzen der Substanz sind. An dieser Konzeption der Selbsterhaltung als Formerhaltung hängt freilich auch die Frage der Freiheit des menschlichen Individuums, denn die Freiheit endlicher Individuen ist nicht zuletzt abhängig von ihrer Selbsterhaltung, und wenn das Streben nach Selbsterhaltung aussetzt, endet die Formerhaltung des Individuums. Das Streben nach Selbsterhaltung ist also auch eine Form des Widerstands gegen die umgebenden Wirkungen, denn wenn Individuation sich in den relationalen Verhältnissen vollzieht, die das Individuum umgeben, dann sind auch die Auflösung des Individuums und der Widerstand gegen diese Auflösung zu bedenken. 80

79 Michael Schrijvers, »The Conatus and the Mutual Relationships Between Active and Passive Affects in Spinoza«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 63–80. 80 Balibar überträgt diese Dimension des Widerstands gegen die konstitutiven äußeren Kräfte, die den conatus auszeichnet, auf das Feld des Politischen (womit er den Begriff des conatus gewissermaßen auf seine Herkunft aus kriegerischen Kontexten zurückführt) und behauptet eine parallele Steigerung der Macht des Individuums und der Macht des Staates. Das bedeutet, dass die Macht des Individuums durch die größere Macht des Staates nicht etwa geschwächt, sondern vielmehr gestärkt wird. Und es bedeutet zugleich, dass das Streben nach Selbsterhaltung nicht nur eine individualistische Angelegenheit ist, sondern eine Dimension der Transindividualität aufweist, die sich in einfachen wie in vielfachen Individuen zeigt. Vgl. Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, Delft 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71), S. 10.

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Selbsterhaltung und Lebenserhaltung

Besonders anschaulich stellt sich das Prinzip der Selbsterhaltung dar, wenn Spinoza im vierten Teil der Etihca den Selbstmord diskutiert und festhält, dass auch der Tod immer auf äußere Einwirkungen zurückzuführen ist, die der Selbsterhaltung zuwiderlaufen und die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung im Körper stören. »Niemand also, es sei denn er ist von äußeren und seiner Natur entgegengesetzten Ursachen besiegt, unterläßt es, seinen eigenen Vorteil zu suchen oder sein Sein zu erhalten. 81 Niemand [. . . ] verschmäht Nahrung oder nimmt sich das Leben aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur; nur die tun es, die von äußeren Ursachen dazu gezwungen werden, was auf viele Weisen geschehen kann« (E4p20s). Das Streben nach Selbsterhaltung macht es unmöglich, dass ein »Mensch aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur danach strebte, nicht zu existieren oder sich in eine andere Gestalt zu verwandeln« (E4p20s). Obwohl die endlichen Dinge von der Unendlichkeit des Ganzen klar abgehoben werden, rührt der Tod für Spinoza immer von einer äußeren Einwirkung auf die Affektionsverhältnisse des Körpers her. So kann es keinen freiwilligen Tod geben, also keinen Tod, der nicht durch direkte oder indirekte äußere Einwirkungen verursacht ist, die dem Streben nach Selbsterhaltung entgegenstehen. Das Streben des Individuums verläuft für Spinoza stets in Richtung des Lebens, und so dreht sich seine immanente Konzeption der Selbsterhaltung immer um das Leben und nicht um den Tod. 82 Dementsprechend ergibt sich auch die Freiheit des Menschen aus der Erkenntnis des Lebens, wie in E4p67 deutlich gemacht wird: »Ein freier Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachdenken über das Leben, nicht über den Tod« (E4p67). 83 Siehe zur Negation der Selbsterhaltung und zur Unmöglichkeit des Selbstmordes auch: Birgit Sandkaulen, »Die Macht des Lebens und die Freiheit zum Tod. Spinozas Theorie des Suizids im Problemfeld moderner Subjektivität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55 (2007), S. 193– 207. 82 Ihr ist also durchaus auch eine vitalistische Dimension eigen, die sich aus den zeitgenössischen naturphilosophischen und physikalischen Zusammenhängen ergibt. Vgl. zur Bestimmung des Individuums durch seinen jeweiligen conatus als ein Prinzip des Lebens: Silvain Zac, L’idée de vie dans la philosophie de Spinoza, Paris 1963, S. 99. Ursula Renz deutet den conatus im Ausgang der stoischen oikeiôsis-Lehre und zugleich im Ausgang des Trägheitsprinzips und unterscheidet eine biologisch-vitalistische und eine allgemein ontologische Lesart. So erklärt sie z. B. das unkluge Verharren des Individuums in Zuständen und Situationen, die ihm nicht zuträglich sind, aus dem ontologischen Charakter des conatus als eines grundsätzlichen Selbsterhaltungsprinzips. Vgl. Ursula Renz, »Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen«, in: Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, a. a. O., S. 317 f. 83 »Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat, et ejus sapientia non mortis, sed vitae meditatio est« (E6p67). 81

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Das Prinzip der Selbsterhaltung bildet den Übergang von der metaphysischen Diskussion der ersten Teile der Ethica zur Frage nach dem Menschen. Deutlich wird das vor allem in der Bestimmung der Zeitlichkeit des conatus, denn wenn das Streben nach Selbsterhaltung eine Macht der endlichen Einzeldinge ist, sich in der Unendlichkeit für eine bestimmte Dauer (duratio) zu erhalten, dann zeigt sich, dass Spinoza auch die Selbsterhaltungsleistung des Individuums von der Erkenntnis des Unendlichen und von der Erkenntnis unter dem Aspekt der Ewigkeit her versteht. 84 »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, schließt keine endliche, sondern eine unbestimmte Zeit in sich« (E3p8). Das Streben nach Selbsterhaltung ist einem jedem endlichen Ding eigen und es gibt keine Förderung oder Hemmung dieses Strebens, die nicht zugleich eine solche des Geistes wie auch des Körpers ist. So sucht sich nicht nur der Körper in den Affektionsverhältnissen zu erhalten, sondern auch der Geist strebt nach Selbsterhaltung in einer unbestimmten Dauer. 85 »Der Geist strebt, sowohl insofern er klare und deutliche, als auch insofern er verworrene Ideen hat, auf eine unbestimmte Dauer in seinem Sein zu verharren, und seines Strebens in dieser Form ist er sich bewußt« (E3p9). Von dieser zeitlichen Bestimmung ausgehend lässt sich sagen, dass der conatus die Determination endlicher Individuen in einer bestimmten Dauer oder für eine bestimmte Dauer zu bewirken vermag. Von hier aus wird auch deutlich, dass die Individuen, wie die Substanz des Ganzen, »in sich selbst« (in se est), also ihr je eigener Erhaltunsgsgrund sind. Die Essenz des Geistes besteht für Spinoza in den adäquaten und inadäquaten Ideen, und im Sinne der Selbsterhaltung strebt der Geist danach, sich stets das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers fördert und es ihm erlaubt, auf eine unbestimmte Dauer hin in seinem Sein zu verharren (vgl.

So stehen die Veränderungen des Körpers und des Geistes auch nur indirekt im Widerspruch zum Prinzip der Erkenntnis sub specie aeternitatis, das Spinoza im fünften Teil der Ethica ausführt. Wie Gueroult vermutet, unterscheidet Spinoza nicht zwischen verschiedenen Formen der Ewigkeit, denn Ewigkeit ist nur Gott zuzuschreiben. Vgl. Martial Gueroult, Spinoza 1. Dieu, Hildesheim 1968. Das würde bedeuten, dass der Körper zwar eine veränderliche Entität ist, er aber trotzdem unter dem Aspekt der Ewigkeit steht, und zwar insofern, als er ein Modus ist, der Gottes Essenz (die ewig ist) ausdrückt (vgl. E2d1 und besonders deutlich zum Aspekt der Ewigkeit des Körpers E5p29). 85 Siehe zur Dauer der Selbsterhaltung auch die Darstellung von Deleuze, der erläutert, dass die Dauer eine unbestimmte Fortsetzung der Existenz ist und das Ende der Dauer, also der Tod, von der Zersetzung eines Modus durch einen anderen Modus herrührt. »Solange der Modus existiert, besteht die Dauer aus gelebten Durchgängen, die die Affekte definieren, aus fortwährenden Übergängen zu größeren oder kleineren Vollkommenheiten, aus kontinuierlichen Veränderungen des Tätigkeitsvermögens des bestehenden Modus.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 73 f. 84

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E3p12). 86 Der Geist ist sich dieses Strebens bewusst, weil er sich durch die Affektionen des Körpers, die zugleich Ideen des Geistes sind, seiner selbst bewusst ist. Mit Blick auf den Geist nennt Spinoza das Streben nach Selbsterhaltung Wille (voluntas) und mit Blick auf den Körper und den Geist nennt er es Trieb (appetitus). Von dieser Bestimmung des Triebs ausgehend gelangt er zur Bestimmung der Begierde (cupiditas) als eines Triebes mit dem Bewusstsein des Triebes und zur Bestimmung dieser Begierde als Essenz des Menschen. 87 Das menschliche Individuum erfährt sein Streben nach Selbsterhaltung also in Form der Begierde und es identifiziert diese Begierde mit seinem Willen als der Ursache seines an Selbsterhaltung orientierten Handelns. 88 Als Trieb und als Begierde ist das Streben nach Selbsterhaltung ein pragmatischer Grundzug des menschlichen Individuums in seiner determinierten Essenz, d. h. in einer Essenz, die an bestimmte Bedingungen der Selbsterhaltung, wie etwa die der Nahrungsaufnahme, geknüpft ist. 89 Ein Individuum ist also nach seinem eigenen conatus zu bestimmen, denn dieser ist seine Essenz und damit seine Macht, zu handeln und sich im Gesamtzusammenhang der Natur zu bewegen und zu erhalten. 90 Mit dem Streben nach Selbsterhaltung ist für Spinoza auch eine Abwendung von dem verbunden, was unserer Natur widerstrebt und unsere Macht hemmt, und so kann es in unserem Geist keine Ideen geben, die die Existenz unseres Körpers ausschließen (vgl. auch E3p10). Dementsprechend wird auch in den Regeln zur Lebensführung im fünften Buch der Ethica darauf hingewiesen, »daß wir beim Ordnen unserer Gedanken und Vorstellungsbilder immer das beachten müssen, was gut in jedem Ding ist, damit wir so immer aus einem Affekt der Freude heraus zum Handeln bestimmt werden« (E5p10s). Und das höchste Streben des Geistes ist es, »Dinge in der dritten Erkenntnisgattung einzusehen« (E5p25). 87 In diesem Sinne wird die cupiditas dann als erste und grundsätzlichste Definition in der Aufzählung der Affekte am Ende des dritten Teils auf den Punkt gebracht (vgl. E3affdef1 und auch E4p18dem, wo es um die Begierde unter der Voraussetzung der Freude geht). Siehe zur Begierde auch den vorhergehenden Abschnitt I.3 dieses Teils. Zur Unterscheidung von conatus und Begierde sei hier erneut verwiesen auf Emilia Giancotti, »The Theory of the Affects in the Strategy of Spinoza’s Ethics« in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 129–138. 88 Vgl. auch die Unterscheidung von Begierde und Wille in KV 2:16 sowie die Ausführungen zum Willen als notwendige Ursache und als natura naturata in E1p31 und E1p32. 89 Beth Lord behandelt die Frage des conatus von seiner Bestimmung als Begierde ausgehend und fragt, warum ein endlicher Modus bestimmte Dinge begehrt und andere vermeidet. Die Ursache von Hunger beispielsweise sei nicht das Essen vor uns, sondern eine Form der Begierde, die durch unser Streben nach Selbsterhaltung immer wieder einsetzt. Vgl. Beth Lord, Spinoza’s Ethics, Edinburgh 2010, S. 88. 90 Susan James sieht in Spinozas Darstellung des conatus eine dualistische Asymmetrie zwischen körperlicher Passivität und geistiger Aktivität und kritisiert, dass Spinoza die Möglichkeit einer Zunahme der Selbsterhaltungsmacht des Körpers nicht in Erwägung zieht. Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997, S. 156. 86

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Das Streben nach Selbsterhaltung ist also immer auch von diesem Zusammenhang des Körpers und der Ideen des Geistes her zu verstehen, und daher ist es für Spinoza auch möglich, die Normen unseres Verhaltens aus den Affektionsverhältnissen herzuleiten, in denen wir als menschliche Individuen stehen. 91 Das bedeutet, dass die Affektenlehre letztlich zu einer Grundlage der Ethica als Ethik wird und dass mit ihr die Begründung von Regeln des Verhaltens nicht aus übergeordneten normativen Prinzipien herzuleiten ist, sondern eben aus der affektiven Natur des Menschen selbst und aus seinem Streben nach Selbsterhaltung. 92 Das Gute und das Schlechte sind nicht als gegebene Größen vorauszusetzen, sondern gut und schlecht sind die Dinge, weil wir sie in der einen oder anderen Weise begehren, und wir begehren sie, weil sie unsere Selbsterhaltung befördern. In E3p9s wird deutlich, was das für Spinoza bedeutet, wenn er nach der Bestimmung des Strebens des Geistes, der sich durch die Affektionen des Körpers seiner selbst und seines Strebens bewusst wird, resümiert: »Aus all dem steht also fest, daß wir etwas weder erstreben, noch wollen, weder nach ihm verlangen, noch es begehren, weil wir es für gut halten; im Gegenteil, wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, es wollen, nach ihm verlangen und es begehren« (E3p9s).

Selbsterhaltung und Machterhaltung

Zuletzt soll der conatus noch einmal metaphysisch gewendet werden, denn er ist eben nicht nur in pragmatischer Perspektive als cupiditas zu verstehen, sondern auch in einer metaphysischen Perspektive als Ausdruck der Macht Gottes, die zugleich die Macht der Natur und die Macht eines jeden endlichen Individuums ist. Im ersten Hauptsatz des Anhangs von Teil vier der Ethica fasst Spinoza die Dimensionen des conatus noch einmal zusammen und schreibt: »Unser Streben insgesamt, d. h. alle unsere Begierden folgen so aus der Notwendigkeit unserer Natur, daß sie entweder durch sie allein als durch ihre nächste Ursache eingesehen werden können oder insofern, als wir ein Teil der Natur sind, der durch sich ohne andere Individuen nicht adäquat begriffen 91 Zur Begründung einer naturalistischen Ethik, die die Affektenlehre als eine Ethologie, also als eine Verhaltenslehre bestimmt, in der die Regeln des Verhaltens nicht aus Normen, sondern eben aus den Affekten hergeleitet werden, vgl. Klaus Hammacher, »Spinozas Ethik als Affektenlehre«, in: Klaus Hammacher / Irmela Reimers-Tovote / Manfred Walther (Hg.), Zur Aktualität der Ethik Spinozas, Würzburg 2000, S. 27–55. 92 Dies macht Spinoza auch in E4p22c deutlich, wo es heißt: »Das Streben, sich selbst zu erhalten, ist die erste und einzige Grundlage von Tugend«. Vgl. zum Verhältnis von Natur und Norm auch den Abschnitt II.2 des ersten Teils.

200

Theorie der Affektionen und der Affekte

werden kann« (E4app1). Erinnern wir uns daran, dass die endlichen Modi je ein Ausdruck der unendlichen Macht Gottes sind, die sich als Essenz des Geistes im Attribut des Denkens und als Essenz des Körpers in Ruhe und Bewegung zeigt. Als endliche Modi bringen die Individuen also die Macht Gottes zum Ausdruck und streben danach, wie eben schon deutlich gemacht, sich als Audruck dieser Macht zu erhalten. Wir kommen zwar unten noch einmal auf Spinozas Begriff der Macht als potentia zurück, aber es ist hilfreich, sich an dieser Stelle bereits klarzumachen, dass auch der conatus als eine solche Macht oder eine Kraft zu verstehen ist. So heißt es in E3p7dem: »[D]ie Macht jedes Dinges, anders formuliert das Streben, mit dem es, entweder allein oder zusammen mit anderen, handelt oder zu handeln strebt, d. h. [. . . ] die Macht oder das Streben, mit dem es in seinem Sein zu verharren strebt, ist daher nichts anderes als die gegebene oder wirkliche Essenz ebendieses Dinges« (E3p7dem). Mit Blick auf die grundsätzliche Bedeutung des conatus stellt sich aber die Frage, wie dessen metaphysische Bestimmung als eine Macht im Sinne der potentia zu verstehen ist. Es reicht nicht aus, diese Macht als Macht Gottes zu bestimmen oder sie aus einer allgemeinen Natur herzuleiten, und auch sollte sie nicht individualistisch verengt und auf einzelne Individuen beschränkt werden. Wie im Folgenden deutlich wird, ist diese Macht zur Selbsterhaltung vielmehr von einer relationalen Bestimmung immanenter Individuation ausgehend zu verstehen und sie ergibt sich aus der Interaktion der Individuen und ihrer vielfachen gegenseitigen Affektion. Das Streben nach Selbsterhaltung lässt sich als eine Macht im Sinne der potentia ausweisen, da die Affektfähigkeit des Individuums, also seine Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, eine Form der Machterhaltung und damit eine Erhaltung der potentia agendi, also der Handlungsmacht oder der Wirkungsmacht des Individuums ist. 93 Die Wendung von der Macht der Affekte zeigt hier ihre spezielle Bedeutung, denn das Prinzip der Selbsterhaltung ist nicht ohne die Fähigkeit des Individuums zu verstehen, mit dem relationalen Affektionsgeschehen, in das es eingelassen ist, umzugehen und es für sich zu nutzen. Die Affektionen sind also auch für das Streben nach Selbsterhaltung von konstitutiver Bedeutung, denn erst durch die Affektionen kann sich ein Körper erhalten, wie im nächsten Teil zur Theorie der Körper und auch im Kontext der ontologischen Bestimmung von Individualität als Transindividualität noch deutlich wird.

93

Vgl. dazu auch Abschnitt II.2. des dritten Teils zur potentia.

Potentialität des Affektionsgeschehens

201

I.5 Potentialität des Affektionsgeschehens

Mit der Unterscheidung von affectio und affectus und der Darstellung der Affektionen in ontologischer Hinsicht lässt sich, wie wir in den Abschnitten I.2 und I.3 dieses Teils gesehen haben, zugleich ihre Bedeutung in pragmatischer Hinsicht ausweisen. Für Spinoza ist der Umgang mit den Affektionen und den Affekten auch ein praktisches Vermögen, denn erst aus der Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, ergibt sich überhaupt die Potentialität der Modi. Den Affektionen und den Affekten kommt also eine Schlüsselstellung im praktischen Erfahrungszusammenhang zu und das Affektionsgeschehen ist konstitutiv an der Selbsterhaltung des Individuums beteiligt. Und zwar nicht in erster Linie, weil es dieses in einem inneren Kern befestigen würde, sondern vielmehr, weil es das Individuum durch die Affektionen in einer Synthese seiner verschiedenen Aspekte von außen konstituiert. Die Herausforderung der Untersuchung der Affektionen und der Affekte besteht darin, dieser Synthese der Aspektvielfalt gerecht zu werden und sie als ein reversibles Verhältnis zu verstehen, das in seinen Ursachen und Wirkungen jeweils umkehrbar ist und aus dem sich eine komplexe Kausalität ergibt. Affektivität ist gleichermaßen eine Sache des Denkens wie der Ausdehnung, sie ist nicht allein eine Leidenschaft (passio), sondern ebenso eine Aktivität (actio) und stellt eine reversible Bedingung dar, denn das Individuum ist zugleich Subjekt und Objekt des Individuationsgeschehens und existiert in einer gleichursprünglichen Verbindung von Aktivität und Passivität. Mit anderen Worten: Ein aktives Subjekt, das die Objekte konstituiert, kann im nächsten Moment zum passiven Objekt werden, das wiederum durch andere aktive Subjekte konstituiert wird. Diese Umkehrung geht zurück auf die fortlaufende Differenz, die Spinoza nicht nur mit der Aufnahme der Unterscheidung der Attribute der Ausdehnung und des Denkens in seine immanente Konzeption der Substanz eingezogen hat, sondern die bereits durch die Bewegung der Selbstunterscheidung im selbstursächlichen Prinzip der causa sui in Gang gesetzt wurde. Aus der Gleichursprünglichkeit von Körper und Geist wie von Aktivität und Passivität ergibt sich eine fortlaufende Differenz, die die Potentialität des Affektionsgeschehens eröffnet und einen Möglichkeitsspielraum freisetzt, der die gegebene Wirklichkeit des Individuums immer wieder verändern kann. 94 Die Aktivität des Subjektstatus und die Passivität des Objektstatus bewegen sich 94 Deleuze erweitert diese Analyse auf eine Mikroebene von Affektionen und betont raumzeitliche Dynamiken, die aktualisierte Qualitäten überschreiten und zu neuen Aktualisierungen führen. Er identifiziert diese Dynamiken als Intensitäten, die zu Verkettungen von Affektionen führen und durch die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung immer wieder neuen Impulsen folgen und sich neu erschaffen. Dadurch wird eine kritische Absetzung von standardisierten Identitätsformen des

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Theorie der Affektionen und der Affekte

wie in einer Drehung voneinander weg und aufeinander zu und so ergibt sich eine differentielle Bewegung fortlaufend reversibler Umkehrung in den Konstitutionsverhältnissen. Mit der Betonung der Reversibilität zeigt sich erneut, dass die immanente Anlage des ganzen Systems nicht auf eine Korrelation seiner Elemente hinausläuft, die als individuierte Einheiten bereits vorausgesetzt wären. Sie zielt vielmehr auf die Bestimmung eines dynamischen Verhältnisses, in dem jedes Element auf das andere bezogen ist und seine Potentialität aus dieser Differenz bezieht. Mit einer korrelationistischen Perspektive wäre im Unterschied dazu eine unnötige Substantialisierung verbunden, die die einzelnen Elemente, als etwa das menschliche Individuum im Attribut des Denkens oder das menschliche Individuum im Attribut der Ausdehnung, als abgegrenzte substantielle Einheiten voraussetzen würde. Diese Reversibilität zeigt sich wohl am deutlichsten in Spinozas Bestimmung der Affektfähigkeit als der Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden. 95 In dieser Konzeption reversibler Affektionsverhältnisse werden aktualisierte Affekte immer wieder überschritten und führen zu Verkettungen von Affektionen, die sich in den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung immer wieder neu aktualisieren und eine Potentialität des Affektionsgeschehens in intensiven und dynamischen Wechselwirkungen sichtbar machen. Neben ihrer ontologischen und ihrer pragmatischen Bedeutung lässt sich in Spinozas Lehre von den Affektionen und den Affekten also eine Dimension der Potentialität ausweisen, die im Folgenden anhand der Verbindung von Körper und Geist, von Aktivität und Passivität und schließlich an der Verbindung von Wirklichkeit und Möglichkeit im Affektionsgeschehen nachvollziehbar gemacht werden soll.

Körper und Geist

Vor dem dargestellten Hintergrund der Reversibilität stellt sich erneut die Frage nach der Unterscheidung der Attribute als Unterscheidung von Körper und Geist. In der bekannten dritten Definition des dritten Teils der Ethica bestimmt Körpers und des Geistes möglich und die Potentialität des Affektionsgeschehens überschreitet die vorhandene Wirklichkeit. 95 Deleuze prägt in Spinoza et le problème de l’expression die Wendung pouvoir d’être affecté, die von Ulrich Johannes Schneider mit dem Begriff des »Affiziertseinkönnens« übersetzt wurde. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 191 f. Und er kommt auch in der Auseinandersetzung mit Nietzsche immer wieder auf diese Konzeption der Affektfähigkeit zurück. Es ist Spinoza, so Deleuze, der »in einer tiefgründigen Theorie zu erweisen versucht, daß einer jeden Kraftqualität ein Vermögen, affiziert zu werden, korrespondiere. Ein Körper sollte umso mehr Kraft aufweisen, je mehr Arten, affiziert zu werden, ihm eignen.« Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, S. 69.

Potentialität des Affektionsgeschehens

203

Spinoza nicht nur Affektionen des Körpers, sondern eben »zugleich die Ideen dieser Affektionen« (E3d3). Haben wir es bei den Affektionen, durch die die Affekte entstehen, mit Wirkungen auf den Körper oder auf den Geist zu tun? Oder ist die Wirklichkeit der Affekte nicht vielmehr eine ganze, aber reversible Wirklichkeit des psycho-physischen Zusammenhangs, der das menschliche Individuum ausmacht? Zwar betont Spinoza vereinzelt eine Perspektivierung auf den Geist (E3agdexpl) oder den Körper (E3p59s), doch wird immer wieder deutlich, dass es eben nicht um diese Alternativen geht und auch nicht um eine Verbindung dieser Alternativen, die ihre Elemente als unabhängig voneinander voraussetzen würde. Der Monismus ist vielmehr im Sinne einer Identität und Einheit des Ganzen zu verstehen, dessen Teile unter verschiedenen Attributen zum Ausdruck kommen können. So ist jede Regung des Körpers von einer Regung des Geistes begleitet und geht mit dieser einher, wie auch umgekehrt jede Regung des Geistes mit einer Regung des Körpers einhergeht. In E2p13 hat Spinoza diese Frage bereits aufgegriffen, indem er den Körper als das Objekt der Idee des menschlichen Geistes ausgewiesen hat. »Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper, d. h. ein bestimmter wirklich existierender Modus von Ausdehnung und nichts anderes« (E2p13). Spinoza begründet hier, dass die Ideen, die durch die Affektionen auf das menschliche Individuum einwirken, nicht in Gott sein könnten, wenn das Objekt des menschlichen Geistes nicht der Körper wäre. »Wir haben aber [. . . ] Ideen der Affektionen des Körpers. Also ist das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, der Körper und zwar der wirklich existierende Körper« (E2p13dem). Spinoza folgert aus diesem Zusammenhang, dass das menschliche Individuum aus einem Geist und einem Körper besteht und dass der in unterschiedlicher Weise empfundene Körper wirklich existiert (vgl. E2p13c). Es ist also deutlich, dass Körper und Geist eins sind und nicht nur parallel zueinanderstehen, sie sind ein und dieselbe Substanz, die in zwei Attributen erkennbar ist und sich in unendlichen Modi als eine Einheit ausdrückt, deren Elemente reversibel miteinander verbunden sind. Die Affektionen und die Affekte können sowohl auf den Körper wie auf den Geist bezogen sein, wie etwa in den Wendungen »nostri corporis affectus« (E3p14d), »corporis constitutio seu affectus« (E2p18d) sowie »mentis affectio« (E3p52s) deutlich wird. Die Einheit von Körper und Geist zu verstehen, bedeutet aber für Spinoza vor allem, »die Natur unseres Körpers« (E2p13s) zu verstehen und adäquat zu erkennen. Da es wie von allen anderen Dingen auch vom menschlichen Körper in Gott eine Idee gibt, gilt, was für alle anderen Dinge gilt, auch für den menschlichen Körper. Aus diesem Grund müssen wir die besondere Natur des menschlichen Körpers verstehen. Diese besondere Natur ist seine ausgwiesene Affektfähigkeit, also die Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, und

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Theorie der Affektionen und der Affekte

damit zugleich Subjekt und Objekt der immanenten Kausalität zu sein, die dem Affektionsgeschehen zugrunde liegt. Die reversible Verschränkung von Körper und Geist führt dabei zu einer je einheitlichen Erfahrung der vielfachen Affektionen, die auf das menschliche Individuum einwirken. Zwar ist es ein Ziel der Affektenlehre, den Geist von den passiven Leidenschaften zu befreien und durch den rationalen Umgang mit den Affekten zur Freiheit zu gelangen, doch bedeutet das nicht, dass die Affekte nur als Affektionen des Geistes und nur als mentale Zustände zu verstehen wären. Die Auseinandersetzung mit der Affizierbarkeit des menschlichen Individuums ist eine Auseinandersetzung mit der Affizierbarkeit des Körpers und den sich daraus ergebenden Ideen. In der allgemeinen Definition der Affekte zum Ende des dritten Teils der Ethica kommt Spinoza noch einmal auf die Frage nach Geist und Körper im Affektionsgeschehen zu sprechen. Er erklärt, dass sich im Falle einer Affektion die »größere oder geringere Kraft des Existierens«, die ein Individuum erreicht, daraus ergibt, »daß die Idee, die die Form des Affekts ausmacht, von dem Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher« (E3Affgd). 96 Die Essenz des Geistes besteht für ihn darin, »die wirkliche Existenz seines Körpers zu bejahen«, und daraus folgt, »daß der Geist zu einer größeren oder geringeren Vollkommenheit dann übergeht, wenn sich ereignet, daß er von seinem Körper (oder einem seiner Teile) etwas bejaht, das mehr oder weniger Realität in sich schließt als zuvor« (E3Affgd). Hier wird die zentrale Stellung des Körpers deutlich, die Spinoza auch für die Affektfähigkeit insgesamt behauptet: »Was den menschlichen Körper so disponiert, daß er auf vielfache Weise affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf vielfache Weise zu affizieren, ist dem Menschen nützlich und umso nützlicher, je fähiger es den Körper macht, auf vielfache Weise affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren, während andererseits schädlich ist, was den Körper dazu weniger fähig macht« (E4p38). Wir sehen also, dass die Verbindung von Körper und Geist grundsätzlich ein Verhältnis der Bejahung ist und die Affektionen des Körpers eine notwendige und wichtige Rolle für die Bildung der Ideen des Geistes spielen. Die Untersuchung der Affekte fordert uns heraus, die Gleichursprünglichkeit des Körpers und des Geistes zu verstehen und die Macht des Geistes zu denken, mit der Macht des Körpers zu handeln, in Beziehung zu setzen. 97 Der reversible Zusammenhang von Körper Ob mit der Rede von der Form des Affekts (affectus forma) eine wesenhafte Bestimmung gemeint ist, scheint mir unklar, denn forma ist ja nicht einfach mit essentia gleichzusetzen, zumindest nicht in einem substanziellen Sinne, wie Spinoza in E2p10 selbst gezeigt hat. Vgl. dazu Abschnitt I, 8 des ersten Teils. 97 Michael Hardt bestimmt diesen Zusammenhang als ein Kontinuum, was aber meiner Meinung nach zu sehr auf eine linear fortschreitende Prozesshaftigkeit hindeutet und nicht nur den 96

Potentialität des Affektionsgeschehens

205

und Geist ist also eine Voraussetzung für die Fähigkeit, sich die Affektionen zunutze zu machen und die Erweiterung der Erkenntnis als eine Erweiterung der Handlungsmacht und damit als eine Potentialität der Existenz zu verstehen.

Aktivität und Passivität

Die Potentialität des Affektionsgeschehens ergibt sich aber nicht nur aus dem reversiblen Verhältnis von Körper und Geist, die in der Einheit des menschlichen Individuums aufeinander bezogen sind. Potentialität ergibt sich bereits aus der Unterscheidung von Aktivität und Passivität, die sich ebenfalls durch eine fortlaufende Umkehrung, also durch ein reversibles Verhältnis von Passivität und Aktivität auszeichnet. 98 Was mich zu dem Individuum macht, das ich bin, und was meine Identität erhält, ist die Tatsache, dass, so wie ich von anderen Individuen affiziert und dadurch konstituiert werde, andere Individuen in gleicher Weise von mir affiziert und durch mich konstituiert werden. Die Dimensionen von Aktivität und Passivität sind bereits in jene Konzeption von Materie und Form eingelassen, die Aristoteles zur Bestimmung des Seins ausführt, denn hier hängt die Bestimmung einzelner Entitäten von der Einlassung der Form in die Materie ab: Die Materie nimmt eine bestimmte Form an, die ihr bereits innewohnt, und wenngleich Aristoteles die Möglichkeit der Formenbildung als Aktivität und als Aktualisierung von Materie versteht, ist deutlich, dass sich aus dieser Konzeption nur relativ statische Möglichkeiten der Formenbildung ergeben. Aktivität und Passivität sind also bereits für Aristoteles grundlegende Kategorien der Bestimmung des Seins, und es ist ein wesentlicher Zug der frühneuzeitlichen Philosophie, die Potentialität von Aktivität und Passivität aus der engen Formvorgabe des Aristotelismus zu wesentlichen Aspekt der reversiblen Umkehrung, sondern auch die differentielle Verschiebung zwischen den Einheiten verwischt. Vgl. Michael Hardt, »What affects are good for«, in: Patricia Ticineto Clough (Hg.), The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham and London 2007, S. IX– XIII, hier: S. X. 98 Lee C. Rice beschreibt die parallele Struktur von Aktivität und Passivität nicht als Reversibilität, sondern als Reziprozität und verschenkt damit gerade die Möglichkeit der Umkehrung und des Umschlagens von Aktivität in Passivität und umgekehrt: »Spinoza’s behavioristic account of activity-passivity reciprocity lies behind much of his development of a general theory of affects in Ethics III, as well as in his explanation of human servitude (lack of control over these operant conditions) in Ethics IV.« Lee C. Rice, »Action in Spinoza’s Account of Affectivity«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 155–168. Zur Frage von Aktivität und Passivität und zum Aktivwerden mit besonderem Blick auf den Körper vgl. Pascal Sévérac, Le devenir actif chez Spinoza, Paris 2005.

206

Theorie der Affektionen und der Affekte

befreien und die Macht einzelner Entitäten als einen bestimmten Spielraum auszuloten. 99 Das dynamische Zusammenspiel von Aktivität und Passivität, also zu handeln und behandelt zu werden, zu affizieren und affiziert zu werden, ist einer der interessantesten Aspekte in Spinozas immanenter Theorie der Individuation. Die Offenheit des Individuums für Affektionen setzt es einerseits in Passivität den Leidenschaften aus und verleiht ihm andererseits die Aktivität, über die Leidenschaften zu verfügen und sie zu seiner Selbsterhaltung zu nutzen. Spinoza unterscheidet zwischen Affekten als Aktivitäten und Affekten als Leidenschaften und führt diese Bestimmung in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner bekannten Definition des Affekts in E3d3 an: »Wenn wir also die adäquate Ursache irgendeiner dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter dem Affekt eine Aktivität (actionem), im anderen Fall eine Leidenschaft (passionem)« (E3d3). 100 Und er überträgt dieses Verhältnis auch auf die Ideenbildung, denn der Geist verfügt über keine andere Macht als die des Denkens und dementsprechend besteht die Aktivität des Geistes in der Bildung adäquater Ideen: »Die Aktivitäten des Geistes entspringen allein adäquaten Ideen, während die Formen des Erleidens allein auf inadäquaten Ideen beruhen« (E3p3 vgl. auch E5p4s). Die Bestimmung von Aktivität und Passivität ist an die Handlungsfähigkeit des menschlichen Individuums geknüpft, denn zu handeln heißt, etwas zu bewirken und die aktive Ursache einer Wirkung zu sein. »Ich sage, wir sind aktiv (agere), wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h. [. . . ], wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann« (E3d2). Die Aktivität des Handelns zeichnet sich also dadurch aus, die adäquate, umfängliche Ursache von etwas zu sein, das aus unserer Natur folgt und durch

99 Eine umfassende Darstellung dieser Konfiguration aristotelischer Ideen von Aktivität und Passivität und ihrer Transformation bei den frühneuzeitlichen Denkern bietet Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997, S. 27–71. Und für eine allgemeinere Diskussion der Aufnahme aristotelischer Voraussetzungen etwa bei Descartes: Dominik Perler, »Was ist ein frühneuzeitlicher Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus / Empirismus Schema«, in: Helmut Puff / Christopher Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 55–80. 100 Anhand der grundsätzlichen Unterscheidung von Aktivität und Passivität ergibt sich für Spinoza, wie oben dargestellt, auch ein differenziertes Bild der verschiedenen Einzelaffekte, die nach ihren Eigenschaften der Machthemmung und der Machtsteigerung unterschieden werden. Diese positive Einschätzung der Affekte hebt Aurelia Armstrong an Spinoza, und in der Nachfolge Spinozas auch an Nietzsche hervor, und setzt sie von der stoischen Therapeutik ab, die die Affekte nur als Einschränkungen der Freiheit des Menschen versteht und deren therapeutisches Ziel die Befreiung von den Affekten ist. Vgl. Aurelia Armstrong, »The Passions, Power, and Practical Philosophy. Spinoza and Nietzsche contra the Stoics«, in: The Journal of Nietzsche Studies, 44/1 (2013), S. 6–24.

Potentialität des Affektionsgeschehens

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diese verstanden werden kann. 101 Es ist aber nicht so, dass wir in jedem Fall der Wirkung auf etwas von einer Handlung als Aktivität sprechen können, denn aktives Handeln setzt voraus, dass wir handelnd zur adäquaten Ursache von etwas werden, das aus unserer Natur folgt, während das passive Erleiden sich dadurch auszeichnet, dass wir nur die partiale Ursache von etwas sind. »Dagegen, sage ich, erleiden wir etwas, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind« (E3d2). Spinoza unterscheidet hier zwischen adäquaten (vollen) und inadäquaten (partialen) Ursachen, d. h., wir sind aktiv, wenn wir die adäquate und vollumfängliche Ursache von etwas sind, das aus unserer Natur folgt und durch diese allein eingesehen werden kann. Passiv und erleidend sind wir hingegen, wenn uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, von dem wir nur partial die Ursache sind (vgl. E3d1). Im ersten Lehrsatz des dritten Teils der Ethica wird das Verhältnis von Aktivität und Passivität auch mit Blick auf die Ideenbildung dargestellt: »Unser Geist bringt einiges aktiv hervor, anderes erleidet er jedoch; insofern er nämlich adäquate Ideen hat, bringt er notwendigerweise einiges aktiv hervor, und insofern er inadäquate Ideen hat, erleidet er notwendigerweise anderes.« 102 Die qualifizierenden Bestimmungen von adäquat und inadäquat betreffen hier in erster Linie die Ideenbildung und den Vorgang der Erkenntnis, wie er im zweiten Teil der Ethik behandelt wird. Im Unterschied zum endlichen Modus Mensch ist Gott für Spinoza die vollumfängliche Ursache aller seiner Affektionen selbst und erfährt diese daher nicht als Leidenschaften. Für Gott gibt es in der Immanenz keine äußeren Ursachen, und so ist er selbst die aktive Ursache allen Affektionsgeschehens in der Natur. Die Modi sind hingegen durch äußere Affektionen bestimmt, sie finden ihren Ausdruck nicht aus sich selbst und explizieren sich nicht aus einer eigenen Natur, sondern werden durch äußere Affektionen und im Zusammenhang des Ganzen konstituiert. Aktiv zu werden, bedeutet daher für das menschliche Individuum, sich selbst in diesem Gesamtzusammenhang und als Teil von dessen immanenter Kausalität zu verstehen, zur adäquaten Ursache

Diese Unterscheidung von aktiven und passiven Affektionen nimmt auch Deleuze auf: »Eine Affektion ist eine Leidenschaft nur, wenn sie sich nicht durch die Natur des affizierten Körpers expliziert: sie schließt diese zweifellos ein, expliziert sich aber durch den Einfluß anderer Körper. Wenn wir Affektionen annehmen, die sich gänzlich durch die Natur des affizierten Körpers explizieren, dann sind diese Affektionen aktiv, sind selbst Tätigkeiten.« Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 192. 102 Noch deutlicher wird die Betonung der Erkenntnis als Grundlage der Aktivität in E3p3: »Die Aktivitäten des Geistes entspringen allein adäquaten Ideen, während die Formen des Erleidens allein auf inadäquaten Ideen beruhen.« 101

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Theorie der Affektionen und der Affekte

seiner Affektionen zu werden und dadurch die Wirkungsmacht aktiv zu steigern. 103 Das Verhältnis von Aktivität und Passivität steht also im Zusammenhang der Möglichkeit, sich selbst durch die Erkenntnis zur adäquaten Ursache von Affektionen und Affekten zu machen. Die Stufen der Erkenntnisfähigkeit reichen, wie oben dargestellt, von den verworrenen, inadäquaten Ideen bis zur höchsten adäquaten und intuitiven Erkenntnis Gottes. Erkenntnis heißt also, die adäquate Ursache von Wirkungen zu werden und als passiv erlebte Affektionen in aktive Handlungsmacht umzuwandeln. In letzter Instanz ist die Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen adäquater Erkenntnis somit immer auch eine Annäherung an die intuitive Erkenntnis Gottes, denn erst in der dritten Erkenntnisgattung kann das menschliche Individuum zur vollumfänglichen und damit zur vollständig aktiven Ursache seines Handelns werden und passive Leidenschaften in Aktivität umwandeln. Die Potentialität der Affektionen, denen das Individuum unterliegt, muss durch den Erkenntnisprozess freigesetzt werden, denn erst durch die Erkenntnis können als passiv erfahrene Leidenschaften in aktive Handlungen umgewandelt werden. Spinoza siedelt die Bedingungen eines freien Lebens also in der Affektfähigkeit des Menschen und der damit verbundenen Handlungsfähigkeit an und knüpft den Umgang mit den Affekten an die Möglichkeit, sich selbst zur Ursache seiner Handlungen zu machen. So lässt sich wiederum festhalten, dass der Ausgangspunkt der Ethica als Ethik nicht in einer Orientierung der menschlichen Individuen an absoluten Wahrheiten oder moralischen Geboten besteht, sondern vielmehr in ihrer Orientierung im unendlichen Affektionsgeschehen der Natur, denn erst daraus ergibt sich ihre Potentialität als Möglichkeit, immer wieder anders zu werden. Im Spiel von Aktivität und Passivität ist eine affektive Dynamik sich steigernder und sich hemmender Wirkungen angelegt und diese Dynamik enthält aktive und reaktive, konsonante und dissonante Aspekte, die nicht zu trennen sind, sondern vielmehr miteinander einhergehen und ineinander umschlagen können. 104 Amélie Oksenberg Rorty beschreibt hier einen Prozess, in dem »the mind acknowledges and absorbs as constitutive of its nature, the determinative causal line that had seemed ›external‹ to it«. Amélie Oksenberg Rorty, »The Two Faces of Spinoza«, in: The Review of Metaphysics, 41/1987, S. 299–316. 104 Vgl. dazu auch die Bestimmung aktiver und reaktiver Kräfte, wie Deleuze sie bei Nietzsche aufzeigt. Aktion und Reaktion werden hier aus einem Typus von Kraft hergeleitet, der ihnen gleichermaßen zugrunde liegt, wobei reaktive Kraft allerdings immer nur von aktiver Kraft ausgehend interpretiert werden kann und daher in die verneinende Haltung des Ressentiments mündet, das sich sein eigenes Vermögen nimmt und sich von seiner Aktivität trennt. Vgl. dazu: Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 45 ff. Die Verbindung zu Nietzsche wird unter dem Aspekt der aktiven und der passiven Macht auch von Armstrong diskutiert: Aurelia Armstrong, »The 103

Potentialität des Affektionsgeschehens

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Wirklichkeit und Möglichkeit

Die Potentialität des Affektionsgeschehens zeigt sich also in den differentiellen Synthesen von Körper und Geist wie von Aktivität und Passivität, denn in diesen Synthesen wird die Ordnung des Subjekt- und des Objektstatus umkehrbar. Affektionen sind als beziehungsstiftende Kräfte zu verstehen, in deren Kontinuität das menschliche Individuum steht, und daher ist es fast überflüssig zu betonen, dass es nicht darum gehen kann, die Affektionen und die Affekte unter die Herrschaft des Verstandes zu bringen und zu negieren. Sie müssen vielmehr selbst als ein Element der Erkenntnis begriffen und in ihrer Potentialität genutzt werden, denn sie sind eine konstitutive Bedingung der Individuation und der Selbsterhaltung des Individuums. Spinozas komplexe theoretische Figur kausaler Selbsterzeugung findet in der Lehre von den Affektionen und den Affekten ihre praktische Realisierung, denn in ihr wird das Affektionsgeschehen als ein kausaler Wirkungszusammenhang aufgezeigt, der durch die Erkenntnis erschlossen werden kann und in dem sich das Individuum steuernd bewegen kann. Diese Form kausaler Selbsterzeugung bedeutet allerdings nicht, dass menschliche Individuen ihre Determiniertheit überwinden und vollständig autonom werden könnten. Das Affektionsgeschehen selbst zu bestimmen und die eigene kausale Wirkungsmacht zu erweitern, heißt nicht, sich vollständig den Affektionen entziehen zu können und ihnen nicht ausgesetzt zu sein. Im Rahmen des ontologischen Modells macht Spinoza deutlich, dass es eine vollständige Immanenz, also ein reines Aus-sich-selbst-Sein nur für Gott, die Natur und die Substanz geben kann. Innerhalb dieser Substanz aber sind die Einzeldinge in ihrer Essenz determiniert und einander in gegenseitiger Affektion ausgesetzt. Eine vollständige Autonomie des Individuums kann es also schon ontologisch nicht geben, was insbesondere daran deutlich wird, dass Spinoza die jeweilige Entwicklung eines menschlichen Individuums ja gerade aus seiner kausalen Bedingtheit herleitet und seine Möglichkeitsspielräume nach Maßgabe der Fähigkeit auslotet, das Affektionsgeschehen zu steuern. Die Gründe und Ursachen dafür, wie ein Individuum sich entwickelt, wie es denkt, fühlt und handelt, sind also aus der komplexen Geschichte der kausalen Wirkungen herzuleiten, in denen es steht, und das heißt aus der komplexen Geschichte seiner Affektionen. 105

Passions, Power, and Practical Philosophy. Spinoza and Nietzsche Contra the Stoics«, in: The Journal of Nietzsche Studies, 44/1 (2013), S. 6–24. Vgl. auch die Diskussion der Förderung und der Hemmung von Macht im Kontext der potentia agendi in Abschnitt II.2 des dritten Teils. 105 Denn wie gerade in der Affektenlehre immer wieder deutlich wird, ist eine jede Leidenschaft Ausdruck dessen, wodurch sie erzeugt wird (vgl. z. B. E3p56dem).

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Theorie der Affektionen und der Affekte

Wir kommen auf diese affektionstheoretische Bestimmung transindividueller Zusammenhänge und relationaler Individualität unten zurück. An dieser Stelle geht es vorerst darum, die Potentialität des Affektionsgeschehens als eine immanente und reversible Kontinuität auszuweisen, aus der sich das Spiel von Wirklichkeit und Möglichkeit ergibt, das für den Vorgang immanenter Individuation so entscheidend ist. Individuation zeigt sich so einerseits als eine Eingrenzung in eine notwendige Wirklichkeit und andererseits als eine Entgrenzung in einen freien Möglichkeitsraum. In der dritten und der vierten Definition des vierten Teils der Ethica unterscheidet Spinoza zufällige Einzeldinge (res singulares) von möglichen Einzeldingen und bestimmt die zufälligen (contingentes) Einzeldinge als diejenigen, bei denen wir nichts finden, »was ihre Existenz notwendigerweise setzt oder notwendigerweise ausschließt« (E4d3). Die möglichen (possibile) Einzeldinge sind hingegen diejenigen, von deren Ursachen wir nicht wissen, »ob diese Ursachen bestimmt sind, sie hervorzubringen« (E4d4). Im Falle zufälliger oder kontingenter Einzeldinge wissen wir also nicht, ob ihre Existenz notwendig ist oder nicht, und im Falle möglicher Einzeldinge wissen wir nicht, ob sie durch ihre Ursachen mit Notwendigkeit hervorgebracht sind oder nicht. 106 Das Affektionsgeschehen ist so gesehen ein Möglichkeitsprinzip, denn Affektionen sind in erster Linie heteronome Konstitutionsvorgänge, die sich aus dem immanenten Wirkungszusammenhang ergeben, in dem Individuen stehen, sofern sie Modi der Substanz sind. Versteht man Affektionen und Affekte hingegen als klassifizierbare und qualitativ bestimmbare Einheiten individuellen Befindens, so zeigen sie sich in einer ganz anderen Perspektive, in einer Perspektive nämlich, die das menschliche Individuum schon voraussetzt und die ontologische Frage unbeantwortet lässt, wie es in den Wirkungszusammenhängen des Ganzen zustande kommt. Auch in der eigenwilligen Zeitlichkeit der Affektionen und der aus ihnen resultierenden Affekte wird die Potentialität des Individuationsvorgangs zwiHier kann zwischen einer epistemischen und einer metaphyischen Konzeption von Möglichkeit unterschieden werden. Die epistemische Konzeption läuft darauf hinaus, dass nur die Dinge für möglich gehalten werden, die wir in den Grenzen unseres Wissen finden. Die metaphysische Konzeption von Möglichkeit hingegen läuft darauf hinaus, dass nur solche Dinge möglich sind, die mit den Gesetzen der Natur übereinstimmen, wobei sich auch die Frage der Aktualisierung von Dingen stellt, d. h. die Frage, ob es mögliche Dinge gibt, die noch nicht aktualisiert sind, sich aber aktualisieren können. Die Bestimmung von Wirklichkeit und Möglichkeit ist eines der wichtigsten Themen der Ethica und lässt sich in Hinblick auf den Individuationsprozess menschlicher Individuen als ein Prozess der Erkenntnis notwendiger Bedingungen und der Aktualisierung von Möglichkeit innerhalb dieser Erkenntnis verstehen. Vgl. dazu: Jon A. Miller, »Possibile«, in: Wiep van Bunge / Henri Krop / Piet Steenbakkers / Jeroen van de Ven (Hg.), The Bloomsbury Companion to Spinoza, a. a. O., S. 291 f., sowie Jon A. Miller, »Spinoza’s Possibilities«, in: Review of Metaphysics, 54/2001, S. 779–814. 106

Potentialität des Affektionsgeschehens

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schen Wirklichkeit und Möglichkeit deutlich. 107 Folgt man Spinozas Bestimmung der Affekte als Vermehrung oder Verminderung, Förderung oder Hemmung von Wirkungsmacht, wie er sie in E3d3 vornimmt, so werden Affekte als Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen erkennbar. Ein Affekt ist so gesehen ein Zustand von einer bestimmten Dauer, und das bedeutet auch, dass er ontologisch nicht seiner essentiellen Verfasstheit nach, sondern nur als ein transitorischer Zustand auszumachen ist, der in seinen Relationen und durch diese bestimmt wird. Die qualitativen Zustände von Lust, Schmerz, Freude, Trauer, Wut, Liebe, Behagen usw., die wir als Affekte bestimmen, zeigen sich so als Verdichtungen im Übergang von einer Affektion zur anderen. In diesen Verdichtungen bilden sich auch die Ideen heraus, als die wir diesen oder jenen affektiven Zustand des Körpers erkennen können. Unter der Voraussetzung der Einheit der Attribute von Ausdehnung und Denken müssen die Ideen und die Vorstellungsbilder, die sich aus den Affektionen des Körpers ergeben, stets mitgedacht werden. Affectio und imaginatio, das affektive und das imaginäre Leben gehen für Spinoza miteinander einher, und weil Affektionen immer auch mit Ideen der Affektionen verknüpft sind, können wir sie beeinflussen und in neue Verbindungen lenken. Es ist die relationale Struktur des Affektionszusammenhangs, durch den eine Umordnung und Neuverknüpfung der Affektionen überhaupt erst möglich wird. Spinoza zielt auf die Fähigkeit des menschlichen Individuums, die Affektionen zu steuern und im Sinne eines Übergangs von einer bestimmten Wirklichkeit zu anderen Möglichkeiten zu lenken. Der Umgang mit den Affekten besteht für Spinoza also nicht darin, sie durch die Herrschaft des Verstandes zu neutralisieren, sondern darin, sie in ihren kausalen Verbindungen als Affektionen zu erkennen und gegebenenfalls in andere Verbindungen zu stellen und anders zu verknüpfen. Die Potentialität des Affektionsgeschehens realisiert sich also im Gesamtzusammenhang der Affektionen, in dem das Individuum zu seiner individuellen Freiheit gelangen kann. Spinoza sucht die kausale Verkettung des Individuums in der Natur in einer Weise rational zu lenken, die es dem Individuum erlaubt, sich in Glück und Freiheit zu erhalten. Affektionen sind also Bedingungen der Individuation und in ihnen liegt eine Potentialität, die dem Individuum Möglichkeitsspielräume des Werdens und der Veränderung eröffnet. Mit der ontologischen Grundlegung des Körpers in einem Feld dynamischer Verbindungen kann Spinoza die Pluralität von Affektionen aufzeigen, die das menschliche Individuum auf mannigfache Weise affizieren. Potentialität wird hier also vorerst Deleuze betont in dieser Hinsicht gerade den transitorischen Charakter der Affekte und bestimmt sie als »Übergänge, gelebte Durchgänge, Dauerzustände, durch die wir zu einer größeren oder kleineren Vollkommenheit übergehen.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 65. 107

212

Theorie der Affektionen und der Affekte

auf der Ebene einer Ontologie ausgelotet, ohne anthropologisch verengt und in rationalistischen oder empiristischen Rastern anthropologischer Vernunft behandelt zu werden.

I.6 Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

Spinoza sieht die Affektionen, denen das menschliche Individuum notwendigerweise ausgesetzt ist, sowohl als Konstitutionselemente auf der Ebene der Ontologie als auch auf der Ebene eines pragmatischen Selbstverhältnisses, das den Gegenstand der Ethik im engeren Sinne bildet. Der Umgang mit den Affektionen ist also auch ein praktisches Vermögen, denn die Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, macht den Bezug zur äußeren Welt aus. Auf der Ebene der ontologischen Unterscheidung von Substanz, Attributen und Modi bedeutet das, dass ein Modus das graduelle Vermögen ist, im doppelten Aspekt seiner Attribute, zu affizieren und affiziert zu werden und aus diesem Vermögen ergibt sich die Potentialität seiner Existenz. 108 Die Affekte werden dabei nicht durch eine transzendentale Vernunft überstiegen und durch diese organisiert, sondern man könnte vielmehr sagen, dass sie diese Vernunft selbst sind. Es gibt für Spinoza eine affektive Vernunft, also eine Vernunft des affizierbaren Körpers und der aus ihm hervorgehenden Ideen. Die Vollkommenheit und die Unvollkommenheit eines Modus sind in diesem Sinne eine mehr oder weniger entfaltete Potentiale der Natur, d. h., Vollkommenheit und Unvollkommenheit hängen vom Vermögen der Modi ab, sich im Affektionszusammenhang der ganzen Natur und als Teil dieses Affektionszusammenhangs zu entfalten. Für Spinoza ist daher das in seiner Art vollkommen, was über seine Affektfähigkeit an der Positivität der Natur teilhat und unvollkommen ist das, was nicht oder graduell weniger an der immanenten Kausalität der Natur teilhat. Wir werden Deleuze geht soweit zu sagen, dass das Wesen eines Modus seine Affektfähigkeit ist: »das Wesen als Grad seiner Vermögen; ein gewisses Affiziertseinkönnen; in dem es sich ausdrückt; die Affektionen, die in jedem Augenblick dieses Können erfüllen [l’essence comme degré de puissance; un certain pouvoir d’etre affecté dans lequel elle s’exprime; des affections qui remplissent à chaque instant ce pouvoir]«. Deleuze betont die Zusammensetzung existierender Modi aus einer großen Zahl von Teilen, die sich gegenseitig in unabschließbarer Weise affizieren. Daraus folgt, dass ein existierender Modus sich aus der Summe vielfacher Affektionen bildet, deren einzelne Teile ebenfalls in vielfacher Weise affiziert werden. Die jeweiligen Affektionen eines Modus treten erst in Abhängigkeit von seiner Fähigkeit, affiziert zu werden, von seinem Affiziertseinkönnen auf und so ist das Wesen eines existierenden Modus mit seinem Grad an Vermögen identisch: »[A]ls solcher hat er eine Fähigkeit, affiziert zu werden, ein auf vielfache Weise Affiziertseinkönnen; sofern er existiert, ist dieses Können auf veränderliche Weise erfüllt, immer aber und notwendigerweise erfüllt unter der Einwirkung äußerer Modi.« Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 191 f., siehe auch S. 84 ff. 108

Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

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auf diese affekttheoretische Begründung normativer Urteile von Vollkommenheit und Unvollkommenheit später noch einmal zurückkommen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Modi einander in unabschließbarer Weise affizieren und ein existierender Modus sich aus vielfachen Affektionen bildet, deren produktive, d. h. freudvolle Aufnahme von seiner Affektfähigkeit abhängt. Auch zu Beginn des fünften Teils der Ethica kommt Spinoza noch einmal auf diesen Umgang mit den Affektionen zu sprechen und hält fest, dass wir von jeder Affektion des Körpers einen klaren Begriff bilden und unsere Affekte einsehen können, wenn wir sie in ihren eigenen Beziehungen erkennen (vgl. E5p4). Das bedeutet, dass die Affektionen, deren Beziehungen wir uns nicht vorstellen können, Macht über uns haben, weil wir ihre kausalen Verhältnisse nicht verstehen und nicht erkennen (vgl. E5p5). Affektfähigkeit ist also auch die Fähigkeit, Affektionen in ihrer immanenten Kausalität zu erkennen und einen rationalistisch kalkulierenden Umgang mit ihnen zu finden. Aus diesem Vermögen resultiert die Handlungsmacht, also die potentia agendi des menschlichen Individuums, und Spinozas Konzeption der Affektionen und der Affekte muss von seinem Begriff der potentia agendi her gesehen werden. 109 So könnte man letztlich vielleicht sogar sagen, dass die durch die notwendigen Affektionen erzeugten Affekte nichts weiter sind als graduelle Modulationen von Handlungsmacht. 110 Statt also die Affekte misstrauisch zu negieren, werden ihre rationale Erkenntnis und die Fähigkeit mit ihnen umzugehen, zur Bedingung der Handlungsmacht, und damit der Freiheit und der Entfaltung des menschlichen Individuums, gemacht. Die entscheidende Frage ist dabei, wie ein endlicher existierender Modus sich selbst in möglichst hohem 109 Mit der Annahme der Möglichkeit einer Steuerung der Affektionen durch die Erkenntnis ist dann auch die Frage der Autonomie des menschlichen Individuums verbunden. Dieser Zusammenhang ist nicht selbstverständlich, denn auf den ersten Blick scheint es, als gäbe es Unbedingtheit und Unabhängigkeit in Spinozas metaphysischem System nur für Gott und die Natur, während die Modi, also auch die endlichen, menschlichen Individuen, erst aus der immanenten Kausalität des Ganzen hervorgehen und durch diese bestimmt sind. Vgl. zur Autonomie bei Spinoza: Douglas Den Uyl, »Autonomous Autonomy: Spinoza on Autonomy, Perfectionism and Politics«, in: Social Philosophy and Policy 20/2 (2003), S. 30–69, sowie Aurelia Armstrong, »Autonomy and the Relational Individual. Spinoza and Feminism«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 43–63. 110 In diesem Punkt stimme ich vollständig mit Achim Engstler überein, der Spinozas Affektenlehre als eine Art von Handlungstheorie begreift und Affekte als »Veränderungen der Handlungsmacht und das heißt, der Existenzkraft eines Dinges« ansieht. Eine solche von ihrer Handlungsmacht ausgehende Bestimmung der Affekte deckt sich in der Stoßrichtung mit meiner Betonung ihrer Macht als Potentialität. Vgl. Achim Engstler, »Spinozas Begriff des Affekts«, in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik, Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., 2002, S. 106– 128, hier S. 114. Zum Handlungsbegriff siehe auch Michael Della Rocca, »Spinoza’s Metaphysical Psychology«, in: Don Garrett (Hg.), The Cambride Companion to Spinoza, Cambridge 1996, S. 192– 266.

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Theorie der Affektionen und der Affekte

Maße zur Ursache seiner Affektionen machen kann, d. h. wie er von einer partialen Ursache seiner Affektionen zu einer möglichst umfänglichen Ursache derselben werden kann. In der Erkenntnis der Affektionen liegt also ein Gewinn an Handlungsmacht und so ist mit der Macht der Affekte auch eine Steigerung der Handlungsmacht verbunden. Affektfähigkeit und Handlungsmacht hängen also zusammen und Spinoza siedelt die Bedingungen gelingenden Lebens in der Affektfähigkeit und der daraus resultierenden Handlungsmacht an. So sind die Affekte mit der Möglichkeit verbunden, sich selbst zur Ursache eines gelingenden Lebens zu machen. Spinoza orientiert seine Konzeption des Lebens und der Selbsterhaltung also nicht an einer objektivierten Glücksvorstellung oder gar an normativen Gesetzlichkeiten. Er setzt den Ausgangspunkt seiner Ethik vielmehr in der Fähigkeit der Modi, mit den Affektionen, durch die sie konstituiert werden, umzugehen und so an Handlungsmacht zu gewinnen.

Affizieren und affiziert werden

Mit der Affektfähigkeit als Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, wird das reversible Verhältnis zwischen passiven Leidenschaften und aktiven Handlungen ausgewiesen, und erst mit der Affektfähigkeit entwickelt sich eine autonome Handlungsfähigkeit des Individuums in den relationalen Verhältnissen, in die es eingelassen ist. Erst von hier aus zeigt sich die Durchlässigkeit des menschlichen Individuums, das den von außen kommenden Affektionen nicht nur passiv und vorreflexiv gegenübersteht, sondern ihren Gehalt intentional und propositional aufschließen und mit seiner eigenen Handlungsfähigkeit verbinden kann. In der Affektfähigkeit zeigt sich der komplexe Zusammenhang reflexiver und handelnder Bezugnahme des menschlichen Individuums auf die Welt, und insofern sind ihr auch voluntative und wertende Dimensionen eigen, die dazu führen, dass das Individuum sich aktiv zur Welt verhalten kann. Affektfähigkeit bedeutet auch, dass die Affekte mir anzeigen, von welchem Wert Affektionen für mich sind, ob sie mir nützen oder schaden, ob sie gut oder schlecht für mich sind, ob sie meine Zustimmung oder meine Ablehnung herausfordern, negative oder positive Gefühle in mir wecken. Affektfähigkeit ist also auch ein praktisches Selbstverhältnis und eine praktische Stellungnahme zu mir selbst und meiner Lebensführung in den relationalen Verhältnissen, in die ich konstitutiv eingebunden bin. In ihr zeigt sich ein körperlich-geistiges und aktiv-passives Weltverhältnis, durch das Handlungsdispositionen zwischen gegebener Wirklichkeit und potenziellen Möglichkeiten bestimmt werden. Von der immanenten Anlage und der horizontalen Gleichursprünglichkeit der Attribute ausgehend, ist die Affektfähigkeit des menschlichen Individuums

Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

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immer auch eine Form der Selbstaffektion, denn sie macht es möglich, die Affizierbarkeit des Körpers zu nutzen und durch die Affektionen zu neuen Ideen zu gelangen. Im Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, liegt also auch das Potential von Transformationen und damit die Möglichkeit, sich normativen und unter Umständen auch normalisierenden Zuschreibungen zu entziehen und zu anderen Existenzweisen zu gelangen. Die Möglichkeit der reversiblen Umkehrung von Aktivität und Passivität, wie sie oben bereits als wesentlicher Zug einer Potentialität des Affektionsgeschehens dargestellt wurde, stellt Spinoza bereits durch die Ontologie sicher, indem er sie als eine differentielle Bewegung in die immanente Konzeption von Substanz einbaut. Damit ist die grundlegende Bedingung, zu affizieren und affiziert zu werden, zugleich eine differentielle Umkehrung der Aktivität und Passivität des Individuums in den umgebenden Verhältnissen. 111 Mit dieser Umkehrung ist auch eine Überwindung der dichotomen Unterscheidung von Determinismus und Freiheit verbunden, denn die Determiniertheit des menschlichen Individuums lässt sich in eine aktive Handlungsfähigkeit und damit in eine graduelle Autonomie umkehren. Spinoza zeigt also, dass das Individuum als körperlich-geistiger Modus der Substanz fähig ist, das Affektionsgeschehen für sich und seine Handlungsmöglichkeiten zu nutzen. Affektfähigkeit ist keinswegs nur eine negierende oder sublimierende Bewältigung von Affektionen, sondern sie ist das Vermögen des Individuums, die Dynamik der Individuation den Fähigkeiten des Körpers und des Geistes gemäß zu steuern und Handlungsmacht zu erreichen. Auf die immanente Anlage der erkennbaren Attribute übersetzt, ist Affektfähigkeit auch das Vermögen, sich im Denken als Ausdehnung zu erkennen und durch die Ausdehnung auf das Denken einzuwirken. Dabei ist das Denken für Spinoza nicht ein übergeordnetes Bewusstsein, sondern es geht aus den Affektionen hervor, denen der Körper ausgesetzt ist, und ist an der Affektfähigkeit ausgerichtet. 112 In E2p19dem macht Spinoza deutlich, dass die Fähigkeiten 111 Ganz ähnlich bestimmt es auch Kisser in Anlehnung an die Interpretation von Deleuze: »Die Charakterisierung als Vermögen affiziert zu werden und zu affizieren definiert den Körper nicht extensiv, sondern intensiv und dynamisch und trägt der Realität des Modus als Sein-unter-anderen Rechnung.« Thomas Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, a. a. O., S. 62. 112 In Spinozas Konzeption von Affektfähigkeit als Handlungfähigkeit findet sich durchaus eine transzendentalphilosophische Dimension, die aber eben nicht aus der Annahme eines transzendentalen Subjekts herzuleiten ist, dessen Verbindung zur äußeren Welt sich aus Kategorien des Bewusstseins ergeben würde. Die transzendentale Stellung, die das menschliche Individuum bei Spinoza einnimmt, zeigt sich in seinem Vermögen, sich selbst im relationalen Zusammenhang der Natur und damit in Gott zu erkennen, d. h. die Affektionen des Körpers und die daraus resultierenden Ideen zu verstehen und sich aus dieser Einsicht mit solchen Körpern und solchen

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Theorie der Affektionen und der Affekte

des Geistes mit den Fähigkeiten des Körpers zusammenhängen und beide in Gott bzw. in der Natur zusammenkommen. »Der menschliche Geist ist nämlich genau die Idee oder Erkenntnis des menschlichen Körpers [. . . ], die [. . . ] unstreitig in Gott ist, insofern er als von einer anderen Idee eines Einzeldings affiziert angesehen wird« (E2p19dem). Proportional zu den Affektionen des Körpers sind also die Affektionen des Geistes angelegt und mit der Fähigkeit, körperlich und geistig affiziert zu werden, steigert sich auch die Fähigkeit, andere Individuen körperlich und geistig zu affizieren. Je weiter sich die Ursachen und die Wirkungen in der Erkenntnis der Affektionen verknüpfen, desto mehr führt diese Erkenntnis auf die Erkenntnis Gottes und der ganzen Natur hin, da Gott als »von den Ideen sehr vieler Einzeldinge affiziert angesehen wird« (E2p19dem). Das dynamische Zusammenspiel passiver und aktiver Affektionskräfte und ihre Verbindung in der immanenten Natur des Ganzen ist wohl einer der wichtigsten Aspekte in Spinozas immanenter Theorie der Individuation. Die Durchlässigkeit des menschlichen Individuums ist nicht einfach ein Zeichen von Passivität oder Ohnmacht äußeren Kräften gegenüber, sondern die Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, ist eine Bedingung seiner Erkenntnis- und seiner Handlungsfähigkeit. Nur durch die Affektfähigkeit kann das lebendige Individuum sich selbst erhalten und seine Exponiertheit gegenüber der äußeren Welt führt letztlich zu seiner Autonomie und Selbststeuerung. Je fähiger ein Individuum ist und je mehr Macht es hat, seine Affektionen in erkenntnisgeleitete Handlungen umzusetzen, desto freier und autonomer kann es sein Leben führen.

potentia agendi

Die Wendung der ontologischen und der pragmatischen Bedeutung des Affektionsgeschehens in die Bestimmung einer Affektfähigkeit stellt sich als ein Umschlagpunkt dar, der von der Ethica als ontologischer Darstellung der elementaren Strukturen der Welt und ihrer Erkenntnis zur Ethica als einer Lehre von der Selbsterhaltung des Einzelnen im Ganzen der Natur führt. Ein wesentAffektionen zu verbinden, die nützlich sind und der Steigerung der Handlungsmacht dienen. Zu Kant und Spinoza vgl. Anne Tilkorn, Motivationen für das Selbst. Kant und Spinoza im Vergleich, Wiesbaden 2012; Omri Boehm, Kant’s Critique of Spinoza, Oxford 2014; Beth Lord, Kant and Spinozism, Basingstoke 2011; Allan D. Schrift, Spinoza vs. Kant, London 2013; Burkhard Tuschling, »Transzendentaler Idealismus ist Spinozismus. Reflexionen von und über Kant und Spinoza«, in: Eva Schürmann / Norbert Waszek / Frank Weinreich (Hg.), Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 139–167.

Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

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licher Aspekt der Affektbestimmung ist für Spinoza die Wirkungsmacht oder die Handlungsmacht, also die potentia agendi, wie sie in E3d3 bestimmt wird. Sie ist sowohl im weiteren Sinne einer allgemeinen Wirkungsmacht als auch im engeren Sinne einer Handlungsmacht und einer Macht zur Selbsterhaltung des Individuums zu verstehen. 113 Affekte sind für Spinoza graduelle Intensitäten einer bestimmten Dauer, die die Wirkungsmacht des Körpers und des Geistes und damit die Handlungsmacht des Individuums stärken oder schwächen. Für den Umschlag des metaphysischen Zusammenhangs in einen pragmatischen Zusammenhang spielen die Handlungen und die Handlungsfähigkeit eine zentrale Rolle, denn das Handeln und die Handlungsfähigkeit sind wesentlich für das Streben, sich selbst zu erhalten. 114 Der Zusammenhang ontologischer und pragmatischer Dimensionen bleibt aber auch hier durchgehend erhalten, denn die Macht des menschlichen Individuums, zu handeln, ist immer von der Macht Gottes oder der Natur ausgehend zu verstehen. So stehen auch Handlungen im kausalen Zusammenhang der Natur, und ihre Konzeption hängt für Spinoza direkt mit der Konzeption der Affektionen und der Affekte zusammen, denn erst durch die äußeren Affektionen wird »die Wirkungsmacht [bzw. die HAndlungsmacht] des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt« (E3d3). Handlungen sind also in einem engeren, pragmatischen Sinn Handlungen des menschlichen Individuums und in einem weiteren, ontologischen Sinn allgemeine Wirkungen. In E4d8, wo Spinoza die Übereinstimmung von Tugend (virtus) und Macht (potentia) darstellt, kommen diese beiden Dimemensionen der Handlung als einer Macht, etwas zu bewirken, zusammen: Die Definition lautet: »Per affectum intelligo corporis affectiones, quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, juvatur val coercetur, et simul harum affectionum ideas« (E3d3). Wie im Kontext der Machttheorie unten auch noch anzumerken sein wird, ist Bartuschats Übersetzung von potentia agendi mit dem Begriff der Wirkungsmacht insofern fraglich, als das agendi im Sinne von agere und actio durchaus eine Dimension der Handlung, der Bewegung oder der Führung aufweist. Im metaphysischen Zusammenhang der Ethica ist die potentia agendi meiner Meinung nach als eine allgemeine Wirkungsmacht zu verstehen, im pragmatischen Zusammenhang aber durchaus als eine Handlungsmacht des Individuums. Im Vorwort zum dritten Teil spricht Spinoza von der allgemeinen Macht der Natur (communis naturae potentia), was wiederum auf eine allgemeine Wirkungsmacht hinausläuft. Es bleibt also jeweils zu unterscheiden, ob die potentia eine allgemeine metaphysische Macht der Natur oder die Macht eines Handlungssubjekts ist, und insofern ist Bartuschats Übersetzung keineswegs falsch. Vgl. dazu auch Achim Engstler, der verschiedene Übersetzungen des Begriffs kritisiert und entschieden für die Übersetzung mit dem Begriff Handlungsmacht plädiert, damit aber vielleicht doch zu sehr einer anthropologischen Verengung der potentia agendi aufsitzt, mit der eben auch ein allgemeineres kausales Verhältnis zu bestimmen ist. Vgl. Achim Engstler, »Spinozas Begriff des Affekts«, in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik, Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., S. 106–128. 114 Die zentrale Stellung der potentia agendi als eigentliches Definiens der Affektdefinition betont auch Achim Engstler: »Spinozas Begriff des Affekts«, in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik, Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., S. 106–128. 113

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Theorie der Affektionen und der Affekte

»Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe; d. h. [. . . ] Tugend, bezogen auf den Menschen, ist genau des Menschen Essenz oder Natur, insofern es in seiner Gewalt steht, etwas zuwege (efficiendi, effectus) zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann.« 115 Der ontologischen Ordnung folgend ist auch die unausgedehnte Welt im Attribut des Denkens von Handlungen durchdrungen. Auch im Denken ereignen sich handlungsmäßige Vollzüge wie etwa Willensakte, Vorstellungen, Erinnerungen, die dem Streben des Geistes entspringen. 116 Handlungsfähigkeit ist nicht ohne ihr Gegenteil, also nicht ohne die Unfähigkeit oder zumindest die Minderung der Fähigkeit, zu handeln, zu verstehen, und so hängt die Bestimmung von Handlungen mit der Bestimmung von Aktivität und Passivität zusammen. Affektfähigkeit ist der Schlüssel für den rationalistisch kalkulierenden Umgang mit den Affekten. Und in diesem Sinne ist die Frage nach den Affekten in ihrer relationalen Dynamik auch handlungstheoretisch von Bedeutung, denn durch ihre kalkulierende Erkenntnis kann die Wirkungsmacht des Körpers eben gesteigert oder gehemmt werden. Deutlich wird der Zusammenhang von Affektfähigkeit und Handlungsfähigkeit bereits in E3d3, wo die Abhängigkeit der aktiven Handlungsfähigkeit von den Affektionen des Körpers und den Ideen dieser Affektionen verdeutlicht wird. Handlungen (actio) ergeben sich aus Affektionen, deren Ursachen adäquat erkannt werden können. Leidenschaften (passio) hingegen ergeben sich aus Affektionen, deren Ursachen der Mensch nur partiell, also nur inadäquat erkennen kann und die seine Erkenntnis überschreiten. In E4p59 hält Spinoza dementsprechend fest: »Zu allen Handlungen, zu denen wir aus einem Affekt heraus, der eine Leidenschaft ist, bestimmt werden, können wir ohne ihn von der Vernunft her bestimmt werden.« Das heißt, dass negative Affekte, die aus dem Primäraffekt der Trauer hervorgehen, unsere Handlungsmacht schwächen, während wir im Falle der sich aus dem Primäraffekt der Freude ergebenden positiven Affekte, die mit der Vernunft übereinstimmen, unsere Handlungsmacht steigern können. Aus Vernunft zu handeln, heißt für Spinoza also, etwas aktiv hervorzubringen, das aus der Notwendigkeit unserer Natur folgt (vgl. E4p59dem). Und weil Freude für den Menschen gut ist, stimmt sie mit der Vernunft überein und fördert seine Wirkungsmacht, also seine Macht, im Sinne der potentia agendi zu handeln. Durch aktive Handlungen wird die Wirkungsmacht des Körpers ebenso wie die des Geistes gesteigert; insofern sind Handlungen für Spinoza stets Affekte der Freude, d. h., die Affektionen des Körpers und des Geistes, die die HandlungsZur Aktivität als Tugend vgl. E4p59 und besonders das Beispiel in E4p59s. Insgesamt strebt der Geist nach dem, was die Handlungsmacht des Körpers steigert und befördert. Wie Spinoza in E3p54dem festhält: »Mentis conatus sive potentia est ipsa ipsius mentis essentia«. 115 116

Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

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macht steigern, gehören den Primäraffekten der Freude oder der Begierde an. »Unter allen Affekten, die dem Geist zukommen, insofern er aktiv ist, gibt es keine, die nicht zu Freude oder Begierde gehören« (E3p59). Die Affektionen des Körpers sind für Spinoza auch Bewegungen des Denkens, denn es gibt kein Denken ohne Affektionen, durch die Ideen generiert werden, und insofern lässt sich sagen, dass die Steigerung des Denkens nur mit einer Steigerung der Affektionen des Körpers einhergehen kann. Ein Ziel der Erkenntnis muss also die Erkenntnis der Ursachen negativer Affekte sein, die unsere Wirkungsmacht schwächen und uns von unserem Vermögen, zu handeln, abschneiden. 117 Die Leidenschaften werden von Spinoza aber nicht in einen Gegensatz zu den Handlungen gebracht, denn im Falle einer Leidenschaft, also im Falle eines passiven Affekts, haben wir nicht gar keine, sondern einfach eine geringere Handlungsmacht. Handlungsmacht steht also in Abhängigkeit von der graduellen Affizierbarkeit des Körpers und der Fähigkeit des Individuums, äußere Affektionen aufzunehmen und zu entfalten. Diese graduelle Steigerung der Handlungsfähigkeit durch die Affektionen des Körpers wird auch in Spinozas Theorie des Körpers deutlich, dessen Fähigkeit, zu handeln, in Abhängigkeit von seinen Affektionen und den daraus resultierenden Ideen steht. Im Falle der Leidenschaften können wir die Ursachen von Wirkungen nur partiell und inadäquat erkennen, und daher ist die Umwandlung passiver Leidenschaften in aktive Handlungen eng mit der Umwandlung inadäquater Ideen in adäquate Ideen verbunden. Aktivität und Passivität stehen demzufolge nicht im Gegensatz, denn aktiven Handlungen gehen auch passive Affektionen voraus. So ist bereits die rationale Erkenntnis des passiv Erlebten eine Form der Aktivität, die in aktive Handlungen mündet. »Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden« (E5p3). Und da wir von allen Affektionen deutliche Begriffe bilden können, sind auch alle als passiv erlebten Affektionen in Aktivitäten umzuwandeln. Die Bestimmung der Reversibilität aktiver und passiver Anteile des menschlichen Individuums zeigt deutlich, welchen Stellenwert Spinoza der körperlichen Verfasstheit und der Affizierbarkeit des Individuums zuschreibt. Es ist die Affizierbarkeit des Körpers, d. h., es sind seine sinnliche Ansprechbarkeit 117 Macht und Ohnmacht werden hier also aus der Affektfähigkeit erklärt, denn negative und reaktive Affekte trennen uns von unserem Handlungsvermögen und machen uns ohnmächtig, während positive Affekte unsere Handlungsmacht steigern. Aus diesem Grund sind Affekte auch im Feld des Politischen und der Politik so zentral, wo ihre Erzeugung ebenso zu Macht und Ohnmacht und damit zur Steigerung und zur Schwächung von Handlungsmacht führen kann. Deleuze hat gezeigt, dass Nietzsche aus diesem Verhältnis von Macht und Ohnmacht bzw. von aktiven und reaktiven Kräften seine Theorie des Ressentiments aufgebaut hat. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche, Berlin 1979, S. 19 ff. und ders., Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 122 ff.

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Theorie der Affektionen und der Affekte

und die daraus entstehenden Ideen, die das Vermögen ausmachen, aus passiven Leidenschaften aktive Handlungen werden zu lassen. 118 Die Handlungsmacht des Körpers und die Handlungsmacht des Geistes, d. h., »die Macht im Denken« und »die Macht im Wirken, sind [. . . ] von Natur aus gleich und auf einmal« (E3p28dem). Im Zentrum von Spinozas Konzeption der Affektionen und der Affekte steht also der Zusammenhang zwischen Affektfähigkeit und Handlungsfähigkeit. 119 Und darüber hinaus eröffnet das Spiel relationaler Affektionen einen Möglichkeitsraum, der von der Intensität sinnlicher Erfahrung zu den Potentialitäten des Denkens und der Ideen reicht, die ihre Grundlegung in den Affektionen des Körpers haben. Es bleibt also zu betonen, dass Spinozas Konzeption der Affektfähigkeit auf den dynamischen und kontingenten Charakter des Affektionsgeschehens aufbaut. Von hier aus wird auch deutlich, warum die Lehre von den Affekten auch eine Therapeutik ist: Sie basiert auf der Annahme, dass die Affektionen und damit die Affekte selbst rational steuerbar und transformierbar sind. 120 Affektfähigkeit ist also letztlich auch ein Prinzip der Selbsterhaltung, da sie wie eine kalkulatorische Praxis der steuernden Regelung und Regulierung der Affektionen dient. Vom Selbsterhaltungsstreben eines jeden endlichen Individuums ausgehend, ergeben sich die Bestimmungen der einzelnen Affekte für Spinoza als unterschiedliche Formen größerer und geringerer HandlungsGenau diese Umwandlung passiver Leidenschaften in aktive Handlungen ist der Anschlusspunkt für eine feministische Interpretation der Affektenlehre, die die Bedinghtheit des Handelns nicht vom Körper abgelöst sieht, sondern gerade die Exponiertheit des Körpers, d. h. auch seine Empfänglichkeit und Verletzlichkeit zu einem Ausgangspunkt von Autonomie macht. Vgl. dazu Aurelia Armstrong, »Autonomy and the Relational Individual. Spinoza and Feminism«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 43–63. 119 Vgl. zur Frage der freien Handlung und ihrer Bestimmung durch Affekte auch Thomas Kisser, »Affektenlehre als Ethik. Spinozas Begriff des conatus und die Konzeption menschlichen Handelns«, in: Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik, Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., S. 215–244. 120 Für eine Bestimmung des transformativen Charakters der Affektfähigkeit unter dem Aspekt der Freude und der positiven Imagination siehe den Beitrag von Moira Gatens, die meint, »human affective life involves an open-ended series of transitions or passages. Affects may be passive (in which case they are passions) or active (in which case their are actions). Active affects are achieved through the cultivation of our joyful affects, including reflection and deliberation, and involve what Spinoza calls ›strength of character‹. Two major joyful active affects he describes in Part III of the Ethics are nobility and tenacity. These are the active affects attained by the free person whose endeavor is not restrained by the sad affect of hope (an hope’s constant companion, fear). It is through the joyful affects of tenacity and nobility that we might strive to transform those desires that we take to contradict our reflectively held beliefs.« Moira Gatens, »Affective Transitions and Spinoza’s Art of Joyful Deliberation«, in: Marie-Luise Angerer / Bernd Bösel / Michaela Ott (Hg.), Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, Berlin 2014, S. 17–33, hier: S. 30. Vgl. dazu auch: Susan James, Spinoza on Superstition. Coming to Terms with Fear, Voorschoten 2006 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 88). 118

Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit

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macht und größerer und geringerer Vollkommenheit. In dieser Kalkulation der Affektionen haben wir es mitunter mit starren Schematisierungen zu tun, diese dienen aber dazu, die Affektionen und die daraus hervorgehenden Affekte erklärbar zu machen und sie der Erkenntnis zuzuführen. 121 Denn für Spinoza ist klar: »Es gibt keine Affektion des Körpers, von der wir nicht irgendeinen klaren und deutlichen Begriff bilden können« (E5p4). Die Möglichkeit der Umwandlung passiv erlebter Affektionen in Aktivität hängt an der Möglichkeit der Erkenntnis von Ursachen und Wirkungen. »Da es nun einmal nichts gibt, woraus nicht irgendeine Wirkung erfolgt und weil wir alles, was aus einer Idee, die in uns adäquat ist, folgt, klar und deutlich einsehen, hat ein jeder die Gewalt (potestatem), sich und seine Affekte – wenn nicht völlig, so doch wenigstens teilweise – klar und deutlich einzusehen, und folglich die Gewalt, es dahin zu bringen, daß er von ihnen weniger erleidet« (E5p4s). Der Vorgang der Erkenntnis besteht in der Umwandlung inadäquater Ideen in adäquate Ideen und in der Umwandlung passiver Affektionen, die als Leidenschaften erlebt werden, in aktive Affektionen, die als Aktivität erlebt werden und die Handlungsmacht des Individuums steigern. Das stärkste »Heilmittel für die Affekte« (affectuum remedio) (E5p4s), über das wir verfügen und das von uns abhängt, ist also die Fähigkeit der Erkenntnis der Affektionen in den pragmatischen Zusammenhängen unseres Strebens nach Selbsterhaltung.

Die Vor- und Nachteile der Pluralität der Affektenlehre auf der einen und der vereinfachenden Schematisierung auf der anderen Seite diskutiert Dieter Birnbacher, »Gegenstand und Ursache der Emotion in Spinozas Affektenlehre«, in: Stefanie Hübsch / Dominic Kaegi (Hg.), Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, S. 101–115, besonders 101 ff. 121

II Theorie der Körper

II.1 Was ein Körper ist und was ein Körper kann

Mit der Darstellung der Theorie der Affektionen und der Affekte unter dem Aspekt ihrer ontologischen und ihrer pragmatischen Bedeutung ist deutlich geworden, dass Individuation nicht in den Alternativen von Ausdehnung und Denken und auch nicht als deren Parallelität zu verhandeln ist. Individuation muss vielmehr von einer Potentialität der Individuen her verstanden werden, die sich aus ihrem dynamischen Zusammenhang und aus der Übertragung zwischen Affektionen des Körpers und des Geistes ergibt. Zwar betont Spinoza zu Beginn der Affektenlehre, »nur von dem menschlichen Geist zu handeln« (E3p3s), doch betont er auch, dass dafür »einiges über die Natur von Körpern vorausgeschickt werden« (E2p13s) muss, denn die Bestimmung der Affekte ist eine Bestimmung der »Affektionen des Körpers« (E3d3) und der »Ideen dieser Affektionen« (E3d3). Wir müssen also zusätzlich zur Theorie der Affektionen und der Affekte auch eine Theorie des Körpers in den Blick nehmen, die sich nicht einfach auf den Sachverhalt des Denkens reduzieren lässt. 122 Da wir aber keinen essentiellen Körper voraussetzen können und nicht einfach von einem solchen ausgehen können, muss die Theorie des Körpers an die Untersuchung der Affekte angeschlossen werden und kann erst auf diese folgen. Spinoza sieht 122 Es ist auffällig, dass eine solche Hervorhebung des Körpers in der philosophischen Diskusion häufig unterbleibt und nur die Erkenntnis der Affekte zum Ausgangspunkt gemacht wird. Sehr deutlich äußert sich in dieser Richtung Bartuschat, wenn er schreibt: »Der Körper unterliegt überhaupt keinen Affekten (affectus), sondern bloß Affektionen (affectio), deren Vorstellung (idea) ein Affekt ist, sofern der Mensch als vorstellendes Wesen (mens) durch sie emotional betroffen ist.« In E3d3, so Bartuschat, komme dies nicht hinreichend zum Ausdruck, aber die allgemeine Definition im Anhang des dritten Teils weise Affekte allein als solche des Geistes aus. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 148 (Anm. 61). In ähnlicher Richtung argumentiert z. B. auch Schrijvers, der »emotions as essentialy thoughts« ausweist. Vgl. Michael Schrijvers, Spinozas Affektenlehre, Bern 1989. Ganz anders dagegen argumentiert z. B. Emilia Giancotti, die betont, dass der Körper das wichtigste Element der Affektenlehre ist. »The disposition of the body to be modified and thereby affected is the conditio sine qua non of the origin of the affects.« Emilia Giancotti, »The Theory of the Affects in the Strategy of Spinoza’s Ethics«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Desire and Affect: Spinoza as Psychologist. Papers Presented at The Third Jerusalem Conference (Ethica III), New York 1999, S. 129–138, hier S. 132. Ein Wissen des Körpers betont wiederum Edwin Curley: »It is hard to see how any philosopher could give a greater priority to knowledge of the body than Spinoza has.« Edwin Curley, Behind the Geometrical Method: A Reader of Spinoza’s Ethics, Princeton 1988, S. 77. Siehe zu dieser umstrittenen Frage auch Martial Gueroult, Spinoza II. L’âme, Paris 1974, S. 143–189.

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die Menschen zwar an dem Vorurteil festhalten, dass der Körper seine Verrichtungen in Abhängigkeit vom Geist und dessen Willen zu leisten vermag, doch gibt es für ihn keinen Grund, an den Fähigkeiten des Körpers zu zweifeln. 123 Dabei behauptet er nicht, die Funktionsweise der reversiblen Einheit von Ausdehnung und Denken, die der Körper ist, zu verstehen, sondern weist diesen als ein unbekanntes Objekt aus: »Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand bestimmt; d. h. die Erfahrung hat bislang niemanden darüber belehrt, was der Körper bloß nach Gesetzen der Natur, insofern diese allein als körperlich angesehen wird, verrichten kann und was allein dadurch, daß er von dem Geist bestimmt wird« (E3p2s). 124 Wir sehen zwar den Zusammenhang von Geist und Körper, doch wirklich begriffen werden kann diese Einheit erst, wenn die Natur unseres Körpers adäquat erkannt wird. Und sie zu erkennen, bedeutet nicht nur, den menschlichen Körper einer physiologischen oder physikalischen Betrachtung zu unterziehen, sondern eine allgemeine Ebene seiner Definition zu finden, die die Fähigkeit des Körpers betrifft, etwas zu tun oder etwas zu erleiden und damit den Geist zu adäquater Erkenntnis zu befähigen. 125 Als einschlägige Beispiele für die Fähigkeiten des Körpers (dessen Bau niemand so genau kenne) führt Spinoza die niederen Lebewesen an, an denen man vieles beobachten könne, was die Vorstellung des Menschen übersteigt, und die Nachtwandler, die im Schlaf vieles tun, was sie im wachen Zustand nicht für möglich hielten. »Das zeigt zur Genüge, daß der Körper allein bloß nach Gesetzen seiner Natur vieles kann, worüber sein Geist staunt. Noch einmal, niemand weiß, in welcher Weise und mit welchen Mitteln der Geist den Körper bewegt, auch nicht, wie viele Grade von Bewegung er dem Körper mitteilen und mit welcher Geschwindigkeit er ihn bewegen kann. [. . . ] Es sei noch hinzugefügt, daß gerade der Bau des menschlichen Körpers in seiner Kunstfertigkeit alles weit übertrifft, was menschliche Kunst je gebaut hat, ganz davon zu schweigen, daß ich oben erwiesen habe, daß aus der Natur, unter welchem Attribut auch immer betrachtet, unendlich vieles folgt.« Für Spinoza ist klar, dass »Menschen, die sagen, diese oder jene Tätigkeit des Körpers rühre von einem Geist her, der die Herrschaft über den Körper habe, nicht wissen, was sie sagen, und [. . . ] die wahre Ursache einer solchen Tätigkeit nicht kennen und an ihr auch nicht interessiert sind« (E3p2s). 124 Für Deleuze ist diese Unwissenheitserklärung eine glatte Provokation: »[W]ir sprechen vom Bewußtsein und seinen Beschlüssen, vom Willen und seinen Wirkungen, von tausend Mitteln, den Körper zu bewegen, [. . . ] aber wir wissen nicht einmal, was der Körper alles vermag [. . . ].« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 27. Vgl. zur enormen Bedeutung dieser Aussage für eine Grundlegung von Spinozas Materialimus auch: Warren Montag, Bodies, Masses, Power. Spinoza and his Contemporaries, London 1999. 125 Von dieser Suche nach den Erklärungen der Natur des Körpers berichtet Heinrich Oldenburg am 17. September 1661 an seinen Freund Spinoza. »In unserem philosophischen Collegium sind wir nach Kräften eifrig dabei, Experimente und Beobachtungen anzustellen, und wir beschäftigen uns mit der Abfassung einer Darstellung der mechanischen Künste, in der Überzeugung, daß die Formen und Qualitäten der Dinge am besten aus mechanischen Prinzipien erklärt werden können, und daß alle Wirkungen der Natur durch Bewegung, Gestalt, Textur und ihre unterschiedlichen Verbindungen hervorgebracht werden können, ohne daß es nötig ist, zu unerklärbaren Formen und verborgenen Qualitäten, d. h. zum Asyl der Unwissenheit seine Zuflucht zu nehmen« (Ep 3:11). 123

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Der Begriff des Körpers (corpus) wird zur Bezeichnung einer Reihe verschiedener Typen von Individuen herangezogen und zieht sich in eher uneinheitlichem Gebrauch durch das gesamte Werk Spinozas. Eine erste aufschlussreiche Herleitung findet sich in der Kurzen Abhandlung: »Jedes besondere Ding, das zum Existieren kommt, kommt dazu durch Bewegung und Ruhe; und so sind alle Dinge Modi in substantieller Ausdehnung; wir nennen sie deshalb Körper« (KV, Zweiter Teil, Vorrede, Anm. 7, S. 51). Vor allem aber behandelt Spinoza die Frage des Körpers in Descartes' Prinzipien der Philosophie und in der Ethica, wobei sich die wichtigsten Elemente seiner Theorie zur Natur der Körper und ihrer Individuation in der kleinen physikalischen Abhandlung finden, die im Anschluss an E2p13 folgt. 126 In einem Brief an Ehrenfried Walther von Tschirnhaus aus dem Jahr 1676 schreibt Spinoza, dass er die Frage, »ob aus dem bloßen Begriff der Ausdehnung die Verschiedenheit der Dinge a priori bewiesen werden könne«, bereits durch den Nachweis verneint habe, dass die Materie nicht, wie bei Descartes, von ihrer Ausdehnung her bestimmbar ist (Ep 83:300), sondern »notwendig durch ein Attribut erklärt werden muß, das ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt« (Ep 83:300). Diese Erklärung stellt Spinoza zwar in Aussicht, doch bleibt sie uneingelöst und, ebenso wie die Physik der Körper, die ihm vorschwebte, unausgearbeitet. Gleichwohl aber finden sich im zweiten Teil der Ethica wichtige Elemente einer physikalischen Theorie des Körpers, die die Grundlage für Spinozas immanente Konzeption der Individuation und damit für die Frage nach dem menschlichen Individuum bilden. Spinoza wollte die Materie von einem Attribut her denken, das Ewigkeit und eine unendliche Wesenheit ausdrückt, einem Attribut also, das seinen nominalen Begriff der Substanz auszeichnet. Dabei geht es ihm nicht darum, diesen von der Ewigkeit her gedachten Begriff der Substanz als eine fundierende Wesensinstanz auszuweisen, von der wie von einer ursprünglichen Essenz hinzukommende Eigenschaften und Verbindungen aufsteigen würden. Vielmehr wird die Natur der Körper in horizontalen Konstitutionsverhältnissen untersucht, in denen sich ihre vielfache Affektion ereignet und die der Erkenntnis unter dem Aspekt der Ewigkeit zugänglich sind, denn wie Spinoza zu Beginn des zweiten Teils axiomatisch feststellt, empfinden wir einen »Körper, der auf vielfache Weise affiziert wird« (E2a4). 127 Zur Auseinandersetzung mit dem mechanistischen Denken Descartes siehe: André Lecrivain, »Spinoza and the Cartesian Mechanics«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences, Dordrecht et al., 1986, S. 15–60. Und auch: Stephen Gaukroger, »Spinoza’s Physics«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, a. a. O., S. 123–132, sowie Richard F. Hassing, »The Use and Non-Use of Physics in Spinoza’s Ethics«, in: The Southwestern Journal of Philosophy, 11/2 (1980), S. 41–70. 127 Deleuze sieht hier zwei fundamentale Fragen äquivalent zusammengehen: »Was ist die Struktur (fabrica) eines Körpers? Was kann ein Körper? Die Struktur eines Körpers ist die Zusammen126

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II.2 Körper in ontologischer Hinsicht

Nicht nur die Theorie der Affekte, sondern auch die Theorie des Körpers muss in einer ontologischen Perspektive interpretiert werden. Und auch wenn der Körper vor allem von den Ideen ausgehend verstanden wird, in denen er sich ausdrückt, spielt der ontologische Ausgangspunkt seiner Untersuchung im Rahmen einer Theorie immanenter Individuation eine wesentliche Rolle. 128 Die ontologische Bestimmung des Körpers ist die eines Modus der Substanz und das heißt, gemäß der Bestimmung des Modus in E1d5, einer Affektion der Substanz. Deutlich wird diese Annahme bereits in der KV, die der Ethica vorausgeht: »Weil der Mensch ein erschaffenes endliches Ding usw. ist, ist was er an Denken hat und wir Seele nennen, notwendigerweise eine Modifikation des Attributs, das Denken heißt, ohne daß zu seiner Essenz ein anderes Ding als genau diese Modifikation gehört. [. . . ] Ebenso ist was der Mensch an Ausdehnung hat und wir Körper nennen, nichts weiter als eine Modifikation des Attributs, das Ausdehnung heißt, und zwar so sehr, daß, wenn sie zugrunde geht, der menschliche Körper nicht mehr existiert, obwohl das Attribut Ausdehnung unveränderlich bleibt« (KV, Anhang 124). Unterschiedliche Körper sind für Spinoza nicht unterschiedliche Substanzen, sondern unterschiedliche Modi der einen Substanz. So definiert er zu Beginn des zweiten Teils der Ethica: »Unter Körper verstehe ich einen Modus, der Gottes Essenz, insofern sie als ein ausgedehntes Ding angesehen wird, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt (exprimit)« (E2d1). Als Modus der Essenz Gottes ist der Körper (wie in E1d5 bestimmt) zugleich eine Affektion, d. h. »eine Affektion oder ein Modus, der Gottes Natur auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt« (E2p10c). Für die Frage der Individuation von Körpern und für die Annahme, dass Körper sich »nicht im Hinblick auf Substanz« (E2p13lem1 und E2p13lem4dem) unterscheiden, ist es wichtig, sich noch einmal klar zu machen, dass es für Spinoza »nicht zwei oder mehrere Substanzen derselben Natur, d. h. desselben Attributes, geben« (E1p5) kann. Sollte es mehrere unterschiedliche Substanzen in der Natur geben, so müssten diese sich nach ihren Attributen oder nach ihren Affektionen unterscheiden. Eine Unterscheidung nach ihren Attributen ist aber nicht möglich, da es nur eine Substanz eines Attributs geben setzung seines Zusammenhangs [von Ruhe und Bewegung]. Was ein Körper kann, ist die Natur und die Schranken seines Affiziertseinkönnens.« Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 192. 128 Zum Wissen vom Körper und den Möglichkeiten seiner Erkenntnis bei Descartes und Spinoza vgl. Charles Mccracken, »Knowledge of the Existence of Body«, in: Michael R. Ayers / Daniel Garber (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1997, S. 624– 648. Zur ontologischen Perspektive auf den Körper vgl. Konrad Hecker, »Spinozas Ontologie der Körperwelt«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), S. 597–617.

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kann und eine Unterscheidung nach Affektionen ist ebenso wenig möglich, da die Substanz ihren Affektionen vorangeht und demgemäß nach Abzug derselben dieselbe bleibt. 129 Ebenso ist die Unendlichkeit der Substanz zentral für die Bestimmung von Körpern als nicht-substanziell, denn als endlich verstanden würde eine Substanz durch andere Substanzen derselben Natur begrenzt, da es aber keine zwei Substanzen eines Attributes geben kann, muss Substanz unendlich sein (E1p5). Als unendlich gedacht kann Substanz also nicht von etwas anderem hervorgebracht werden, sie ist vorhanden kraft ihrer die Existenz bejahenden Natur und aus sich selbst heraus, d. h., es kann außer Gott keine Substanz geben; und das bedeutet wiederum, »dass ausgedehnte Substanz eines von Gottes unendlichen Attributen ist« (E1p15s) und Körper aus den Affektionen dieser Substanz hervorgehen und letztlich Modifikationen dieser einen Substanz sind. Die ontologische Bestimmung des Körpers ist aber keineswegs nur im Attribut der Ausdehnung auszumachen, sondern muss im Zusammenhang der parallelen Bestimmung der Attribute gesehen werden, die wir in E2p11 bis E2p13 finden. Hier zeigt Spinoza auf, dass das »erste, was das wirkliche (actuale) Sein des menschlichen Geistes ausmacht, [. . . ] nichts anderes [ist] als die Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges« (E2p11). Was immer also sich als Objekt der Idee, die den Geist ausmacht, zeigt, muss von diesem erfasst werden, d. h., wenn »das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ein Körper ist, dann wird in diesem Körper nichts sich ereignen können, was von dem Geist nicht wahrgenommen wird« (E2p12). Es erscheint durchaus evident, dass die Ideen des Geistes Ideen von äußeren Dingen sind, und diese Annahme deckt sich mit der verbreiteten Annahme einer intentionalen Ausrichtung des Geistes. Doch im Unterschied dazu betont Spinoza, dass unsere Ideen Ideen unseres Körpers sind, d. h., sie sind nicht Ideen der äußeren Dinge selbst, sondern Ideen der äußeren Dinge in ihrer Verbindung zu unserem Körper. 130 In E2p16c2 wird das deutlich: »Es folgt [. . . ], daß die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, eher den Zustand unseres Körpers anzeigen, als daß Die Annahme einer ursprünglichen Unveränderlichkeit der Substanz geht aus E1p1 hervor, wo Spinoza festhält: »Eine Substanz geht der Natur nach ihren Affektionen voran.« Sie erscheint unter Gesichtspunkten einer Essentialismuskritik fragwürdig, muss aber im Sinne der bekannten Bemerkung von den facies totius universi verstanden werden, mit der Spinoza die Unveränderlichkeit der Form des ganzen Universums meint, innerhalb derer sich aber Veränderungen ereignen. Im Sinne dieser Ganzheit eines Universum mit vielen veränderlichen Teilen ist es zu verstehen, dass die die Substanz des Ganzen ihren Affektionen vorangeht. 130 Siehe zur Interpretation der Ideen als Ideen des Körpers und besonders zu E2p12 die Ausführungen von Ursula Renz, die zu dem Schluss kommt, dass Spinoza nicht darauf abzielt zu behaupten, wir würden sämtliche körperinternen Ereignisse im Denken wahrnehmen, sondern darauf, dass uns die objektbezogenen Wahrnehmungsleistungen des Körpers im Denken erscheinen. 129

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sie die Natur der äußeren Körper erklären.« Die Ideen unseres Geistes, die wir zumeist für Ideen von äußeren Dingen halten, versteht Spinoza also als Ideen, die die Verbindung unseres Körpers zu äußeren Dingen anzeigen, und wenn das jeweilige Objekt einer Idee des Geistes der Körper ist, bedeutet das, dass der Körper zwischen den von außen kommenden Affektionen und den daraus entstehenden Ideen des Geistes steht. Für Spinoza gehen die Ideen des Körpers wie z. B. körperliche Empfindungen und Ideen äußerer Dinge, die diese Empfindungen auslösen, miteinander einher, d. h., wir nehmen die äußeren Dinge als Affektionen des Körpers wahr. So wird klar, was gemeint ist, wenn Spinoza betont, dass der Geist die Idee des Körpers ist und die Affektionen des Körpers zu den Ideen des Geistes führen. 131 Die Bildung der Ideen des Geistes untersteht stets zuerst der ersten Erkenntnisart, also der imaginatio, und ist daher unvollständig oder inadäquat. Um diese inadäquaten Ideen zu überschreiten, müssen die kausalen Relationen, die den Körper bestimmen, erkannt werden und der eigene Körper muss von dem, was auf ihn einwirkt, unterschieden werden. Gelingt diese Einsicht in die umgebenden Verhältnisse, so gelangen wir zu adäquaten Ideen und letztlich zu Gemeinbegriffen, und gelingt diese Erkenntnis auch noch unter dem Aspekt der Ewigkeit, so gelangen wir zur höchsten Erkenntnis, nämlich der intuitiven Erkenntnis Gottes. 132 Die Erkenntnis der kausalen Bedingungen des Körpers und die Umwandlung inadäquater Ideen in adäquate Ideen ist aber immer zugleich auch eine Umwandlung der Affekte, die sich aus den Affektionen des Körpers ergeben und von Passivität in Aktivität übergehen. 133 Durch die Ineinanderführung der Attribute der Ausdehnung und des Denkens verschiebt Spinoza das Problem der Beziehung von Körper und Geist Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 184 ff. 131 Zum besseren Verständnis dieser schwer zugänglichen Wendung von den Ideen des Geistes als Ideen des Körpers empfehle ich die Darstellung von Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy. Oxford 1997, S. 136–145. 132 Vgl. dazu E2p38c und die ausführliche Diskussion der Erkenntnisarten und der Gemeinbegriffe in III.5 und III.6 des ersten Teils. 133 Den Übergang von passiven zu aktiven Affekten beschreibt Susan James anhand der Unterscheidung der drei Primäraffekte, also als Übergang von Trauer und aus ihr abgeleiteten Sekundäraffekten zu Freude und Begierde und entsprechenden Sekundäraffekten. Vgl. Susan James, Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford 1997, S. 200 f. Die Bestimmung des Übergangs von Passivität zu Aktivität ist wesentlich, um die Prozesshaftigkeit der Individuation durch Affektionen und Affekte zu verdeutlichen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es nicht erforderlich, eine solche Schematisierung der Einzelaffekte vorzunehmen, da die Bestimmung immanenter Individuation durch Affektionen nicht emotionstheoretisch ausgerichtet ist, sondern Affektionen als einen relationalen Zusammenhang und damit ontologisch und pragmatisch zu identifizieren sucht.

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auf die Frage, wie die Ideen des menschlichen Geistes Ideen des Körpers sein können, wie also beispielsweise eine Bewegung des Körpers ein Gedanke der Bewegung sein kann. Selbstverständlich ist auch für die Theorie der Körper die Auseinandersetzung mit Descartes zentral, denn mit seiner affekttheoretischen Bestimmung des Körpers argumentiert Spinoza sowohl gegen die cartesische Privilegierung des Denkens als erster Instanz der Erfahrung als auch gegen die Annahme, dass nur der Geist den Körper zur Bewegung bringen kann. 134 »Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt)« (E3p2). In der gemeinsamen Ordnung von res cogitans und res extensa sucht Spinoza die Fähigkeiten des Körpers zu rehabilitieren und gegen die Vorstellung anzugehen, dass es der Geist sei, der den Körper zu Ruhe und Bewegung bringt. 135 Um die vertikale Ordnung der Attribute zu überwinden und die Fähigkeiten des Körpers auszuloten, wird immer wieder betont, dass »der Geist und der Körper ein und dasselbe Ding sind, das bald unter dem Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird« (E3p2s). Der Unterschiedlichkeit der ausgedehnten und der denkenden Dinge liegt also die Unterscheidbarkeit der verschiedenen Attribute zugrunde, die der einen absoluten und unendlichen Substanz zukommen. Wie oben ausgeführt, gibt es für Spinoza eine absolute Substanz, als deren Attribute extensio und cogitatio erscheinen und in der die Vorherrschaft der einen Sphäre über die andere aufgehoben wird. »Das macht es, daß die Ordnung oder Verknüpfung von Dingen ein und dieselbe ist, ob nun die Natur unter diesem oder unter jenem Attribut begriffen wird, und folglich daß die Ordnung der Aktivitäten und des Erleidens unseres Körpers mit der Ordnung der Aktivitäten und des Erleidens des Geistes von Natur aus zugleich ist« (E3p2s). Weder bringt also der Körper den Geist zum

Vgl. dazu auch die Bestimmungen des Körpers in PPC1def7: »Eine Substanz, die das unmittelbare Subjekt von Ausdehnung ist und von Akzidenzien, die Ausdehnung voraussetzen (wie Gestalt, Lage, Ortsbewegung usw.) heißt Körper«. Vgl. ferner die Ausführungen in den elf Definitionen des zweiten Teils, wo Spinoza die Bedingungen von Ruhe und Bewegung von Körpern in enger Auseinandersetzung mit Descartes diskutiert. 135 Eine der zahlreichen Auseinandersetzungen über dieses immer wiederkehrende Thema findet sich in der Korrespondenz mit Heinrich Oldenburg. Oldenburg stellt die Frage, ob es denn »unzweifelhaft erscheint, daß der Körper nicht durch das Denken, und das Denken nicht durch den Körper bestimmt werden kann? Ist es doch noch nicht einmal ausgemacht, was das Denken eigentlich ist, ob eine körperliche Bewegung oder eine rein geistige, völlig von der körperlichen unterschiedene Tätigkeit?« (Ep 1–7: 3–32, hier: Ep 3:9). Vgl. dazu auch: Charles Jarrett, »Spinoza’s Denial of Mind-Body Interaction and the Explanation of Human Action«, in: The Southern Journal of Philosophy, 29 (1991), S. 465–485. 134

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Denken, noch steuert der Geist die Bewegungen des Körpers. 136 Die Menschen glauben fest daran, so schreibt Spinoza, dass der Körper »bloß auf Geheiß des Geistes bald sich bewegt, bald ruht und daß er sehr vieles verrichtet, was allein von dem Willen des Geistes und dessen Erfindungskunst abhängt« (E2p2s). Und er betont auch, dass die Entscheidungen des Geistes Dispositionen des Körpers sind und der Geist danach strebt, sich stets das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers fördert. »Der Geist strebt, soviel er kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert«, und »solange der Geist etwas vorstellt, das die Wirkungsmacht unseres Körpers vermehrt oder fördert, ist der Körper mithin in Weisen affiziert, die seine Wirkungsmacht (agendi potentiam) vermehren oder fördern« (E3p12dem). Die adäquate Erkenntnis des Körpers und der Affektionen des Körpers ist nicht selbstverständlich und steht im Zusammenhang der Erkenntnis der Teile und des Ganzen. »Der menschliche Geist schließt die adäquate Erkenntnis der den menschlichen Körper zusammensetzenden Teile nicht in sich« (E2p24). Eine adäquate Idee des Körpers kann es nicht geben, da der Körper nicht aus sich selbst verstanden werden kann, sondern nur aus der ihn umgebenden Natur und den kausalen Verhältnissen des Ganzen. Er ist kein unabhängiges Ding, das als abgeschlossenes Individuum unter anderen an sich existieren würde, sondern vielmehr an erster Stelle ein Modus der Substanz, und diese ontologische Dimension des Körpers kann nicht ausgeschlossen werden. Als Idee des Körpers ist aber auch der Geist ein Modus der Substanz, denn die Ideen sind Ideen des ausgedehnten Körpers unter dem Aspekt des Denkens. Die mannigfaltigen Affektionen durch andere Körper ergeben sich aus dem Affektionszusammenhang der Körper, und so impliziert Gottes Idee meines Körpers auch die Idee eines jeden anderen Körpers. Das bedeutet: Wenn Gott eine adäquate Idee meines Körpers hat, dann nur, weil er die Umgebung meines Körpers und die Affektionen, die auf ihn einwirken, zu erfassen in der Lage ist. So muss »von jedem Teil des Körpers [. . . ] eine Idee oder Erkenntnis in 136 Für Deleuze geht es immer wieder um die Überschreitungen im Verhältnis von Körper und Geist und darum, dass »der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und daß ebenso das Denken das Bewußtsein übersteigt, das man von ihm hat«. Diese Bewegung streicht Deleuze besonders heraus und zielt damit auf eine Infragestellung des Bewusstseinssubjekts wie auf eine Kritik des Bewusstseins und seiner Wahrheitsideale. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 28. So wird die Frage der Erkenntnisfähigkeit auch zur Frage adäquater Erkenntnis und zielt darauf ab, festzuhalten, dass der Körper und das Bewusstsein einander überschreiten können. Das bedeutet, dass wir stets mit Unstimmigkeiten und Verschiebungen im Verhältnis von Körper und Geist, wie auch im Verhältnis von Erfahrung und Erkenntnis rechnen müssen und daher nicht von einem Repräsentationsverhältnis ausgehen können. Vgl. ebd., a. a. O., S. 27 f.; ferner auch die Ausführungen zu dieser Verschiebung in: Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt / Main 1991, S. 168 f.

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Gott sein, und zwar [. . . ] insofern er als affiziert von einer anderen Idee eines Einzeldings angesehen wird« (E2p24dem). Von jedem einzelnen Teil des menschlichen Körpers gibt es eine Idee in Gott und insofern »ist die Erkenntnis eines jeden den menschlichen Körper zusammensetzenden Teils in Gott, insofern er von den Ideen sehr vieler Dinge affiziert ist und nicht, insofern er nur die Idee des menschlichen Körpers hat« (E2p24dem). Während Gott also Ideen aller Körper und aller den Körper affizierenden Dinge hat, habe ich selbst nur die Idee meines Körpers, und diese Idee meines Körpers ist notwendigerweise inadäquat, d. h., das Wissen, das ich von meinem Körper habe, ist inadäquat, weil ich immer nur eine Idee meines Körpers, aber keine Idee der anderen Körper habe, die mich konstituieren. 137 Nur in Gottes unendlichem Verstand ist die unendliche Mannigfaltigkeit anderer Dinge und anderer Körper gegeben, die nicht mein Körper sind. Und so erfasst Gott eben nicht nur meinen Körper und hat eine adäquate Idee meines Körpers, sondern er erfasst auch alle anderen Körper in adäquater Weise. Auch in E2p25 wird diese Inadäquatheit der Ideen der Affektion des menschlichen Körpers wieder betont und in ihrer Paradoxie deutlich: »Die Idee einer jeden Affektion des menschlichen Körpers schließt die adäquate Erkenntnis eines äußeren Körpers nicht in sich« (E2p25). Spinoza erklärt, dass ein äußerer affizierender Körper nicht erkannt werden kann, wenn er den menschlichen Körper nicht in einer ganz bestimmten Art und Weise affiziert. Bezieht sich der äußere affizierende Körper also nicht in einer bestimmten Weise auf den menschlichen Körper, so ist er zwar in Gott, insofern Gott eine Idee von diesem äußeren Körper hat, kann aber nicht adäquat erkannt werden, weil er dem eigenen Körper und dessen Ideen äußerlich bleibt und selbst von einem anderen Körper affiziert wird, der »der Natur nach dem äußeren Körper selbst vorangeht« (E2p15dem).

II.3 Körper in pragmatischer Hinsicht

Neben der ontologischen Bestimmung des Körpers als eines affizierbaren Modus der Essenz Gottes muss aber auch seine pragmatische Bestimmung expliziert werden. Erst auf der pragmatischen Ebene der Bewegungen des Körpers und der Ideen realisiert sich die Potentialität des immanenten Seinszusammenhangs der einen Substanz, wie Spinoza ihn gegen die Isolation und die 137 Jean-Luc Marion sieht in dieser Struktur ein fundamentales Paradox und bestimmt die notwendig paradoxe Inadäquatheit der Erkenntnis des Körpers: »Inadequacy resides in the most intimate point, the junction between the body and the mind.« Jean-Luc Marion, »Aporias and the Origins of Spinoza’s Theory of Adequate Ideas«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza on Knowledge and the Human Mind, Leiden 1994, S. 129–158, hier S. 129.

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aporetische Frontstellung zweier Substanzen gestellt hat. 138 Die Potentialität des Individuationsgeschehens ergibt sich – diese These soll im Folgenden verteidigt werden – aus dem pragmatischen Affektionszusammenhang der Körper, die als ausgedehnte Substanz teilbar sind und deren Formenspektrum von den einfachsten Körpern, den corpora simplicissima, über verschiedene Bewegungseinheiten zu komplexen Körpern reicht, die »aus sehr vielen Individuen (verschiedener Natur) zusammengesetzt [sind], von denen jedes seinerseits äußerst komplex ist« (E2p13post1). Mit der Bestimmung des Körpers als Ausdruck der Essenz Gottes (vgl. E2d1) verbindet sich nun endlich auch die Frage nach dem Menschen. 139 Wenn es in der Natur nur eine Substanz geben kann, aber ganz verschiedene Menschen existieren, bedeutet das, dass die Menschen sich nicht ihrer Substanz nach unterscheiden. »Da nun mehrere Menschen existieren können, so Spinoza, ist das, was die Form des Menschen ausmacht, nicht das Sein von Substanz« (E2p10s). Und weiter: »Zur Essenz des Menschen gehört nicht das Sein von Substanz, anders formuliert, Substanzialität macht nicht die Form des Menschen aus« (E2p10). Der Mensch existiert nicht als Substanz, weil die Eigenschaften der Substanz die der Unendlichkeit, der Unveränderlichkeit und der Unteilbarkeit sind, der Mensch hingegen endlich, veränderlich und zahlreich ist. So bestimmt Spinoza die Pluralität der menschlichen Individuen eben nicht von ihrer substanziellen Wesenhaftigkeit her, sondern als unterschiedliche Spielarten oder unterschiedliche Ausdrucksformen der Natur. Der Begriff des Körpers (corpus) steht in diesem Sinne für ganz unterschiedliche metaphysische, physische, politische und ethische Dimensionen der Individuation von Einzeldingen und Spinozas quasi-physikalische Theorie Die Explikation dieser Zusammenhänge in einer pragmatischen Hinsicht ist in der Forschung weitgehend ausgeblieben, da die Abhandlungen zum Körper und seinen Wirkungen zumeist in den Alternativen von Physik und Metaphysik behandelt werden. Lee C. Rice kommt in seiner Untersuchung zur Individuation kurz auf den pragmatischen Charakter der Theorie der Körper zu sprechen und bemerkt zu seiner Erklärung, dass die Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Körpern in ihrer Teilbarkeit eine Unterscheidung ist, die immer relativ zu äußeren Zwecken verläuft: »If this sounds as though I am fashioning Spinoza in a pragmatic image, we should recall his own insistence that order (ordo) is a product of imagination in the first place, and simplicity is certainly an ordering relation.« Vgl. Lee C. Rice, »Spinoza on Individuation«, in: The Monist, 55/4 (1971), S. 640–659, hier S. 647. 139 Bartuschat zeigt, dass Spinozas Philosophie auf den Menschen hin organisiert ist, was sich nicht von selbst versteht, denn die Annahme, Spinoza habe den Menschen darauf zurückverwiesen, lediglich ein unselbständiger Teil im determinierenden Gefüge der Natur zu sein, ist ebenso verbreitet. Bartuschat fordert, einen Dualismus der Perspektiven und einen doppelten Ausgangspunkt von Gott und vom Menschen her durchzuhalten, zeigt aber auch, dass die Rationalität der Welt und ihre Begreifbarkeit durch den Menschen letztlich zu einer Zuspitzung auf den Menschen führen. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992. 138

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der Körper ist nicht auf den menschlichen Körper zu beschränken. Das bisher Aufgezeigte »ist ganz allgemein und gilt für Menschen nicht mehr als für übrige Individuen [. . . ]« (E2p13s). Daher gilt alles, was für die Idee des menschlichen Körpers gilt, auch für die Idee eines jeden anderen Dings. Der Körper des Menschen ist für Spinoza ein Körper von vielen anderen, die sich auf dieser graduellen Individuationsskala bilden, die von den einfachsten Körpern bis zum absoluten Ganzen reicht. Um nun aber die Besonderheit des menschlichen Körpers zu verstehen, muss der Zusammenhang zu den Ideen des menschlichen Geistes untersucht werden, deren Gegenstand der menschliche Körper ist (vgl. E2p13). Und um diese Idee von anderen Ideen abzugrenzen, muss die Natur ihres Objekts, also die Natur des menschlichen Körpers untersucht werden. Wenn das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist konstituiert, ein existierender Modus der Ausdehnung, d. h. ein Körper ist, folgt daraus, dass »der Mensch aus einem Geist und einem Körper besteht, und dass der menschliche Körper, so wie wir ihn empfinden, [wirklich] existiert« (E2p13c). Wir sehen also »nicht nur, daß der menschliche Geist mit dem Körper vereinigt ist, sondern auch, was unter der Vereinigung von Geist und Körper verstanden werden sollte« (E2p13s). Dabei ist stets zu beachten, dass wir von jedem existierenden Körper Kenntnis haben können, weil jeder Körper durch eine ihm strikt parallel zugeordnete Idee erscheint. 140 Die mannigfachen Affektionen des menschlichen Körpers sind also zugleich mannigfache Affektionen des menschlichen Geistes und der Ideen. In den auf E2p13 folgenden Postulaten fährt Spinoza fort, die Komplexität des »aus sehr vielen Individuen (verschiedener Natur)« (E2p13post1) zusammengesetzten menschlichen Körpers zu erklären, der von äußeren Körpern auf mannigfache Weise affiziert werden kann. »Die den menschlichen Körper zusammensetzenden Individuen, und folglich der menschliche Körper selbst, werden von äußeren Körpern auf sehr viele Weisen affiziert (E2p13post3)«. Dabei ist es nicht nur eine Möglichkeit des menschlichen Körpers, auf diese Weise affiziert zu werden, es ist vielmehr sogar eine Notwendigkeit und ein Gesetz seiner Selbsterhaltung. »Der menschliche Körper bedarf zu seiner Erhaltung sehr vieler anderer Körper, von denen er beständig gewissermaßen neu erzeugt wird« (E2p13post4). Werden und Veränderung sind also keine das Individuum bedrohenden Bewegungen, sondern vielmehr gerade seine konstitutiven Bedingungen und die Bedingungen seiner individuellen Erhaltung im Sinne des conatus perseverandi, wodurch jedes Ding danach strebt, »gemäß der Siehe auch die folgende Anmerkung in der KV: »Aus einer solchen Proportion von Bewegung und Ruhe kommt auch dieser unser Körper dazu, zu existieren, von dem dann, nicht weniger als von allen anderen Dingen, eine Erkenntnis, Idee usw. im Attribut Denken sein muß, und dies ist zugleich der Ursprung unserer Seele« (KV, Zweiter Teil, Vorrede, Anmerkung 9, S. 51). 140

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ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren« (E3p6). Die Affektionen, denen der menschliche Körper unterliegt, sind also konstituierende Bedingungen seiner Selbsterhaltung und die Fähigkeit eines Körpers, durch andere Körper affiziert zu werden, hängt mit seiner eigenen Komplexität zusammen. Zu seiner Selbsterhaltung bedarf der menschliche Körper vieler anderer Körper, durch die er auf vielfache Weise affiziert werden kann und die er ebenso affiziert. Der Status eines Körpers zeigt in jedem Moment diesen selbst und die ihn affizierenden äußeren Körper an. Und so sind Körper für Spinoza dynamische Einheiten, die durch die konstitutiven Relationen, in die sie eingelassen sind, in ihrer Essenz determiniert werden, die ihre Determiniertheit aber durch die ihnen eigene Verknüpfung mit den Ideen erkennen und aus dieser Erkenntnis Handlungsmacht ableiten können. Mit der Affektfähigkeit des Körpers steigern sich dementsprechend auch die Komplexität und die Wirkungmacht des Geistes und aus diesem Zusammenhang ergibt sich, dass »der menschliche Körper sehr vieler Körper bedarf, von denen er gewissermaßen neu erzeugt wird« (E2p19dem). Die Fähigkeit, affiziert zu werden, ist ein Konstitutionsprinzip, das die Komplexität eines Körpers und damit auch die Komplexität eines menschlichen Individuums bedingt. So hängt die Bestimmung des Körpers davon ab, wie er durch andere Körper erzeugt wird, die ihn umgeben und ihn affizieren. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass ein Körper in jedem Moment sowohl sich selbst als auch die Körper repräsentiert, durch die er erst konstituiert wird. Ausgehend von dieser grundlegenden Eingebundenheit eines jeden einzelnen Körpers in einen Affektionszusammenhang vieler Körper, kritisiert Spinoza zu Beginn des dritten Teils der Ethica, dass »die meisten, die über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben haben«, »den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staat« (E3praef) verstehen. Für ihn geht es nicht nur darum, die Welt in einzelnen Entitäten und letzten Einheiten zu bestimmen, die voneinander getrennt betrachtet werden könnten. Es geht vielmehr darum, die Konstitution des Individuums in dynamischen Affektionsprozessen aufzuzeigen, die es durch eine adäquate Erkenntnis ihrer immanenten Kausalität verstehen kann. Erst die Erkenntnis dieser immersiven Verstrickung führt für Spinoza zu einer aktiven Handlungsfähigkeit des Individuums und zu der Möglichkeit, die Macht der Affekte für sich zu nutzen. Aus der relationalen Konzeption des Körpers und der Ideen ergibt sich also eine gewisse Autonomie des Individuums, denn während eine substantialistische Konzeption des Körpers das menschliche Individuum in antagonistischen Konstellationen von Aktivität und Passivität festsetzt, führt die relationale Konzeption des Körpers und der Ideen zu einer Dynamisierung und damit zu einer Steigerung von Autonomie und Handlungsmacht.

Körper in Ruhe und Bewegung

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II.4 Körper in Ruhe und Bewegung

In den auf Lehrsatz 13 des zweiten Teils folgenden Axiomen I und II verdeutlicht Spinoza seine Konzeption der Dynamik ausgedehnter Körper: »Alle Körper sind entweder in Bewegung oder in Ruhe« (E2p13a1), und jeder »Körper bewegt sich bald langsamer, bald schneller« (E2p13a2). 141 Aus diesen Axiomen ergibt sich eine der wesentlichen Bestimmungen, die hier für eine antiessentialistische Konzeption der Individuation und des Individuums herangezogen werden. 142 Eher am Rande, aber hinreichend deutlich hält Spinoza die grundsätzliche Verfasstheit des Körpers fest: »Körper unterscheiden sich voneinander aufgrund von Bewegung und Ruhe und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit und nicht im Hinblick auf Substanz« (E2p13lem1). Sehr viel deutlicher noch wird diese Konzeption von Ruhe und Bewegung als Konstitutionsbedingung des menschlichen Körpers im Anhang der KV formuliert: »Wir setzen dabei als bewiesen voraus, daß es in der Ausdehnung keine andere Modifikation gibt als Bewegung und Ruhe, und daß jedes besondere körperliche Ding nur eine bestimmte Proportion von Bewegung und Ruhe ist, und zwar in dem Maße, daß, wenn in der Ausdehnung nichts anderes wäre als nur Bewegung oder nur Ruhe, in der gesamten Ausdehnung kein einziges besonderes Ding aufgewiesen werden oder existieren könnte. Daher ist denn auch der menschliche Körper nichts anderes als eine gewisse Proportion von Bewegung und Ruhe« (KV Anhang 14, 127). Das Prinzip der Selbsterhaltung des Körpers wird von Spinoza also als ein Prinzip der Wechselwirkung zwischen Körpern bestimmt, und die Individualität eines jeden Körpers ergibt sich aus den kausalen Relationen zu anderen Körpern. 143 Um zu existieren, muss Zum Vergleich mit Spinozas Theorie der Körper ist die ausführliche Diskussion Gottes in der Bestimmung der Aktivität von Körpern bei Descartes interessant. Vgl. Michael Della Rocca, »If a Body Meet a Body. Descartes on Body-Body Causation«, in: ders., New essays on the Rationalists, New York 1999, S. 48–81. 142 Spinozas Thematisierung des Körpers muss aber auch in einem weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext naturphilosophischer und physikalischer Theoriebildung gesehen werden, der sich um das im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert aufkommende atomistische und mechanistische Denken z. B. Pierre Gassendis, Rene Descartes’ und Thomas Hobbes’ dreht. Vgl. dazu: Daniel Garber / John Henry / Lynn Joy / Alan Gabbey, »New Doctrins of Body and Its Powers, Place and Space«, in: Michael Ayers / Daniel Garber (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1997, S. 553–623. 143 Und nicht im Sinne des Trägheitsprinzips, wie Descartes es erklärt: Diese Kritik ist unter anderem in Ep 81 zu finden. »Aus der Ausdehnung sodann, wie Descartes sie auffaßt, nämlich als ruhende Masse, die Existenz der Körper zu demonstieren, ist nicht nur schwierig, [. . . ] sondern vollkommen unmöglich. Denn die ruhende Materie wird, soweit es an ihr liegt, in ihrer Ruhe verharren und nicht zur Bewegung angetrieben, es sei denn durch eine äußere, stärkere Ursache« (Ep 81: 297). Spinoza erklärt hier weiter, Descartes’ Erklärung der Prinzipien der natürlichen Dinge 141

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Theorie der Körper

ein Körper seinen charakteristischen Zusammenhang von Bewegung und Ruhe aufrechterhalten können, d. h., die Form des menschlichen Körpers als spezielles Verhältnis von Bewegung und Ruhe muss erhalten bleiben. »Was bewirkt, daß die Regel von Bewegung und Ruhe, die die Teile des menschlichen Körpers untereinander haben, erhalten wird, ist gut, während andererseits schlecht ist, was bewirkt, daß die Teile des menschlichen Körpers eine andere Regel von Bewegung und Ruhe untereinander haben« (E4p39). In ontologischer Hinsicht stimmen Körper also darin überein, dass sie gleichermaßen Attribute der Substanz Gottes sind und Gottes Essenz zum Ausdruck bringen (vgl. E2dI). Ihre Unterscheidbarkeit aber hat eine pragmatische Dimension und geht darauf zurück, wie sie einander affizieren – und das bedeutet auch, wie sie ruhen, sich bewegen und sich gegenseitig zu Ruhe und Bewegung veranlassen. 144 »Körper sind [. . . ] Einzeldinge, die sich aufgrund von Bewegung und Ruhe voneinander unterscheiden; ein jeder hat mithin [. . . ] notwendigerweise von einem anderen Einzelding zu Bewegung oder Ruhe bestimmt werden müssen, nämlich [. . . ] von einem anderen Körper, der ebenfalls sich bewegt oder ruht« (E2p13lem3d). 145 Ausgehend von dieser Bestimmung der Körper als ausgedehnter Einzeldinge, die sich durch ihre Fähigkeit zu Bewegung, Ruhe und Geschwindigkeit voneinander unterscheiden, kann Spinoza eine Konzeption sich gegenseitig affizierender und affizierbarer Körper entwickeln, die zur Grundlage seiner Theorie immanenter Individuation wird. 146 Ruhe und Bewegung sind hier der sei unbrauchbar und widersinnig. Vgl. zur Abgrenzung von Descartes vor allem hinsichtlich der Veräußerlichung der Individualität in den Relationen auch die ähnliche Darstellung bei Thiel. Udo Thiel, »Individuation«, in: Michael Ayers / Daniel Garber (Hg.), The Cambridge History of SeventeenthCentury Philosophy, Cambridge 1997, S. 229 ff. 144 Wie in diesen Bestimmungen der Verhältnisse von Ruhe und Bewegung der Körper deutlich wird, geht es Spinoza hier um eine physikalisch-mechanistische Darstellung der Gesetze der Individuation von Körpern. Erkenntnistheoretisch interessant ist dabei nicht die Frage, wie Körper als einzelne Körper erkannt werden können, sondern wie die Fähigkeiten des Körpers mit den Fähigkeiten des Geistes zusammenhängen und wie die Affektionen des Körpers zugleich als Affektionen des Geistes zu verstehen sind. Vgl. auch Don Garrett: »In particular the Definition of individual [. . . ] strongly implies that Spinoza is describing what makes something an individual, and not merely what makes something be recognized as an individual.« Don Garrett, »Spinoza’s Theory of Metaphysical Individuation«, in: Kenneth F. Barber / Jorge J. E. Gracia (Hg.), Individuation and Identity in Early Modern Philosophy. Descartes to Kant, New York 1994, S. 76. 145 Wie die Verschiebungen von einer cartesisch-dualistischen zu einer spinozistisch-monistischen Konzeption von Bewegung und Ruhe genauer verlaufen, ist Gegenstand der Untersuchung von Rice. Vgl. Lee C. Rice, »Spinoza on Individuation«, in: The Monist, 55/4 (1971), S. 640–659, besonders S. 645. 146 Deleuze unterscheidet in dieser Konzeption von Ruhe und Bewegung des Körpers zwei Dimensionen: eine kinetische Dimension, die den Körper in einem Zusammenhang von Geschwindigkeiten ausweist, und eine dynamische Dimension, die auf die Macht des Körpers zu affizieren

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unmittelbare Ausdruck des Attributs der Ausdehnung und aus Ruhe und Bewegung entsteht die Dynamik, aus der sich Formen individuierten Seins ergeben. Die Verschiedenheit und die Unterscheidbarkeit der Individuen werden also von der kurzen physikalischen Begründung der Bewegungsgesetze der Körper her verstehbar. »Ihre Verschiedenheit entsteht allein durch eine Proportion von Bewegung und Ruhe, wodurch ein Ding so und nicht anders ist und dieses Ding genau dieses und nicht jenes« (KV, Zweiter Teil, Vorrede, Anmerkung 8, S. 52). Die Unterscheidung der Individuen ist eine Unterscheidung des Körpers, denn der Körper ist die Idee des Geistes und das Wissen des Körpers geht aus seinen Affektionen hervor; d. h., aus dem, was den Körpern gemeinsam ist und sie verbindet, entstehen die adäquaten Ideen. Um zu existieren und sich selbst zu erhalten, muss ein Körper seinen charakteristischen Zusammenhang von Bewegung und Ruhe aufrechterhalten, d. h., die Form des menschlichen Körpers als spezielles Verhältnis von Bewegung und Ruhe muss erhalten bleiben, damit »der menschliche Körper auf vielfache Weise affiziert werden kann und [. . . ] selbst äußere Körper auf vielfache Weise affiziert« (E4p39dem). Zu seiner Selbsterhaltung bedarf ein menschlicher Körper also vieler anderer Körper, zu denen er in einem Verhältnis gegenseitiger Affektion steht. Eine Veränderung der Regeln von Bewegung und Ruhe führt zur Veränderung des Körpers, zu seiner Zerstörung und damit zur Unfähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden. So lassen sich die Kombinationsmöglichkeiten von Individuen und ihnen zugrunde liegenden Körpern unendlich fortsetzen und auf unendlich viele Weisen verändern. Die Dynamik von Ruhe und Bewegung und das Affektionsgeschehen zwischen Körpern führen nicht zum Verlust des Individuums und nicht zu seiner Auflösung, sondern zur Veränderung bzw. sogar zur Steigerung seiner Vermögen und der seines Geistes. Nur die Form des menschlichen Körpers als spezielles Verhältnis von und affiziert zu werden zielt. »Einerseits enthält ein Körper, so klein er auch sei, immer unendlich viele Teilchen: die Verhältnisse von Ruhe und Bewegung, Schnelligkeit und Langsamkeit zwischen den Teilchen, die einen Körper in seiner Individualität definieren. Andererseits affiziert ein Körper andere Körper oder wird von anderen Körpern affiziert: diese Macht zu affizieren und affiziert zu werden definiert ebenfalls einen Körper in seiner Individualität.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 159 f. In beiden Fällen wird Individualität nicht durch eine Wesen oder Form bestimmende Substanz erzeugt, sondern durch die immanenten dynamischen Verhältnisse der Ruhe und der Bewegung von Körpern. Vgl. dazu auch : Manuel DeLanda, »Immanence and Transcendence in the Genesis of Form«, in: Ian Buchanan (Hg.), A Deleuzian Century?, Durham u. a. 1999, S. 118–134. »In Spinoza Deleuze discovered [. . . ]: that the resources involved in the genesis of form are immanent to matter itself.« Ebd., S. 119. Vgl. auch Anne Sauvagnargues, die diese andere »Theorie der Form als intensive Zusammensetzung wirklicher Kräfteverhältnisse und nicht als imaginäre Bedeutung oder strukturelles Modell« versteht und im Anschluss an Deleuze fruchtbar zu machen sucht. Anne Sauvagnargues, »Immanenz – ein Fall«, in: Isabell Lorey / Roberto Nigro / Gerald Raunig (Hg.), Inventionen 2, Zürich 2011, S. 134–150, hier: S. 141.

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Theorie der Körper

Bewegung und Ruhe muss erhalten bleiben, damit der menschliche Körper auf unterschiedliche Weise affiziert werden kann und selbst affiziert. »Was also bewirkt, daß die Regel von Bewegung und Ruhe, die die Teile des menschlichen Körpers untereinander haben, erhalten bleibt, erhält die Form des menschlichen Körpers und bewirkt folglich [. . . ], daß der menschliche Körper auf vielfache Weise affiziert werden kann und daß er selbst äußere Körper auf vielfache Weise affiziert; mithin ist es gut. Was andererseits bewirkt, daß die Teile des menschlichen Körpers eine andere Regel von Bewegung und Ruhe erhalten, bewirkt [. . . ], daß der menschliche Körper eine andere Gestalt annimmt, d. h. [. . . ] daß der menschliche Körper zerstört wird und folglich ganz unfähig gemacht wird, auf vielfache Weise affiziert zu werden; und somit ist es schlecht« (E4p39d dazu auch E4p39). Offen bleibt hier, ob es eine Individualität des Körpers gibt, an der die äußeren Affektionen trotz aller Plastizität ihre Grenze finden, d. h. eine individuelle Form, die ein bestimmendes Moment der Begrenzung äußerer Einflüsse darstellt. Individuation verläuft für Spinoza zwischen der Notwendigkeit, Teil eines größeren, bestimmenden Affektionszusammenhangs zu sein und der Freiheit, das Spiel der Affektionen für sich zu nutzen. Die Freiheit des Subjekts ist hier keine absolute Freiheit, sondern eine Freiheit im praktischen Sinn der rationalistisch-therapeutischen Selbststeigerung. Der menschliche Körper kann allerdings seine Natur und seine Form verlieren und zerstört (destruatur) werden; d. h., seine Fähigkeit, affiziert zu werden, kann verloren gehen, wenn die Regeln von Bewegung und Ruhe durcheinandergeraten. Die Veränderung der Regeln von Bewegung und Ruhe kann zur Veränderung des Körpers und zur Unfähigkeit führen, zu affizieren und affiziert zu werden. An den Störungen des Gleichgewichts von Bewegung und Ruhe wird besonders deutlich, worauf es Spinoza ankommt: Es ist nicht einfach die äußerliche Form des menschlichen Körpers, um die es hier geht, sondern entscheidend ist seine Affektfähigkeit, d. h. seine Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden. Affektfähigkeit ist also eine Konstitutionsbedingung des menschlichen Körpers und je ausgeprägter sie ist, desto komplexer sind der Körper und damit auch der Geist eines Menschen. Ein Individuum ist, so lässt sich zusammenfassen, nicht aus seiner Substanz herzuleiten und nicht durch ein vorausgesetztes Wesen determiniert, sondern es entfaltet sich unter dem Einfluss von Affektionen, und Veränderung ist keine das Individuum bedrohende Bewegung, sondern vielmehr gerade eine Bedingung seiner individuellen Erhaltung. Die Beweglichkeit des Körpers in den Verhältnissen der Ruhe, der Bewegung und der Geschwindigkeit wird hier also als notwendige Konstitutionsbedingung und damit als Bedingung der Selbsterhaltung dargestellt. Der menschliche Körper wird durch diese Dynamik auf zahlreiche Weisen (plurimis modis) affiziert und er affiziert seinerseits andere Körper auf viele

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Weisen. Diese Vielfältigkeit der Affektionen überträgt Spinoza vom Körper auf den Geist: »Der menschliche Geist ist fähig, sehr vieles wahrzunehmen, und umso fähiger, auf je mehr Weisen sein Körper disponiert werden kann« (E2p14). Durch den Zusammenhang der Attribute ist für Spinoza klar, dass alles, »was sich im menschlichen Körper ereignet« (E2p14dem), durch den menschlichen Geist wahrgenommen wird; also ist der Geist angesichts der vielfältigen Affektionen, die den Körper konstituieren, fähig, sehr vieles wahrzunehmen, und er kann diese Fähigkeit in dem Maße steigern, in dem der Körper seine Fähigkeit steigert, zu affizieren und affiziert zu werden. 147 Die Steigerung der Handlungsmacht durch den klugen Umgang mit den Affekten ist also für Körper und Geist gleichermaßen bedeutsam, denn aufgrund ihrer Parallelität stellen sich die Fähigkeiten des Körpers auch als Fähigkeiten des Geistes dar, und je komplexer die Fähigkeiten des Körpers sind, desto komplexer sind auch die Fähigkeiten des Geistes. 148 Die dynamischen Relationen des Affektionszusammenhangs sind für Spinoza also weniger als reine Bewegungen des Körpers interessant, sondern vielmehr, weil sie stets eine reversible Verbindung von ausgedehnter und denkender Substanz herstellen und damit den Geist anregen. In der konstitutiven Bedingung der Affizierbarkeit eines Individuums und der affektiven Relationalität seiner verkörperten Existenz werden die Situiertheit und die immersive Einlassung des Denkens und der Ideen in die umgebenden Verhältnisse deutlich. Körper werden hier in gewissem Sinne als Verhältnisse von Ruhe, Bewegung und Geschwindigkeit ausgewiesen und damit als geformte Kräfte, die sich in übergreifenden Affektionszusammenhängen individuieren und sich Bartuschat interpretiert diesen Lehrsatz als einen reinen Rückschluss auf den Geist, der aber »nicht die menschliche Affektivität erläutert, weil er das Spezifische des Geistes unterschlägt, nämlich nicht nur eine interne Vielfalt zu sein, die sich aufgrund von Affektionen verändert, sondern um eine Veränderung auch zu wissen, in der der Geist sich in einer Weise erfährt, die dem Körper nicht zukommt«. Erst das Wissen ermögliche es dem Menschen, »von einem Zustand zum anderen fortzuschreiten«, und daher ist es für Bartuschat »nicht der Körper [. . . ] sondern der Geist«, um den sich die Lehre von den Affekten dreht. Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 148. 148 Diese Annahme einer parallelen Steigerung wirft allerdings die Frage auf, ob körperlich beeinträchtigte oder auch nur weniger leistungsfähige Personen für Spinoza auch geringere geistige Fähigkeiten haben. Und ob umgekehrt körperlich leistungsfähige Individuen, wie Sportler, auch notwendig gesteigerte Fähigkeiten im Denken haben. Beth Lord löst diese Frage auf und meint, dass die parallele Steigerung der Fähigkeiten nicht allgemein gilt, sondern je nur für spezifische Vermögen, wie z. B. die gesteigerte Fähigkeit des Läufers, die Funktionsweise seiner Beine zu verstehen und lange Strecken zurückzulegen. »Spinoza is not proposing that physically able people are more intelligent than those who are physically less able. He is saying that the capabilities of the mind are parallel to the body’s capabilities for acting and being affected.« Beth Lord, Spinoza’s Ethics, Edinburgh 2010, S. 64. 147

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Theorie der Körper

im Interesse ihrer Selbsterhaltung immer wieder selbst überschreiten. Die Individualität des Körpers ist nicht durch seine feste Form bestimmt, sondern durch zeitliche und räumliche Veränderungen in Ruhe und Bewegung und als eine Macht, in diesen Verhältnissen von Ruhe und Bewegung zu affizieren und affiziert zu werden. Ein Körper ist also ein Modus der Substanz, der im Attribut des Denkens wie im Attribut der Ausdehnung durch komplexe Affektionsverhältnisse bestimmt wird. 149 Wenn die Affekte Affektionen des Körpers und damit Modifikationen der Substanz sind, ist das Affektionsgeschehen ein ganz grundlegendes metaphysisches Prinzip, in dem die beweglichen Körper eine wichtige Rolle spielen, denn sie stehen in ständiger Verbindung zu anderen Körpern und Ideen und werden im Affektionszusammenhang mit anderen Körpern und Ideen konstitutiert. Es geht hier also nicht einfach um einzelne Körper, sondern entscheidend sind die Affektionen des Körpers, denn je ausgeprägter die Affektfähigkeit ist, desto komplexer ist der Körper und damit auch der Geist eines Menschen. Der menschliche Körper wird also auf zahlreiche Weisen (plurimis modis) affiziert und er affiziert seinerseits andere Körper auf viele Weisen. Diese Pluralität des Affektionsgeschehens überträgt Spinoza vom Körper auf den Geist, denn alles, was dem Körper widerfährt und sich im Körper ereignet, ist stets auch Sache des Geistes. Die Theorie der Individuation ist als eine Abhebung des einzelnen Körpers zu verstehen, der sich von anderen unterscheidet und seine Fähigkeiten und die seines Geistes durch die Abhebung seiner Einzelnheit steigern kann. Die Einzelnheit und die Verschiedenheit von Körpern muss begründet werden, weil Körper eben nicht einfach immer schon individuierte Essenzen der Substanz sind und ihre Einzelnheit nicht einfach vorausgesetzt werden kann, denn es ist nicht die Substanzialität von Körpern, sondern es sind die dynamischen Verhältnisse zwischen ihnen, die zu ihrer Individuation führen. Körper sind also ausgedehnte Dinge, die durch ihre Fähigkeit zu Ruhe und Bewegung voneinander getrennt und unterscheidbar werden.

In Anlehnung an Spinozas physikalische Darstellung bestimmt Deleuze Körper durch intensive Längen- und Breitengrade und sucht eine Kartographie des Körpers und der Affekte zu bestimmen, die die Ordnungen affizierender und affizierbarer Körper sichtbar machen und vor allem umbilden kann. Siehe Deleuzes Ausführungen in: ders., Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 27 ff., 32 f. und 159 ff. David Couzens Hoy untersucht die Rolle des Körpers und der Affekte in Nietzsches Subjektkritik, die ja bekanntlich für Deleuze wie auch für Foucault eine wesentliche Rolle gespielt hat. Couzens Hoys Darstellung gibt eine Idee davon, wie eng der theoriegeschichtliche Zusammenhang Spinoza-Nietzsche-Deleuze-Foucault insbesondere in der Theorie des Subjekts ist. Vgl. zur multiplen Interpretation des Körpers bei Nietzsche und zum Körper als Widerstandspunkt bei Foucault: David Couzens Hoy, Critical Resistance. From Poststructuralism to Post-Critique, Cambridge, MA 2004, S. 46 ff. und S. 59 ff. 149

Körper in Ruhe und Bewegung

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Ruhe und Bewegung sind der unmittelbarste Ausdruck des Attributs der Ausdehnung, und aus ihnen entsteht die unendliche Dynamik, aus der alle möglichen Relationen und damit alle möglichen Formen individuierten Seins entstehen. Die bewegte Interaktion zwischen Körpern führt also zu ihrer Individuation, und aus ihrer Vereinigung kann ein weiterer Körper bzw. ein weiteres Individuum entstehen. So werden verschiedene Gattungen von Individuen unterschieden, die sich aus verschiedenen Körpern zusammensetzen und dementsprechend auf vielfache Weise affiziert werden. Aus diesen Kombinationsmöglichkeiten von Individuen und ihrer Verknüpfung entstehen dann auch kollektive Akteure, wie Spinoza in seinen Überlegungen zur Verfasstheit des Politischen – nach Abschluss der Ethica von 1675 – im Tractatus politicus von 1677 zeigt. Hier wird die immanente Kausalität der Affekte im Feld kollektiver Akteure betrachtet und Spinoza betont die Notwendigkeit, die Analyse des Politischen an der Natur des Menschen und also an den Affekten zu orientieren.

Dritter Teil: Individuation und Macht

I Theorie der Individuation und der Individualität

I.1 Individuation und Antiindividualismus

Die Individuation von Einzeldingen ist ein klassisches Thema der Metaphysik, das schon Aristoteles mit Blick auf den ontologischen Vorrang erster Substanzen vor allen weiteren Arten und Gattungen diskutiert. 1 Spinozas Konzeption des Individuums und der Individualität soll im Folgenden vom Prozess der Individuation her vorgestellt und auf das menschliche Individuum und seine Verbindungen in transindividuellen Zusammenhängen übertragen werden. 2 Der klassische metaphysische Hintergrund der Individuationsproblematik macht auch für den vorliegenden Kontext deutlich, dass es bei der Frage der Individuation nicht, oder zumindest nicht in erster Linie, um Fragen personaler Identität geht, sondern vielmehr um die ontologische Bestimmung allgemeiner Strukturen und Prozesse, die unter allen anderen Einzeldingen auch die menschlichen Individuen betreffen. 3 Diese Erklärung der Wirklichkeit 1 Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion der Begriffe Individuum und Individualität bietet das Historische Wörterbuch der Philosophie, und die Auseinandersetzung mit Descartes und den cartesischen Voraussetzungen in der Frage der Indíviduation diskutiert Udo Thiel, »Individuation«, in: Michael Ayers / Daniel Garber (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1997, S. 212–262. Die Vielfalt der metaphysischen Themen und Probleme, die unter dem Begriff der Individuation auftreten, wird deutlich bei: Jan Lukasiewicz / G. E. M. Anscombe / Karl R. Popper, »The Principle of Individuation«, in: Aristotelian Society Supplement 27/1953, S. 69–120. Bei Aristoteles betrifft das Problem der Individuation die Frage nach Form und Materie und wird entlang der Wesensfrage im siebten Buch der Metaphysik diskutiert. Individuation als individuelle und phänomenale Betroffenheit des Individuums in einem emotionstheoretischen Kontext diskutiert Jan-Ivar Lindén, »Was das Individuum betrifft . . . Individuation, Betroffenheit und privilegierter Zugang«, in: Stefanie Hübsch / Dominic Kaegi (Hg.), Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, S. 53–68. 2 Damit wird eine ›weite‹ Interpretation im semantischen Feld der Begriffe Individuum und Individualität verfolgt und eine Theorie der Individuation ausgewiesen, die Spinoza so nicht vorgeschwebt haben dürfte. Eine genaue Zählung der Textstellen, in denen Spinoza die Begriffe verwendet, bietet Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 89–112. Barbone bestreitet zwar, dass es eine ausgearbeitete Theorie der Individuation bei Spinoza gibt, sieht aber durchaus, »that such a theory is present and underlies much of what he says about bodies, minds, and the human condition« (ebd., S. 90). 3 Vgl. dazu auch die Kritik von Lee C. Rice, der bereits 1971 eine von Humes Auseinandersetzung in den Treatises ausgehende Debatte hinterfragt, die die philosophische Dimension des Individuationsdenkens auf das Problem personaler Identität verengt. Rice bezeichnet diesen Umgang mit dem philosophischen Denken Spinozas als »philosophically perverse« und betont die

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Theorie der Individuation und der Individualität

zielt nicht auf die Erklärung der Erfahrung einzelner Individuen und sie wird auch nicht aus ihrer Erfahrung hergeleitet. 4 Sie sucht vielmehr spekulativ ein Gesetz der singulären Konstitution von Individuen zu bestimmen, das für das Ganze und seine Teile gleichermaßen gilt und durch das das Ganze bestimmt ist; ein Gesetz also, durch das das Individuum zugleich im Zusammenhang des Ganzen und in seiner inneren Struktur erklärt werden kann. 5 Für Spinoza ging es darum, in einer Theorie des absoluten Ganzen die graduelle Selbständigkeit der Individuen zu beweisen und ihre Singularität soweit wie möglich zu bestimmen. 6 Dabei ist das, was die Individuen konstituiert, nicht die Substanz selbst, die zugleich das Ganze ausmacht – auch wenn kein einzelnes Ding ohne dieses Ganze der Substanz sein oder begriffen werden könnte. Um die Endlichkeit der Individuen und die Unendlichkeit der Substanz zu vermitteln, sucht Spinoza vielmehr ein Prinzip, das die singuläre Existenz der Individuen in Raum und Zeit bestimmt und sie zugleich als Teile des Ganzen betrifft, ein Prinzip, das selbst ein Teil des Ganzen ist, aber die Individuen als Singularitäten individuiert. Dieses Prinzip ist die Macht des Individuums, sich in Ruhe und Bewegung Selbständigkeit der Individuationstheorie des Körpers, die nicht auf das »mind-body problem« zu reduzieren ist. Vgl. Lee C. Rice, »Spinoza on Individuation«, in: The Monist, 55/4 (1971), S. 640–659, hier S. 641 sowie 650. Daran anschließend muss betont werden, dass Spinozas detranszendentale Theorie der Individuation auch in eine Kritik transzendentalphilosophischer und anthropologischer bzw. anthropologisierender Verengungen der Frage nach dem Menschen gewendet werden kann. Diese Form der Anthropologiekritik finden wir bei Spinoza selbst freilich nicht, da menschliche Individuen hier (noch) nicht anthropologisch gedacht werden, sondern, sofern sie nur Teile des Ganzen der Natur sind, überhaupt erst als Bewusstseinsträger identifizierbar gemacht werden müssen. 4 Eine solchermaßen antiindividualistische Lesart, die den Begriff der Erfahrung aus dem von Foucault bestimmten empirisch-transzendentalen Zirkel lösen könnte, verfolgt auch Caroline Williams und nutzt das metaphysische Individuationsdenken Spinozas zur Aufhebung der immer wiederkehrenden Frage nach dem Subjekt. Vgl. Caroline Williams, »Subjectivity without the Subject: Thinking Beyond the Subject with / through Spinoza«, in: Beth Lord (Hg.), Spinoza Beyond Philosophy, Edinburgh 2012, S. 11–27. 5 Vgl. die Überlegungen zur Methode Spinozas bei Manfred Walther, der betont, dass die Grundlagen von Spinozas Erklärungen nicht aus der Erfahrung hergleitet werden, weil die Erfahrung nicht die Dinge selbst erfasst, sondern nur die menschlichen Bedingungen der Möglichkeit zeigt (wie wir seit Kant wissen). Walther schreibt: »Die innerste Natur eines Dings ermitteln heißt, seine Struktur als spezifische Konstellation der allgemeinen Bewegungsgesetze der Materie erfassen. Auszugehen hat die Erklärung also von den Grundbestimmungen, Ruhe und Bewegung und deren allgemeinen Gesetzen, und diese können allein in der Philosophie entwickelt und bewiesen werden. [. . . ] Die möglichen Kombinationen der allgemeinen Prinzipien ergeben die Strukturen sämtlicher Individuen.« Manfred Walther, Metaphysik als Anti-Theologie. Die Philosophie Spinozas im Zusammenhang der religionsphilosophischen Problematik, Hamburg 1971, S. 65. Siehe dazu auch Spinozas eigene methodische Überlegungen in TIE 30–49, S. 27–41. 6 Vgl. zur Frage der Singularität auch: François Zourabichvili, »L’identité individuelle chez Spinoza«, in: Myriam Revault D’Allones / Hadi Rizk (Hg.), Spinoza: Puissance et Ontologie. Actes du Colloque organisé par le Collège International de Philosophie, Paris 1994, S. 85–107.

Individuation und Antiindividualismus

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zu erhalten, in dynamischen Zusammenhängen mit anderen Individuen zu existieren und die Potentialität der eigenen Existenz auszuschöpfen. Die ontologische Wirklichkeit der Modi ist also eine Wirklichkeit der Verhältnisse von Ruhe und Bewegung und in diesem Sinne sind die Bedingungen von Ruhe und Bewegung als Prinzipien der Individuation von Körpern zu bestimmen. Ohne den Bezug auf das Ganze ist die Selbsterhaltung der Individuen nicht zu verstehen und daher muss auch die Analyse der Individuation immer wieder auf den holistischen Grundzug der Ethica zurückkommen. Individuation ist aber zugleich vor allem eine Leistung des Individuums, das sich im Gesamtzusammenhang der Affektionen, d. h. im Affektionszusammenhang des Ganzen orientieren muss, um sich selbst zu erhalten. Es geht hier also weder um eine individualistische Perspektive der ersten Person und ihrer Erfahrung noch um eine Herleitung der Individuen aus der Substanz des Ganzen; vielmehr besteht die Erklärung der Individuation der res singulares in der Erklärung eines Gesamtzusammenhangs, der zugleich ein durch die Ruhe und die Bewegung der Individuen bestimmter Ereigniszusammenhang ist. 7 Innerhalb dieses Zusammenhangs ist das Einzelding durch eine gewisse Prekarität gekennzeichnet, da es sich permanent einpassen und in den Relationen, durch die es konstituiert ist, anpassen muss. Das Individuationsgeschehen zeichnet sich also durch eine Ambivalenz aus, die sich aus der gleichzeitigen Konstitution und Destruktion des Individuums in den notwendigen Bedingungen des Affiziertwerdens ergibt. 8 Individuen sind also Einheiten, die mit der umgebenden Wirklichkeit Die Diskussion von Individualität und Individuation als Ereignis und in Ereigniszusammenhängen ist zugleich eine Diskussion der Freiheitsspielräume des Individuums und steht im weiteren Kontext der Frage nach Freiheit und Notwendigkeit. Implizit an Spinoza anschließend diskutiert Deleuze das Verhältnis von Individuum und Ereignis in einer emanzipatorischen Perspektive und betont die Möglichkeit des menschlichen Individuums, sich selbst als ein Ereignis zu verstehen und sich in einer bejahenden Verbindung zum Ereigniszusammenhang des Ganzen von einer auferlegten Individualität zu befreien. Vgl. diese etwas mystisch anmutende Interpretation, die ich aber in ihrer Stoßrichtung für vollkommen richtig halte, in: Gilles Deleuze, Logik des Sinns, a. a. O., S. 221 ff. 8 Bartuschat meint daher, dass gerade die Individuationsproblematik bei Spinoza zu einer Theorie des absoluten Ganzen führt: »So ist es gerade das Individuationsproblem [. . . ], das zur Theorie des Absoluten führt: die Frage, wie ein Singuläres im Zusammenhang mit anderen Singulären, die von mannigfach es bestimmendem Einfluss auf es sind, einen Stand haben kann, in dem es nicht den äußeren Einflüssen erliegt, sondern von sich aus angesichts der Einflüsse seinen Ort bestimmen kann, bedarf des Rückgangs auf ein solches, das nicht Glied des Zusammenhangs, sondern letzter Grund des einzelnen und des Zusammenhangs ist. Weil das Sinugläre nicht durch sich ist, sondern begrenzt durch Anderes, das außerhalb seiner ist, könnte es seine Orientierung in der Welt, in der es sich nicht verliert, sondern bei sich ist, nicht finden, wenn es nicht selber bestimmt wäre durch ein Absolutes, das auch Grund dessen ist, was außerhalb seiner ist.« Wolfgang Bartuschat, »Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten«, in: Hans Radermacher u. a. (Hg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer, Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 99–121, hier: S. 108 f. 7

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Theorie der Individuation und der Individualität

relational verbunden sind, und das heißt, dass aus einem Individuum an sich nichts über seine Eigenschaften abgeleitet werden kann, denn diese Eigenschaften hängen von den äußerlichen Bedingungen ab, durch die es bestimmt ist. In diesem Sinne ist ein jedes Individuum allein als ein Teil des Ganzen zu verstehen und nicht aus sich selbst zu erklären, und während es sich selbst laufend verändert, bleibt das umgebende Ganze als eine allgemeine Ordnung der Natur gleich. 9 Die Bestimmung immanenter Individuation geht also auf die Bestimmung eines Wirklichkeitsprinzips zurück, das die Individuen als affizierbare Körper miteinander verbindet und zueinander ins Verhältnis setzt. Spinoza geht also nicht von einer intrinsischen Konstitution isolierter Individuen aus, sondern für ihn ereignet sich Individuation zwischen den Individuen und in ihren relationen Verbindungen, und diese Verbindungen ergeben sich aus den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung der Körper und ihrer Ideen.

I.2 Individuation in ontologischer Hinsicht

Das Verhältnis des Ganzen der Substanz zu den Einzeldingen ist uns nun bereits mehrfach im Bild der facies totius universi begegnet, also als das »Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modis sich ändert, aber immer dassselbe bleibt« (Ep 64: 250). Spinoza will mit dieser Metaphorisierung die Unveränderlichkeit des ganzen Universums und die Veränderlichkeit der ihm innewohnenden Einzeldinge herausstreichen und zeigen, dass ein zusammengesetztes Individuum auch dann seine Natur behält, wenn seine Teile sich nach den Gesetzen der Bewegung und der Ruhe verändern und verbinden. In diesem Sinne ist die gesamte Natur ein Individuum, dessen Teile sich unendlich verändern können, ohne dass sich das gesamte Individuum verändern würde. 10 Aus dieser Bestimmung des Verhältnisses des Ganzen und seiner Teile ergibt sich die Frage, wie sich die einzelnen Dinge überhaupt voneinander unterscheiden lassen und wie ihre unterscheidbare Einzelnheit angesichts der ontologischen Voraussetzung, dass sie alle Teile eines Kontinuums von Substanz sind, zustande kommt. Wenn alles in der Welt eine unteilbare Substanz Dieses Verhältnis eines konstanten Ganzen zum variablen Einzelnen bestimmt Spinoza bereits in der ontologischen Terminologie des ersten Teils der Ethica. Vgl. dazu oben auch die Diskussion der Unterscheidung von essentia und existentia im Abschnitt I.8 des ersten Teils. 10 Der metaphorische Ausdruck facies totius universi, den wir in einem Brief an Schuller vom 29. Juli 1675 finden, kann auch mit Gestalt, Figur oder Form des ganzen Universums übertragen warden. Er ist, auch durch angeführte Verweise auf E2Pro13 und E2Pro14, so eng mit den Ausführungen zum Körper und zur Individuation verbunden, dass diese Figur des ganzen Weltalls durchaus selbst zu den unterschiedlichen Arten von Körpern gezählt werden kann, die Spinoza ins Feld führt. Siehe dazu auch die Anmerkung unter: Erster Teil I,5. 9

Individuation in ontologischer Hinsicht

249

ist, wie können sich dann einzelne Dinge herausbilden und als Einzeldinge in ihrer numerischen Unterschiedenheit erkennbar werden? 11 Bevor Spinoza am Ende der physikalischen Ausführungen in der Folge von E2p13 auf den menschlichen Körper kommt, betont er die unendliche Veränderbarkeit der Körper in der Natur, die, selbst immer gleichbleibend, den teilbaren, sich gegenseitig nach physikalischen Gesetzen konstituierenden Individuen übergeordnet wird. Mit der Absetzung der Natur des Ganzen von den physikalischen Gesetzen der Individuation des Einzelnen markiert Spinoza die Unteilbarkeit und Einzigkeit der Substanz des Ganzen und es zeigt sich, dass er die Gesetze der Physik zwar für seine Erklärungen des Verhaltens von Körpern nutzt, aber die Frage der Substanz des Ganzen als eine Frage der Metaphysik behandelt. 12 Der Gesamtzusammenhang der Natur als einzige, absolute und unendliche Substanz wird hier nicht nach den Gesetzen der Physik betrachtet, denn die Substanz ist nicht teilbar und wird auch nicht durch andere Substanzen konstituiert. Sie ist ihr eigener Grund und ihre eigene Ursache (causa sui) und steht nicht in einem Verhältnis zu anderen Substanzen, die notwendig wären, um von einem Individuationsvorgang der Substanz auszugehen. Insbesondere in der Übertragung des Begriffs der Substanz auf Gott wird ihre höchste Selbständigkeit deutlich und angesichts dessen stellt sich die Frage, wie die unselbständigen einzelnen Modi aus der göttlichen und unteilbaren Substanz hervorgehen können. Ihre eigene Teilung realisiert die Substanz, die für Spinoza eben Gott und Natur zugleich ist, in der Unterscheidung von natura naturans und natura naturata. Erst diese Unterscheidung der Natur von sich selbst erlaubt es, ihren, also Gottes, und zugleich den hervorbringenden Charakter der Substanz zu denken und die unselbständigen einzelnen Modi aus einem höchsten Individuum herzuleiten. Wie zu Beginn des ersten Teils dargestellt, geht die radikale Selbständigkeit der Substanz des Ganzen darauf zurück, dass es für Spinoza nur die eine Substanz geben kann, die durch nichts anderes begrenzt wird und ihre eigene Ursache (causa sui) ist. Wir können also festhalten, dass es im Falle der Substanz selbst nicht sinnvoll ist, nach ihrer Individuation zu fragen, denn sie individuiert sich nicht erst in einer Relation zu anderen Substanzen, sondern geht aus sich selbst hervor und individuiert

Vgl. zu dieser Frage auch: Ursula Renz, »Die Definition des menschlichen Geistes und die numerische Differenz von Subjekten (2p11-2p13s)«, in: Michael Hampe / Robert Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, a. a. O., S. 101–121. 12 So erklärt auch Ursula Renz mit Blick auf die Unteilbarkeit der Substanz, dass Spinoza diese gerade nicht als eine Sache der Physik ausweist, sondern den Substanzmonismus als eine »genuin metaphysische Angelegenheit« behandelt. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 68. 11

250

Theorie der Individuation und der Individualität

sich durch sich selbst. 13 Substanz bildet also gewissermaßen den alleinigen Fall einer absoluten Individualität, da nur sie unteilbar und vor allem unendlich ist, wie Spinoza bereits in E1p13 und in E1p13s festhält und begründet: »Substantia absolute infinita est indivisibilis.« 14 Im Unterschied zu dieser absoluten Individualität der Substanz bestimmen sich die Modi gerade durch ihre Teilbarkeit, und das bedeutet, dass sie genau genommen nicht in-dividuell, sondern dividuell sind. 15 Es zeigt sich also ein fundamentaler Widerspruch im Begriff des Individuums, denn während der Prozess der Individuation zumeist als die Herausbildung eines ungeteilten und unteilbaren Dings, also eines In-dividuums verstanden wird, markiert Spinoza das Individuum gerade nicht als unteilbar, sondern sieht es erst aus seiner Teilbarkeit hervorgehen. Aus diesem Grund ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung nicht die Frage nach dem Individuum, sondern die Frage nach der immanenten Individuation als einem Prozess, der nominal unabschließbar ist, aber real für die endlichen Modi an ihr jeweiliges Selbsterhaltungsstreben, also an ihren je eigenen conatus gebunden ist. 16

13

Vgl. zu dieser Selbstursächlichkeit die Begründung der immanenten Ontologie unter I.1 und

I.2. 14 Und im Scholium zu E1p15 werden dann die Unteilbarkeit (indivisibilis) der Substanz und die Teilbarkeit (divisibilis) der Modi unterschieden und ausführlich diskutiert (vgl. E1p15s). Dabei stehen die Ausführungen zur Unteilbarkeit der Substanz im ersten Teil im Zeichen der Metaphysik, während sie in der kleinen physikalischen Abhandlung des zweiten Teils physikalisch gewendet werden. 15 Nietzsche schließt implizit an diese Unterscheidung im Begriff der Individualität an, wenn er die Teilbarkeit des Individuums im Zusammenhang normativer Ansprüche betont, denen das Individuum in unterschiedlichen Kontexten gerecht zu werden hat. Vgl. die Bemerkungen zur »Moral als Selbstzertheilung« des Menschen in Menschliches, Allzumenschliches: »In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.« Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I (57), in: KSA 2, München 2009, S. 76. Und auch Deleuze nimmt diesen Widerspruch in seiner an Spinoza wie an Nietzsche angelehnten Bestimmung von Individuation als einer asymmetrischen Synthese des Sinnlichen in Anspruch. »Die Individuation ist beweglich, seltsam geschmeidig, flüchtig, hat Fransen und Ränder, weil die Intensitäten, durch die sie hervorgetrieben wird, andere Intensitäten umhüllen, von anderen umhüllt werden und mit allen kommunizieren. Das Individuum ist keineswegs das Unteilbare, es teilt sich fortwährend, indem es sich in seiner Natur verändert.« Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 323. Vgl. auch den Eintrag zum Individuum in: Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 109 f. Sowie die die umfangreiche Ideengeschichte des Dividuellen und der Dividuation, die Michaela Ott im Ausgang der Übertragung verbindender Affizierungsdynamiken auf komplexe Konstellationen der Teilhabe entwickelt hat: Michaela Ott, Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin 2015. 16 Für eine ausführliche Diskussion der Individuation unter den Aspekten von Ruhe und Bewegung, den Verhältnissen und Reichweiten von Individuen und ihrer Selbsterhaltung vgl. Don Garrett, »Spinoza’s Theory of Metaphysical Individuation«, in: Kenneth F. Barber / Jorge J. E. Gracia (Hg.), Individuation and Identity in Early Modern Philosophy. Descartes to Kant, New York 1994, S. 73– 101.

Individuation in ontologischer Hinsicht

251

Spinozas Theorie immanenter Individuation ist also, sofern sie eine ontologische Theorie der unteilbaren Substanz des Ganzen ist, als eine Metaphysik der Individualität zu verstehen. Zugleich ist sie aber, sofern sie eine pragmatische Theorie der einzelnen Modi ist, die sich aus ihrer Teilbarkeit in den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung ergeben und sich in diesen Verhältnissen erhalten müssen, als eine Physik der Individuation zu verstehen. Mir geht es im vorliegenden Kontext weder um eine solche Metaphysik der Individualität noch um eine Physik der Individuation, sondern darum, Spinozas Theorie immanenter Individuation in ihrer ontologischen Begründung auf eine pragmatische Ebene von Handlungszusammenhängen zu übertragen. Daher unterscheide ich im Folgenden die ontologische Theorie der Substanz des Ganzen von einer pragmatischen Theorie der Modi, die sich in den Zusammenhängen dieser Substanz als Individuen individuieren.

Einfache Individuen

Spinoza entfaltet seine Theorie des Individuums vor allem im zweiten Teil der Ethica und stellt sie damit in eine Verbindung zur Theorie des menschlichen Geistes und der Erkenntnis. Der Begriff individuum gehört dabei der allgemeinen Physik an und findet sich in der kleinen physikalischen Abhandlung nach E2p13, wo das Individuum ausgehend von einer Beschreibung der Verbindung mehrerer Körper bestimmt wird, die ihre Bewegungen nach bestimmten Regeln miteinander verknüpfen: »Wenn mehrere Körper, von derselben Größe oder auch von verschiedener Größe, von anderen Körpern so zusammen gedrängt werden, daß sie aneinander liegen, oder wenn sie, mit demselben Grad oder auch mit verschiedenen Graden von Geschwindigkeit, sich so bewegen, daß sie ihre Bewegungen nach einer bestimmten Regel untereinander verknüpfen, dann wollen wir sagen, daß diese Körper miteinander vereinigt sind und daß sie alle zusammen einen einzigen Körper oder ein Individuum bilden, das sich von den anderen durch die beschriebene Vereinigung der Körper unterscheidet« (E2p13d). Die in verschiedenen Axiomen und Hilfssätzen an die cartesianische Physik angelehnte Abhandlung nach E2p13 dreht sich um die gegenseitige Konstitution von Körpern, und um deutlich zu machen, dass sich die Form eines Individuums nicht aus seiner wesenhaften Substanz ergibt, sondern aus der Interaktion der Körper, die es konstituieren, erklärt Spinoza zunächst, dass Körper Individuen sind, die aus mehreren anderen Körpern zusammengesetzt sind. Es gibt einfache Körper, die sich nur aufgrund von Bewegung und Ruhe und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit unterscheiden, und zusammengesetzte Körper, die aus unterschiedlichen Individuen bestehen. Der

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Theorie der Individuation und der Individualität

menschliche Körper zählt zu den aus unterschiedlichen Individuen zusammengesetzten Körpern, da er aus sehr vielen Individuen besteht, die flüssig, weich oder hart sein und von äußeren Körpern auf vielfache Weisen affiziert werden können. Um zu zeigen, dass der menschliche Körper existiert und eine Einheit mit dem Geist bildet, meint Spinoza, die Natur des menschlichen Körpers erklären und von anderen Individuen abheben zu müssen: »Denn was wir bisher aufgezeigt haben, ist ganz allgemein und gilt für Menschen nicht mehr als für übrige Individuen, die alle, wenn auch in verschiedenen Graden beseelt sind. Denn von jedem Ding gibt es notwendigerweise in Gott eine Idee, von der Gott in gleicher Weise die Ursache ist wie von der Idee des menschlichen Körpers; mithin muß alles, was wir von der Idee des menschlichen Körpers gesagt haben, auch von der Idee eines jeden Dings gesagt werden« (E2p13s). Da Gott also die Ursache aller Ideen und nicht nur die Ursache der Idee des menschlichen Körpers ist, gilt alles, was für allgemeine Individuen gilt, auch für die Idee des menschlichen Körpers. Spinoza begründet die Einzelnheit und die Verschiedenheit von Körpern aber auch, weil er individuierte Modi nicht einfach immer schon als einzelne Körper versteht und ihre Einzelnheit nicht einfach voraussetzen kann. In seiner allgemeinen Konzeption der einen Substanz ist die Unterscheidung der Körper eben nicht vorauszusetzen und ihre Individualität ergibt sich nicht aus ihrer jeweiligen Substanz, sondern erst aus den Verhältnissen der Bewegung, der Ruhe und der Geschwindigkeit zwischen ihnen, wie in der kleinen physikalischen Abhandlung dargestellt wurde. So wird festgehalten: »Körper sind [. . . ] Einzeldinge, die sich aufgrund von Bewegung und Ruhe voneinander unterscheiden« (E2p13lem3). Aufgrund dieser Gleichheit der Einzeldinge in der Substanz des Ganzen muss Spinoza ihre Unterschiedlichkeit und damit die Natur des menschlichen Körpers genauer bestimmen. Alle einzelnen Körper sind gleichermaßen Ausdruck der Substanz Gottes, und was »die Form eines Individuums ausmacht, besteht (allein) in der Vereinigung der Körper« (E2p13dem). Ein Individuum kann also auch aus einer Vereinigung von Körpern und aus mehreren Individuen verschiedener Natur bestehen und es erhält sich selbst dann, wenn einzelne Körper in ihm sich stetig verändern. Auch wenn die Teile eines Individuums immer größer oder immer kleiner, immer schneller oder immer langsamer werden oder ihre Richtungen ändern, die Regeln von Ruhe und Bewegung aber dieselben bleiben, behält das Individuum seine Form bzw. seine Natur (vgl. E2p13lem4). 17 »Daraus sehen wir also, wie ein zusammengesetztes 17 Der Begriff der Form ist hier nicht, wie im aristotelischen Kontext, als eine Begründungsfigur der Individuation zu verstehen, durch die sich Individuen in dieser oder jener Weise aus der Materie

Individuation in ontologischer Hinsicht

253

Individuum auf vielfache Weise affiziert werden kann und nichtsdestoweniger seine Natur bewahrt« (E2p13s). Die Individualität einzelner Individuen wird auch nicht aufgehoben, wenn sie Teil eines anderen Individuums sind, das größer ist als sie selbst. Spinoza bestimmt hier die Verhältnisse von Bewegung und Ruhe und leitet aus diesen Verhältnissen das Zustandekommen von Individuen her, die »ihre Bewegungen nach einer bestimmten Regel untereinander verknüpfen« und so »zusammen einen einzigen Körper oder ein Individuum bilden« (E2p13d). Die Form eines Individuums ergibt sich also aus der Vereinigung von Körpern und sie erhält sich auch dann, wenn einzelne Körper sich verändern. Dabei können einfache Körper, die sich aufgrund von Ruhe, Bewegung und Geschwindigkeit unterscheiden, ebenso ein Individuum bilden, wie auch mehrere Körper, die ganz verschieden sein können, sich aber nach bestimmten Regeln untereinander verknüpfen (vgl. E3p13d). »Wenn von einem Körper als einem Individuum, das aus mehreren Körpern zusammengesetzt ist, einige Körper getrennt werden und zugleich ebensoviel andere derselben Natur an ihre Stelle treten, dann wird das Individuum seine Natur wie zuvor ohne irgendeine Veränderung seiner Form [formae] behalten« (E2p13lem4). Der Beweis dafür, dass eine solche variable Konstellation von Körpern ein Individuum bildet, besteht für Spinoza darin, dass Körper sich nicht in ihrer Substanz unterscheiden, sondern lediglich in ihren Verhältnissen von Ruhe und Bewegung. Die relationalen Strukturen, in denen sich ein Individuum bildet, gehen diesem Individuum vorher und sind ontologisch vorrangig, denn ein Individuum bildet sich erst in der relationalen Überschreitung durch die pragmatischen Zusammenhänge, in denen es steht. Man könnte sagen, dass Spinoza seine Ontologie des Individuums von Substanz auf Relation umstellt, denn die Relationen als immanente Wirkungsverhältnisse sind die ontologischen Konstitutionsbedingungen des Individuums. 18 Der Zusammenhang der Relationalität ist letztlich ein Zusammenhang der immanenten Kausalität, denn wie wir bereits festgehalten haben, existiert nichts, »aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« (E1p36). Ein Individuum ist demnach jeweils die

ergeben, sondern er markiert vielmehr die Erhaltung einer bestimmten Form des Individuums. Zum Formbegriff vgl. Pierre-François Moreau, »The Metaphysics of Substance and the Metaphysics of Form«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), Spinoza and the Human Mind. Papers Presented at the Second Jerusalem Conference, Leiden 1994, S. 27–36. 18 Diese relationistische Perspektive in der Bestimmung von Individuen betont auch Rice: »It is the relation among its parts, and not the parts themselves, upon which Spinoza fixes in order to charakterize an individual.« Lee C. Rice, »Spinoza on Individuation«, in: The Monist, 55/4 (1971), S. 640–659, hier: S. 648.

254

Theorie der Individuation und der Individualität

Gesamtheit der affektiven und der imaginären Kräfte, die es durchziehen und in den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung konstituieren. 19

Vielfache Individuen

In der Bestimmung einfacher Individuen ist nun bereits deutlich geworden, dass auch diese an sich nicht als Individuen zu verstehen sind, sondern erst in konstanten Verhältnissen von Ruhe und Bewegung und in ihren Relationen zu solchen werden. Und auch jede Ansammlung einfacher Körper, die zu einem Individuum zusammenkommen, kommt durch die Bewegung anderer Körper zusammen, und wenn diese Verknüpfung nach bestimmten Regeln von Ruhe und Bewegung erfolgt, ergibt sich daraus ein komplexeres Individuum. Es geht also nicht nur darum, festzuhalten, dass Individuen in weiteren Umgebungen existieren, auf die sich beziehen, durch die sie konstituiert werden und die sie für ihre eigene Existenz brauchen. Das Bild, das hier mit der Frage nach der Individuation sichtbar wird, zeigt vielmehr eine Vervielfältigung dessen, was wir bisher unter einem Individuum verstanden haben, denn die Zusammenhänge, in denen ein einfaches Individuum steht, sind für Spinoza selbst weitere Individuen, und so verläuft die Bestimmung von Individuen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Verbindungen und kein Individuum ist in sich abgeschlossen, mit Ausnahme der einen Substanz des Ganzen, also mit Ausnahme Gottes und der Natur. 20 Zwar wird der Begriff des Individuums vor allem mit Blick auf bewegte Körper eingeführt, doch erklärt Spinoza auch die Bedingungen, unter denen Körper in ihren Verhältnissen von Ruhe und Bewegung stehen müssen, um sich zu einem festen Individuum zusammenzusetzen und in ihrer Komposition ein weiteres Individuum zu bilden. 21 Dabei 19 Eine umgekehrte Perspektive, die Subjektivität und Selbstbewusstsein gerade zum point of view und zum Ausgangspunkt der Untersuchung macht, findet sich bei Lia Levy, L’automate spirituel. La naissance de la subjectivité moderne d’après l’Éthique de Spinoza, Assen 2000 und Syliane Malinowski-Charles, Affects et conscience chez Spinoza. L’automatisme dans le progrès éthique, Hildesheim 2004. 20 Diese Vervielfachung kennzeichnet Genevieve Lloyd als wesentlichen Unterschied zur allgemeinen Feststellung einer konstutiven Umweltbezogenheit von Individuen. »What is novel is the suggestion that these wider systems in which individual bodies occur are themselves individuals, in the same sense as the bodies themselves. To be a Spinozistic individual is to be part of such wider systems; individuality intrinsically involves being inserted in ever wider systematic interconnections.« Genevieve Lloyd, »Spinoza’s Version of the Eternity of the Mind«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences, Dordrecht u. a. 1986, S. 211–233, hier S. 222. 21 Beth Lord führt als Beispiel für diese Verbindung von Körpern zu einem Individuum den Körper eines Rollstuhlfahrers und den Rollstuhl selbst an, die ein Individuum bilden, dessen Teile dynamisch aufeinander reagieren und eine höhere Einheit bilden: »[T]hey form a bigger, composite

Individuation in ontologischer Hinsicht

255

geht es vor allem darum, dass die Teile, die ein vielfaches Individuum bilden, ihre Regeln von Bewegung und Ruhe aufrechterhalten und sich konstant nach diesen Regeln verknüpfen müssen, während sie sich als einfache Individuen in alle möglichen Richtungen verändern können. »Außerdem behält ein so zusammengesetztes Individuum seine Natur, mag es als ganzes sich bewegen oder ruhen oder mag es in dieser oder jener Richtung sich bewegen, wenn nur jeder Teil seine Bewegung behält und sie wie zuvor mit den anderen verknüpft« (E2p13lemVII). An dieser Darstellung wird deutlich, dass nicht nur der einzelne Körper ein aus verschiedenen Individuen entstehendes Gebilde ist, sondern dass auch ein Zusammenschluss verschiedener Körper als ein Individuum anzusehen ist. Wir können also festhalten, dass ein Individuum für Spinoza eine Verbindung von Körpern ist, die zwar für sich ganz unterschiedlich sein und sich ganz unterschiedlich bewegen können, aber in ihrem Zusammenwirken bestimmten Regeln folgen und diese Regeln aufrechterhalten können, selbst wenn sie sich als Einzelteile verändern. Eine solche Bestimmung der Einheit von Einzelnheit und Vielheit der res singulares findet sich bereits in der siebten der Definitionen zu Beginn des zweiten Teils der Ethica: »Unter Einzeldingen (res singulares) verstehe ich Dinge, die endlich sind und eine bestimmte Existenz haben. Wenn mehrere Individuen so zu einer einzigen Handlung sich zusammenfinden, daß sie alle zusammen die Ursache einer einzigen Wirkung sind, sehe ich sie in diesem Maße alle als ein einziges Einzelding an« (E2d7). Hier wird deutlich, dass die Einheit verschiedener res singulares in einer gemeinsamen Wirkung bestehen kann, aus der sich ein weiteres Individuum ergeben und zu einer individuellen Einheit formen kann, obwohl die zugehörigen Einzeldinge jedes für sich auch ganz anderen Regeln folgen können oder etwa mit anderen Individuen zu weiteren Individuen verbunden sein können. 22 individual that moves as one. Similarly, a group of person-wheelchair individuals moving together (in a race, for instance) form a still bigger, multi-composite individual.« Beth Lord, Spinoza’s Ethics, Edinburgh 2010, S. 62. Der Begriff des Kompositindividuums ist gerade für sozialtheoretische Kontexte fruchtbar, wobei Lord mit Blick auf die Natur weiter ausführt: »So, individual bodies exist at multiple levels of compositional complexity. A fish is a composite individual; the river in which it swims is a bigger, multi-composite individual; the earth as a whole is a still bigger multi-composite individual« usw., bis zu Spinozas Feststellung in E2lem7s, die besagt, dass die ganze Natur ein Individuum ist. 22 Auf die parallele Verwendung der Begriffe res singulares und individuum weist Ursula Renz hin und ordnet den Gebrauch des Individuumsbegriffs der physikalischen Konstitution von Dingen zu, während der Begriff der res singulares rein kausaltheoretisch, also als eine Wirkungsursache verstanden wird. Interessant sei diese Unterscheidung, so Renz, vor allem mit Blick auf die Differenz zwischen Zuschreibungen und Erklärungen von Handlungen, denn sie erlaube es, Menschen als Urheber bestimmter Handlungen auszumachen, aber zugleich auch ihre individuellen Besonderhei-

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Theorie der Individuation und der Individualität

Spinoza unterscheidet weiter verschiedene Gattungen von Individuen: solche, die sich eben bloß aus nach Ruhe, Bewegung und Geschwindigkeit unterschiedenen Körpern, also aus einfachen Körpern zusammensetzen, solche, die sich aus verschiedenen Individuen zusammensetzen, die ihrerseits aus verschiedenen Körpern zusammengesetzt sind, und solche, die sich aus verschiedenen Individuen zusammensetzen, die wiederum ihrerseits aus verschiedenen Individuen zusammengesetzt sind (vgl. E2p13post1). Er expliziert also, wann aus verschiedenen Individuen zusammengesetzte Körper als Individuen anzusehen sind, und erklärt so auch das Zustandekommen komplexer Gebilde aus verschiedenen Individuen. 23 Nicht nur das aus mehreren Individuen verschiedener Natur zusammengesetzte Individuum, sondern auch das aus einfachen Körpern bestehende Individuum kann auf vielfache Weise affiziert werden und erhält sich durch die von außen kommenden Affektionen. So nehmen einfache Körper einfache Affektionen der Umgebung auf, wohingegen komplexe Körper komplexere Affektionen in komplexeren Umwelten aufnehmen können und in komplexerer Weise wieder auf ihre Umwelt wirken können. Das konstitutive Affektionsgeschehen vollzieht sich also auf allen Ebenen des Naturzusammenhangs und proportional zur Einfachheit oder zur Komplexität der Individuen. 24 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass einfache Individuen ten zu verstehen. Vgl. Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 70. 23 Renz unterscheidet weiter zwei verschiedene Arten von Individuen: »Zum einen haben wir es dann mit einem Individuum zu tun, wenn eine Menge von Körpern so eng aneinandergedrängt wird, dass sie eine einzige Bewegungseinheit bilden. Zum anderen können aber auch Körperverbände, deren Teile sich in einem geregelten Bewegungsaustausch miteinander befinden, als Individuen gelten.« Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 65. 24 Auch für weniger komplexe Körper gilt das Gesetz der Affektion und der Affektfähigkeit, und daher zieht Deleuze in seiner Auseinandersetzung Beispiele aus der Biologie Uexkülls heran, um zu verdeutlichen, dass die Umwelt des Individuums eine Umgebung ist, in die es immersiv eingelassen ist und die von entscheidender Bedeutung für seine grundlegende Konstitution ist. Deleuze bezieht sich auf Uexkülls Beispiel der Zecke, die in ihrer stark reduzierten Affektfähigkeit durch drei Affektionen definiert ist: das Licht, den Geruch und die Wärme. Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 162. Was sich für die Zecke sehr reduktionistisch ausnimmt, wird dem menschlichen Individuum zur Möglichkeit, seine Freiheit in den unterschiedlichen Affektionszusammenhängen der Natur und nicht in Absetzung gegen die Natur zu entfalten. Im Sinne der von Spinoza proklamierten Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit des Körpers und seiner Vermögen bringt Deleuze die Potentialität des Körpers programmatisch auf den Punkt: »[I]hr wißt nicht, wozu ihr im Guten wie im Schlechten fähig seid, ihr wißt nicht im Voraus, was ein Körper oder eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener Kombination vermag.« Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 162. Für Deleuze ist die Tatsache, dass derartige Studien der Biologie, »die die Körper, Tiere oder Menschen durch die Affekte, derer sie fähig sind, definieren« und eine Bestimmung des Lebens nach den Affektionszusammenhängen, in denen es steht, vornehmen, ein Hinweis auf die Angemessenheit der Theorie des Körpers und der Affekte bei

Individuation in ontologischer Hinsicht

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eher passive beziehungsweise eher reaktive Individuen sind, die sich lediglich aus ihren jeweiligen Affektionen bilden, während komplexere Individuen aktiv sind und eine gewisse Autonomie erreichen, die ihnen die Macht verleiht, sich zu ihrer affektiven Determination zu verhalten. Mit der Komplexität der Affektionen, die ein Individuum konstituieren, steigert sich auch die Komplexität des Individuums und die Komplexität seiner Ideen selbst. 25 Nicht nur das aus einfachen Körpern zusammengesetzte, sondern vielmehr auch das aus mehreren Individuen verschiedener Natur zusammengesetzte Individuum kann auf vielfache Weise affiziert werden, ohne seine Form bzw. seine Natur zu verändern, und so lassen sich die Kombinationsmöglichkeiten von Individuen und ihnen zugrunde liegenden Körpern unendlich fortsetzen. Spinoza geht also von ganz verschiedenen Formen der Bildung von Individuen aus, die sich aus ganz verschiedenen Körpern zusammensetzen. Er klassifiziert nicht und bestimmt nicht verschiedene Typen von Individuen, sondern hält den Vorgang der Individuation offen für Formen, die sich je aus den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung ergeben. Affekttheoretisch gewendet bedeutet das, dass »ein zusammengesetztes Individuum auf vielfache Weise affiziert werden kann und nichtsdestoweniger seine Natur bewahrt« (E2p13s). Die Affizierungsdynamik gleicht dabei einer graduellen Steigerungsdynamik und betrifft nicht nur Individuen, die sich aus Körpern zusammensetzen, die sich nach Bewegung, Ruhe und Geschwindigkeit unterscheiden, also nicht nur Individuen, die sich aus einfachen Körpern zusammensetzen. Sie betrifft auch Individuen, die sich aus mehreren Individuen unterschiedlicher Natur zusammensetzen, die auf viele verschiedene Weisen affiziert werden und ihre Natur bewahren, und so geht es in immer höhere Ordnungen von Individuen, deren interne Relationen sich immer weiter verknüpfen. Spinoza beschreibt diese Dynamik bis dahin, dass die ganze Natur ein Individuum ist, dessen Teile sich unendlich verändern können, ohne dass sich das Ganze der Natur verändert. »Und wenn wir so weiter ins Unendliche fortfahren, werden wir leicht begreifen, daß die ganze Natur ein Individuum Spinoza. Unterschiedliche Körper können ganz unterschiedliche Grade der Affektfähigkeit aufweisen: »Ein Pferd, ein Fisch, ein Mensch oder selbst zwei Menschen haben, miteinander verglichen, nicht dasselbe Affiziertseinkönnen: sie werden nicht durch dieselben Dinge affiziert, oder werden durch dasselbe Ding nicht auf dieselbe Weise affiziert.« Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a. a. O., S. 191. 25 Bartuschat beschreibt im Ausgang von E2p13 ganz ähnlich, dass die Komplexität des menschlichen Körpers der Grund dafür ist, dass der Mensch vieles wahrnimmt, und überträgt diese Komplexität auch auf die Ideen. »Aus der internen Vielfalt des menschlichen Körpers schließt Spinoza zurück auf eine Vielfalt von Ideen, die sich dem Affektionsgefüge, in dem der menschliche Körper steht, gemäß verketten.« Wolfgang Bartuschat, »Metaphysik und Ethik in Spinozas ›Ethica‹«, in: Studia Spinozana 7/1991, S. 15–37, hier S. 21.

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Theorie der Individuation und der Individualität

ist, dessen Teile, d. h. alle Körper, auf unendlich viele Weisen sich verändern, ohne daß sich dabei das ganze Individuum irgendwie veränderte« (E2p13s). Das Ganze der Natur ist, wie das eingangs angeführte facies totius universi, das Angesicht des ganzen Weltalls, das sich stetig wandelt und doch immer dasselbe bleibt. 26 Im dynamischen Zusammenhang von Ruhe und Bewegung herrscht also ein Affektionsgeschehen, aus dessen Konstitutionsbeziehungen sich einfache wie auch vielfache Individuen bilden, die immer zugleich Teil des Ganzen sind und in einem übereinstimmenden Zusammenhang mit dem Ganzen stehen. 27

I.3 Exkurs: Individualität und Negation (Hegel)

In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie diskutiert Hegel das Problem der Individualität und die Frage, wie Spinozas metaphysische Substanzkonzeption zu verstehen ist. 28 Während die vorliegende immanenztheoretische Perspektive die Potentialität der Substanz von der Macht der Affekte Für eine anschauliche Darstellung dieses Verhältnisses von Teilen und Ganzem sei hier nochmals auf den Brief Nr. 32 verwiesen, in dem Spinoza auf Nachfrage Oldenburgs das Verhältnis des Ganzen der Wirklichkeit zu ihren Teilen am Beispiel des mit Sehkraft begabten Würmchens erklärt, das die unterschiedlichen Teile des Blutes, in dem es schwimmt, beobachten kann. »Da wir nun alle natürlichen Körper ebenso begreifen können und sollen, wie wir hier das Blut begriffen haben – alle Körper sind ja von anderen umgeben und werden von ihnen wechselseitig auf gewisse und bestimmte Art zum Existieren und Wirken bestimmt, unter ständiger Beibehaltung desselben Verhältnisses von Bewegung und Ruhe in allem zugleich, d. h. im gesamten Universum – so folgt daraus, daß jeder Körper, sofern er als durch einen bestimmten Modus modificiert existiert, als Teil des gesamten Universums betrachtet werden muß, daß er mit seinem Ganzen in Übereinstimmung und mit den übrigen Teilen im Zusammenhang steht« (Ep 32). 27 Lee C. Rice weist besonders darauf hin, dass es in dieser Theorie allgemeiner Individuationsprozesse nicht darum geht, den Status des Individuums infrage zu stellen oder gar in den relationalen Verhältnissen aufzulösen, denn hätte Spinoza das gewollt, hätte er den endlichen Individuen in seinem System keinen Platz eingeräumt und die Ethica nicht als Ethik konzipiert. Vgl. dazu Lee C. Rice, »Spinoza on Individuation«, in: The Monist, 55/4 (1971), S. 640–659, hier: S. 650. 28 Hegel setzt hier mit einer Beschreibung an, die die Fremdheit verdeutlicht, die für ihn von Spinoza ausgegangen sein muss. Er bestimmt dessen Denken als einen »Nachklang des Morgenlandes«, denn Spinoza habe die »morgenländische Anschauung der absoluten Identität« in das europäische Denken eingeführt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 157 ff. An anderer Stelle beschreibt Hegel das jüdische Denken als ein »Bewußtsein des Bösen und die Richtung auf den Herrn«, bei dem es darauf ankäme, diese »Grundidee zu einem objektiven allgemeinen Sinne« zu erweitern »und als das konkrete Wesen des Menschen, als die Erfüllung seiner Natur« zu sehen. Die »jüdische Empfindung beharrt [. . . ] in der Realität und verlangt darin die Versöhnung; denn sie ruht auf der orientalischen Einheit der Natur, d. i. der Realität, der Subjektivität und der Substanz des Einen«. Hegel ordnet die Philosophie Spinozas in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte selbstverständlich höchst kenntnisreich ein, doch leitet er das Ganzheits- und Einheitsdenken des ontologischen Monismus Spinozas 26

Exkurs: Individualität und Negation (Hegel)

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her erklärt, macht Hegel die idealistische Idee des Geistes zum Ausgangspunkt und bestimmt Spinozas Substanzbegriff von der Dimension des Geistes her. 29 Für Hegel hängt die Theorie des Individuums mit der Funktion der Negation zusammen: Spinozas berühmter Satz von der Bestimmung als einer Negation steht für Hegel im Widerspruch zu seiner Konzeption von Substanz, die notwendig nur positiv und in ihren Relationen affirmativ ist. Für Hegel führt dieses Affirmationsprinzip zu einer Negation der einzelnen Form, und für ihn ist klar, dass bei Spinoza nichts an und für sich sein kann, sondern die Einzeldinge eben je nur Modifikationen der umfassenden göttlichen Substanz sind. Aus diesem Grund findet Hegel im Denken Spinozas kein »Prinzip der Subjektivität, Individualität, Persönlichkeit« und es fehlt ihm eine andere Seite der Negation, nach der »die Negation Negation der Negation und dadurch Affirmation« wäre. 30 Die einseitige Auffassung der Negation führt in Hegels Perspektive dazu, dass es in der Substanz keine Individualität geben kann. Spinoza habe den Widerspruch einer Affirmation durch Negation der Negation nicht ausgehalten, und aus diesem Grund, so Hegels Einschätzung, fehlt ihm der entscheidende Schritt hin zum Einzelnen. 31 Im Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem zeige sich das Besondere stets als abhängig, für sich selbst zugleich aus einem Orientalismus (Said) und einer Orientvorstellung her, die es als das Andere des europäischen Denkens ausweisbar macht, das dann mit den philosophischen Mitteln der eigenen Welt traktiert wird. Vgl. auch ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Frankfurt a. M. 1971 (TWA 18), S. 117 ff. und 138 ff. Zur fremdkulturellen Infragestellung der europäischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts und zu ihrem Umgang mit der Herausforderung, sich für fremdes Denken durchlässig zu machen, soll an dieser Stelle auf die einschlägige Untersuchung von Iris Därmann hingewiesen werden. Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005. Für hilfreiche Hinweise (nicht nur) zu Hegel geht mein herzlicher Dank an Christoph Jamme. 29 Für eine umfassendere Diskussion der Beziehung Hegels zu Spinoza und möglicherweise auch zur Beantwortung der Frage, ob Spinoza tatsächlich das Gegenteil von Hegel und der schlechthin antidialektische Denker ist, für den ihn in der Folge von Althusser, Deleuze, Balibar, Negri heute viele halten, vgl. Pierre Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris 1979 (Neuauflage 2004), bes. S. 15 ff. und Yirmiyahu Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 2012, S. 330–361. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist auch, wie Deleuze Spinoza für seine Differenzphilosophie nutzt, um Hegels Dialektik zu überwinden. Vgl. dazu: Simon Duffy, »The Logic of Expression in Deleuze’s Expressionism in Philosophy: Spinoza: A Strategy of Engagement«, in: International Journal of Philosophical Studies, 12/1 (2004), S. 47–60. Sowie auch: Robert Stern, »Individual Existence and the Philosophy of Difference«, in: Michael Rosen / Brian Leiter (Hg.), Oxford Handbook of Continental Philosophy. Oxford 2007, S. 379–408. Eine umfassende Dekonstruktion der Hegelschen Dialektik von Spinoza her unternimmt Katja Diefenbach, Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie, Wien / Berlin 2018. 30 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 164. 31 »Spinozas System ist der in den Gedanken erhobene absolute Pantheismus und Monotheismus. Die absolute Substanz des Spinoza ist nichts Endliches, natürliche Welt.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 164.

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Theorie der Individuation und der Individualität

nicht existierend und nicht wahrhaft wirklich. In diesem Sinne ist Spinozas Satz von der Bestimmung als Negation, der eben besagt, dass nur das nicht durch Bestimmung zum Einzelnen Gemachte, also nur das Nichtbesondere und damit nur das Allgemeine wirklich ist, für Hegel zu verstehen. 32 »Die Seele, der Geist ist ein einzelnes Ding, ist als solches beschränkt; das, wonach er ein einzelnes Ding ist, ist eine Negation, und er hat so nicht wahrhafte Wirklichkeit. Die einfache Einheit des Denkens bei sich selbst sprach er nämlich als die absolute Substanz aus.« 33 Die absolute Substanz und in ihr ein falsch verstandenes Gesetz der Negation, das ist die Philosophie Spinozas für Hegel. Hegel hält die von ihm gesehene radikale Negation alles Besonderen zwar für eine »Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage«, doch fehlt ihm die Individualität des Einzelnen in diesem allgemeinen Ganzen. 34 Da das Einzelne also seiner Interpretation nach nicht in der Substanz ist, kann es nur durch das Denken eingeführt werden, d. h., individuierende Bestimmungen in der allgemeinen Substanz sind nur über das Denken herzustellen. Anhand dieser Interpretation Spinozas profiliert Hegel seine Vorstellung davon, wie die umfassende, alles in sich aufhebende Substanz dynamisiert und als eine Potentialität verstanden werden kann, in der sich Differenzierungen des Einzelnen ereignen, individuieren und voneinander abheben. »Die absolute Substanz ist das Wahre, aber sie ist noch nicht das ganze Wahre; sie muß auch als in sich tätig, lebendig gedacht werden und eben dadurch sich als Geist bestimmen.« 35 Das Funktionsprinzip der Verlebendigung der Substanz ist für Hegel der Geist, der in seiner spezifischen Operationsweise zum Prinzip der Individuation gemacht wird. Substanz ist für Hegel die Grundlage des Geistes, wie sie in der hier verfolgten Perspektive die Grundlage der Affektionskräfte ist, die zur Individuation führen. Diese Grundlage ist aber kein feststehender Grund und keine absolute Wesenseinheit, sondern eine abstrakte nominale Figur des Denkens. Zwar betont Hegel die Funktion des Begriffs der Substanz als abstrakte Einheit, führt den Die berühmte Stelle in einem Brief an Jarig Jelles aus dem Jahr 1674 lautet in der Übersetzung: »Da also Gestalt nichts anderes ist als Bestimmung und Bestimmung Verneinung, so wird sie wie gesagt nichts anderes sein können als eine Verneinung« (Ep 50: 210) (»Quia ergo figura non aliud, quam determinatio, et determination negatio est.«) Es ist diese Schlussfolgerung, dass eine Bestimmung nur eine Negation sein kann, die für Hegel so bedeutsam wurde und die er in der Formulierung omnis determinatio est negatio schon bei der Ausbildung der Jenaer Dialektik in sein Denken aufgenommen hat. Vgl. zur Auseinandersetzung Hegels mit Spinoza in diesem Punkt die intensive Diskussion durch Melamed, der zu dem Schluss kommt, dass Kant in dieser Hinsicht näher an Spinoza liegt als Hegel: Yitzhak Y. Melamed, »›Omnis determinatio est negatio‹: Determination, Negation, and Self-negation in Spinoza, Kant, and Hegel«, in: Eckart Förster / Yitzhak Y. Melamed (Hg.), Spinoza and German Idealism, Cambridge 2012, S. 175–196. 33 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 165. 34 Ebd. 35 Ebd.: S. 166. 32

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nominalen Charakter der Substanz aber nicht zu Ende, wenn er meint, Spinoza müsse »deduzieren, ableiten aus seiner Substanz«, damit sie sich aufschließe, lebendig und geistig werde. 36 Er schreibt: »In die eine Substanz gehen alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge und des Bewußtseins nur zurück; so, kann man sagen, wird im Spinozistischen System alles nur in diesen Abgrund der Vernichtung hineingeworfen. Aber es kommt nichts heraus; und das Besondere, wovon er spricht, wird nur vorgefunden, aufgenommen aus der Vorstellung, ohne daß es gerechtfertigt wäre. Sollte es gerechtfertigt sein, so müßte Spinoza es deduzieren, ableiten aus seiner Substanz; sie schließt sich nicht auf, das wäre die Lebendigkeit, Geistigkeit. Was diesem Besonderen nun wiederfährt, ist, daß es nur Modifikation der absoluten Substanz ist, nichts Wirkliches an ihm selbst sei; die Operation an ihm ist nur die, es von seiner Bestimmung, Besonderung zu entkleiden, es in die eine absolute Substanz zurückzuwerfen. Dies ist das Unbefriedigende bei Spinoza.« 37 Diese Interpretation greift entschieden zu kurz, denn sie übersieht nicht nur den Antiessentialismus, der mit der nominalen Anlage des Substanzbegriffs verbunden ist, sondern gerade auch das pluralistische Potential, welches sich eben aus der Tatsache ergibt, dass Spinoza die Konstitution der Individuen von einem ihnen äußerlichen dynamischen Affektionsgeschehen her zu denken weiß und sie nicht aus einer fundierenden Substanz herleitet. Für Hegel besteht ein Problem darin, dass Spinoza den Vorgang der Individuation als »eine bloße Zusammensetzung« und als »das Gegenteil des Ichs«, nämlich nur als Allgemeinheit, als allgemeines Denken und nicht als Selbstbewusstsein ausweist. 38 Das Selbstbewusstsein werde nicht deduziert, sondern werde im Verstand bloß vorgefunden, und daher gehöre der aktualisierte Verstand für Spinoza lediglich zur erschaffenen Natur (natura naturata), falle nicht unter das erschaffende Prinzip der natura naturans und bleibe damit einer starren Substanz verhaftet, aus der nichts weiter folge. »Spinoza kennt nicht eine Unendlichkeit der Form, die eine andere als die der starren Substanz wäre.« 39 Und das »Selbstbewußtsein ist nur aus diesem Ozean geboren, triefend von diesem Wasser, d. h. nie zur absoluten Selbstheit kommend; das Herz, das Fürsichsein ist durchbohrt, – es fehlt das Feuer.« 40 Hegel übersieht also letztlich die immanent-relationale Konzeption von Substanz, aus der sich eine dynamische Variabilität ergibt, die das starre Wesensmodell z. B. auch durch die Öffnung des binären Attributeschemas auf eine Unendlichkeit hin überschreitet, von der aus die endlichen 36 37 38 39 40

Ebd.: S. 167. Ebd. Ebd.: S. 182. Ebd. Ebd.: S. 196.

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Theorie der Individuation und der Individualität

Modi zu sehen sind. 41 Er sucht die konkrete Aktualisierung von Substanz als Geist und als Selbstbewusstsein und kritisiert Spinoza dafür, die Selbständigkeit des menschlichen Geistes und der menschlichen Seele nicht denken zu können. Hegel sitzt mit der monierten Verengung der Substanz einem Missverständnis auf, das Spinoza selbst immer wieder benennt und für viele Probleme unter den Menschen verantwortlich macht. Hegels Ausblendung dieser offenen und lebendigen Dimension im Denken Spinozas wird noch deutlicher, wenn er es gerade als »das Großartige der Denkungsart Spinozas« begreift, »auf alles Bestimmte, Besondere verzichten zu können und sich nur zu verhalten zu dem Einen, nur dies achten zu können; es ist ein großartiger Gedanke, der aber nur die Grundlage aller wahrhaften Ansicht sein muß. Denn es ist starre Bewegungslosigkeit, deren einzige Tätigkeit ist, alles in den Abgrund der Substanz zu werfen, in dem alles nur dahinschwindet, alles Leben in sich selbst verkommt.« 42 Es bleibt zu betonen, dass genau diese Ableitung aus der Substanz umgangen werden muss, um wesensphilosophische Fehlschlüsse zu vermeiden und den antiessentialistischen Anspruch durchzuhalten. Was Hegel mit seiner Interpretation deutlich macht, ist vor allem, dass das Verständnis Spinozas nicht bei der Substanz stehenbleiben darf, denn wenn man überhaupt Bewegung, Entwicklung und Veränderung, kurz, wenn man Individuation denken will, muss der Konzeption der Substanz ein weiteres Prinzip beigeordnet werden, in dem sie sich ausdrückt. Dieses Prinzip war für Hegel die Macht des Geistes, während es in der hier verfolgten Perspektive die Macht eines Affektionsgeschehens des Körpers und der Ideen ist, durch das die Modi der Substanz zu singulären Individuen werden, die sich in relationalen Verbindungen individuieren. Hegel ignoriert die dynamische und lebendige Dimension der spinozanischen Substanz, wie er sie sowohl im Begriff der potentia als auch im Begriff der affectio schon auf der Ebene der Ontologie hätte finden können. Er geht, wie Nietzsche es auch getan hat, sogar noch einen Schritt weiter und betont adhominem, dass Spinoza das Moment des Selbstbewusstseins fehle, dass das Ich verschwinde und sich aufzehre, wie er selbst sich aufgezehrt habe, so dass er selbst, »übereinstimmend mit seinem Systeme, in dem auch alle Besonderheit Auch in der Enzyklopädie zeigt sich, dass Hegel die dynamischen Dimensionen der Substanz und die gesamte Einheitsvorstellung des Pantheismus verwirft. »Dergleichen wie die vielbesprochene Einheit oder Identität aber der Philosophie aufzubürden, ist eine so große Sorglosigkeit um Gerechtigkeit und Wahrheit, daß sie nur durch die Schwierigkeit, sich Gedanken und Begriffe, d. h. nicht die abstrakte Einheit, sondern die vielgestalteten Weisen ihrer Bestimmtheit, in den Kopf zu schaffen, begreiflich gemacht werden könnte.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt a. M. 1970 (TWA 10), S. 392. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 167. 41

Individuation in pragmatischer Hinsicht

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und Einzelnheit in der einen Substanz verschwindet«, im 44. Lebensjahr an Schwindsucht gestorben sei. 43

I.4 Individuation in pragmatischer Hinsicht

In den Ausführungen in der Folge von E2p13 wird insgesamt deutlich, dass Spinoza sich in der Frage der Individuation an die physikalische Konzeption von Körpern in Ruhe und Bewegung hält. 44 Es wird aber auch deutlich, dass er letztlich über die Bestimmung von physikalischen Gesetzen der Individuation hinauszugehen und zu erklären sucht, was unter der Vereinigung von Geist und Körper verstanden werden sollte. Wenn das Objekt der Idee des menschlichen Geistes der Körper ist, wie in E2p13 gesetzt, und der Mensch aus einem Geist und einem Körper besteht, der Körper, so wie wir ihn empfinden, also wirklich existiert, dann müssen Geist und Körper vereinigt sein. Um das zu verstehen und um die cartesischen Voraussetzungen zu überwinden, meint Spinoza, die Natur des Körpers in Abhebung von anderen Individuen untersuchen zu müssen. Die Dinge in der Welt, also alle anderen Körper, sind zwar dem menschlichen Körper insofern gleich, als von allen Dingen in Gott eine Idee ist, doch muss auch festgestellt werden, dass diese Ideen so unterschiedlich sein müssen wie die Dinge selbst. Um also die Unterschiede zwischen dem menschlichen Körper und den anderen Dingen festzustellen, die durch die Ideen in Gott sind, muss die Natur des menschlichen Körpers als eines Körpers unter anderen untersucht werden. Und da der menschliche Körper besonders schwer erkennbar und verstehbar ist, wird er zuerst einer physikalischen Betrachtung unterzogen. Spinozas Interesse liegt aber nicht darin, den menschlichen Körper wie alle anderen Körper einfach nach den Gesetzen der Physik zu erklären, sondern Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, a. a. O., S. 160 und zur Schwindsucht S. 167 und auch 189. Auch bei Hegel wird wieder deutlich, dass die Rezeption Spinozas von Vorurteilen bestimmt ist und dass die Auseinandersetzung häufig darauf hinausläuft, das eigene Denken entschieden bereichern zu lassen und bei Spinoza selbst nur die immergleichen Probleme zu identifizieren, wie z. B. das des Pan(en)theismus. Vgl. dazu auch die bereits erwähnte Kritik Balibars an Simondon, in: Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, Delft 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71), S. 10. Eine stolze Anzahl von Ad-hominem-Argumenten findet sich auch bei Nietzsche, der es für ein Symptom der persönlichen Notlage und der Einschränkung des Lebenstriebs, der eigentlich auf Machterweiterung aus sei, hält, dass der »schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungstrieb« seine zentrale Formel finden konnte. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 585. 44 Matheron bestimmt individuelle Muster und spezifische Relationen der Individuation als genetische (génétiquement) Individuation. Vgl. Alexandre Matheron, Individu et Communauté chez Spinoza, Paris 1969, S. 11 und S. 38. 43

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Theorie der Individuation und der Individualität

darin, zu zeigen, wie dieser sich von anderen Individuen unterscheidet. »Wäre es meine Absicht gewesen, vom Körper professionell [aus Interesse an der Physik] zu handeln, hätte ich diese Sätze weitläufiger erklären und beweisen müssen. Doch habe ich schon gesagt, daß ich auf etwas anderes hinaus will und daß ich diese Sätze nur vorbringe, weil ich aus ihnen leicht herleiten kann, was zu beweisen ich mir vorgenommen habe« (E2p13s). Expliziert wird der Zusammenhang von Körper und Geist also nicht allein, um zu einer physikalischen oder ontologischen Erkenntnis des Körpers zu kommen. Ich möchte vielmehr behaupten, dass der Körper untersucht wird, um zu einer pragmatischen Erkenntnis zu kommen, also zu einer Erkenntnis des Körpers und seiner Ideen in den realen Handlungszusammenhängen, die ihn bestimmen. Von hier aus bestimmt Spinoza bereits im ersten Teil der Ethica die Freiheit: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln (agendum)bestimmt wird; notwendig oder eher gezwungen dagegen dasjenige, das von einem anderen bestimmt wird, auf bestimmte und geregelte Weise zu existieren und etwas zu bewirken (operandum)« (E1d7). 45 Es geht für Spinoza nicht um einzelne Körper und ihre Ideen, sondern um äußere Einwirkungen und damit um ein Verständnis der heteronomen Wirkungen, denen ein jedes Individuum unterliegt und die die Handlungszusammenhänge eines jeden Individuums ausmachen. Ausgehend von der parallelen Anlage der Attribute bildet der Zusammenhang von Körper und Geist den Mittelpunkt der Theorie immanenter Individuation. Dabei stehen einzelne Körper für Spinoza in einer ganz anderen Verbindung zu ihrem Geist als Körper, die mit anderen Körpern verbunden sind, und je »fähiger, verglichen mit anderen, ein Körper ist, vieles auf einmal zu tun oder zu erleiden, desto fähiger ist, verglichen mit anderen, sein Geist, vieles auf einmal wahrzunehmen; und je mehr die Tätigkeiten eines Körpers von ihm allein abhängen und je weniger andere Körper bei seinem Tätigsein mitwirken, desto fähiger ist sein Geist zu deutlicher Einsicht« (E2p13s). Es geht also um die Abhebung einzelner Körper, die sich von anderen unterscheiden und ihre Fähigkeiten mit der Abhebung ihrer Einzelnheit steigern können. Die Teilbarkeit der einzelnen Körper und damit auch der jeweilige Grad ihrer Komplexität sind abhängig von den Wirkungen äußerer Handlungszusammenhänge und diese konstitutive Abhängigkeit erlaubt, von einer pragmatischen Dimension der Individuation zu sprechen. Der Vorgang der Individuation untersteht keiner anderen Ordnung als der, die sich aus den Und so handelt Gott nur nach seinen eigenen Gesetzen und ist dementsprechend frei (vgl. E2p17). Zum Gebrauch der Begriffe agendum und operandum in E1d7 siehe Pierre Macherey, »From Action to Production of Effects: Observations on the Ethical Significance of Ethics I«, in: Yirmiyahu Yovel (Hg.), God and Nature. Spinoza’s Metaphysics, Leiden 1991, S. 161–180. 45

Individuation in pragmatischer Hinsicht

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pragmatischen Verhältnissen der Ruhe und der Bewegung der Körper ergibt. Im Feld der Affektionen stehend ist ein Individuum immer schon auf anderes bezogen und stets von anderen Körpern affiziert, so wie es selbst andere Körper affiziert. Affektfähigkeit ist also ein Umgang mit den Wirkungsverhältnissen, in die Körper miteinander eingelassen sind und in denen sie sich aufeinander beziehen. 46 Spinozas Begriff des Körpers und seiner Ideen ist in genau dieser Weise angelegt, nämlich als eine dynamische Einheit von Bewegung und Ruhe in pragmatischen Zusammenhängen zu anderen Körpern. Und die Grundlage dieser Wirkungen der Individuen aufeinander sind die Affektionen, die sich zwischen ihnen ereignen. 47 Der affektive Zusammenhang der Individuen ist zwar ein notwendiger Zusammenhang, doch das bedeutet nicht, dass die Individuen in ihm keine Handlungsspielräume hätten. Wie wir eben festgestellt haben, geht es für Spinoza nicht darum, den Körper allein nach den Gesetzen der Physik zu erklären, sondern darum, das Zusammenspiel von Körper und Geist zu bestimmen, um von hier aus die Wirkungen zu verstehen, denen das Individuum unterliegt, und aus dieser Erkenntnis Handlungen ableiten zu können, die die Selbsterhaltung des Individuums befördern und seine eigene Wirkungsmacht steigern. Die Erkenntnis des Körpers und seiner Ideen dient also dazu, dem Individuum ein freies und aktives Leben zu ermöglichen, in dem es nicht nur passiv den äußeren Wirkungen ausgesetzt ist, sondern zu eigener Handlungsmacht gelangt. Hier wird deutlich, dass Autonomie für Spinoza nicht nur eine geistige Freiheit ist, sondern dass Autonomie an die Erkenntnis der Bedingtheit des Körpers in relationalen Affektionszusammenhänge geknüpft ist. 48 Vgl. dazu auch nochmals Deleuze: »Stets aber ist es eine Wirkung. Eine Wirkung ist zunächst die Spur, die ein Körper auf einem anderen hinterlässt, der Zustand eines Körpers, sofern er die Tätigkeit eines anderen Körpers erfährt: eine affectio, etwa die Wirkung der Sonne auf unserem Körper, welche die Natur des affizierten Körpers ›anzeigt‹ und bloß die Natur des affizierenden Körpers ›einschließt‹.« Gilles Deleuze, »Spinoza und die drei ›Ethiken‹«, in: ders., Kritik und Klinik, a. a. O., S. 187–204, hier: S. 187 f. 47 Durch diese Affektionen konstituieren sich die Individuen dann als unterschiedliche Ausdrucksweisen der Substanz. Im folgenden Corollarium aus dem ersten Teil der Ethica wird die Bedeutung der Affektionen für die Konstitution der Einzeldinge noch einmal besonders deutlich: »Besondere Dinge sind nichts als Affektionen der Attribute Gottes, anders formuliert Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden« (E1p25c). Ich führe die lateinische Version dieses Corrolariums hier ebenfalls an, da sie die besondere Bedeutung der Affektionen für den Ausdruck der Einzeldinge in der Substanz des Ganzen sehr deutlich macht: »Res particulares nihil sunt nisi Dei attributorum affectiones sive modi, quibus Dei attributa certo et determinatio modo exprimuntur« (E1p25c). 48 Ob sich individuelle Autonomie überhaupt denken lässt, ist eine der umstrittensten Fragen der Spinozaforschung, denn individuelle Freiheit ist zwar ein Ziel der Ethica als Ethik, doch zugleich muss das Individuum in seiner vollständigen Determiniertheit gesehen werden. Diese 46

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Theorie der Individuation und der Individualität

Nun ist es, wie bereits in ontologischer Hinsicht deutlich geworden ist, eine unhintergehbare Bedingung des Individuums, in immer weitere Zusammenhänge eingebunden zu sein, die ihrerseits als Individuen zu verstehen sind, wie z. B. Familien, Gesellschaften, Staaten. Kein Individuum ist nur in sich selbst und nur durch sich selbst zu verstehen, denn Individuen bilden sich erst in affektiven Konstitutionsverhältnissen und je höher ihre Affektfähigkeit ist, desto mehr Individualität prägt ein Individuum aus. Und das heißt umgekehrt, je mehr Individualität einem Individuum eigen ist, desto mehr ist es in relationale Beziehungen und Konstituionsverhältnisse eingebunden. 49 Diese relationale Wirklichkeit der Individuen darf aber nicht nur als eine Wirklichkeit des affizierbaren Körpers verstanden werden, sondern sie ist vor allem auch eine Wirklichkeit des Denkens, denn so wie jeder individuelle Körper ein Teil des Ganzen ist, ist auch jeder individuelle Geist in eine Totalität des Denkens eingelassen. Und die Autonomie des Individuums hängt von seiner Fähigkeit ab, sich in dieser Totalität des Denkens zu erkennen und zu einer möglichst adäquaten Erkenntnis der umgebenden Affektionszusammenhänge zu gelangen. 50 Dazu gehört auch die Fähigkeit des Individuums, die affektiAmbivalenz zwischen der Einzelansicht des autonomen Individuums und seiner Festsetzung in einem determinierenden Gesamtzusammenhang ist für Bennett Zeichen einer »deep incoherence« in der Philosophie Spinozas. Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984, S. 306. Ich sehe hier keine Inkohärenz, sondern vielmehr die reale Herausforderung, das Individuum in seiner relativen Autonomie, d. h. in seinen Freiheitsspielräumen und seiner unhintergehbaren Determiniertheit zugleich zu verstehen und diese Paradoxie im Denken aufrechtzuerhalten. Für eine Diskussion von Autonomie und Individualität in feministischer Perspektive vgl. Aurelia Armstrong, »Autonomy and the Relational Individual. Spinoza and Feminism«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 43–63. 49 »Only by being sensitive can life be active, only by being exposed can it be autonomous. And this in direct ratio: the more individuality is focused in a self, the wider is its periphery of communication with other things; the more isolated, the more related it is.« Hans Jonas, »Spinoza and the Theory of Organism«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 278. Jonas bestimmt das differentielle und reversible Verhältnis der aktiven und der passiven Dimensionen der Individuation im Rahmen seiner Frage nach einer spinozistischen Theorie des Organismus zwar sehr genau, markiert dieses Verhältnis aber immer wieder als ein dialektisches Verhältnis und übersieht damit die spezifische immanenztheoretische Perspektive. 50 Von dieser Voraussetzung ausgehend, bestimmt Lloyd Individualität als eine Form inadäquater Erkenntnis, indem sie den fragmentarischen Charakter inadäquater Ideen zum holistischen Charakter adäquater Ideen ins Verhältnis setzt. Sie vergleicht Spinozas Konzeption von Individualität mit seiner Konzeption adäquater Erkenntnis und betont, dass die einzige wahre Idee nur die Idee des Ganzen sein kann, während die Erkenntnis von Teilen des Ganzen immer nur fragmentarisch und damit inadäqat ist. So ist die Erkenntnis immer inadäquat, weil der Geist an den endlichen Körper gebunden ist und nicht zur Erkenntnis des ewigen Ganzen fähig ist, das eben unter dem Aspekt der Ewigkeit gesehen werden muss. So führt der notwendig fragmentarische Charakter der Erkenntnis unseres Körpers in den Affektionszusammenhängen der Natur für Lloyd zu einer Bestimmung des Individuums ausgehend von seiner inadäquaten Erkenntnis. »The ideas of individuals are inade-

Individualität und Transindividualität

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ven Relationen, die es als Körper und als Geist bestimmen, pragmatisch zu steuern und sich in den Beziehungen und Interaktionen zu bewegen, die zu Aktivität führen und die eigene Handlungsmacht positiv beeinflussen. Denn während negative Affektionen die Macht des Individuums hemmen, wird diese durch positive Affektionen und Übereinstimmungen mit anderen Individuen befördert. Erst von hier aus ergeben sich produktive Möglichkeiten des Zusammenschlusses von Individuen und ihren Vermögen zu andersartigen und höherstufigen Individuen mit höheren Vermögen. In diesen pragmatischen Zusammenschlüssen wird deutlich, was Spinoza damit meint, dass menschliche Individuen einander nützlich werden, wenn sie ihre Macht verbinden und sich nach Maßgabe ihrer Übereinstimmungen zusammenschließen. 51 Erst in diesen pragmatischen Zusammenschlüssen, die die Macht einfacher wie auch vielfacher Individuen steigern, steigert sich auch die Autonomie des Einzelnen. Und so lässt sich mit Blick auf die soziale Existenzform menschlicher Individuen eigentlich nicht mehr von einer Individualität des Individuums sprechen, sondern wir haben es, in ontologischer und in pragmatischer Hinsicht, mit einem Modell der Transindividualität des Individuums zu tun.

I.5 Individualität und Transindividualität

Die Frage, ob und in welchem Sinne etwas Seiendes als einzeln und selbständig gedacht werden kann und wie es als Individuum verfasst ist, ist also von einiger Bedeutung für unser Verständnis des menschlichen Individuums. Dabei konnten wir bis jetzt sicherstellen, dass Spinoza Individuen nicht zuerst als substanziell einzeln und in einem zweiten Schritt als relational verfasst ansieht, sondern dass Individuen für ihn von vornherein nur aus einem Zusammenhang der Körper in Ruhe und Bewegung herzuleiten sind. In ontologischer Hinsicht und gemäß den nominalen Voraussetzungen, die im ersten Teil der Ethica gesetzt sind, sind die einzelnen Dinge unterschiedliche Modi und damit unterschiedliche Affektionen von Substanz. Ihre Bestimmung ergibt sich aus den relationalen Affektionsverhältnissen und damit aus einem Affektionsgeschehen, das immer schon auf der kausalen Interaktion mehrerer Individuen quate ideas; but individuality is not thereby an illusion produced by inadequate knowledge.« Vgl. diese Bestimmung der inadäquaten Wirklichkeit des Individuums in: Genevieve Lloyd, »Spinoza’s Version of the Eternity of the Mind«, in: Marjorie Grene / Debra Nails (Hg.), Spinoza and the Sciences, Dordrecht u. a. 1986, S. 211–233, hier S. 222 f. 51 Vgl. dazu auch die Bestimmung von Gesellschaft als Zustand, »in dem eine Gesamtheit von Menschen ihre Vermögen zusammensetzen, um ein höheres Ganzes zu bilden«, wie Deleuze sie in Auseinandersetzung mit Spinoza formuliert. Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 100.

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Theorie der Individuation und der Individualität

und auf einer Dynamik beruht, die die Individuen jeweils überschreitet und in verschiedene Verbindungen stellt. Wenn die Affektionen also als relationale Verbindungen zwischen Individuen anzusehen sind, dann gehen die Individuen wie Effekte singulärer Verdichtung aus diesen Verbindungen hervor und werden in ihnen und zwischen ihnen konstituiert. Die ontologisch hergeleitete Bestimmung eines solchen transversalen Affektionsgeschehens erweist sich aber nicht nur mit Blick auf einzelne menschliche Individuen als relevant, sondern auch, wenn es um Zusammenhänge geht, die das Individuum überschreiten und die nicht nur auf einzelne Körper und Geister bezogen bleiben, sondern selbst als transindividuelle Verbindungen identifizierbar sind. 52 Mit dieser Wendung der Individuationstheorie in eine transindividuelle Theorie des Individuums zeigt sich noch einmal sehr deutlich, dass wir es bei Spinoza mit einem erweiterten Verständnis der Affekte zu tun haben. Es geht hier nicht allein um Typisierungen individuell zuschreibbarer Affekte im Sinne von Gefühlen und auch nicht um die Übertragung affektiver Zustände im Sinne assoziativer Verkettungen von Körpern und Ideen, die sich als Übertragung, Erinnerung, Projektion oder Imitation zeigen würden. Für die Bestimmung einer transindividuellen Dynamik zwischen Individuen ist vielmehr zentral, dass Spinoza ein übergreifendes Affektionsgeschehen sichtbar macht, das das Individuum und die Beschränkung auf individuelle Affektionserfahrungen weit überschreitet. Spinoza beschreibt eine transindividuelle Dynamik, die sich als ein prozessualer und relationaler Zusammenhang zwischen Individuen ereignet und nicht nach ontologischen Kategorien individueller Einzelnheit und Selbständigkeit erfasst werden kann. Damit werden Begriffe individueller Erfahrung überschritten und die mit der Teilung von res extensa und res cogitans eingeführte Innerlichkeit des Individuums wird einer Veräußerlichung unterzogen. Wie sich auch in transindividueller Perspektive erneut zeigt, sind Affektionen nicht auf Individuen reduzierbar, sondern manifestieren sich als Aktualisierungen aktiver und passiver Kräfte in einem Feld von Potentialitäten, 52 Eine solchermaßen relationistische Auffassung Individualität findet sich auch bei Matheron, dessen 1969 erschienene Studie Individu et communauté chez Spinoza zu den Klassikern einer sozialtheoretisch gewendeten Spinozaforschung zählt. Spinozas Denken dreht sich für Matheron um: »des individus qui se définissent entièrement par leur rapport externe à l’autrui«. Matheron geht auch so weit, die konstitutiven äußeren Beziehungen der Individuen als »événements purs« also als reine Ereignisse zu bestimmen bzw. ihre Ereignishaftigkeit zu betonen. Er unterstützt damit die Annahme eines offenen und in gewissem Maße kontingenten Charakters des Affektionsgeschehens und der Individuation, die der Annahme der vollständigen Determiniertheit der Individuen entgegen steht. Alexandre Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, S. 27. Vgl. dazu auch: Lee C. Rice, »Individual and Community in Spinoza’s Social Psychology«, in: Edwin Curley / Pierre-François Moreau (Hg.), Spinoza: Issues and Directions. The Proceedings of the Chicago Spinoza Conference, Chicago 1990, S. 271–285.

Individualität und Transindividualität

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in dem sich verschiedene Elemente auf unvorhersehbare und unterschiedliche Weise verknüpfen können. Im Ganzen des Naturzusammenhangs stehend ist das Vermögen eines Modus, zu affizieren und affiziert zu werden, immer schon aufgerufen durch die Affektionen, denen er notwendigerweise ausgesetzt ist und die von ihm selbst ausgehen. Wir haben es also mit einem unendlichen Affektionsgeschehen zwischen Individuen zu tun, und so ist der gesamte Naturzusammenhang sich affizierender Entitäten als ein kausaler Wirkungszusammenhang zu verstehen und der Begriff der affectio erweist sich als einer der Grundbegriffe in Spinozas Theorie immanenter Individuation.

Vergemeinschaftung der Körper und der Geister

Das Modell eines transindividuellen Gesamtzusammenhangs einander affizierender Einzeldinge wird, wie sich gezeigt hat, in den ontologischen und den affekttheoretischen Grundlagen der Ethica vorbereitet. Spinozas transindividuelle Perspektive eröffnet sowohl Einsichten in die Konstitution einfacher Individuen wie in die Konstitution vielfacher Individuen, wo sich zentrale Aspekte von Vergemeinschaftung zeigen. 53 Dabei spielen affektive und imaginative Dimensionen gleichermaßen eine wichtige Rolle, denn während die Affektionen reale Verhältnisse von Körpern und Geistern in Ruhe und Bewegung generieren, erzeugen die Imaginationen Ideen dessen, was die Individuen verbindet, wie etwa Ideen souveräner Instanzen wie Regierungen oder Monarchen oder gemeinsame Werte wie Gleichheit und Freiheit, durch deren Repräsentation sich die Individuen einer Gemeinschaft zuordnen. 54 Wie hier deutlich wird, spielen die Imaginationen nicht nur als inadäquate Fehlleistungen der Erkenntnis der ersten Stufe eine Rolle, sondern lassen sich besonders auch in ihrer

Allerdings wird diese Wendung keineswegs immer im Sinne einer Theorie der Gemeinschaft interpretiert. Für eine affirmative Interpretation in dieser Richtung (und damit verbunden sogar eine Bestimmung von Humanität) steht Alexandre Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969. Gegen eine solche Interpretation sprechen sich aus: David Bidney, The Psychology and Ethics of Spinoza. A Study in the History and Logic of Ideas, New Haven 1962, Lee C. Rice, »Le nominalisme de Spinoza«, in: Canadian Journal of Philosophy 24 (1994), S. 19–32. Vgl. auch: Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 94. 54 Moira Gatens und Genevieve Lloyd untersuchen Spinozas Theorie der Imagination in ihren Bezügen zu anderen Aspekten der Ethica und vor allem in ihrer Bedeutung für Individualität und Sozialität in politischen Kontexten. Vgl. Moira Gatens / Genevieve Lloyd, Collective Imaginings. Spinoza, Past and Present, New York 1999. Siehe zur Imagination auch: Lorenzo Vinciguerra, Spinoza et le signe. La genèse de l’imagination, Paris 2005. 53

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affirmativen Bedeutung für die affektiven Verbindungen zwischen Individuen herausstellen. 55 Das Potential einer solchen Perspektivierung wird spätestens im vierten Teil der Ethica und dann selbstverständlich in den politischen Traktaten deutlich. In E4p18s diskutiert Spinoza etwa die Frage nach den Verbindungen menschlicher Individuen und ihrer Nützlichkeit füreinander: »Es gibt also viele Dinge außerhalb von uns, die nützlich für uns sind und deshalb aufgesucht werden sollten. Unter ihnen lassen sich keine vorzüglicheren ausfindig machen als solche, die mit unserer Natur völlig übereinstimmen. Wenn nämlich z. B. zwei Individuen von ganz derselben Natur sich miteinander verbinden, dann bilden sie ein Individuum, das doppelt so mächtig ist wie jedes einzelne für sich« (E4p18s). Dass Spinoza eine utilitaristische Dimension von Gemeinschaft im Blick hatte und das Streben eines jeden Individuums auch unter dem Aspekt des Nutzens und der Nützlichkeit der Individuen füreinander gesehen hat, ist bereits in der Untersuchung der Affekttheorie deutlich geworden (vgl. zweiter Teil I.3). In der Bestimmung der Grundaffekte von Begierde (cupiditas), Freude (laetitia) und Trauer (tristitia) und daraus hervorgehend in allen anderen Affektarten wird ein Prinzip der Kalkulation größerer oder geringerer Handlungsmacht und damit größerer oder geringerer Vollkommenheit vorausgesetzt, die nicht nur als Nützlichkeit der einfachen Individuen füreinander, sondern als ihre Möglichkeit gesehen wird, ein vielfaches Individuum und als solches eine eigene Entität zu werden. Diese Vervollkommnung der einfachen Individuen als vielfache Individuen beschreibt Spinoza wie folgt: »Dem Menschen ist also nichts nützlicher als der Mensch; nichts Geeigneteres, sage ich, können sich Menschen zur Erhaltung ihres Seins wünschen, als daß alle in allem so übereinstimmten, daß die Geister und Körper von allen zusammen gleichsam einen einzigen Geist und einen einzigen Körper bilden, daß alle zusammen, soviel sie können, strebten, ihr Sein zu erhalten, und daß alle zusammen für sich selbst den gemeinsamen Nutzen aller suchten. Daraus folgt, daß Menschen, die sich von der Vernunft leiten lassen, d. h. Menschen, die vernunftgeleitet ihren eigenen Vorteil suchen, für sich selbst nach nichts verlangen, was sie nicht

55 Althusser bestimmt die Imagination als eine Form unmittelbarer Lebenswelt und findet in dieser Bedeutung und ihrer Erweiterung zu einer sozialen Subjektivität die materielle Grundlage seiner Ideologietheorie. »I saw in it immediately the matrix of every possible theory of ideology [. . . ].« Vgl. Louis Althusser, »The Only Materialist Tradition, Part I: Spinoza«, in: Warren Montag / Ted Stolze (Hg.), The New Spinoza, Minneapolis 1997, S. 2–18, hier S. 6. Vgl. zum Gewissen als einem Effekt der Ideologie auch: Judith Butler, »›Das Gewissen macht Subjekte aus uns allen‹. Subjektivation nach Althusser«, in: dies., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 101– 123.

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auch für andere Menschen begehren, daß sie mithin gerecht, zuverlässig und anständig sind« (E4p18s). Diese utilitaristische Vervollkommnung des Individuums in der Gemeinschaft ist allerdings höchst erklärungsbedürftig, stellt sich doch die Frage, was eigentlich damit gemeint ist, wenn Spinoza beschreibt, dass zwei Individuen derselben Natur, die sich miteinander verbinden, ein Individuum bilden, das doppelt so mächtig ist wie jedes für sich (vgl. E4p18s). Wie können denn die Geister und die Körper vieler einen einzigen Geist und einen einzigen Körper bilden? Wie ist die Einheit verschiedener Körper und Geister zu je einem Körper und einem Geist möglich, und in welchem Sinne können solche Einheiten Individuen sein? Wichtig ist hier zu verstehen, dass Spinoza die Individualität nicht an das Zustandekommen eines Individuums und seiner Teile knüpft, denn in ihrer Verfasstheit können Individuen immer vielfach sein und sich als vielfache Individuen bilden. Spinoza knüpft die Frage der Individualität eines Individuums vielmehr an dessen Singularität und dessen singuläre Existenz, also an die spezifische Ereignishaftigkeit und Einzigartigkeit der in ihm vorhandenen Verhältnisse und Zusammenhänge. In diesem Sinne kann dann von einer Einheit vieler verschiedener Individuen die Rede sein, und diese können vergleichend beschrieben werden als ›wie von einem gemeinsamen Geist geleitet‹. Die metaphorische Redeweise vom gemeinsamen Geist vieler Individuen findet sich mehrfach, z. B. im Tractatus politicus, wo deutlich gemacht wird, »daß das Recht des Staates oder der höchsten Gewalten nichts anderes ist als eben das Recht der Natur, das durch die Macht, [. . . ] der wie von einem Geist [veluti mente] geleiteten Menge bestimmt wird« (TP 3:2). 56 Selbstverständlich geht es hier nicht um die Bestimmung eines realen gemeinsamen Geistes aller Individuen eines staatlichen Gebildes. Spinoza nutzt den Vergleich vielmehr als eine Metapher, um die Qualität und die Intensität der transindividuellen Verbindung der Körper und der Geister in ihrer gemeinsamen Natur aufzuzeigen. 57 Der Geist eines Staates, so lässt sich vielleicht sagen, ist das, was die 56 Die Wendung »ut multitudo una veluti mente ducatur« bzw. der einfache Vergleich »wie von einem Geist« findet sich weiter in TP 2:21, TP 3:5 oder auch in TP 4:1, wo Spinoza »einen Geist des Staates« beschwört, »durch den alle geleitet werden müssen«; und in ähnlicher Weise auch in TP 8:19, wo die höchste Gewalt des Staates einer bestimmten Versammlung zugesprochen wird, deren Mitglieder »gleichsam einen Körper bilden, der wie von einem Geist geleitet wird«. Eine hilfreiche Zusammenstellung dieser Textstellen und eine Diskussion der Vergleichsfunktion von veluti und quasi bietet: Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 89–112. 57 Matheron sieht diese Darstellung eines einzigen Körpers und eines einzigen Geistes als auf die Bestimmung von Gemeinschaft übertragbar an, vgl. Alexandre Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, S. 287 ff. Im Unterschied dazu hält Gueroult diese Vorstellung Spinozas für »une simple analogie«, vgl. dazu: Martial Gueroult, Spinoza II. L’âme, Paris 1974, S. 170, Anm. 78.

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gemeinsame Natur des Einzelnen und des Ganzen ausmacht, auf die die Individuen zurückzuführen sind, und aus diesem Geist bezieht »der Staat oder das Gemeinwesen seine Stabilität« (TP 7:3). Dabei muss dieser gemeinsame Geist der Individuen in einem solchen Gemeinwesen selbstverständlich nicht als national, sprachlich oder religiös identifiziert werden, sondern kann sich auch über ganz andere Zusammenhänge konstituieren. Seine Bestimmung zeichnet sich aber im holistischen System Spinozas letztlich immer dadurch aus, dass die gemeinsame Existenz der Individuen in höchster Instanz eine Existenz in der ihnen gemeinsamen Natur und damit eine Existenz in Gott ist. 58 So vermehrt sich die Macht, die ein einfaches Individuum hat, im Zusammenschluss mit anderen Individuen zur Macht eines vielfachen Individuums, wie es z. B. Gemeinschaften, Institutionen oder Staaten sind, die allesamt wiederum Teile höherer Individuen und letztlich Teile des Ganzen der Natur sind. Und wie im Falle eines jeden Individuums haben »auch der Körper und der Geist eines ganzen Staates so viel Recht, wie weit dessen Macht reicht« (TP 3:2). Im Tractatus politicus bestimmt Spinoza den Staat mehrfach selbst als ein Individuum bzw. als das Individuum der Individuen, so etwa in TP 7:22, wo es heißt: »Im staatlichen Zustand sind nun die Bürger, alle zusammengenom-

Zur breiten Diskussion des Vergleichs des Staates mit einem Individuum (und einem Körper) und der Idee des Staates als Individuum der Individuen vgl. Étienne Balibar, Spinoza and Politics, London / NewYork 2008, S. 64 f., sowie ders., »Spinoza, the Anti Orwell«, in: ders., Masses, Classes, Ideas: Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx, London 1994, S. 17–37, besonders S. 17. Zur Übertragung auf das Zustandekommen von Gemeinschaft vgl. auch: Pierre-François Moreau, Spinoza. L’expérience et l’éternité, Paris 1994, S. 427–465, sowie: Alexandre Matheron, »L’état, selon Spinoza, est-il un individu au sens de Spinoza?«, in: Michael Czelinsiki / Thomas Kisser / Robert Schnepf / Marcel Senn / Jürgen Stenzel (Hg.), Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas, Würzburg 2003, S. 127– 145. Zu diesem Kontext und seiner breiteren Diskussion auch: Ursula Renz, Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes, a. a. O., S. 72– 76 und William Sackstedder, »Communal Orders in Spinoza«, in: Cornelis De Deugd (Hg.), Spinoza’s Political and Theological Thought, Amsterdam 1984, S. 206–213. 58 Und aus dieser gemeinsamen Natur leitet Spinoza auch her, dass die menschlichen Individuen ihre Rechte gemäß ihrer Macht entwickeln können, und der Natur nach über die gleichen Mittel zur Realisierung eines gelingenden Lebens verfügen. Diese Mittel, um Dinge durch ihre ersten Ursachen begreifen zu können, Leidenschaften zähmen und in Sicherheit leben zu können, sieht Spinoza »in der menschlichen Natur selbst enthalten« und »allein von den Gesetzen der menschlichen Natur« abhängig (TTP 3:5). Der humanitäre Anspruch dieser Renaturalisierung der Politik wird an dieser Stelle des Tractatus politicus ebenfalls deutlich: »Aus diesem Grund ist vorbehaltlos anzunehmen, daß diese Gaben keinem Volk eigen sind, sondern stets der ganzen Menschheit gemeinsam waren, wollen wir nicht in den Traum verfallen, die Natur habe einst verschiedene Arten von Menschen hervorgebracht« (TP 3:5). Vgl. dazu auch TP 5:2 und E2p13s sowie grundsätzlich zur Bildung von Humanität die Interpretation von Alexandre Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, S. 155.

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men, wie ein einzelner Mensch im Naturzustand anzusehen.« 59 Es fällt auf, dass Spinoza seine Bestimmungen von Individuation und Individualität in den politischen Traktaten vor allem dort aufruft, wo er allgemeine Gesetze, Regeln und Einrichtungen der Natur auszumachen sucht, die ein jedes Individuum betreffen und es jeweils dazu bestimmen, auf bestimmte Art und Weise zu existieren. So etwa in TTP 14:1, wo die Bedeutung des Gesetzesbegriffs in seiner Gültigkeit für ein jedes Individuum erläutert wird. Oder in TTP 16:2, wo es um Regeln der Natur geht, die bestimmte Wirkungen erzeugen. Aber auch im Tractatus politicus führt Spinoza den Begriff des Individuums in dieser Weise an, nämlich um die Regeln und die Macht der Natur zu bestimmen, die für alle Individuen gleichermaßen gelten und sich als ein »Recht der ganzen Natur« über alle Individuen und ihre Macht erstrecken (TP 2:4). Der Begriff des Individuums wird also dort eingesetzt, wo dessen Bestimmung von allen anderen Individuen und vom Ganzen der Natur her gedacht und einer transindividuellen Generalisierung unterzogen wird, die zeigt, dass »der Mensch, wie alle anderen Individuen auch, danach strebt, sein Sein, soviel er vermag, zu erhalten« (TP 2:7) und in den Gesetzen der Natur, »durch deren bloße Notwendigkeit alle Individuen bestimmt sind, in bestimmter Weise zu existieren und sich zu betätigen« (TP 2:8). 60 Individualität ergibt sich also aus dem Verhältnis der einzelnen Dinge zum Ganzen und aus der Macht (potentia), die dem Prozess immanenter Individuation zugrunde liegt. Spinoza nutzt sein Modell eines transindividuellen Gesamtzusammenhangs einander affizierender Einzeldinge, um Formen der Vergemeinschaftung zu bestimmen, die nicht notwendig an einem identischen Wesen der Individuen orientiert sind, sondern sich aus den Affektionsverhältnissen zwischen Individuen ergeben. Es geht in dieser Theorie der Vergemeinschaftung nicht um die Bestimmung identitär begründeter Gemeinschaften, sondern um den intensiven und lebendigen Prozess der Herausbildung temporärer Individualität vielfacher Individuen. Die Bestimmung dieses Prozesses als immanente Individuation geht von holistischen und anti-individualistischen Voraussetzungen aus, die wir im Denken Spinozas finden und die sich als Transindividualität beschreiben lassen. Spinozas ontologisch-erkenntnistheoretische Grundlegung der Verbindungen des affektiv situierten Individuums kann die konstituierende Macht einer transindividuellen Verflechtung von Individuen aufzeigen. Seine

59 Diese Idee eines staatlichen Individuums als Gesamtheit seiner Körpers findet sich freilich am anschaulichsten in der individualisierten Figur des Leviathan bei Thomas Hobbes. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg 1996. 60 Auf dieses Verhältnis von conatus und potentia kommen wir im nächsten Kapitel noch ausführlich zurück.

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Theorie der Individuation und der Individualität

Theorie der Körper ist im Sinne eines Modells zu verstehen, durch das Affektionen als plurale Resonanzverhältnisse sichtbar werden. Der immanente Monismus kausaler Relationen eröffnet eine Perspektive auf das transindividuelle Affektionsgeschehen zwischen Körpern, d. h., es geht hier weniger um die Bestimmung oberster Gattungen und die Kategorisierung fester, zählbarer Körper vom Charakter dinglicher Einzelnheit, sondern vielmehr um dynamische Wirkungen und Abhängigkeiten, Zusammenhänge und Verbindungen. Eine transindividuelle Perspektive auf die affektiven Zusammenhänge von Individualität kann also die konstituierende Macht der resonanzhaften Verflechtung von Körpern aufzeigen. Auf diese Weise lassen sich ganz unterschiedliche Dynamiken der Interaktion beschreiben, die nicht auf einzelne aktive und reflexive Handlungsträger reduzierbar sind. Und es werden Möglichkeiten anderer Beziehungen sichtbar, solcher nämlich, die nicht antagonistisch organisiert sind und in denen die Selbsterhaltung des Individuums nicht von der Abgrenzung gegen andere Individuen abhängt.

Andere Vergemeinschaftungen (Deleuze)

Deleuze sieht in solchen Vergemeinschaftungsprozessen die Möglichkeit der Bildung neuer Beziehungen und neuer Verhältnisse, denn es geht für ihn darum, zu verstehen, »ob Verhältnisse (und welche?) sich direkt zusammensetzen können, um ein neues Verhältnis, das weiter ›ausgedehnt‹ ist, zu bilden, oder ob Mächte sich direkt zusammensetzen können, um eine Macht, ein Vermögen zu konstituieren, das ›intensiver‹ ist.« 61 Mit dieser Fragerichtung zielt auch Deleuze im Ausgang von Spinoza auf die Profilierung des metaphysischen Denkens als eines sozialtheoretischen Denkens. 62 Die neuen Verhältnisse, um die es Deleuze geht, sind Zusammensetzungen von Individuen, die sich aufgrund ihrer Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, ergeben. Es geht hier nicht um die dialektische Aneignung zwischen verschiedenen Individuen, sondern um deren Assoziation und ihre Verbindung zu neuen Individuen, d. h. um die Verbindung eines Individuums mit anderen Individuen unter Beibehaltung seiner spezifischen Differenzen. »Wie kann ein Wesen ein anderes in seine Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 164. Und so ist wohl auch Antonio Negri zu verstehen, wenn er festhält: »Die wahre Politik Spinozas ist die Metaphysik.« Antonio Negri, Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1982, S. 243. Und auch Balibars Verständnis des Zusammenhangs von Politik und Metaphysik bei Spinoza läuft auf deren Einheit und auf die Annahme hinaus, dass noch der spekulativste Gedanke für Spinoza eine politische Dimension hat. Vgl. dazu auch das Vorwort (»Preface«) von Warren Montag in: Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. VII–XIX. 61

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Welt aufnehmen, doch so, daß es dessen Verhältnis und die eigene Welt erhält und respektiert? Und welches sind in dieser Hinsicht z. B. die verschiedenen Soziabilitätsarten?« 63 Die »Gesellschaft der Menschen« (société des hommes), von der Deleuze hier weiter spricht, ist eine Gesellschaft von Individuen, die nicht auf Negation beruht, sondern auf einem dynamischen Zusammenspiel der Individuen in einer Natur, in der unterschiedliche Intensitäten der Affektion und der Imagination zur Herausbildung immer neuer Individuen führen. Deleuze beschreibt diesen Vorgang in Anlehnung an Spinozas geometrische Methode als einen »Plan im geometrischen Sinn«; mit Schnitten, Überschneidungen, Diagrammen: »Es handelt sich [bei der Gesellschaft der Menschen] nicht mehr um ein Verhältnis von Punkt zu Kontrapunkt oder von Selektion einer Welt, sondern um eine Symphonie der Natur, um Konstituierung einer zusehends größeren und intensiveren Welt.« 64 In diesem »Plan der Natur ist das intensivste und umfassendste Individuum jenes, dessen Teile auf unendlich viele Weisen variieren«. 65 Es lässt sich also festhalten, dass Spinozas transindividuelle Konzeption Individuen nicht als frei ausweist, sondern auf andere Individuen bezogen sieht und von anderen Individuen her bestimmt. Daraus ergibt sich, dass reaktive Haltungen und Selbstbilder unterlaufen werden können, die eher einem Modell atomistisch isolierter Individuation entsprechen. 66 Sichtbar werden in dieser Perspektive komplexe Modulationen sich hemmender und sich steigernder Wirkungen, deren Grundlage eben die Affizierbarkeit der menschlichen Natur Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O. S. 164. Und weiter fragt Deleuze: »Was ist der Unterschied zwischen der Gesellschaft der Menschen und der Gesellschaft der vernünftigen Wesen?« Er spielt damit bereits auf die aktuell durch den sogenannten Posthumanismus stark gemachte Kritik der anthropologischen Vernunft an, durch die die Bestimmung des Menschen nach eurozentrischen Vernunftidealen ebenso infrage gestellt wird wie die normative Herleitung des »ganzen Menschen« aus einer begründend vorausgesetzten wesenhaften Natur. 64 Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 164. 65 Gilles Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, a. a. O., S. 164. Deleuze ruft immer wieder Parallelen zur Musik auf und führt die Entstehung korrespondierender Individuen im Sinne einer musikalischen Komposition bzw. einer Symphonie als höherer immanenter Einheit vor. In Anlehnung an Jules Lagneau und Romain Rolland, die als hellsichtigste Spinoza-Interpreten vorgestellt werden, vergleicht er den Aufbau der Ethica mit einer Komposition nach musikalischer Ordnung, deren Teile von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Denkens bestimmt werden. Geschwindigkeit und Weite des Denkens werden deutlich, wenn die jeweilige Tragweite der unterschiedlichen Elemente auf ihren unterschiedlichen Ebenen miteinander in Verbindung gebracht wird, so z. B. in der Verbindung des weiten ontologischen Rahmens zu den einzelnen Individuationen. Tatsächlich springt das Denken hier in einer gewissen Geschwindigkeit zwischen den Ebenen und den Variablen hin und her und wird weiter oder enger, je nachdem, in welcher Erkenntnisgattung es sich ereignet. 66 Vgl. zu der Annahme, dass atomistische Konzeptionen des Individuums reaktive Haltungen befördern, auch: Aurelia Armstrong, »Autonomy and the Relational Individual. Spinoza and Feminism«, in: Moira Gatens (Hg.), Feminist Interpretations of Benedict Spinoza, Pennsylvania 2009, S. 58. 63

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durch die umweltlichen Wirkungsverhältnisse ist. Spinozas immanenter Monismus kausaler Relationen eröffnet eine Perspektive auf das transindividuelle Affektionsgeschehen zwischen Körpern und lässt sich damit sowohl in subjekttheoretischer wie auch in sozialtheoretischer Hinsicht fruchtbar machen. Die immanente Anlage dieser transindividuellen Perspektive ermöglicht Einsichten in die Konstitution des Individuums als Einzelkörper und in die Konstitution überindividueller, d. h. aus verschiedenen Individuen zusammengesetzter Individuen. Mit Spinozas Theorie immanenter Individuation lässt sich also die Einzelnheit des Individuums infrage stellen und eine konstitutive Heteronomie der individuellen Existenz sichtbar machen. Zwar zeigt sein Denken sehr wohl individualistische Züge, wenn er das Streben nach Selbsterhaltung als ein Streben des einzelnen Individuums bestimmt und seine Ethik auf das Leben einzelner menschlicher Individuen ausrichtet. Einer solchen individualistischen Perspektive steht aber auch eine ganz andere, nämlich eine transindividuelle Perspektive gegenüber, die die Selbsterhaltung des Individuums in seiner Individualität gerade von dessen übergreifender Einbindung in größere Zusammenhänge abhängig macht.

I.6 Exkurs: Individualität als Transindividualität (Balibar)

Wie eingangs erwähnt, ist Spinozas Konzeption von Individualität als relationistische Konzeption von Transindividualität vor allem von Étienne Balibar eingehend diskutiert worden, der die immanente Ontologie als eine relationale Ontologie ausweist. 67 Zum einen hält er Individualität für eine Form aktualisierter Existenz; das heißt, dass nur Individuen für ihn real existieren und die Substanz nichts anderes ist als die Individuen selbst, wie Gott nichts anderes ist als die Natur selbst, ihr also nicht in irgendeiner Weise vorhergeht oder übergeordnet ist. Zum anderen ist ein Individuum auch für Balibar immer zusammengesetzt aus verschiedenen Teilen, d. h., es ist keine einzelne abgeschlossene Form und ihm ist auch keine teleologische Ausrichtung auf eine bestimmte Formwerdung eigen. Individuen sind auch für Balibar unabgeschlossene dynamische Einheiten, die in Verbindungen zu anderen Individuen stehen und sich

67 Vgl. zur »relational ontology« als Grundlage einer »general theory of communication«, aus der die verschiedenen Formen individuellen und autonomen Lebens in imaginären, rationalen und politischen Verhältnissen hergeleitet werden können, Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, Delft 1997 (Mededelingen vanwege het Spinozahuis Nr. 71), S. 7 ff. Siehe auch ders., Spinoza and Politics, a. a. O.

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in diesen geteilten Verbindungen individuieren. 68 Die Singularität eines Individuums kann daher nicht an diesem selbst festgestellt werden, sondern sie ist in seinen Interdependenzen und in seinen Relationen zu suchen. Transindividualität ist also eine notwendige Bedingung von Individualität; daraus ergibt sich, dass es keine abgeschlossenen und isolierten Individuen geben kann und die graduell mögliche Autonomie von Individuen begründet werden muss. Balibar geht davon aus, dass die Bestimmung von Individualität als Transindividualität in allen fünf Büchern der Ethica auszumachen ist und, viel mehr noch, wie ein Leitmotiv von der Ontologie bis zur Politik reicht. 69 Er sieht die Bedeutung der Transindividualität auf mindestens drei Ebenen, die sich weitgehend mit der hier vorgestellten Konzeption von immanenter Individuation decken. Erstens geht es dabei um eine kausalitätstheoretische Perspektive, die sich daraus ergibt, dass es, wie wir bereits festgestellt haben, für Spinoza nichts Existierendes gibt, das nicht in Verhältnissen von Ursache und Wirkung steht. 70 »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« (E1p36). Die grundsätzliche Bestimmung existierender Individuen ist also bereits eine Eine ganz ähnliche Argumentation zur Umkehrung der ontologischen Ordnung und zur Bestimmung der Verfasstheit des Seins als singulär plural (oder auch plural singulär) bietet Jean-Luc Nancy und leitet daraus eine Theorie der Gemeinschaft ab, die das Mit-Sein und das Nebeneinander von Exterioritäten als Teilung einer gemeinsamen Situation voraussetzt. Nancy spricht von der Freilegung einer neuen Ontologie und ist der Auffassung, das ›Mit‹ als ein wesentlicher Zug des Seins sei bislang stets vernachlässigt worden. Vgl. Jean-Luc Nancy, Singulär Plural Sein, Zürich 2012. Eine Auseinandersetzung mit Nancy und seiner Begründung eines Individual Multiple Being findet sich auch bei Filippo Del Lucchese, Conflict, Power and Multitude in Machiavelli and Spinoza, London 2009, S. 138 ff. 69 Vgl. auch die marxistisch geprägte Diskussion bei Jason Read, der Transindividualität in ökonomischen und politischen Kontexten diskutiert und dabei nicht nur auf die klassische Linie (Spinoza, Hegel und Marx) eingeht, sondern Transindividualität bei Balibar, Stiegler und Virno diskutiert. Vgl. Jason Read, The Politics of Transindividuality, Leiden / Boston 2016. Siehe auch Paolo Virno, »The Multitude and the Principle of Individuation«, in: Graduate Faculty Journal 24/2 (2004), S. 133–145; Vittorio Morfino, »Ontologie de la relation et matérialisme de la contingence«, in: ders., Le temps de la multitude, Paris 2010, S. 88–114, sowie in diesem Kontext auch die Diskussion des Machtbegriffs und der Demokratietheorie Spinozas bei Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, a. a. O., S. 146. Auf den Zusammenhang von Transindividualität und Multitude kommen wir in Abschnitt II.4 zurück. 70 Balibar diskutiert diese kausalitätstheoretische Perspektive als ein allgemeines logisches Schema der Kausalität, fügt aber den interessanten Aspekt hinzu, dass dieses Schema auch räumlich vorstellbar ist, da Kausalität auch eine topographisch bestimmbare Beziehung von Ursache und Wirkung ist, die allerdings, und das ist wesentlich, nicht linear ist und nicht abgeleitet ist, sondern sich in jeder kausalen Interaktion erst ergibt. Der Verweis auf die räumliche Vorstellung dieser kausalen Beziehungen deckt sich mit Spinozas physikalisch-geometrischer Darstellung von Körpern in den Verhältnissen von Ruhe und Bewegung, und vermutlich ist auch Balibars Vorstellung dieser Räumlichkeit von diesem Element der Philosophie Spinozas inspiriert. Vgl. Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, a. a. O., S. 13. 68

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transindivduelle Bestimmung, da sich ein existierendes Individuum immer aus äußeren Ursachen ergibt und selbst zur äußeren Ursache für die Individuation anderer Individuen wird. Die Existenz von Individuen zeichnet sich durch immanente Wirkungsverhältnisse aus und so wird auch in E1p28 deutlich gemacht, dass kein einzelnes Ding existieren kann, das nicht von einer äußeren Ursache dazu bestimmt ist, und dass die kausale Verknüpfung der Dinge bis in die Unendlichkeit reicht. 71 Jedes Individuum steht in einem kausalen Wechselverhältnis und stellt eine Kraft dar, die selbst etwas bewirkt und von anderem her bewirkt wird. Dieser zugleich aktive und passive modus operandi ist die Basis der Existenz eines jeden Individuums und man könnte sogar sagen, dass Individuen diese reversible Operation selbst sind, denn insofern sie Teil der Natur sind, sind sie je von etwas anderem bewirkt und bewirken selbst anderes. Individualität ist also bereits in einer sehr grundlegenden kausalitätstheoretischen Perspektive als Transindividualität zu bestimmen, denn als menschliche Individuen werden wir es, wie Spinoza meint, »nie dahin bringen können, zur Erhaltung unseres Seins nichts außerhalb unserer selbst zu bedürfen« (E4p18dem). Auch zu Beginn des vierten Teils hält Spinoza diese transindividuelle Bedingheit des Individuums in der Natur noch einmal fest: »Wir erleiden etwas, insofern wir ein Teil der Natur sind, der durch sich und ohne die anderen Teile nicht begriffen werden kann« (E4p2). Als Teil der Natur ist ein jedes Individuum Teil einer immanenten Kausalität, und so ist die operative Selbstüberschreitung eines jeden Individuums ein wesentliches Merkmal seiner Individualität. Und auch im fünften Teil zur Macht des Verstandes geht es darum, dass der Geist die Dinge in ihren notwendigen Beziehungen erkennen muss, wenn er aus seiner Affektfähigkeit eine Handlungsfähigkeit ableiten will. Für die Freiheit des Individuums ergibt sich aus den kausalitätstheoretischen Prämissen, dass die Dinge, die wir uns als beziehunglos vorstellen, eine größere Macht über uns haben als die Dinge, die wir uns als notwendig durch ihre Ursachen bedingt vorstellen (vgl. E5p5 und E5p6). Zum zweiten stellt Balibar seine überzeugende These einer durchgängigen Konzeption von Individualität als Transindividualität anhand einer Integrationsfunktion vor, die sich im Individuationsprozess in verschiedenen Hinsichten ausweisen lässt. Damit meint er zum einen die elementare kausale Ordnung einander affizierender Individuen, die sowohl auf der einfachen als auch auf der vielfachen Ebene andere Individuen integrieren, so dass sich sagen lässt, 71 In E1p28 bestimmt Spinoza, dass jedes Einzelding von einer anderen, äußeren Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird, und dass diese Ursache wiederum von einer anderen Ursache bestimmt wird und so weiter ins Unendliche. Und umgekehrt wird mit dem Gesetz der Selbsterhaltung in E3p4 klar herausgestellt, dass kein »Ding anders als von einer äußeren Ursache zerstört werden kann«. Vgl. auch Abschnitt I.7.

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dass ein Individuum immer eine Zusammensetzung verschiedener Individuen ist und viele Individuen integriert (vgl. dazu III.2 dieses Teils). Diese Ebene einer Transindividualität erster Ordnung wird nach Balibar überschritten durch eine Ebene zweiter Ordnung, die ich als eine nominale Ebene bezeichnen würde und in der verschiedene Gemeinbegriffe (notiones communes) in ihrer Integrationsfunktion ausgewiesen werden; wie etwa die Natur selbst, die in sich verschiedene Stufen der Individuation und ganz verschiedenartige Modi enthält (vgl. zu den Gemeinbegriffen die Ausführungen in III.5 des ersten Teils). Diese Funktionsweise verschiedener Ebenen der Individuation haben wir bereits mehrfach als ein bestimmtes Verhältnis der Teile und des Ganzen erläutert, das sich letztlich als facies totius universi zeigt, als das Gesicht des ganzen Universums, das selbst ein Individuum ist, das viele Individuen in sich trägt. Balibar sieht aber auch im Streben des Individuums nach Selbsterhaltung, also in seinem conatus eine Form der Integration, die an die transindividuelle Anlage des Individuationsprozesses gekoppelt ist. Die Selbsterhaltung des Individuums, wie wir sie mit der Bestimmung des conatus und im Kontext der Affektenlehre diskutiert haben, ist aus einer ontologischen Perspektive, die sich die Transindividualität zur Voraussetzung macht, als eine permanente Einspeisung von äußeren Impulsen, also von Affektionen durch andere Körper und ihre Ideen zu verstehen. 72 Zur Selbsterhaltung bedarf das Individuum eines ständigen Austauschs mit der Umwelt, der wie eine permanente Dekomposition und Rekomposition verläuft, und zwar auf allen Ebenen der Individuation, d. h. im Falle einfacher wie auch im Falle vielfacher Individuen. 73 Eine dritte Dimension von Transindividualität sieht Balibar in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen der ersten und der zweiten Erkenntnisart, die von Spinoza als inadäquate und adäquate Erkenntnis unterschieden werden. Dabei besteht die imaginatio, wie oben dargestellt, aus verworrenen Ideen und ist auf einen Mangel an Erkenntnis zurückzuführen, während die Erkenntnis der zweiten Gattung, die ratio, daraus entsteht, dass wir Gemeinbegriffe bilden und daraus adäquate Ideen entwickeln. Während wir in der ersten Erkenntnisart passiv sind und von äußeren Ursachen bestimmt werden, sind wir in der zweiten Erkentnnisart aktiv und erlangen rationale Einsicht in die notwendigen Be72 Balibar beschreibt das wie folgt: »Any individual’s conservation (or stability, therefore identity) must be compatible with a »continuous regeneration« of its constituent parts, i.e. what in modern termes we would call a regulated inward and outward flow, or material exchange with other individuals [. . . ]. [. . . ] An isolated individual, having no »exchanges« with the environment, would not be regenerated, therefore it would not exist.« Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, a. a. O., S. 18. 73 Vgl. dazu auch die Konzeption von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung bei Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. 1977.

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dingungen der immanenten Kausalität (causa immanens). Im Unterschied zur ersten Erkenntnisart, der imaginatio, erscheinen uns die Dinge in der zweiten Erkenntnisart, der ratio, als stringent und notwendig miteinander verbunden. Wie wir in den Ausführungen zur Erkenntnistheorie bereits gesehen haben, spielen die Affektionen des Körpers auch für die Bestimmung der unterschiedlichen Erkenntnisarten eine wesentliche Rolle, denn das menschliche Individuum ist konstitutiv in einen Zusammenhang von Affektionen eingelassen, die es immer nur partial erkennen kann. Die Steigerung der Erkenntnisfähigkeit ist für Spinoza eine Steigerung der Erkenntnis des immanenten kausalen Gesamtzusammenhangs der Natur, in dem die Individuen miteinander verbunden sind. Die Erkenntnis von kausalen Zusammenhängen ist für Spinoza also die Grundlage adäquater Erkenntnis, denn sie ermöglicht ein Verständnis unserer selbst im determinierenden Gesamtzusammenhang der Natur. Balibar sieht in dieser Konzeption der Erkenntnis nicht einfach nur die Unterscheidung einer individuellen Freiheit und Unabhängigkeit (durch adäquate Erkenntnis) von individueller Ohnmacht und Abhängigkeit (durch inadäquate Erkenntnis). Er meint vielmehr, dass die transindividuelle Grundlage dieser Erkenntnistheorie synergetische Beziehungen zwischen Individuen erfordert, und bezieht sich dabei vor allem auf die vierte Proposition des vierten Teils der Ethica, wo Spinoza betont, dass der Mensch ein Teil der Natur ist und es unmöglich ist, ihn durch sich selbst zu erkennen. »Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil der Natur wäre und bloß solche Veränderungen erleiden könnte, die durch seine eigene Natur allein eingesehen werden können und deren adequate Ursache er ist« (E4p4). Balibar streicht also heraus, dass die bei Spinoza angelegte Theorie der Individuation nicht von einzelnen Individuen ausgeht, sondern Individualität als eine Form voraussetzt, in der die Handlungen und die Erkenntnisse menschlicher Individuen unter einer grundsätzlichen transindividuellen Voraussetzung zu verstehen sind. 74 Wie weitreichend diese Annahme für den Begriff des Menschen und seine lebensweltlichen Ableitungen ist, wird deutlich, wenn wir die ontologische Annahme der Transindividualität auf Konzepte von Individualität übertragen, wie sie beispielweise den Begriffen der Person, der Identität oder der menschlichen Lebensform zugrunde liegen. 75 Es ist aber nicht nur so, »This object is not the individual but individuality or, better, the form of individuality: how it is constituted, how it tries to preserve its own form, how it is composed with others according to relations of agreement and disagreement or of activity and passivity.« Étienne Balibar, »Spinoza, the Anti Orwell«, in: ders., Masses, Classes, Ideas: Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx, a. a. O., S. 26. 75 Balibar schreibt dazu: »If it is well known that Spinozist individuality is not at all ›substance‹, it is no less important to recall that it is no more ›consciousness‹ or ›person‹ in the juridical or 74

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dass die Erkenntnisse und die Handlungen menschlicher Individuen grundsätzlich von dieser Voraussetzung der Transindividualität abhängen, sondern für Spinoza steht paradoxerweise gerade die Autonomie eines Individuums im Zusammenhang seiner Assoziation mit anderen Individuen. Bezogen auf die Frage der Erkenntnis bedeutet das, dass der Übergang zu den höheren Stufen der Erkenntnis auch ein Übergang zur Erkenntnis von Zusammenhängen ist, die sich als transindividuelle Zusammenhänge ausweisen lassen, weil sie zuletzt Zusammenhänge der einzelnen Individuen im Ganzen der Natur sind. Balibar hat also völlig recht damit, die Betonung der Transindividualität bei Spinoza auch auf der Ebene der Erkenntnis und im Übergang zur Vervollkommnung der Erkenntnis zu sehen. 76 Transindividuelle Beziehungen sind Beziehungen zwischen Individuen, die sich, im Attribut der Ausdehnung und im Attribut des Denkens, im Übergang der Erkenntnisarten und damit im Übergang von geringerer zu größerer Macht bilden. Transindividualität ist in einem weiteren Sinne aus der Grundlage der Immanenz herzuleiten, denn die Voraussetzung, dass alle Individuen in einen immanenten Gesamtzusammenhang der Natur eingelassen sind, führt dazu, dass sie in unterschiedlichen affektiv durchformten Wirkungszusammenhängen miteinander stehen und konstitutiv aufeinander bezogen sind. Diese relationale Konzeption immanenter Individuation ist für Balibar nur als Transindividualität beschreibbar, und so zeigen seine Ausführungen noch einmal deutlich die ontologische und die erkenntnistheoretische Dimension immanenter Individuation.

theological sense. Men, finite singular modes, are conscious of their desires and unconscious of the causes that produce them; that is, they ›think‹, which is something quite different. All human individuality is caught up in this way in the in-beetween of the inferior forms of individuality that are composed in it – but which are not for all that dissolved in it – and of the superior forms of individuality into which it can enter – a gradiation which could be expressed metaphorically in the language of mathematics by recalling that the ›power‹ of an (infinite) set and that of the set of its ›parts‹ are always incommensurable. This is why, if the soul (the set of thoughts) must be defined as the ›idea of the body‹, individuality not only has nothing to do with a ›union of the soul and the body‹, it completely excludes this mystical representation.« Étienne Balibar, »Spinoza, the Anti Orwell«, in: ders., Masses, Classes, Ideas: Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx, a. a. O., S. 26 f. 76 Die Bestimmung von Transindividualität in den verschiedenen Erkenntnisarten ist ausführlich dargestellt in: Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, a. a. O., S. 25 ff.

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Reale Transindividualität der ›multitudo‹

In einer sozialtheoretischen Wendung seiner Bestimmung der Transindividualität hat Balibar aber vor allem auch ihre reale Bedeutung in den politischen Schriften Spinozas herausgestellt. 77 Dabei ist besonders der Tractatus politicus wichtig, der 1677 posthum und unvollendet in den Opera Posthuma erschienen ist. Nach Abschluss der Ethik im Jahr 1675 hat Spinoza die Arbeit an seiner zweiten politischen Schrift aufgenommen; sie ist vor allem als eine Reaktion auf die Ereignisse der Zeit, d. h. vor allem auf die Ermordung der Brüder de Witt im Jahr 1672 zu verstehen, die zu einer Destabilisierung der politischen Verhältnisse in Amsterdam geführt hat. 78 Der politische Traktat dreht sich darum, Politik ohne Religion zu denken und die ganz eigene Funktionsweise politischer Entitäten sichtbar zu machen, vor allem wenn diese in ihrer Selbsterhaltung gestört und in ihrer politischen Existenz bedroht sind. Dabei geht es für Spinoza darum, die affektive und imaginäre Verfasstheit kollektiver Akteure zu verstehen, die sich an gemeinsamen politischen Zielen orientieren und ein transindividuell vielfaches Individuum bilden können, das so viel Recht hat, wie es Macht hat. Denn wenn »zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann vermögen sie zusammen mehr und haben folglich zusammen mehr Recht auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte zusammengeschlossen haben werden, um so mehr Recht werden sie alle zusammen haben« (TP 2:13). Der Begriff der multitudo wird im Tractatus politicus eher beiläufig und als Bestimmung eines Rechts erwähnt, »das durch die Macht der Menge definiert wird, [und das man] als Regierungsgewalt gewöhnlich die Souveränität des Staates« (TP 2:17) nennt. »Hoc jus, quod multitudinis potentia definitur,

77 Mit Blick auf die politische Philosophie betont die Inter- bzw. Transindividualität auch Antonio Negri, Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1982. Negri bringt die immanenztheoretische Auslegung des Begriffs der Menge auch an anderer Stelle auf den Punkt und schreibt: »Multitude ist ein Immanenzbegriff, die Menge ein Ensemble von Singularitäten. Nehmen wir diese Feststellung zum Ausgangspunkt, so haben wir in Umrissen eine ontologische Definition der Realität, die übrig bleibt, sobald das Konzept ›Volk‹ seine Transzendenz verliert.« Diese Transzendenz, so Negri weiter, wurde stets »ausgehend von der Transzendenz des Souveräns konzipiert«. Antonio Negri, »Eine ontologische Definition der Multitude«, in: Thomas Atzert / Jost Müller (Hg.), Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire, Berlin 2003, S. 111. 78 Balibar bespricht die Bedeutung dieser Ereignisse für die Entstehung des TP, auch im Unterschied zum TTP, ausführlich in: Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 50–75. Vgl. auch den immanenztheoretischen Zugriff und die Diskussion des TP bei Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, a. a. O., S. 51–77, sowie für die historischen Umstände insgesamt Steven Nadler, Spinoza. A Life, Cambridge 1999.

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imperium appellari solet« (TP 2:17). 79 Spinoza leitet die Macht der Menge in einer dem § 17 vorausgehenden Argumentation aus seiner Begründung des Naturrechts her und zeigt, wie sich der Zusammenhang von Macht und Recht aus dem Gesamtzusammenhang der Natur ergibt. 80 Dabei führt der Zusammenschluss von Individuen zu einer Steigerung ihrer Macht und damit ihres Rechts, und zwar bis dahin, dass die einfachen Individuen in ihrer Verbindung ein vielfaches Individuum und eine Menge mit eigener Macht und eigenem Recht werden. Dieses transindividuell verfasste Individuum ist die multitudo, aus deren Macht, also aus der multitudinis potentia, sich neue Möglichkeiten politischen Handelns ergeben, die eben in Form einer Regierungsgewalt die Souveränität des Staates bilden können. 81 Unter Rückgriff auf die Herleitungen in der Ethica wird im TP aber auch erklärt, »daß die Macht der natürlichen Dinge, durch die sie existieren und tätig sind, Gottes Macht in ihrer vollen Gegenwärtigkeit ist« (TP 2:3), und dass daraus ersichtlich ist, was das »Recht der Natur« (TP 2:3) ist. »Weil nämlich Gott ein Recht auf alles hat und das Recht Gottes nichts anderes als eben Gottes Macht ist, [. . . ] folgt, daß ein jedes natürliche Ding von Natur aus soviel Recht hat, wie es Macht hat zu existieren und tätig zu sein, da nun einmal die Macht eines jeden natürlichen Dings, durch die es existiert und tätig ist, nichts anderes ist als genau Gottes Macht, die uneingeschränkt frei ist« (TP 2:3). Für die Bedeutung von Individualität und Transindividualität folgt aus 79 Der Begriff der Menge kommt in seiner Anwendung auf menschliche Individuen allerdings auch schon im ersten Teil des TP vor: »Tatsächlich bin ich völlig überzeugt, daß die Erfahrung alle Formen politischer Gebilde schon aufgezeigt hat, die im Hinblick auf ein einträchtiges Leben der Menschen denkbar sind, und zugleich auch die Mittel, durch die eine Menschenmenge zu lenken [multitudo dirigi], d. h. innerhalb bestimmter Grenzen in Schranken zu halten ist« (TP 1:3). Hier geht es zunächst nur darum, die Menge als einen Existenzmodus von Individuen anzuführen, der notwendigerweise gebändigt und in seiner Macht gebremst werden muss. 80 Der Zusammenhang einer Macht der Natur und eines Rechts der Natur wird in E4p37s2, im zweiten Teil des Politischen Traktats zum natürlichen Recht und auch im TTP vorgestellt, wo es heißt: »Unter Recht und Einrichtung der Natur verstehe ich einfach die Regeln der Natur jedes Individuums, nach denen wir ein jedes natürlicherweise bestimmt sehen, auf eine bestimmte Weise zu existieren und zu wirken. Die Fische beispielsweise sind von Natur aus bestimmt zu schwimmen, die großen die kleinen zu fressen, und somit herrschen die Fische mit höchstem natürlichem Recht im Wasser und fressen die großen die kleinen« (TTP 16, 238). Die Natur, so Spinoza weiter, hat »ein höchstes Recht zu allem [. . . ], was in ihrer Macht steht, d. h. daß das Recht der Natur sich soweit erstreckt, wie ihre Macht sich erstreckt« (TTP 16, 238). 81 Vgl. zur Bestimmung der multitudo auch die Diskussion bei Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, a. a. O., S. 350 ff., sowie Gunnar Hindrichs (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006. Zur Begriffsgeschichte und den theoriegeschichtlichen Bezügen des Begriffs der Menge vgl. Manfred Lauermann, »Why not: multitude?«, in: Felicitas Englisch / Manfred Lauermann / Maria-Brigitta Schröder (Hg.), Randfiguren. Spinoza-Interpretationen. Festgabe für Manfred Walther, Hannover 2005, S. 185–210.

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dieser Begründung eines Rechts der Natur aus der Macht der Natur, dass das Recht eines jeden Individuums ein Teil der Natur ist, wie das Individuum selbst ein Teil der Natur und als solches mit allen anderen Individuen verbunden ist. 82 Für Balibar ergibt sich daraus, dass Recht genauso zu bemessen ist wie Individualität, da Individualität ein Grad bzw., der lateinischen Bedeutung des Modusbegriffs gemäß, ein Maß der Natur ist. 83 Diese Ableitung des Rechts aus der Macht der Natur bedeutet für Spinoza allerdings nicht, dass ein Individuum umso mehr Recht hat, je singulärer es wird, denn paradoxerweise ist die Steigerung der Singularität der Individuen eine Steigerung ihrer transindividuellen Verbindungen und erst die kausale Erkenntnis dieser Verbindungen ist eine Steigerung von Macht. Für Spinoza gibt es ebenso wenig ein unbegrenztes Recht der Individuen, wie es eine unbegrenzte Macht der Individuen gibt, denn letztlich ist ein Individuum immer nur eine partiale Aktualisierung von Macht im Zusammenhang der Kräfte, von denen es umgeben ist. Unbegrenzte Macht ist nur in Gott, also in der Natur des Ganzen auszumachen und nicht unter den Individuen, d. h. weder die einfachen Individuen noch die vielfachen Individuen können unbegrenzte Macht haben, denn diese ist nur in der Unendlichkeit Gottes und der Natur auszumachen. Spinozas Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Recht muss immer vor dem Hintergrund dieses metaphysischen Gesamtzusammenhangs gesehen werden, der deutlich macht, dass einfache und vielfache Individuen in ihrer Macht und in ihrem Recht nur modale Aktualisierungen der Natur sind. 84 Balibar trägt dem Rechnung und sucht bei Spinoza ein Konzept von Sozialität auszumachen, das mit seinem Begriff der Natur zu vereinbaren ist, denn »the way in which a philosophical system construes the concept of nature is simply a way of anticipating [. . . ] the way in which it will determine the concepts of human individuality and community«. 85 Das klassische Dreierschema von Monarchie, Aristokratie und Demokratie nutzt Spinoza, um die natürlichen Möglichkeiten auszuloten bzw. die der menschlichen Natur und ihren transindividuellen Grundlagen am ehesten entVgl. dazu Balibars Kritik der Idee eines theoretischen Rechts, das allen Individuen qua Geburt zusteht, unabhängig von ihrer Fähigkeit, es durch ihre Macht zu aktualisieren. Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 59 ff. 83 Vgl. die Bemerkungen zur Denotation des lateinischen Begriffs modus in Abschnitt I.7 des ersten Teils. 84 Und das heißt, dass dieses Verhältnis von Macht und Recht nicht nur in einer Perspektive gesehen werden sollte, die auf seine normativen Implikationen gerichtet ist, wie beispielsweise auf den antagonistischen Charakter von Rechtsansprüchen unter verschiedenen Individuen. Vgl. zur Diskussion der normativen Dimensionen dieses Zusammenhangs von Macht und Recht auch: Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 60 f. 85 Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 77 f. 82

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sprechende Form des Staates zu erkennen. »Welche Form für einen jeden Staat die beste ist, ist leicht aus dem Zweck des staatlichen Zustandes zu erkennen; dieser Zweck ist nichts anderes als Frieden und Sicherheit des Lebens« (TP 5:2). Im Zuge der Herleitung der Politik »aus der Verfaßtheit der menschlichen Natur« (TP 1:4) müssen die Verhältnisse bestimmt werden, die sich zwischen den Körpern und ihren Affektionen ergeben. So werden die einfachen und die vielfachen Individuen mit der Macht der Natur verbunden und Spinoza kann die »Macht der Menge« (potentia multitudinis) (TP 2:17) für seine politiktheoretischen Überlegungen nutzbar machen. Von den transindividuellen Grundlagen ausgehend, laufen Spinozas Vorstellungen von der Entstehung und der Erhaltung eines staatlichen Gefüges auf die Demokratie als natürlichste Staatsform hinaus, in der die Individuen Frieden und Sicherheit finden, einander nützlich sein können und sich in ihrer Nützlichkeit füreinander als einfache wie als vielfache Individuen vervollkommnen können. 86 Nun ist es aber keineswegs so, dass Spinozas Begriff der multitudo mit einer durchweg positiven Charakterisierung dieser transindividuellen Gemeinschaftsgebilde und ihrer Potentialität verbunden ist. In der Tradition von Machiavelli und Hobbes werden auch ihre negativen Eigenschaften diskutiert, d. h. ihre nur partiale Erkenntnis und ihr Verharren in der imaginatio, ihre gesteigerte Anfälligkeit für und ihre Verführbarkeit durch Affektionen. 87 Spinozas Theorie der Menge lotet also die Potentiale transindividueller Vergemeinschaftung aus. Sie bietet aber zugleich eine realistische Einschätzung der Probleme und der Gefahren, die von einer grundsätzlich unterstellten Proportionalität von Macht und Recht und einer Macht der Menge ausgehen, in der die Autonomie und die Rationalität des Einzelnen nivelliert wird. Gerade vor diesem Hintergrund stellt Balibar das Verhältnis von Staat und Individuum als ein Verhältnis der Reziprozität dar, in dem beide Seiten zu ihrer Selbsterhaltung aufeinander angewiesen sind: »[I]n order to preserve their own lives, individuals need each other; thus they must be led, by the pursuit of their own interests, 86 Die Konzeption von Demokratie, die sich aus dieser Bestimmung der Macht der Menge herleiten lässt, ist aber problematisch, weil sie die Demokratie als einen Existenzmodus der Menge ausweist, der bereits eine innere Balance gefunden hat und als eine einstimmige Form auftritt. Gegen ein solchermaßen statisches Verständnis von Demokratie betont Balibar, dass die Balance einer Demokratie nicht statisch sein darf, sondern als eine dynamische Praxis der transindividuellen Macht der Menge immer wieder hergestellt werden muss. Vgl. dazu Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 70 f. 87 Eine solchermaßen problemorientierte Interpretation der multitude findet sich auch bei Yovel, der Spinozas Theorie der Menge vor ihrem marranischen Hintergrund interpretiert und den Umgang mit der Menge, und ihrem Verharren auf der Stufe der imaginatio, zu einem philosophischen Problem allererster Güte erklärt. Yirmiyahu Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 2012, S. 186 ff.

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to will the preservation of the state [. . . ]. In return, in order to preserve itself the State must seek to preserve the lives of the individuals, by guaranteeing them the security that is the fundamental condition of civic obedience.« 88 Individuum und Staat sind also Abstraktionen die erst in ihrer Relation eine Bedeutung gewinnen. 89 Für Balibar ist klar, dass alle zur Multitudo gehören, die Herrscher und die Beherrschten, die Souveräne und die Bürger. Entscheidend ist die Frage, ob die Menge in der Lage ist, sich selbst zu regieren, sich selbst nützlich zu sein und ihre Macht zu erhöhen. Es ist also deutlich geworden, dass die Annahme atomistisch isolierter Individuen keine Erklärung politischer Verhältnisse erlaubt und dass die Frage nach der Macht und dem Recht vielfacher Individuen eine Bestimmung von Transindividualität herausfordert. Die vorliegende Bestimmung von Transindividualität nimmt ihren Ausgang von den immanenten ontologischen Grundlagen. Und so wird deutlich, dass es für Spinoza kein isoliertes Individuum als Ausgangspunkt von Erkenntnis- und Handlungszusammenhängen gibt, und, dass es keine Natur des menschlichen Individuums vor seiner transindividuellen Natur gibt. So wird auch verständlich, warum das aus der Macht der Natur hergeleitete Recht der Natur eben nur auf je schon aktualisierte Individuen bezogen ist. Individuen werden nämlich in ihrer Macht und ihrem Recht erst durch das transindividuelle Affektionsgeschehen, in das sie eingelassen sind, konstituiert. Die Rede von der multitudo ist also nicht etwa nur eine nominale Vereinheitlichung unterschiedlicher Individuen, sondern sie bezeichnet, wie Balibar es formuliert, eine »historical and political reality of the mass and of crowds in movement«. 90

Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 65 f. Auf diesen Aspekt hat bereits Norbert Elias hingewiesen, der in seiner Untersuchung zur Gesellschaft der Individuen festhält, dass die Gesellschaft und ihre Individuen nicht als ein Gegensatzpaar zu behandeln sind, und, dass das Verhältnis der Vielheit zu dem einzelnen Menschen, den wir »Individuum« nennen, und des Einzelnen zu der Vielheit der Menschen, die wir »Gesellschaft« nennen, keineswegs klar ist. Norber Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1991 90 Étienne Balibar, »Spinoza, the Anti Orwell«, in: ders., Masses, Classes, Ideas: Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx, a. a. O., S. 16. Mit dieser Bestimmung der Macht der Menge ist freilich noch nichts über die politisch möglichen Ausprägungen z. B. in demokratischer oder auch faschistischer Richtung gesagt. Wir haben es bis jetzt lediglich mit einer theoretisch gerahmten Rekonstruktion der Macht der Menge zu tun, die an dieser Stelle nicht in ihren möglichen politischen Erscheinungsformen und Ausprägungen erfasst, sondern erst in ihrer allgemeinen Funktionsweise erklärbar gemacht wird. 88

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Transindividualität und affektive Kommunikation

Es ist deutlich geworden, dass Balibar sich in seiner Konzeption von Transindividualität nicht auf die Ebene historischer und politischer Realitäten beschränkt, sondern immer auch den metaphysischen und den ethischen Hintergrund der Ethica einbezieht. Dabei zeigt sich auch, dass seine Vorstellung eines gemeinsamen Rechts, das sich aus der gemeinsamen Macht der Individuen ergibt, nicht auf eine vorausgesetzte politische Vernunft der Individuen aufbaut, sondern von ihrer affektiven und imaginären Verfasstheit ausgeht, wie sie in den Grundlagen der Ethica erklärt wird. Im Unterschied zur umfassenden Betonung der Bedeutung der Affektionen in der vorliegenden Untersuchung spielen diese für Balibar erst auf der realen Ebene der multitudo eine Rolle. 91 Sie werden weder dezidiert ontologisch noch erkenntnistheoretisch ausgewiesen, und erst mit der Bestimmung realer transindividueller Vergemeinschaftung geht es dann im engeren Sinne um Affektionen, da Vergemeinschaftungsprozesse schließlich über die Steigerung und die Minderung der Wirkungsmacht des Individuums durch affektiv und imaginativ geprägte Kommunikation mit anderen Individuen verlaufen. Dabei ist Kommunikation, wie Balibar sie einführt, als eine politische Praxis zu verstehen, denn Kommunikation zeigt sich bei Spinoza als eine Beziehung zwischen Wissen und Unwissenheit bzw. zwischen Wissen und Aberglaube oder ideologischen Positionen (wie Spinoza durch die eigene Exkommunikation erfahren musste). Und da Wissen auch eine Form der Macht ist, ist der Kampf um Wissen eine politische Praxis und die Freiheit der Kommunikation eine Grundlage der Demokratie. 92 Aus diesen Grundlagen, die Balibar insgesamt als eine politische Anthropologie kennzeichnet, schließt er auf eine Fundierung von Gesellschaft in den Leidenschaften bzw. in den affektiv und imaginativ geprägten Prozessen transindividueller Vergemeinschaftung. »What Spinoza demonstrates is that there is another form of the genesis (or ›production‹) of society, which springs 91 Vgl. Balibars Ausführungen in Spinoza: From Individuality to Transindividuality, wo die Konzeption von Transindividualität zwar aus der gesamten Philosophie Spinozas hergeleitet, aber nicht über Affektionen und Affekte gesprochen wird. Vgl. Étienne Balibar, Spinoza: From Individuality to Transindividuality, a. a. O., S. 25 ff. 92 Vgl. zum Begriff der Kommunikation in Balibars Kozeption einer politischen Anthropologie: Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 95 ff. Die weitere Bestimmung des Zusammenhangs von Metaphysik und Politik als eine »highly original philosophy of communication« muss hier leider zurückgestellt werden. Eine systematische Durcharbeitung der Metaphysik und der Politik unter dem Aspekt der Kommunikation dürfte aber in beide Richtungen interessant sein, da sich die Modalitäten der Kommunikation letztlich als Modalitäten der Existenz bestimmen lassen würden, wie sich bereits in der Theorie der Gemeinbegriffe angedeutet hat. Vgl. zu einer spinozistischen Philosophie der Kommunikation: Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 99 ff.

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Theorie der Individuation und der Individualität

from the passions themselves and which is worked out in them and through them, even if, in this case, the result is not necessarily a harmonious society.« 93 Es geht hier also um einen Prozess der Zirkulation von Affekten und Ideen, durch den soziale Gebilde integriert, und das heißt durch den viele Individuen zusammengehalten werden, ohne essentialistisch auf ein gemeinsames Wesen zurückgeführt zu werden. »What is there that is common to the two ideas of sociability – the natural and the institutional – beyond any differences of anthropological orientation? Perhaps it is the assumption that sociability is a bond which ›unites‹ men, expressing their reciprocal need or their ›friendship‹ [. . . ] and that society is the order through which they live out this bond made good.« 94 Balibar spitzt die Grundlagen, die er bei Spinoza findet, zu einer Theorie der Sozialität zu, die auf der Imitationsfunktion der Affekte aufbaut, wie wir sie oben bereits dargestellt haben (zweiter Teil I.3). »Our ›fellow man‹ – that other individual with whom we can identify, towards whom we have ›altruistic‹ fellings, whom religion refers to as our ›neighbour‹ and politics as our ›fellow citizen‹ – does not exist as such naturally, in the sense of a being who is simply there, who is given. Rather, he is constituted by a process of imaginary identification, which Spinoza calls the ›imitation of the affects‹ [. . . ].« 95 Die Bestimmung von Affektionsverhältnissen, die die Grundlage der Sozialität bilden, verläuft mit den Affektionen auch über den Körper, der von der Interaktion mit anderen Körpern her bestimmt ist. Von ihren Einwirkungen ausgehend sind die Schwankungen der Leidenschaften und der Imaginationen zu verstehen und können als Steigerung oder Minderung der Wirkungsmacht erkennbar werden. Soziale Gebilde zeichnen sich nämlich auch durch affektive und imaginäre Begegnungen aus, die das Individuum nie vollständig adäquat erkennen kann und durch die auch widerstrebende Affektionen entstehen. Auch die Verkettung (concatenatio) von Affektionen wird hervorgehoben, um zu zeigen, dass beispielsweise Liebe und Hass keine Beziehungen der Anerkennung zwischen Individuen sind. Sie sind vielmher Verkettungen von Affektionen, die immer partial sind und durch Wiederholungen von Begegnungen wie auch durch Worte und Bilder verstärkt werden und Individuen in ihren Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 85. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Moira Gatens and Genevieve Lloyd zu Balibar und zur Rolle einzelner Emotionen in der Bildung der multitudo. Moira Gatens / Genevieve Lloyd, Collective Imaginings. Spinoza, Past and Present, New York 1999, S. 65. 94 Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 77 f. Vgl. zur Konzeption eines sozialen Bandes mit Spinoza auch: Kerstin Andermann, »Das Band der Affekte. Relationalität in Spinozas immanenter Ontologie der Menge«, in: Thomas Bedorf / Steffen Herrmann (Hg.), Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 311–332. 95 Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 87. 93

Exkurs: Individualität als Transindividualität (Balibar)

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Imaginationen trennen und vereinen können. Die ontologische Bedeutung der Transindividualität zeigt sich auch darin, dass diese Verkettungen von Affektionen als transversale Beziehungen bestimmt werden können, die von einem Individuum zum nächsten und gewissermaßen durch die Individuen hindurchgehen. Diese Beziehungen sind keineswegs immer Elemente des Bewusstseins und gehen nicht aus diesem hervor, sondern sie produzieren vielmehr Bewusstseinseffekte, die immer nur ein inadäquates Wissen unserer körperlichen Multiplizität sind und nicht von äußeren Affektionen zu trennen sind. 96 Balibar radikalisiert seine Betonung einer relationalen Ontologie bei Spinoza in ihrer Übertragung auf die Verkettung von Affektionen und Affekten und identifiziert das »affective network cutting across each individual« als das eigentliche Objekt der Philosophie Spinozas. 97 »Each man, each individual, as such singular, is always both similar and dissimilar to himself and to others, and his subjective isolation is only a fiction.« 98 Für ihn ist klar, dass der Gegenstand von Spinozas Analysen letztlich das System von Relationen ist, die das Individuum und die Menge konstituieren. Wir konnten dieses System bis hierher als ein System ausweisen, in dem Affekte als Affektionen verlaufen und Individuen durch Affektionen kommunizieren. In dieser relationalen oder transversalen Verkettung von Affektionen wird auch deutlich, dass Spinozas Denken ein Denken der Entunterwerfung ist,und zwar insofern, als jedes Individuum ein notwendiger Teil des Affektionsgeschehens ist und es in seiner natürlichen Macht steht, Affektionszusammenhänge zu Erkenntniszusammenhängen zu machen und erkennend für sich zu nutzen. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der Macht einer Umwertung unterzogen werden, denn als ein wesentliches Element immanenter Individuation ist Macht nicht ausschließlich in negativen Modellen der Ausschließung, der Repression, der Unterteilung, Reglementierung oder Unterwerfung zu verhandeln, sondern sollte ebenso in Modellen der Konstitution, der Erhaltung und der Entwicklung verstanden werden. Um die Macht der Affekte in immanenten Individuationsprozessen zu verstehen und Macht in Affektionszusammenhängen sichtbar zu machen, sollen im Folgenden abschließend die beiden Grundbegriffe von Macht in Spinozas Theorie immanenter Individuation dargestellt werden.

Vgl. dazu: Étienne Balibar, »Spinoza, the Anti Orwell«. in: ders., Masses, Classes, Ideas: Studies on Politics and Philosophy Before and After Marx. A. a. O., S. 26. 97 Vgl. ebd., S. 28. 98 Vgl. ebd., S. 26. 96

II Theorie der Macht

II.1 Macht als Individuationsprinzip

Bereits im ersten Teil zur Ontologie ist deutlich geworden, dass Spinozas Theorie immanenter Individuation aus dem selbstursächlichen Gesamtzusammenhang einer unendlichen Natur herzuleiten ist und als eine Bestimmung des Verhältnisses von Einzelnem und Ganzem verstanden werden muss. Dabei vollzieht sich die Individuation der endlichen Individuen entlang der Affektionen, denen diese ausgesetzt sind, und von diesen Affektionen hängt die Macht eines jeden Individuums ab, sich selbst als Teil übergeordneter Individuen und letztlich als Teil der gesamten Natur (facies totius universi) zu erkennen. Macht ist für Spinoza das Element, durch das Individuen überhaupt existieren, und sie ist, wie wir gleich sehen werden, die dynamische Essenz eines jeden Individuums, die Essenz also, durch die die Selbsterhaltung des Individuums im affektiven Gesamtzusammenhang der Natur möglich wird. 99 Wir haben es hier mit einem immanenten Begriff von Macht zu tun und die Voraussetzung der Immanenz der Macht hat erheblichen Einfluss auf die Frage, wie Individuation sich vollzieht und wie menschliche Individuen sich bilden und erhalten. 100 Von ihrer immanenten Anlage ausgehend wird deutlich, dass Auf der Grundlage von Jonathan Bennetts feldmetaphysischer Interpretation bestimmt Valtteri Viljanen das Verhältnis von Physik und Metaphysik der Individuation und nimmt dabei die Macht und die Ontologie der Macht zum Ausgangspunkt der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Selbsterhaltung des Individuums. Er argumentiert: »that when interpreted using power as the key concept, Spinoza’s theory of extended substance and individuality appears not only quite coherent and intelligible, but also much more exciting than often has been thought; indeed, keeping in view how important the idea of describing human existence in dynamic terms is for our philosophical heritage (one must only consider such thinkers as Leibniz, Schopenhauer, and Nietzsche), these aspects of Spinozism merit our serious attention«. Valtteri Viljanen, »Field Metaphysics. Power and Individuation in Spinoza«, in: Canadian Journal of Philosophy, 37/3 (2007), S. 393–418, hier S. 393 f. Viljanen betont die Dynamisierung der Substanz sehr nachdrücklich und bestimmt das gesamte ethische Projekt Spinozas als »inherently dynamistic«, doch im Unterschied zur vorliegenden Untersuchung berücksichtigt er die konstitutive Rolle der Affektionen, die den Körpern in ihren Verhältnissen und Beziehungen permanent widerfahren und aus denen die Ideen erst entstehen, überhaupt nicht. 100 Martin Saar hat Spinozas Theorie der Macht von der Immanenz der Macht ausgehend interpretiert und ebenfalls als eine Theorie immanenter Konstitutionsprozesse ausgewiesen. Er hebt dabei allerdings nicht auf die ontologische Operation der Affektion ab, sondern leitet den Konstitutionsvorgang direkt aus dem Prinzip der Macht her. »Im allerweitesten, kategorialen Sinn, in dem man ›Macht‹ als Namen für dynamische Beziehungen zwischen Elementen und für Wirkungs- und 99

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Theorie der Macht

Macht ein Potential zur Realisierung von Möglichkeiten ist, das eng mit der Handlungsfähigkeit des Individuums und mit dessen Fähigkeit verknüpft ist, sich im Gesamtzusammenhang der Natur zu bewegen und seine Freiheit in einer affektiven Ökonomie zu realisieren. 101 Es geht nun abschließend also um Spinozas Konzeption von Macht als einem immanenten Prinzip der Individuation. Diese Macht wird im vorliegenden Zusammenhang zuletzt ins Bild gerückt, weil sie auf das Affektionsgeschehen, wie wir es in seiner Relationalität dargestellt haben, aufbaut und erst aus diesem hervorgeht. Macht ist an die funktionale Operationsweise von Affektionen geknüpft und lässt sich von hier aus als eine Bedingung der Individuation und als eine Bedingung der Selbsterhaltung des Individuums ausweisen. Wie auf der Ebene der Ontologie bereits deutlich geworden ist, leitet Spinoza die Einzeldinge nicht aus ihrer Substanz bzw. ihrer Essenz her, sondern aus den relationalen Verhältnissen immanenter Kausalität, durch die sie umgeben sind und durch die sie affiziert werden. Der Vorgang der Affektion ist ein funktionales Grundprinzip des immanenten Seinszusammenhangs und wir konnten ihn dort ausweisen, wo Körper und ihre Ideen in Verhältnissen von Ruhe und Bewegung aufeinandertreffen. Der Prozess immanenter Individuation wurde also bis hierher von den Affektionen und den daraus entstehenden Affekten her bestimmt, die ihren Ausgangspunkt in den dynamischen Verhältnissen finden, die sich zwischen Körpern und Ideen ereignen. Ohne den Aspekt der Macht bleibt dieses Bild immanenter Individuation jedoch unvollständig, denn durch Macht können Affektionen paradoxerweise überhaupt erst gesteuert werden. Affektionen erzeugen also Macht und werden umgekehrt durch Macht erzeugt. Spinozas an Descartes angelehnte physikalische Theorie der Körper, anhand derer wir die Funktionsweise des Affektionszusammenhangs auf der Ebene von Körpern in Ruhe und Bewegung Potentialitätsverhältnisse verstehen kann, ist daher Spinozas gesamte Philosophie ein Machtdenken, das heißt ein Explizieren von Wirkungen und ein Erläutern von Kräften, die einzelnen Elementen als Vermögen einer Wirkung auf andere Elemente zugesprochen werden.« Vgl. Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, a. a. O., S. 134. Mit dieser Bestimmung von Macht wird deutlich, dass die Wirkung von Elementen aufeinander nicht die Macht selbst sein kann und dass Macht nicht der universelle Name für dynamische Beziehungen zwischen Elementen sein kann. Macht geht vielmehr aus diesen Beziehungen, also aus Affektionsverhältnissen hervor und baut auf Affektionsverhältnisse auf, aber sie ist nicht selbst dieses Verhältnis. Wie sich zeigt, ist nicht Macht der Grundbegriff einer Theorie immanenter Individuation, sondern der Begriff der Affektion und des Affekts, die den grundlegend konstitutiven Vorgang des Affizierens und des Affiziertwerdens bezeichnen. 101 Vgl. dazu auch Susan James, die Freiheit und Unterwerfung im weiteren Rahmen der politischen Theorie Spinozas diskutiert und dabei von der Affektenlehre ausgeht. Susan James, »Freedom, Slavery and the Passions«, in: Olli Koistinen (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 223–241.

Macht als Individuationsprinzip

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erklärt haben, ist, so wie wir sie im zweiten Teil der Ethica finden, lediglich ein Einschub, der uns die Dynamik zwischen Körpern in Verhältnissen von Ruhe und Bewegung anschaulich machen soll. Für die Erklärung immanenter Individuation durch die Macht der Affekte muss dieser physikalische Exkurs in die Metaphysik zurückgeführt werden, die wir mit Spinozas ontologischer Bestimmung eines selbstursächlichen Seinszusammenhangs oben im ersten Teil dargestellt haben. 102 Das bedeutet, dass die Bestimmung von Individuen als Modi und damit als Affektionen von Substanz, die Spinoza bereits in der fünften Definition des ersten Teils formuliert, um die Dimension der Macht erweitert werden muss, wenn die Dynamik der Individuation auch als eine Kraft des lebendigen menschlichen Individuums sichtbar gemacht werden soll, sich selbst zu erhalten und sich in je übergeordneten Zusammenhängen frei zu entfalten. Macht soll im Folgenden in den zwei bereits bekannten Hinsichten erkennbar gemacht werden, nämlich einerseits als ein ontologisches Grundprinzip des Gesamtzusammenhangs der Natur und andererseits als ein pragmatisches Grundprinzip der Interaktion von Individuen in sozialen und politischen Machtverhältnissen. Im ersten Fall ist Macht mit dem Begriff der potentia auszuweisen und im zweiten Fall ist dieselbe Macht mit dem Begriff der potestas zu bestimmen. 103 Macht stellt sich von hier aus als eine Kraft dar, die sich aus den affektiven Interaktionen von Individuen ergibt und durch die sich die Singularität des Individuums als seine spezifisch aktive wie passive Affektfähigkeit ausbildet. Wir können Macht also vorläufig als die Fähigkeit bestimmen, sich in reversibler Umkehrung von Aktivität und Passivität im kausalen Funktionszusammenhang der Affektionen zu erkennen, sich in diesem Zusammenhang zu bewegen und sich zu einem singulären und zumindest graduell freien Individuum zu machen. In diesem Sinne soll Macht abschließend als eine zentrale Dimension immanenter Individuation dargestellt werden, die wie die Affekte, die Körper und die Individuen ebenfalls in einer ontologischen wie in einer pragmatischen Hinsicht erläutert werden kann.

102 Vgl. die Abschnitte I.1 bis I.8 des ersten Teils. Und zum Verhältnis von Metaphysik und Physik als zwei verschiedenen Linien der Organisation der Ethica vgl. Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Cambridge 1984, Kapitel 4 und 5. 103 Zum Verhältnis von potentia und potestas siehe auch: Thomas E. Wartenberg, The Forms of Power. From Domination to Transformation, Philadelphia 1990, S. 17 ff.

294

Theorie der Macht

II.2 Macht in ontologischer Hinsicht (potentia)

Der Begriff der Macht gehört seit Aristoteles' Konzeption der dynamis zu den Grundbegriffen der Metaphysik. Für Aristoteles gibt es eine kinetisch-modale Dimension der dynamis als Prinzip des Übergangs zwischen Entitäten und des Umschlagens der Zuständlichkeit zwischen Aktivität und Passivität in einer Einheit. Und es gibt eine ontologische Dimension der dynamis, durch die das Seiende in seiner Möglichkeit erfasst wird, sich als eine bestimmte Wirklichkeit zu realisieren. 104 Damit ist Macht einmal als Wirklichkeit und einmal als Möglichkeit bestimmt und ihr ist eine Differenz eingeschrieben, durch die sie zwischen Aktivität und Passivität changiert und sich in ihrem reversiblen Charakter zeigt. 105 Dynamis ist also zunächst nicht von der Relation verschiedener Einheiten her zu verstehen, sondern als ein Wechsel zweier Zuständlichkeiten in einer Einheit. Sie ist ein Prinzip der Bewegung und der Veränderung und wird, wie Aristoteles betont, in vielfacher Bedeutung ausgesagt. 106 Dieser metaphysische Vermögensbegriff von Macht verbindet sich im Mittelalter mit Fragen der Allmacht Gottes und der Politik und geht über in die Unterscheidung von potentia activa und potentia passiva, aus der wiederum unsere heutige Auffassung von Macht im Gegensatz zu Ohnmacht und ihre Bestimmung als eine Kausalbegrifflichkeit der Wirkungen herzuleiten ist. Macht ist also historisch als ein Vermögen und als Möglichkeit zu verstehen und in ihrer Auslegung als potentia wird ein allgemeiner und übergreifender Seinszusammenhang von Macht deutlich, der sich wie eine relationale Verkettung von Machtwirkungen beschreiben lässt. Die weite Bestimmung von Macht im Ausgang von dynamis und potentia weist diese als ein Prinzip der Bewegung und als ein Vermögen aus und damit wird Macht zu einer immanenten Integrationskraft der Individuen und ihrer transindividuellen Zusammenhänge. Spinoza spricht von Macht und von dem, was in unserer Macht steht, zuerst im Kurzen Traktat über Gott, den Menschen und dessen Glück, der ca. 1660 in Vorbereitung der Ethica entstanden und durch eine niederländische Übersetzung erhalten ist. Er diskutiert dort die Unterscheidung von Wille und Begierde und weist den Willen als »die Macht zu bejahen oder zu verneinen« (KV 2:16) Aristoteles, Metaphysik. Buch V und Buch IX, Hamburg 1989. Eine kenntnisreiche Darstellung der historischen und der systematischen Dimensionen des Machtbegriffs bietet Kurt Röttgers. Im Ausgang von der aristotelischen dynamis-Konzeption wird Macht als eine modale Möglichkeit begriffen, die allerdings nicht einfach wie eine bestimmte Wirklichkeit festgestellt werden kann und schon gar nicht notwendig an substantialistisch geprägte Konzeptionen von Individualität gebunden ist. Vgl. Kurt Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg / München 1990, S. 50–85. 106 Vgl. hier insbesondere: Aristoteles, Metaphysik. Buch V, Hamburg 1989, S. 213 ff. (1019a und b). 104

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aus. Als ein allgemeines Seinsprinzip, das die Rede von einer Ontologie der Macht und ihre Darstellung als ein metaphysisches Prinzip rechtfertigt, wird der Charakter der Macht erst in der Ethica ausgearbeitet. Hier ist Macht zuerst die Macht Gottes und damit die Macht der Natur: »Denn, da imstande sein zu existieren, Macht (potentia) ist, folgt, daß je mehr Realität der Natur eines Dinges zukommt, es umso mehr Kraft (virium) aus sich heraus hat zu existieren. Mithin muß ein unbedingt unendliches Seiendes, also Gott, aus sich heraus eine unbedingt unendliche Macht (potentiam) haben zu existieren, und deshalb existiert er in unbedingter Weise« (E1p11s). Es fällt den Menschen schwer, so Spinoza, diese unbedingte Unabhängigkeit Gottes zu verstehen, »weil sie gewohnt sind, allein diejenigen Dinge zu betrachten, die aus äußeren Ursachen hervorgehen« (E1p11s). Gott erhält sich aber selbst, und das bedeutet aus eigener Macht, und wird von keiner äußeren Ursache hervorgebracht, was sich bereits aus Lehrsatz 6 des ersten Teils der Ethica ergibt, wo festgestellt wird, dass eine Substanz nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden kann. Gott und die Natur ergeben sich also aus einer ihnen immanenten Macht, d. h., für Spinoza ist Macht nicht nur eine Wirkung Gottes, sondern dessen Essenz: »Gottes Macht ist genau seine Essenz« (E1p34). Aus der folgenreichen Gleichsetzung von Gott und Natur in der Formel deus sive natura ergibt sich, dass Macht auch die Essenz der Natur, d. h. die Essenz eines jeden vielfachen, eines jeden einfachen und damit auch eines jeden menschlichen Individuums ist. Und da, so müssen wir der Argumentation weiter folgen, die Essenz (essentia) der Dinge ihre Existenz (existentia) ist, wie Spinoza in der ersten Definition der Ethica feststellt, können wir Macht als das essenzielle Grundprinzip eines jeden Individuums ausweisen, also als seine dynamisch-reversible Bewegung zwischen Aktivität und Passivität in den Affektionsverhältnissen, in denen es steht. Im Unterschied zur ganzen Natur also, die Ursache ihrer selbst (causa sui) ist und aus ihrer eigenen Macht entsteht, verdanken die einzelnen Dinge ihre Realität und ihre Vollkommenheit der Beschaffenheit ihrer äußeren Ursache, ganz gleich ob sie aus vielen Teilen oder aus wenigen Teilen bestehen. Die Wirklichkeit einzelner Dinge geht für Spinoza aus ihrer äußeren Ursache hervor, lediglich Gott, und das bedeutet lediglich die Substanz und die Natur als Ganzes sind Ursache ihrer selbst (causa sui) und gehen aus ihrer Essenz selbst hervor. Auch in Spinozas Ausführungen zum Beweis der Existenz Gottes wird deutlich, inwiefern Macht für ihn eine Aktivität der Existenz ist, denn wenn es außerhalb Gottes keine Ursachen gibt, die seine Existenz infrage stellen, muss Gott notwendigerweise existieren. Macht ist also für Spinoza die Macht, zu existieren, wie hier an der Darstellung der unendlichen Macht Gottes, die zugleich die Macht der Natur und damit auch die Macht der menschlichen

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Theorie der Macht

Individuen ist, sehr deutlich wird. Mit dieser Bestimmung der Macht Gottes als seiner Essenz (essentia) ist also zugleich seine Existenz (existentia) bestimmt und damit wird das naturphilosophische Prinzip der Macht in seiner dynamischen und lebendigen Erscheinungsform der Modi ausweisbar. In diesem metaphyischen Sinne ist Macht potentia, also die Fähigkeit, zu existieren und sich selbst zu erhalten. Als metaphysischer Begriff ist der Begriff der potentia aber nicht einfach auf das menschliche Individuum zu übertragen, sondern er muss, wie jetzt deutlich geworden ist, von seiner metaphyischen Dimension her und als ein Grundprinzip der Substanz ausgewiesen werden, das in den einzelnen Modi zum Ausdruck kommt. Spinoza erläutert diesen Grundzug seiner Machtkonzeption auch in der Naturrechtsbegründung des Tractatus politicus. Er kommt hier zu einer sehr deutlichen Bestimmung von Macht als einem metaphysischen Prinzip, das zum Recht der Natur und damit zum Recht des Individuums wird. 107 Daraus nun, »daß die Macht der natürlichen Dinge [rerum naturalium potentia], durch die sie existieren und tätig sind, Gottes Macht in ihrer vollen Gegenwärtigkeit ist, ist leicht ersichtlich, was das Recht der Natur ist« (TP 2:3 und vgl. auch TP 2:4). Die Macht der einzelnen Dinge in der Natur ist also immer Teil der Macht Gottes und so hat jedes Ding das Recht, das zu tun, was es gemäß seiner Natur als sein Recht verwirklichen kann. Auch im Tractatus theologicopoliticus bestimmt Spinoza die Macht der einzelnen Dinge als Macht Gottes: »Denn die Macht der Natur ist eben die Macht Gottes, der ein höchstes Recht über alle Dinge hat. Weil die gesamte Macht der ganzen Natur aber nichts ist als die Macht aller Individuen zusammen, so folgt, daß jedes Individuum ein höchstes Recht zu allem hat, was in seiner Macht steht, anders formuliert, daß das Recht eines jeden sich soweit erstreckt, wie seine bestimmte Macht sich erstreckt« (TTP 16). In der Gleichstellung von Gott und Natur wird deutlich, dass Spinoza Macht als ein immanentes Seinsprinzip versteht, das in jedem Ding als eine Potentialität erscheint, durch die sich die einzelnen Modi individuieren und erhalten. Durch die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata wird der Begriff der natura selbst im Sinne einer Aktivität und einer Potentialität gebraucht, die gleichzeitig hervorbringende Kraft und Effekt einer hervorbringenden Kraft ist. In dieser Unterscheidung ist der ZuEinen guten Überblick über die Aufnahme der politischen Philosophie Spinozas in der aktuellen Diskussion gibt Tilman Reitz, »Der Politische Traktat in der Diskussion der Gegenwart«, in: Wolfgang Bartuschat / Stephan Kirste / Manfred Walther (Hg.), Naturalismus und Demokratie. Spinozas »Politischer Traktat« im Kontext seines Systems, Tübingen 2014, S. 171–202. Das Verhältnis von Affekt und Politik ist Gegenstand des Beitrags von Pierre-François Moreau, »Affects et politique: une difficulté du spinozisme«, in: Fabienne Brugère / Pierre-François Moreau (Hg.), Spinoza et les affects, Paris 1998, S. 55–62. 107

Macht in ontologischer Hinsicht (potentia)

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sammenhang von Aktivität und Passivität bereits angelegt und in ihr wird vielleicht am ehesten Spinozas Vorstellung einer dynamischen Welt deutlich, deren plurale Ausdrucksformen aus der Potentialität der Natur, also aus der potentia hervorgehen. Die Macht der einzelnen Dinge hängt also mit der Macht der ganzen Natur zusammen, und dabei bestehen die Macht des Individuums und sein Weg zur Freiheit darin, sich durch die Erkenntnis der Affektionszusammenhänge, in denen es steht, aus dieser Natur herzuleiten. 108 Die Affektionen, die sich zwischen den Individuen ereignen, sind der Macht also vorgeordnet, denn als potentia ist Macht zwar wie ein allgemeines Seinsprinzip vorhanden, entzündet sich aber erst an Affektionen, die auf das Individuum einwirken, und geht aus Affektionsbeziehungen hervor. Und auch mit Blick auf die Macht und die Kraft einzelner bzw. vereinzelter Körper an sich selbst können wir die Affektion in Stellung bringen, denn sie ist nicht nur ein Vorgang zwischen verschiedenen Individuen, sondern kann sich auch als ein Vorgang der Autoaffektion zwischen Körper und Geist eines Individuums ereignen. 109 Ein menschliches Individuum untersteht also als Körper und als Geist äußeren Wirkungen und kann als Körper und als Geist Wirkungen auf sich selbst ausüben. Und proportional zu seiner Affektfähigkeit, also zur Fähigkeit des Individuums, mit Affektionen umzugehen und sich mit ihnen in Übereinstimmung zu bringen, wird die Macht des Individuums eben gesteigert oder geschwächt, gefördert oder gehemmt. Aus diesem Grund sind Individuen, die sich zu vielfachen Individuen verbinden, mächtiger als einfache Individuen, die ihre Macht und ihre Selbsterhaltung für sich allein durchzusetzen suchen.

Den Zusammenhang von Recht und Freiheit im Denken Spinozas untersucht Giuseppe D’Anna, »Freiheit und Recht bei Spinoza«, in: Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.), Freiheit als Rechtsbegriff, Berlin 2016, S. 191–200. Susan James befasst sich mit dem Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit in Spinozas politischer Theorie und geht dabei von der liberalistischen Frage aus, ob Menschen in Staaten freier sind, wenn sie gleicher behandelt werden. James erklärt, dass der Weg zur Freiheit für Spinoza nicht allein in der Übereinstimmung mit der Vernunft und der Behrerrschung der Affekte liegt, sondern auch eine Erkenntnis der Gleichheit der Menschen in der Natur voraussetzt. In dieser Argumentation wird der holistische Grundzug deutlich, durch den Macht und Freiheit des Individuums mit seiner rationalen Selbsterkenntnis im Gesamtzusammenhang der Natur verbunden werden und letztlich an eine Erkenntnis des Einzelnen im Ganzen gebunden sind. Vgl. Susan James, »Power and Difference: Spinoza’s Conception of Freedom«, in: The Journal of Political Philosophy, 4/3 (1996), S. 207–228. 109 Michael Della Rocca diskutiert mit Blick auf Descartes’ Darstellung der Verhältnisse von Körpern in den Prinzipien der Philosophie die Frage, ob und inwiefern Körpern eine Kraft oder eine Macht eigen ist, sich aus sich selbst heraus zu bewegen. Vgl. Michael Della Rocca, »If a Body Meet a Body. Descartes on Body-Body Causation«, in: ders., New Essays on the Rationalists, NewYork 1999, S. 48–81. 108

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Theorie der Macht

Macht liegt also als eine immanente Potentialität vor und kann mehr oder weniger genutzt werden. Die einzelnen Dinge sind jeweils Ausdruck ihrer Macht und es gibt keinen von dieser Macht unterscheidbaren Rest, aus dem sie hervorgehen würden. Macht haben heißt demnach, imstande sein, zu existieren, und je mehr Realität einem Ding zukommt, desto mehr Macht hat es zu existieren. »Aus der gegebenen Essenz eines jeden Dinges erfolgt notwendigerweise einiges [. . . ], und Dinge können nichts anderes als das, was aus ihrer bestimmten Natur notwendigerweise folgt [. . . ]; die Macht jedes Dinges, anders formuliert das Streben, mit dem es, entweder allein oder zusammen mit anderen, handelt oder zu handeln strebt, d. h. [. . . ] die Macht oder das Streben, mit dem es in seinem Sein zu verharren strebt, ist daher nichts anderes als die gegebene oder wirkliche Essenz ebendieses Dinges« (E3p7dem). Spinoza hebt also die Unterscheidung zwischen der Essenz und der Macht eines Dings auf und lässt keinen von dieser Macht unterscheidbaren Rest, aus dem sich die einzelnen Dinge herleiten würden. Die Essenz eines Dings ist also seine Existenz und damit seine Macht selbst. Der spekulative Charakter dieser Machtkonzeption erlaubt es, anders über Macht zu sprechen als in den überkommenen Modellen individualistischer, aktivistischer oder intentionalistischer Prägung. Mit Spinozas Begriff der Macht als potentia lässt sich immanente Individuation vielmehr anhand eines Grundgedankens verstehen, der es erlaubt, die gesamte Natur als einen dynamischen Wirkungszusammenhang und damit als einen Affektionszusammenhang von Individuen in den Blick zu nehmen, die sich aus ihrer Macht heraus zueinander verhalten. Macht ist dabei, das versteht sich nach dieser Darstellung von selbst, nicht nur die Macht des Staates und nicht die Macht der politischen Institutionen, sondern Macht ist, wie Spinoza auch im politischen Traktat festhält, eine immanente »Macht der natürlichen Dinge«, und aus dieser Macht der Natur folgt für ihn auch ein Recht der Natur, d. h. dass »ein jedes natürliche Ding von Natur aus so viel Recht hat, wie es Macht hat zu existieren und tätig zu sein« (TP 2:3). Es ist also die Macht der natürlichen Dinge und damit die Macht der Natur, von der aus Spinoza die Existenz der Einzeldinge begründet. Dabei ist diese Macht nicht nur eine Macht, die die Individuen hervorbringt, sondern eine Macht, die das dauernde Spiel ihrer ereignishaften gegenseitigen Affektion aufrechterhält und die Individuen in Beziehungen setzt, konstituiert und als Teile des Gesamtzusammenhangs der Natur immer wieder neu hervorbringt. 110 110 Balibar beschreibt diese reproduktive Struktur der Existenz wie folgt: »In each case, existence is considered not only as a form of natural production but as a process of reproduction for the elements of the individual and the power that binds them together, which enables them to stand up to the action of external forces [. . . ]«. Étienne Balibar, Spinoza and Politics, a. a. O., S. 65. Balibar verweist weiter darauf, dass diese reproduktive Struktur der Existenz in der Natur eine innere

Macht in ontologischer Hinsicht (potentia)

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potentia agendi

Es ist deutlich geworden, dass die metaphysische Konzeption der potentia im Hintergrund des Begriffs von Macht steht, der für den Prozess immanenter Individuation menschlicher Individuen ausschlaggebend ist. Dieser Begriff der potentia als eines allgemeinen Seinsprinzips muss nun auf die Wirkungsmacht des Individuums übertragen werden, um dessen individuelle Macht, zu handeln und etwas zu bewirken, und damit letztlich dessen individuelle Freiheitsgrade sichtbar zu machen. 111 Als nominales Wirkungsprinzip des metaphysischen Systems bleibt die potentia unspezifisch, als reale Wirkungsmacht aber ist sie die potentia agendi eines jeden Individuums und damit dessen individuelle Handlungsmacht. 112 Das allgemeine Prinzip der potentia als Macht Gottes und der Natur wird hier also zu einer in die menschlichen Individuen modifizierten potentia agendi, d. h., die unbedingte und unendliche Wirkungsmacht Gottes und der Natur wird zur bedingten und begrenzten Handlungsmacht des endlichen Individuums. 113 Auf die Ebene des ontologischen Modells von Substanz, Attributen und Modi übertragen bedeutet das, dass die selbstursächliche Wirkungsmacht der Substanz zur kausal bedingten Handlungsmacht der Modi wird. Der Begriff der potentia agendi wurde aber auch schon im obigen Abschnitt zur Affektfähigkeit erwähnt, wo wir die Affektionen mit Bezug auf die dritte Notwendigkeit aufweist, die jedoch nicht gegen die Gesetze der Natur zu setzen ist, sondern Teil der Natur ist. In Spinozas bekannter Betonung, dass der Mensch in der Natur nicht wie ein Staat im Staat zu verstehen sei (vgl. E3praef), kommt diese notwendige Einlassung des Individuums in die Macht der Natur für Balibar zum Ausdruck. 111 Vgl. zur Lehre von Macht und Handlung als Möglichkeit und Wirklichkeit in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption Kurt Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, a. a. O., S. 70 ff. 112 Wie wir in der Diskussion der potentia agendi im Kontext der Affektfähigkeit als Handlungsfähigkeit bereits festgehalten haben, übersetzt Bartuschat agendi potentia mit Wirkungsmacht, obwohl die Dimension des Handelns, also das agito wie auch das ago, im Begriff der potentia agendi deutlich auszumachen sind. Ob hier besser von einer allgemeinen Wirkungsmacht oder von einer individuellen Handlungsmacht die Rede sein sollte, hängt davon ab, ob die Diskussion der Macht der Affekte eher in einer ontologischen Wendung oder eher in einer pragmatischen Wendung stattfindet. Da es bei Spinoza um beide Perspektiven geht, ist es zumindest wichtig, die Unterscheidung von Wirkungsmacht und Handlungsmacht erkennbar und deutlich zu machen. In Shirleys englischer Übersetzung von E3d3 ist die Rede von »the body’s power of activity«, was mir sehr vorteilhaft erscheint, da Körper nicht notwendig menschliche Handlungssubjekte sind und die ontologische Offenheit einer allgemeinen Wirkungsmacht hiermit ebenso benannt ist wie die Wirkungsmacht eines menschlichen Individuums. 113 Vgl. zur potentia agendi als Handlungsmacht auch den Beitrag von Achim Engstler, »Spinozas Begriff des Affekts«, in. Achim Engstler / Robert Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext, a. a. O., S. 106–128.

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Definition des dritten Teils der Ethica als Steigerung oder Minderung von Handlungsmacht ausgewiesen haben. 114 Aus der grundsätzlichen Bedeutung der Affektionen des Körpers und des Geistes ergeben sich also die Hemmung und die Förderung der Wirkungsmacht, die auf der Ebene der Modi die je eigene Handlungsmacht des Individuums ausmachen. 115 Spinozas Konzeption der Affektfähigkeit dreht sich letztlich um die Frage, wie ein endlicher Modus, also wie das menschliche Individuum sich in möglichst hohem Maße zur Ursache dessen machen kann, was ihn affiziert. Und wie es sich damit zur Ursache seiner Affekte machen und von einer partialen Ursache zu einer möglichst umfänglichen Ursache derselben werden kann. Erst in diesem Machtgewinn liegt die Möglichkeit, selbstbestimmt und frei zu handeln, und erst mit der Steigerung der Affektfähigkeit ist auch eine Steigerung von Handlungsfähigkeit verbunden. 116 Die Affektfähigkeit ist selbstverständlich nicht allein eine Sache des Körpers, sondern auch der Geist strebt danach, »sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht [agendi potentiam] des Körpers vermehrt oder fördert« (E3p12 und auch E3p53), um aus positiven Affektionen und Affekten, also letztlich aus dem Primäraffekt der Freude (laetitia) heraus zu handeln, der, wie wir gesehen haben, allen anderen produktiven Affekten zugrunde liegt. 117 Die Funktionsweise dieser individuellen Macht als potentia agendi wird aber auch deutlich, wenn man sich ihre Minderung oder ihren Verlust beispielsweise im Falle von Angst, Trauer oder Melancholie vor Augen führt, die sich gleichermaßen durch eine handlungslähmende Tendenz und ein Aufsich-zurückverwiesen-Sein des Individuums auszeichnen und den Machtdrang hemmen oder lähmen. Erst aus der potentia agendi, also aus der Macht des Individuums, zu handeln und etwas zu bewirken, ergibt sich die Kontinuität, in der es zur umgebenden Welt steht, denn Handlungen sind reale Akte, Zur Erinnerung führe ich diese Definition hier noch einmal an: »Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers (corporis agendi potentia) vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen« (E3d3). 115 Vgl. zur Frage der Handlung auch: Olli Koistinen, »Spinoza on Action«, in: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Spinoza’s Ethics, a. a. O., S. 167–187. 116 Vgl. dazu den Abschnitt I.6 des zweiten Teils. 117 Grundsätzlich dürfte klar geworden sein, dass die Vorstellung, aus positiven Affekten heraus handlungsfähig zu werden, ein Idealtypus der ethischen Handlungslehre ist, mit der wir es bei der Ethica als Ethik eben auch zu tun haben. Spinoza war sich darüber im Klaren, dass unter den Menschen häufig das Gegenteil der Fall ist und sie aus negativen Gefühlen handeln und mitunter in negativen Gefühlen verharren. Die besondere Wendung seiner Machttheorie liegt aber gerade darin, dass er jedem Individuum zutraut, seine negativen Gefühle durch die Erkenntnis zu erklären, zu verstehen und umzuwandeln und dadurch die eigene Macht zu fördern, statt in der eigenen Ohnmacht zu verharren. Vgl. dazu auch die kurzen Bemerkungen zum Ressentiment in Abschnitt I.5 des zweiten Teils. 114

Macht in ontologischer Hinsicht (potentia)

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die Möglichkeitsspielräume eröffnen und durch den Anschluss von weiteren Handlungen Kontinuität herstellen und sichern. 118 Wie Spinoza bereits in der siebten Definition zu Beginn der Ethica feststellt, ist nur das Ding »frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird« (E1d7). Freiheit ist also ein Handeln aus der eigenen Natur oder die Macht eines menschlichen Individuums, »etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann« (E4def8). 119 Durch die Bestimmung der Selbstursächlichkeit Gottes und der Natur, wie wir sie im ersten Teil mit dem causa-sui-Prinzip ausgeführt haben, liegt es auf der Hand, dass wir von einer unendlichen Handlungsmacht, also einer Allmacht (omnipotentia) nur im Falle Gottes und damit der Natur selbst sprechen können (vgl. E1p17schol). Für ein Einzelding ist es unmöglich, das, was es bewirkt, ausschließlich aus sich selbst zu bewirken. »Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil der Natur wäre und bloß solche Veränderungen erleiden könnte, die durch seine eigene Natur allein eingesehen werden können [. . . ]« (E4p4). Die potentia agendi eines menschlichen Individuums ergibt sich eben erst aus den relationalen Verhältnissen des Körpers und des Geistes und aus der Fähigkeit, die eigene Handlungsmacht in diesen Verhältnissen entstehen zu lassen und etwas aus sich selbst heraus zu bewirken. Mit der Bestimmung der potentia agendi als einer individuellen Handlungsmacht ist zu alldem auch eine Form der Verlebendigung des Individuums angesprochen, denn erst durch die Macht, aus sich selbst heraus zu handeln und etwas zu bewirken, werden Körper lebendig. Als potentia agendi ist Macht also die Wirkungsmacht bzw. – um es an dieser Stelle individualistischer zu bestimmen – die Handlungsmacht lebendiger Individuen, wie sie sich aus den Affektionen zwischen Körpern und Ideen ergibt und zur Grundlage lebendiger Selbsterfahrung wird. 120 Die individuelle Handlungsmacht ist gewissermaßen Kurt Röttgers bestimmt die iterative Struktur solcher Handlungskontinuitäten als eine Sicherung von Anschlusshandlungen und ihre iterative Steigerung als eine Steigerung von Handlungsmöglichkeiten, die sich dann z. B. in der Bildung von Institutionen »als relativ stabile Institutionalisierung von Arrangements von Handlungsmöglichkeiten« zeigen. Vgl. Kurt Röttgers, »Macht«, in: Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christoph Wild (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg / München 2011, S. 1480–1493. 119 Vgl. zur Tugend als Umsetzung von Macht in Wirkungen auch die Darstellung dieses ganzen Zusammenhangs, also die Darstellung von Macht als einer ontologischen Bestimmung eines jeden Seienden, bei Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, S. 1 ff., zur Macht als Tugend besonders S. 7 f. 120 Um diese Dimension von Lebendigkeit zu verstehen, durch die auch das Prinzip des conatus insgesamt in die Nähe vitalistischer Theorien der Selbsterhaltung gerückt wird, ist auch Jonas’ Darstellung einer Theorie des Organismus bei Spinoza interessant. Hans Jonas, »Spinoza and the 118

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Theorie der Macht

auch eine Haltung zum Leben, denn sie ergibt sich aus dessen Bejahung und dessen Verneinung und verleiht dem individuellen Leben seine bestimmte Form. Sie ist zugleich aber auch eine Existenzkraft, also eine Kraft des Existierens (existendi vim) (vgl. E3agdexpl) und eine Kraft, »mit der der Mensch im Existieren verharrt« (E4p3) und »im Existieren zu verharren« (E4p26dem) in der Lage ist.

II.3 Macht in pragmatischer Hinsicht (potestas)

In unmittelbarem Zusammenhang zum Begriff der potentia steht der Begriff der potestas, durch den die Rolle der Macht von ihrer metaphysischen auf eine pragmatische Bestimmung verengt werden kann, die die unmittelbare Interaktion von Individuen in geteilten Verhältnissen betrifft. 121 Spinoza verwendet die beiden Begriffe von Macht teilweise synonym, obwohl nach den bisherigen Ausführungen bereits festgehalten werden kann, dass Macht als potentia ihrer Erscheinungsform als potestas in gewisser Weise vorhergeht. Anders herum könnte man auch sagen, dass potestas aus potentia abgeleitet werden kann und Macht als potestas ein bestimmter Grad oder eine bestimmte Form der potentia ist. 122 Eine gleichsetzende Verwendung der beiden Begriffe findet sich unter anderem in der achten Definition des vierten Teils der Ethica, wo Macht (potentia) als Tugend bestimmt wird, weil sie die Essenz des Menschen ist, und es allein durch sie in seiner Gewalt (potestas) steht, etwas zu bewirken. 123 »Unter Tugend und Macht [potentiam] verstehe ich dasselbe; d. h. [. . . ] Tugend, bezogen auf Theory of Organism«, in: Marjorie Grene (Hg.), Spinoza. A Collection of Critical Essays, New York 1973, S. 265. Vgl. auch die Anmerkungen in I.4 des zweiten Teil und in II.2 des dritten Teils, sowie auch zu Dilthey in 1.8 des ersten Teils. Zum Begriff des Lebens bei Spinoza auch Silvain Zac, L’idée de la vie dans la philosophie de Spinoza, Paris 1963, sowie die Bemerkungen Martin Saars zu Spinozas Begriff des Lebens und zur wissenschaftsgeschichtlichen und politischen Entwicklung dieses Schlüsselbegriffs der modernen Wissenschaften vom Menschen: Martin Saar, »Politik der Natur. Spinozas Begriff der Regierung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57/3 (2009), S. 433– 447, besonders S. 441 f. 121 Vgl. den Eintrag zu potestas in: Wiep van Bunge / Henri Krop / Piet Steenbakkers / Jeroen van de Ven (Hg.) The Bloomsbury Companion to Spinoza, a. a. O., S. 294 ff. Barbone gibt auch für die Begriffe potentia und potestas eine hilfreiche Auflistung von Textstellen. Vgl. Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 102 ff. 122 So fasst auch Barbone zusammen: »[P]otestas is a function of the potentia of the individual(s) involved.« Steven Barbone, »What Counts as an Individual for Spinoza?«, in: Olli Koistinen / John Biro (Hg.), Spinoza. Metaphysical Themes, Oxford 2002, S. 104. 123 Das ist freilich auch auf die Erkenntnis zu beziehen; um das Verhältnis von Macht und Ohnmacht in der Erkenntnis dreht sich: Christian Lazzeri, Spinoza: puissance et impuissance de la raison, Paris 1999.

Macht in pragmatischer Hinsicht (potestas)

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den Menschen, ist genau des Menschen Essenz oder Natur, insofern es in seiner Gewalt [potestatem] steht, etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann« (E4d8). 124 In der Gleichsetzung von potentia und potestas wird deutlich, dass Macht nicht einfach nur ein ubiquitäres Prinzip der Natur ist, das einfach vorliegt und lediglich durch die Individuen ergriffen werden muss, wie es in ihrer metaphysischen Bestimmung als potentia vielleicht mitunter anklingen mag. Als potestas ist Macht vielmehr eine ungleich verteilte Kraft und es gibt sehr wohl ein Innen und ein Außen der Macht, d. h., es gibt Dinge, die über Macht verfügen, wie es Dinge gibt, die nicht über sie verfügen, bzw. es gibt Dinge, die in unserer Macht stehen, wie es Dinge gibt, die außerhalb unserer Macht liegen. 125 Im Kurzen Traktat bestimmt Spinoza diesen Unterschied anhand der Übereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung der Dinge, die in unserer Macht stehen, mit unserer Natur: »Vielmehr, wenn wir sagen, einige Dinge sind in und andere außer unserer Macht, dann verstehen wir unter Dingen, die in unserer Macht stehen, solche, die wir gemäß der Ordnung der Natur oder zusammen mit der Natur, von der wir ein Teil sind, hervorbringen; und unter denen, die nicht in unserer Macht stehen, solche, die, außer uns seiend, von unserer Seite keiner Modifikation unterliegen, weil sie unserer von der Natur so bestimmten Wesensart sehr fern sind« (KV 2:5). Die Unterscheidung eines Innen und eines Außen der Macht ist auch Gegenstand eines Briefes an Tschirnhaus, in dem Spinoza festhält, »daß wir in allen Dingen von einer bestimmten Ursache zu etwas bestimmt werden«, aber auch »in gewissen Dingen in keiner Beziehung gezwungen werden und somit Willensfreiheit haben« (Ep 57). Und auch in einem Brief an Schuller geht es darum, die Möglichkeit von Dingen zu bestimmen, die außerhalb der Wirkungen der potestas stehen: »Ich nenne also ein Ding frei, wenn es nur aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert und handelt; gezwungen aber, wenn es von einem anderen Ding bestimmt wird, in einer bestimmten Weise zu existieren und zu handeln« (Ep 58). Hier wird deutlich, dass die Unterscheidung von potentia und potestas wichtig ist, weil sich mit der Absetzung von Macht als potestas überhaupt erst ein Raum außerhalb der Macht markieren lässt, in dem das menschliche Individuum als 124 Auch in E5p42d werden die Begriffe synonym verwendet und die Macht und die Gewalt über die Affekte und die sinnlichen Lüste bestimmt. 125 Ähnlich lautet die bekannte Bestimmung von Macht bei Thomas Hobbes, der diese als die Aktivität eines Dings ausweist, sich in den Dingen, die in seiner Macht stehen, zu realisieren. Macht ist die »Macht eines Menschen, [mit] seinen gegenwärtigen Mitteln, etwas anscheinend Gutes für die Zukunft zu erlangen«, und die »größte menschliche Macht ist jene, die, aus der Macht der meisten Menschen zusammengesetzt, durch Übereinstimmung in einer natürlichen oder staatlichen Person vereinigt ist [. . . ]«. Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg 1996, S. 69 (Kapitel 10).

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unter seinem eigenen Gesetz und im Zeichen seiner eigenen Macht stehend begriffen werden kann. Im Unterschied zur potentia, die wir als ein elementares metaphysisches Prinzip kennengelernt haben, das die Natur und damit die Essenz der Dinge selbst ist, haben wir es also bei der Bestimmung der potestas mit derjenigen Art von Macht zu tun, bei der sich überhaupt erst in einem engen Sinne davon sprechen lässt, dass ein menschliches Individuum über sie verfügt oder eben nicht über sie verfügt. Während das allgemeine Seinsprinzip der potentia nicht notwendig auf das menschliche Individuum ausgerichtet ist, sondern gewissermaßen erst abgerufen und in Wirkungen übersetzt werden muss, ist mit dem Begriff der potestas eine Verhältnisbestimmung verbunden, die die Macht und die Ohnmacht menschlicher Individuen gleichermaßen anzeigen kann und in der die Nicht-Verfügbarkeit der potentia als ein Fehlen von Macht erkennbar wird, wie beispielsweise in Gewalt- oder Herrschaftsverhältnissen, in denen es Individuen gibt, die über Macht verfügen, und andere, die nicht über sie verfügen. Macht als potestas zeigt sich als die Fähigkeit menschlicher Individuen, über andere Individuen Gewalt auszuüben, sie in ihre Gewalt zu bringen und ihnen die je eigene Aktualisierung der potentia streitig zu machen. Deutlich wird das, wenn Spinoza beschreibt, wie ein Individuum nicht unter eigenem Recht, sondern unter dem Recht eines anderen steht. Er bestimmt, »daß jeder so lange unter dem Recht eines anderen [alterius esse juris] steht, wie er unter dessen Gewalt [sub alterius potestate est] steht, und daß er nur so weit unter eigenem Recht steht, wie er alle Gewalttätigkeit zurückweisen und einen ihm zugefügten Schaden nach eigenem Gutdünken vergelten kann [. . . ]« (TP 2:9 und 2:10). Wir können also festhalten, dass potentia, wie oben dargestellt, die allgemeine Macht Gottes und der Natur und ein einheitliches Grundprinzip des Seins ist, aus dem sich die Möglichkeiten der Wirklichkeit für die Individuen ergeben, während potestas je ein vermittelter Ausdruck dieser Macht ist, der sich eben besonders in den praktischen Verhältnissen zwischen Individuen und damit in sozialen und politischen Zusammenhängen zeigt. Der Begriff der potestas dient dazu, die Macht einzelner Dinge über andere Dinge zu charakterisieren und deutlich zu machen, was es bedeutet, in der Gewalt von etwas anderem zu stehen. So zeigt sich die ohnmächtige Seite der Unterwerfung des Individuums etwa im Begriff des in potestate, den Spinoza mit der Notwendigkeit der Macht Gottes in Verbindung bringt. »Was auch immer wir als in Gottes Gewalt seiend [in Dei potestate esse] begreifen, unterliegt der Notwendigkeit« (E1p35 und dazu auch E1p17s). Die durch die potestas strukturierten Verhältnisse sind also zumeist Verhältnisse der Souveränität, der souveränen Überordnung eines Dings über ein anderes und der Beherrschung

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eines Individuums durch ein anderes, und daher kommt der Begriff der potestas vor allem in der politischen Philosophie Spinozas auf, wo die Formen und Möglichkeiten der Regierung bestimmt werden. 126 Hier verwendet er den Begriff der potestas zur Charakterisierung der Fähigkeit, Herrschaft auszuüben und andere Individuen in seine Gewalt zu bringen, also letztlich zur Charakterisierung der Fähigkeit, zu regieren. 127 Die Formen der Regierung und das Recht, aus dem sich souveräne Macht als Regierungsmacht herleitet, beschreibt Spinoza ausführlich im Tractatus politicus, wo auch die summa potestas als eine höchste Gewalt des Staates erläutert wird, die in Spinozas Vorstellung von Demokratie eben nicht in den Händen Einzelner liegt, sondern der Menge zukommt. Hier ist nicht die Rede von einer potentia des Staates, denn in ihrer verdichteten Aktualisierung, wie beispielsweise in hierarchischen Institutionen, wird die potentia zur potestas. In seiner kurzen Darstellung des staatlichen Zustands der Menschen im vierten Teil der Ethica bestimmt Spinoza den Staat als eine Vereinigung von Individuen, die »über erlassene Gesetze« gefestigt wird und in der Lage ist, über »die ihr zukommende Gewalt [potestate], sich selbst zu erhalten« (E4p37s2). Eine deutliche und ganz ähnliche Verwendung im Sinne einer souveränen Macht findet der Begriff der potestas auch bei Hobbes, der in De cive beschreibt, wie die Bürger ihren Willen an den Herrscher abgeben und dieser durch die summa potestas das Recht zu regieren verliehen bekommt. »In jedem Staat kommt demjenigen Menschen oder derjenigen Versammlung, dessen bzw. deren Willen die einzelnen ihren Willen [. . . ] unterworfen haben, die höchste Macht oder höchste Gewalt [Souveränität] oder Staatsgewalt zu. Diese Macht und dieses Recht zu herrschen besteht darin, daß jeder einzelne Bürger seine ganze Macht und Stärke auf jenen Menschen oder jene Versammlung übertragen hat. [. . . ] Jeder einzelne Bürger sowie auch jede andere bürgerliche [juristische] Person, die demjenigen untergeordnet ist, der die höchste Gewalt innehat, heißt Untertan.« 128 Im Umgang mit Spinozas Begriff der Macht muss also deutlich gemacht werden, ob es sich um Macht als potentia oder als potestas handelt, denn erst Das heißt allerdings nicht, dass Spinoza die Bedeutung seiner metaphysischen Theorie des Menschen für die Bestimmung der Arten ihres Zusammenlebens nicht bereits in der Ethica betonen würde: Denn »endlich leistet diese Lehre auch einen nicht geringen Beitrag zum gemeinsamen Leben im Staat, insofern sie lehrt, auf welche Weise Bürger zu regieren und zu leiten sind, nämlich nicht so, daß sie Sklaven sind, sondern so, daß sie frei dajenige tun, was das beste ist« (E2p49s). 127 Vgl. Martin Saars Ausführungen zur Frage der Regierung und dessen Erläuterung verschiedener Formen der Regierung als praktische, reflexive und juridisch-normative Wirkungsverhältnisse. Ders., »Politik der Natur. Spinozas Begriff der Regierung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57/3 (2009), S. 433–447. 128 Thomas Hobbes, Vom Bürger. Vom Menschen, Hamburg 2017, Kap. 5:11, S. 98. 126

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mit der Bestimmung der konkretisierten Formen von Macht als Gewalt oder als Herrschaft werden Verhältnisbestimmungen zwischen Individuen im politischen Raum möglich und asymmetrische Verhältnisse sichtbar. Das Vorhandensein eines Gewalt- oder eines Herrschaftsverhältnisses lässt sich also, sofern man in solchen Fragen mit dieser Unterscheidung operiert, erst ausgehend von der Bestimmung der Macht als potestas deutlich machen. Dabei ist aber für die Frage immanenter Individuation zu beachten, dass der Begriff der potestas nicht nur auf politische Formen der Regierung und der Gewalt über andere zu beziehen ist, sondern eben auch auf Formen der Regierung des Individuums durch sich selbst und insbesondere mit Blick auf die souveräne Beherrschung der Affekte des Individuums durch dieses selbst. 129 So eröffnet Spinoza den vierten Teil der Ethica mit einer Bestimmung dessen, was er unter Knechtschaft versteht, und diskutiert dabei nicht etwa ein souveränes Herrschaftsverhältnis im Feld des Politischen, sondern die Herrschaft der Affekte, in deren Gewalt der Mensch steht. »Die menschliche Ohnmacht [impotentiam], die Affekte zu mäßigen und zu hemmen, nenne ich Knechtschaft [servitutem]; der Affekten unterworfene Mensch ist nämlich nicht Herr seiner selbst, sondern unterliegt dem blinden Geschick, in dessen Gewalt [potestate] er so sehr steht, daß er oft gezwungen ist, dem Schlechteren zu folgen, selbst wenn er das Bessere sieht« (E4praef). Und im fünften Teil der Ethica, wo es um die Freiheit des Menschen und die Macht des Verstandes geht, hält Spinoza fest, dass je »bekannter uns also ein Affekt ist, umso mehr ist er in unserer Gewalt [potestate] und umso weniger erleidet der Geist von ihm« (E5p3c). Und auch im zehnten Lehrsatz des fünften Teils wird festgehalten, dass es so lange in »unserer Gewalt [potestatem]« steht, die Affektionen des Körpers verstandesgemäß zu verketten, wie wir nicht von Affekten bedrängt werden, die unserer Natur entgegenstehen. 130 Es wird also deutlich, dass der Begriff der potestas für Spinoza in konkreten Wirkungszusammenhängen einfacher und vielfacher Individuen relevant ist, die äußeren Kräften ausgesetzt sind, in deren Gewalt sie stehen. Im Unterschied

Vgl. dazu auch die Darstellung der ethisch-therapeutischen Dimension von Souveränität als Selbstsorge bei Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 203 ff. 130 In der Folge dieses Lehrsatzes kommt Spinoza immer wieder auf den Umgang mit den Affekten zu sprechen. So in E5p10dem, wo von der Gewalt die Rede ist, klare Ideen zu bilden, oder auch in E5p10s, wo es heißt: »Kraft dieser Gewalt [potestate], die Affektionen des Körpers richtig zu ordnen und zu verketten, können wir es dahin bringen, daß wir nicht so leicht mit schlechten Affekten affiziert werden.« An diesem Begriffsgebrauch ist deutlich zu sehen, dass potentia und potestas mitunter nicht scharf getrennt und gelegentlich sogar kontraintuitiv verwendet werden, wie hier, wo nicht von der Macht über die Affekte, sondern eben von der Gewalt über die Affekte die Rede ist. 129

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zum weiten Begriff der potentia besteht die Stärke des Begriffs der potestas gerade darin, die Koordinaten von Macht und Ohnmacht in praktischen Effekten und konkreten Verhältnissen sichtbar zu machen und auf diese Weise zu einem Bild von Macht zu kommen, das auch deren Asymmetrie in institutionalisierten Konstellationen offenlegen kann. Macht als potentia ist dagegen nicht auf Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse reduzierbar, sondern eine grundlegende Potentialität, in der Aktivität und Passivität immer wieder ineinander umschlagen können. 131 Es gibt keine Individuation ohne diese Macht, denn sie ist als grundlegendes Konstitutionsprinzip immer schon an der Hervorbringung von Individuen beteiligt, wenngleich sie sich erst an Affektionen entzündet und damit ein Feld von Potentialitäten eröffnet. Was die umstrittene Frage des Verhältnisses von potentia und potestas angeht, so dürfte deutlich geworden sein, dass deren teilende Vereindeutigung und Gegenüberstellung unmöglich ist, da die grundsätzliche Potentialität des Affektionsgeschehens und die sich daraus ergebenden prozessierenden Machtverhältnisse mit all ihren Möglichkeiten eine Teilung in zwei unterschiedliche oder gar entgegengesetzte Formen von Macht nicht erlauben. 132 Potentia und potestas sind nur als dynamisches und reversibles Machtgeschehen zu verstehen, durch das Aktivität zu Passivität und Passivität zu Aktivität, Ohnmacht zu Macht und Macht zu Ohnmacht werden kann, das jedoch nie dauerhaft in einer endgültigen Ausprägung als reine Macht oder reine Gewalt vorzufinden ist. 133 Potentia und potestas sind keine entgegengesetzten Register der Macht, sondern potestas ist die je aktualisierte Verdichtung und gegebenenfalls auch 131 Dieser Vorgang wurde bereits in Abschnitt I.5 des zweiten Teils mit dem Begriff der Reversibilität markiert und auf die Verhältnisse von Körper und Geist, Aktivität und Passivität und Wirklichkeit und Möglichkeit bezogen. 132 Zu einer ähnlichen Einschätzung des Zusammenhangs von potentia und potestas kommt übrigens auch schon Pierre Macherey, der »die Prämissen einer politischen Theorie nicht im vierten Teil der Ethik, sondern im dritten [sieht], da, wo Spinoza noch vor der Formulierung der Idee einer souveränen Macht die spontane Sozialisation der Affekte [. . . ] darlegt. Die Frage der Macht spielt sich [. . . ] auf der Ebene dieser leidenschaftlichen Konflikte ab, deren Entwicklung sie sich zu eigen macht: aus ihnen zieht sie ihre wahrhafte Stärke, potentia, und nicht aus einer neuen Ordnung, potestas, die für deren Ausdruck neue Regeln und neue Raster des Verhaltens durchzusetzen hätte.« Ganz nebenbei wird hier zudem auch noch die These bestätigt, dass die Affektionen und die Affekte der Macht vorgeordnet sind. Vgl. Pierre Macherey, »Für eine Naturgeschichte der Normen«, in: François Ewald / Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 190. 133 Vgl. zu dieser Bestimmung von Macht nochmals die Ausführungen von Friedrich Balke, der die Relationalität, die Verkettung und das Spiel dynamischer Machtbewegungen betont und die potentia agendi als ein Vermögen bestimmt, das nicht darauf hinausläuft, in konkrete Existenz überzugehen, sondern vielmehr Verhältnisse und Beziehungen zu anderen Dingen zu unterhalten. Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 203–214.

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Institutionalisierung eines in der Natur vorliegenden allgemeinen Seinsprinzips. 134 Macht und die souveränen Instanzen, die sich ihrer bis zur Verfertigung in Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse bedienen, sind ontologisch, wie der Körper und die Affekte auch, nur differentiell zu verstehen, d. h., Macht hängt stets von einer anderen Seite ab, die sie in gewisser Weise anerkennen und in einem ständigen Machtkreislauf ihrer Wirksamkeit herausfordern muss. Dabei sind diejenigen, die gerade nicht im Besitz der Macht sind, nicht absolut ohnmächtig, sondern lediglich für eine bestimmte Dauer von ihrer potentia agendi getrennt. 135

II.4 Macht und Menge (potentia multitudinis)

Aus der Macht als einem grundlegenden Seinsprinzip, das sich im Zusammenspiel der Affektionen zwischen Körpern und ihren Ideen aktualisiert, ergibt sich aber nicht nur die Konstitution einfacher Individuen. Macht ist bekanntlich gerade für den Zusammenhang vielfacher Individuen, wie etwa Staaten oder politische Institutionen, eine wesentliche Kraft und ihre Funktionsweise lässt sich in den politischen Traktaten Spinozas nachvollziehen. Das Ziel des 1670 anonym in Amsterdam erschienenen Tractatus theologico-politicus ist es, zu zeigen, dass die Freiheit der Individuen, zu philosophieren, eine Bedingung für den Frieden und die Sicherheit im Staat ist und nicht im Widerspruch zu

Martin Saar kritisiert diese ausschließende Gegenüberstellung eines konstruktiven Vermögensbegriffs der potentia und eines destruktiven Herrschaftsbegriffs der potestas vor allem bei Antonio Negri, der hier antagonistische Kräfte unvermittelt wirken sieht. Vgl. Antonio Negri, Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1981, S. 81 ff., 257 ff.; Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt / New York 2002; ferner die immer wiederkehrende Diskussion der Unterscheidung in Antonio Negri, Subversive Spinoza. (Un)contemporary Variations. Manchester 2004 und Michael Hardt, Gilles Deleuze. An Apprenticeship in Philosophy, Minneapolis 1993, S. 34 ff. Wie deutlich geworden sein dürfte, widerspricht eine solche Polarisierung der Machtformen aus meiner Perspektive vollständig der dynamischen Potentialität, die hier mit Blick auf die Macht der Affekte als eine immanente Individuationskraft herausgearbeitet wurde. Vgl. zu Saars Auseinandersetzung mit Negri wie auch zur weiterführenden Anwendung der Machttheorie Spinozas auf die Frage der Demokratie und der politischen Theorie allgemein: Martin Saar, Die Immanenz der Macht, a. a. O., S. 173–179, sowie: Filippo Del Lucchese, Conflict, Power and Multitude in Machiavelli and Spinoza, London 2009, S. 138–166; ferner Marin Terpstra, »An Analysis of Power Relations and Class Relations in Spinoza’s Tractatus Politicus«, in: Studia Spinozana 9/1993, S. 79–105. 135 Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Gilles Deleuze, für den es bei dieser Verteilung von Macht wie bei Gut und Böse keine »moralische Entgegensetzung« gibt, sondern nur eine »ethische Differenz«. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S. 238. 134

Macht und Menge (potentia multitudinis)

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diesen Grundlagen gelingender Staatlichkeit steht. Spinoza sieht die Menschen, von Aberglauben und Furcht gelenkt, in religiöse Welten fliehen und unter die Herrschaft politischer Autoritäten fallen, die sich ihre affektive Verführbarkeit zunutze machen, um ihre eigene Macht zu sichern. Für ihn war es selbstverständlich, dass politische Stabilität nicht von Glaube und Furcht abhängen darf, sondern nur aus der Freiheit kommen kann, selbst zu urteilen und eine eigene Idee Gottes zu verfolgen. Der Tractatus theologico-politicus ist eine aufklärerische Kritik theologischer und politischer Autoritäten, durch die Machtansprüche zurückweisbar gemacht werden sollen, und ihm liegt, wie der Ethica auch, die Überzeugung von der Kraft des freien Denkens und der Erkenntnis der Natur zugrunde. So wird auch die Sphäre des Politischen ausgehend von der naturhaften Verfasstheit ihrer Elemente bestimmt und gegen die Zumutungen von Autoritäten verteidigt, die ihre Macht nicht aus dem Feld des Politischen selbst beziehen. Damit weist Spinoza die Demokratie bereits im ersten Traktat als die natürlichste und einzig legitime Staatsform aus, in der die Verhältnisse von Recht und Macht sich aus natürlichen Grundlagen ergeben und eben nicht an eine souveräne Herrschaftsinstanz abgetreten werden, deren Macht sich als potestas und nicht mehr als potentia verwirklicht. Nach Abschluss der Ethik im Jahr 1675 hat Spinoza die Arbeit an seiner zweiten politischen Schrift aufgenommen. Der Tractatus politicus ist 1677 posthum und unvollendet in den von Freunden besorgten Opera Posthuma erschienen und vor allem als eine Reaktion auf die Destabilisierung der liberalen politischen Verhältnisse und die Ermordung der Brüder de Witt im Jahr 1672 zu verstehen. Spinozas Nachdenken über die Natur und das Recht der Menschen – und über die Verfasstheit des Staates – ist also zutiefst geprägt von Erfahrungen der Unsicherheit und der Instabilität im eigenen Umfeld. Im Unterschied zum ersten Traktat dreht sich der Tractatus politicus aber weniger um eine Verhältnisbestimmung von Religion und Politik als vielmehr darum, die Bedingungen gelingender Staatlichkeit ausgehend von der affektiven und der imaginären Verfasstheit der Individuen zu verstehen, die in ihr leben. Der Tractatus politicus ist also einerseits eine Beschreibung der Natur der menschlichen Individuen unter den Bedingungen der Staatlichkeit und andererseits eine Bestimmung der Verfasstheit dieser Staatlichkeit und ihrer Organisation selbst anhand des Schemas von Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Dabei weist Spinoza die höchste Gewalt des Staates, die summa potestas, als eine Macht der Menge aus. Die höchste Gewalt des Staates kann für ihn nicht die Gewalt einzelner Machthaber sein, sondern muss aus der Vereinigung einfacher Individuen hervorgehen, die aus sich selbst ein vielfaches Individuum bilden. Dieses vielfache Individuum ist eine Menge (multitudo) einfacher Individuen und aus ihm ergibt sich die Macht der Menge, also die potentia multi-

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tudinis. 136 Diese Macht der Menge zeigt sich in ihrem freien Zusammenschluss als eine Macht und ein Recht von anderer Ordnung, denn durch die Natur ihrer Macht ergibt die Menge ein anderes Individuum, als jedes einzelne Individuum zu sein vermag. Das positive Vorhandensein einer Macht der Natur und damit eines Rechts der Natur, an dem die Individuen teilhaben und auf dessen Basis sie sich zu Mengen mit spezifischen Vermögen verbinden können, wird so zum allgemeinen Grund für Politik. »Es ist unmöglich für den Menschen, kein Teil der Natur zu sein und der [allen Dingen] gemeinsamen Ordnung der Natur nicht zu folgen. Wenn er aber unter solchen Individuen lebt, die mit seiner eigenen Natur übereinstimmen, wird damit des Menschen Wirkungsmacht gefördert und genährt werden. Wenn er andererseits unter solchen lebt, die mit des Menschen Natur so gut wie garnicht übereinstimmen, wird er sich ihnen kaum anpassen können, ohne sich selbst zu verändern« (E4AppCaput7). Es ist also einerlei, ob die Individuen in der Lage sind, sich als Menge in ihrer Wirkungsmacht so zu organisieren, dass sie einander nützen, oder ob sie in der Menge machtlos und vereinzelt bleiben; sie sind unabdingbar ein Teil je übergeordneter Individuen, weil sie letztlich unabdingbar Teil der Natur, also der facies totius universi sind. Und sofern Individuen Teil der Natur sind und imstande sind, zu existieren, sind sie selbst, wie wir aus der Bestimmung der potentia wissen, graduelle Einheiten von Macht, die sich in ihrer Macht in Abhängigkeit von ihrer Affektfähigkeit steigern oder schwächen. Ein Individuum ist also, allein sofern es existiert, Macht, und das bedeutet auch, dass es seine Macht nicht einfach abgeben oder, dem Hobbes'schen Vertragsmodell gemäß, gegen die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit eintauschen kann. Es muss sich vielmehr so organisieren, dass es sich als Macht erhalten kann, und daher leben die Menschen aus einer natürlichen Notwendigkeit heraus in Gemeinschaften, die staatlich organisiert werden müssen. 137 Wie wir bereits in der Begründung von IndiVgl. auch: Marin Terpstra, »What does Spinoza mean by ›potentia multitudinis‹?«, in: Étienne Balibar / Helmut Seidel / Manfred Walther (Hg.), Freiheit und Notwendigkeit: ethische und politische Aspekte bei Spinoza und in der Geschichte des (Anti-) Spinozismus, Würzburg 1994, S. 85–98. Unterschiedliche Perspektivierungen der potentia multitudinis in sozialtheoretischer Hinsicht finden sich auch in Yves Citton / Frédéric Lordon (Hg.), Spinoza et les Sciences Sociales. De la puissance de la multitude à l’économie des affects, Paris 2008. 137 Vgl. dazu auch Warren Montag: »Society is not the effect of an act of will on the part of originally autonomous individuals; on the contrary, men are naturally determined to live in society the existence of which is necessary to their survival. Human society is not separate from and opposed to nature; it is part of it.« Warren Montag, »The Body of the Multitude«, in: ders., Bodies, Masses, Power. Spinoza and his Contemporaries. London 1999, S. 68. Montags Auseinandersetzung mit Spinoza dreht sich insgesamt um dessen politische Ontologie und, im Ausgang von Althussers und anderen wichtigen Interpretationen der politischen Philosophie, um die Bedeutung von Spinozas 136

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vidualität als Transindividualität gesehen haben, hat kein Individuum allein die Macht, sich zu erhalten, und daraus »lässt sich folgern, daß die Menschen von Natur aus den staatlichen Zustand erstreben und diesen niemals gänzlich auflösen können« (TP 6:1). Dass die Menge von Einzeldingen etwas anderes ist als die Einzeldinge selbst, ergibt sich bereits aus der siebten Definition des zweiten Teils der Ethica, wo Spinoza bestimmt, dass die Einzeldinge endliche Dinge sind, die eine bestimmte Existenz haben. »Wenn mehrere Individuen so zu einer Handlung sich zusammenfinden, daß sie alle zusammen die Ursache einer einzigen Wirkung sind, sehe ich sie in diesem Maße alle als ein einziges Einzelding an« (E2d7). Die Macht der Menge ist also nicht auf einfache Individuen zu reduzieren, sondern entsteht aus dem transindividuellen Zusammenhang vielfacher Individuen, der seiner Natur nach etwas anderes ist als ein einfaches Individuum. 138 Insbesondere mit Blick auf die potentia multitudinis stellt sich die Frage, wie verschiedene Körper und Geister zur materialistischer Grundlegung des Politischen im Körperlichen. Spinozas berühmte Behauptung, dass niemand je bestimmt habe, was der Körper kann, ist für Montag der Ausgangspunkt einer materialistischen Interpretation, die sich an den folgenden drei Thesen orientiert: »1. There can be no liberation of the mind without a liberation of the body. 2. There can be no liberation of the individual without collective liberation. 3. The written form of these propositions itself possesses a corporeal existence, not as the realization or materialization of a preexisting mental, spiritual intention, but as a body among other bodies [. . . ].« Es geht Montag auf allen drei Ebenen, des Geistigen wie des Körperlichen, des Individuellen wie des Kollektiven und vor allem auf der Ebene der geschriebenen Form des Denkens um die materiellen Effekte, die sie auslösen. Vgl. Warren Montag, Bodies, Masses, Power. Spinoza and his Contemporaries, London 1999, S. XXI. 138 Douglas J. Den Uyl führt Spinozas politische Theorie als eine Theorie der Gesellschaft und der sozialen Institutionen aus, die letztlich vollständig auf das Individuum zurückzuführen ist. »Spinoza can be characterized as a methodological individualist, that is, one who seeks to explain social phenomena in terms of the activities and relationships among individual agents.« Methodischer Individualismus, so Uyl, erklärt soziale Ereignisse prinzipiell aus den Beziehungen zwischen Individuen und führt diese je auf einfache Individuen zurück. »Spinoza’s approach to political society is an individualistic one. [. . . ] The origin of civil society was seen to be a result of the passionate interaction of distinct individuals.« Uyl führt seine Interpreation in dieser individualistischen Perspektive aus und verfehlt damit die relationistische und transindividualistische Dimension, wie sie sich aus der ontologischen Bedeutung der Affektionen und der Affekte ergibt. In seiner Interpretation vollzieht sich die Gleichsetzung einer metaphysischen und einer psychologischen Perspektive und aus dieser Gleichsetzung wird auch der vermeintliche Individualismus der politischen Philosophie hergeleitet, durch den die Emergenz von Individualität bestritten wird. »What emerges is not a new individual, but rather a more effective or efficient use of the powers possessed by the individuals entering into the relationship.« Uyl stellt die Existenz eines vielfachen Individuums infrage und diskutiert die Machtsteigerung kollektiver Individuen als eine Frage der Koordination, aus der sich die Möglichkeit der Vereinigung von Kräften ergibt, die jedoch für ihn keine organische Einheit sui generis ist, sondern eben nur eine effektive Organisation von individuellen Kräften, die sich koordiniert steigern. Vgl. die interessante Diskussion dieser individualistischen Perspektive in: Douglas J. Den Uyl, Power, State and Freedom: An Interpretation of Spinoza’s Political Philosophy, Assen 1983, S. 67 f.

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Einheit eines vielfachen Individuums, also zur Einheit einer Menge werden, die handlungsfähig ist und ihre Macht nutzen kann. Spinozas Begründung einer transindividuellen Perspektive auf das Zustandekommen vielfacher Individuen ermöglicht das Verständnis der Konstitution überindividueller vielfacher Individuen und macht die übergreifende Einbindung von einfachen Individuen in je übergeordnete vielfache Individuen sichtbar. Überträgt man die Frage immanenter Individuation nun auf das Feld des Politischen, so zeigt sich, dass auch die Bildung politischer Institutionen ein Individuationsprozess ist, der auf die affektive und imaginative Interaktion von Individuen zurückgeht und in seiner Erhaltung an diese Interaktionen geknüpt ist. Wie mit der Darstellung der relationalen Grundlagen immanenter Individuation klar geworden ist, gibt es für Spinoza eine ontologische Notwendigkeit der Verbindung der Individuen. 139 Es gibt aber auch eine pragmatische Notwendigkeit des Zusammenlebens, denn es ist den Menschen, so wird im Tractatus politicus betont, kaum möglich, »ohne wechselseitige Hilfe ihr Leben auszuhalten und ihren Geist auszubilden« (TP 2:15). 140 »Wenn zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann vermögen sie zusammen mehr und haben folglich zusammen mehr Recht auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte zusammengeschlossen haben werden, um so mehr Recht werden sie alle zusammen haben« (TP 2:13). Und, so Spinoza weiter, »wenn die Scholastiker aus diesem Grund, daß nämlich die Menschen im Naturzustand ihr eigenes Recht kaum aufrechterhalten können, den Menschen ein geselliges Lebewesen nennen wollen, dann habe ich gegen sie nichts einzuwenden« (TP 2:15). Wie wir aus der ontologischen Herleitung des Machtdenkens wissen, ist Macht durch und durch an die Interaktion von Individuen gebunden. Sie kann sich nicht aktualisieren, wenn die relationale Einbindung der Individuen in dynamische Konstitutionszusammenhänge nicht gegeben ist. Das bedeutet nicht zuletzt, dass Individuen durch Macht auch in solchen Zusammenhängen verbunden sein können, die nicht auf ein Zentrum und eine bestimmte Form der Souveränität ausgerichtet sind, sondern in ihrer performativen Ausübung jeweils erst entstehen. Den unhintergehbaren Zusammenhang der Ontologie und der politischen Philosophie Spinozas betont auch Bartuschat. Vgl. Wolfgang Bartuschat, »Spinozas Ontologie und Erkenntnistheorie als Hintergrund seiner politischen Philosophie«, in: Wolfgang Bartuschat / Stephan Kirste / Manfred Walther, Naturalismus und Demokratie. Spinozas »Politischer Traktat« im Kontext seines Systems, Tübingen 2014, S. 1–11, sowie ders., »The Ontological Basis of Spinoza’s Theory of Politics«, in: Cormelis Deugd (Hg.), Spinoza’s Political and Theological Thought: International Symposium Proceedings, Amsterdam 1982, S. 30–35. 140 Zur Notwendigkeit des Zusammenlebens vgl. auch: Gunnar Hindrichs, »Die Macht der Menge – der Grundgedanke in Spinozas politischer Philosophie«, in: ders. (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006, S. 13–42. 139

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Spinoza nimmt den Begriff der Menge aus dem negativ geprägten semantischen Zusammenhang des plebs als einer Masse ungebildeter Individuen heraus und macht die Menge zum legitimen politischen Akteur demokratischer Handlungszusammenhänge und zur immanenten Grundlage der Demokratie. 141 Überträgt man die metaphysichen Voraussetzungen eines immanenten und relational operierenden Konstitutionszusammenhangs der Modi, wie wir sie der Ethica entnommen haben, auf das politische Denken Spinozas, so wird deutlich, dass die potentia multitudinis in einer gleichsam von unten und aus dem Zusammenhang der Individuen kommenden Herrschaftsform, nämlich in der Demokratie organisiert werden muss. 142 Dabei gilt für die Menge wie für jedes andere Individuum auch, dass sie zwischen Aktivität und Passivität changiert. Das bedeutet, dass sie selbst als potentia activa affiziert und als potentia passiva affiziert werden kann und permanent reaktiviert werden muss, wie im Übrigen jedes staatliche Gebilde in seiner Legitimität immer wieder reaktiviert werden muss. Das Recht, das »durch die Macht der Menge definiert wird, nennt man als Regierungsgewalt gewöhnlich die Souveränität des Staates« (TP 2:17). Eine ausführliche Diskussion der Elemente einer Demokratietheorie nach Spinoza bietet Martin Saar und betont dabei auch, dass, obwohl Spinoza heute für viele zum Stichwortgeber und Vordenker einer Theorie radikaler Demokratie geworden ist, immer wieder daran erinnert werden muss, dass seine politischen Schriften eben ganz wesentlich Reaktionen auf die politischen Umstände seiner Zeit sind und dass der Begriff der Demokratie, wie er im Kontext einer Macht der Menge angebracht wird, nicht oder nur sehr bedingt mit heutigen politischen Verhältnissen und dem, was wir heute unter Demokratie verstehen, in Verbindung zu bringen ist. Die Bezugnahme auf das politische Denken Spinozas kann also nur auf einer spekulativen Ebene stattfinden und kann nicht von einer direkten Übertragbarkeit ausgehen. Vgl. dazu auch: Martin Saar, »Macht und Menge. Spinoza und die Philosophie der Demokratie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63/3 (2015), S. 518–535. 142 Vgl. zur ontologischen Bestimmung der Menge als eines Immanenzbegriffs auch Antonio Negri: »Multitude ist ein Immanenzbegriff, die Menge ein Ensemble von Singularitäten. Nehmen wir diese Feststellung zum Ausgangspunkt, so haben wir in Umrissen eine ontologische Definition der Realität, die übrig bleibt, sobald das Konzept ›Volk‹ seine Transzendenz verliert.« Antonio Negri, »Eine ontologische Definition der Multitude«, in: Thomas Atzert / Jost Müller (Hg.), Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire, Berlin 2003, S. 111–125, hier S. 111. Und Negri führt weiter aus, warum der Begriff der multitude nicht mit dem des Volkes vereinbar ist und in gewisser Weise »monströs« ist, sich also einer Repräsentation in normativen Modellen der Nation, der Kultur usw. entzieht, die die Singularität der Individuen, die die Menge bilden, vereinheitlichen würde. Höchst interessant ist auch Negris spekulative Verbindung von Philosophie und politischer Theorie in den Ausführungen zu Ewigkeit und Demokratie, die er im Ausgang von ihrer Definition als omnino absolutum imperium (TP 11:1) und mit Blick auf den fünften Teil der Ethica herstellt. Vgl. Antonio Negri, Subversive Spinoza. (Un)contemporary Variations, Manchester 2004, S. 101–112. Die Bedeutung der Immanenz und der Immanenzkonzeption für die Bestimmung der Menge und ihrer Transformationsprozesse bei Hardt und Negri ist Gegenstand von: Ernesto Laclau, »Can Immanence Explain Social Struggles?«, in: Paul A. Passavant / Judi Dean (Hg.), Empire’s New Clothes. Reading Hardt and Negri, New York 2004, S. 21–30. 141

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Für Spinoza ist aber klar, dass er unter einem Staat nur einen solchen verstehen kann, »den eine freie Menge eingerichtet hat, nicht aber einen solchen, den man sich über eine [besiegte] Bevölkerung durch Kriegsrecht verschafft. Eine freie Menge wird nämlich mehr von Hoffnung als von Furcht, eine unterworfene hingegen mehr von Furcht als von Hoffnung geleitet [. . . ]« (TP 5:6). Ein Staat also, der nicht auf Hoffnung, und das bedeutet gemäß der Aufteilung der Primäraffekte nicht auf Freude, aufgebaut ist, hat für Spinoza keine Macht im Sinne der potentia, sondern sein Zweck ist es lediglich, Herrschaft im Sinne der potestas auszuüben und die Individuen in seine Gewalt zu bringen (vgl. TP 5:6). Spinoza macht also auf einer ontologischen und auf einer pragmatischen Ebene deutlich, dass die Macht der Menge nicht durch die Einsetzung souveräner Instanzen zu regulieren ist, sondern nur durch die Individuen selbst. Für ihn ging es darum, souveräne Überordnungen der Macht als potestas zu verhindern, denn ganz im Sinne eines immanenten Monismus war er der Überzeugung, dass asymmetrische Konstellationen der Macht den Lebenszusammenhang der Bürger vergiften und ihre Feindschaft befördern. Spinoza unterzieht die monarchische Souveränität einzelner Herrscher einer fundamentalen Kritik, denn ihm war auch klar, dass die Macht als potestas, also als einzelne Herrschaft, leichter von einem auf den anderen übertragen werden kann und damit langfristig zum Schaden der Regierten durch die Regierenden führt. Zur dauerhaften Stabilisierung eines sicheren und funktionierenden Gemeinwesens schlägt Spinoza die möglichst umfangreiche Beteiligung aller Bürger an der Regierung und ihren Räten vor, denn es droht stets denjenigen Königen die größte Gefahr, die nur von einer geringen Anzahl von Räten umgeben sind und die Bürger nicht adäquat an der Sicherung eines intakten Gemeinwesens beteiligen (vgl. TP 7:14). »Zudem ist sicher, daß ein Gemeinwesen immer mehr durch die eigenen Bürger als durch äußere Feinde in Gefahr ist [. . . ]. Folglich wird derjenige, dem das ganze Recht des Staates übertragen worden ist, immer mehr die Bürger fürchten als die äußeren Feinde und infolgedessen bestrebt sein, sich selbst vor ihnen zu schützen und gegen die Untertanen zu agieren, anstatt sich um deren Interessen zu kümmern, vor allem gegen diejenigen, die durch ihre Weisheit angesehen oder wegen ihres Reichtums zu mächtig sind« (TP 6:6). Für Spinoza war also klar, dass die affektive und imaginative Natur der Menschen in der Bildung des Gemeinwesens eine wesentliche Rolle spielt und das Streben nach Selbsterhaltung in der Entwicklung und der Gestaltung lebensweltlicher Handlungszusammenhänge zu berücksichtigen ist. Diese Anforderung an einen funktionierenden Staat kann keinesfalls durch die Übertragung der Macht und des Rechts auf einen Souverän erfüllt werden, sondern muss gemäß der Verfasstheit der Macht selbst dezentral, pluralistisch und den

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dynamischen Beziehungen zwischen Individuen entsprechend organisiert werden. Die Stabilität des Staates und der politischen Ordnung ist also nicht aus der Souveränität einzelner Machthaber herzuleiten, seien sie nun gute oder schlechte Herrscher. Stabilität und Sicherheit sind nur aus der potentia multitudinis, also aus einer Macht der Vielen abzuleiten. Macht muss ihre Potentialität immer wieder aktualisieren und legitimieren und darf nicht in den Händen Einzelner liegen und nicht an einem Punkt konzentriert werden. 143 Wie deutlich geworden ist, spielt Spinozas Konzeption des Affektionsgeschehens auch für das Verständnis der potentia multitudinis und ihrer immanenten Individuation eine wesentliche Rolle. Dementsprechend beginnt der Tractatus politicus mit der Bestimmung der Relevanz der Affekte, die zudem als die Affekte einer Menge ungleich schwieriger zu beherrschen sind als die Affekte einfacher Individuen. Wie bereits in der Auseinandersetzung mit der Ethica deutlich geworden ist, geht es für Spinoza nicht darum, die Affektionen und die Affekte zu unterdrücken oder zu negieren, sondern darum, sie auch im Feld des Politischen und auch als Affekte der Menge zu erkennen, zu nutzen und in ein Verhältnis produktiver Affirmation zu bringen. Für vielfache Individuen wie Mengen gilt, was auch für einfache Individuen gilt, nämlich die eigene Affektfähigkeit zu entwickeln und die Potentialität des Affektionsgeschehens zu nutzen. So muss auch die Verfasstheit des Staates, der seinen Bürgern ein freies Leben ermöglicht, von den Affektionen und den Affekten her verstanden werden, denen menschliche Individuen als Teil des Gesamtzusammenhangs der Natur unterliegen. Spinoza wusste, dass alle Menschen, »mögen sie ungebildet oder gebildet sein, allenthalben sich zu geselligem Umgang verbinden und immer schon irgendeinen staatlichen Zustand herstellen« (TP 1:7). Daher sind »die Ursachen und die natürlichen Grundlagen des Staates nicht den Lehrsätzen der Vernunft zu entnehmen, sondern aus der gemeinsamen Natur oder Verfaßtheit der Menschen herzuleiten« (TP 1:7). Diese Verfasstheit ergibt sich aus dem Affektionszusammenhang immanenter Kausalität und daher macht Spinoza bereits im ersten Abschnitt des Tractatus politicus deutlich, dass weder das Handeln des Einzelnen noch das Handeln der Menge beschreibbar ist, ohne den Blick auf die Affizierbarkeit der Körper zu richten. 144 »Die Affekte, von 143 In diesem umfassenderen Sinne ist die Demokratie dann auch nicht nur als eine Staatsform und ein institutionelles Gebilde zu verstehen, sondern vielmehr, wie Robin Celikates es darstellt, als eine Lebensform und als eine Organisationsform der Menge, die sich primär aus Affektstrukturen und pathischen Grundlagen ergibt. Vgl. Robin Celikates, »Demokratie als Lebensform. Spinozas Kritik des Liberalismus«, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006, S. 43–65. 144 Vgl. zur Affizierbarkeit des Menschen als Grundlage dynamischer Gemeinschaftsbildung auch die Ausführungen von Oliver W. Lembcke, der Affizierung in Hinblick auf die Struktur der Sou-

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Theorie der Macht

denen wir mitgenommen werden, verstehen Philosophen als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Deshalb pflegen sie sie zu belachen, zu beklagen, zu verspotten oder [. . . ] zu verdammen« (TP I:1). Die Philosophen glauben, so Spinoza weiter, besonders klug zu sein, wenn sie lernen, »eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden« (TP I:1). Und da die Menschen sich von den Affektionen mehr leiten lassen als von der Vernunft, gilt: »Wenn eine Menge natürlicherweise übereinstimmt und meint, von gleichsam einem Geist geleitet zu werden, dann nicht deshalb, weil sie von der Vernunft, sondern, weil sie von irgendeinem gemeinsamen Affekt geleitet wird, nämlich [. . . ] von gemeinsamer Hoffnung oder gemeinsamer Furcht oder von dem Verlangen, irgendeine gemeinsam erlittene Schlappe zu rächen« (TP 4:1). Affektionen und Affekte sind also auch für die Machttheorie Spinozas von höchster Bedeutung. Indem er seine politische Theorie auf das Affektionsgeschehen aufbaut, kann er das Handeln der Individuen als ein Handeln in Affektionszusammenhängen und damit als Teil der Natur verstehen und muss es nicht von einem moralischen Standpunkt aus begreifen oder normativ beurteilen. Die Kräfte, die das politische Feld bestimmen, kommen allein aus diesem selbst und damit wird die Macht in der Menge der politischen Individuen angesiedelt. Das politische Handeln einzelner und vielfacher Individuen wird als ein Machtgeschehen in einem natürlichen Affektionszusammenhang der Individuen verstehbar. Der Ausgangspunkt der Affektionen und der Affekte erlaubt es, die Dynamik des politischen Lebens und der politischen Institutionen zu erklären und damit auch zu einer Bestimmung der Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Emanzipation zu gelangen. Die Macht der Affekte muss also in Verbindungen gebracht werden, die den Menschen nützen und ihre gemeinsame Macht steigern können. Ihre Bedeutung war für Spinoza nicht hoch genug einzuschätzen, wie in der folgenden Darstellung aus dem anonym erschienen Tractatus theologico-politicus deutlich wird: »Mag man auch über die Herzen nicht so herrschen können wie über die Zungen, so stehen die Herzen in gewisser Hinsicht doch unter der Herrschaft des Souveräns, der auf vielfältige Weise zuwege bringen kann, daß eine große Anzahl von Menschen glaubt, liebt, haßt, usw., was er will. Wenn diese Emotionen auch nicht auf direkte Anweisung des Souveräns hervorgerufen werden, veränität und die in besonderem Maße politischen Affekte der Furcht und der Hoffnung untersucht: Oliver W. Lembcke, »Politik als Affektmanagement. Eine Skizze der Souveränitätstheorie Spinozas«, in: Felix Heidenreich / Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorie und Emotionen, Baden-Baden 2012, S. 87–103. Vgl. ferner Alexandre Matheron, »Ethik und Politik bei Spinoza. Bemerkungen über die Funktion der Anmerkung 2 des 37. Lehrsatzes von Ethik IV«, in: Klaus Hammacher / Irmela ReimersTovote / Manfred Walther (Hg.), Zur Aktualität der Ethik Spinozas, Würzburg 2000, S. 317–327.

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dann doch oft, wie die Erfahrung genug bezeugt, auf Grund der Autorität seiner Macht und Weisungsbefugnis, d. h. auf Grund seines Rechts; wir können uns deshalb, ohne den Verstand zu irritieren, Menschen denken, die allein nach staatlichem Recht glauben, lieben, hassen, verachten, allgemein gesprochen von einem Affekt ergriffen werden« (TTP 17:2).

II.5 Exkurs: Machtverhältnisse als Kräfteverhältnisse (Foucault)

Wie wir gesehen haben, ist Spinozas Begriff der potentia sowohl in ontologischer Hinsicht wie in pragmatischer Hinsicht bedeutsam und kann als ein wesentliches Element nicht nur der politischen Philosophie, sondern einer immanenten Theorie der Individuation durch Affektionen und Affekte insgesamt betrachtet werden. In dieser weiten und zugleich grundlegenden Fassung ist der Machtbegriff auch in das subtile Machtdenken Foucaults eingegangen und hat zu einer wegweisenden Machtkonzeption geführt, die im Folgenden abschließend und vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen deutlich gemacht werden soll. Die Bezugnahme Michel Foucaults auf Spinoza ist weitgehend unaufgeklärt und wird, wie auch im Falle von Nietzsche und Deleuze, erst in einer weiteren Perspektive deutlich, die das Denken Spinozas als ein Modell versteht. 145 Das Machtdenken Foucaults nimmt in dieser Perspektive eine 145 Zwar soll Foucault, wie sein Lebensgefährte Daniel Defert berichtet, im Sterben liegend, noch einmal die Ethica zur Hand genommen haben, doch explizite Bezugnahmen auf Spinoza finden sich nur höchst beiläufig und ohne jede systematische Ausarbeitung. Zur Lektüre auf dem Sterbebett und zur philosophischen Freundschaft von Foucault und Deleuze vgl. Françoise Dosse, Gilles Deleuze and Félix Guattari. Intersecting lives. Translated by Deborah Glassman, New York 2010. Explizit erwähnt wird Spinoza vor allem in den Vorlesungen, die Foucault in den Jahren 1970/71 am Collège de France gehalten hat. Hier geht es weitgehend um die Frage eines Willens zur Wahrheit und zum Wissen und Spinoza wird im Kontext von Kant und Nietzsche aufgerufen. Vgl. Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collége de France 1970–1971, Berlin 2012, vor allem S. 44 f. und S. 48 f. Vgl. dazu auch: Kerstin Andermann, »Wissen. Wahrheit. Macht. Foucaults ›Morphologie des Willens zum Wissen‹«, in: Frieder Vogelmann (Hg.), Foucaults Vorlesungen 1970–1984, Springer VS 2020. Für Foucault bietet Spinoza ein ethisches Modell des Willens zum Wissen: »Es gibt zweifellos kaum eine Philosophie, die nicht von so etwas wie einem Willen oder Wunsch nach Erkenntnis, von Wahrheitsliebe oder dergleichen gesprochen hätte. Aber nur wenige – abgesehen vielleicht von Spinoza und Schopenhauer – weisen diesem Willen mehr als eine marginale Stellung zu. Als hätte die Philosophie nicht zuallererst einmal zu sagen, was sie doch selbst in ihrem Namen führt. Als genügte es ihr, diesen Wunsch nach Wissen, der in ihrem Namen zum Ausdruck kommt, ihrem Diskurs gleichsam als Motto voranzustellen, um ihre Existenz zu rechtfertigen und zu beweisen, dass sie – mit einem Schlage – notwendig und natürlich sei: Alle Menschen streben von Natur nach Wissen . . . Welcher Mensch wäre da nicht Philosoph, und wie sollte die Philosophie nicht notwendiger als alles in der Welt sein?« Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collége de France 1970–1971, a. a. O., S. 19.

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Theorie der Macht

ethische Wendung, da der grundlegende Charakter der potentia als ein allgemeines Seinsprinzip und als Prinzip der Selbsterhaltung zur Frage der Freiheit eines Individuums wird, das sich selbst in den umgebenden Kräfteverhältnissen erkennt und sich in einer selbstbezüglichen Wendung des Machtstrebens ausarbeitet. Auch in Nietzsches Vorstellung eines Willens zur Macht wird Macht zu einem Grundmotiv des menschlichen Lebens und die Beweggründe des Handelns werden auf das Streben nach Macht zurückgeführt. So wird auch in seiner Konzeption von Macht, über die physikalischen Anleihen der Rede von einer Kraft hinaus, eine metaphysische Dimension sichtbar, die auf Spinoza zurückzuführen ist. Dabei ist der Wille für Nietzsche wie für Schopenhauer zunächst ein an sich bestehendes dynamisches Seinsprinzip, das erst mit Blick auf das menschliche Individuum zu einem Prinzip der Selbsterhaltung wird und als solches die Form eines fortdauernd über sich hinausgreifenden und sich selbst überschreitenden Lebenstriebs annimmt. In dieser Umwandlung des metaphysischen Machtbegriffs der potentia in einen Willen zur Macht, der als Wille zur Selbsterhaltung und zur Selbstüberschreitung ein Prinzip des Strebens im Sinne des conatus ist, wird der Horizont deutlich, vor dem das Machtdenken auch bei Foucault zu sehen ist. Nietzsche dementiert die Existenz eines Willens schließlich und geht damit auf den freieren Rahmen eines Machtbegriffs im Ausgang des Prinzips der potentia zurück. 146 Und er wird die metaphysische Herkunft des Machtbegriffs unterstreichen, in dem er die aristotelische Konzeption der Macht als dynamis aufruft und damit wiederum einen naturphilosophisch-physikalischen Horizont der Machtfrage eröffnet. Foucaults Analytik der Macht baut ebenfalls auf einen weiten und affirmativen Begriff der Macht auf, und sie ist nicht nur eine archäologische und genealogische Analyse konkreter Wissens- und Praxisfelder, sondern die verschiedenen Machttypen, die Foucault bestimmt, werden durch einen allgemeineren ontologischen Machtbegriff integriert. Es ist gerade der ubiquitäre und zugleich implizite Charakter der Macht, den Foucault der metaphysischen Geschichte des Machtdenkens zu entnehmen wusste, die ihn von Spinoza über Nietzsche erreicht und die in der Aufnahme seines Denkens durch Deleuze in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. 147 Deleuze hat in gewisser Weise nicht nur die »spinozistische Inspiration« Nietzsches freigelegt, sondern auch Foucault einer spinozistischen Interpretation unterzogen und damit deutlich 146 Zur Negation des Willens vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 19; Nachgelassene Fragmente, Nov 1887-März 1888, 11 [73], KSA 13, 36. 147 Vgl. Gilles Deleuze, Foucault. Frankfurt a. M. 1987, sowie Olivier Remaud, »Éthique et politique: Foucault et Spinoza«, in: Emmanuel da Silva (Hg.), Lectures de Michel Foucault 2 (Foucault et la philosophie), Lyon 2003, S. 39–58.

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gemacht, dass, auch wenn Foucault sich selbst keineswegs in erster Linie als Philosoph verstanden hat, seine Untersuchungen doch nicht vom Einfluss der philosophischen Traditionen zu trennen sind. 148 Und so gibt Foucault an prominenter Stelle einen Verweis auf die Möglichkeit, sich mithilfe der Ontologie ein Bild von der Wirklichkeit zu machen: Zum Ende der Auseinandersetzung mit Kants Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« von 1984 macht Foucault eine hellsichtige Bemerkung, in der er zwei Formen kritischer Philosophie unterscheidet. Die eine gibt sich als eine »analytische Philosophie der Wahrheit im Allgemeinen« und die andere steht für ein kritisches Denken, das »die Form einer Ontologie unserer selbst, einer Ontologie der Aktualität« annimmt. 149 Foucault ordnet sein Denken zwar dezidiert der zweiten Form kritischer Philosophie zu, doch gleichwohl bleibt diese programmatische Bemerkung zu einer Ontologie unserer Gegenwart seltsam uneingelöst. Folgt man ihr allerdings und nimmt die Möglichkeit einer ontologischen Abbildung der Gegenwart ernst, so muss auch der metaphysische Hintergrund des Machtbegriffs berücksichtigt werden, der in Foucaults Analysen unumstritten die Stellung eines Grundbegriffs einnimmt. Foucault dürfte sich der metaphysischen Herkunft seines Machtbegriffs sehr bewusst gewesen sein, gehört er doch, wie wir oben gesehen haben, seit Aristoteles' Konzeption der dynamis zu den Grundbegriffen der Metaphysik. In seiner metaphysischen Auslegung wird ein allgemeiner, die Individuen übergreifender Seinszusammenhang von Macht deutlich, der sich wie eine relationale Verkettung von Affektionen als Machtwirkungen beschreiben lässt, die den Seinszusammenhang der Individuen durchdringen und zu ereignishaften Konstellationen der Anziehung und der Abstoßung führen. Der Hintergrund von Foucaults Machtkonzeption macht ein fundamentales Seinsprinzip und ein immanentes Wirkungsverhältnis deutlich und die »Ontologie unserer selbst« stellt sich vor diesem Hintergrund als ein theoretisches Projekt der Aufklärung von Individuationsprozessen und Konstitutionsbedingungen dar, die sich als ein Machtgeschehen vollziehen. Für Foucault dürfte diese Charakterisierung von Macht interessant gewesen sein, da sich durch sie eine ganze Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 69. Für Nietzsche ist das Denken Spinozas allerdings mehr als nur eine »Inspiration«, denn er baut die zentralen Begriffe seines Spätwerks mehr oder weniger explizit auf Spinoza auf und bezieht sich auch immer wieder auf Spinoza. Eine Darstellung des Verhältnisses in Hinblick auf den Machtbegriff bietet: Jan Rehmann, »Spinoza und Nietzsche. Wider die Verwechslung von Handlungsfähigkeit und Herrschaftsmacht«, in: Das Argument 307/2014, S. 213–225, besonders S. 219 ff. Vgl. auch: Hannah Maria Rotter, Selbsterhaltung und Wille zur Macht. Nietzsches Spinoza-Rezeption. Berlin 2019. 149 Michel Foucault, »Was ist Aufklärung?« (1984), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4 (1980–1988), S. 848 (Nr. 351). 148

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Reihe von Verengungen des Begriffs der Macht einer gründlichen Revision unterziehen lassen, wie etwa die Verengung des Machtgeschehens in aktiven Handlungen, in asymmetrischen oder hierarchischen Verhältnissen oder die Verengung in klassischen Figuren von Souveränität und Herrschaft. 150 Vor allem aber lässt sich mit dieser metaphysischen Revision des Machtdenkens eine Kritik der Verengung des Machtgeschehens in einzelnen Individuen formulieren. Versteht man Macht im Sinne der potentia, ergibt sich, wie wir gesehen haben, ein anderer Blick auf den Prozess der Individuation und das Streben nach Selbsterhaltung. Macht kann in diesem Sinne als eine Individuationskraft verstanden werden, und so dreht sich die Frage nach der Macht für Foucault auch weniger um ihre institutionalisierten oder quasi-institutionalisierten Erscheinungsformen, sondern um ihre Wirkung auf das Subjekt und um Subjektivierung in Machtverhältnissen. »Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.« 151 Unter dem Aspekt der Macht und anhand der Bestimmung von Machtverhältnissen und Machtwirkungen ist Subjektivierung also als eine Form der Objektivierung des Individuums in Kräfteverhältnissen zu verstehen. Macht ist in diesem Verständnis eine Individuationskraft, die objektiviert, gliedert, identifiziert und ordnet und damit entlang bestimmter Kriterien Individuen erzeugt. Das eigentliche Thema seiner Arbeit ist also, wie 150 Auch in einem Gespräch von 1978 zeigt Foucault den ubiquitären, differentiellen und immer auch ohnmächtigen Charakter von Macht deutlich auf, indem er das Bild des Panoptikums, wie er es in Surveiller et punir eingeführt hat, als eine Utopie und eine metaphorische Reduktion charakterisiert. Macht sei keinesfalls auf eine solche Verengung zu reduzieren und eben vielmehr als ein »Geflecht komplexer, schwieriger, niemals funktionalisierter Beziehungen« zu verstehen. An dieser Stelle setzt sich Foucault auch dezidiert mit dem Vorwurf auseinander, er reduziere die Analyse von Machttechnologien auf eine Metaphysik der Macht, die lediglich nach dualistischem Modell zwischen Macht und Ohnmacht zu unterscheiden wisse. In der spinozistischen Rekonstruktion seines Machtbegriffs wird aber gerade deutlich, dass erst die metaphysische Perspektivierung den eigenwilligen Charakter von Macht überhaupt verdeutlichen und ihre umfassende, vielschichtige Wirkung aufzeigen kann. Der Begriff einer Metaphysik der Macht wird wesentlich zu eng und zu einseitig ausgelegt, wenn ihm substantialistische und dualistische Verengungen unterstellt werden. Michel Foucault, »Erläuterungen zur Macht. Antwort auf einige Kritiker« (1978), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2003, Bd. 3 (1976–1979), S. 784–795 (Nr. 238), hier: S. 788 ff. 151 Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4, S. 269 (Nr. 306).

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Foucault selbst betont, »nicht die Macht, sondern das Subjekt«. 152 Für die Analyse von Machtbeziehungen in einem weiteren Sinne und zur »Erforschung der Objektivierung des Subjekts« fehlen jedoch der rechte Begriff von Macht und »die entsprechenden Werkzeuge«, wie Foucault 1982 festhält. 153 Dass Macht aber nicht in verengenden Zugriffen verhandelt werden darf, die ihre Wirkung lediglich in rechtlichen oder institutionellen Kontexten sehen, und dass sie sich nicht in der Feststellung ihres ausschließenden, repressiven, normierenden oder disziplinierenden Charakters erschöpft, wusste Foucault. So wollte er auch keine Theorie der Macht entwickeln, denn diese würde Macht als einen objektiv vorhandenen Gegenstandsbereich zu bestimmen und in ihren Manifestationen auszumachen suchen. Die Frage nach einer Theorie der Macht verneint Foucault, da »jede Theorie eine Objektivierung voraussetzt« und insofern nicht als Grundlage der Machtanalyse dienen kann. 154 Um substantialisierenden Aporien zu entgehen, stellt er vorerst nur die Frage nach dem ›Wie‹ der Macht: »Wenn ich der Frage nach dem ›Wie‹ vorläufig den Vorzug gebe, so heißt das nicht, dass ich die Frage nach dem Was und Warum gar nicht stellen wollte. Ich will sie nur anders stellen. Ich möchte wissen, ob wir uns Macht als etwas vorstellen dürfen, das ein Was, ein Wie und ein Warum in sich vereint. Etwas zugespitzt könnte ich sagen, wenn ich die Analyse mit dem ›Wie‹ beginne, äußere ich damit den Verdacht, dass es Macht gar nicht gibt. Jedenfalls frage ich, was man eigentlich inhaltlich meint, wenn man diesen majestätischen, globalisierenden, substanzialisierenden Ausdruck gebraucht. Und ich habe den Verdacht, dass man eine recht komplexe Realität außer Acht lässt, wenn man immer nur fragt: ›Was ist Macht? Woher kommt Macht?‹« 155 Die Frage nach dem ›Wie‹ der Macht zielt also darauf, ihren temporalen und anonymen Ereignischarakter und ihre vielschichtige Dynamik zu beschreiben und Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4, S. 270. 153 Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4, S. 270. 154 Es kann für Foucault also zwar keine Theorie der Macht geben, aber es muss eine kritische Begriffsbildung geben, die sich ständig verifizierend und im Bewusstsein ihrer historischen Situation an den Problemen orientiert und die erforderlichen Begriffe auslotet, ohne dabei einfach Objekte zu unterstellen. Vgl. zu diesen methodologischen Überlegungen: Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4 (1980–1988), Nr. 306, S. 269 ff. 155 Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4, S. 281. 152

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vor allem ihre immanente Funktionsweise einzuholen. Dabei zielt die Frage nach dem ›Wie‹ der Macht gerade nicht auf die Beugung, die Brechung oder die Negation eines individuellen Gegenübers, das nur als passiv verstanden werden kann, sondern vielmehr auf die Konstitution eines Gegenübers, das sich von der Wirkung der Macht ausgehend als dieses oder jenes Individuum versteht. 156 In diesem Sinne lässt sich Foucaults Analytik der Macht also als eine Theorie der elementaren Strukturen und Wirkungen verstehen, die sich als Machtwirkungen zwischen verschiedenen Individuen ereignen. Und die zur »Erkundung des Terrains vorausgeschickte empirische Frage, wie denn Macht ausgeübt wird, soll keine falsche ›Metaphysik‹ oder ›Ontologie‹ der Macht, sondern eine kritische Erforschung des Themas Macht vorbereiten.« 157 Wenn Foucault also betont, gerade keine Theorie der Macht und noch viel weniger eine Metaphysik oder eine Ontologie der Macht entwickeln zu wollen, dürfte es ihm vor allem um die Vermeidung substantialistischer Verengungen des Machtdenkens gegangen sein. Eine Theorie, die den relationalen und potenziellen Charakter der Macht einzuholen und ihre verzweigten Wirkungen modellhaft abzubilden sucht, dürfte ihm im Gegenteil entgegengekommen sein. So liegt unter den Analysen, die er beispielsweise im Bereich der Sexualität vorgenommen hat, eine sehr genaue Konzeption von Macht in ihren Wirkungsweisen, die immer wieder wie eine nominalistische Theorie – denn »zweifellos muß man Nominalist sein«, um Macht zu verstehen – in der praktischen Analytik der Macht aufgezeigt wird. 158 Der individuierende und subjektkonstituierende Charakter der Macht wird von Foucault deutlich hervorgehoben und als das glatte Gegenteil der Bildung eines einzigen Körpers verstanden, dessen Seele, wie Hobbes es sich vorgestellt hat, die Souveränität des übergeordneten Leviathan ist, an den die Individuen ihre Macht abgeben. »Mit anderen Worten, anstatt sich zu fragen, wie der Souverän oben erscheint, sollte man eher versuchen herauszubekommen, wie sich ausgehend von der Vielfalt der Körper, der Kräfte, der Energien, der Substanzen, der Begierden und der Gedanken fortschreitend, real und materiell die Subjekte konstituiert haben; es gilt, die materielle Instanz der Unterwerfung als Konstitution der Subjekte zu erfassen.« Michel Foucault, »Vorlesung vom 14. Januar 1976«, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 113 f. Foucault betont dann noch einmal, dass es, um Macht außerhalb eines begrenzten Feldes von Herrschaft auszumachen, gilt, sich vom Modell des Leviathan und auch von den rechtlich-politischen Theorien der Souveränität freizumachen, die sich, aus der Aufnahme des römischen Rechts im Mittelalter kommend, um das Problem der Monarchie herum aufgebaut haben. Michel Foucault, »Vorlesung vom 14. Januar 1976«, in: Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 119. 157 Michel Foucault, »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, Bd. 4, Nr. 306, S. 281. 158 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1977, S. 94. Vgl. zu diesem Nominalismus und zur Frage der metaphysischen Herkunft des Foucaultschen Machtbegriffs auch David Couzens Hoy, der die Frage der Macht im breiten Kontext nietzscheanischer und marxistisch-kritischer Theorien diskutiert. David Couzens Hoy, »Power, Repression, 156

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Foucault versteht unter Macht die vielfältigen Kräfteverhältnisse, »die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Wiedersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern«. 159 Hier wird ein Raster der Möglichkeits- und der Wirklichkeitsbedingungen von Macht entworfen, durch das ihre horizontalen Linien und Verdichtungen erkennbar werden, denn ihre Wirkungen sind nicht aus einem Zentrum der Macht zu verstehen, aus dem heraus diese in Erscheinung tritt, sondern als ein immanentes Feld von Wirkungen, in dem sich Machtverhältnisse immer wieder neu erzeugen. »Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. Und ›die‹ Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht.« 160 Dass Macht für Foucault nicht die absolute Macht einer Souveränität ist, ergibt sich wie von selbst aus der Analyse der Spur, die sie in die Wirklichkeiten einschreibt, in denen sie wirkt. Eine ontologische Bestimmung dieser Machtwirkungen hat daher vor allem deutlich zu machen, dass wir es nicht mit einem substantialistischen Begriff von Macht zu tun haben, über die einzelne Individuen verfügen oder die sie erleiden, sondern vielmehr mit einem relationalen Begriff von Macht, durch den Individuen nicht als ihr Ursprung, sondern als durch Machtwirkungen konstituierte Effekte erkennbar werden. 161 Denn »Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.« 162 Eine mögliche Progress: Foucault, Lukes, and the Frankfurt School«, in: ders., Foucault. A Critical Reader, Oxford 1986, S. 123–148. 159 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, a. a. O., S. 93. 160 Ebd., S. 94. 161 Diesen »strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse« und ihre Gebundenheit an Widerstandspunkte, in denen sich relationale Beziehungen strukturieren, betont Foucault bereits selbst und nimmt damit die ganze Debatte um Substantialität und Relationalität der Macht vorweg. Vgl. Ebd., S. 96. 162 Ebd., S. 94.

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Ontologie der Gegenwart hat also, will sie die Bedeutung von Macht verstehen und das Individuum nicht einfach als ursprüngliche Einheit des Machtgeschehens voraussetzen, zuallererst ihre Grundbegriffe von Substanz auf Relation umzustellen. Sie muss die Kräfte und die Wirkungen freilegen, die sich in den Einheiten der Gesellschaft bilden, und von da aus die Spaltungen verfolgen, die den Körper der Gesellschaft als Ganzes durchlaufen. Anhand der Linien oder auch der Spuren der Macht werden dann auch die »Neuverteilungen, Angleichungen, Homogenisierungen, Serialisierungen und Konvergenzen« deutlich, die sich als Verdichtungen und auch als »Hegemonie-Effekte« zeigen. 163 In dieser spekulativen Konzeption des Machtbegriffs lässt sich der implizite Bezug Foucaults auf Spinoza sichtbar machen. 164 Vor allem Deleuze hat Foucaults Begriff der Macht implizit im Sinne der potentia und damit als ein Feld von Kräften und Wirkungen ausgewiesen und ihn in eine Linie gestellt, die ihren Einsatzpunkt bei Spinoza findet. Deleuze sieht bei Foucault Machtverhältnisse als Kräfteverhältnisse bestimmt. »Was ist die Macht?« 165 So fragt Deleuze in seinem Foucault Buch von 1986 – und antwortet selbst: »Die Definition Foucaults scheint sehr einfach zu sein: Macht ist ein Kräfteverhältnis, oder vielmehr jedes Kräfteverhältnis ist ein ›Machtverhältnis‹. [. . . ] Weiterhin tritt die Kraft niemals im Singular auf; zu ihrem Wesen gehört es, daß sie mit anderen Kräften in Beziehung steht, so daß jede Kraft bereits in einer Ebd., S. 95. Die Ambivalenz einer solchen Konzeption von Macht bei Foucault betont Martin Saar und verweist darauf, dass dieses Verständnis von Macht der menschlichen Handlungsfähigkeit und den einzelnen politischen Akteuren keine Bedeutung beimisst und die Möglichkeit des Einzelnen, seine Kräfte zu entfalten und vielleicht Widerstandspositionen einzunehmen, außen vor lässt. Vgl. ders., Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, a. a. O., S. 165 f. Eine Wiederaneignung der Macht durch das handelnde und intentional gerichtete Individuum lässt sich dann im Spätwerk Foucaults in der Form einer Ethik der Selbstsorge ausmachen und wird wohl am deutlichsten in seiner bekannten Antwort auf die Frage: Was ist Kritik? von 1978. Kritik ist nämlich »die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden«. Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992. Man könnte durchaus sagen, dass die Notwendigkeit des Regiertwerdens gesehen und der ubiquitäre Charakter der Macht damit in gewisser Weise anerkannt wird, denn es geht nicht darum, nicht regiert zu werden, sondern nur darum, »nicht dermaßen regiert zu werden« und sich mit Hilfe einer ethischen Kunst des Lebens den unhintergehbaren und konstitutiven Zugriffen der Macht einigermaßen zu entziehen. Diese Wendung zu einer ethischen Selbstsorge weist dann auch wieder in Richtung einer Ethik, wie Spinoza sie sich vorgestellt hat: einer Ethik, die darauf hinausläuft, die allgemeine potentia in die je eigene potentia agendi umzuwandeln. 165 Diese Frage wollte Foucault sich verkneifen: »Was ist die Macht, oder vielmehr – denn ich will ja gerade nicht die alles krönende theoretische Frage stellen – welches sind die verschiedenen Machtdispositive mit all ihren Mechanismen, Wirkungen und Beziehungen, die auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft, in so verschiedenen Bereichen und in so unterschiedlichem Umfang funktionieren?« Michel Foucault, »Wahrheit und Macht. Interview von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino«, in: ders., Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 68. 163 164

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Beziehung steht, das heißt Macht ist: die Kraft besitzt kein anderes Objekt, kein anderes Subjekt als die Kraft.« 166 Foucault selbst spricht ebenfalls immer wieder in dieser Weise von der Entfaltung, der Vielheit und der Allgegenwart von Kräfteverhältnissen und ihrer Immanenz in einem politischen Feld. 167 Auch im Moment ihrer Verselbständigung kann Macht sich von den Kräfteverhältnissen, die ihr zugrunde liegen, nicht lösen und bleibt an die Materialität der Körper und der Dinge gebunden, durch die sie übertragen wird. Foucault macht deutlich, dass Macht als etwas analysiert werden muss, das zirkuliert und wie eine Verkettung von Wirkungen und Mechanismen funktioniert. Sie ereignet sich nicht erst zwischen denen, die sie haben, und denen, die sie nicht haben, sondern als etwas, das durch die Individuen hindurchgeht. Es geht für ihn nicht darum, »die geregelten und legitimen Formen der Macht in ihrem Zentrum zu analysieren, [sondern] im Gegenteil darum, die Macht an ihren äußersten Punkten, in ihren letzten Andeutungen, dort, wo sie kapillarisch wird, zu erfassen«. 168 Macht muss also »als etwas analysiert werden, das zirkuliert, [. . . ] das nur in einer Kette funktioniert; sie [. . . ] übt sich als Netz aus, und über dieses Netz zirkulieren die Individuen nicht nur, sondern sind [. . . ] in der Lage, diese Macht zu erleiden und auch sie auszuüben, [. . . ] sie sind stets deren Überträger. Mit anderen Worten, die Macht geht durch die Individuen hindurch, sie wird nicht auf sie angewandt.« 169 Wenn Macht also, wie hier beschrieben, frei zirkuliert und von den Individuen aktiv ergriffen oder passiv erlitten werden kann, wenn sie durch die Individuen hindurchgeht und sich erst durch die Individuen überträgt, dann muss sie wie ein allgemeines Prinzip verstanden und als nominaler Begriff eines ontologisch zu bestimmenden ZuGilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 99–130, hier: S. 99. Deleuzes Buch über das Denken Foucaults stellt uns einen spinozistischen Foucault vor, der den Zusammenhang von Macht und Affizierung in einer Mannigfaltigkeit von Kräfteverhältnissen durchdenkt und auf die Bedingungen des Erscheinens und des Verschwindens des Menschen anwendet. »Vor drei Jahrhunderten wunderten sich Dummköpfe, daß Spinoza die Befreiung des Menschen erstrebte, obgleich er nicht an dessen Freiheit noch an dessen besondere Existenz glaubte. Heute wundern sich neue Dummköpfe [. . . ] darüber, daß Foucault an politischen Kämpfen teilnahm, er, der doch den Tod des Menschen verkündet hatte.« Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 125 f. »Und im Menschen gilt es, Foucault und Nietzsche zufolge, die Gesamtheit der Kräfte zu suchen, die Widerstand leisten . . . gegen den Tod des Menschen. Spinoza sagte: Wir wissen nicht, was ein menschlicher Körper vermag, sobald er sich von den Disziplinen des Menschen befreit. Und Foucault: wir wissen nicht, was der Mensch ›als lebendiges Wesen‹, als Gesamtheit von ›Widerstandskräften‹ vermag.« Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 129 f. 167 Vgl. zum Beispiel: Michel Foucault, Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 71, 109 oder 112. 168 Michel Foucault, »Vorlesung vom 14. Januar 1976«, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 112. 169 Ebd., S. 114. 166

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sammenhangs erfasst werden. Macht ist also ein immanentes Prinzip; das heißt nicht, dass sie auf eine substanzielle Kraft zu reduzieren ist, sondern vielmehr, dass sie in vielfältigen und kontingenten Spannungen, Übertragungen und Konfrontationen zwischen verschiedensten Individuen entsteht. Foucaults Machtdenken hat also eine spekulative, oder vielleicht könnte man sogar sagen: eine naturphilosophische Seite, die auf den Begriff der potentia zurückzuführen ist und von hier aus entfaltet werden kann, auch wenn dieser metaphysische Begriff für Spinoza zuerst nur ein Grundprinzip der Substanz kennzeichnet, das in den einzelnen Modi zum Ausdruck kommt. Macht liegt in diesem Sinne als eine immanente Potenz vor und kann durch das Individuum ergriffen werden. Die ontologische Wendung von Foucaults Machtbegriff im Sinne der potentia gibt also den Blick frei auf Machtverhältnisse als relationale Konstitutionsverhältnisse im immanenten Gesamtzusammenhang des Seins. Mit Spinozas Begriff der potentia lässt sich eine ontologische Konzeption von Individuationskräften begründen, durch die Macht als ein Prinzip der Existenz und der Selbsterhaltung deutlich wird. Potentia ist keine Macht der Herrschaft und der Unterwerfung – das wird sie, wie von Spinoza her sehr deutlich wird, erst als potestas –, sondern ein einheitliches Grundprinzip, das als ihr Vermögen die Wirklichkeit der Individuen ergibt. Erst in ihrer ontologischen Wendung zeigt sich Macht als die konstituierende und übergreifende Kraft, als die Foucault sie immer wieder darstellt, und um diese relationale und dynamische Verfasstheit von Macht abzubilden, erweist sich der Rückgang auf den metaphysischen Hintergrund des Machtbegriffs als wichtig. Versteht man Macht also im dargestellten Sinne als potentia der gesamten Natur und damit als Vermögen eines jeden Individuums, sich selbst zum Ausdruck zu bringen, so zeigt sich Foucaults Theorie der Macht auch als eine Theorie der Individuation. Dabei ist diese Individuationsmacht keine Macht, die dem Individuum innewohnt, sondern sie liegt im Außen des Individuums vor und konstituiert seine Gesten, seine Begierden, seine Äußerungen wie auch seine Innerlichkeit. Das bedeutet, »dass das Individuum nicht das der Macht gegenüberstehende ist, es ist [. . . ] eine ihrer ersten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wirkung der Macht, und es ist zugleich eben in dem Maße, wie es eine Wirkung ist, ein Überträger: Die Macht geht durch das Indiviuum hindurch, das sie konstituiert hat.« 170 Macht in diesem immanenten Sinne ist eine affirmative Bewegung, die die Grenzen der Individuen permanent überschreitet und das Feld ihrer Erfahrungen ständig verändert und neu konstituiert. Das Individuum wird in dieser immanenten Dynamik der Macht hervorgebracht, 170 Michel Foucault, »Vorlesung vom 14. Januar 1976«, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 114 f.

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es ist nicht einfach einer Macht unterworfen, die es teilend durchzieht und sich gegen seine Natur richtet. Und es leitet sich auch nicht, wie die klassischen Sublimierungstheorien beschreiben, aus einer Negativität seiner Natur, d. h. aus Mangel, Begehren, Trieb usw. her, sondern es ist immanenter Teil eines Machtgeschehens, das durch es hindurchgeht, es hervorbringt und durch das es sich erhält. Um sich von dieser Macht her zu erkennen und sich in seiner Potentialität zu realisieren, muss es die immanente Kausalität der Natur, in die es eingelassen ist, verstehen. Foucaults Bemerkung zu einer »Ontologie unserer selbst« kann als eine Analyse von Individuationsprozessen in überindividuellen Wirkungszusammenhängen verstanden werden. Betrachtet man Macht also nicht als etwas, das dem Individuum gegenübersteht oder es unterwirft, sondern als etwas, das ihm als Seiendem eigen ist, so zeigt sich die Potentialität von Macht als ein individuelles Vermögen. In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass auch für Foucault der grundsätzliche Antrieb des individuellen Wollens ein Streben nach Macht ist, durch das sich das Individuum erhält. Macht changiert also zwischen Aktivität und Passivität: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.« 171 Machtverhältnisse bestehen also gewissermaßen nur durch vielfältige Widerstandspunkte, die das Verhältnis von Aktivität und Passivität in der Machtverteilung aufrechterhalten. Individualität wird hier nicht aus einer ursprünglichen Wesenhaftigkeit des Individuums hergeleitet und diesem in Ableitung zugeschrieben, sondern sie erfährt eine immer wieder neue Konstitution durch äußere Machtwirkungen. Foucaults Machtdenken und die genealogische Praxis seiner Analyse von Macht weisen also eine außerordentliche Nähe zu dem Begriff der Macht auf, den wir von Spinoza als einen ontologischen Grundbegriff vorgeführt bekommen. Machtverhältnisse sind für Foucault dynamische und überindividuelle Wirkungen, die Wissensund Wahrheitsdiskurse erzeugen und den Körper des Individuums wie auch den der Gesellschaft vielfältig durchqueren. Unterhalb der Untersuchung der »Ökonomie der Wahrheitsdiskurse« und ihrer Umsetzung in die Wirkungen des Wissens, des Rechts, des Lebens usw. liegt also die philosophische Frage nach dem Charakter der Macht selbst. 172 Folgt man Foucaults Hinweis auf die Ontologie, wird deutlich, dass es ihm nicht nur um die Unterwerfung des Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, a. a. O., S. 96. Die Wendung von der »Ökonomie der Wahrheitsdiskurse« nutzt Foucault, um die Funktionsweise und die Umsetzung von Macht in Wahrheitsdiskursen festzuhalten: »In einer Gesellschaft wie der unseren – doch letztlich in jeder beliebigen Gesellschaft – durchqueren, charakterisieren und konstituieren vielfältige Machtbeziehungen den Gesellschaftskörper; und sie können sich weder aufspalten noch einrichten, noch funktionieren ohne eine Produktion, eine Akkumulation und eine Zirkulation des wahren Diskurses. Es gibt keine Ausübung der Macht ohne eine gewisse Ökonomie 171

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Subjekts gegangen ist, sondern ebenso um die Bedingungen seiner Konstitution und damit auch um die Bedingungen seiner individuellen Ausarbeitung im Feld der Machtwirkungen, in dem es sich vorfindet. Die philosophiegeschichtliche Linie des metaphysischen Denkens der Macht zu verfolgen, bedeutet auch, Macht von der Freiheit des menschlichen Individuums her zu verstehen, sich in den Affektionsverhältnissen und den daraus entstehenden Affekten zu erhalten und zu entfalten.

der Wahrheitsdiskurse, die in, ausgehend von und mittels dieser Macht funktionieren.« Michel Foucault, »Vorlesung vom 14. Januar 1976«, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 109.

Immanente Ethik

Wie sich gezeigt hat, ist Spinozas Konzeption des menschlichen Individuums mindestens ebenso voraussetzungsreich in ihren theoretischen Grundlagen wie folgenreich in ihren praktischen Konsequenzen. In den drei behandelten Bereichen – Ontologie und Erkenntnistheorie, Affekte und Körper, Individuation und Macht – konnte der umfassende Zusammenhang immanenter Individuation vom Ganzen der selbstursächlichen Substanz bis zu den machttheoretischen Grundlagen der Individualität deutlich gemacht werden. Als ein zentraler Aspekt hat sich dabei der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie erwiesen, durch den die pragmatischen Konsequenzen einer ontologischen Theorie des menschlichen Individuums ausgelotet werden können. Spinoza fordert uns gleichermaßen heraus, sein Denken als Metaphysik wie auch als Ethik nachzuvollziehen und es damit auch als eine mögliche Moralund Wertkritik zu verstehen. Seine ambivalente Stellung in der Philosophiegeschichte ist auch dieser doppelten Perspektive geschuldet und es reicht nicht, Spinozas metaphysische Intervention in den Blick zu nehmen, sondern es geht vielmehr darum, die praktischen und auch die normativen Konsequenzen dieses Denkens zu verstehen. Ethik ist in diesem Sinne eine Analyse der immanenten Organisation der Kräfteverhältnisse in die die Individuen eingelassen sind und durch die sie konstituiert werden. Die Theorie immanenter Individuation bestimmt Individualität als eine intensive Verdichtung der Macht des Individuums, sich selbst für eine bestimmte Dauer und als ein identifizierbarer Körper in diesen Kräfteverhältnissen zu erhalten. Die Bedingungen der Möglichkeit, sich in dieser Weise selbst zu erhalten, ergeben sich aus dem relationalen Feld von Affektionen und Affekten, in dem jedes Individuum notwendig steht und in dem es sich individuiert. Es geht also um die theoretische Herleitung und die praktische Erklärung eines dynamischen Affektionsgeschehens, in dem sich Individuen bilden und in dem sie sich in einer gelingenden Weise singulär selbst erhalten. Der Einsatzpunkt von Spinozas Hauptwerk wurde in der vorliegenden Untersuchung als klarer und systematischer Ausgangspunkt von Immanenz vorangestellt und mit der paradoxen ersten Setzung einer Substanz, die Ursache ihrer selbst ist und aus sich selbst hervorgeht, konnte die Erklärung des Existenzzusammenhangs der Menschen nach seinen eigenen Bedingungen nachvollzogen werden. Mit der Bestimmung einer Ganzheit des Seins ist die Grundlage der Annahme einer immanenten Kausalität in den parallelen Ver-

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Immanente Ethik

hältnissen des Denkens und der Ausdehnung gegeben und Immanenz kann zum umfassenden Horizont des Prinzips der immanenten Kausalität werden, aus dem sich menschliche Lebenszusammenhänge in ihren inneren Konstitutionsverhältnissen erklären lassen. Der Grundgedanke der Immanenz bestimmt also die Metaphysik und die Ethik zugleich und daher können wir bei Spinoza von einer stringenten Theorie immanenter Individuation sprechen, die sichtbar wird, wenn man das enge Gerüst der geometrischen Darstellung überschreitet. Die Herausforderung immanenten Denkens besteht heute freilich nicht mehr darin, metaphysische Transzendenzbezüge zu überwinden und theologische Autorität abzuwehren. Heute ist mit der Annahme der Immanenz vielmehr eine horizontale Gleichheit des Seins zu bestimmen, in der es keine privilegierten oder ursprünglichen Einheiten gibt, sondern nur kausale Verbindungen der immanenten Konstitution von Einzeldingen. In einer immanenztheoretischen Perspektive lassen sich die Orientierungen des Denkens und des Handelns aus der immanenten Kausalität des Seinszusammenhangs herleiten und in ihren Wirkungsverhältnissen beschreiben. Mit der Schließung dichotomischer Denkfiguren zu einer immanenten Einheit ist der Umbau von einer vertikalen zu einer horizontalen Konstitutionsordnung verbunden. So können nicht nur die normativen Orientierungen der Menschen aus der immanenten Kausalität ihres Seinszusammenhangs hergleitet werden, sondern die Erkenntnis des immanenten Seinszusammenhangs kann auch als eine Bedingung ihrer Autonomie und ihrer Emanzipation verstanden werden. Das Versprechen, das mit dem Namen Spinozas und seiner Konzeption von Immanenz einhergeht, erfüllt sich also nicht von selbst, sondern es muss als Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit eines gelingenden Lebens hergestellt werden. Der Rationalismus Spinozas ist ein ethischer Rationalismus der affektiven Vernunft und damit auch eine immanente Neubeschreibung der Vernunft selbst, die immer wieder aktualisiert und ausgearbeitet werden muss.

Zitierweise und Siglen

Die deutschen Zitate Spinozas entstammen den derzeit im Deutschen gebräuchlichen Übersetzungen von Wolfgang Bartuschat, der die aktuellsten Neuausgaben der Sämtlichen Werke weitgehend besorgt hat. Lateinische Zitate der Bartuschat-Ausgaben, die nicht lateinisch-deutsch angelegt sind, folgen den Opera, die Carl Gebhardt bei Winter in Heidelberg 1925 herausgegeben hat. Ebenfalls gut zu nutzen ist die CD-ROM »Spinoza im Kontext«, die sämtliche Werke der Meiner-Ausgabe auf Lateinisch / Niederländisch und Deutsch beinhaltet. Die Ethica wird in der verbreiteten Zitierweise angegeben, durch die die Nutzung unterschiedlicher Ausgaben erleichtert wird. E1p17s bedeutet demnach z. B. Ethik, Erster Teil, Lehrsatz 17, Anmerkung; E2p8c bedeutet Ethik, Zweiter Teil, Lehrsatz 8, Folgesatz. Dabei steht d für definitio, dem für demonstratio, a für axioma, post für postulatum, p für propositio, c für corollarium, s für scholium, app für appendix, praef für praefatio, lem für lemma, ex für explicatio. Folgende Siglen werden verwendet: SW Sämtliche Werke in sieben Bänden. Weitgehend neu bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner. Neuausgaben seit 1977. CW Complete Works. Herausgegeben von Michael L. Morgan und übersetzt von Samuel Shirley. Indianapolis / Cambridge: Hackett 2002. E

Ethica. De Ordine geometrico demonstrata. Dt.: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. (Lateinisch-Deutsch), Hamburg: Meiner 2007 (SW 2). Zum Vergleich siehe auch die Übersetzungen von Jakob Stern, Stuttgart: Reclam 1977 oder von Carl Vogl, Stuttgart: Kröner 1982.

Ep

Epistolae. Dt.: Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Zweite, durch weitere Briefe ergänzte Auflage mit Einleitung und Bibliographie von Manfred Walther. Hamburg: Meiner 1977 (SW 6).

CM Appendix, continens Cogitata Metaphysica Dt.: Anhang, enthaltend Gedanken zur Metaphysik. In: Descartes' Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt mit einem Anhang enthaltend Gedanken zur Metaphysik. Neu übersetzt, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2005 (SW 4).

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Zitierweise und Siglen

KV Korte Verhandeling van God, de Mensch en des Zelfs Welstand. Dt.: Kurzer Traktat über Gott, den Menschen und dessen Glück. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2014 (SW 1). (Der Kurze Trakat ist nicht in den 1677 kurz nach Spinozas Tod erschienenen Opera Posthuma enthalten, sondern war verlorengegangen. Überliefert ist die Kopie einer niederländischen Übersetzung des lateinischen Textes, die erstmals 1862 in Amsterdam erschienen ist.) LG

Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente. Vermehrte Neuausgabe. Mit Erläuterungen herausgegeben von Manfred Walther. Übersetzung der Lebensbeschreibungen von Carl Gebhardt. Hamburg: Meiner 1998 (SW 7).

PPC Renati Des Cartes Principiorum Philosophiae. Dt.: Descartes' Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt mit einem Anhang enthaltend Gedanken zur Metaphysik. Neu übersetzt, herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2005 (SW 4). TIE Tractatus de intellectus emendatione. Dt.: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. (Lateinisch-Deutsch), Hamburg: Meiner 2003 (SW 5.1). TTP Tractatus Theologico-Politicus. Dt.: Theologisch-Politischer Traktat. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2012 (SW 3). TP

Tractatus Politicus Dt.: Politischer Traktat. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. (Lateinisch-Deutsch), Hamburg: Meiner 1994 (SW 5.2).

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Nachweise

Einzelne Abschnitte dieser Arbeit sind inzwischen zur Grundlage weiterführender Publikationen geworden: »Transindividuality. Affective continuity of the social in Spinoza«, in: Bueno Rosa / Henning Gregor (Hg.), Critical theory and New Materialism, Routledge 2020. »Potentialität in der Ethik Spinozas«, in: Barbara Vetter / Christof Rapp (Hg.), Online Publikation des 1. Philosophischen Symposiums der DFG (Villa Vigoni 2019). »Substanz, Körper und Affekte. Immanente Individuation bei Spinoza und Deleuze«, in: Thomas Kisser / Katrin Wille (Hg.), Spinozismus als Modell? Deleuze und Spinoza, München 2019, S. 13–47. »Das Band der Affekte. Relationalität in Spinozas immanenter Ontologie der Menge«, in: Thomas Bedorf / Steffen Herrmann (Hg.), Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 311–332. »Transindividuelle Affizierung. Spinozas relationale Ontologie bewegter Körper«, in: Undine Eberlein (Hg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen – Intercorporeity, Movement and Tacit Knwoledge, Bielefeld 2016, S. 109–135.