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German Pages [252] Year 2023
Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
18
Nora Pietsch
Nichtschädigung als Verantwortung Eine Minimalmoral für ökonomisches Handeln
Mohr Siebeck
Nora Pietsch, geboren 1987; Studium der Sozialwissenschaften an der TU Kaiserslautern (2012 Bachelor, 2014 Master); Promotionsstudium der Praktischen Philosophie an der TU Dortmund; seit 2020 beim Diözesancaritasverband Münster e.V. in den Bereichen Sozial- und Verbandspolitik tätig. orcid.org/0000-0001-6859-3365
Gedruckt mit Unterstützung des Bistums Münster. ISBN 978-3-16-161419-4 / eISBN 978-3-16-161420-0 DOI 10.1628/978-3-16-161420-0 ISSN 2198-3933 / eISSN 2568-7344 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Diese Arbeit wurde von Beginn an mit großer Offenheit und wichtigen Impulsen begleitet von Herrn Prof. Dr. Christian Neuhäuser, wofür ich ihm sehr herzlich danke. Danken möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Andreas Suchanek für seine wertvollen Einschätzungen als Zweitgutachter. Frau Dr. Martina Herrmann hat mir, ebenfalls während des gesamten Arbeitsprozesses, durch konstruktives Nachfragen die eigene Perspektive geschärft – das habe ich immer sehr geschätzt, und dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei ihr bedanken. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für die Förderung durch ein Promotionsstipendium sowie dem Bistum Münster für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Mein persönlichster Dank gilt meiner Familie, insbesondere meinem Mann Benedict.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext für ökonomische Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben . . . . . . . . .
9
1.1.1 Adam Smith: Moralische Aufwertung des Eigennutzstrebens . . . 10 1.1.2 Zur theoretischen Aufwertung des Nutzenstrebens bei John Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
. . . . . . . . . . . 20
1.2.1 Normativität der „rationalen Wahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2.2 Moralische Probleme dieser Normativität . . . . . . . . . . . . . . 29
2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als wirtschaftsethische Maximalpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.1.1 Wirtschaftsethik als Grundlagenkritik
. . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.1.2 Rationale Akteure als ideale vernünftige Akteure . . . . . . . . . . 44 2.1.3 Wirtschaftsethik als kommunikative Ethik . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1.4 Die Integrative Wirtschaftsethik aus nicht-idealer Perspektive . . . 52 2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.1 Eigennutzmaximierung als Selbstschutz . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.2 Die Rahmenordnung als Voraussetzung der Individualmoral . . . 61 2.2.3 Zentrale Einwände gegen eine starke moralische Entlastung ökonomischer Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3 Zur Bedeutung der nicht-idealen Perspektive in der Wirtschaftsethik . . 74
VIII
Inhaltsverzeichnis
3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition . . .
79
3.1 Moralische Verbindlichkeit und praktische Wirksamkeit des Schadensprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
3.2 Das wirtschaftsethische Schadensprinzip in nicht-idealer Perspektive
. .
82
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips . . . . . . . . . 3.4.1 Kurt Bayertz: Nichtschädigung als gesellschaftliche Forderung 3.4.2 Begründungsschwierigkeiten des sozial bedingten Sollens . . 3.4.3 Bernard Gert: Nichtschädigung als rationale Strategie . . . . 3.4.4 Zentrale Schwierigkeiten prudentieller Begründungen des Schadensprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Schadenszustand und Interessensverletzungen . . . . . . 3.5.2 Tun und Unterlassen als kausale Faktoren . . . . . . . . 3.5.3 Die Zustandsbezogenheit des wirtschaftsethischen Schadensprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. 98 . 99 . 106 . 110
. . . 117
. . . . . 121 . . . . . 122 . . . . . 125 . . . . . 127
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip . . . 133 4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen . . . . . . . . 4.1.1 Probleme eines subjektivistischen Wohlergehensbegriffs . . 4.1.2 Wohlfahrtsinteressen als vitale Interessen und relative Armut 4.1.3 Die Bedeutung „vitaler“ Fähigkeiten und Funktionsweisen 4.1.4 Wohlfahrtsinteressen als moralische Ansprüche . . . . . . 4.1.5 Minimales Wohlergehen als Schwellenwert . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
136 136 139 143 153 156
4.2 Nichtschädigung als moralische Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Unparteilichkeit und Wohlwollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Unparteilichkeit als Distanzierung vom Selbstinteresse . . . . . . 4.3.3 Unparteilichkeit und der moralische Standpunkt ökonomischer Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
165 165 169 173
. . . 183
5.1 „Verantwortung“ und das wirtschaftsethische Schadensprinzip . . . . . 185 5.2 Ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen . . . . . . 188 5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure . . . . . 195 5.3.1 Zur Verantwortungsfähigkeit von Unternehmen und Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.3.2 Dilemmatische Situationen, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Inhaltsverzeichnis
IX
5.3.3 Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.1 Das Schadensprinzip als nicht-ideale wirtschaftsethische Position . . . . 213 6.2 Das Schadensprinzip und ökonomische Rationalität 6.3 Das Schadensprinzip und CSR
. . . . . . . . . . . 216
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Einleitung Trotz anhaltender wirtschaftsethischer Debatten scheint der konkrete moralische Anspruch an einzelne ökonomische Handlungen weithin seltsam offen. Ganz grundsätzlich lässt sich sagen, dass schon ein starker und zunehmender Einfluss der „Ökonomie“ auf die Lebenswelt der Akteure Fragen nach ethischen Anforderungen an ökonomisches Handeln dringlich macht: „Ethische Fragen sind im Alltag nicht nur des Öfteren sehr anspruchsvoll, sie sind auch sehr viel präsenter, als man oft wahrnimmt.“1 Konkreter zeigt sich dies an immer wieder auftretenden Schädigungsfällen wie dem Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch und der moralischen Empörung über als schädigend wahrgenommene ökonomische Handlungsweisen wie etwa dem Zahlen von Dumpinglöhnen in sweatshops2 oder Kinderarbeit.3 Zudem besitzen nicht wenige ökonomische Akteure4 – aus unterschiedlichen Gründen – ein Bedürfnis nach moralischem Handeln, stellen bei ihren ökonomischen Handlungen also einen moralischen Selbstanspruch. Zugleich bestehen unbestreitbar Anforderungen der Wirtschaftlichkeit an das Handeln ökonomischer Akteure. Diese Anforderungen geraten nicht nur immer wieder in Konflikt mit moralischen Handlungsansprüchen, sondern sie wirken selbst – mitunter stark – normativ. Diese Normativität ökonomischer Rationalitätsgründe kann so weit gehen, dass sie aus Sicht einiger Akteure 1
Suchanek 2015a: 8. Für eine Darstellung der Arbeitsbedingungen in sweatshops siehe etwa Young (2004). 3 Die Internationale Arbeitsorganisation setzt in ihrem Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (Übereinkommen 138) vom 6.6.1973 für die Arbeit von Jugendlichen ein Mindestalter von 15 Jahren, in begründeten Ausnahmefällen von 14 Jahren (Art. 2), und für Arbeit, die „voraussichtlich für das Leben, die Gesundheit oder die Sittlichkeit der Jugendlichen gefährlich ist“, ein Mindestalter von 18 Jahren, in begründeten Ausnahmefällen von 16 Jahren fest (Art. 3). Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gibt eine stärkere inhaltliche Deutung, indem sie in Artikel 32 den „Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung“ fordert; demnach dürfen „Kinder nicht zu einer Arbeit herangezogen werden, die Gefahren mit sich bringen, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte.“ 4 Als ökonomische Akteure werden in dieser Arbeit explizit Konsumenten und Unternehmen behandelt, aber alle anderen Akteure, auf die sich die im Folgenden erarbeiteten moralischen Standards anlegen lassen – beispielsweise Nichtregierungsorganisationen in ihrer ökonomischen Tätigkeit – sind ebenfalls als ökonomische Akteure im hiesigen wirtschaftsethischen Sinne zu verstehen. 2
2
Einleitung
schädigende Handlungen im ökonomischen Kontext zu rechtfertigen scheint. Die Grundthese dieser Arbeit ist, dass die Normativität ökonomischer Gründe moralisch begrenzt ist, und dies in minimalmoralischer Hinsicht dort, wo sie zu Fremdschädigungen führen würde. Das dieser These zugrundeliegende Problem ließe sich auch so beschreiben, dass unter Bedingungen der Globalisierung neue Freiheiten für ökonomische Akteure entstehen, und damit einhergehend auch neue Anforderungen an deren Selbstbegrenzung mit dem Ziel, andere nicht zu schädigen.5 Im ersten Kapitel werde ich die Normativität ökonomischer Handlungsgründe darstellen. Dabei beginne ich mit einer Skizzierung der moralischen und theoretischen Aufwertung des Eigeninteresses und des Nutzenstrebens für ökonomisches Handeln durch Adam Smith und John Stuart Mill als ideengeschichtlich zentraler Ausgangspunkt. Dabei wird auch der jeweilige Zusammenhang ökonomischer Betrachtungen mit ethischen Fragestellungen angesprochen. Darauffolgend werde ich auf die wirtschaftswissenschaftlich dominanten Rationalitätsvorstellungen und deren normativen Gehalt eingehen und diese Normativität aus moralischer Perspektive problematisieren, wofür, wie oben bereits angesprochen, das Potential von Schädigungen entscheidend ist – mit Verweis auf Smith und Mill lässt sich dieses Problem zudem als eine zu starke Entkopplung ökonomischer von ethischen Fragestellungen charakterisieren. Im zweiten Kapitel werde ich mit der Integrativen Wirtschaftsethik Peter Ulrichs und der Ökonomischen Ethik Karl Homanns zwei konträre Ansätze im Umgang mit der Normativitätsproblematik der ökonomischen Rationalität betrachten, die jedenfalls im deutschsprachigen Raum paradigmatische wirtschaftsethische Ansätze darstellen. Aus der kritischen Auseinandersetzung mit beiden idealtheoretischen Sichtweisen heraus werde ich für ein spezifisches wirtschaftsethisches Schadensprinzip als „mittlere“, nicht-ideale wirtschaftsethische Position argumentieren. „Nicht-ideal“ ist hier zum einen im Sinne einer auf relative Verbesserungen zielenden Perspektive im Gegensatz zum Anstreben eines Idealzustandes,6 und zum anderen als weniger voraussetzungsreich auf Akteurs- wie Systemebene gemeint.7 Der Kern dieser minimalmoralischen, nicht-idealen Position ist ein kontextspezifisches, wirtschaftsethisches Schadensprinzip. Dieses Prinzip verpflichtet jeden einzelnen ökonomischen Akteur auf Nichtschädigung aller anderen Akteure innerhalb ökonomischer Beziehungen und ist als alltägliche Handlungsregel zu verstehen. Das Ziel dieses wirtschaftsethischen Ansatzes 5
Vgl. Suchanek 2019: 47. Valentini (2012: 660 f.) beschreibt diese Unterscheidung idealer und nicht-idealer theoretischer Herangehensweise als Gegensatz zwischen „,end-state‘-theorizing“ und „transitional considerations“. 7 Prominent nimmt Amartya Sen (vgl. 2017: 96 ff.) das nicht-ideale, tatsächliche Verhalten der Handelnden als Ausgangspunkt. 6
Einleitung
3
ist es mithin nicht, den moralischen Menschen oder die „richtigen“ moralischen Motive ökonomischer Akteure darzustellen, sondern einen minimalmoralischen Kernbereich zu identifizieren, der auch für nicht-ideale Akteure (beispielsweise nicht ideal vernünftige Akteure) unter nicht-idealen Bedingungen gilt. Ziel ist also ein möglichst plausibles Verständnis moralischen Handelns im Bereich des Ökonomischen unter diesen nicht-idealen Bedingungen. Entsprechend können die Motive für ein solches minimalmoralisches Handeln sehr vielfältig sein – auch wer das Schadensprinzip aus Gründen der Klugheit einhält, handelt aus dieser minimalmoralischen Perspektive nicht unmoralisch. Gleichwohl muss Nichtschädigung nicht im aufgeklärten Selbstinteresse der einzelnen Akteure liegen, damit diese auf Nichtschädigung verpflichtet sind.8 Die Begrenzung der universalmoralischen Ansprüche an ökonomische Akteure ist ein Versuch, dem Problem unklarer und deshalb praktisch unverbindlicher moralischer Handlungsanforderungen im ökonomischen Kontext zu begegnen. Dabei ist es primär wichtig, zwischen unmoralischen und moralischen Handlungsweisen zu unterscheiden. Die Qualität der moralischen Handlung kann dann wiederum unterschiedlich sein, und es gibt besonders moralische Akteure, die aufgrund persönlicher moralischer Vorstellungen in einem stärkeren Sinne und größeren Ausmaß moralisch handeln als andere. Diese Akteure verdienen moralische Anerkennung und Lob. Sie sind „bessere“ Akteure als solche, die sich auf die Einhaltung der minimalmoralischen Standards beschränken. Minimalmoral ist kein moralisches Ideal. Dennoch ist letzteren kein universalmoralischer Vorwurf zu machen. Im Gegenteil, zu stark formulierte moralische Anforderungen bergen die Gefahr, in der Praxis in ihr Gegenteil umzuschlagen: Es droht eine Apologetik mit dem Verweis auf 8 Im Folgenden werde ich vom „Schadensprinzip“ oder auch dem „wirtschaftsethischen Schadensprinzip“ sprechen, wenn diese bestimmte, hier erarbeitete Form des Schadensprinzips gemeint ist. Davon abgrenzen lässt sich die Fragestellung, welche Potentiale Nichtschädigung als investive Regel bietet, inwiefern also das Selbstinteresse der Akteure schon für Nichtschädigung spricht, und welche Orientierung sich daraus für das Alltagshandeln einzelner Akteure ergibt (vgl. Suchanek/von Brook 2017; Suchanek 2019; Suchanek 2020). Diese Frage lässt sich sehr aufschlussreich aus Sicht der Ökonomischen Ethik stellen, wobei eine andere Form von Schadensprinzip, nämlich das Prinzip „Do no harm“ als „Investitionsheuristik für erfolgreiche Führung“ zentral ist (Suchanek/von Brook 2017: 25, Hevorh. im Original). Obwohl das minimalmoralische wirtschaftsethische Schadensprinzip sich also vom Ansatz der Ökonomischen Ethik unterscheidet, indem es nicht auf die Kompatibilität von Selbstinteresse und moralischem Handeln (vgl. Suchanek 2007: 39) abstellt, – indem es moralisches Handeln auch dann fordert, wenn dies dem Eigeninteresse einzelner Akteure zuwiderläuft – ist es anschlussfähig an die Fragestellung und die Erkenntnisse der Ökonomischen Ethik. Zum einen zeigt diese, dass das Selbstinteresse vieler Akteure und insbesondere von Unternehmen ein wichtiger motivationaler Ausgangspunkt für Nichtschädigung als Handlungsregel sein kann (vgl. Suchanek 2015a; Suchanek 2015b; Suchanek/von Brook 2017; Suchanek 2020). Zum anderen ist die Außenwirkung als verantwortlicher Akteur maßgeblich davon abhängig, ob Fremdschädigung unterlassen wird (vgl. Suchanek 2019: 47).
4
Einleitung
die Unmöglichkeit einer (vollständigen) Umsetzung. Mit der Plausibilisierung von Nichtschädigung als verbindlicher Minimalmoral soll der doppelten Gefahr entgegengetreten werden, dass erstens dieses substantielle moralische Minimum systematisch unterlaufen wird, und dass diese Verletzung der Minimalmoral nicht als solche erkannt und beklagt werden kann – und in der Folge die Einhaltung minimalmoralischer Standards nicht eingefordert wird. Denn wenn nicht klar ist, was die moralischen Mindestanforderungen an einen ökonomischen Akteur sind, dann fehlt ein universaler Maßstab, anhand dessen die unterschiedlichen Handlungsweisen und moralischen Standards ökonomischer Akteure bewertet und auch verglichen werden können und diese Orientierungslosigkeit bietet die Möglichkeit, auch unmoralische Handlungsweisen als bloß nicht „ideale“ Handlungsweisen zu verschleiern. Mit „Moral“ sind dabei dennoch keine apriorischen Ansprüche an das Akteursverhalten gemeint, sondern sie ergibt sich als Rekonstruktion minimalmoralischer Handlungserwartungen. Diese Anforderungen wiederum sind kontextspezifisch zu interpretieren. Vermieden wird Rigorismus auf zwei Ebenen. Erstens beinhaltet das Schadensprinzip keine „rigorose Haltung“9 bezogen auf die Handlungsmotive der Akteure. Ronald Dworkin beschreibt eine solche Haltung als Ablehnung der Vorstellung, „daß unsere Gründe dafür, moralisch zu sein, auf irgendwelche Selbstinteressen zurückzuführen sind, selbst wenn diese noch so langfristig sind. […] Die Tugend sollte ihr eigener Lohn sein, und kein Versprechen zukünftiger Vorteile sollte notwendig sein, um uns zu veranlassen, unsere Pflicht zu tun.“10 Zweitens bestehen eben keine moralischen Forderungen a priori und damit kein „Anspruch unbedingter Verbindlichkeit“, also kein „Rigorismus, der fordert, allgemeine moralische Normen undifferenziert in allen Situationen anzuwenden“.11 Mit der kontextspezifischen Interpretation der minimalmoralischen Handlungserwartungen im Zuge des wirtschaftsethischen Schadensprinzips beginne ich im dritten Kapitel. Von einer liberalen Deutung im Sinne John Stuart Mills ausgehend wird das Schadensprinzip auf die Anforderungen aktueller wirtschaftsethischer Fragestellungen hin überprüft. Dabei zeigt sich, dass eine Klugheitsbegründung moralischer Standards gegenseitiger Nichtschädigung für ökonomische Akteure nicht ausreichend ist; vielmehr kann es für einzelne Akteure klug sein, fremdschädigend zu handeln, wo dies unentdeckt möglich erscheint, oder sogar die Geltung solcher Standards zu leugnen. Deshalb ist das Schadensprinzip für wirtschaftsethische Fragen zustandsbezogen zu verstehen: Die moralische Relevanz der Nichtschädigung ergibt sich aus dem Zustand der (potenziell) Geschädigten. 9
Dworkin 2014: 324. Ebd. 11 Suchanek 2015: 9 (Hervorh. NP). 10
Einleitung
5
Das vierte Kapitel beginne ich damit, diesen Schadenszustand inhaltlich zu erarbeiten. Dabei spielen das Kriterium relativer Armut und für ökonomische Akteure als vital zu erachtende realisierte Zustände bzw. entsprechende Handlungsmöglichkeiten zusammen; relative Armut wird also kontextspezifisch durch den Fähigkeitenansatz (capability-approach)12 substantiiert. Die Abwesenheit relativer Armut beziehungsweise ein Zustand des Nichtgeschädigtseins in diesem substantiellen Sinne lässt sich dann als Position minimalen Wohlergehens verstehen. Für ökonomische Akteure ergeben sich daraus unterschiedliche moralische Ansprüche an ihr jeweiliges Handeln je nachdem, in welchem Zustand sich ihre ökonomischen Partner befinden – ob sie den Zustand minimalen Wohlergehens erreicht haben und ob sie darin gefährdet sind oder nicht. Anschließend wird das Schadensprinzip als moralische Alltagsregel für ökonomische Akteure als sekundäres Handlungsprinzip nach Mill13 dargestellt. Der Kern dabei ist, dass die Motivation der Akteure nicht entscheidend dafür ist, ob sie in minimalmoralischer Hinsicht richtig handeln, sondern die Übereinstimmung ihres Handelns mit der Regel der gegenseitigen Nichtschädigung. Entsprechend sind auch die Voraussetzungen auf Akteursebene vergleichsweise gering: Notwendig ist lediglich Unparteilichkeit in einem basalen Verständnis, indem das minimale Wohlergehen aller Personen als moralisch gleichwertig anerkannt und als Ausgangspunkt moralischer Handlungsregeln genommen wird. Zwar stellt eine solche Unparteilichkeit ebenfalls eine ideale Orientierungsidee dar, sie ist aber für nicht-ideale Akteure hinreichend gut umsetzbar, wie ich mit dem moralischen Standpunkt ökonomischer Akteure als verstärkt unparteiliche Perspektive14 ebenfalls zeigen werde. Dennoch stellt das Handeln nach minimalmoralischen Regeln eine praktische Herausforderung für ökonomische Akteure dar und muss als das Ziel eines Lernprozesses verstanden werden. Auch als Handlungsregel ergibt sich allein aus dem Gebot der Nichtschädigung allerdings nicht, wozu genau einzelne Akteure in konkreten Handlungssituationen verpflichtet sind. Diese situative Offenheit hinsichtlich der moralisch richtigen Handlungsweise werde ich im fünften Kapitel mit dem Verantwortungsbegriff bearbeiten, indem ich ökonomische Beziehungen als moralische Verantwortungsbeziehungen darstelle. Dabei zeige ich anhand der anzunehmenden Verantwortungsfähigkeit sowohl von Unternehmen als auch von Konsumenten,15 dass sich beide Akteursgruppen in solchen Beziehungen
12 Dieser Ansatz ergibt sich wesentlich aus den Arbeiten Amartya Sens und Martha Nussbaums (vgl. Robeyns 2017). 13 Vgl. Mill 2010: 73 ff.; Baker 1971. 14 Vgl. Neuhäuser 2011: 66 f. 15 Vgl. Neuhäuser 2011; Neuhäuser 2012.
6
Einleitung
befinden. Zugleich kommt ihnen ein unterschiedlicher moralischer Status zu,16 weshalb für sie in moralischen Dilemmasituationen je unterschiedliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe angeführt werden können. Unternehmen können beispielsweise Fremdschädigungen nicht durch drohende Selbstschädigung rechtfertigen, während dies für Konsumenten durchaus der Fall sein kann; gleichwohl kann die drohende Schädigung beispielsweise von Mitarbeitern einen Rechtfertigungsgrund für Unternehmen darstellen. Abschließend werde ich im sechsten Kapitel nach einer Rekapitulation des Schadensprinzips als minimalmoralische Position auf deren Verhältnis zur Normativitätsproblematik des ökonomisch Rationalen eingehen und den erarbeiteten Ansatz von anderen Ansätzen abgrenzen. Dieses letzte Kapitel endet mit einem anwendungsorientierten Ausblick auf die Anforderungen an Corporate Social Responsibility (CSR), die sich aus dem Schadensprinzip ergeben.
16 Neuhäuser (vgl. 2011: 119 ff.) argumentiert, dass Unternehmen zwar moralische Akteure, aber keine Personen sind.
1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext für ökonomische Akteure Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass ein zu starkes Gewicht ökonomischer Argumente bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Handlungsweisen zu moralischen Problemen und Schädigungen von Personen führen. Alltäglich sind etwa Arbeitsbedingungen, die sich durch eine sehr hohe Wochenstundenzahl, sehr geringe Löhne, die für die Sicherung des Lebensunterhalten kaum oder gar nicht ausreichen, fehlenden oder sehr geringen Versicherungsschutz in allen für menschliches Wohlergehen wichtigen Bereichen auszeichnen. Auch Entlassungen von Mitarbeitern werden immer wieder als moralisch problematisch wahrgenommen. Extrembeispiele für sehr häufig mit Schädigungen verbundene und dennoch alltägliche Arbeitsbedingungen – einschließlich Kinderarbeit – sind der Abbau von Kobalt1 sowie die Kakaoproduktion.2 Hinzu kommen Katastrophenfälle wie der Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch, die die bestehenden Probleme schlagartig ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit bringen und dennoch das Ergebnis alltäglich bestehender Probleme sind.3 Dabei erscheint vielen möglicherweise die ökonomische Sichtweise „nachvollziehbar“ – vielleicht scheinen in einer Vielzahl von Schädigungsfällen (mit Ausnahme vermutlich von Extremfällen) die ökonomischen Vorgaben „klar“ und auch hinsichtlich der zu wählenden Option sogar „eindeutig“ zu sein.4 Das Zahlen möglichst niedriger Löhne etwa mag einfach als das legitime Interesse von Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen angesehen werden. 1
Vgl. Staude 2019. Eine aktuelle Darstellung zum Einsatz von Kindern bei der Kakaoproduktion lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Familieneinkommen der Kakaobauern liegt weit unter dem existenzsichernden Niveau, die unbezahlte Arbeitskraft der eigenen Kinder erscheint dann unerlässlich. Zusätzlich werden Kinder gezielt mit falschen Versprechungen aus ihren familiären Zusammenhängen gelöst und unter Bedingungen zur Arbeit auf den Kakaoplantagen gezwungen, die angesichts sehr langer Arbeitszeiten, fehlender Entlohnung, schlechter Versorgung mit Lebensmitteln und körperlichen Übergriffen von Menschenrechtsorganisationen auch als Kindersklaverei gewertet werden (vgl. Tölle 2019). 3 Die vielfältigen (strukturellen) Probleme vor und nach dem Fabrikeinsturz beleuchtet beispielsweise die Bundeszentrale für politische Bildung in einem Hintergrundbericht, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2018. 4 In allgemeinerer Form stellt Suchanek (2015: 2 ff.) die ethische und die ökonomische als parallel existente und Gültigkeit beanspruchende Perspektiven dar. 2
8
1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
Gleichzeitig rufen solche Zustände und Unglücke immer wieder starke moralische Empörung hervor und stellen paradigmatische Schadensfälle für ökonomische Akteure dar. Trotz alledem wird die empfundene Eindeutigkeit ökonomischer Argumente nicht selten zu einer Rechtfertigung moralisch problematischen Handelns durch „Wirtschaftlichkeit“. Der vorgeblichen Überzeugungskraft wirtschaftlicher Argumente scheint also eine höhere Bedeutung beigemessen zu werden als den zwar im Ergebnis bedauernswerten, aber nur punktuell auftretenden und somit gewissermaßen „randständigen“ Katastrophenfällen. Bei näherer Betrachtung zeigt zudem schon die wirtschaftswissenschaftliche Sichtweise eine gewisse Ambivalenz auf: Einerseits wird der ökonomische Standpunkt nicht selten als „neutral“ wahrgenommen, was in der verbreiteten Vorstellung positivistischer ökonomischer Analyse zum Ausdruck kommt.5 Andererseits wird die ökonomische Sichtweise auf moralische Fragen ausgedehnt,6 und der Vorwurf des „Ökonomismus“ wird erhoben.7 Im Gegensatz zur angenommenen Neutralität scheint demnach eine problematische Normativität ökonomischer Argumente zu bestehen, die verbunden ist mit einer bestimmten Vorstellung davon, wie ökonomische Akteure „richtig“ handeln und was moralisch von ihnen zu erwarten ist. Thema dieses Kapitels ist es, diese Art von Normativität und damit auch den normativen Kontext moralischer Argumente in wirtschaftsethischen Fragestellungen zu thematisieren. Dafür werde ich zunächst auf einige zentrale Aspekte der ökonomischen Theorieentwicklung bei Adam Smith und John Stuart Mill eingehen. Da es hier nur darum geht, den normativen Kontext für die weitere wirtschaftsethische Argumentation aufzuzeigen und nicht um eine umfassende ideengeschichtliche Betrachtung, werden beide Autoren nur kursorisch auf diese zentralen Aspekte hin betrachtet. Smith zeichnen sein elementarer Beitrag als Begründer der Politischen Ökonomie in ihrer disziplinären Eigenständigkeit und seine zentrale Bedeutung für den Wirtschaftsliberalismus aus.8 Dabei spielt die moralische Aufwertung eigeninteressierten Handelns und die damit verbundene Vorstellung der Transformation von Eigen- in Gemeinwohl eine zentrale Rolle, und deren normative Wirkung herauszustellen ist das Ziel der hiesigen Darstellung der diesbezüglichen Argumente Smiths sowie seiner Wirkung auf die wirtschaftswissenschaftliche Theorieentwicklung. Mills metho5
Vgl. Friedman 1966; Hausman 2012: 11 ff. Paradigmatisch hierfür ist der „ökonomische Ansatz“ Gary S. Beckers (Becker 2014). Zúñiga y Postigo (2017: 563 ff.) beispielsweise sieht Beckers postuliertes „ökonomisierendes Verhalten“ im Umgang mit Knappheit, etwa bei der Wahl von Ehepartnern, als besonders plausibel an. 7 Im deutschsprachigen Raum prominent vorgebracht wird diese Kritik etwa an Peter Ulrich im Zuge seiner Integrativen Wirtschaftsethik (Ulrich 2008: 137 ff.). 8 Vgl. Sturn 2008: 71. 6
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
9
dologische Überlegungen, die einerseits die Abstraktion ökonomischer Analyse und das Ausweisen des Nutzenstrebens als zentrales ökonomisches Handlungsmotiv und andererseits eine sozialwissenschaftliche und moralphilosophische Begrenzung dieser Analyse beinhalten, sind ebenfalls für die Entwicklung einer „ökonomischen“ Normativität sehr aufschlussreich (1.1). Im Anschluss werde ich auf das ökonomische Rationalitätsverständnis innerhalb der „neoklassischen“ Theoriebildung beziehungsweise der Mainstream Economics,9 dessen normativen Gehalt und zentrale Argumente dafür eingehen, dass diese Normativität ökonomischer Rationalitätsvorstellungen moralisch problematisch ist (1.2).
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben Eine gängige Interpretation der ökonomischen Theoriebildung in der Klassischen Nationalökonomie ist die der Herausbildung eines gesellschaftlichen Teilbereichs mit eigenen Funktionsprinzipien, in dem diejenigen menschlichen Motive als zentral gelten, die den ökonomischen Austauschprozessen zugrunde liegen.10 Dem Menschen wurden durch die Loslösung der ökonomischen, zunehmend systematisch von moralphilosophischen Überlegungen unabhängigen Untersuchungen, unterschiedliche Handlungssphären zugesprochen. Diese würden von je eigenen Motiven und Handlungsmustern bestimmt.11 Menschliche Beziehungen seien so verstärkt funktionalen Ansprüchen unterworfen worden, während die moralischen Qualitäten des Menschen nicht mehr als zentral für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung angesehen worden seien.12 In dieser Sichtweise ist die relevante Bewertungsinstanz individueller Handlungen nun das Individuum selbst, und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind weniger von moralischen, als von „verfahrensmäßige[n]“ Regeln bestimmt.13 Zwei zentrale Aspekte dieser Entwicklung werde ich im Folgenden genauer betrachten, nämlich die moralische Um- und Aufwertung des Eigeninteresses bei Adam Smith und die Ausweisung des Nutzenstrebens als bestimmendes ökonomisches Motiv bei John Stuart Mill.
9 Die Bezeichnung „Mainstream Economics“ hat sich für die dominante ökonomische Theorie etabliert (vgl. z.B. Ulrich 2008). Beide Bezeichnungen werde ich im Folgenden synonym verwenden. 10 Vgl. Aßländer 2007: 290 f. 11 Vgl. a.a.O.: 60. 12 Vgl. Starbatty 1985: 25. 13 Vgl. Bell 1984: 59.
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
1.1.1 Adam Smith: Moralische Aufwertung des Eigennutzstrebens Die Funktion des Selbstinteresses für ökonomische Abläufe wird ideengeschichtlich maßgeblich von Adam Smith und seinem Werk Der Wohlstand der Nationen (1776) (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations,14 im Folgenden: WN) gestärkt. Einerseits dient die dortige Betrachtung ökonomischer Themen für sich dazu, einen Aspekt gesellschaftlicher Aktivitäten zu untersuchen. Andererseits liegt in dieser eigenständigen Betrachtung von Ökonomie als gesellschaftlichem Teilbereich ein hohes Maß an Abstraktion begründet, weil der Mensch hier aus ökonomischer Perspektive in seiner Selbstbezüglichkeit betrachtet wird.15 Dass der Mensch nach dem eigenen Wohl strebt, ist nicht mehr verwerflich, sondern dem allgemeinen Wohl zuträglich.16 Das Eigeninteresse des Menschen wird entgegen der traditionellen Schmähung als „Habsucht“ oder „Begehrlichkeit“ aufgrund seines Beitrags zu guten Zwecken positiv bewertet.17 Die primäre Intention seiner Argumentation im WN kann deshalb in moralphilosophischer Perspektive auch darin gesehen werden, die Funktionsweise des ökonomischen Systems und damit verbunden der Transformation von Eigen- in Gemeinwohl zu erklären, und nur nachrangig in der Befürwortung von Freihandel.18 Smiths Blick auf die menschlichen Handlungsmotive ist in ökonomischer Perspektive stark verengt: Wirtschaftliches Handeln geschieht nur zu eigennützigen Zwecken, es gibt rein ökonomische Motive.19 Die gesellschaftlich positiven Effekte, vor allem die gegenseitige materielle Versorgung, entstehen unbewusst als Nebenprodukt des Eigennutzes.20 Die moralischen Qualitäten des Menschen scheinen in seinen ökonomischen Handlungen verzichtbar; mehr noch, sie scheinen sogar hinderlich zu sein: Eigennützige Verhalten ist wünschenswert, weil es dem Allgemeinwohl dient. Gegenseitiges Wohlwollen mag keine allgemeine 14
Smith, WN. Vgl. Campbell/Skinner 1981: 18 f. 16 Gut sowohl für die Gemeinschaft, die durch den individuellen Eigennutz in ökonomischen Belangen zu allgemeinem Glück gelangt (vgl. Smith, WN, III.iv.17), als auch für das Individuum, das sich um die eigenen Belange kümmert und „für sich selbst sorgt“: „Every man is, no doubt, by nature, first and principally recommended to his own care; and as he is fitter to take care of himself than any other person, it is fit and right that it should be so.“ (Smith, TMS, II.ii.2.1) Selbstinteresse ist bei Smith noch keine theoretische Abstraktion, der Eigennutz umfasst vielmehr einen Großteil menschlicher Handlungen, ausgeschlossen ist nur ausdrücklich altruistisches Verhalten (Viner 1927: 212 f.). 17 Vgl. Hirschman 1987: 27. 18 Vgl. Campbell 2010: 72. Die Transformation eigeninteressierten Handelns zum gesamtgesellschaftlichen Vorteil nimmt beispielsweise die Ökonomische Ethik als Ausgangspunkt (vgl. Suchanek 2007: 35 ff.). 19 Vgl. Smith, WN, II.v.37. So ist der eigene Profit das einzige Investitionsmotiv, und damit Handlungsmotiv, des Kapitaleigners. Die positiven sozialen Konsequenzen seiner Investitionen spielen für ihn keine Rolle, ja finden nicht einmal Eingang in seine Gedanken (ebd.). 20 Vgl. a.a.O.: I.i.10, II.v.37. 15
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
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Versorgung mit Gütern sicherzustellen, wirtschaftliches Handeln im Eigeninteresse dagegen schon:21 „By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the publick [sic!] good.”22 Der Mensch handelt in ökonomischen Belangen also selbstbezüglich, strebt nach Wohlstand und Bedürfnisbefriedigung und ist gerade deshalb produktiv.23 Besonders anschaulich wird die massive theoretische Veränderung durch den Umgang mit Armut als Gesellschaftsphänomen. Das individuelle Selbstinteresse nach Wohlstandserhaltung und -mehrung übernimmt die vormals karitative Funktion der Versorgung der ehemals Armen, nun Einkommensschwachen.24 Die Maximierung des Gemeinwohls folgt auf natürliche Weise aus der effizienten Allokation.25 Die Selbsterhaltung des Kapitaleigners durch Gewinn aus reinvestiertem Kapital ist dessen legitimes Interesse, und so handelnd wird sein Eigeninteresse zum Allgemeinwohl.26 Die Tugendhaftigkeit der „Caritas-Ökonomie“ ist verzichtbar geworden durch die Forderung, Überschuss ausschließlich produktiv zu verwenden. Im eigenen Interesse zu wirtschaften wird moralisch umgedeutet und aufgewertet. Die Effizienz der freien Marktallokation bringt Wachstum, welches auch neue Verteilungsspielräume öffnet.27 Der normative Gehalt des WN kann auch in den enthaltenen Effizienzkriterien gesehen werden.28 Birger Priddat bewertet die Politische Ökonomie Smiths wegen der Inversion der karitativen Funktion als eine […] Theorie der moralischen Effizienz, die die Tugend nicht – wie bis dahin nötig – als eine Adaption an gegebene Knappheitsbedingungen definieren muß, sondern sie auf die Kompetenz erweitert, die Knappheitsrestriktionen selbst produktiv zu erweitern – 21
Vgl. Starbatty 1985: 27. Smith, WN, IV.ii.9. 23 Vgl. Skinner 1975: 155. 24 Vgl. Priddat 2002: 39 ff. Indem die „unsichtbare Hand“ Effizienz fordert und die Kapitalallokation entsprechend gestaltet, sorgt sie für die Maximierung des Volkseinkommens, und somit auch für das Steigen der Löhne als eine der drei Revenueformen (vgl. Patzen 1991: 50). 25 Vgl. Smith, WN, II.v.37. Der durch effektive Kapitalverwertung erreichte Wohlstand einer Nation ist für Smith „opulence for which it seems naturally destined“ (a.a.O.: II.v.20). 26 Das Eigeninteresse des Individuums ist gerichtet auf die profitträchtige Investition des eigenen Kapitals, dessen Erhalt und Mehrung, und in der Konsequenz auch auf den Kauf solcher Produkte, die einen bleibenden Wert besitzen, und so wiederum durch produktive Arbeit hervorgebracht worden. Insofern führt das Eigeninteresse an gewinnbringenden bzw. werterhaltenden Investitionen zu öffentlichem Wohlstand (vgl. Smith, WN, II.iii ff.). 27 Priddat 2002: 39 ff. Für Starbatty (1985: 7) ist die „neue Melodie“ im WN vor allem die Möglichkeit, ökonomische Zusammenhänge systematisch zu verstehen, und so durch das Anheben des nationalen Wohlstandes zur Armutsbekämpfung beitragen zu können. 28 Vgl. Patzen 1991: 43. „Die durch das Selbstinteresse gesteuerte Wahlfreiheit des Einzelnen produziert Effizienz und sie ist gleichzeitig ein Bestandteil sozialer Gerechtigkeit.“ (Ebd.). 22
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
a very progress in the history of mankind, der ausschließt, ältere Tugendmodelle bedingungslos in das neue ‚system of natural liberty‘ einschließen zu können.29
Die gesellschaftliche Koordination durch wirtschaftliche Zusammenhänge stärkt die für die ökonomischen Abläufe wichtigen Tugenden und macht neue relevant.30 Das individuelle Selbstinteresse ist in Form von Sparsamkeit jetzt eine Tugend und gesellschaftlich wünschenswert:31 „every prodigal appears to be a publick [sic] enemy, and every frugal man a publick benefactor.“32 Die ökonomischen Mechanismen erhalten so eine moralische Funktion, die Forderung nach Effizienz lässt der Allokation einen moralischen Gehalt zukommen, und gleichzeitig ändern sich die Anforderungen an „rationales“ Verhalten: „In diesem Sinne ist die Political Economy eine moral science, indem sie die älteren Sitten und wirtschaftlichen Verhaltensweisen in neue moral standards überführt, d.h. in eine Verhaltensrationalität, die nicht mehr den historisch internalisierten Tugenden folgt, sondern den neuen Allokationsbedingungen.“33 Gegenseitige „Wohltaten“ werden vor allem in ökonomischen Beziehungen durch ökonomisch-effizientes Verhalten erbracht, ohne dass dafür auch Wohlwollen notwendig wäre.34 Die eigenen Bedürfnisse oder Präferenzen werden zwar für das Individuum wichtiger, für die Gesellschaft aber unwichtig; die „Pflicht“ der Einzelnen untereinander besteht in der Bereitstellung von Gütern. Gegenseitiges Wohlwollen erscheint in ökonomischen Handlungen dagegen verzichtbar.35 Die ökonomische Entwicklung besitzt dabei sogar einen normativen Endpunkt: Die „commercial society“.36 Diese commercial society ist eine Gesellschaft, in der die sozialen Abhängigkeiten der Ständegesellschaft ersetzt worden sind durch ökonomische Abhängigkeiten. Die Freiheit des Individuums resultiert dabei gerade aus der Auflösung der traditionellen Bindun29
Priddat 2002: 50 (Hervorh. im Original). Vgl. Hirschman 2014: 515. „Wherever capital predominates, industry prevails: wherever revenue, idleness.“ (Smith, WN, II.iii.13). 31 Vgl. Smith, WN, II.iii.1 ff. 32 A.a.O.: II.iii.25. 33 Priddat 2002: 46 (Hervorh. im Original). 34 Vgl. Smith, WN, I.ii.1 ff. „As it is by treaty, by barter, and by purchase, that we obtain from one another the greater part of those mutual good offices which we stand in need of […]“ (a.a.O.: I.ii.3). 35 Vgl. Smith, TMS, II.ii.3.2. Viner (1927: 210) stellt heraus, dass Wohlwollen und Sympathie, die für Smith moralphilosophisch in seiner Theorie der Ethischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments, im Folgenden: TMS) zentralen Aspekte menschlichen Verhaltens, im WN nicht nur keine regulierende und stabilisierende Funktion mehr besitzen, sondern dass auf sie in ökonomischen Belangen wenig Verlass ist; und schließt so: „Smith shows little faith in the prevalence of benevolence in the economic sphere.“ (A.a.O.: 211). Diese Bedeutungslosigkeit des gegenseitigen Wohlwollens in der Ökonomie wird auch in der TMS nicht revidiert (a.a.O.: 212). 36 Smith, WN, I.iv.1 30
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
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gen.37 Der anonyme Markt verkörpert hier den liberalen Anspruch. Denn dabei ist die Abhängigkeit von den anderen Gesellschaftsmitgliedern auf die systemische Ebene verlagert, und das Individuum erfährt eine gänzlich neue Freiheit: Es ist zwar von den Marktbeziehungen und insofern abstrakt von den anderen Marktteilnehmern abhängig, dabei aber unabhängig von jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied.38 Die wesentlichen gegenseitigen Abhängigkeiten bestehen nun aufgrund der für alle vorteiligen Handelsbeziehungen.39 Die ideengeschichtliche Wirkung Smiths ist vielschichtig und kann hier nur themenbezogen und ausschnittsweise zusammengefasst werden. Dabei stehen die wirtschaftswissenschaftliche und moralphilosophische Wirkung bezogen auf das Eigennutzstreben im Fokus. Smith wurde und wird vor allem als wirtschaftsliberaler Ökonom rezipiert und wahrgenommen.40 Zur Wirkung des WN gehört vor allem die oben veranschaulichte moralische Rechtfertigung eigennutzmotivierter ökonomischer Austauschprozesse. Diese sind in der Lage, durch den Marktmechanismus zum Wohle aller beizutragen und so gesteigerte materielle Versorgung erstmals als tatsächlich möglich erscheinen lassen.41 Für Smiths ökonomische Überlegungen bestimmend ist das eigennützige Individuum. Es kann der bloßes Selbstinteresse als ebenso allgegenwärtig wie effizient beurteilende „,Smithian‘ view“ auf individuelles Handeln entstehen.42 Smith schafft somit eine wichtige „theoretische Voraussetzung für eine Sichtweise von Ökonomie, die im Marktgeschehen das Resultat des aggregierten Handlungswillens aller am Marktgeschehen Beteiligten sieht.“43 Ökonomisches Handeln untersteht Gesetzmäßigkeiten und einer Dynamik, die aufgrund der systematischen Beschreibung der ökonomischen Zusammenhänge als Grundlage der sich entwickelnden ökonomischen Rationalität gesehen werden kann. Dies auf personaler Ebene zwar noch nicht im Sinne einer Ausdehnung der Eigennutzorientierung als universales Rationalitätsprinzip. Die neue Perspektive auf das individuelle Handeln ist vor allem eine auf die menschlichen Leidenschaften. Diese werden nicht mehr von den Interessen unterschieden, sondern im Streben nach der Verbesserung der eigenen materi37
Vgl. Campbell/Skinner 1981: 15 f. Denn der einzelne trägt nur so verschwindend wenig zu seinem Konsum und/oder seiner Produktion bei, dass zwischen einzelnen Individuen keine direkten Abhängigkeiten mehr bestehen (vgl. Smith, WN, III.iv.11). So werden Konsumenten unabhängig von einzelnen Unternehmen, weshalb Suchanek und Lin-Hi (2010: 7) die Funktion marktwirtschaftlichen Wettbewerbs als „Entmachtungsinstrument“ hervorheben. Auch daran wird deutlich, dass es sich bei der Darstellung Smiths in diesem Kapitel um eine auf den Kontext dieser Arbeit verengte Darstellung des moralischen Gehalts des WN handelt. 39 Vgl. Smith, WN, III.i.1. 40 Vgl. Campbell 2010: 15 f.; Skinner 1984: 74. 41 Vgl. Kristol 1984: 257 f. 42 Sen 1988: 21. 43 Aßländer 2007: 304 38
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
ellen Lage gebündelt und als solches zum materiellen Eigeninteresse umgedeutet.44 Die menschlichen Bedürfnisse werden nun nicht mehr als lasterhaft eingestuft (aus privaten Lastern muss kein öffentliches Wohl werden),45 sondern das Selbstinteresse kann bereits als „gut“ gelten, sofern es die ökonomischen Prozesse antreibt, die zum allgemeinen Wohlstand führen. Die entstehende Sichtweise lässt sich auch veranschaulichen durch die Bewertung des Marktes als „eine soziale Institution, innerhalb derer Eigeninteresse als primärer Handlungsbeweggrund moralisch akzeptiert wird.“46 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass sich bei Smith deutlich eine sich entwickelnde Normativität ökonomischer Vorgänge erkennen lässt. Insofern die moralischen Ansprüche an ökonomische Koordination in deren Mechanismen verortet werden, bildet sich die Grundlage der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuchmeinung „Jedem ist das Seine geworden aufgrund des freien Spiels der Kräfte.“47 Ein Beispiel hierfür ist auch die normative Aufwertung der Allokation: gut ist die Erzeugung von Wohlstand, und schlecht, was die Wohlstandsmehrung verhindert. Auch wird die „unsichtbare Hand“ wird oft mit einem Plädoyer für laissez-faire in Verbindung gebracht, sie wird dann als Repräsentanz der Marktkräfte verstanden, die automatisch optimale Ergebnisse herbeiführt.48 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass bei Smith eigennütziges Verhalten zu guten Ergebnissen führt, sogar (vereinfacht) als deren Ursache gilt und so moralisch aufgeladen wird, und dass dadurch Kritik an eben diesem Verhalten erheblich erschwert wird. So wird eine Sicht auf ökonomische Prozesse begünstigt, die aus der Verfolgung des Selbstinteresses erwachsende Probleme nicht als solche thematisieren muss.49 Zugleich erscheint das Verhältnis zur Moralphilosophie Smiths weithin ungeklärt. Exemplarisch ist hier das sogenannte „Adam-Smith-Problem“, das sich auf das ambivalente Verhältnis von Smiths Hauptwerken WN und der Theorie der Ethischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments, kurz TMS) be44
Vgl. Hirschman 1987: 116 ff. Vgl. Smith, WN, VII.ii.3.18, Hirschman 1987: 27. 46 van Luijk 1992: 161. 47 Kittsteiner 1984: 41. 48 Vgl. Patzen 1991: 49. So scheint die „Natürlichkeit“, die Smith ökonomischen Prozessen zuspricht, in naturrechtlicher Interpretation für die Nähe zu laissez-faire-Vorstellungen zu sprechen. Wenn nämlich, wie von Myrdal (1933: 305), angenommen wird, „daß die Naturrechtsphilosophie im Grunde eine ‚Laissez-faire‘-Theorie ist und sein muß.“ Andererseits argumentiert etwa Viner (1927) gegen die Annahme, dass Smiths ökonomische Ausführungen einen laissez-faire-Ansatz darstellen. 49 Diese Kritik ist zu unterscheiden von einer Position, die eigennütziges Handeln per se als schlecht versteht. Wie van Luijk (1992: 161) herausstellt, ist Eigeninteresse für Fragen moralisch richtigen ökonomischen Handelns neutral zu bewerten: „Was in moralischer Hinsicht zählt, ist die Frage, ob durch eine Handlung anderen unnötig Schaden zugefügt wird.“ (Hervorh. im Original). 45
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
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zieht.50 Die jeweiligen Leitprinzipien des Eigeninteresses und des Mitgefühls erwecken sicherlich den Eindruck von Gegensätzlichkeit, auch wenn deren Einordnung vor dem Hintergrund einer wenn auch nicht explizit benannten, so doch implizit existenten „Gesamtbotschaft“ eingeordnet wird.51 Mit dem Adam-Smith-Problem verbunden wird dann beispielsweise die Frage, warum die gesellschaftliche Koordination ökonomisch vollkommen anders erklärt werden sollte als in der Ethik.52 Aber auch die scheinbar vollständige Trennung individueller Motive und gesellschaftlicher Ergebnisse kann in diesem Sinne kritisiert werden: „Smith glaubt also, Unersättlichkeit und Gerechtigkeit vereinbaren zu können, indem er sie verschiedenen Ordnungen zuteilt, die einander ungestört überlagern können, die Ordnung der Wirtschaft und die Ordnung der Ethik.“53 Gleichwohl ist hervorzuheben, dass die Uneinigkeit über zentrale Interpretationsaspekte des WN ebenfalls zeigt, dass die jeweiligen Interpretationen nicht zwingend sind.54 Neben den tatsächlich im Werk Smiths angelegten Aspekten sich gegenüber der Ethik abgrenzenden und verselbständigenden öko50 Vgl. Patzen 1991: 22 ff.; Jacob Viner (1927: 201) etwa attestiert eine Ambivalenz im Verhältnis der beiden Hauptwerke, die sich daraus ergebe, dass zum einen der WN ohne Berücksichtigung der TMS nicht vollständig zu erschließen ist, andererseits aber die ausschließliche Beschäftigung mit dem WN ohne grundlegende Verständnisschwierigkeiten möglich ist und dass schließlich die Interpretation des WN vor dem Hintergrund der TMS zu Problemen führt, für die es diverse Lösungsvorschläge gibt. 51 So etwa von Sturn 2008: 77 ff. Auch für Sturn findet sich für eine solche aber die hier relevante Einschränkung: „Allerdings hängen seine beiden Hauptwerke nicht in jenem starken Sinn zusammen, daß etwa die Morallehre der TMS als eine notwendige Fundierung und Ergänzung der Ökonomik des WN anzusehen wäre.“ (A.a.O.: 80, Hervorh. im Original). 52 Vgl. Patzen 1991: 37. 53 Manstetten 2000: 266. 54 In der neueren Literatur wird verstärkt gegen eine bei Smith angelegte Trennung von Ökonomie und Moral argumentiert, in dieser Beschreibung ist Smith etwa „kein engstirniger Apologet des Eigeninteresses, sondern ein Moralphilosoph und Sozialwissenschaftler mit einem reichen und komplexen Gedankensystem“ (Herzog 2020: 45). Die Moralphilosophie Smiths wird in verbindender Lesart als zentraler Zugang zu dessen ökonomischen Betrachtungen gesehen (vgl. Fleischacker 2004; Wells 2013; Hühn 2019). So spielen dann Tugenden, insbesondere Wohlwollen und Gerechtigkeit, insgesamt eine entscheidende Rolle bei Smith (Wells 2013; Graafland/Wells 2020). Herzog beispielsweise stellt dem „Adam-Smith-Problem“ ein einheitliches System Smiths entgegen (2020: 49 ff.), für das „Gerechtigkeit als Grundprinzip des Wohlstands“ (a.a.O.: 64) zentral sei. Das marktwirtschaftliche Modell bei Smith funktioniere durch das Zusammenwirken von institutionellem Rahmen (a.a.O.: 62), Produktion und Tausch unter der Wahrung der Rechte anderer (a.a.O.: 64 f.), nötigenfalls staatlicher Eingriffe (a.a.O.: 73) und der Besserstellung aller durch eben dieses System (a.a.O.: 67 f.). Ähnlich argumentieren auch Suchanek und Kerscher (2007: 206 f.): Smith vertrete ein umfassenderes Menschenbild, das Eigeninteresse zumindest in Nahbeziehungen mit Wohlwollen und Gerechtigkeitsüberlegungen verbinde, und lediglich die Wirkungsgrenzen explizit wohlwollenden Verhaltens in größeren Handlungszusammenhängen anerkenne. Allerdings geht es mir hier um die zumindest so interpretierbare Anlage einer je eigenständigen Betrachtungsweise ökonomischer und ethischer Argumente bei Smith und Mill als
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
nomischen Betrachtungen ist deshalb hervorzuheben, dass es die auf ihn aufbauenden Interpretationen häufig wesentlich ausmachte, seine Ausführungen ideologisch zu verkürzen.55 Insbesondere Amartya Sen weist immer wieder darauf hin, dass die auf Eigennutz als einziges Handlungsmotiv verengte eine inhaltlich falsche Interpretation Smiths darstellt, und sieht gerade darin ein Defizit der aktuellen ökonomischen Theoriebildung.56 Zumindest ist die als problematisch empfundene Widersprüchlichkeit beider Hauptwerke als eine ebenso als problematisch empfundene Trennung ökonomischer und ethischer Analyse interpretierbar. 1.1.2 Zur theoretischen Aufwertung des Nutzenstrebens bei John Stuart Mill Mit John Stuart Mills Essay Über die Definition der politischen Ökonomie und über die ihr angemessene Forschungsmethode (1836) und der darin enthaltenen Kritik an Smiths Definition des Gegenstandsbereiches der politischen Ökonomie beginnt die moderne wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung.57 Mills Anliegen war es, ökonomische Analyse mit den wichtigen zeitgenössischen sozialen Fragen zu verbinden.58 Deshalb kann es als paradox wie aufschlussreich angesehen werden, dass Mill die ökonomische zweckmäßig als eine „im wesentlichen abstrakte Wissenschaft“ begreift,59 dass damit aber gleichzeitig die Anerkennung der begrenzten Reichweite der ökonomischen Wissenschaft und die Notwendigkeit der Hinzunahme weiterer Wissenschaften einhergeht,60 – und dass die gesuchte Nähe zum naturwissenschaftlichen Vorgehen sich für die weitere Entwicklung der ökonomischen Theorie als treibende Kraft bei der disziplinären Ablösung von der Ethik erwies.61 55 Grundlage für die Problematik einer sehr starken Normativität ökonomischer Gründe (eben gerade in Absehung von ethischen Gründen). So sind etwa auch Herzogs Ausführungen in Abgrenzung zu vorhandenen „Lehrbuch-Klischees“ angelegt (2002: 44). Dass eine stärker auf Vereinbarkeit ökonomischer und ethischer Argumente zielende Betrachtung sinnvoll wäre, und bei beiden Autoren auch eigentlich angelegt ist, deutet sich in der Kritik am Ende des ersten Kapitels an, die auf den Gemeinwohl-Gedanken bei beiden Autoren rekurriert. 55 Vgl. Patzen 1991: 22; Manstetten 2000: 236. Dies auch hinsichtlich der individuellen Handlungsvorschriften. So wird aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive beispielsweise das Modell des „economic man“ in den WN hineingelesen, so etwa von Wagner-Tsukamoto (2013: 64). 56 Vgl. Sen 1988: 22 ff.; 2017: 212 ff. 57 Vgl. Bievert/Wieland 1992: 9. 58 Dies in expliziter Anlehnung an Adam Smith: „[…] to exhibit the economical phenomena of society in the relation in which they stand to the best social ideas of the present time […]“ (Mill 2006a: xcii). Es ging im Zuge der Politischen Ökonomie um ein rationales Erschließen des Verhaltens der Menschen mit dem Ziel, (soziale) Verbesserungen herbeiführen zu können (Aßländer 2007: 289). 59 Mill 2008: 175 (Hervorh. NP). 60 Vgl. Mill 2008. 61 Vgl. Alvey 1999: 62 ff.
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
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Ausgangspunkt Mills methodologischer Überlegungen ist seine Kritik an dem mangelnden allgemeinen Verständnis von Inhalt und Methode der Politischen Ökonomie seiner Zeit. Er lehnt die nationale Reichtumserzeugung als deren Gegenstand als zu unwissenschaftlich ab.62 Politische Ökonomie ist für Mill „eine Wissenschaft und keine Technik (art)“, weil sie „mit den Gesetzen der Natur und nicht mit Verhaltensmaximen zu tun hat“,63 es also um die Identifizierung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten – darum, „wie die Dinge sich von sich aus abspielen“ – geht.64 Andere als die mit dem allgemeinen Reichtumsstreben angenommenen menschlichen Verhaltensweisen seien für die Politische Ökonomie „Störfaktoren“.65 Diese solle nun davon ausgehen, „daß der Mensch ein Wesen ist, das aufgrund seiner Natur nichts anderes kann, als einen größeren Teil Reichtum einem kleineren vorzuziehen“:66 Die politische Ökonomie beschäftigt sich mit dem Menschen lediglich in seiner Eigenschaft als ein Wesen, das Reichtum besitzen möchte und das die relative Effizienz der Mittel zum Erreichen dieses Ziels beurteilen kann. Sie sagt nur solche Phänomene des gesellschaftlichen Zustandes voraus, die aus dem Streben nach Reichtum resultieren. […] Die politische Ökonomie begreift den Menschen als einzig und allein mit dem Erwerb und Konsum von Reichtum beschäftigt.67
Mill geht davon aus, dass es in der Realität zwar keine „rein“ ökonomischen Fakten gibt, das wissenschaftliche Herauslösen der Politischen Ökonomie auf Grundlage der theoretischen Annahme originär „ökonomischen“ Verhaltens aber sozial nützlich ist.68 In ihrem wissenschaftlichen Vorgehen erlaube die Politische Ökonomie die Identifizierung von Gesetzen; das Anwenden dieser Gesetze allerdings sei Kunstlehre (art).69 Ihren Nutzen als Wissenschaft erlangt die Politische Ökonomie gerade aus der Möglichkeit zur Ableitung „praktische[r] Regeln“.70 62
Vgl. Mill 2008: 157 f. A.a.O.: 159. 64 Ebd. 65 A.a.O.: 181. 66 A.a.O.: 171. Einerseits verbindet Mill Reichtumsstreben mit hedonistischen Vorstellungen, indem es als die Grundlage für Annehmlichkeiten und Genuss angesehen wird; Produktivität wird mit der Erzeugung eines möglichst genussvollen Lebens verbunden (a.a.O.: 116). Andererseits ist das Reichtumsstreben deshalb bei Mill auch nicht unbegrenzt, sondern findet seine Grenzen im ein angenehmes Leben gewährleistenden Maß bzw. systematisch im stationären Zustand (Vgl. Mill 2006b: Book IV, Ch. VI); dieses Mill’sche Ideal fasst Birnbacher (2010: 200) zusammen als einen Wirtschaftszustand, „in dem sich die menschlichen Energien statt auf vermehrte Güterproduktion auf kulturelle Werte richten würden, in dem der Zerstörung der Natur Einhalt geboten wäre und das politische Ziel weniger in der Steigerung der Produktion als in der gerechteren Verteilung des Vorhandenen bestünde“. 67 Mill 2008: 170. 68 Vgl. Hollander 1983: 154. 69 Mill 2008:158 ff.; Vgl. Aßländer 2013: 86. 70 Mill 2008: 158 f. 63
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Deutlich werden bei Mill so auch die Einschränkungen, die der Politischen Ökonomie durch ihre Wissenschaftlichkeit gesetzt sind: Sie kann nur solche Phänomene treffend behandeln, die sich aus reinem Reichtumsstreben ergeben; sobald andere Ziele vorliegen oder dominant sind, verliert sie ihre Aussagekraft und ist auf die Hinzunahme anderer Wissenschaften angewiesen.71 Als abstrakte Wissenschaft kann sie allgemeine Gesetze erarbeiten, in ihrer praktischen Anwendung ist sie auf andere Wissenschaften angewiesen; es gibt in dieser zweiten Perspektive möglicherweise keine rein ökonomischen Entscheidungen:72 „Except on matters of mere detail, there are perhaps no practical questions, even among those which approach nearest to the character of purely economical questions, which admit of being decided on economical premises alone.”73 Deshalb betont James E. Alvey, dass Mills Sichtweise auf ökonomische Untersuchungen nicht als positivistisch zu verstehen ist, da die theoretische Frage („what is“) in sozialwissenschaftliche Fragestellungen („what ought to be“) eingebunden ist.74 Eben hieran zeigt sich die disziplinäre Ambivalenz als wichtige Eigenschaft der Politischen Ökonomie Mills: Zum einen ist sie eher im Sinne der ökonomischen Theorie zu verstehen,75 Isolation und Abstraktion dienen dazu, das Forschungsfeld der Ökonomie auszumachen.76 Andererseits ist sie in der Praxis auf andere Wissenschaften angewiesen und insbesondere an die Moralphilosophie gebunden. Es ist deshalb sehr wichtig, zu sehen, dass für Mill die Auseinandersetzung mit der Ethik für die Definition von Gegenstand und Methode der politischen Ökonomie zentral ist. Mit seinen ökonomischen Studien verband Mill eben auch das Ziel, seine eigenen Vorstellungen zu aktuellen Fragen nicht nur ökonomischer, sondern ebenfalls moralischer und sozialer Art vorzustellen. Mills Bedeutung als Ökonom wird aus diesem Grund auch in der Versöhnung der ökonomischen Theorie mit sozialen und moralischen Ansprüchen gesehen.77 So kann einerseits Mills Ausformulierung der ökonomischen Theorie als ein Versuch verstanden werden, ökonomische Antworten auf soziale Fragen zu geben – allerdings sind andererseits für soziale Fragen die ökonomischen Motive grundlegend.78
71
Vgl. Mill 2008: 172, 180 f. Vgl. Mill 2006a: xci. 73 Ebd. 74 Alvey 1999: 60 f. Samuel Hollander (1983: 154 f.) skizziert die Ambivalenz Mills als generellen Konflikt zwischen einem starken empirischen, als auch einem starken theoretischen Anspruch. 75 Vgl. Bladen 2006: xxviii. 76 Vgl. Schumpeter 1967: 538. 77 Vgl. de Marchi 1974: 122 f. 78 Vgl. a.a.O.: 135 ff. 72
1.1 Zur Aufwertung von Eigeninteresse und Nutzenstreben
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Aus gegenwärtiger Perspektive ist festzustellen, dass es vor allem Mills theoretische Abstraktion menschlicher Handlungsmotive und die inhaltliche Beschränkung dieser Motive auf Reichtumsstreben sind, die im ökonomischen Bereich im Bild des „economic man“ nachwirken.79 Mill wird wegen der Bedeutung, die er dem individuellen Reichtumsstreben als menschlichem Handlungsmotiv einräumte, als Wegbereiter eines Menschenbildes im Sinne des homo oeconomicus gesehen.80 Aus dem Nutzenmaximieren ergibt sich für Mill zwar kein vollständiges Menschenbild, und er erhebt für das pure Nutzenstreben auch keinen Anspruch auf empirische Gültigkeit. Für die ökonomische Theoriebildung erweist es sich nach Michael S. Aßländer aber als fundamental: „Mit John Stuart Mill schließlich erhält der homo oeconomicus als Archetypus des kurzfristigen, rationalen Nutzenmaximierers seine endgültige Form.“81 Auch Joseph Persky meint, dass die Mehrheit der Ökonomen im economic man Mills „the only civilized species in all of social science“ erkenne.82 In dieser Interpretation setzt Mill nicht nur ökonomisch die Grundlagen für die Neoklassik, sondern auch moralphilosophisch.83 So wird sein Utilitarismus als die „Moralphilosophie der modernen Ökonomik“ angesehen.84 Allerdings ist hervorzuheben, dass die dortigen nutzentheoretischen
79 Die erste identifizierte Nennung des Begriffs stammt von John K. Ingram aus dem Jahr 1888 in dessen Werk „A History of Political Economy“; Ingram selbst betrachtete den economic man als zu einem nach Geld strebenden Tier degradiert. Die anschließende frühe terminologische Verwendung drückte allgemein vor allem Kritik an Mills hohem theoretischen Abstraktionsniveau und seiner positiven Bewertung des Eigennutzes aus, worin selbst eine verengte Rezeption gesehen werden kann (vgl. Persky 1995: 222 f.). Mill selbst hat den Begriff nicht verwendet, und es scheint angesichts seiner Anerkennung der begrenzten Reichweite einer abstrakten ökonomischen Theorie auch fraglich, ob ein solch wirklichkeitsfernes Konzept des Menschen selbst in seiner ökonomischen Funktion für ihn treffend gewesen wäre, zumindest aber kann Mill an einer ideengeschichtlichen „Schnittstelle“ zwischen Smith und der neoklassischen Interpretation im Sinne des economic man verortet werden; Aßländer (2013: 66) bringt Mill und den economic man folgendermaßen in Verbindung: „Während für Adam Smith das natürliche Nutzenstreben des Menschen durch seine Fähigkeit zu sozialer Reflexion begrenzt war, ist das Menschenbild der nachfolgenden Ökonomen weit stärker am Bild des rational nach eigenem (materiellem) Vorteil strebenden Individuums orientiert. Es entsteht das Bild des ‚economic man‘, der stets nach der Maximierung seines individuellen Nutzens strebt, diesen möglichst unmittelbar realisieren will und dafür den geringstmöglichen Aufwand betreiben möchte“. 80 Vgl. Aßländer/Nutzinger 2008: 185 f. Homann (2014: 101 ff.) und Suchanek (2007: 177 ff.) weisen die Vorstellung, die Figur des homo oeconomicus sei im Sinne eines Menschenbildes zu verstehen, zurück, und stellen dessen Modellcharakter heraus. An dieser Stelle geht es mir allerdings jenseits der Frage, ob der homo oeconomicus lediglich als Modell, oder auch als Menschenbild zu verstehen ist, um die ideengeschichtliche Wirkung Mills. 81 Aßländer 2007: 300 82 Persky 1995: 221 f. 83 Vgl. Bievert 1991: 48 ff.; Schumpeter 1967: 408 f.; Viner 1949: 378. 84 Bievert 1991: 48.
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
Überlegungen erheblich vom Utilitarismus Mills abweichen.85 Insgesamt lässt sich sagen, dass die oben vorgestellten Ambitionen Mills, den wahrgenommenen Widerspruch zwischen Ökonomie und Ethik zu versöhnen, das entstehende und schon im interpretationsoffenen Werk Smiths angedeutete Spannungsverhältnis beider Perspektiven und die resultierende Problemlage aufzeigen; dass aber sein Lösungsversuch nicht in der Wahrnehmung einer notwendigen Kopplung von Ökonomie und Ethik im Sinne eines unbedingten ethischen Anspruchs an ökonomisches Handeln resultiert, sondern vielmehr individuelles Nutzenstreben theoretisch gestärkt hervortritt.
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics Dass das Herauslösen ökonomischer Betrachtungen aus ethischen Zielsetzungen überhaupt ein Problem darstellt, ist nicht ohne weiteres klar. Aus Sicht einiger für die ökonomische Theoriebildung besonders einflussreicher Ökonomen erscheint es vielmehr als wünschenswert, als „normativ“ betrachtete Fragestellungen zugunsten „positiver“ Analyse außen vor lassen zu können.86 Allerdings führt, wie zu Beginn dieses Kapitels herausgestellt, die scheinbare Unabhängigkeit ökonomischer Analyse von moralischen Erwägungen immer wieder zu moralisch schlechten Konsequenzen. Solche Beispiele wie aus ökonomischer Perspektive „rational“ erscheinende schädigende Arbeitsbedingungen – Iris Marion Young etwa spricht von „cost minimizing decisions that result in sweatshop conditions“87 – oder auch moralisch problematische Geschäftsmodelle wie subprime-Kredite88 stellen erstens schon intuitiv eine 85 Vgl. Birnbacher 1992: 80 ff., was auch Harsanyi (1982: 40) herausstellt: „What […] classical utilitarians called ,social utility‘ is often called the ,social welfare function‘ in modern welfare economics. But in many cases the term ,social welfare function‘ is now used in a less specific sense, without any utilitarian connotations.“ Wenn von einer moralphilosophischen Wirkung Mills auf die neoklassische ökonomische Theoriebildung die Rede sein kann, dann nur in sehr spezifischer Hinsicht. Aßländer (2013: 86 ff.) meint, ein Problem läge dabei darin, dass die utilitaristischen Ansprüche als Prinzipien der Moral nicht geeignet gewesen seien, die ökonomischen Rationalitätsansprüche dauerhaft zu begrenzen. Zudem ist hervorzuheben, dass der von Mill vertretene Utilitarismus ein sehr spezifischer war, der sich durch die qualitative Unterscheidung von Freuden dezidiert von anderen Utilitarismus-Konzeptionen unterscheidet; Gibbs (1986: 31 f.) beispielsweise sieht Mills Utilitarismus darüber hinaus wesentlich von vielfältigen Philosophietraditionen beeinflusst. Schumpeter (1967: 408) beschreibt die Sonderstellung Mills unter den Utilitaristen folgendermaßen: „J.S. Mill cannot be called a utilitaritan without qualification. In some respects he outgrew the creed; in others he refined it.“ 86 Vgl. Friedman 1966; Alvey 1999: 53 f., Sen 2008. 87 Young 2004: 366. 88 Eine übersichtliche Darstellung der Praxis der subprime-Kreditvergabe bietet die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Dossier „Die Subprime-Krise in den Vereinigten Staaten“ (vgl. Sommer 2012).
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
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scheinbare Unabhängigkeit ökonomischer von moralischen Argumenten infrage, und sprechen zweitens dafür, sich mit den moralischen Grenzen ökonomischer Argumentation auseinanderzusetzen. Im Folgenden wird das dominante Verständnis ökonomischer Rationalität als normativer Kontext moralischer Argumente thematisiert. Es geht dabei also nicht darum, „daß eine reine, d.h. szientistisch wertfreie Ökonomie, die von ethischen Normierungsgesichtspunkten völlig absieht, dem wissenschaftlichen Verständnis des ökonomischen Handelns nicht Genüge tun kann.“89 Stattdessen sind die ökonomischen Rationalitätsannahmen als Aussagen darüber, was als ökonomisch rational gelten kann, auch immer normative Aussagen, die Gründe für oder gegen bestimmte Handlungen beinhalten. Wie Normativität mit Gründen verbunden ist, stellt R. Jay Wallace dar. Gründe kann es für Überzeugungen und für Handlungen geben. Sie sind jeweils Erwägungen, die für oder gegen eine bestimmte Urteilsbildung, also künftige Einstellung (Überzeugung), beziehungsweise für oder gegen eine bestimmte Absicht, also künftige Reaktion (Handlung) sprechen.90 Wer einen Grund für eine bestimmte Handlung hat, dessen Erwägungen sprechen für diese Handlung. Diese Erwägungen, also Gründe, spielen eine zentrale Rolle bei der Reflexion darüber, „was man glauben oder tun soll.“91 Reflektiert eine Person darüber, welche Handlungen oder Überzeugungen richtig sind, dann denkt sie in einer bestimmten Weise, nämlich deliberativ nach. Sie reflektiert dabei über ihre Erwägungen (ihre Gründe) zur Bildung von Urteilen und Absichten. Gründe sind also deshalb mit Normativität verbunden, weil sie im Nachdenken über die richtigen – also normativ adäquaten – Urteile und Absichten eine konstitutive Rolle spielen.92 Wallace versteht Normen deshalb so, dass sie „in substantieller Weise angeben, welche Gründe Menschen haben, etwas zu glauben oder zu tun.“93 Normativität ergibt sich in dieser Sichtweise aus den Erwägungen von Personen, denen diese in ihren Überlegungen darüber, wie sie handeln oder was sie glauben sollten, eine entscheidende Rolle zusprechen – wenn sie also als Ergebnis einen Reflexionsprozesses Gründe für eine bestimmte Handlung angeben können. Wenn im Folgenden die Normativität der ökonomischen Perspektive thematisiert wird, dann ist damit dieses Verständnis von Normativität in Form von Gründen als Erwägungen in reflexiven Überlegungen verbunden, wie sich die oben darstellten Zusammenhänge bei Wallace skizzieren ließen.94 89
Apel 2016: 276. Vgl. Wallace 2011: 33. 91 A.a.O.: 34. 92 Vgl. a.a.O.: 33 ff. 93 A.a.O.: 34. 94 Nicht gemeint ist ein alternatives Verständnis von Normativität, die sich als Folge eines vorangehenden Wollens des Zieles ergibt, also Normativität in der Form von Zweck-MittelRationalität: wer, weshalb auch immer, ein bestimmtes Ziel anstrebt, der muss auch die geeigneten Mittel dazu wollen (vgl. Stemmer 2011). 90
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1.2.1 Normativität der „rationalen Wahl“ Ökonomische Gründe und eine entsprechende Normativität ökonomischer Erwägungen lassen sich an drei zentralen, aufeinander aufbauenden Aspekten der ökonomischen Theoriebildung verdeutlichen, auf die ich in diesem Abschnitt eingehen werde. Erstens wird weithin angenommen, dass das Verhalten der Akteure sich am besten als selbstinteressiertes Verhalten verstehen lässt. Damit werden moralische Erwägungen marginalisiert, indem sie nicht in die Erklärung ökonomischen Verhaltens einbezogen werden. Zweitens ist damit eine Charakterisierung moralischen (moralisch motivierten oder mit moralischen Regeln konformen) Verhaltens als irrational verbunden. Und drittens besitzt der Rationalitätsbegriff einen unleugbar evaluativen Charakter. Wenn also angenommen wird, rationale ökonomische Akteure handelten im selbstinteressierten Sinne nutzenmaximierend, oder, in etwas abgeschwächter Form, dies sei zumindest die beste Erklärung für ihr Verhalten und deshalb als theoretisches Verständnis rationalen Verhaltens vorzugswürdig, dann wird damit auch ausgesagt, welche Erwägungen für ökonomische Akteure die entscheidende Rolle spielen sollten. Die in der ökonomischen Theoriebildung dominanten Rationalitätsvorstellungen ergeben sich aus der Rational Choice-Theorie, die rationales Verhalten als nutzenmaximierendes Verhalten unter Knappheitsbedingungen auffasst.95 Die Entscheidungen der Individuen beruhen gemäß der Rational Choice-Theorie auf „rationalen Erwägungen, die sich nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung richten“.96 Dabei muss mit Nutzen noch kein Eigennutz gemeint sein.97 Oft und insbesondere in der ökonomischen Theoriebildung wird Nutzen aber gemeinhin als Eigennutz verstanden.98 Amartya Sen als prominenter Kritiker dieser Vorstellung rationaler Wahl ökonomischer Akteure beschreibt sie als „kluge Maximierung des Eigennutzens“.99 Materielles Eigeninteresse wird dabei als besonders plausibler Erklärungsansatz für individuelles Verhalten aufgefasst.100 Dieses angenommene rationale Eigeninteresse liegt für Konsumenten in der Maximierung ihres Güterbesitzes, und für Firmen in der Maximierung ihres Gewinns.101 Insbesondere Gary S. Beckers „ökonomischer Ansatz“ steht für den Versuch, jedwedes menschliche Verhalten als nutzenma95
Vgl. Kunz 2004. A.a.O.: 11. 97 Vgl. Elster 2009: 2 f., 17; Hausman/McPherson 2010: 49. 98 Vgl. Hausman 2012: 20; Kunz 2004: 11; 39 f.; Sen 2004: 206 ff.; Sen 2017: 206. 99 Sen 2017: 206. 100 Although some economists are willing to cite people’s moral beliefs in explaining some of their choices, many are strongly inclined to cling to the ‚solid ground‘ of material self-interest in constructing economic explanations and to leave no room for moral constraints or purposes in explaining behavior. (Hausman/McPherson 2010: 76 f., Hervorh. NP). 101 Vgl. Hausman/McPherson 2010: 60. 96
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
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ximierendes Verhalten zu erklären. Der ökonomische Ansatz nutzt dabei die Annahme von Eigennutzmaximierung, um auch fremdnütziges Handeln über den Aspekt des damit verbundenen Eigennutztes beziehungsweise von Sympathie zu erklären.102 Um Verhalten als rational verstehen zu können, ist die Rational ChoiceTheorie auf bestimmte Konsistenzannahmen rationalen Verhaltens angewiesen: „Die Akteure müssen wissen, dass sie einen Sachverhalt gegenüber einem anderen Sachverhalt vorziehen oder gegenüber beiden indifferent sind.“103 Die zentralen Annahmen über konsistentes Verhalten ökonomischer Akteure finden sich in der ordinalen Nutzenfunktion. Um als rational gelten zu können, müssen dort Präferenzen alle Alternativen einer Wahlsituation ordnen. Diese Ordnung muss für alle Situationen gelten, Präferenzen müssen vollständig und transitiv sein. Rationalität hängt in diesem Verständnis davon ab, ob alle zur Verfügung stehenden Optionen innerhalb einer Präferenzordnung auftauchen, und ob die Ordnung zwischen einzelnen Optionen auch in unterschiedlichen Situationen besteht.104 Sie ist zentral, um Wahlhandlungen anhand von Präferenzen erklären zu können, wie es die Theorie der offenbarten Präferenzen (Revealed-Preference Theory) anstrebt.105 Gerade aufgrund ihrer Konsistenzannahmen werden Präferenzen in den Mainstream Economics als umfassende Evaluationen einer Situation verstanden.106 Das heißt, wenn ein ökonomischer Akteur eine bestimmte Wahl trifft, dann wird angenommen, dass dieser Wahl eine umfassende Einschätzung der verfügbaren Alternativen zugrunde liegt, und dass die Wahl, die er schließlich unter mehreren möglichen Alternativen getroffen hat, diejenige ist, die ihm selbst den größten eigenen Nutzen stiftet, wie immer dieser „Nutzen“ sich für ihn genau darstellt. Gleichzeitig ergeben sich aus der Kombination von ordinaler Nutzenfunktion und der Interpretation von Wahlhandlungen als nutzenmaximierend Rationalitätsvorschriften für ökonomische Akteure.107 Dabei ist aber zu beachten, dass mit Vollständigkeit und Transitivität an Präferenzen keine inhaltlichen Rationalitätsforderungen gestellt werden, stattdessen ist es ohne weiteres möglich, ein „rationaler Schurke“ zu sein.108 102 Vgl. Becker 2014. Hausman (2012: 58) beschreibt „Sympathie“ in der auf Eigennutz bezogenen Verwendungsweise als „the way in which benefits and harms to other people register within self-interested preferences.“ 103 Kunz 2004: 38. 104 Vgl. Hausman 2012: 13 f. 105 Vgl. a.a.O.: 23 ff. 106 Vgl. a.a.O.: 34 f. 107 Vgl. Hausman/McPherson 2010: 49. Für Entscheidungen, deren Ergebnis sicher vorhersagbar ist, gilt: „Agents are rational if and only if their preferences may be represented by ordinal utility functions and their choices maximize utility.“ (Ebd.). 108 „One can be a rational villain. What one ought rationally to do need not coincide with what ought morally to do.“ (Hausman/McPherson 2010: 64).
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Jon Elster sieht die Normativität des Rational Choice-Ansatzes schon durch dessen Erklärungsansatz bedingt an: „It begins by stating how agents should act in order to realize their goals, and then proposes to explain their actions on the hypothesis that they actually behave in that manner“.109 In dieser Beschreibung des Rational Choice-Ansatzes zeigt sich die Verbindung erstens eines evaluativen – es wird angegeben, wie jemand handeln sollte (how agents should act“) – und zweitens eines erklärenden, deskriptiv-theoretischen Anspruchs. Drittens ergibt sich der Widerspruch, dass das Ideal rationalen Verhaltens als Erklärungsmodell genommen wird. Der Ansatz des Rational Choice sei in erster Linie normativ und nur nachrangig erklärend, was aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive unter Orientierung an den Kohärenzbedingungen der rationalen Wahl aber grade geleugnet würde, so Elster.110 Normativität ist demnach bereits darin angelegt, dass, wie Elster ausführt, das formale Erklärungsmodell schon im Ursprung evaluative Aussagen treffen muss. Julian Reiss sieht Ökonomen bei der Verwendung des Rational ChoiceAnsatzes in einer Dilemmasituation, die aus einem verbreiteten Verständnis von Rational Choice als rein formale Theorie der Rationalität einerseits, und der Eigenschaft von Rationalität als evaluativer Begriff andererseits entstehe. Denn ein Verhalten als rational oder irrational zu bewerten, gibt gleichzeitig eine Empfehlung ab, dieses Verhalten durchzuführen bzw. zu unterlassen. Eine solche Empfehlung wiederum wollten Ökonomen aber nicht explizit aussprechen, sondern lediglich formale Bedingungen von Handlungsrationalität aufstellen, die Bewertung der eigenen Handlungen aber den ökonomischen Akteuren selbst überlassen.111 Gegen diesen vorgeblichen Anspruch von Neutralität bei der Handlungsbewertung spricht aber eben schon die grundsätzliche Präskriptivität des Rationalitätsbegriffes.112 Menschen orientieren sich praktisch und theoretisch an Rationalitätsvorstellungen, indem sie einerseits versuchen, möglichst rational zu handeln, und andererseits Überlegungen dazu anstellen, was rationales Handeln von ihnen fordern würde.113 So ist es durchaus als normative Forderung zu verstehen, wenn im Zuge des Rational Choice Wahlhandlungen als mit einem „durch ständige Knappheitsbeschränkungen restringierte[n] Opti109
Elster 2009: 14. Ebd. 111 Vgl. Reiss 2013: 50 ff. 112 Vgl. Hausman/McPherson 2010: 64. Elster sieht charakterisiert die Vorstellung des Rational Choice als „opposed to the diverse forms of irrationality“. Ulrich (2008: 112) illustriert den präskriptiven Charakter von Rationalitätsvorstellungen folgendermaßen: „Rationalität ist, in welcher Begriffsfassung auch immer, eine Orientierungsidee dahingehend, wie vernünftige Personen die Vorzüglichkeit einer Handlungsweise begründen können und wie sie daher vernünftigerweise handeln sollen.“ (Hervorh. im Original). 113 Vgl. Harsanyi 1982: 42. 110
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
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mierungsproblem“ konfrontiert angesehen werden, und der Umgang mit diesen Optimierungsanforderungen als „rationales Problemlösungshandeln“ aufgefasst wird.114 Weder „Optimierung“ noch „Problemlösung“ sind neutrale Begriffe, sondern zeichnen ein bestimmtes Handeln positiv aus.115 Karl-Otto Apel meint, gerade die Setzung eines eigenen normativen Anspruchs an Handlungsrationalität mit der Möglichkeit, richtiges von falschem Handeln zu unterscheiden, wie sie sich im homo oeconomicus und seiner „formal-egoistisch orientierte[n] Kalkülrationalität“ ausdrückt, sorge für die Unabhängigkeit, die die ökonomische Theoriebildung von ethischen Überlegungen zu besitzen scheint.116 Bei dieser vorgeblichen Unabhängigkeit bleibt es aber nicht. So wird im ökonomischen Ansatz Beckers davon ausgegangen, dass alle Handlungen, die unter vielen Aspekten auch einen „ökonomischen“ aufweisen, als „ökonomische Güter“ auch ökonomisch erklärt werden können.117 Bievert und Wieland verstehen Rational Choice-Theorien deshalb als „Versuche, den ökonomischen Rationalitätsbegriff zu einer allgemeinen Theorie der Rationalität auszubauen.“118 In diesem Sinne versteht etwa Birger Priddat Rational Choice als „die unabhängige individuelle kognitive Erwägung über die beste Option“119 – wie eingangs mit Wallace dargestellt wurde, geht von solchen Erwägungen Normativität in Form von Handlungsgründen aus – und sieht weiterhin die ökonomischen Rationalitätsvorstellungen als ein „pädagogisches Programm“, das „auf rational education ausgelegt“ sei: „Die Theorie zeigt, was optimal herauszuholen wäre, in idealen analytischen Bildern.“120 Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass ein erster, aus der Beschreibung von Elster ausgehender Normativitätsaspekt des Rational Choice darin besteht, dass dieser Ansatz nicht ohne normative Grundannahmen auskommt, also schon in den Argumentationsprämissen unvermeidbar Normativität steckt, die sich nicht eliminieren lässt. Vor allem aber erfährt das „should“ innerhalb der Mainstream Economics durchaus eine inhaltliche Konkretisierung. Ein gutes Beispiel für die Verbindung der deskriptiven und der normativen 114
Blank 2011: 244. „Das Ziel der Optimierung ist Ausdruck einer Wertung. […] Optimierung ist immer normativ.“ (Nida-Rümelin 2011: 29). 116 Apel 2016: 277. 117 Vgl. Becker 2014; Bievert/Wieland 1992: 18 f. „In dieser Perspektive folgen dann Mutter Theresa und jeder beliebige Kriminelle zumindest teilweise derselben Handlungslogik und denselben Handlungsmotiven“ (a.a.O.: 19). 118 Bievert/Wieland 1992: 19; ähnlich auch Kunz 2004: 7. 119 Priddat 2013: 151 (Hervorh. NP). Priddat geht dabei davon aus, dass ökonomische Akteure gemäß den Mainstream Economics jenseits ihrer je individuellen Kompetenz zur Maximierung ihres eigenen Nutzens dennoch so veranlagt seien, zu versuchen, „bei Austauschgeschäften jeweils für sich das beste Ergebnis zu erreichen“ (a.a.O.: 136, Hervorh. NP). 120 A.a.O.: 151 (Hervorh. im Original). 115
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Elemente ist das homo oeconomicus-Modell als Repräsentant der ökonomischen Rationalität auf individueller Ebene. Koslowski zeigt anschaulich dessen normative Wirkung: Der homo oeconomicus gibt die Regeln an, nach denen sich ein Mensch in der Wirtschaft verhalten muß, wenn er seinen Gewinn oder seinen Nutzen maximieren will. Das Modell des homo oeconomicus sagt darüber hinaus auch, daß sich die wirtschaftlich Handelnden so verhalten sollten, weil dann gesamtwirtschaftliche Effizienz hergestellt wird. Aus dem Modell des homo oeconomicus folgt, daß mit den gegebenen Ressourcen der Gesellschaft das größtmögliche Sozialprodukt erzeugt wird, wenn alle Akteure ihr Handeln nach den Verhaltenserwartungen ausrichten, die das Modell des homo oeconomicus formuliert. Das Modell ist sowohl deskriptiv, das Handeln rationaler Akteure beschreibend, wie normativ-vorschreibend, wie sich der Mensch als homo oeconomicus verhalten soll.121
Die Selbstverständlichkeit, mit der Ökonomen von rationalen als eigennützigen, vollständig informierten Individuen ausgehen, macht ein Verständnis von Wohlergehen als Präferenzbefriedigung für sie naheliegend.122 Obwohl es aus liberaler Perspektive zunächst als besonders plausibel erscheinen mag, Wohlergehen als Präferenzbefriedigung zu verstehen, weil es die Entscheidung über die eigenen Werte dem Einzelnen überlässt,123 beinhaltet diese Annahme starke normative Festlegungen.124 Es ist nicht nur so, dass Menschen an mehr als an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert sind, sondern darüber hinaus ist auch der Zusammenhang zwischen Präferenzerfüllung und der Steigerung des 121
Koslowski 1992: 76 (Hervorh. im Original). Vgl. Hausman 2012: 79 f. Das gilt auch im Falle der Auffassung, Wohlfahrt sei ein mentaler Zustand, wie etwa Glückseligkeit, der dann durch die Befriedigung von Präferenzen am besten herbeigeführt werden könne (a.a.O.: 80). Hier spielt ein spezifisches Verständnis von Utilitarismus als individuelle Bedürfnisbefriedigung eine entscheidende Rolle (vgl. Kunz 2004: 33 ff.). Sen (2017: 246 f.) kritisiert die auf „Standardversionen der utilitaristischen Ethik“ beruhende „Strategie, den Konsequentialismus mit zusätzlichen Forderungen zu verbinden, vor allem einer Vorstellung von ‚Wohlfahrt‘, die darauf besteht, dass Zustände ausschließlich gemäß der Nutzen-Information (Glück oder Wunscherfüllung) zu beurteilen sind, die über sie vorliegt – ohne Rücksicht auf andere Merkmale des Folgenzustandes, etwa die Ausführung bestimmter Aktionen, und wären sie noch so scheußlich, oder die Verletzung der Freiheitsrechte anderer Menschen, und wären sie noch so persönlich.“ (Hervorh. NP). Er hebt die Problematik eines rein subjektivistischen „Nutzen“-Verständnisses hervor und bezeichnet utilitaristische Konzeptionen, die interpersonelle Nutzenvergleiche ausschließen, aufgrund ihrer dann auch eingeschränkten Aussagekraft als hinsichtlich der Erfassung menschlichen Wohlergehens als „mutilated utilitarianism“ (vgl. Sen 2008: 623). Allerdings kritisiert Birnbacher (vgl. 1992: 80 ff.), dass solche Utilitarismus-Versionen nur noch bedingt als eigentlich utilitaristisch aufzufassen seien. 123 Die Nichteinbeziehung moralischer Normen in die ökonomische Akteursrationalität wird u.a. mit dem ungewissen Ursprung moralischer Normen und wissenschaftlicher Zurückhaltung und Bescheidenheit begründet (vgl. Harsanyi 1982: 55; Akerlof 2007: 30; Hausman 2012: 80). 124 „There is nothing philosophically modest about the claim that preference satisfaction determines well-being.“ (Hausman 2012: 80). 122
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individuellen Wohlergehens nicht notwendig.125 Damit ist nicht nur gemeint, dass jemand durch die Erfüllung seiner Präferenzen auch einen realen Verlust an Wohlergehen erleiden kann, weil Präferenzbefriedigung empirisch nicht unbedingt mit einem Zugewinn an persönlichem Wohlergehen verbunden ist, sondern auch, dass von der Nicht-Existenz entsprechender Präferenzen nicht darauf geschlossen werden kann, dass eine Steigerung ihres Wohlergehens nicht im Interesse einer Person läge.126 Das Problem ist hier, dass Präferenzen grundsätzlich anpassungsfähig an die tatsächlich verfügbaren Auswahloptionen sind.127 Dieses Problem werde ich in Kapitel 4 mit dem Phänomen adaptiver Präferenzen wieder aufgreifen. Zudem mag es naheliegend erscheinen, dass moralische Motive letztlich auf Selbstinteresse zurückgeführt werden können, dass man etwa anderen hilft, weil man eine Pflicht dazu verspürt und kein schlechtes Gewissen wegen unterlassener Pflichterfüllung verspüren möchte. Oder dass Handlungen, die aus Mitleid erfolgen, letztlich nur das eigene Leiden aufgrund des Mitleidens angesichts der Situation des anderen verhindern sollen. Kurt Bayertz kritisiert an dieser Vorstellung aber, dass dabei der Bezug zum Eigennutz auf mehreren Ebenen falsch dargestellt werde: Erstens beruht ein Teil der scheinbaren Plausibilität des Einwandes auf einer Äquivokation der Vorsilbe ‚selbst‘. Natürlich ist auch ein altruistisches Motiv ein solches, das die betreffende Person selbst hat; und insofern ist dieses Motiv auch Teil des ‚Selbstinteresses‘ dieser Person. Davon unberührt bleibt aber, daß dieses Motiv seinem Inhalt nach auf das Wohlergehen einer anderen Person gerichtet und damit fremdnützig ist. Zweitens berechtigt auch der Umstand, daß eine Person Befriedigung aus ihrem altruistischen Handeln zieht, nicht dazu, es deshalb als ‚egoistisch‘ zu klassifizieren. Dies wäre nur dann legitim, wenn die Person die Handlung ausschließlich zum Zweck dieser Befriedigung ausgeführt hätte. Wenn man die manichäische Separierung von Egoismus und Altruismus nicht mitmacht, gibt es keinen Grund mehr, das fremdnützige Ziel einer Handlung auf ihren eigennützigen Nebeneffekt zu reduzieren. Drittens: Wird nun aber behauptet, daß dieser Nebeneffekt immer das ‚wirkliche‘ und ‚tiefere‘ Ziel der Handlung war, so nimmt die ganze Theorie einen metaphysischen Charakter an. Diese Behauptung ist nämlich weder beweisbar noch widerlegbar: Es wird vorausgesetzt, daß Handlungserklärungen nur dann adäquat seien, wenn sie ausschließlich auf das Selbstinteresse des Handelnden Bezug nehmen.128
125
Vgl. a.a.O.: 81 ff. „When people prefer x to y, it is often the case that x is better for them than y. For this reason economists can often measure welfare by preference satisfaction. The reason for this correlation is that self-interest is common, and people are often better judges of what serves their interests that are others. There is no other stronger connection between preferences, welfare, and self-interest.“ (A.a.O.: 91). 126 Vgl. Birnbacher 1992: 73 f. „Zufriedenheit kann auch Hoffnungslosigkeit und Resignation, ein Sich-Bescheiden mit dem einmal Erreichten, signalisieren.“ (A.a.O.: 74). 127 Vgl. Elster 1982. 128 Bayertz 2014: 206 (Hervorh. im Original)
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Selbst wenn es sein mag, dass fremdnütziges Handeln auch einen positiven Effekt für den Handelnden selbst hat, ist damit nach Bayertz also nicht gezeigt, dass dies als das bestimmende Handlungsziel verstanden werden kann. Von ausschließlichem Selbstinteresse auszugehen muss dann als theoretische Annahme und Abstraktion verstanden werden.129 Bayertz bezeichnet die Ausdeutung individueller Ziele als eigeninteressierte Ziele in der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse daher als „egoistische Verschärfung“.130 Dort sieht er drei Funktionen für dieses „Prinzip des Selbstinteresses“: deskriptiv, explikativ und rationalitätsbegründend.131 Bereits deskriptiv stehe diesem aber das „Faktum der Moral“ entgegen: Menschen verhalten sich oft so, wie es moralische Standards es fordern.132 Die Rolle der „egoistischen Verschärfung“ sieht er nun darin, mit diesem empirischen Problem umzugehen: indem Rationalitätsbedingungen formuliert werden, denen moralisches Handeln widerspricht, die dann als irrational eingeordnet werden können. Die Normativität der Rationalitätsanforderungen sieht er mithin als Versuch an, die Spannungen zwischen der Annahme ausschließlich eigennützen Verhaltens und der Tatsache moralischen Handelns theoretisch abzubauen. Um aber wirkungsvoll sein zu können, müssten diese Formulierungen von Rationalitätsstandards dann auch in der Theoriebildung umgesetzt werden. Das „Prinzip des Selbstinteresses“ lasse sich so in zwei Thesen aufgliedern: Die erste besagt, dass es nur eine einzige, allen anderen scheinbaren Gründen zugrunde liegende Art von Handlungsgründen gibt; die zweite, dass diese Gründe aus dem Selbstinteresse der Akteure folgen.133 Es hat sich also gezeigt, dass die Mainstream Economics aufgrund ihres Rationalitätsverständnisses unabweislich normative Elemente enthalten, die sich insbesondere in der Vorstellung individuellen rationalen Handelns als Eigennutzmaximierung ausdrücken. Diese Normativität anzuerkennen ist für wirtschaftsethische Fragestellungen zentral; Gewinnmaximierung als Unternehmensverantwortung etwa ist keine neutrale, sondern bereits eine normative Position (allerdings eine, für die die normative Begründung weithin gerade nicht gegeben wird).134 Verbreitet ist die tradierte Sichtweise, „gute und verantwortungsvolle Führung ließe sich mit der Maximierung von Unternehmensgewinnen gleichsetzen.“135 Ausgehend davon Entscheidungen zu treffen, „ohne nach den Auswirkungen für die Betroffenen zu fragen“, kommt aber ei129 Eine Übersicht über empirische Einschränkungen des Rationalitätsmodells der Mainstream Economics findet sich beispielsweise bei Priddat (2013). 130 Bayertz 2016b: 327. 131 A.a.O.: 327 f. 132 A.a.O.: 328. 133 Ebd. 134 Vgl. Neuhäuser 2017b: 770. 135 Suchanek/Lin Hi 2010: 1.
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ner Überbetonung von Kriterien der Wirtschaftlichkeit unter Ausblendung wichtiger normativer Aspekte gleich.136 1.2.2 Moralische Probleme dieser Normativität Natürlich kann es für ökonomische Modelle auch angesichts vielfältiger Kritik besonders erkenntnisreich und deshalb sinnvoll sein, Akteure als ausschließlich eigennützig darzustellen.137 Die folgende Kritik bezieht sich deshalb nicht auf das Modell des homo oeconomicus an sich, sondern auf dessen Normativität beziehungsweise die Normativität ökonomischer Rationalitätsvorstellungen. Sen bezeichnet das Bestreben, ökonomische und ethische Fragen analytisch (möglichst) strikt voneinander zu trennen als „seperation“ als Gegensatz zu „integration“. Eine strikt getrennte Analyse könne zwar sinnvoll sein, bedürfe aber einer späteren Ergänzung im Zuge der Anpassung an die realen Gegebenheiten (integration).138 Ökonomik und Ethik zu unterscheiden sei etwas anderes, als eine Dichotomie anzunehmen, womit eine dauerhafte analytische Trennung beider Disziplinen gemeint ist.139 Allerdings ist hier noch einmal hervorzuheben, dass eine solche „Dichotomie“ aufgrund der Normativität, die vermeintlich neutrale ökonomische Erläuterungen wie oben dargestellt immer schon besitzen, als künstliche Trennung zu verstehen ist. Vielfach hervorgehoben werden in Verbindung mit einer solchen Dichotomie Schwierigkeiten sowohl auf der deskriptiven als auch auf der normativen Ebene, wobei sich beide Ebenen, wie sich folgend zeigen wird, kaum strikt voneinander abgrenzen lassen, und sich aus Kritik auf der deskriptiven wichtige Kritik auf der normativen Ebene ergibt. Verbunden damit ist die Frage, ob rationale Präferenzordnungen wirklich umfassende Evaluationen einer Situation darstellen. Diese Frage kann auf der individuellen Ebene der Präferenzen gestellt werden, aber auch auf der systemischen Ebene bezüglich der Einbettung ökonomischer Analyse in beispielsweise ethische Fragestellungen. Wichtige Argumente gegen ein vollständiges Erfassen der Handlungsumstände durch eine einzige Präferenzordnung bringt Sen pointiert hervor. Er argumentiert anschaulich, dass es beispielsweise die moralischen oder sozialen, zumindest die nicht-ökonomischen Normen eines Akteurs
136
Suchanek 2015a: 186. Vgl. Sen 2008. Beispielsweise nutzt die Ökonomische Ethik das Modell des homo oeconomicus, um mögliche institutionelle Arrangements auf ihre Robustheit gegenüber strikt eigennützigem Verhalten von Akteuren auf Märkten zu prüfen (vgl. Suchanek 2007: 177 ff.; Homann 2014: 101 ff.). 138 Sen 2008: 618 ff. 139 Vgl. a.a.O.: 622. 137
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sein können, die den entscheidenden Unterschied in seinem Verhalten machen. So zeigt er, dass der Kontext einer Handlungssituation entscheidend für das Auswahlergebnis des Handelnden sein kann. Wer eine Wahl in welcher sozialen Situation beziehungsweise unter welchen auch sozial oder moralisch geprägten zur Verfügung stehenden Alternativen zu treffen hat, kann entscheidend dafür sein, welche Wahl getroffen wird. Sen spricht hier von „chooser dependence“ bezogen darauf, wer die Wahl trifft, und von „menu dependence“ bezogen auf die Auswahlalternativen, und setzt beide in Verbindung mit der Verantwortung des Akteurs.140 Sens prominente Passage hierzu illustriert dies sehr gut: You arrive at a garden party, and can readily identify the most comfortable chair. You would be delighted if an imperious host were to assign you to that chair. However, if the matter is left to your own choice, you may refuse to rush to it. You select the ‘less prefered’ chair. Are you still a maximizer? Quite possibly you are, since your preference ranking for choice behavior may well be defined over ‘comprehensive outcomes’, including choice processes (in particular, who does the choosing) as well as the outcomes at culmination (the distribution of chairs). To take another example, you may prefer mangoes to apples, but refuse to pick the last mango from a fruit basket, and yet be very pleased if someone else were to ‘force’ that last mango on you. […] The influence of the choice act on preferences, and in particular the dependence of preference on the identity of the chooser, can go with rather different motivations and may have several alternative explanations.141
So kann die beste Erklärung eines bestimmten Verhaltens die sein, die anerkennt, dass ein Akteur seine Wahl von moralischen Regeln abhängig gemacht hat.142 Dabei ist es dann nicht nur möglich, dass jemand das Wohlergehen anderer als Teil seines eigenen Wohlergehens begreift, sondern ebenfalls, dass er auf die Verfolgung seines eigenen Wohlergehens verzichtet.143 Damit stellt er wichtige deskriptive Gründe gegen dichotome Analyse heraus: sie sei für die Vorhersagekraft problematisch und bringe Schwierigkeiten beim Verständnis alltäglicher Handlungen mit sich, bei denen Wertfragen und soziokulturelle Einbettung eine wichtige Rolle spielen.144 Auch Daniel Hausman und Michael S. McPherson argumentieren, moralische Normen sollten in der ökonomischen Theoriebildung schon deshalb eine Rolle als solche (und nicht als unter Eigennutz zu subsumieren) für das Handeln ökonomischer Akteure spielen, weil die Erklärungskraft ökonomischer 140
Sen 2004: 161 ff. A.a.O.: 161 (Hervorh. im Original). 142 Vgl. a.a.O.: 162, 165 ff. 143 Sen (2004: 213 f.) kritisiert drei Standardannahmen rationalen Wählens in der ökonomischen Theoriebildung, die er als „self-centered welfare“, „self-welfare goal“ und „selfgoal-choice“ charakterisiert. 144 Vgl. Sen 2008: 624 ff. 141
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Modelle damit zunehmen würde.145 Dagegen stellt sich etwa für den ökonomischen Ansatz als prominente Rational Choice-Theorie ein Problem im Umgang mit Verpflichtungen, die als Regelbefolgung gerade im Gegensatz zur Förderung des eigenen Wohlergehens (durch diese Regelbefolgung) stehen. Solche Verpflichtungen ließen sich mit der Rational Choice-Theorie nicht mehr als rationale Wahl verstehen.146 Angesichts der Tatsache, dass Menschen sehr unterschiedliche Beweggründe für ihr Verhalten haben, sei die Rational Choice-Theorie als „schlichte Lösung“ anzusehen, so Sen.147 So kritisiert er die Figur des homo oeconomicus aufgrund mangelnder Möglichkeiten zur begrifflichen Unterscheidung etwa zwischen den eigenen Interessen und Vorstellungen von angemessenem Verhalten als „Rationalclown“.148 Dabei wirkt dieses beschränkte Rationalitätsverständnis selbst wieder normativ: Nicht nur setzt die RCT [Rational Choice-Theorie] auch in ihrer erweiterten Version voraus, Menschen hätten tatsächlich keine anderen Ziele als ihr eigenes Wohlergehen, sie nimmt darüber hinaus auch an, Menschen würden gegen die Gebote der Rationalität verstoßen, falls sie – nach Berücksichtigung aller möglichen externen Faktoren, die darauf Einfluss haben können – nicht ausschließlich ihre eigene Wohlfahrt anstreben, sondern irgendein anderes Ziel oder einen anderen Beweggrund für sich zulassen würden.149
145 Vgl. Hausman/McPherson 2010: 75. Hausman (vgl. 2012: 57 ff.) argumentiert in Auseinandersetzung mit Sen weiterhin, dass Präferenzen in der wirtschaftswissenschaftlichen Verwendungsweise durchaus umfassende Situationseinschätzungen zulassen würden. Auch Albert O. Hirschman kritisiert die theoretische Sparsamkeit des ökonomischen Ansatzes: „[….] the economic approach presents us with too simpleminded an account of even such fundamental economic processes as consumption and production […]“ (Hirschman 1985: 7). Aufschlussreich für den Umgang mit moralischen Motivationen in der ökonomischen Theoriebildung der Neoklassik ist auch die spieltheoretische Bewertung moralisch motivierter Handlungen. Moralische Motivationen, die vom Spielkontext abhängen, etwa der Frage danach, wer welche Entscheidungen innerhalb welchen Auswahlrahmens trifft, wirken bei der Präferenzbildung nicht mit, der zugelassene „Altruismus“ ist einfacher, selbstbezüglicher (d.h. in die Eigennutz integrierter) Altruismus. So wird ein nur scheinbarer Gegensatz zwischen Eigennutz und Altruismus aufgebaut, der nicht-selbstbezogene moralische Verhaltensweisen ausschließt (vgl. Hausman 2012: 52 f.). Verhalten kann dann eigennützig oder in diesem Sinne „altruistisch“, nicht aber durch soziale Normen motiviert, und vor allem nicht uneigennützig sein. Nicht nur wird „Altruismus“ so fehlcharakterisiert, vor allem fallen wesentliche menschliche Handlungsmotivationen damit aus dem Analyseraster heraus (vgl. Etzioni 1993: 111). 146 Sen 2017: 218. Auch Hausman und McPherson betonen, dass vom Eigennutz unabhängige Verpflichtungen für ökonomische Handlungen relevant sein können (Hausman/ McPherson 2010: 86 f.). 147 Sen 2017: 215. 148 Sen 2014: 459, im Original erschienen 1977. Auch in jüngeren Beiträgen betont Sen, dass diese Figur des „rational fool“ in der ökonomischen Theorie noch immer weit verbreitet ist (so beispielsweise in Sen 2008: 624). 149 Sen 2017: 218.
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
Ein zentrales Argument Sens gegen die Dominanz des Rationalitätsverständnisses der Mainstream Economics ist mithin die Tatsache, dass rational sehr unterschiedliches Verhalten sein kann:150 Da Menschen auch ohne weiteres gute Gründe haben können, andere Ziele wahrzunehmen als die in ihrem eigenen Interesse liegenden und da sie Argumente verstehen können, die für die Beachtung umfassenderer Werte oder Normen des guten Verhaltens sprechen, ist die RCT Ausdruck eines extrem beschränkten Verständnisses von Vernunft und Rationalität.151
Auch verweisen etwa Hausman und McPherson auf eine reale Gefahr, die vermutlich auch verbreiteten Intuitionen entspricht: dass mit der Anerkennung unmoralischen Handelns aufgrund von Eigennutz „moralischer Zynismus“ droht.152 Richard Sturn stellt die Annahme der Nutzenmaximierung als einen problematischen Reduktionismus der Ökonomik dar.153 Sie sei der entscheidende Schritt des Herauslösens menschlichen Handelns aus seinem eigentlichen Handlungskontext: Schon die Reduktion individueller und kollektiver Bewertungen auf Präferenzen/Nutzen, d.h. das nutzentheoretische Rahmenwerk selbst, stellt eine Dekontextualisierung dar. Denn es ist nicht von vornherein klar, daß qualitative Differenzen verschiedener sozialer Kontexte in Nutzen auszudrücken sind. Die Vertreter dieser Ansätze sehen diese Dekontextualisierung als grandiose Dekontextualisierung – als Rekurs auf die einfachen Elementarprinzipien des Wählens.154
Mit dieser „Dekontextualisierung“ sind wiederum zwei weitere Probleme verbunden. Das erste ist, dass Kontextbezug Entscheidungen innerhalb der ökonomischen Rationalitätsvorstellung als irrational erscheinen lässt.155 Die eben skizzierte Kritik besagt aber ja gerade, dass Kontextabhängigkeit der rationalen Wahl auch bei ökonomischen Handlungen oft besteht. Bernard Gert verweist ebenfalls darauf, dass es angesichts der sozialen Handlungskontexte der Akteure nicht sinnvoll ist, Rationalität mit der Verfolgung des Selbstinteresses gleichzusetzen, sondern dass jemand nicht als irrational zu verstehen ist, wenn er auf einen eigenen Vorteil zugunsten anderer verzichtet.156 Zudem ist ein auf das Kriterium eigeninteressierter Nutzenmaximierung beschränktes Rationa150
Vgl. Sen 2004. Sen 2017: 207, mit ist hier die „RCT“ Rational-Choice-Theorie gemeint. Sen erkennt „eine starke Verbindung“ zwischen der „Rationalität einer Wahl“ und „vernünftigem Denken“ an (a.a.O.: 203). 152 Hausman/McPherson 2010: 75; 91. 153 Vgl. Sturn 1997: 30. 154 Sturn 1997: 278. 155 Ebd. 156 Vgl. Gert 1993: 69 f. 151
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
33
litätsverständnis kontraintuitiv: Rationalität ist in der alltäglichen Wahrnehmung der Menschen gerade nicht notwendig mit Selbstinteresse verbunden.157 Ein zweites Problem besteht nach Sturn darin, dass die Annahme von Nutzenmaximierung es dem so verstandenen ökonomischen Akteur erlaubt, einzelne Alternativen gegeneinander abzuwägen, gerade indem er diese von ihren jeweils spezifischen Wert-Qualitäten abstrahiert. So würden eigentlich wesentlich verschiedene Optionen ihrer inhaltlichen Gegensätzlichkeit und möglicherweise sogar Unvereinbarkeit beraubt. Der Vorwurf lautet also, dass die unterstellte Nutzenmaximierung substantielle Unterschiede der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen unkenntlich mache.158 Nach Bayertz ist das auch gerade eine wichtige Funktion der theoretischen Annahme reinen Eigennutzstrebens, die er als Umgang mit empirischen Herausforderungen versteht (s.o.). An diesem Vorgehen lässt sich nun kritisieren, dass es problematisch und wenig plausibel ist, alle Wertfragen als ökonomische Wertfragen zu behandeln, weil damit die moralische Dimension von Handlungen überdeckt wird.159 Diese Erkenntnis des werttheoretischen Reduktionismus ist wichtig, denn daraus lässt sich erstens ein weiterer wesentlicher Aspekt der Normativität ökonomischer Theoriebildung erkennen, und zweitens bietet sie einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, weshalb eine „rein ökonomische“ Argumentation aus moralischer Perspektive oft als inadäquat und mitunter empörend erscheint: Der ökonomische Akteur scheint eine Wahl zwischen wesentlich gleichwertigen Optionen zu haben, deren einziger Unterschied darin besteht, in wieweit sie seiner eigenen Präferenzerfüllung dienen. Peter Ulrich kritisiert diesbezüglich die „Grundnorm eines strikten normativen Individualismus“, der darin bestehe, „dass den faktisch gegebenen Präferenzen der Individuen selbst der Status der letzten, nicht weiter hinterfragbaren normativen Verbindlichkeit zugesprochen wird.“160 Hiermit ist dann explizite normative Kritik verbunden. Dass durch die Deutung als Nutzenmaximierung auch andere, beispielsweise moralische, Normen ökonomisch gedeutet werden, hat zum Vorwurf des „ökonomischen Imperialismus“ geführt.161 Diese Kritik lässt sich auch als 157
Hausman/McPherson 2010: 79, 93 f. Vgl. Sturn 1997: 31 f. 159 Vgl. Zúñiga y Postigo 2017: 566 ff. 160 Ulrich 2008: 122 f. (Hervorh. im Original). 161 Sturn 1997: 33 f. „Eine geschlossene individualistische Theorie, das heißt eine, die alle sozialen Erscheinungen mit einem Prinzip zu erklären sucht, muß eine übergreifende und, wenn man so will, eine imperialistische Theorie sein.“ (Sturn 1997: 290). Bröckling (vgl. 2013: 86 ff.) verdeutlicht aus soziologischer Perspektive den Imperialismus-Vorwurf anhand seiner historischen Dimension als „Ausweitung ökonomischer Erklärungen auch auf Lebensbereiche, die traditionell nicht der Sphäre der Ökonomie zugerechnet werden“ (a.a.O.: 86 f.). Besonders deutlich wird dies am ökonomischen Ansatz Beckers. Dessen Umgang mit 158
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
Teil des „Ökonomismus“-Vorwurfs verstehen, in dem sich die problematische Verbindung der deskriptiven und der normativen Ebene ökonomischer Rationalitätsvorstellungen zeigt. Peter Koslowski kritisiert damit die „Ansicht, dass es eine rationale Diskussion nur über Mittel, nicht aber über Ziele des Menschen geben könne.“162 Ulrich etwas zugespitzter den „Glaube[n] der ökonomischen Rationalität an nichts als sich selbst“.163 Mit einem solchen „Ökonomismus“ wird ein zentrales wirtschaftsethisches Problem aufgegriffen: nämlich die Selbstreferenz ökonomischen Vorgehens unter axiomatischer Ausblendung ethischer Reflexion,164 also der Versuch, die Frage nach der Zielsetzung ökonomischen Handelns auf ein rein ökonomisches Problemverständnis zu reduzieren.165 Eine entscheidende Rolle dabei spielt ökonomische Effizienz als auf individueller wie systemischer Ebene per se gültiges Legitimitätsargument.166 So entsteht die Möglichkeit von „Entproblematisierungen“, die die „Gefahr ideologisch verengter Denkweisen“ beinhalten, „welche die Macht des Marktes überhöhen oder welche die Reflexionsfähigkeit bezüglich der Grenzen von reduktionistischen ökonomischen Modellen verhindern“.167 Ein weiterer Aspekt des Ökonomismus ist für Ulrich die Deutung aller Markthandlungen (und das sind immer mehr alltägliche Handlungen) als freiwilliges Eingehen von Tauschbeziehungen. Die Freiwilligkeit des Tausches soll die gegenseitige Vorteilhaftigkeit anzeigen, ein bestimmter Tauschvorgang die individuell beste Tauschmöglichkeit darstellen. Von Marktergebnissen kann dann angenommen werden, dass es keine andere Möglichkeit des Tauschens gegeben hätte, die allen Beteiligten mehr Zufriedenheit verschafft hätte. Somit können sie in der ökonomischen Theoriebildung als pareto-effizient, d.h. im Gesamtergebnis nicht weiter verbesserbar (zumindest zwischen den Tauschenden), und damit sogar als gerecht (abgesehen von „externen Effekten“) gelten.168 Ulrichs Ökonomismus-Kritik zielt somit einerseits auf die der162Kinderplanung als Beispiel ökonomisch verstandener sozialer Beziehungen wird auch kritisiert als „extreme[r] Individualismus“, der eben diese Beziehungen durch „Marktmetaphern“ aufhebe (Sturn 1997: 341). Hirschman (vgl. 1985: 7) konstatiert, der ökonomische Ansatz lasse durch seine Anwendung des ökonomisch-rationalen Akteurs der ökonomischen Theorie auf den erweiterten Bereich des Sozialen dessen intrinsische Schwächen offensichtlich werden. 162 Koslowski 1992: 75. 163 Ulrich 2008: 137 (Hervorh. im Original). 164 A.a.O.: 125; 138. So ergebe sich „eine ökonomische Weltanschauung, die sich den Anschein ‚reiner‘ Sachrationalität gibt.“ (A.a.O.: 138, Hervorh. im Original). 165 Vgl. Ulrich 1993: 219. 166 Vgl. Ulrich 2008: 204. 167 Lin-Hi/Suchanek 2011: 71. 168 Ulrich 2008: 207 ff. So beschreibt Priddat (2013: 136) das Mittel, mit dem innerhalb der ökonomischen Theorie jeder Akteur „das für sich beste Ergebnis“ erreichen könne, als wechselseitige „Übereinkunft: Transaktionen beruhen auf Verträgen, und Verträge wiederum beruhen auf Kongruenz und Konsens.“ Der Extrempunkt ist nach Ulrich die Konstitutio-
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
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Vorstellung ökonomischer Sachzwänge in Form eines „ökonomischen Determinismus“.169 Andererseits auf einen „ökonomischen Reduktionismus“, im Zuge dessen ein durch marktmäßige Koordination entstehendes Gemeinwohl angenommen wird.170 Ökonomismus ist die normative Überhöhung der Logik des Marktes zum Inbegriff der ökonomischen Vernunft, ja der Vernunft schlechthin; Ökonomisten kennen keine andere Vernunft als die am Markt geprägte ökonomische Ratio. Deshalb lässt sich der Ökonomismus auch als der Glaube der ökonomischen Ratio an nichts als sich selbst bezeichnen. Den Kern dieses Glaubens stellt […] eine marktmetaphysische Gemeinwohlfiktion dar.171
„Ökonomismus“-Kritik kann in dieser Perspektive dann beispielsweise die Verschleierung ungerechter Handelspraktiken durch scheinbare Freiwilligkeit thematisieren und ist in solchen Fällen schon intuitiv besonders plausibel. Vor allem aber wird damit die Vorstellung einer bedingungslosen Umwandlung von Eigen- in Gemeinwohl kritisiert.172 Ganz allgemein lässt sich diese Kritik einordnen als eine am „neoklassische[n] Paradigma, demgemäß hinreichend definierte Verfügungsrechte und die Koordination über Märkte zu gesellschaftlich optimalen Ergebnissen führen.“173 So verweist diese Kritik auf ein zentrales moralisches Problem ökonomischer Rationalitätsvorstellungen, das offensichtlich dann besteht, wenn die individuelle Eigennutzorientierung eben nicht zu allseits guten, sondern für Einzelne zu schlechten Konsequenzen führt. Diese lassen sich mit Apel dann treffend beschreiben als „Konsequenzen, die ein Handeln nur nach der Rationalität des homo oeconomicus als menschlich und gesellschaftlich untragbar erscheinen lassen.“174 Zugespitzt lässt sich formulieren: Die Normativität des ökonomischen Rationalitätsverständnisses ist dann problematisch, wenn daraus Schädigungen resultieren und möglicherweise auch gerechtfertigt werden. Hausman und McPherson geben ein eindrückliches Beispiel für die normative Wirkung der ökonomischen Rationalität in Form der Rechtfertigung von sweatshops (beziehungsweise von schädigenden Arbeitsbedingungen) durch ökonomische Gründe: Makers of well-known brands are often accused of exploiting workers in poor countries by operating ‘sweatshops’ that pay low wages, impose inreasonable hours and 169 nelle Ökonomik als „äusserste Steigerung des ökonomischen Reduktionismus zur Ideologie einer totalen Marktgesellschaft, in der sich die Menschen nur noch als Geschäftspartner begegnen.“ (Ulrich 2008: 213, Hervorh. im Original). 169 Ulrich 2008: 147 ff. 170 A.a.O.: 175 ff. 171 Ulrich 2000: 2 (Hervorh. im Original). 172 Vgl. Ulrich 2008: 187 ff. 173 Lin-Hi/Suchanek 2011: 69. 174 Apel 2016: 278, (Hevorh. im Original).
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1 Ökonomische Rationalitätsgründe als normativer Kontext
working conditions, and use child labor. On the explanatory side, one may ask: Why do firms treat U.S. workers so much better than those abroad? An explanation would be sought in the very different labor supply conditions in different places and in the theory of comparative advantage. […] Economists, then, may be inclined to argue that these workers in poor countries are better-off than they would be if American companies were not allowed to buy their labor, and economists may see this point as an argument for free trade. Citing this explanation, manufacturers might defend their practices on the ground that improving working conditions or wages in their plants would make the plants unprofitable. Thus – or so goes the justification – the net effect of enforcing requirements for better wages and working conditions on these firms would be their withdrawal and hence the unemployment of the firm’s workers, leaving them still worse-off. Here an argument for the economic rationality of a firm’s labor practices turns into a justification for its conduct.175
Zusammenfassend lässt sich hier als Ausgangsproblematik für die folgenden Kapitel festhalten: Aus dem Rationalitätsverständnis der Mainstream Economics ergeben sich normative Handlungsanforderungen für das Verhalten ökonomischer Akteure, indem angegeben wird, was als sinnvolles, nachvollziehbares, ökonomisch richtiges Verhalten gelten kann. Gerade durch den Ausschluss moralischer Normen wird dabei Normativität generiert, und dies führt zu moralischen Problemen, indem moralische Erwägungen marginalisiert werden, was auf der normativen Ebene zu einer erheblichen „Schieflage“ führt. Diese Einseitigkeit wird im Vergleich mit Adam Smith und John Stuart Mill besonders deutlich. Einerseits sind beide als wichtige Autoren der Klassischen Nationalökonomie wie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt ideengeschichtlich zentral für das Ablösen ökonomischer von ethischen Überlegungen, denn ökonomisches Vorgehen erhält selbst einen normativen Gehalt, der sich in der moralischen und theoretischen Aufwertung des Eigennutzstrebens und der Forderung nach Effizienz deutlich ausdrückt. Irving Kristol kritisiert, folgend auf Smith zeige sich die Ausklammerung des tatsächlichen menschlichen Handelns zugunsten als objektiv angenommener, an den Naturwissenschaften orientierter Gesetzmäßigkeiten, die dann wieder als Handlungsvorschriften an den Menschen herangetragen worden seien.176 Dennoch verhindern bei beiden Autoren zusammengenommen drei Faktoren, dass dort ökonomische Argumente die am Rational Choice-Ansatz kritisierte, normative Wirkung entfalten können. Erstens ist insbesondere für Mill die begrenzte Reichweite ökonomischer Analyse herauszustellen, woraus Samuel Hollander einen Appell ableitet, eben diese Begrenzung wieder in den Blick zu nehmen: „Mill’s warnings of the limited scope of economics bear repeating to this day.“177 Zweitens ist auch eine Begrenzung auf individualmora175 176 177
Hausman/McPherson 2010: 70 f. (Hervorh. NP). Vgl. Kristol 1984: 260 f. Vgl. Hollander 1983: 186.
1.2 Zum normativen Gehalt der Mainstream Economics
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lischer Ebene bei Mill direkt erkennbar: Wünschenswerte Marktergebnisse sind für ihn das Ergebnis individualmoralischer Orientierung der wirtschaftlichen Akteure, die ihre eigene wirtschaftliche Freiheit so selbst moralisch begrenzen.178 Und drittens findet eine Begrenzung durch die moralisch vertretbaren Handlungsfolgen statt: So gibt es bei Smith neben unterschiedlichen Handlungsmotiven einen Bereich minimaler moralischer Pflichten auch im Ökonomischen: Wirtschaften steht bei ihm unter dem Anspruch, auf Ungerechtigkeiten zu verzichten.179 Für die klassische Nationalökonomie insgesamt stellt Aßländer heraus, in dieser stehe individuelles Glücksstreben noch „unter dem sittlichen Vorbehalt der Nichtschädigung anderer“.180 Unter Berufung auf Smith und Mill lässt sich damit sagen, dass dann, wenn die Verbindung von Eigen- und Gemeinwohl nicht mehr gegeben ist – also beispielsweise im Fall von Schädigungen einzelner Akteure – diese zentrale Rechtfertigung eigennützigen Verhaltens entfällt. Die relevanten Konsequenzen in den Blick zu nehmen, ist nach Sen aber die Voraussetzung dafür, die persönliche Verantwortung der Akteure richtig zu erfassen. Und die relevanten Konsequenzen wiederum könnten nicht als nutzentheoretische Wohlfahrtskonzeption verstanden werden, weil dabei andere normativ relevante Konsequenzen unbeachtet bleiben.181 Von den drei mit Smith und Mill aufgezeigten, die Normativität der ökonomischen Rationalität begrenzenden Faktoren sind der zweite und der dritte für die Argumentation in den folgenden Kapiteln zentral, wobei der erste – die Begrenzung der Reichweite ökonomischer Argumente – ganz grundsätzlich natürlich ebenfalls eine Rolle spielt. Die Individualmoral ökonomischer Akteure werde ich insbesondere in Kapitel 4 behandeln, die Begrenzung moralisch vertretbarer Handlungsweisen durch das moralische Gebot der Nichtschädigung in den Kapiteln 3–5. Dafür spielt der Umgang mit der oben beschriebenen Normativität eine zentrale Rolle. Zwei grundsätzliche Möglichkeiten dafür werde ich im nächsten Kapitel betrachten.
178 179 180 181
Vgl. Aßländer 2007: 295, 298; Aßländer 2013: 64 f., 87 ff. Vgl. Manstetten 2000: 253; Suchanek 2015a: 170 f. Aßländer 2013: 65. Vgl. Sen 2017: 246 f.
2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als wirtschaftsethische Maximalpositionen Die Frage ist nun, wie mit den in Kapitel 1 dargestellten Problemen umzugehen ist. Eine Möglichkeit bestünde darin, ein anderes Verständnis ökonomischer Rationalität zu fordern. Eine „Erweiterung“ der ökonomischen Rationalität wird seit mehreren Jahrzehnten diskutiert, mit unterschiedlichen Vorstellungen zum Verhältnis ökonomischer Analyse und ethischer Argumente.1 Prominent tritt im deutschsprachigen Raum Peter Ulrich im Zuge seiner Integrativen Wirtschaftsethik2 für ein anderes Verständnis ökonomischer Rationalität zugunsten einer vernunftethischen „Transformation“ ein.3 Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, die Reichweite ökonomischer Rationalität zu begrenzen. Bernd Bievert und Josef Wieland formulieren die mit dieser Lösungsmöglichkeit verbundene Frage als die nach einem normativen Standpunkt zum Umgang mit der der ökonomischen Rationalität eigenen Normativität: „gibt es einen systematischen Ort, von wo aus dieser Macht etwa aus ethischen Gründen wirksam widersprochen werden kann?“4 Hierbei stehen wiederum zwei grundsätzliche Optionen offen. Die erste besteht in einer Beschränkung durch rechtliche Regulierung unter Beibehaltung der ökonomischen Rationalitätsanforderungen an den Einzelnen. Für diese Option ist der wirtschaftsethische Ansatz der Ökonomischen Ethik beziehungsweise Normativen Ökonomik exemplarisch, der originär von Karl Homann vertreten wird.5 Die zweite Option besteht in der moralischen Einschränkung der Normativität ökonomischer Rationalitätsargumente und ist insofern als Zwischenposition der Ansätze Ulrichs und Homanns zu verstehen, als die ökonomischen Rationalitätsargumente selbst nicht verändert werden, aber dennoch auch jenseits rechtlicher Vorgaben aus moralischen Gründen auf der Ebene der Individualmoral eingeschränkt werden. In den folgenden Kapiteln 3 und 4 werde ich für diese Option als wirtschaftsethische Minimalposition argumentieren. Zuvor werde ich in diesem Kapitel auf die Integrative Wirtschaftsethik (2.1) sowie die Ökonomische Ethik (2.2) als wirtschaftsethische Positionen 1 2 3 4 5
Vgl. van Luijk 1992: 162 ff. Ulrich 2008. Vgl. Ulrich 1993; Ulrich 2008. Bievert/Wieland 1992: 26. Vgl. Homann/Lütge 2005; Homann 2014; Suchanek 2007.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
eingehen, um den theoretischen Raum für eine solche Zwischenposition im Umgang mit vorhandenen moralischen Problemen im ökonomischen Kontext aufzugzeigen und deutlichzumachen, was eine solche Position ausmachen muss.
2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt Peter Ulrich legt mit der Integrativen Wirtschaftsethik einen umfassenden Vorschlag dafür vor, wie ein erweitertes Rationalitätsverständnis zentrale wirtschaftsethische Probleme lösen soll. Was er nicht will, ist, die ökonomische Rationalität „bloss äusserlich eingegrenzt oder bloss angewandt“ zu sehen.6 Um die Trennung von ökonomischer Analyse und Ethik zu überwinden, müsse „Wirtschaftsethik als Vernunftethik des Wirtschaftens konzipiert werden“.7 Dabei geht er über die Annahme hinaus, dass auch ökonomische Akteure in ihrem Handeln moralische Argumente berücksichtigen. Das „Integrative“ an Ulrichs wirtschaftsethischem Ansatz besteht allgemein gesprochen darin, Ökonomik und Ethik nicht parallel zueinander und jeweils eigenständig zu konzipieren, sondern bereits die Grundlagen der Wirtschaftstheorie mit ethischem Gehalt auszustatten.8 Im Folgenden werde ich die Integrative Wirtschaftsethik als detailliert ausgearbeiteten Lösungsvorschlag in der Form eines alternativen Verständnisses ökonomischer Rationalität betrachten. Dabei werde ich Ulrichs Ansatz als idealen Ansatz problematisieren und darauf eingehen, inwiefern seine zentralen Argumente auch in nicht-idealer, auf relative Verbesserungen gerichteter Perspektive aufschlussreich sind. Auf die Bedeutung dieser Perspektive für die Wirtschaftsethik gehe ich am Ende dieses Kapitels ein (2.3). Ulrichs Wirtschaftsethik gliedert sich in eine Wirtschaftsbürger-, eine Unternehmens- und eine Ordnungsethik.9 Die Auseinandersetzung mit Ulrichs Ansatz werde ich im Folgenden aber auf den dabei insgesamt zentralen und für den vorliegenden Kontext relevanten Aspekt der Individualmoral fokussieren. 2.1.1 Wirtschaftsethik als Grundlagenkritik Ulrich geht es mit seinem wirtschaftsethischen Ansatz um eine Grundlagenkritik der ökonomischen Theoriebildung.10 Die zentralen Aspekte ergeben 6
A.a.O.: 130 (Hervorh. im Original). Ulrich 2007: 125 (Hervorh. im Original). 8 Ulrich 2008: 124 ff. 9 Vgl. Ulrich 2008: 313 ff. 10 Vgl. a.a.O.: 128 (Hervorh. im Original). 7
2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt
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sich dabei aus seiner Kritik am ökonomischen Rationalitätsbegriff. Dabei wird deutlich, wie Rationalität und Vernunft bei Ulrich zusammenhängen: Die Frage nach der angemessenen ökonomischen Rationalität ist für Ulrich eigentlich eine Frage nach ökonomischer Vernunft.11 Deutlich wird dies auch an seiner Deutung ökonomischer Theoriebildung: Diese sei „im Kern selbst immer schon eine normative Idealtheorie vernünftigen Wirtschaftens“.12 Indem dann in Ulrichs Vorschlag ökonomische und ethische Analyse nicht mehr voneinander getrennt werden, soll „eine umfassende, vernunftethisch begründete Perspektive des Wirtschaftens“ entstehen.13 Was Ulrich also anstrebt ist eine „Idee ökonomischer Rationalität, die in sich schon ethisch gehaltvoll ist und damit als integrative regulative Idee vernünftigen Wirtschaftens dienen kann“.14 Ökonomische Rationalität beinhalte, wenn sie nicht im Sinne der Mainstream Economics ökonomistisch und damit reduktionistisch verstanden werde, sondern in einem Verständnis „vernünftigen Wirtschaftens“, zwei Rationalitätsdimensionen: die ethische und die technische.15 Für Ulrich stellt sich verbunden mit der „ökonomische[n] Rationalitätsproblematik“16 dann die Frage sowohl nach legitimer Zwecksetzung, als auch nach effizientem Mitteleinsatz.17 Dabei geht es ihm um die Frage nach der Legitimität ökonomischer Handlungsweisen, die sich nicht schon aus der Effizienz ergebe, sondern vielmehr selbst eigentlich als Effizienzkriterium zu verstehen sei (d.h. effizient ist nur, was legitim ist). Der Rationalitätsbegriff soll als Referenzpunkt dafür dienen, was ökonomisch legitim ist. Private Effizienzinteressen Einzelner müssen hinter die Legitimitätsprüfung zurücktreten. Dabei geht es ihm darum, die Vorstellung der Mainstream Economics, Effizienzstreben sei etwas für sich selbst Stehendes, zu überwinden.18 Ulrichs Position ist es hier also, dass sich „Rationalität“ im eigentlichen, erweiterten Sinne nicht auf die Verwendung von Mitteln, sondern im Gegensatz dazu auf die Setzung von Zielen bezieht. Hier ist dann eindeutig das Verhältnis von Ethik und Ökonomik geklärt: Die Zwecksetzung (auf individueller sowie auf institutioneller Ebene) erfolgt unter dem „Primat der Ethik“.19 Ulrichs Integrative Wirtschaftsethik ist also als expliziter Versuch konzipiert und zu verstehen, die Probleme der Normativität „ökonomistischer“ Rationalitätsvorstelllungen zu lösen. Dabei spielt die Perspektive der „Lebens11 12 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. Ulrich 1993; Ulrich 2008: 124 ff. Ulrich 2008: 124. A.a.O.: 127. A.a.O.: 129 (Hervorh. im Original). Ebd. A.a.O.: 112 (Hervorh. im Original). Vgl. a.a.O.: 113. Vgl. a.a.O.: 131 f. Ulrich 2009: 226 (Hervorh. im Original).
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
dienlichkeit“ eine wichtige Rolle, die auch verdeutlicht, wie Legitimität und Effizienz bei Ulrich zusammenhängen.20 Als Ausgangspunkt dafür eignet sich Ulrichs Interpretation von Wertschöpfung als „Werte schaffen“.21 Damit verbunden sind für Ulrich die Fragen nach dem Sinn und der Legitimation wirtschaftlicher Tätigkeit. Mit der „Sinnfrage“ ist die Annahme verbunden, dass nicht schon die Maximierung ökonomischen Nutzens ein Ziel an sich sein kann; die „Legitimationsfrage“ richtet den Blick darauf, dass ökonomisches Handeln nicht immer für alle vorteilhaft ist.22 Gesellschaftliche Verständigung über die normativen Anforderungen an ökonomisches Vorgehen soll den „Blickwinkel der Lebenswelt“ eröffnen, von dem aus eine „Einbindung der ökonomischen Rationalisierungsdynamik in ethisch begründete Gesichtspunkte der Lebensdienlichkeit“ möglich sein soll.23 Wenn Ulrich nach dem Sinn des Wirtschaftens fragt, und diesen mit „Lebensdienlichkeit“ verbindet, dann ist damit zunächst ganz grundsätzlich ein instrumentelles Verständnis ökonomischen Handelns verbunden. Die Maximierung von „Nutzen“ oder auch die Verbesserung der eigenen Wettbewerbsposition kann dann noch kein Zweck an sich sein, sondern dient immer nichtökonomischen Zwecken menschlicher Lebensführung.24 Diese sind gemäß der jeweils geltenden, zeitlich und kulturell dynamischen „Sinnhorizonte“ zu bestimmen – was aus der so bestimmten Art des Wirtschaftens eine „Kulturleistung“ macht.25 Wichtig ist diese Sinnfrage in ganz grundsätzlicher Hinsicht deshalb, weil sich die Knappheitsbedingungen mit der verbesserten materiellen Versorgung wesentlich geändert darstellen: Knappheit besteht nicht mehr an konsumierbaren Waren, sondern bezogen auf eine angemessene Verteilung dieser Waren und entsprechend bezahlter Arbeit. Knapp sind zudem die positionalen (also mit dem sozialen Status verbundenen) Güter, ökologische Ressourcen und nicht zuletzt (Frei-) Zeit.26 Knappheit angesichts dessen auf die absolute Menge der verfügbaren Güter zu beziehen, gleicht nach Ulrich der Perpetuierung einer Wirtschaftsform der Armut.27 Auch bedingt der konstitutiv soziale Charakter ökonomischer Handlungen für Ulrich deren Legitimitätsanforderungen: Ob eine wirtschaftliche Tätigkeit vertretbar ist, hängt von ihrem sozialen Ergebnis ab.28 Da knapp nicht die Menge an Gütern, sondern die Möglichkeiten eines guten Lebens sind, so läßt sich mit Ulrich argumentie20 21 22 23 24 25 26 27 28
Ulrich 2008: 241. A.a.O.: 127 (Hervorh. im Original). Vgl. a.a.O.: 218 f. A.a.O.: 133 (Hervorh. im Original). Vgl. a.a.O.: 221 f. A.a.O.: 222 f. Vgl. a.a.O.: 235 ff. Vgl. a.a.O.: 239 f. Vgl. a.a.O.: 251 f.
2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt
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ren, lassen sich Fragen nach einer sinnvollen und legitimen Form ökonomischer Tätigkeit neu stellen. Diese Betonung der Perspektive der Lebensdienlichkeit verdeutlicht zugleich die systemische Ebene der „sozialökonomische[n] Rationalität“, auf der es Ulrich um die Reintegration von ökonomischem System und Lebenswelt (in Abgrenzung zur Theoriegeschichte der Mainstream Economics) geht.29 Ulrich formuliert diese Rationalitätskonzeption als „diskursethisch fundierte regulative Idee“: „Als sozialökonomisch rational kann jede Handlung oder jede Institution gelten, die freie und mündige Bürger in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung bestimmt haben (könnten).“30 „Integrative“ Wirtschaftsethik meint für Ulrich schließlich also die Integration der ökonomischen Rationalität auf individueller wie systemischer Ebene in Fragen gesamtgesellschaftlicher Legitimität. Für den sozialökonomischen Akteur bedeutet all dies, dass er illegitim handeln würde, wenn er rein eigennutzorientiert handeln würde. Er prüft aufgrund seiner Vernunft seine eigenen Handlungszwecke immer auf Legitimität und Lebensdienlichkeit, und dies im öffentlichen Diskurs. Moralität und Rationalität bedingen sich bei Ulrich gegenseitig: Um rational handeln zu können, muss ein ökonomischer Akteur vernünftig handeln. In Ulrichs Position findet sich einerseits sehr prägnant die Kritik an der Normativität ökonomischer Rationalitätsvorstellungen wieder. Andererseits bietet die Integrative Wirtschaftsethik einen sehr anspruchsvollen Lösungsvorschlag an, der sich durch die Annahme charakterisieren lässt, dass das ökonomisch Rationale eigentlich als das wirtschaftlich Vernünftige zu verstehen sei. Mit diesem Lösungsvorschlag gehen Idealisierungen auf Akteurs- wie auf Systemebene einher, die aus zwei zentralen Gründen problematisch sind. Erstens bauen sie auf einer spezifischen Vorstellung des guten Lebens auf, die prominent eine Kritik am „Konsumismus“31 und die Forderung nach materieller Selbstbeschränkung in Form des „Genug-haben-Könnens“32 beinhaltet. Damit stellt Ulrich starke inhaltliche Forderungen an ökonomische Akteure und die Legitimität ihres Handelns. Zweitens sind die Idealisierungen beider Ebenen für ihr jeweiliges Funktionieren aufeinander angewiesen, was angesichts offensichtlicher Nicht-Idealität der realen Gegebenheiten zu erheblichen Schwierigkeiten führt, praktische Lösungsvorschläge für reale wirtschaftsethische Probleme zu formulieren. Die Schwierigkeiten auf beiden Ebenen werde ich im Folgenden herausstellen.
29 30 31 32
A.a.O.: 130 f. A.a.O.: 132 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 234. A.a.O.: 229.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
2.1.2 Rationale Akteure als ideale vernünftige Akteure Eine starke Vorstellung individueller Moralität ist für Ulrichs Wirtschaftsethik zentral. In der Tradition Immanuel Kants geht er davon aus, dass sich die Autonomie der einzelnen Akteure darin ausdrückt, in einem fundamentalen Sinne Willens- und Handlungsfreiheit zu besitzen: Die Grundbefindlichkeit oder Disposition des Menschen als eines Wesens, das zu sich selbst Stellung nehmen kann und daher auf die Kultivierung seines moralischen Urteils- und Empfindungsvermögens als der grundlegenden Voraussetzung seiner Menschlichkeit vital angewiesen ist, bezeichnen wir als seine Moralität. Moralität ist der unabweisbare Selbstanspruch des Menschen als eines Subjekts, das sich als prinzipiell frei begreift.33
Der gute Wille geht bei Ulrich allen moralischen Ansprüchen voran, die an ein Individuum gestellt werden können.34 Für ihn gilt ein „Primat des moralischen Wollens vor jedem begründbaren normativen Sollen“.35 „Gute Gründe“ dafür, bestimmte Handlungen durchzuführen oder zu unterlassen, sind für ihn „ethisch rationale Motive dafür, was wir als mit uns selbst einverstandene ‚integre‘ Person tun wollen.“36 Hier zeigt sich der enge Zusammenhang von Moralität und Rationalität in Ulrichs Ansatz sehr anschaulich. Dabei geht es ihm zentral um die Fähigkeit zur Selbstkritik, zum kritischen Reflektieren des eigenen Handelns um seiner selbst willen. Die Fähigkeit zu moralischem Handeln besitzt der Einzelne in dieser Perspektive dadurch, dass er frei und verantwortlich in einem starken vernunftethischen Sinne ist. Ulrich möchte mit seiner wirtschaftsethischen Konzeption demnach eine angenommene „Entfremdung“ von ökonomischer und ethischer Beurteilung überwinden, weil die Unabhängigkeit der ökonomischen Rationalität von der Moralität für ihn nur eine behauptete, aber keine tatsächliche Unabhängigkeit ist. Deshalb spricht Ulrich auch von einer „Transformation der ökonomischen Vernunft“.37 Ein zweiter wichtiger Aspekt seiner vernunftethischen Deutung ökonomischer Rationalität und seiner Wirtschaftsethik ist der diskursethische Ansatz. Darin sieht er „die Möglichkeit, die in der Kant’schen Tradition reichlich unbestimmt gebliebene Idee praktischer Vernunft oder ethischer Rationalität (Vernunftethik) nun als kommunikative Rationalität, die immer schon als kommunikativ-ethische Rationalität zu begreifen ist, genauer zu explizieren.“38 33 34 35 36 37 38
A.a.O.: 24 (Hervorh. NP). Vgl. a.a.O.: 23 ff. A.a.O.: 25 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 26 (Hervorh. im Original). So der Titel seiner Arbeit zum ökonomischen Rationalitätsverständnis (Ulrich 1993). Ulrich 2008: 83 (Hervorh. im Original).
2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt
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Zunächst ist hervorzuheben, dass es sich dabei eben um eine diskursethisch fundierte Wirtschaftsethik handelt. Dafür müssen eine grundsätzliche „Verständigungsorientierung“ des Einzelnen39 und ein „Interesse an legitimem Handeln“ unterstellt werden.40 Diese Anforderungen an das Individuum gilt es hier näher zu betrachten. Die verständigungsorientierte Einstellung verlangt von dem jeweiligen Akteur, von eigenen, nicht in der „rationalen Konsensfindung über universalisierbare Geltungsansprüche“41 enthaltenen Interessen abzusehen. Es soll dem Individuum zuvörderst nicht um den eigenen Erfolg, sondern um Verständigung gehen. Es handelt dann verständigungsorientiert und sozial, woraus sich die kommunikative Handlungsform ergibt. Damit geht es gemäß des Rationalitätsverständnisses Ulrichs einen Schritt weiter als das in der Spieltheorie betrachtete Individuum, das zwar die soziale Dimension seines Handelns anerkennt, diese allerdings strategisch interpretiert und versucht, seine Interessen mit denen seiner Interaktionspartner unter Beibehaltung des individuellen Eigennutzes in einen Ausgleich zu bringen. Diese individuelle Eigennutzorientierung soll die kommunikative Rationalität aufbrechen.42 Das kommunikativ handelnde Individuum nimmt seine Mitspieler als Mitmenschen, als „Subjekte mit legitimen ‚Ansprüchen‘“, wahr und ordnet sein eigenes Erfolgsstreben dem „moralischen Interesse an einer vorbehaltlosen argumentativen Konsensfindung über strittige Geltungsansprüche“ unter. Der Einzelne will Einverständnis erzielen, bevor er seine eigenen Ziele verfolgt.43 So ist Ulrichs Verständnis von individueller Moralität zugleich eine Kritik an der Vorstellung legitimer Eigennutzmaximierung: Strikte Eigennutzmaximierung kann keine legitime Handlungsorientierung sein, denn sie bedeutet ja gerade, dass alle konkurrierenden Wertgesichtspunkte, selbst moralische Rechte anderer, ungeprüft dem Eigennutzen nachgeordnet werden dürften und dessen Maximierung selbst zum unbedingten und obersten Wertmassstab erhoben würde.44
Der individuelle Eigennutz steht also unter dem Vorbehalt der Legitimitätsprüfung. Dabei kommt die eingangs in ihrer systematischen Rolle beschriebene „Lebensdienlichkeit“ in ihrer inhaltlichen Verwendung ins Spiel, denn sie ist auf der inhaltlichen Ebene die Umschreibung einer bestimmten Vorstellung des guten Lebens und enthält Idealisierungen und normative Forderungen, die normativ und praktisch problematisch sind.
39 40 41 42 43 44
A.a.O.: 86 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 88 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 86. Vgl. a.a.O.: 86 ff. A.a.O.: 88. A.a.O.: 347.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
Für Ulrich ist wirtschaftliches Handeln, das über die Sicherung der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse hinausgeht, sich also nicht mehr mit wirklicher Knappheit beschäftigt, eine kulturelle Handlung als „Kultivierung ‚höherer‘ Bedürfnisse im Sinne des je persönlichen Lebensentwurfs.“45 Weil es für das Individuum dann über die Sicherung seiner Lebensgrundlagen hinaus um persönliche kulturelle Entfaltung geht, kann die Ökonomie in den Hintergrund treten: Das Produktions- und Versorgungsproblem einer Gesellschaft wäre im Prinzip gelöst und würde zunehmend der Beschäftigung mit bedeutsameren Dingen des guten Lebens Platz machen: von den lästigen Notwendigkeiten des (genug) Habens zu den inneren Freiheiten und Köstlichkeiten eines kultivierten Seins.46
Ulrich meint, bei gesicherter materieller Grundversorgung sollten immaterielle Ziele in den Vordergrund rücken. Erwerbsarbeit könne im Kontext einer solchen Gesellschaft dann vor allem Berufung sein und gesellschaftliche Teilhabe und Selbstentwicklung bedeuten.47 Er vertritt also eine bestimmte Vorstellung davon, was ein gutes Leben ausmacht, aus der er normative Forderungen an die einzelnen ökonomischen Akteure ableitet. Ausgangspunkt ist eine umfassende Bedürfniskritik: Der angestrebte Wohlstand wird daran gemessen, inwiefern er lebensdienlich ist „im Sinne des übergeordneten Lebensentwurfs.“48 Bevor ich darauf detaillierter eingehe, um die Probleme einer solch voraussetzungsreichen wirtschaftsethischen Theoriebildung weiter aufzuzeigen, ist hier der grundsätzliche Einwand wichtig, dass eine Gesellschaft, die materiellen Konsum zu einem konstitutiven Element der gesellschaftlichen (Status-) Kommunikation erhoben hat,49 schwerlich als die geeignete Sozialisationsinstanz angesehen werden kann, um solche Muster der immateriellen Sinnsuche zu entwickeln. Die Fähigkeit, eine Sättigung an Gütern empfinden zu können, die materielle Selbstbegrenzung, ist für Ulrich also die Voraussetzung dafür, die Sinnfrage an das Wirtschaften zu stellen. Solange das Individuum in der Vorstellung gefangen ist, seine Kaufkraft ständig erhöhen zu müssen, um immer mehr konsumieren zu können, ist es nicht frei von einem empfundenen Zwang des Konsumierens, und mit diesem Konsumzwang in seiner Lebensführung unfrei; dafür brauche es die Fähigkeit, (temporär) genug zu haben.50 Ulrich vertritt hier entsprechend seiner spezifischen Autonomievorstellung eine Konzeption von menschlicher Freiheit als Freiheit von materiellen Bedürfnissen 45 46 47 48 49 50
A.a.O.: 229. Ebd. Vgl. a.a.O.: 231 f. A.a.O.: 241. Vgl. Hirschle 2012. Vgl. Ulrich 2008.: 228 ff.
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um ihrer selbst Willen und stellt an das Individuum die Forderung einer „ganzheitlichen Lebenskunst des Genug-haben-Könnens.“ Diese sei eine Kunst, weil sie auf einer freiwilligen Selbstbeschränkung angesichts einer verfügbaren Güterfülle beruht, die dann eigentlich keine Selbstbeschränkung mehr ist, weil ihr eine Einsicht in das dem persönlichen Wohlergehen erforderliche Maß an materiellem Konsum zugrunde liege.51 Individuelle Freiheit bringe diese Fähigkeit, ein (wenn auch nur temporäres) Genug an materieller Versorgung empfinden zu können, sie sei eine Freiheit „von den Denkzwängen, die uns in den erwerbswirtschaftlichen Sachzwängen des unaufhörlichen Mehr-(Kaufkraft)-haben-Müssens gefangen halten.“52 Dazu gehört dann ein entsprechend zweckmäßiger, nämlich instrumentell auf eine Erweiterung der eigenen Aktivitätsmöglichkeiten und somit immaterielle Erfüllung gerichteter Konsum.53 Weil schon die Arbeitstätigkeit Erfüllung immaterieller Sinnbedürfnisse bringen soll, entsteht die Möglichkeit, empfundene Konsumbedürfnisse auf ihre tatsächliche Existenz hin (sie sind dann eben nicht mehr notwendig zur Kompensation eines nicht erfüllenden Arbeitslebens) zu reflektieren.54 Diese Perspektive eröffne dann den „bedürfniskritischen Weg, indem wir unsere Begehrlichkeit selbstkritisch reflektieren und auf das für unseren Lebenssinn Wesentliche oder sogar auf das Unerlässliche reduzieren.“55 Konsum erfülle im Zuge des „Konsumismus, verstanden als grenzenlos konsumorientierte Lebensform“ nicht mehr, sondern verwehre Sinnerfahrung durch tatsächliches Tätigsein,56 und sei deshalb auf seine Zweckmäßigkeit für ein sinnerfülltes Leben hin zu reflektieren.57 2.1.3 Wirtschaftsethik als kommunikative Ethik Um diese geforderte individuelle Legitimitätsprüfung vornehmen zu können, ist der Einzelne in der Integrativen Wirtschaftsethik auf seine Gemeinschaft als Sprachgemeinschaft verwiesen. Die universelle Prinzipienfindung kann nur im Diskurs (innerhalb der Sprachgemeinschaft) erfolgen:58 „Die denknotwendige Unterstellung und regulative Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft stellt nichts anderes als die diskursethische Interpretation des 51
A.a.O.: 229. A.a.O.: 230. 53 Vgl. a.a.O.: 230. 54 Vgl. a.a.O.: 232 f. 55 A.a.O.: 233. 56 A.a.O.: 234 (Hervorh. im Original). 57 Vgl. a.a.O.: 235. 58 Vgl. a.a.O.: 85. Wie Habermas (vgl. 2014: 138) schreibt, ist das Diskursprinzip zunächst neutral gegenüber Moral und Recht und bezieht sich zunächst allgemein auf Handlungsnormen. 52
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Standpunkts der Moral dar. Sie tritt systematisch an die Stelle, die bei Kant ein transzendentales Vernunftsubjekt einnahm […].“59 Für die wirtschaftsethische Einordnung der Integrativen Wirtschaftsethik ist drittens also eine weitere Folge der diskursethischen Orientierung Ulrichs zentral: Ulrich macht als den letzten „,Ort‘ der Moral“ moderner Gesellschaften den öffentlichen Diskurs aus.60 Dafür bedarf es natürlich einer entsprechenden institutionellen Infrastruktur. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft bzw. der ideale Diskurs dienen dabei als regulative Idee, ohne selbst Anspruch auf Realisierbarkeit zu besitzen. Es geht jeweils darum, dem Ideal möglichst nahe zu kommen, bzw. sich an ihm zu orientieren.61 Diese „regulative Idee kommunikativer Rationalisierung“62 bezeichnet Ulrich auch als „politisch-ethischen Idealhorizont einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft mündiger Bürger“.63 Dieses individuelle Ideal des vernünftigen Wirtschaftsbürgers ist verbunden mit dem strukturellen Ideal eingeschränkten Wettbewerbs. Ulrich fordert eine „reflektierte Selbstbegrenzung der Marktorientierung“ zugunsten einer „Kulturgesellschaft der befreiten Zeit“.64 Die Einschränkung marktwirtschaftlichen Wettbewerbs ist dabei aber nicht nur ein normatives Ideal, sondern auch eine praktische Voraussetzung für das individuelle Ideal vernünftigen ökonomischen Handelns überhaupt. Denn im schlimmsten Fall kann eine individuelle Strategie der Selbstbegrenzung, die von systematisch gegenläufigen Anreizen umgeben ist, für den Einzelnen existenzielle Folgen haben, wie Ulrich selbst herausstellt.65 Deshalb fordert er eine systematische Emanzipation vom Wettbewerb, indem Strukturen geschaffen werden, die eine Selbstbegrenzung im obigen Sinne praktisch möglich machen. Die marktwirtschaftliche Ordnung soll so weitgehend umgestaltet werden, dass sie eine aus Ulrichs Sicht sinnhafte Lebensweise begünstigt.66 Daran wird deutlich, dass sich das individuelle Ideal nicht nur konstitutiv mit einem Ideal auf Ordnungsebene verbindet, sondern dass die Integrative Wirtschaftsethik – ihrem diskursethischen Ansatz entsprechend – eine starke politische Dimension be59
A.a.O.: 84 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 95 ff. 61 Vgl. a.a.O.: 95. 62 Ebd. (Hervorh. im Original). 63 Ebd. 64 A.a.O.: 241. 65 Vgl. a.a.O.: 240 ff. „Daher ist der ‚freie Markt‘, solange ihm keine Grenzen gesetzt werden, eben nicht bloss eine Wirtschaftsform, sondern tendenziell eine umfassende Gesellschaftsform, nämlich die einer totalen Marktgesellschaft, die sich tendenziell alle kulturellen Lebensentwürfe unterwirft.“ (A.a.O.: 244, Hervorh. im Original). 66 Vgl. a.a.O.: 246 ff. „Es ergibt sich somit als Fazit, dass eine sinnvolle Zukunft der Marktwirtschaft im entworfenen Sinn einer Ökonomie der Lebensfülle letztlich vom gemeinschaftlichen kulturellen Willen zu einer nicht bloss marktorientierten Lebensform getragen werden muss.“ (A.a.O.: 248). 60
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sitzt.67 Bei Ulrich verbindet sich die „Aufgabe, das Wirtschaften endlich in zeitgemässer Weise als eine moderne Kulturform statt bloss als eine sachzwanghafte, eigensinnige, als solche hinzunehmende Systemlogik zu begreifen“68 mit der „Einsicht […], dass die Klärung der Legitimitätsvoraussetzungen individuellen bzw. einzelwirtschaftlichen Handelns nur im Kontext einer umfassenden Konzeption der wohlgeordneten Gesellschaft möglich ist.“69 Dass die individuelle und die gesellschaftliche Ebene konstitutiv zusammenhängen zeigt sich auch daran, dass die Kulturleistung der Bestimmung der spezifischen, sinnvollen Wirtschaftsform sowohl auf demokratische Strukturen, sowie auf die Vorstellung von der präferierten Wirtschaftsform bei einer Mehrheit der Bürger notwendig angewiesen ist.70 Die Idealisierung der Integrativen Wirtschaftsethik auf systemischer Ebene thematisiert Karl-Otto Apel aufschlussreich. Er setzt sich mit der „Problematik der von Ulrich unterstellten, idealen Sozialökonomie“71 auseinander. Hinsichtlich des wirtschaftsethischen Ansatzes Ulrichs72 bemerk er: „Genauso könnte und müßte es sein, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer idealen Sozialökonomie als gegeben unterstellt werden könnten.“73 Ulrichs Konzeption stehe aber vor dem Problem, dass „die faktische Erfüllung dieser Voraussetzungen prinzipiell niemals unterstellt werden kann“74. Dieser Einschränkung der „regulativen Prinzipien“ einfach zuzustimmen und somit die Idealisierungen selbst als theorieimmanent anzuerkennen, kann nach Apel für Ulrich aber keine adäquate Lösung mehr sein, da es bei ihm „um die Anwendung der postkonventionellen Diskursethik auf die bestehenden Verhältnisse geht.“75 Den Idealismusvorwurf richtet Apel auf das „Voraussetzungsverhältnis“, das Ulrich annehmen muss: Das personale Handeln des Unternehmens und das ökonomische System in dem angedeuteten Sinn setzten ihrerseits noch eine ‚Verständigungsordnung‘ im Sinne des idealen sozioökonomischen Gesellschaftsvertrags, und d.h. im Sinne der ‚kommunikativ-ethischen Rationalität‘ der ‚normativen Sozialintegration (Konfliktbewältigung)‘ voraus […] Als normatives Postulat entspricht die Voraussetzung sehr genau dem regulativen Grundprin67
„Allein schon damit überhaupt die Möglichkeit der gesellschaftlichen Gestaltung der Wirtschaft besteht, kann die grundsätzliche normative Orientierung aller Ordnungsethik nur dahin gehen, den unverzichtbaren Primat der Politik vor der Logik des Marktes zu beanspruchen.“ (A.a.O.: 362). 68 A.a.O.: 249. 69 A.a.O.: 255. 70 Vgl. a.a.O.: 223. 71 Apel 2016: 292 (Hervorh. im Original). 72 Apel bezieht sich auf die Unternehmensethik Ulrichs, aufgrund der Allgemeingültigkeit seiner Aussagen zu Ulrichs Ansatz werden diese im Folgenden aber als repräsentativ für die Integrative Wirtschaftsethik unterstellt. 73 A.a.O.: 292 f. (Hervorh. im Original). 74 A.a.O.: 292. 75 A.a.O.: 294 f. (Hervorh. im Original).
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zip der zweistufigen Kommunikations- bzw. Diskursethik; als soziologische Feststellung dagegen entspricht die Voraussetzung natürlich nicht den heute gegebenen Tatsachen, und sie kann m.E. niemals völlig den Tatsachen entsprechen, wenn sie – im Sinne Kants – eine ‚regulative Idee‘ darstellt, der nichts Empirisches jemals korrespondieren kann.‘76
Ulrich steht damit für Apel vor „dem – für die geschichtliche Realisierung einer postkonventionellen Moral charakteristischen – Problem der Herstellung der Anwendungsbedingungen“, das aber „nicht allein durch kontrafaktische Vorwegnahme der Bedingungen solidarischer Kooperation gelöst werden“ kann und damit vor den allgemeinen Schwierigkeiten „der politischen oder ökonomischen Anwendung des universalen Prinzips der Diskursethik.“77 Weil im idealen Zustand (mit Apel der „Verständigungsordnung“) sowohl die Handlungsrationalitäten der Akteure untereinander, als auch diese mit der Systemrationalität der Ökonomie harmonieren würden, indem sie innerhalb der „kommunikativen Handlungsrationalität“ vermittelt würden,78 blende Ulrich gleichzeitig die realen Gegebenheiten zu sehr aus und gehe insbesondere hinsichtlich der Akteursrationalität als ethisch-kommunikative Rationalität von einer „Unterstellung“ aus, „von der ein ökonomisch Handelnder nicht nur als ‚homo oeconomicus‘, sondern auch als verantwortlich Handelnder angesichts der heute bestehenden Verhältnisse nicht ausgehen darf.“79 Apel spricht deswegen von „geradezu ungeheuerlichen Idealisierungen“ die Ulrichs Konzeption impliziere.80 Entscheidend ist nun, dass diese Idealisierungen aufgrund ihrer „kontrafaktischen Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft“ im Wesen der Diskursethik liegen, sie aber nicht als schon realisiert angenommen werden können. Ihre Herstellung selbst stellt für Apel eine moralisch gebotene, „geschichtsbezogene Aufgabe“ dar.81 Bei der Bewältigung dieser Aufgabe solle man „nicht der Illusion eines möglichen vernünftigen Neuanfangs in der Geschichte zum Opfer fallen.“ Vielmehr müsse „man an die geschichtliche Situation anknüpfen“,82 sodass 76
A.a.O.: 294 (Hervorh. im Original). A.a.O.: 295 (Hervorh. im Original). 78 A.a.O.: 296; 301 f. 79 A.a.O.: 296 (Hervorh. im Original). Suchanek (2015a: 3) kritisiert den diskursethischen Ansatz für unternehmensethische Fragestellungen aus der fiktiven Perspektive eines Wirtschaftsakteurs: „[…] wenn in der Diskursethik als Prinzip aufgestellt wird, dass man nach jener Maxime handeln solle, von der man unterstellen kann, dass ihre Folgen und Nebenwirkungen von allen, die möglicherweise betroffen sind, zwanglos in einem realen Diskurs akzeptiert werden könnten; ein solches Prinzip ist doch allem Anschein nach für eine andere Welt geschaffen als für jene, in der man sich als Führungskraft im Alltag bewähren muss; die Vorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses zwischen einem Zulieferer und seinem industriellen Großkunden oder zwischen einem Vorstandsmitglied und einem Manager der dritten Ebene ist einfach nur naiv.“ (Hervorh. NP). 80 Apel 2016: 297. 81 Ebd. (Hervorh. im Original). 82 Ebd. (Hervorh. im Original). 77
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man nicht darum herumkommt, die ethisch-kommunikative Rationalität des Idealprinzips der Diskursethik in all den realen Situationskontexten, in denen praktische Diskurse (noch) nicht möglich sind, mit einer strategischen Rationalität der erfolgsorientierten Instrumentalisierung der anderen zu ‚vermitteln‘.83
Zunächst klingt es so, als tue die Integrative Wirtschaftsethik genau dies. Bei genauerem Hinsehen vermittelt sie aber nicht die ökonomische mit der kommunikativen Rationalität, sondern macht die ökonomische Rationalität selbst grundlegend zu einer kommunikativen (diskursethisch fundierten) Rationalität, womit diese dann wiederum auf die Anwendungsproblematik gestoßen wird. Ulrich selbst setzt sich mit dem Problem der Anwendungsfähigkeit der Diskursethik in realen Einzelfällen auch auseinander und gesteht zu, dass tatsächlich nicht selten die individuelle Verantwortungsübernahme notwendig sein kann – nämlich als Ersatz des öffentlichen Diskurses immer dann, wenn dieser aufgrund der realen Gegebenheiten noch nicht möglich ist. Das Ziel jeder getätigten Verantwortungsübernahme sei aber die Verwirklichung der kommunikativen Ethik, deshalb sei immer die Notwendigkeit von Verantwortungsübernahme kritisch zu hinterfragen und auf Dauer zu reduzieren und stattdessen seien vermehrt Kommunikationssituationen herbeizuführen.84 „Verantwortungsethik“ soll die kommunikative Ethik lediglich ergänzen in Form „,einsame[r]‘ Entscheidungen in nicht-reziproken Situationen“.85 Ulrich sieht mit dieser Vermittlung von Verantwortungs- und kommunikativer Ethik den Vorwurf des Utopismus entkräftet. Er wehrt sich entsprechend gegen den Vorwurf eines moralischen Rigorismus; vielmehr zeige eine in seinem Sinne als kritisch (langfristig auf die Beseitigung der Anwendungsproblematik hinführende) gedeutete Verantwortungsethik den pragmatischen Umgang in konkreten Situationen auf.86 Allerdings entkommt Ulrich dem Vorwurf des Utopismus bzw. der Idealisierung auch an dieser Stelle nicht. Denn Apels Kritik trifft ja auch den von Ulrich dargestellten Punkt, nämlich dass bei Ulrich alle realen Schwierigkeiten der Anwendung letztlich in der kommunikativen Ethik aufgehoben werden. So deutet Ulrich auch die Verantwortungsethik als eine Art notwendigen Übels auf dem Weg zur idealen Kommunikationsgemeinschaft, die aber durch ein adäquates Verständnis von Verantwortung schon herbeigeführt wird. Insofern taucht das Anwendungsproblem als solches in Ulrichs Konzeption gar nicht auf, und kann entsprechend auch nicht wirklich thematisiert oder bearbeitet werden. Fragen ließe sich weiterhin, ob angesichts der Voraussetzung einer idealen Kommunikationsge83 84 85 86
A.a.O.: 298 (Hervorh. im Original). Vgl. Ulrich 1993: 316 ff. A.a.O.: 317. A.a.O.: 322.
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meinschaft die Diskursethik für wirtschaftsethische Fragestellungen überhaupt ein sinnvoller Ausgangspunkt sein kann.87 Abgesehen von der aufschlussreichen Analyse Apels zur mangelnden Anwendungsfähigkeit von Ulrichs Ansatz ist es ja interessant, dass diese Kritik gerade aus diskursethischer Perspektive vorgebracht wird. In der kritischen Auseinandersetzung Apels mit Ulrichs wirtschaftsethischem Ansatz zeigt sich zumindest deutlich, dass dessen umfassender Anspruch auf eine diskursethische Lösung der gegenwärtigen Problemlage eben dieser Ausgangssituation nicht wirklich gerecht zu werden vermag.88 2.1.4 Die Integrative Wirtschaftsethik aus nicht-idealer Perspektive Ein unbestreitbar sehr wichtiger wirtschaftsethischer Beitrag Ulrichs ist es, dass bei ihm ethische Kategorien nicht auf ökonomische reduziert werden und ihr Eigenwert deutlich herausgestellt wird. Schon intuitiv besonders plausibel ist zudem Ulrichs Kritik an ökonomischer Rationalität (im Sinne der Mainstream Economics) als „Systemrationalität“. Denn damit verbunden ist ein Effizienzverständnis als Befriedigung potenziell unbegrenzter Bedürfnisse mit begrenzten Ressourcen.89 Hier wird eine Diskussion um das Ziel des Wirtschaftens eröffnet, zu der diese Arbeit nur eine grundlegende Position einnehmen und die sie darüber hinaus nur streifen kann. Angesichts der realen Probleme, die mit einem unbegrenzten Streben nach materieller Bedürfnisbefriedigung einhergehen und insbesondere angesichts der Tatsache, dass ein oft als „westlich“ bezeichneter Lebensstil schon aus ökologischen Gründen nicht global zu verallgemeinern ist, ist eine Sichtweise auf den ökonomisch tätigen Menschen als durch eine sinnvolle Begrenzung seines Konsumverhaltens moralisch herausgefordert auch grundsätzlich plausibel. In diesem grundsätzlichen Zusammenhang ist Ulrichs Rekurrieren auf „Lebensdienlichkeit“ aufschlussreich. Denn damit einher geht ein erweiterter Nutzenbegriff: „Nutzen“ ökonomischer Tätigkeit ist nicht nur der Marktwert produzierter Waren und Dienstleitungen, sondern die Effizienz ökonomischer Abläufe bestimmt sich nach deren Lebensdienlichkeit.90 Sie ist also zweckgerichtet und nicht selbst schon Zweck. Diese Erkenntnis ist zentral, weil sie zeigt, dass Wettbewerb und Effizienz keine absoluten Maßstäbe sind. Ulrich zeigt deutlich den Unterschied zwischen Zweck- und Mitteldenken auf, und die einerseits ermögli87
Vgl. Neuhäuser 2016: 20 ff. Lin-Hi und Suchanek (2011: 68) kritisieren, dass Ulrichs Ansatz als idealtheoretischer Ansatz „nicht in der Lage ist, normatives Orientierungswissen für die Praxis bereitzustellen. Indem die empirischen Bedingungen der unternehmerischen Wertschöpfung gewissermaßen normativ transzendiert werden, wird die Herausforderung wegdefiniert, sich mit realen Konfliktbedingungen beschäftigen zu müssen.“ (Hervorh. im Original). 89 Vgl. Ulrich 2008: 113. 90 Vgl. a.a.O.: 241. 88
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chende, andererseits verhindernde Rolle, die Wettbewerb und Effizienz spielen können. Und er macht deutlich, wo der Unterschied zwischen einer Ökonomie als Zweck und einer Ökonomie als Mittel liegt: nämlich in der Verhinderung bzw. Beförderung „humaner“ Fähigkeiten und Ziele. So allgemein lässt sich die Position Ulrichs als sehr plausibel deuten, indem dort ökonomisches Handeln Teil des Selbst ist bzw. unter Selbstanspruch steht: Gehandelt wird nicht mechanisch, wie es das mit dem homo oeconomicus verbundene Verständnis ökonomischen Handelns in den Mainstream Economics (tendenziell) suggeriert. Stattdessen ist Wirtschaften immer auch eine soziale Praxis. Drei zentrale Schwierigkeiten ergeben sich allerdings auf unterschiedlichen Ebenen aus seiner Festlegung auf Wirtschaftsethik als Vernunftethik beziehungsweise kommunikative Ethik. Problematisch ist dabei erstens, dass sich die Integrative Wirtschaftsethik sehr stark auf die moralischen Fähigkeiten des individuellen ökonomischen Akteurs (in der Sprachgemeinschaft) stützt, in ihrer Umsetzungsmöglichkeit aber auf geeignete Anreize innerhalb des ökonomischen Systems angewiesen ist. Sie kann die Bedeutung des Ordnungsrahmens und der Wirkmächtigkeit der so gesetzten Anreize nicht umgehen.91 Das gesteht auch Ulrich zu und verweist auf die Rolle von Anreizen im Sinne marktmäßiger Steuerung zu lebensdienlichen Zwecken.92 Dennoch erhält die Anreizproblematik in seiner Konzeption keine systematische Rolle; und eine zu große Rolle dürften Anreize in seiner Konzeption auch gar nicht spielen, weil der Marktmechanismus ja nicht die der Moral zugedachte Rolle übernehmen soll. Wenn sich aber weder die ökonomischen Akteure noch die Rahmenbedingungen in der Realität als ideal erkennen lassen, dann zeigen sich fundamentale Realisierungsprobleme der Integrativen Wirtschaftsethik. An dieser Stelle beleibt deshalb festzuhalten, dass Ulrichs Theorie einen idealen Endpunkt der (diskursethischen) Entwicklung beschreibt, der als Gegenentwurf zu den Mainstream Economics aufschlussreich ist, aber in eklatantem Maß die Frage offenlässt, wie tatsächlich zwischen Vernunft und ökonomischer Rationalität vermittelt werden soll. Es bleibt unklar, wie der einzelne ökonomische Akteur ökonomische Gründe (die oft stark sind oder zumindest als stark wahrgenommen werden) mit moralischen Gründen unter nicht-idealen Bedingungen abwägen sollte. Für welche Handlungsweise etwa sollte sich eine Konsumentin „vernünftigerweise“ entscheiden, wenn sie vor der Wahl zwischen mehreren Produkten steht, von denen das erste unter moralisch proble91
Vgl. Neuhäuser 2016: 19 f., 22. Vgl. Ulrich 2008: 362. Wie Ulrich selbst zeigt, ist es selbst für das in seinem Sinne vernünftige Individuum nicht einfach und je nach der gegebenen Situation auch gar nicht möglich, sich in seinem Sinne „vernünftig“ zu verhalten. Sich selbst i.S. der Lebensdienlichkeit zu beschränken, ist im derzeitigen auf Wettbewerb eingerichteten Wirtschaftssystem systematisch erschwert bis unmöglich – wenn man nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden möchte (a.a.O.: 240 ff.). 92
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matischen Bedingungen, etwa sehr hohen Wochenarbeitszeiten und mangelhaftem Gesundheitsschutz, das zweite nachweislich unter fairen Handelsstandards und das dritte unter über diese Standards hinausgehenden Bedingungen hergestellt wurde? Und wie sähe die „vernünftige“ Wahl aus, wenn ihr Budget so beschränkt ist, dass der Konsum der dritten Option für sie erhebliche Einschränkungen beispielsweise ihres eigenen Soziallebens erfordern würde – wenn sie dafür etwa einen Monat lang auf den gemeinsamen Kantinenbesuch mit ihren Kollegen verzichten müsste, was in ihrem Beruf aber eine wichtige soziale Tätigkeit darstellt? Und welche Wahl sollte sie treffen, wenn diese sozialen Einschränkungen oder möglicherweise noch stärkere bereits für die zweite genannte Option des fair hergestellten Produktes notwendig wären? Oder welches wäre die vernünftige Entscheidung eines Unternehmens, wenn es wählen müsste zwischen Lohnsteigerungen und Einbußen seiner Wettbewerbsfähigkeit? Wie verändert sich die Beurteilung der zu wählenden Option je nach bereits gezahltem Lohnniveau und der Erheblichkeit der Einbußen? Und wie bei einer Änderung der Gesetzeslage zum Lohnniveau, sodass alle Wettbewerber mit der Notwendigkeit von Lohnsteigerungen konfrontiert sind? Insgesamt zeigt sich, dass der diskursethische Ansatz das gravierende Problem mit sich bringt, auf die Herstellung der Anwendungsbedingungen, auch eines passendend Anreizsystems, angewiesen zu sein, und dafür eine politische Lösung der erfolgversprechendste Weg zu sein scheint. Zudem wurde deutlich, dass Ulrichs Integrative Wirtschaftsethik letztlich auf eine geeignete institutionelle Gestaltung nicht nur angewiesen ist, sondern auch darauf abzielt und letztlich als ein politisches Projekt angesehen werden muss.93 Als solches allerdings könnte „Wirtschaftsethik“ selbst keinen Weg aufzeigen, zwischen moralischen Ansprüchen und ökonomischen Gründen zu vermitteln. Der Weg der Vermittlung selbst ist aber zentral, wenn es um tatsächliche Verbesserungen gehen soll. Das zweite Problem ist das starke Verständnis von Interesse an legitimem Handeln, das individuelle Erfolgsorientierung zwar zulässt, aber eben unter Rechtfertigungsvorbehalt. Der einzelne sieht ein, dass es in seinem und im allgemeinen Interesse liegt, die Legitimität der jeweiligen individuellen Handlungsabsichten zu klären.94 Ulrich spricht hier von „legitimer Selbstbehauptung“.95 93 Vgl. a.a.O.: 133. Die unbegrenzte Öffentlichkeit soll „die ideelle Instanz der Gestaltung der politisch-ökonomischen Systembedingungen dahingehend [sein], dass wirtschaftsethische Reflexion, Argumentation und Handlungsorientierung an möglichst vielen institutionellen ‚Orten der Moral‘ praktisch zur Geltung gebracht werden können.“; „[…]Wirtschaftsethik unweigerlich als ein Stück politische Ethik in emanzipatorischer Absicht zu begreifen, der es zuallererst um die Sicherstellung oder Wiederherstellung der Voraussetzungen zwangloser politisch-ökonomischer Verständigungsverhältnisse unter mündigen Bürgern geht.“ (Ebd., Hervorh. im Original). 94 Vgl. a.a.O.: 89. 95 Ebd. (Hervorh. im Original).
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Damit zielt er darauf ab, die Präferenzen der einzelnen Akteure nicht einfach als unhinterfragbar hinzunehmen, sondern grundsätzlich moralsicher Kritik zugänglich zu machen.96 So grundsätzlich ist diese Position natürlich wieder sehr plausibel, Ulrich geht aber durch seine diskursethische Orientierung einen Schritt weiter: Sein Konzept des Wirtschaftsbürgers stellt unbedingte moralische Ansprüche auch an ökonomisches Handeln.97 „Moralische Personen“ sind für Ulrich solche, die einen „unbedingten Vorrang“ anerkennen von „dem moralischen Interesse an der Legitimität ihres Handelns vor allen ihren privaten Interessen“.98 Obwohl Ulrichs Wirtschaftsethik explizit „integrativ“ angelegt ist, läuft sie also eigentlich auf einen Vorrang der Moral hinaus.99 Wirtschaftsethisch ist das eine starke Behauptung, fällt doch das ökonomische Handeln traditionell in den Bereich des Privaten. So stellt die Deutung ökonomischen Handelns als öffentliche anstelle einer privaten Handlung die Integrative Wirtschaftsethik für grundlegende philosophische Herausforderungen, indem sie ein grundsätzliches öffentliches Interesse an privaten Entscheidungen proklamiert. Die Einbettung in die Sprachgemeinschaft macht die Teilnahme am öffentlichen Diskurs für das Individuum auch in seinen ökonomischen Handlungen zur Pflicht. Schon praktisch ergeben sich hier grundsätzliche Schwierigkeiten, denn ein Großteil ökonomischer Handlungen besteht in individuellen Einzelhandlungen, die auf eine „monologische“ Lösung der Situation angelegt sind. Die diskursethische Konzeption von Wirtschaftsethik steht damit in einem Gegensatz zu den situativen Erfordernissen des ökonomischen Handelns, wie sie sich z.B. bei individuellen Kaufentscheidungen häufig darstellen. Vor allem aber wäre privates ökonomisches Handeln somit illegitim (mit der möglichen Ausnahme der situativen Verantwortungsübernahme, s.o.). Moralisch zu handeln bedeutet für den Einzelnen, die eigenen Privatinteressen der Frage nach deren Legitimität kategorisch unterzuordnen. Damit erscheint zugleich die Vorstellung legitimer Eigennutzmaximierung per se diskreditiert. Anstelle eines kategorischen Unterordnens der privaten Interessen ist es dagegen nicht nur normativ, sondern auch deskriptiv überzeugender, eine begrenzte Verständigungsorientierung der Akteure anzunehmen, die neben eigeninteressierten Gründen besteht. Das heißt, es ist davon auszugehen, dass Akteure einerseits stärker eigennützig handeln, und dass dies andererseits auch moralisch stärker gerechtfertigt ist, als Ulrich vernunftethisch zuzugestehen bereit ist. Eine dritte Schwierigkeit der vernunftethischen Perspektive besteht in dem hohen moralischen Anspruch, der damit an legitime Vorstellungen eines guten 96
Vgl. a.a.O.: 89 f. Vgl. a.a.O.: 247. 98 A.a.O.: 89. 99 Für eine Darstellung dieses Problems bezogen auf Unternehmensverantwortung siehe Lin-Hi/Suchanek (2011: 67 f.). 97
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
Lebens gestellt wird. Mit der vernunftethischen Beschränkung ökonomischer Rationalität fordert Ulrich von ökonomischen Akteuren viel: Ein Genug-haben-Können als Selbstbeschränkung um ihrer selbst willen – und nicht zweckgebunden, etwa um anderen Akteuren nicht zu schaden – und eine Fokussierung auf immaterielle anstatt materieller Werte. Aus der Vernunftperspektive ließe sich damit zwar das grundsätzliche Problem der „Unvernünftigkeit“ sehr vieler ökonomischer Akteure beklagen, diese Feststellung löst aber erstens die praktischen Probleme möglicher Schädigungen nicht. Und zweitens scheint es mit der ökonomischen Rationalität ja auch so etwas wie „ökonomische Vernunft“ zu geben. Dann könnte man immer noch sagen, bestimmte Handlungen seien in moralischer Hinsicht unvernünftig. Und natürlich berührt diese Feststellung den Kern des Problems einer apologetisch übersteigerten ökonomischen Rationalität, der darin besteht, dass sich Schädigungen scheinbar ökonomisch rechtfertigen lassen. Ulrichs Versuch, dieses Problem über den Vernunftbegriff zu lösen, stellt aber wiederum hohe Anforderungen an den Rationalitätsbegriff, indem bestimmte Dinge als nicht ökonomisch rational gelten sollen, die im Eigeninteresse von Personen liegen. Um diesen Schwierigkeiten zu entkommen, müsste man eine sehr substantielle Sicht des guten Lebens voraussetzen, die das gute Leben als ein im Wesentlichen „vernünftiges“ Leben ansieht, wie Ulrich es ja auch zu tun scheint. Das Problem dabei ist dann aber, dass diese Sicht als idealistische Vorstellung mit der nichtidealen Wirklichkeit konfligiert, in der Akteure vielfältige Vorstellungen eines guten Lebens haben. Man kann die Festlegung auf die kommunikative Ethik aber auch als zwar problematische, aber nicht notwendige wirtschaftsethische Festlegung begreifen und bezweifeln, dass das Interesse an legitimem Handeln der Individuen wirklich am besten vernunft- oder diskursethisch einzufangen ist. Anschaulich zeigt sich das an Ulrichs Forderung, den individuellen Bedarf anstelle der Bedürfnisse zu betrachten, und den Bedarf vernünftig zu reflektieren. Natürlich stellt sich die Frage, was einem Akteur entgegenzusetzen wäre, der dies nicht tut. Der Verweis, dies sei „unvernünftig“, hilft dabei nicht substantiell weiter, was auch daran liegt, dass vielen Akteuren vermutlich gar nicht wirklich klar wäre, welche Handlungsaufforderung damit genau gemeint ist. Was heißt es, den eigenen Bedarf „vernünftig“ zu reflektieren? Ohne konkreten Referenzpunkt ist das schwierig einzusehen. Sehr viel nachvollziehbarer und greifbarerer wird diese Aufforderung, wenn es darum geht, zu hinterfragen, ob die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse eine Fremdschädigung mit sich bringt, und ob der eigene Bedarf diese möglicherweise rechtfertigen könnte. Eine solche Hinterfragung wäre viel konkreter und in einer weniger anspruchsvollen Deutung „vernünftig“. Die Forderung nach „Selbstbeschränkung“ muss dann nicht als Selbstzweck verstanden werden, sondern als notwendig, um andere Akteure nicht zu schädigen. In einer Vernunftethik sieht
2.1 Integrative Wirtschaftsethik: Vernünftige Akteure in einer nicht-idealen Welt
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Ulrich erstens die einzige Möglichkeit, eine allgemeingültige Ethik zu konzipieren, und zweitens keine idealistische Ethik, sondern vielmehr die einzig realistische Möglichkeit zur Lösung drängender praktischer Probleme.100 Moralische Anforderungen ergeben sich dabei prozedural unter hohen situativen Anforderungen auf Akteurs- wie Strukturebene. Aber was Ulrich als die „ökonomische Rationalitätsproblematik“ beschreibt, also die Frage nach der angemessenen Ziel- und Mittelwahl, stellt sich ebenfalls für einen rationalen Pluralismus – sie zu attestieren führt also nicht notwendig zu einer vernunftethischen Konzeption. Den moralischen Ansprüchen der anderen Personen Bedeutung für das eigene Handeln beizumessen, ist kein Alleinstellungsmerkmal der kommunikativen Ethik, wie Ulrich anzunehmen scheint. Entgegen Ulrichs Behauptung, nur vernunftethisch seien allgemeinverbindliche moralische Maßstäbe zu begründen, können beispielweise utilitaristische Überlegungen für moralisches Handeln entscheidend sein. So kann ein ökonomischer Akteur davon überzeugt sein, dass sein Nutzen an einem zusätzlichen besonders niedrigpreisigen T-Shirt nicht die Schädigung des dieses T-Shirt herstellenden Arbeiters durch eine entsprechend kostengünstige Herstellung rechtfertigt, die er mit dem Kauf eines solchen T-Shirts billigend in Kauf nähme und zu deren Erhalt er so beitrüge. Aus einer solchen Überlegung resultierendes ethisches Wirtschaftsverhalten (entweder Verzicht oder Kauf eines höherpreisigen T-Shirts, also bei begrenztem Budget insgesamt quantitativer Verzicht) ist ein wirtschaftsethisch sinnvolles Verhalten, das allein aufgrund der „falschen“ moralischen Motivation zu diskreditieren nicht als sinnvolle wirtschaftsethische Position erscheint. Ulrich strebt die „ideale Kommunikationsgemeinschaft freier, gleichberechtigter und mündiger Staatsbürger“101 an. Die Festlegung auf eine solche ideale Kommunikationsgemeinschaft stellt aber ein für die Lösung wirtschaftsethischer Probleme unnötiges Hindernis dar: Warum sollten grundlegende wirtschaftsethische Standards nicht auch schon nicht-ideal denkbar sein? Auch scheinen bei Ulrich nur „Wirtschaftsbürger“ einer „reifen“ Idealgesellschaft wirtschaftsethisch überhaupt verpflichtet. Dagegen ist es plausibler, dass ab einem bestimmten über die eigene Grundsicherung hinausgehenden Ausmaß materieller Versorgung „automatisch“ ethische Ansprüche an ökonomische Akteure gestellt werden; eine solche Sichtweise wäre realistischer und weniger abhängig von gesellschaftlichen, insbesondere politischen Voraussetzungen. Insgesamt ist festzustellen, dass Ulrichs Idealisierungen einer Lösung praktischer Probleme zwar im Weg stehen, eine nicht-ideale Deutung seiner Perspektive aber sehr aufschlussreich ist.
100 101
Vgl. Ulrich 2008: 42 f. Ulrich 2008: 330.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion Der von Karl Homann vertretene wirtschaftsethische Ansatz der Ökonomischen Ethik beziehungsweise Normativen Ökonomik kann sowohl als Beispiel für die zweite zu Beginn dieses Kapitel aufgezeigte Möglichkeit verstanden werden, mit der Normativität des ökonomisch Rationalen umzugehen, indem diese auf einen moralisch unproblematischen Wirkungsraum beschränkt werden soll. Sie lässt sich in zentralen Aspekten aber auch als das Gegenstück zur Integrativen Wirtschaftsethik verstehen. Die größte Einigkeit besteht vermutlich darin, dass auch Homann einen „Dualismus von Ethik und Ökonomik“ nicht will und zu überwinden versucht.102 Außerdem spielt auch für Homann die politische Ebene eine zentrale Rolle.103 Für Homanns Position ist entscheidend, dass er ökonomische Akteure mit grundsätzlichen Dilemmasituationen konfrontiert sieht, aufgrund derer ihnen systematische moralische Ausbeutung drohe, und die nur durch geeignete Anreize aufzulösen seien. Daraus folgt eine spezifische Sicht auf die Individualmoral ökonomischer Akteure, die einzelne Akteure moralisch sehr stark entlastet – zu stark, wie ich im Folgenden argumentieren werde. 2.2.1 Eigennutzmaximierung als Selbstschutz Homann versteht Wirtschaftsethik als mit der Frage beschäftigt, welche moralischen Ideale wie in modernen Gesellschaften durchgesetzt und stabilisiert werden können.104 Ziel sei es, moralisches Handeln systematisch möglich zu machen, um so zum gelingenden Leben der Menschen beizutragen.105 Dafür wiederum seien individuelle Freiheit und die Solidarität der Gemeinschaft zentrale Voraussetzungen. Und der marktwirtschaftliche Wettbewerb sei am besten geeignet, diese Voraussetzungen durch individuelles Vorteils- beziehungsweise unternehmerisches Gewinnstreben zu schaffen.106 Wettbewerb sei „für eine Ethik für moderne Gesellschaften daher von paradigmatischer Bedeutung“.107 Wenn Homann Ökonomik und Ethik verbinden möchte, dann ist damit im Sinne der Ökonomischen Ethik demnach gemeint, ethische Überlegungen von ökonomischen Vorgaben abhängig zu machen. Insofern sieht Ho102
Homann 2009: 36 ff. Vgl. Homann 2007: 12; Neuhäuser 2016: 16 f. 104 Vgl. Homann 1993: 33. 105 Vgl. Homann 2014: 143 ff. 106 Vgl. Homann 2007: 9. Die Ökonomische Ethik legt die Ökonomik als „Wissenschaft von den Chancen und Problemen der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil“ (Suchanek 2007: 37) zugrunde (vgl. a.a.O.: 35 ff.). 107 A.a.O.: 66. 103
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 59
mann eine Art Bringschuld auf Seiten der Moral: sie müsse, um Wirksamkeit zu erlangen beziehungsweise zu erhalten, mit dem ökonomischen System kompatibel sein:108 „Moral muss – generell unter den Bedingungen moderner, funktional differenzierter Gesellschaften – in und mit der ökonomischen Logik durchgesetzt werden, und nicht gegen sie: Moral wird nur in der Anreizlogik der Ökonomik wirksam oder gar nicht.“109 Homann geht davon aus, dass menschliche Interaktionen im Allgemeinen und marktmäßige im Besonderen von Dilemmastrukturen entsprechend des Gefangenendilemmas geprägt sind. Diese Strukturen bedingen, dass der einzelne Akteur sich des Verhaltens anderer nie sicher sein kann, sofern keine verbindlichen Regeln vorliegen, und deshalb bei kooperativem Verhalten seinerseits immer mit eigenen Verlusten rechnen muss.110 Moralisches Verhalten sei deshalb immer von Ausbeutung durch andere Akteure bedroht.111 Diese drohenden Verluste besitzen für Homann hohe moralische Signifikanz. Theoretische Ansätze, die annehmen, es gebe moralische Motive, die allein schon gute Handlungsgründe darstellen, haben für Homann das Problem, dass sie angesichts der ökonomischen Systemimperative eine hoffnungslose „moralische Aufrüstung des Einzelnen“ betreiben.112 Die damit einhergehenden Appelle an die Individualethik zur Lösung moralischer Probleme in der Ökonomie seien unzumutbar, weil sie zu Ausbeutung führten, sofern nicht garantiert sei, dass alle anderen Kooperationsteilnehmer sich ebenfalls an moralische Mindeststandards halten. Weil Wettbewerb in modernen Gesellschaften die Rolle eines Systemimperativs übernommen hat, sei es dem Individuum nicht zuzumuten, sich systematisch moralisch zu verhalten, wenn andere dies nicht tun. Deshalb ist für Homann eine entsprechende Regelung des Wettbewerbs zentral: was gesellschaftlich wünschenswert ist, soll durch entsprechende Anreize begünstigt, was dar Allgemeinheit schadet, durch Anreize zu einer unattraktiven Handlungsalternative gemacht werden.113 Dabei sind Anreize „situationsabhängige handlungsbestimmende Vorteilserwartungen“.114 Werde die Bedeutung der Individualmoral überbetont – Homann beklagt dann „Appellieren, Postulieren, Moralisieren“ –, so werde der Einzelne systematisch ausgebeutet. Daraus folge ein Schwinden seiner moralischen Motivation und der Moral überhaupt.115 Gerade dieses Phänomen der „Erosion der 108
Vgl. Homann 2014: 110, 143 ff. A.a.O.: 14 (Hervorh. im Original). Auch Bievert und Wieland (1992: 24) argumentieren in dieser Weise: „[E]ine Ethik, die nicht anschlußfähig an die Ökonomie ist, ist zum Scheitern verurteilt.“ 110 Vgl. a.a.O.: 72 ff. 111 Vgl. a.a.O.: 50 ff., 67 ff. 112 Homann 2014: 60. 113 Vgl. a.a.O.: 62 f. 114 A.a.O.: 64 115 Ebd. 109
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Moral durch Moralisieren“116 ist Homanns argumentativer Ausgangspunkt – er beklagt die Probleme, die offensichtlich aus einer zu geringen oder nicht vorhandenen Bereitschaft zur moralischen Verantwortungsübernahme resultieren, und führt diese fehlende Bereitschaft auf eine fehlende strukturelle Unterstützung moralischen Verhaltens zurück. Um Kompatibilität mit dem ökonomischen System zu erreichen und um dauerhaft aufrecht erhalten werden zu können, müsse sich moralisches Verhalten für den einzelnen ökonomischen Akteur systematisch auszahlen.117 Situationen, in denen moralisches Verhalten einen Nachteil für das moralische Individuum bietet (wie es bei den von Homann skizzierten Dilemmasituationen immer der Fall ist), und in denen der Einzelne aufgrund der Interdependenzbeziehungen der Beteiligten das Interaktionsergebnis nicht kontrollieren kann, machen es unmöglich, von ihm moralisches Verhalten zu verlangen, weil dies der Forderung nach systematischer Ausbeutung gleichkäme. Für individuell und gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswerte Ergebnisse reicht es also schon aus, wenn sich einige wenige unmoralisch verhalten. In dieser Weise dilemmatische Strukturen begrenzen die Zumutbarkeit von Individualmoral für Homann erheblich.118 Die Mehrheit der Gesellschaft muss nicht auf die Ausbeutung kooperativen Verhaltens aus sein, damit der Einzelne eine solche Ausbeutung befürchten muss. Es reicht schon aus, wenn einige wenige auf zu unkooperativem Verhalten bereit sind, damit das Ergebnis für alle Beteiligten negativ ausfällt. Handelt der Einzelne eigennützig, dann meist aus Selbstschutz vor den möglichen Motiven der Interaktionspartner.119 Weil der Einzelne sich systematisch des Verhaltens der anderen nicht sicher sein kann, reagiert er mit „präventive[r] Gegenausbeutung“.120 Die grundsätzlichen Dilemmastrukturen haben zur Folge, dass moralische Übel nicht den Handlungsabsichten der einzelnen Wirtschaftsakteure zugerechnet werden können, sondern in den Handlungsbedingungen begründet sind, in denen sich die Akteure vorfinden. Die Grenzen der Individualmoral liegen für Homann darin, „dass Ergebnisse, die alle wollen (können) grundsätzlich nicht (allein) durch das entsprechende Wollen der Akteure in ihren Handlungen erreichet werden (können).“121 Deshalb müssten die moralischen Normen mit den jeweiligen Anreizen kompatibel sein. Nur so könnten sie wirksam und aufrechterhalten werden. Dabei gehe es letztlich darum, die Dilemmastrukturen mir mit dem Ziel der Kooperationsermöglichung aufzulösen, indem der Einzelne von allgemeiner Regelbefolgung ausgehen kann und 116 117 118 119 120 121
Ebd. Vgl. a.a.O.: 11 f. Vgl. a.a.O.: 93 f.; 248 ff. Vgl. a.a.O.: 107. A.a.O.: 248. A.a.O.: 107.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 61
im Falle kooperativen Handelns seinerseits die Ergebnisse mit hinreichender Sicherheit absehen kann, um systematische Ausbeutung auszuschließen.122 2.2.2 Die Rahmenordnung als Voraussetzung der Individualmoral Weil Homann den marktwirtschaftlichen Wettbewerb als Mechanismus zur effektiven Gütererzeugung und -bereitstellung für breite Bevölkerungsschichten versteht und ihm deshalb hohes moralisches Gewicht einräumt,123 geht es ihm um die Gestaltung der Rahmenordnung des Wettbewerbs. Wenn der wettbewerbliche Rahmen die richtigen moralischen Anforderungen an den Einzelnen enthalte und somit selbst schon moralisch ausgestattet sei, dann könne das Individuum in seinem wettbewerblichen Handeln getrost sein Eigeninteresse verfolgen, ohne dass davon ein moralisches Übel zu erwarten wäre.124 Die Idee Homanns ist es demnach, „die Moral“ in die Rahmenordnung zu verlegen: Die Moral in der Marktwirtschaft liegt nicht in moralischen oder altruistischen Motiven, sondern fußt auf den Ergebnissen des marktwirtschaftlichen Prozesses: Der Wohlstand aller hängt nicht vom Wohlwollen der Akteure ab, sondern von der Rahmenordnung, die mithilfe des Eigeninteresses die allseits gewünschten Ergebnisse hervorbringt.125
Indem Homann eine entsprechende Gestaltung des Wettbewerbs fordert, ist die Steuerungsebene für moralisches Verhalten für ihn die Ordnungsebene.126 Moralische Standards sind dann Regeln, die aber nicht selbst genuin moralische Regeln sind. Die Regelbefolgung wiederum muss schon aus Eigennutz geboten sein, indem die Kosten für eine Regelverletzung den Nutzen auf jeden Fall überwiegen. Es muss also ausreichende Sanktionen geben, um unmoralisches (unkooperatives) Verhalten systematisch zu verhindern.127 Moral könne dann innerhalb einer geeigneten Rahmenordnung ein Wettbewerbsvorteil sein.128 In diesem Sinne argumentiert auch Ingo Pies, der davon ausgeht, eine ökonomische Schlechterstellung zugunsten moralischer Argumente sei indivi122 Vgl. a.a.O.: 96. Mit der Betonung des Auflösens der Dilemmastrukturen ist nicht gemeint, dass dies unbedingt immer erfolgen soll, und diese Strukturen nicht auch als wichtiger Anreiz im Leistungswettbewerb gelten könnten. 123 Vgl. a.a.O.: 48 ff. Siehe zu dieser Grundposition der Ökonomischen Ethik auch Suchanek/Lin-Hi 2010: 5 ff. sowie Suchanek 2015a: 237 ff. 124 Vgl. Homann 2014. 125 Homann 2007: 17. Ein stärkeres Gewicht auf die Individualmoral legt innerhalb des Ansatzes der Ökonomischen Ethik Andreas Suchanek mit einem spezifischen Verständnis von „Investitionen“, das auf Vertrauensbildung abzielt (vgl. Suchanek 2015a); siehe auch Fn. 154 in diesem Kapitel. 126 Vgl. Homann 2014: 63, 108. 127 Vgl. a.a.O.: 62. 128 Vgl. a.a.O.: 65 f.; 94.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
dualmoralisch grundsätzlich nicht hinnehmbar.129 Deshalb sei kollektive anstatt individueller Selbstbindung gefragt, um so das Gefangenendilemma zugunsten wechselseitiger Besserstellung anstelle allgemeiner Schlechterstellung aufzulösen.130 Zentral ist in der Konzeption Homanns, dass moralisches Verhalten ökonomischer Akteure und das Streben nach Eigennutz einander angeglichen werden. Es gibt „keinen systematischen Gegensatz“ mehr zwischen Eigennutzstreben und Moral.131 Es ist unter günstigen (d.h. begünstigenden) Bedingungen zwar möglich, dass die moralischen Anreize so sehr internalisiert sind, dass sie als moralische Handlungsmotive der Individuen erscheinen. Auch solche sozial erlernten, „moralische[n] Präferenzen“ sind aber auf das Vorteilsstreben zurückzuführen und haben sich nur unter den Bedingungen positiver Anreize unbewusst entwickelt.132 Homann plädiert also bewusst für eine Aufwertung des Eigennutzstrebens: Die Demarkationslinie zwischen unmoralischem und moralischem Handeln verläuft nicht entlang der Unterscheidung Egoismus/Altruismus, sondern zwischen dem Streben nach individueller Besserstellung auf Kosten anderer […] und dem Streben nach einer individuellen Besserstellung, bei dem die Interaktionspartner/Mitmenschen an dieser Besserstellung partizipieren […].133
Die Gesellschaftsmitglieder erlangen die positiven Effekte des individuellen Handelns und Eigennutzstrebens – wozu die Versorgung sowohl mit materiellen wie immateriellen Gütern gehört – über den marktmäßigen Austausch. Der gesamten Gesellschaft ist also damit gedient, wenn der Einzelne sich innerhalb der vorgegeben Regeln eigennützig verhält und so den allgemeinen Wohlstand mehrt.134 Deshalb ist für Homann „das individuelle Eigennutzstreben als solches ethisch gerechtfertigt“.135 Das Vorteilsstreben des Individuums ist „Ausdruck individueller Freiheit und Motor der Solidarität aller“,136 weil der Einzelne nicht befürchten muss, für sein moralisches (kooperatives) Verhalten systematisch „bestraft“ zu werden. So wird weiterhin kooperativ zum Allgemeinwohl beitragen. Weil der gesellschaftliche Wohlstand nicht dem gegenseitigen Wohlwollen entspringe, sondern dem effizienten Eigennutzstreben in einer gut organisierten Marktwirtschaft, könne das Eigeninteresse als „unmittelbar handlungsleitendes Motiv“ beibehalten werden,137 und sei inso129 130 131 132 133 134 135 136 137
Vgl. Pies/Sardison 2005: 1 ff. Vgl. a.a.O.: 6 ff. Homann 2014: 94. A.a.O.: 97. A.a.O.: 98. Vgl. ebd. A.a.O.: 99. Homann 2007: 13. Ebd.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 63
fern „sittliches Instrument“.138 Diese „Rehabilitierung des Eigennutzstrebens“ will Homann aber nicht als „Umwertung der Werte“ verstanden wissen:139 „Die ethische Rechtfertigung des Eigennutzstrebens beruht allein darauf, dass dieses (1) das Recht und die Pflicht jedes Einzelnen darstellt und (2) unter der entsprechenden Rahmenordnung der Solidarität aller Menschen dient.“140 Innerhalb der geeigneten Rahmenordnung gelte es deshalb, das Eigennutzstreben „zu entfesseln“, statt es zu „domestizieren“.141 Von den Menschen zu verlangen, sich selbst zum Wohle anderer einzuschränken, sei innerhalb marktwirtschaftlich koordinierter Gesellschaften nicht nur wirkungslos, sondern schlicht falsch.142 Aus dem wirtschaftsethischen Standpunkt Homanns ergibt sich auch eine eigene Bewertung des homo oeconomicus, anhand derer sich seine Position gut zusammenfassen und illustrieren lässt. Zunächst verweist Homann darauf, dass dieser nicht als Menschenbild gemeint ist, sondern als theoretisches Konstrukt. Deshalb liefen auch die auf das Menschenbild der Ökonomie abzielenden Kritiken ins Leere. Der homo oeconomicus beschreibe den Menschen nur in Dilemmasituationen, und die Strukturen dieser Situationen selbst machten ein dem homo oeconomicus entsprechendes Verhalten notwendig. Homann geht es deshalb nicht darum, menschliches Verhalten zu beschreiben, sondern die Situationen, in denen sich Verhalten abspielt. Den homo oeconomicus versteht er als Teil einer Situations-, nicht einer Verhaltenstheorie.143 Der homo oeconomicus diene damit einer Situationsanalyse, er sei „das beste Instrument zur Abschätzung der aggregierten Resultate von Interaktionen, solange die zugrunde liegende Gefangenendilemma-Struktur dominant bleibt und nicht durch andere Kräfte kompensiert oder überkompensiert wird.“144 Solange also der marktwirtschaftliche Wettbewerb besteht und mit ihm die von Unsicherheit über das Verhalten der anderen geprägten Interaktionen, solange es das Risiko von Ausbeutung bei individuellem moralischen Verhalten gibt, sei die Annahme eigennutzmaximierenden Verhaltens die treffendste Situationseinschätzung. 138
A.a.O.: 16 Homann 2014: 99. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Vgl. a.a.O.: 100. 143 Vgl. a.a.O.: 101 ff. In Homanns eigener Unterscheidung ist damit folgendes gemeint: „Hier wird die Auffassung vertreten, dass es keinen Sinn macht, den Homo oeconomicus situationsunabhängig auf ‚den Menschen‘ zu beziehen […]. Sinnvoll kann er nur auf den Menschen in bestimmten, präzise beschreibbaren Situationen, nämlich in Dilemmastrukturen, bezogen werden. Das Gefangenendilemma in seiner logischen Form zeigt unmittelbar, dass sich der Mensch in einer solchen Problemstruktur nur wie ein Homo oeconomicus verhalten, also defektieren, kann.“ (A.a.O.: 102). 144 A.a.O.: 103. 139
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
Homann gesteht dem homo oeconomicus eine erklärende, eine prognostizierende und eine normative Funktion zu. Erklären soll er, warum es zu moralischen Übeln für die Allgemeinheit kommt. Hier findet sich Homanns Grundposition wieder, dass nicht mangelnde moralische Motivation, sondern die grundsätzlich dilemmatischen Strukturen der Ursprung moralisch problematischen Verhaltens sind. Darauf aufbauend soll der „Homo-oeconomicus-Test“ Vorschläge zu institutionellen Reformen daraufhin testen, ob sie auch bei allgemeinem Verhalten entsprechend dem homo oeconomicus Bestand hätten. Normativ soll der homo oeconomicus wirken, indem die individuelle Eigennutzorientierung institutionell neutralisiert wird, d.h. sie soll das Ziel der institutionellen Gestaltung mitbestimmen insofern es darum geht, individuelle Eigennutzorientierung unschädlich zu machen.145 Homanns Argumentation lässt sich hier so zusammenfassen, dass die Handlungssituationen der ökonomischen Akteure als Dilemmasituationen, in denen ihnen individuelles moralisches Handeln strukturell unmöglich gemacht wird, durch präventive Eigennutzmaximierung nun einmal am besten zu verstehen sei, und deshalb die Regeln darauf abzielen sollten, den Eigennutz zum Allgemeinwohl zu kanalisieren. Allerdings will Homann auf die Individualmoral auch nicht völlig verzichten. Erstens spielt diese – nicht-eigennützig verstanden – als „Input normative[r] Leitideen“ eine zentrale Rolle für die Gestaltung des Ordnungsrahmens.146 Und sie kommt im Umgang mit notwendig immer vorhandenen Regelungslücken zum Tragen, weil auch eine Ordnungsethik nicht jedes Detail der alltäglichen Interaktion steuern könne. Die Regelungen sollen in Form gestaltungsoffener Regelungen (offener Verträge) erfolgen, die dann genügend Orientierung und (Rechts-) Sicherheit bieten, um systematisch durch kollektive moralische Selbstbindung ergänzt zu werden.147 Auch moralische Empörung über Fehlverhalten Einzelner ist für Homann nicht verzichtbar, kann aber nur bestehende Probleme aufzeigen. Moralischen Intuitionen, Einstellungen und Kommunikation gesteht er eine Indikator-, aber keine Problemlösungsfunktion zu.148 Für Homann sind demnach grundsätzlich sowohl die individuelle Handlungs- als auch die Ordnungsethik (Institutionenethik) wichtig.149 Seine „Ethik der Marktwirtschaft“ unterscheidet zwischen den Handlungsebenen der individuellen Handlungen selbst und den sie umgebenden Handlungsbedingungen.150 Er will auf die Individualmoral nicht gänzlich verzichten, sie be145 146 147 148 149 150
A.a.O.: 104 f. A.a.O.: 137 f. Vgl. a.a.O.: 138 f. Vgl. a.a.O.: 109 f. Vgl. a.a.O.: 64; 137 ff. Homann 2007: 11.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 65
dürfe aber institutioneller Stützen und damit verbundener eindeutiger Signale, welche Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen lohnenswert sind. Wird dagegen nur die Individualmoral betrachtet bzw. als Ansatz genutzt, führe dies dazu, dass das Individuum systematischer Ausbeutung seiner Moralität ausgesetzt wird, und schließlich zu einer Verweigerung moralischen Verhaltens aus Selbstschutz. Dann werde eigennütziges Verhalten fälschlicherweise als Fehlen an Moral interpretiert.151 2.2.3 Zentrale Einwände gegen eine starke moralische Entlastung ökonomischer Akteure Homanns Argumentation enthält wichtige Erkenntnisse. Es ist natürlich richtig, dass moralisches Verhalten auch strukturell möglich sein muss, um überhaupt durchführbar und zumutbar zu sein. Das gesteht, wie im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, in abgeschwächter Form auch Peter Ulrich zu. Zudem ist Homanns Hinweis wichtig, dass das Fehlen moralischen Verhaltens nicht bedeuten muss, dass keine moralischen Handlungsmotive vorliegen. Für die vorliegende Fragestellung zentral ist aber die Entkoppelung moralischer Handlungen von dem Vorhandensein moralischer Motive: Aus Sicht der Ökonomischen Ethik ist es möglich, moralisch zu handeln, ohne moralisch motiviert zu sein.152 Dadurch wird die eingangs beschriebene „rigorose Haltung“ gegenüber moralischem Handeln vermieden. Ein Verständnis moralischen Handelns, für das nicht die Handlungsmotive, sondern die Ergebnisse ausschlaggebend sind, ist im ökonomischen Kontext besonders plausibel. Auf diesen sehr wichtigen Punkt werde ich im vierten Kapitel ausführlich eingehen. Es gibt aber auch wichtige Einwände gegenüber der Ökonomischen Ethik Homanns. So kann dessen Sicht auf die Gestaltungsfähigkeit der Rahmenordnung ebenfalls in gewisser Weise der Vorwurf des Idealismus gemacht werden, denn die moralische Rechtfertigung des Eigennutzstrebens muss ja von einer bereits sehr gut (wenn auch nicht ideal)153 gestalteten Rahmenordnung ausge151
Vgl. Homann 2014: 106 f. Vgl. a.a.O.: 147; für Unternehmen machen Suchanek und Lin-Hi diese Position stark (vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011). 153 Dass eine Rahmenordnung nicht perfekt sein und Konflikte zwischen moralischen und ökonomischen Anforderungen nicht vollständig verhindern kann, wird von Lin-Hi und Suchanek (2011: 69 ff.) auch aus Sicht der Ökonomischen Ethik in kritischer Auseinandersetzung mit Milton Friedmans Ausführungen zu Unternehmensverantwortung herausgestellt. Insbesondere der Ansatz Suchaneks bezieht im Rahmen der Ökonomischen Ethik gegenüber Homanns Ansatz stärker individualethische Überlegungen ein. Dabei werden Idealisierungen sowohl des ökonomischen Systems als auch der Akteure eher vermieden, und es wird auf relative Verbesserungen im Zuge von Vertrauensbildung abgezielt (vgl. Suchanek 2010; 2015a: 64 ff.; 2015b). Insofern ließe sich ein solcher Ansatz ebenfalls als nicht-ideal verstehen und wäre so grundsätzlich kompatibel mit den hier entwickelten Überlegungen, dies aller152
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hen, damit die positiven Effekte die negativen Effekte überwiegen können. Das Ideal Homanns kann in einer politisch geschaffenen Ordnung gesehen werden, die durch „ein sanktionsbewehrtes System von Regeln“ dafür sorgt, „dass derjenige Nachteile zu erwarten hat, der moralische Erwartungen anderer nicht erfüllt“ und in dem „nur derjenige Vorteile erzielt, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat“.154 Allerdings ist es offensichtlich, dass die Rahmenordnung nicht hinreichend gut ist, um eine allgemeine „Unschädlichkeit“ unreflektiert eigennützigen Verhaltens zu gewährleisten, und in globaler Perspektive defizitär. Das ist deutlich daran erkennbar, dass sie Schädigungen zulässt. Produkte beispielsweise, die durch oder mithilfe von Kinderarbeit, in sweatshops oder unter erheblichen, leicht vermeidbaren Risiken für Leib und Leben hergestellt werden, erhalten dennoch Zugang zum Europäischen Binnenmarkt. Empirisch stimmt also der von Homann vorausgesetzte Zusammenhang zwischen eigenem Erfolg oder Misserfolg und positiven beziehungsweise negativen Konsequenzen für andere nicht oder zumindest nicht in ausreichendem Maße, um einen effektiven Sanktionsmechanismus, wie ihn die Ökonomische Ethik voraussetzt, anzunehmen. Homanns Hinweis auf die Notwendigkeit individualmoralischen Umgehens mit offenen Situationen („offenen Verträgen“) kann hier nicht als adäquate Lösung gelten, weil es sich nicht um kleinere Regelungslücken innerhalb sanktionsbewährter Regeln handelt, die nur nach einer Optimierung gemäß individueller Moralvorstellungen verlangen, sondern um den individuellen Umgang mit grundlegenden moralischen Herausforderungen. Ein gewisser Idealismus besteht bei Homann also sowohl hinsichtlich der Gestaltungsfähigkeit der Rahmenordnung als auch der Umwandlung des Eigeninteresses in Allgemeinwohl durch einen gut geregelten Marktmechanismus. Diese Kritik erweitert die von Suchanek und Lin-Hi auch aus Perspektive der Ökonomischen Ethik angeführte Tatsache, dass die notwendige institutionelle Offenheit der Handlungssituationen155 und die nur zeitverzögert mögliche Anpassung der Gesetzeslage dazu führen, dass insbesondere im globalen Kontext dauerhaft mit sich vergrößernden Regelungslücken zu rechnen und umzugehen ist. So seien die bestehenden Handlungsfreiräume immer potenziell auszunutzen und deshalb marktwirtschaftlich erzielte Er154 dings in ergänzender Perspektive: „Schädigungen“ werden dort weiter verstanden und gehen z.B. durch enttäuschte Vertrauenserwartungen über die Grenze minimalen Wohlergehens hinaus (vgl. Suchanek/von Brook 2017: 28), eine anschlussfähige Fragestellung dieses Ansatzes könnte also sein: Welche weiteren Verpflichtungen bestehen jenseits des hier zugrunde gelegten Nichtschädigungsbegriffs (vgl. Abschnitt 3.5 sowie Kapitel 4 in dieser Arbeit.), etwa durch abgegebene Versprechen? 154 Homann 2007: 12 f. 155 Vgl. Suchanek 2007: 67 f.; Lin-Hi/Suchanek 2011: 69 f.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 67
gebnisse nicht per se als moralisch richtige Ergebnisse zu verstehen.156 Daraus folge, dass man heute gerade nicht von einer ‚vollständigen‘ Rahmenordnung ausgehen kann – mit der Folge, dass sich der Wettbewerbsdruck in seiner Ambivalenz zeigt. Die Ambivalenz des Wettbewerbs manifestiert sich etwa in einem Druck zur Kostenexternalisierung bzw. in der Entstehung von Konflikten zwischen Gewinn und Moral […] Damit ist zu konstatieren, dass faktisch sowohl Formen von gesellschaftlich erwünschtem Wettbewerb als auch von gesellschaftlich unerwünschtem Wettbewerb existieren. In der Konsequenz existiert in der Realität stets die Möglichkeit, gesellschaftlich unerwünschte Formen der Gewinnerzielung zu tätigen.157
Regeln und Verträge seien immer lückenhaft hinsichtlich der Möglichkeit, sich selbst Vorteile zulasten anderer zu verschaffen, und dies in moralisch problematischer Weise.158 Die Verantwortung einzelner Akteure könne deshalb „nicht durch Regeln ersetzt werden.“159 Suchanek bietet deshalb ein spezifisches Konzept der Ökonomischen Ethik, welches die Rolle der Individualmoral stärker betont, letztlich aber in Abgrenzung dazu als „Interaktionsethik“ gemeint ist.160 Dabei spielen ebenfalls spezifische Verständnisse von „Verantwortung“ und „Legitimität“ zusammen, die – sehr allgemein gesprochen – auf die dauerhafte Ermöglichung von Kooperation gerichtet sind.161 Insofern beantwortet Suchanek mit seinem Ansatz, der sich primär, wenn auch nicht ausschließlich, auf Fragen der Unternehmensethik richtet,162 eine andere als die vorliegende Frage. Während es hier darum geht, welche minimalmoralischen Anforderungen an einzelne Akteure im Zuge individualmoralischer Forderungen zu stellen sind, zeigt Suchanek detailliert, inwiefern das Interesse an als legitim erachtetem Handeln im aufgeklärten Eigeninteresse der Akteure liegt und welche Handlungsorientierung sich daraus für sie ergibt und ist diesbezüglich sehr aufschlussreich.163 Auf Grundlage der vorliegenden Fragestellung ergibt sich allerdings eine noch stärkere Kritik an der Entlastung des Einzelnen im Rahmen der Ökonomischen Ethik, insbesondere in der von Homann vorgelegten Konzeption. Entgegen Homanns angegebener Zielsetzung wird die Individualmoral in der ökonomischen Ethik nicht lediglich gestützt, was zweifelsohne notwendig 156
Vgl. Lin-Hi/Suchanek 2011: 70. Ebd. (Hervorh. im Original). 158 Vgl. Suchanek 2015a: 14. 159 Ebd. 160 Suchanek 2015a: 16. 161 Vgl. Suchanek 2007: 70 ff.; Suchanek 2015a: 54 ff.; Suchanek 2020. 162 Vgl. Suchanek 2020. 163 Vgl. Suchanek 2015a; Suchanek 2015b; Suchanek/von Brook 2017; Suchanek 2019; Suchanek 2020. Ebenfalls aufschlussreich ist, dass bei einem im Vergleich zu Homann stärkeren Fokus auf den Umgang mit Regelungslücken Nichtschädigung für die Handlungsorientierung der Akteure auch aus Sicht der Ökonomischen Ethik zentral ist (vgl. Fn. 8 in der Einleitung dieser Arbeit). 157
68
2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
ist, sondern im Ergebnis doch praktisch ersetzt. Insgesamt entsteht in Homanns Argumentation ein Vorrang ökonomischer vor ethischen Gründen. Das liegt erstens daran, dass Eigennutz als Selbstschutz sehr stark entschuldigt wird (Akteure können praktisch gar nicht anders handeln). Homann sieht jemanden, der mit dem Verhalten einzelner tatsächlicher „Egoisten“ konfrontiert ist, und deshalb als homo oeconomicus handelt, strukturell in der Opferrolle. Zweitens wird Eigennutzmaximierung im marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu einer moralischen Forderung: In marktwirtschaftlich koordinierten Gesellschaften erscheint es aus seiner Sicht der Ökonomischen Ethik nicht nur als falsch, von Menschen zu verlangen, sich zum Wohle anderer einzuschränken, sondern sogar als moralisch falsch, sich dem Wettbewerb nicht auszusetzen und dort nicht eigeninteressiert – und damit effizient zum Wohle der Gesellschaft – zu handeln.164 Dieses praktische Ersetzen der Individualmoral durch eigeninteressiertes Handeln bringt mehrere Probleme mit sich. Schon, dass „Moral“ und „Eigennutz“ im Ergebnis kaum mehr unterscheidbar sind, spricht dagegen, dass dies eine erschöpfende Vorstellung von der moralischen Dimension ökonomischen Handelns ist. So kritisiert Ulrich die Ökonomische Ethik als Versuch, Wirtschaftsethik unter vollständigem Verzicht auf eine eigenständige Moral zu konzipieren. Dies sei schon deshalb nicht möglich, weil sich ethische Prinzipien und subjektive Präferenzen grundlegend unterscheiden.165 Es sprechen aber weitere theoretische und praktische Gründe dagegen. Obwohl es Homann mit der Ökonomischen Ethik darum geht, Moral überhaupt systematisch zu ermöglichen und dadurch besonders negativen Konsequenzen ökonomischen Handelns zu verhindern, steht sein Ansatz diesem Ziel durch eine zu starke moralische Entlastung der einzelnen Akteure angesichts von als grundsätzlich dilemmatisch angenommener Strukturen und Anreize entgegen. Zunächst wäre der Verzicht auf eine eigenständige Individualmoral schon in einer idealen Rahmenordnung problematisch, weil auch dort davon ausgegangen werden muss, dass nicht jedweder Verstoß auch geahndet wird. Dann aber wäre der Einzelne doch wieder nicht immer vor Ausbeutung geschützt, wodurch die Argumentation für eine starke Ordnungsethik und moralische Entlastung des Individuums unterlaufen wird. Vor allem aber ist in einer nicht-idealen Rahmenordnung unreflektiertes Eigennutzstreben problematisch und führt spätestens dann zu moralischen Problemen, wenn sich Eigennutz und minimalmoralische Standards widersprechen. Sehr deutlich tritt die Rolle der Individualmoral für den Umgang mit geltenden Regeln beziehungsweise Regelungslücken am Cum-Ex-Skandal zutage.
164 165
Vgl. Homann 2014: 133, 147 f.; Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011: 75. Vgl. Ulrich 2009: 224.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 69
Ein Problem ist dann, dass der Individualmoral keine Problemlösungsfunktion zugesprochen wird, sondern nur eine Indikatorfunktion. Unter schlechten Regeln, die aus individualmoralischer Perspektive dann möglicherweise bemängelt werden (Indikator), scheint dennoch Fremdschädigung erlaubt zu sein (keine Problemlösungsfunktion). Wesentlichen Anteil an diesem Problem hat gerade eine zu geringe Einschränkung der Normativität der ökonomischen Rationalität. Dies weist zumindest in die Richtung der Gefahr einer Verabsolutierung der ökonomischen Systemrationalität durch ein Verständnis von Ethik im Sinne einer „Moralökonomik“, die Peter Ulrich betont.166 Diese Gefahr kann auch in Zusammenhang mit dem unklaren Status deontologischer Beschränkungen solcher Handlungsweisen innerhalb der Ökonomischen Ethik gesehen werden, die zwar anreizkompatibel, aber dennoch moralisch problematisch sind.167 Die sehr starke moralische Entlastung des Einzelnen ergibt zudem eine spezifische Sicht auf Interessensverletzungen in Wettbewerbssituationen. Diese geht über die Annahme hinaus, dass negative Konsequenzen zum Wettbewerb immanent dazugehören, und führt zu der substantiellen Schlussfolgerung, dass legitimer Wettbewerb nicht zu moralisch relevanten Schädigungen führen kann. So wird ein moralisch unproblematisches Zufügen von Wohlfahrtsverlusten möglich: Dem Verursacher scheint kein moralischer Vorwurf zu machen zu sein, weil sein Handeln von vornherein durch die Wettbewerbsbedingungen legitimiert war. Ein Ausweg wäre dann noch, zu sagen, dass eben nur eine gut geregelte Wettbewerbssituation moralisch entlastet. Das Problem in Homanns Theorie ist dann aber, dass dort nicht klar ist, woran der Einzelne erkennen können sollte, ob er sich in einer hinreichend gut geregelten Wettbewerbssituation befindet. Außerdem scheinen schlechte Regeln für Homann aufgrund der damit verbundenen dilemmatischen Handlungssituationen ebenfalls Fremdschädigung zu erlauben. Einer solchen Position der vollständigen Entlastung des Einzelnen kann die ebenfalls substantielle Position entgegengestellt werden, dass legitimer Wettbewerb erfordert, bestimmte negative Konsequenzen nicht zu riskieren. Dafür spricht auch, dass Freiwilligkeit und Konsens über Risiken der einzelnen Akteure schwer zu garantieren sind, denn ihnen stehen Machtverhältnisse entgegen, die freiwillige konsensuale Vereinbarungen beispielsweise in Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen nicht ohne Weiteres annehmen lassen. Es kann nicht in hinreichendem Maße davon ausgegangen werden, dass es sich bei ökonomischen Akteursbeziehungen um freiwillige Tauschbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil handelt, um Schädigungen in marktwirtschaftlichen Beziehungen auszuschließen. 166 167
Ulrich 2009: 225. Vgl. Neuhäuser 2016: 18.
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
Gleichzeitig lässt die Ökonomische Ethik keinen systematischen Raum für die Individualethik, die es aber unleugbar gibt. Ausgeblendet werden dabei die moralischen Fähigkeiten des Individuums auf mehreren Ebenen. Erstens spielen die Fähigkeiten, die die Menschen als zur moralischen Reflexion fähiges Wesen grundsätzlich besitzen, keine systematische Rolle.168 Aber auch ihrem Bedürfnis nach legitimem Handeln beziehungsweise nach der Beurteilung moralischer Handlungsaspekte in ökonomischen Handlungssituationen wird keine Rechnung getragen. Im Gegenteil: Indem vorhandene moralische Handlungsabsichten strukturell keine Rolle spielen, droht moralische Demotivation. Und schließlich wird auch die grundsätzliche Verantwortung der Menschen als ökonomische Akteure ausgeblendet. Insgesamt birgt Homanns Konzeption die Gefahr, dass sich moralische Verantwortung „aufzulösen“ scheint: Weil dort einerseits der Einzelne nur moralisch für die Übel verantwortlich gemacht werden kann, für die ihm selber tatsächlich die Verantwortung zugewiesen werden kann und deren Ergebnisse seiner Kontrolle unterliegen, andererseits der Verantwortungsbegriff für die strukturellen Bedingungen, die „nicht beherrschte vertrackte Problemstruktur“ aber nur metaphorisch verwendet wird,169 gibt es zumindest bei Betrachtung nur dieser beiden Ebenen (Individuum und Struktur) keinen wirklich Verantwortlichen für moralische Probleme innerhalb des Wirtschaftssystems mehr. Die Entlastung des Individuums durch die problematischen Strukturen geht so weit, dass Homann es vollkommen ablehnt, Einzelne für eigene Vergehen (die sie ja ökonomisch immer in Strukturen begehen müssen) moralisch zur Verantwortung zu ziehen, so etwa exponierte Banker im Zuge der Finanzmarktkrise – er sieht sie vollkommen entschuldigt, weil sie im „Wettbewerb, d.h. im Gefangengendilemma ohne geeignete Regulierung“ gestanden hätten.170 Dabei ist es plausibel, dass dem Einzelnen angesichts struktureller Zwänge nicht immer die gesamte Verantwortung zugerechnet werden kann. Dass er aber strukturell völlig entlastet wird und werden soll, ist dagegen nicht plausibel und widerspricht auch verbreiteten Intuitionen. Wie viel Selbstschutz der einzelne Wirtschaftsakteur vor potenzieller Ausbeutung tatsächlich braucht, scheint wesentlich von der jeweiligen Situation abzuhängen, zumindest ist es sinnvoll, Abstufungen der Entlastung anzunehmen. Auch ist es nicht zwingend, Selbstschutz mit präventiver Nicht-Moral gleichzusetzen. Stattdessen wäre es möglich, ökonomische Partner gerade nach ihren moralischen Qualitäten auszu168 Zwar verweist Homann beispielsweise auf die Bedeutung der Individualethik auf der kritischen, reflexiven Ebene der Regelsetzung. Diese Reflexion der Regeln erfolgt aber nicht standardmäßig durch alle Akteure, sondern nur durch besonders fähige Akteure, die dann eine exemplarische Funktion für alle anderen Akteure einnehmen sollen (vgl. Homann 2014: 139 f.). 169 A.a.O.: 108. 170 A.a.O.: 109.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 71
wählen.171 Beispielsweise kann ein Konsument, der verbreitete Produktionsweisen in der Textilindustrie für moralisch problematisch hält, sich deshalb entscheiden, vorrangig Produkte zu erwerben, die unter nachweislich moralisch unproblematischen Bedingungen erzeugt wurden. Schließlich besteht das grundsätzlich Dilemmatische der individuellen Handlungssituationen in Homanns Beschreibung aus Klugheitsperspektive und nicht unbedingt aus moralischer Perspektive.172 Wenn die Dilemmasituationen dennoch immer auch moralisch relevant erscheinen, dann deshalb, weil Homann individuelle Verluste, die systematisch bedingt sind, für per se unzumutbar hält und das Eigennutzstreben moralisch auflädt. Die normativ relevanten Konsequenzen scheinen für Homann einzig in den ökonomischen Folgen für den Handelnden zu bestehen.173 Allerdings wird nicht jedes potenziell ausbeutbare Verhalten tatsächlich ausgebeutet, das Argument muss also die mögliche Ausbeutung sein. Das hieße dann, dass von niemandem verlangt werden kann, sich so zu verhalten, dass er möglicherweise ausgebeutet wird. Das ist aber nicht plausibel. In anderen Bereichen als der Ökonomie, beispielsweise in freundschaftlichen Beziehungen, ist die Möglichkeit von Ausbeutung und der (bewusste) Nicht-Schutz ja gerade eine konstitutive Bedingung. Und warum sollten (mögliche) kleine, nicht schwerwiegende Ausbeutungen vor moralischen Ansprüchen insgesamt schützen? Intuitiv erscheint es zumutbar, kleine „Ausbeutungen“ hinzunehmen, um sich moralisch richtig zu verhalten. So mag ein individueller Verzicht auf besonders preisgünstige, aber unter moralisch problematischen Bedingungen hergestellte Güter die eigene Wettbewerbssituation gegenüber anderen Konsumenten schwächen. Dennoch liegt es nicht an diesem relativen „Nachteil“, dass ein solcher Verzicht unter bestimmten Umständen eine unzumutbare Härte darstellt (auf solche Ausnahmefälle werde ich im fünften Kapitel eingehen, vgl. 5.3.2). Die Bezeichnung riskierter negativen Konsequenzen als drohende „Ausbeutung“ ist hingegen schon Teil einer Überzeichnung der moralischen Signifikanz von Wettbewerbsnachteilen, die einzelne Akteure durch moralisches Verhalten tatsächlich erleiden oder riskieren.174 Dafür, dass es von einzelnen Akteuren durchaus moralisch gefordert sein kann, Wettbewerbsnachteile hinzunehmen, um dadurch besonders negative Konsequenzen des eigenen Handelns zu ver171 Den Wettbewerbsvorteil moralischen Handelns nehmen Suchanek und Lin-Hi (Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011; Suchanek 2011; Suchanek 2015b) zum Ausgangspunkt einer Theorie der Unternehmensverantwortung aus Sicht der Ökonomischen Ethik. 172 Vgl. Neuhäuser 2016: 12 f. 173 Vgl. a.a.O.: 17 f. 174 Gleichwohl hängt die Zumutbarkeit potenzieller Ausbeutung davon ab, welcher Begriff von „Moral“ zugrunde gelegt wird. Ist mit „moralischem“ beispielsweise „kooperatives“ Verhalten gemeint, dann wiegt das Ausbeutungsargument schwerer als hier angenommen.
72
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hindern, werde ich in den folgenden Kapiteln argumentieren. An dieser Stelle möchte ich nur noch unterstützend hervorheben, dass Homann durch seinen Verweis auf „offene Verträge“ der Individualmoral ja durchaus eine Rolle für den Umgang mit offenen Situationen zugesteht, wenn auch eine im Verhältnis zur moralischen Entlastung durch die Wettbewerbsordnung marginale. Auch mit Homann ließe sich also die Frage stellen, welcher Art die Individualmoral hier wichtig wäre. Dennoch ist die Rolle der Individualmoral wesentlich bedeutsamer, als Homann dies zugesteht, und dies insbesondere deshalb, weil unter nicht-idealen Rahmenbedingungen ökonomische Ausbeutung droht. Dass es für einzelne Akteure nicht gefordert sein sollte, moralisch auf die Tatsache von Kinderarbeit zu reagieren, nur weil die nicht-idealen Bedingungen diese zulassen, ist nicht plausibel. Stattdessen ließe sich fragen, weshalb mit der Angst vor Ausbeutung des Individuums bei moralischem Handeln ein Tolerieren ausbeuterischer beziehungsweise schädigender Arbeitsbedingungen verbunden sein sollte. Wenn der Einzelne vor Ausbeutung geschützt sein soll, dann müsste damit eigentlich ebenfalls ein Schutz vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen verbunden sein. Auch gegenüber Homanns Position ist wie gegenüber der Ulrichs eine abgeschwächte, weniger von Idealisierungen getragene und dadurch stärker differenzierende Sichtweise interessant. In einer nicht-idealen Interpretation kann das zentrale Argument der Ökonomischen Ethik so verstanden werden, dass eigennützige Motive für ökonomisches Handeln eine wichtige Rolle spielen, weshalb auch geeignete Anreizstrukturen zu beachten sind.175 Moralisches Handeln ökonomischer Akteure nicht mit moralisch motiviertem Handeln gleichzusetzen, muss zudem nicht bedeuten, dass der Unterschied zwischen moralischem und unmoralischem Handeln dann zwischen der Verursachung von Kosten für andere oder deren Besserstellung liegt. Stattdessen gilt es, erstens die „Kosten“ und die „Besserstellungen“ weniger schematisch und stattdessen inhaltlich genauer zu betrachten. Und zweitens müssen geringe Kosten für andere nicht unmoralisch sein, und geringfügiges „Besserstellen“ muss nicht moralisch gefordert sein. Damit verbunden ist eine Kritik an der Vorstellung von Marktergebnissen (unter Bedingungen gut geregelten Wettbewerbs) als „allseits gewünschte Ergebnisse“. Solche Formulierungen lassen noch immer offen, was genau inhaltlich damit gemeint ist. Vor allem stellt sich aber die Frage, wie mit Ergebnissen umzugehen ist, die offensichtlich nicht im allseitigen Interesse liegen. Ein Problem ist dann, dass Homann gegenseitiges Wohlwollen für weitgehend verzichtbar hält. Zwar mag es in der Ökonomischen Ethik für die „normativen Leitideen“ eine Rolle spielen. Dass diese aber für Homann gerade keine Problemlösungsfunktion besitzen
175
Vgl. Neuhäuser 2014: 206.
2.2 Ökonomische Ethik: Scheinbare Verzichtbarkeit individualmoralischer Reflexion 73
und keine Urteile über die situativ richtige Handlungsweise zulassen, ist eine wichtige theoretische Lücke in seinem Ansatz. Und weshalb sollten sich aus „Freiheit und Solidarität aller Menschen als Prinzipien der Moral“176 nur rechtliche Regeln ergeben? Homann suggeriert, es gäbe für moralisches Handeln ökonomischer Akteure nur die Optionen, entweder direkt moralisch motiviert oder durch die Rahmenordnung vorgegeben zu sein.177 Dabei lässt er die Möglichkeit moralischer Regeln unbeachtet. Eine wesentliche Rolle spielt dabei seine Annahme, die Anonymität marktwirtschaftlicher Beziehungen habe dazu geführt, dass es moralische Motive beziehungsweise ein Interesse am Wohlergehen der anderen Marktteilnehmer nicht mehr in ausreichendem Maße gäbe, um einzelne Akteure zu moralischem Handeln zu bewegen. Solidarität sei nicht mehr über die Motive der Akteure herzustellen. Deshalb sieht er die Notwendigkeit einer „institutionell gestifteten Verbundenheit“.178 Diese Argumentation mag auf ein starkes Solidaritätsverständnis zutreffen, auf eine allgemeine Anerkennung der moralischen Gleichwertigkeit menschlichen Wohlergehens aber nicht. Dass die Anonymität marktwirtschaftlicher Beziehungen ein grundsätzliches Motivationsproblem für moralisches Handeln darstellt, wäre auch nur dann zutreffend, wenn einzelne Akteure einander (persönlich) kennen müssten, um ihr gegenseitiges Wohlergehen für wichtig zu halten. Dass dem nicht so ist, zeigt beispielhaft der Konsum von fair-trade-Produkten. Es ist kein grundsätzliches Hindernis, dass „niemand all die kennen kann, die aus seinem Handeln Vorteile ziehen können“,179 weil zwar die von einer Handlung betroffenen Personen tatsächlich häufig nicht alle persönlich bekannt sein mögen, aber die Folgen für das Wohlergehen der ökonomischen Kooperationspartner häufig mit hinreichender Sicherheit abschätzbar sind, um deren Wohlergehen für den Handelnden relevant zu machen. Während Homann individuelles Wohlwollen für allgemeinen Wohlstand für gänzlich verzichtbar und auch für wirtschaftsethische Fragestellungen nicht für problemlösungsrelevant zu halten scheint, ist eine schwächere Vorstellung von Wohlwollen für ökonomische Akteure durchaus relevant. Einen Vorschlag dafür mache ich in Kapitel 4 (vgl. 4.3). Ein letzter wichtiger Einwand gegen eine so starke moralische Entlastung des einzelnen ökonomischen Akteurs, wie sie die Ökonomische Ethik vorsieht, ist die Differenz legaler und moralischer Rechte (darauf, wie moralische Rechte ökonomischer Akteure verstanden werden können, gehe ich ebenfalls in Kapitel 4 ein, vgl. 4.1.4). Zunächst ist fraglich, ob überhaupt jemals jedes 176 177 178 179
Homann 2007: 12. Vgl. a.a.O.: 12 f. A.a.O.: 18. Vgl. ebd.
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moralische Recht vollständig im Rechtsrahmen abzubilden wäre.180 Jedenfalls müssen wir aufgrund von Regelungslücken einerseits und der Differenz von legalen und moralischen Rechten andererseits181 als Akteure immer davon ausgehen, dass der rechtliche Rahmen nicht die moralischen Rechte aller Personen abdeckt. Ein rechtliches Verbot von sweatshops beispielsweise ist nicht absehbar. Zudem sind rechtliche Regulierungen auf Grenzwerte gerichtet, die in moralischer Sichtweise aber möglicherweise nicht gelten, was sich an der immer wieder auftretenden Notwendigkeit von Risikoabwägungen zeigt (vgl. 5.3.). In solchen Fällen sind dann die moralischen Fähigkeiten des Einzelnen (wenn auch nicht nur seine, sondern auch die der Gesellschaft) gefragt. In dieser Perspektive ist es dann nicht einfach moralisch geboten, im Wettbewerb den eigenen Vorteil zu maximieren. Im Gegenteil – es kann auch moralisch geboten sein, bestimmte Entscheidungen nicht von Wettbewerbsbedingungen abhängig zu machen. Entgegen der Ökonomischen Ethik sind deshalb zum einen moralische anstelle rechtlicher Regeln gefordert, und zum anderen eine explizit moralische Einschränkung der Legitimität des Eigennutzes (der Begrenzung ökonomischer Rationalität). Eigennütziges Handeln ist entgegen Homanns Einschätzung kein uneingeschränktes individuelles Recht.
2.3 Zur Bedeutung der nicht-idealen Perspektive in der Wirtschaftsethik Die bisherige Diskussion lässt sich als eine gewisse Ambivalenz zusammenfassen: Einerseits ist das allgemeine Wohl nicht unabhängig von den Handlungsabsichten einzelner ökonomischer Akteure, weil diese – vor allem im globalen Maßstab – nicht selten mit offenen Handlungssituationen umgehen müssen. Andererseits können dabei die Rahmenordnung und die ökonomische Anreizstruktur nicht ausgeblendet werden. Mithin sind Anreize für ökonomische Akteure wichtiger, als dies Ulrichs Lösungsvorschlag zur Normativitätsproblematik ökonomischer Rationalität nahelegt, und weniger wichtig als in Homanns Ansatz.182 Damit verbunden spielt legitime Selbstbehauptung eine ebenso stärkere respektive geringere Bedeutung als in beiden idealtheoretischen Ansätzen. Gegen Ulrichs Position kann dann eingewendet werden, dass Selbstbeschränkung nur bedingt wichtig ist, und im „Genug-haben-Können“ als Selbstzweck nicht der moralische Anspruch an ökonomische Akteure liegt, wenngleich Selbstbeschränkung natürlich unablässig sein kann, um moralisch zu handeln, also instrumentell durchaus gefordert sein kann. Entgegen Ho180 181 182
Vgl. Feinberg 1992a: 158. Vgl. Feinberg 1992a; Feinberg 1992b; Feinberg 1987: 110. Vgl. Neuhäuser 2016.
2.3 Zur Bedeutung der nicht-idealen Perspektive in der Wirtschaftsethik
75
manns Position ist eine Einschränkung selbstinteressierten Handelns nicht nur unter bestimmten institutionellen Bedingungen gefordert. Damit verbunden ist eine Kritik insbesondere an der Ökonomischen Ethik dahingehend, dass diese die „Moral“ in der weitgehenden Ausblendung der Individualmoral in problematischer Weise „verortet“. Allerdings ist dies auch der Integrativen Ethik in ihrer politischen Dimension vorzuwerfen. Auch bei Ulrich ist letztlich der Verweis „vernünftiger“ Akteure auf die fehlenden institutionellen Voraussetzungen möglich, weil idealisierte Moralvorstellungen in einer stark ökonomisch geprägten Welt schwer durchzusetzen sind. Die Integrative Wirtschaftsethik und die Ökonomische Ethik können als ideale Positionen betrachtet werden, wobei deutlich wird, dass sie als „von der idealen Vernunft durchzogene Wirtschaftswelt“ beziehungsweise „ideale Rahmenordnung“ jeweils vor Umsetzungsschwierigkeiten stehen, die für einen wirtschaftsethischen Beitrag zu Verbesserungen unter nicht-idealen Bedingungen hinderlich sind.183 Ein starker Idealismus führt dann sogar wieder zu praktischer Unverbindlichkeit, weil von vornherein feststeht, dass Akteure es nicht schaffen werden, dem Ideal entsprechend zu handeln. Daran lässt sich eine hohe Relevanz nicht-idealer, vermittelnder wirtschaftsethischer Positionen erkennen.184 Gerade aus nicht-idealer Perspektive ist Wirtschaftsethik so wichtig.185 Diese Bedeutung lässt sich auch aus Perspektive der Ökonomischen Ethik durch eine stärkere Betonung der notwendigen Offenheit der Handlungssituationen vergleichsweise leicht (an)erkennen (s.o.). Aufgrund der notwendigen Unvollständigkeit der rechtlichen Regeln und der damit verbundenen Ambivalenz des Wettbewerbs sei grundsätzlich damit zu rechnen, „dass es immer wieder zu Situationen kommen wird, in denen Gewinnerzielung in einen Konflikt mit moralischen Ansprüchen gerät.“186 Die moralische Bedeutung nicht-idealen Handelns betont insbesondere Amartya Sen. Konstitutive Bestandteile nicht-idealer Argumentation sind bei ihm das tatsächliche Verhalten der Akteure als konzeptioneller Ausgangspunkt187 und die Möglichkeit vergleichender, wenn auch unvollkommener 183
Neuhäuser 2014: 202. Möglicherweise ist sogar die Verbindung zu einer beide Ansätze integrierenden wirtschaftsethischen Position möglich, die beide Ansätze als jeweils besonders starke Fokussierung auf spezifische Problemstellungen innerhalb dieser integrierenden Position ausweisen kann (vgl. Neuhäuser 2014). „Die Ökonomische Ethik fragt dann eher danach, wie sich institutionelle Verbesserungen vor dem Hintergrund realisieren lassen, dass Marktakteure zumindest teilweise auch egoistisch motiviert sind und durch entsprechende Anreizstrukturen gesteuert werden müssen. Die Integrative Wirtschaftsethik hingegen fragt dann eher danach, wie sich ein vernünftiger Diskurs über moralische Fragen des Wirtschaftens auch innerhalb der Wirtschaft realisieren lässt.“ (A.a.O.: 202 f.). 185 Vgl. Neuhäuser 2014: 201. 186 Lin-Hi/Suchanek 2011: 74. 187 Vgl. Sen 2017: 96 ff. 184
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2 Ökonomische Ethik und Vernunftethik als Maximalpositionen
Einschätzungen.188 Dabei geht es ihm um Fragen sozialer Gerechtigkeit.189 In nicht-idealer Perspektive kann Wirtschaftsethik als Teil einer Gerechtigkeitstheorie verstanden werden.190 Eine so starke Position, die wirtschaftsethische Fragen explizit mit Gerechtigkeitsfragen verbindet, möchte ich mit der nichtidealen Perspektive nicht einnehmen. Stattdessen geht es hier um den Aspekt der relativen Verbesserung gegenüber einem als problematisch angesehenen Ausgangszustand, für die neben moralischen Idealen als wichtige Orientierung auch die gegebenen Ausgangsbedingungen als normativ relevant zu betrachten sind.191 Eine wichtige Rolle spielen dabei Abwägungen in mitunter sehr komplexen Einzelfragen: „Es ist leicht, pauschal Gerechtigkeit oder unternehmerische Verantwortung von anderen zu fordern; doch was bedeutet das konkret, wenn man als Führungskraft entscheiden muss, ob man einen Standort verlagern und Mitarbeiter entlassen sollte im Interesse des Überlebens des Unternehmens?“192 Gleichwohl spielt die Einbettung in Fragen der Gerechtigkeit in zweierlei Hinsicht hier sehr allgemein eine Rolle. Erstens wird dadurch verdeutlicht, dass Wirtschaftsethik nicht für sich selbst steht, aber gerade durch diese Einbettung ihre Bedeutung als gestärkt angesehen werden kann: Es kann dann nicht egal sein, wie wir individuell und kollektiv wirtschaftlich handeln, weil wir damit Gerechtigkeitsfragen berühren und durch bestimmte Wirtschaftsweisen möglicherweise dauerhaft für Ungerechtigkeit sorgen oder zumindest dazu beitragen. Und zweitens stellen Gerechtigkeitsfragen für nicht wenige Akteure vermutlich eine wichtige Motivationsquelle dar, sich wirtschaftsethische Fragen zu stellen: Sie empfinden oder beurteilen Zustände und Handlungsweisen als ungerecht und beschäftigen sich deshalb mit – individuellen oder kollektiven – Lösungsmöglichkeiten. Im Folgenden wird der Fokus auf der Individualethik liegen. Dabei werden die wenig voraussetzungsreichen Annahmen zugrunde gelegt, dass Menschen sich weder immer vernünftig noch immer eigennützig verhalten, dass sie moralfähig sind und auch (individuell mehr oder weniger stark) nach legitimen Handlungsweisen suchen. Dabei soll ein Beitrag geleistet werden zu der offenen Frage, welche moralischen Ideale und Regeln in modernen Gesellschaften auch im ökonomischen Kontext wichtig und dauerhaft aufrecht zu erhalten sind. Zentrale Fragen, die damit verbunden sind, sind die nach Gründen für ökonomische Akteure, moralisch zu handeln, und nach einem möglichen Vorrang der Moral. Damit ist die Frage gemeint, ob es bei Vorliegen unterschiedlicher praktischer Handlungsgründe immer die moralische Handlungsweise 188 189 190 191 192
Vgl. a.a.O.: 99, 162 f. Vgl. Sen 2017. Vgl. Neuhäuser 2014: 199 ff. Vgl. Suchanek 2015a: 14. Suchanek 2014: 5.
2.3 Zur Bedeutung der nicht-idealen Perspektive in der Wirtschaftsethik
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ist, die zu wählen ist.193 Gefragt ist damit also nach der jeweiligen normativen Signifikanz, die unterschiedliche Handlungsgründe im Verhältnis zueinander besitzen.194 Das Ziel ist dabei eine wirtschaftsethische Position, die plausibel die vorhandenen moralischen Intentionen und die notwendigen moralischen Handlungsgründe darstellt und gleichzeitig die Umsetzungsmöglichkeiten des ökonomischen Kontextes so berücksichtigt, dass Ausflüchte in angebliche Unmöglichkeiten oder Überforderungen nicht wie in idealtheoretischer Betrachtungsweise möglich sind.
193 194
Vgl. Wittwer 2011: 323. Vgl. Copp 2007: 289.
3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition 3.1 Moralische Verbindlichkeit und praktische Wirksamkeit des Schadensprinzips Angesichts des konfliktträchtigen Verhältnisses von „Ökonomie” und „Moral” einerseits, und mit Blick auf prominente wirtschaftsethische Konzeptionen andererseits, zeigen sich für die wirtschaftsethische Theoriebildung zwei drängende Herausforderungen: Zum einen ist Wirtschaftsethik als normativ verbindlich zu konzipieren. Es muss (möglichst) klar sein, welchen moralischen Ansprüchen ökonomische Akteure unterliegen. Zum anderen muss sie praktisch wirksam sein, ihre normativen Vorgaben dürfen nicht in eine ideale Konzeption ökonomischer Akteure oder idealer Umweltbedingungen verlagert werden, wenn sie vorhandene Probleme wirksam bearbeiten will. Gefragt ist also nach einem angemessenen moralischen Maßstab für das alltägliche Handeln ökonomischer Akteure. Dabei ist mit nicht-idealen Bedingungen auf Akteurs- und Systemebene umzugehen, sodass weder aus der Perspektive einer starken vernunftethische Konzeption noch aus der eines im Sinne ökonomischer Rationalität interpretierten Eigeninteresses der Akteure moralisch verbindliche und zugleich praktisch wirksame Handlungsanforderungen formuliert werden können. Die vorgeschlagene „Moral“ ökonomischer Akteure soll in zweierlei Hinsicht „angemessen“ sein: Einerseits soll sie moralische Standards formulieren beziehungsweise beinhalten, die sich als für alle Akteure verbindlich rechtfertigen lassen. Dabei soll sie weder auf ideale Akteure noch ideale Rahmenbedingungen angewiesen sein. Andererseits soll sie auch die moralische Dimension alltäglicher ökonomischer Handlungen möglichst treffend erfassen. Damit ist nicht gemeint, dass sich alle oder auch nur eine Mehrzahl der ökonomischen Handlungen so beschreiben lassen. Stattdessen geht es um eine möglichst passende Beschreibung der moralischen Handlungsdimensionen ökonomischer Akteure. Anders formuliert geht es um die Frage, was diejenigen in moralischer Hinsicht tun, die moralische Standards an ihr Verhalten anlegen. Schließlich soll es so gelingen, den moralischen Anspruch ökonomischer Akteure (die Ansprüche, die sie selbst an sich stellen, sofern sie welche an sich stellen, und die Ansprüche, die andere berechtigterweise an sie
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
stellen) auf theoretischer und praktischer Ebene möglichst plausibel zusammenzuführen. Moralische Verbindlichkeit und praktische Wirksamkeit bedingen und stützen sich in dieser Perspektive gegenseitig. Mit moralischer Verbindlichkeit ist hier gemeint, dass es einen festen Kern universaler Moral gibt, aus dem sich eindeutige moralische Regeln ergeben. Diese universale Moral ist keine spezielle „Moral“ des ökonomischen Systems, sondern die Geltung allgemeiner Moral, allerdings im Anwendungskontext des ökonomischen Systems. Die Universalmoral ist damit einerseits objektiv, sie ist aber andererseits aufgrund ihrer kontextualen Anwendung auch situationsspezifisch. Damit ist auf die praktische Wirksamkeit verwiesen. Diese wird durch die der Praxis angemessenen moralischen Ansprüche an die Akteure erreicht: Reale, nicht-ideale (etwa nicht ideal vernünftige) Menschen sollen sich von ihnen motivieren lassen können, sich moralisch zu verhalten. Andererseits wird aber die praktische Wirksamkeit auch durch die Einforderbarkeit moralisch verbindlicher Handlungsanforderungen erreicht. Verbindlichkeit und Wirksamkeit stützen sich zudem deshalb gegenseitig, weil situativ bestimmt werden kann und auch muss, wie die universalmoralischen Regeln umzusetzen sind (hierauf werde ich in den beiden folgenden Kapiteln 4 und 5 ausführlich eingehen). Deshalb können die moralischen Ansprüche auch nicht einfach durch einen Verweis auf die Diskrepanz zwischen theoretischem Ideal und nicht-idealer Situation abgewehrt werden. So stärkt die praktische Wirksamkeit wieder die moralische Verbindlichkeit. Aufbauend auf der kritischen Auseinandersetzung mit der Integrativen Wirtschaftsethik und der Ökonomischen Ethik soll also eine passendere Beschreibung moralischer Anforderungen an die tatsächlichen Handlungen ökonomischer Akteure erarbeitet werden. Dieses Zusammenspiel der normativen und der beschreibenden Perspektive ist wichtig, denn ginge es in der Wirtschaftsethik entweder nur darum, wie Akteure im ökonomischen Kontext tatsächlich handeln, so ergäbe sich bereits daraus eine normative Wirkung, die es unmöglich machen würde, (wirksame) externe Kritik zu äußern. Ginge es andererseits nur darum, was Akteure tun sollten, ohne Einbeziehung ihrer tatsächlichen Verhaltensweisen, dann schränkte dies die praktische Relevanz einer solchen wirtschaftsethischen Theorie erheblich ein. Es ist außerdem sowohl plausibel, anzunehmen, dass die ökonomische Theoriebildung das wirkliche Handeln ökonomischer Akteure nicht richtig beschreibt, und dies insbesondere deshalb, weil die moralische Handlungsdimension inadäquat dargestellt wird (vgl. 1.2), und dass andererseits die Akteure die aus idealer Perspektive formulierbaren moralischen Ansprüche oft nicht erfüllen. Träfe nicht beides zu, wäre beispielsweise moralische Empörung über ungerechte Handelspraktiken unverständlich. Das ist sie aber nicht, im Gegenteil: Es gibt immer wieder Fälle von Schädigungen im Bereich der Wirtschaft, die eine
3.1 Moralische Verbindlichkeit und praktische Wirksamkeit des Schadensprinzips
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weithin geteilte Empörung hervorrufen, etwa das Zahlen sehr niedriger Löhne, Kinderarbeit und in jüngerer Vergangenheit der Einsturz des Rana Plaza. Es existieren also einschlägige Fälle, in denen die (zumindest unterstellte) Missachtung des Schädigungsverbotes Grund für moralische Empörung ist. Schon aufgrund dieser lebensweltlichen Erfahrung erscheint es mir besonders plausibel, das Schadensprinzip wirtschaftsethisch in den Fokus zu rücken. Das Schadensprinzip ist hier als moralisches Prinzip gemeint, anderen Akteuren grundsätzlich keinen Schaden zuzufügen. Dieses Prinzip ist zum Umgang mit den aufgezeigten Problemen besonders geeignet, weil es eine kontextspezifische Anwendung des Grundgedankens von Nichtschädigung als allgemeiner Nebenbedingung von Handlungen darstellt – mithin die Kontextualisierung einer allgemeinen Handlungsregel. Zudem ist – davon ausgehend, dass eine Zwischenposition zwischen Homann und Ulrich sinnvoll ist und insbesondere die starken Idealisierungen beider Theorien problematisch sind –, eine nicht-ideale Positionierung naheliegend. Vor allem aber nimmt das Schadensprinzip in der hier erarbeiteten Form besonders plausible Aspekte beider Theorien auf: Bezogen auf die Integrative Wirtschaftsethik sind dies der Eigenwert ethischer Kategorien, die Kritik an einem übersteigerten Effizienzstreben aus Perspektive der Lebensdienlichkeit sowie die Notwendigkeit von Konsumbeschränkungen; bezogen auf die Ökonomische Ethik die Bedeutung von Anreizen, die Möglichkeit moralischen Handelns ohne zugrundeliegende moralische Motive und aus beidem resultierend das Vermeiden einer rigorosen Haltung. Hervorzuheben ist weiterhin die Übereinstimmung des Schadensprinzips mit verbreiteten Intuitionen. Das Schadensprinzip können sich einzelne Akteure zu eigen machen, es kann aber auch als moralische Forderung verstanden werden. Allerdings würden manche Akteure die Gültigkeit dieses Prinzips der Nichtschädigung gerade im ökonomischen Bereich leugnen, beispielsweise mit Verweis auf Wettbewerbs- und Konkurrenzsituationen. Die Alltagsrolle des Schadensprinzips ist demnach ambivalent. So könnte die moralische Empörung auf unterschiedliche Weisen interpretiert werden, von denen drei hier relevant sind: Eine Möglichkeit bestünde darin, dass a) gar kein Schädigungsverbot existiert und die moralische Empörung deshalb fehlgeleitet ist; sie folgt dann aus persönlichen Moralvorstellungen, die aber dem moralischen Pluralismus unterliegen. Alternativ könnte man b) annehmen, es bestünde ein allgemeingültiges Schädigungsverbot, das aber von ökonomischen Akteuren missachtet wird. Die Plausibilität dieser Argumentation werde ich in Auseinandersetzung mit den Ansätzen Barnard Gerts und Kurt Bayertz’ überprüfen; die Besonderheiten des ökonomischen Handlungskontextes führen aber dazu, dass ein allgemeines Schädigungsverbot hier nicht effektiv greifen kann. Deshalb werde ich für die dritte Interpretationsweise c) argumentieren, dass das Schadensprinzip im Bereich des Ökonomischen spe-
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
zifisch zu verstehen ist, und dass zwar einerseits die moralische Empörung, die sich aus einer allgemeinen Interpretation ergibt, nur zum Teil gerechtfertigt ist, dass aber andererseits Fälle dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip unterliegen, die vielen vielleicht als „ökonomisch gerechtfertigt“ erscheinen. Dabei möchte ich zeigen, was wirtschaftsethisch unter den gegebenen, nicht idealen Bedingungen auf theoretischer wie praktischer Ebene zu erreichen ist, indem man sich auf das Schadensprinzip als ein Prinzip mittlerer Reichweite1 beruft; eine starke vernunftethische Konzeption (auf Akteurs- wie Systemebene) ist nicht nur angesichts der realen Gegebenheiten praktisch wenig wirksam, sondern nicht notwendig, um zentrale wirtschaftsethische Probleme zu lösen. Für ökonomische Akteure2 muss das Schadensprinzip spezifisch ausformuliert werden; dabei wird aber zugleich die zentrale Bedeutung dieses Prinzips auch im ökonomischen Kontext deutlich. Denn ein ökonomischer Akteur, der einen anderen Akteur schädigt, fügt diesem Wohlfahrtseinbußen zu, die sein Leben und seine Lebensführung existentiell beeinträchtigen (hierauf gehe ausführlich im folgenden Kapitel 4 ein).
3.2 Das wirtschaftsethische Schadensprinzip in nicht-idealer Perspektive Das im Folgenden erarbeitete Schadensprinzip beinhaltet minimalmoralische Standards für ökonomische Handlungen, die auch unter nicht-idealen Bedingungen wirksam sind. Diese sind nicht auf ideale Akteure oder Systembedingungen angewiesen, und fordern ein Mindestmaß an moralisch verbindlichem Handeln insbesondere dann, wenn die rechtlichen Regeln dies nicht tun. Die Schädigungsperspektive macht überdies eine fundamentale Gegensätzlichkeit der Ansätze Peter Ulrichs und Karl Homanns deutlich: In der Ökonomischen Ethik Homanns tauchen Schädigungen systematisch nicht auf,3 während die 1 Prominentes Beispiel für die Verwendung solcher Prinzipien „jenseits philosophischer Grundlagentheorien“ und „auf der Grundlage der Idee eines übergreifenden vernünftigen Konsenses aller Beteiligten“ (Neuhäuser 2017b: 779) ist das Vorgehen von Beauchamp und Childress (2013) in Fragen der Medizinethik; sie argumentieren für die Verwendung von kontextspezifischen Fragestellungen angemessenen (vgl. a.a.O.: 15), verbreiteten Moralvorstellungen entstammenden und den Anforderungen an Theoriebildung entsprechenden (vgl. a.a.O.: 404 ff.) Prinzipien als „general guidelines for the formulation of more specific rules“ (a.a.O.: 13) anstelle des Rekurrierens auf eine umfassende ethische Theorie (vgl. a.a.O.: 411 f.). 2 Zur Möglichkeit der Schädigung durch Unternehmen gehe ich zunächst allgemein davon aus, dass es intentionale Handlungen von Unternehmen (vgl. French 1998) als ökonomische Akteure gibt, die als Schädigungen verstanden werden können. Die Begründung dafür, Unternehmen als moralische Akteure aufzufassen (vgl. Neuhäuser 2011), wird dann im fünften Kapitel gegeben. 3 Das bedeutet aber nicht, dass sie aus Sicht der Ökonomischen Ethik nicht eine wichtige Rolle spielen können (vgl. hierzu z.B. Suchanek/von Brook 2017 sowie Fn. 8 in der Einleitung dieser Arbeit).
3.2 Das wirtschaftsethische Schadensprinzip in nicht-idealer Perspektive
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Integrative Wirtschaftsethik es nicht bei der Forderung nach Nichtschädigung belassen, sondern von den Akteuren fordern würde, in jeder Situation zu überprüfen, ob es nicht eine noch vernünftigere als nur eine nichtschädigende Handlungsoption gibt und welches die vernünftigste wäre. Dagegen stellt das Schadensprinzip minimale und zugleich verbindliche moralische Anforderungen an das individuelle Verhalten der ökonomischen Akteure. Mit der Bezeichnung als „minimal“ ist natürlich nicht gemeint, dass diese Anforderungen nicht sehr wichtig wären oder Moral nur sich nur auf einen Nebenbereich des Handelns ökonomischer Akteure bezögen. Das Gegenteil ist der Fall, denn die Minimalmoral bezieht sich auf das menschliche Wohlergehen und zielt darauf ab, die Voraussetzungen dafür zu sichern (diese Zusammenhänge werden in Kapitel 4 deutlich herausgearbeitet). So ermöglicht es das Schadensprinzip, verbindliche Maßstäbe moralischer Bewertung bereitzustellen, anhand derer in konkreten Entscheidungssituationen (möglichst) eindeutig die Frage nach der moralisch richtigen Handlungsoption beantwortet werde kann. Um als minimalmoralische Regel für ökonomische Akteure gelten zu können, muss das Schadensprinzip allerdings den Besonderheiten des ökonomischen Kontextes entsprechend interpretiert werden. Erstens sind nicht die Handlungsmotive moralisch relevant, sondern die Ergebnisse.4 Im Anschluss an John Stuart Mill lässt sich diese Position so formulieren, dass der moralische Unterschied zwischen alternativen Handlungsergebnissen im Normalfall durch Ergebnisorientierung und dabei gerade durch den Verzicht auf die Bewertung der Motive oder des Charakters des Handelnden erkennen lässt.5 Individueller Boykott beispielsweise ist nicht als Schädigung zu verstehen, selbst wenn er mit dem Motiv verbunden ist, bei einem ökonomischen Akteur finanzielle Einbußen zu verursachen. Zweitens muss der Schädigungsbegriff der Wettbewerbssituation der Akteure angemessen sein, das heißt, er muss normativ relevante Schädigungen von bloßen negativen Konsequenzen systematisch unterscheiden. Das ergibt sich schon aus den Anforderungen einer Wettbewerbswirtschaft, in der wir die Möglichkeit gegenseitiger Schlechterstellungen als konstitutive Voraussetzung akzeptieren müssen. Der Wettbewerbsgedanke lebt davon, besser als andere zu sein, und dass Wettbewerber dann auch Verluste hinnehmen müssen, kann 4 Sofern auch die Motive der ökonomischen Akteure moralischer Bewertung unterliegen, tun sie dies im Zuge der Folgenbewertung (siehe dazu Abschnitt 5.3.3 in dieser Arbeit). So können Motive natürlich eine Rolle spielen im Zuge von Risiken; auch sind Schädigungen schon durch die Motive eines Akteurs vor allem in besonders vertrauensvollen bzw. auf Vertrauen angewiesenen Beziehungen naheliegen, und nicht zuletzt spielen sie eine Rolle als Ausgangsmotivation für moralisches Verhalten. Im Zentrum steht hier aber die Vereinbarkeit mit Selbstinteresse und eine grundsätzliche Folgenorientierung. 5 Vgl. Mill 2010: 61 f.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
an sich noch nicht moralisch problematisch sein. Auch in einer allgemeineren Sichtweise setzt die Möglichkeit, überhaupt zu handeln, schon voraus, andere in irgendeiner Weise negativ beeinflussen zu dürfen. Wir können nicht leben, ohne irgendwelche negativen Konsequenzen für andere herbeizuführen. Es ist daher offensichtlich, dass nicht jede, und vor allem nicht jede riskierte, externe negative Konsequenz eine moralisch relevante Schädigung sein kann; dass es nicht sinnvoll ist, jede negative Folge als Schädigung im eigentlichen Sinne zu verstehen.6 Andererseits ist jede Schädigung moralisch signifikant, und es erscheint (mit Ausnahme von Dilemmasituationen) nicht richtig, einige Schädigungen moralisch zuzulassen und andere zu verurteilen. Das Schadensprinzip muss im ökonomischen Kontext demnach deutlich machen, worin der normative Unterschied zwischen Schädigungen und Schlechterstellungen liegt. Wie also lassen sich Schädigungen ein- und gegen Schlechterstellungen als bloße negative Konsequenzen abgrenzen? Moralisch relevant sind nur ganz bestimmte negative Konsequenzen, die sich in bestimmter Weise auf das Wohlergehen der betroffenen Menschen auswirken, so meine These, die ich in diesem und dem folgenden Kapitel substantiieren werde. Wo es um bloße wettbewerbsimmanente negative Konsequenzen geht, die keine erheblichen Wohlergehensbeeinträchtigungen verursachen, spreche ich von „Schlechterstellung“. Diese Abgrenzung ist durch eine Schwellenwertkonzeption von Schädigungen möglich. Der Schwellenwert selbst ergibt sich aus dem normativen Aspekt des Schadens: dem minimalen menschlichen Wohlergehen. Diese Zusammenhänge werden in diesem Kapitel weitgehend vorausgesetzt und im letzten Abschnitt zwar teilweise aufgegriffen, aber erst im folgenden Kapitel herausgearbeitet (vgl. 4.1). Wichtig ist die Schwellenwertkonzeption des Schadensprinzips an dieser Stelle zunächst nur für die weitere Beschreibung des minimalmoralischen Charakters des Schadensprinzips. Denn aufgrund der normativen Unterscheidung wohlfahrtsbedingter Schädigungen und wettbewerbsimmanenter Schlechterstellungen sind ökonomische Akteure mit zwei Arten von Handlungsgründen ausgestattet: Es gibt moralisch relevante Nicht-Schädigungsgründe, die sich aus den Folgen für die Wohlfahrt der Geschädigten ergeben, und es gibt weitere individuelle Gründe, darunter Eigeninteresse, persönliche Werte und Gewohnheiten. Ein ökonomischer Akteur verhält sich diesem Ansatz gemäß also bereits dann moralisch, wenn er andere nicht schädigt (und sei es aus Eigennutz), und darüber hinaus seinen privaten Interessen folgt.
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Vgl. Kagan 1989: 87 ff. Kagan (a.a.O.: 89) zeigt dies sehr anschaulich: „As long as a constraint against doing harm rules out any action which has some probability (no matter how small) of bringing about harm – then no actions at all will be permitted. I will have to stay huddled in the corner, not daring to move, trying not to breathe too loudly.“
3.2 Das wirtschaftsethische Schadensprinzip in nicht-idealer Perspektive
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„Minimalmoralische“ Anforderungen an ökonomische Akteure zu stellen, ist eine Konkretisierung von Verbindlichkeit und Wirksamkeit: „Minimal“ bezieht sich einerseits auf grundlegende (minimale) menschliche Interessen, und erkennt andererseits einen großen individuellen Handlungsfreiraum der Akteure an; sofern kein Schaden für andere versursacht wird oder droht, bleiben die Handlungsmotive „Privatsache“. Mit dem Schadensprinzip ist eine grundsätzlich liberale Perspektive auf ökonomische Akteure verbunden. So ist es auch gut mit zentralen Aspekten der ökonomischen Theoriebildung vereinbar, wenngleich es die in Kapitel 1 diskutierten Defizite zum Ausgangspunkt nimmt. Der Lösungsvorschlag besteht aber nicht in einem völlig anderen Konzept ökonomischer Akteure, sondern ist grundsätzlich vereinbar mit verbreiteten Vorstellungen der privaten Handlungsautonomie und Argumenten des ökonomisch Rationalen. Denn sofern keine gegenseitigen Schäden verursacht werden, liegt das individuelle Verhalten der Akteure in einem der allgemeinen moralischen Bewertung entzogenen und insofern „neutralen“ Bereich; wie die Akteure sich dann innerhalb dieses Bereichs verhalten, ist ihnen freigestellt und kann kein Gegenstand universaler moralischer Bewertung sein. Das schließt weder aus, dass es besonders moralische Verhaltensweisen ökonomischer Akteure gibt, die sich aus einer Ergänzung des Schadensprinzips um persönliche Moralvorstellungen ergeben, noch, dass aufgrund dieser Vorstellungen das eigeninteressierte Verhalten anderer Akteure kritisiert wird.7 Dennoch müssen die Annahmen über ökonomisch rationales Verhalten nicht wesentlich verändert werden, vielmehr wird ihr legitimer Geltungsbereich minimalmoralisch eingeschränkt – oder, anders gewendet, es räumt diesen bei der moralischen Handlungsbewertung einen anderen Stellenwert ein. Für eine minimalmoralische Interpretation des Schadensprinzips ist also eine liberale Perspektive charakteristisch, und im Folgenden werde ich John Stuart Mills harm principle zum Ausgangpunkt einer liberalen Deutung des Schadensprinzips nehmen. Dabei geht es mir allerdings nur um eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Ziel einer möglichst plausiblen Konzeption des Schadensprinzips im Rahmen eines wirtschaftsethischen Ansatzes; dagegen geht es hier nicht um die Fragen, wie das Schadensprinzip in Mills Moralphilosophie am besten zu verstehen ist und wie es die individuelle Freiheit am besten schützen kann. Zunächst werde ich Mills Formulierung des harm principle als Vermittlungsversuch zwischen individuellen Autonomie- und Schutzinteressen vorstellen und darauf eingehen, inwiefern der Einzelne dadurch als verpflichtet 7
Und es schließt auch eine Klugheitsperspektive wie die Suchaneks nicht aus; die Klugheitsüberlegungen seiner Konzeption als Grundlage weitergehender moralischer Selbstverpflichtungen sind durchaus kompatibel mit einem minimalmoralischen Schadensprinzip, wie es hier erarbeitet wird.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
angesehen kann, andere nicht zu schädigen. Danach werde ich die Deutungsschwierigkeiten des Schadensbegriffs bei Mill thematisieren, und abschließend zeigen, welche wichtigen Fragen mit Mills harm principle für den aktuellen wirtschaftsethischen Kontext offenbleiben (3.3). Daran anschließend werde ich auf die Möglichkeit eingehen, das Schadensprinzip prudentiell zu begründen. Obwohl die Klugheitsperspektive auf die Handlungsregel gegenseitiger Nichtschädigung wichtige Erkenntnisse beisteuert, ist sie insbesondere für wirtschaftsethische Fragestellungen defizitär und kann für ökonomische Akteure kein allgemeines Schadensprinzip begründen, wie sich zeigen wird (3.4). Stattdessen ist das Schadensprinzip im ökonomischen Kontext zustandsbezogen zu verstehen, wie ich in Auseinandersetzung mit Joel Feinbergs juridischer Deutung des Schadensprinzips zeigen werde. Dort wird zudem die Differenz zur rechtlichen Perspektive auf Schädigungen verdeutlicht (3.5).
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill Mill formuliert in seinem Essay „Über die Freiheit“ (On liberty) ein „Freiheitsprinzip“ oder „Prinzip der persönlichen Freiheit“,8 das auch als „Schadensprinzip“ (harm principle) bezeichnet wird.9 Das harm principle steht damit schon im grundsätzlichen Zusammenhang mit dem Liberalismus. Die liberale Position Mills sieht das Handeln des Einzelnen grundsätzlich als Privatsache an. Individuelle Handlungsfreiheit wird in einem fundamentalen Sinne als Freiheit vor der Einmischung anderer verstanden.10 Ein bestimmtes individuelles Verhalten unter Zwang einzufordern ist nur dann gerechtfertigt, wenn dies der Verhinderung eines Schadens für andere dient.11 Die private Le8
Mill 2013: 18 f., 137. Synonyme Bezeichnungen sind harm principle (vgl. z.B. Turner 2014) und liberty principle bzw. principle of liberty (wenngleich kontextspezifisch möglicherweise eine jeweilige Betonung auf liberty bzw. harm gelegt wird: So wird in Zusammenhang mit der Frage nach staatlichen Eingriffsrechten in persönliche Handlungsfreiheit das Prinzip vor allem als Freiheitsprinzip diskutiert (siehe etwa Brown 1972; McCloskey 1963; Wollheim 1973). Ich werde im Folgenden die Bezeichnung des harm principle für Mills Schadensprinzip verwenden, mit Ausnahme der Diskussion von Literatur, in der vom liberty principle gesprochen wird. 10 Vgl. Mill 2013: 19, 110 f. „Die Einmischung der Gesellschaft in der Absicht, Urteil und Vorhaben des Betreffenden in privaten Angelegenheiten zu beherrschen, muss sich auf allgemeine Annahmen stützen, die ganz falsch sein können. […] In diesem Bereich der menschlichen Angelegenheiten befindet sich daher der Individualismus auf seinem eigensten Gebiet.“ (A.a.O.: 110). 11 Vgl. a.a.O.: 108 ff. Ob das harm bzw. liberty principle die grundsätzliche individuelle Handlungsfreiheit nur im Falle schädigender Handlungen oder auch zur Verhinderung von Schaden erlaubt, ist zwar aufgrund des unspezifischen Schadensbegriffs und uneindeutiger Formulierungen Mills umstritten (vgl. Donner 1991: 193 ff.); Brown (vgl. 1972: 134 f.) etwa argumentiert, nur direkt schädigende Handlungen würden vom Principle of Liberty erfasst, 9
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill
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bensführung endet dort, wo andere durch das individuelle Handeln geschädigt werden.12 Konstitutiv für die Formulierung des Schadensprinzips bei Mill ist demnach der Versuch, das Verhältnis des individuellen Interesses an grundsätzlicher Handlungsfreiheit und der berechtigten Ansprüche anderer an das individuelle Handeln angemessen zu bestimmen:13 Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.14
Gemäß der grundsätzlichen Handlungsfreiheit ist das Schadensprinzip bei Mill auf den Bereich der Fremdschädigung bezogen. Einzig die drohende Schädigung fremder Interessen kann als legitimer Grund angeführt werden, um die individuelle Handlungsfreiheit einzuschränken.15 Für Mill sind es zwei Möglichkeiten, die einer Gesellschaft zu Verfügung stehen, um den dafür notwendigen sanktionierenden Zwang auszuüben. Die offensichtliche Möglichkeit sind rechtliche Regulierungen. Allerdings können so nicht alle Schäden verhindert werden, und sofern die Schädigungen nicht rechtlich erfasst werden, steht ihr die moralische Verurteilung zu Verfügung. 12 während Lyons (vgl. 1997: 118 ff.) meint, auch unterlassene Hilfe in Not oder die Verweigerung von im gesellschaftlichen Maßstab schadensverhindernder Kooperation seien bei Mill vom harm principle erfasst. Donner (vgl. 1991: 195) hält eine solche Interpretation des harm principle als harm prevention principle für die überzeugendere Interpretation Mills. McCloskey (vgl. 1963: 151, 155) hält Eingriffe in die private Handlungsautonomie auch mit dem Ziel der Verhinderung privater Unmoral für vom Liberalismus Mills gedeckt. 12 Vgl. Mill 2013: 117 f. „Kurz, wo ein bestimmter Schaden oder die bestimmte Gefahr eines Schadens für einen Einzelnen oder für die Gemeinschaft vorliegt, das scheidet der Fall aus dem Bezirk der Freiheit aus und gehört in den der Moral oder des Gesetzes.“ (A.a.O.: 118) McCloskey (1963: 147) unterscheidet Mills Verständnis von Freiheitseinschränkungen zugunsten von Nichtschädigung („coercion to prevent harm“) von der liberalen Vorstellung der Freiheitseinschränkung zugunsten der Freiheit anderer („coercion to prevent coercion“). Auch Brown (1972: 144) grenzt Mills liberty principle von letzterer Vorstellung ab und hebt dabei Mills spezifische Verbindung von Liberalismus und Utilitarismus hervor: „One radical form of liberalism would set as the only limit to individual liberty that one’s action should not restrict the liberty of anyone else. Mill is far too utilitarian to accept such a view or to ignore the further ways in which it is possible to harm others. One radical kind of utilitarianism would subject the individual to coercion for any purpose the fulfillment of which would contribute substantially to increase in utility. Mill is far too liberal to think it plausible that widespread positive uses of coercion could really maximize utility.“ 13 Vgl. Brown 1972: 134; Donner (1991: 191) etwa betont für Mills principle of liberty die Funktion des Abwägens von Interessen („weighing of interests“); Lyons (1997: 132) spricht von „trade-offs“ zwischen Einschränkungen individueller Freiheit und dem Verhindern oder Beseitigen von Schädigungen Dritter. 14 Mill 2013: 18 f. Saunders (2016) hingegen argumentiert, das harm principle Mills unterscheide wesentlich zwischen konsensualen und nicht-konsensualen Schädigungen. 15 Vgl. Mill 2013: 19.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Das Individuum wird in solchen Fällen „gerechterweise durch die öffentliche Meinung bestraft“.16 Dieses Bild eines Einzelnen, der aufgrund schädigender Aspekte seiner Lebensführung unter den sozialen Druck der ihn umgebenden Gemeinschaft gesetzt wird, verdeutlicht, dass der Referenzpunkt in Mills Schadensprinzip der Einzelne ist, der in seiner Freiheit durch die Autorität der Gesellschaft potentiell bedroht ist. Mill bezeichnet die Abwesenheit von moralischem Zwang auch als „gesellschaftliche Freiheit“.17 Andererseits ist der moralische Zwang – und damit sozialer Druck – ein legitimes Mittel, um Fremdschädigung zu verhindern. Im Fall fehlender rechtlicher Sanktionen kommt dem moralischen „Zwang“ sogar eine entscheidende Rolle im Umgang mit schädigendem Verhalten zu. Zudem erkennt Mill an, dass individuelle oder gesamtgesellschaftliche Vorstellungen davon, welches Verhalten für einen Einzelnen besonders wünschenswert wäre, mit Berechtigung an diesen herangetragen werden können. Dies könne berechtigterweise aber nur in Form eines Appells geschehen.18 Überredungsversuche aufgrund individueller oder gesellschaftlicher Moralvorstellungen sind demnach nicht problematisch, sofern sie nicht mit einer Einschränkung der Handlungsfreiheit einhergehen und es dem Individuum offenbleibt, ihnen zu folgen oder nicht. Der Einzelne hat aber ein grundsätzliches Interesse an Freiheit, und so muss diese Handlungsfreiheit auch tatsächlich im Sinne sozialer Freiheit bestehen und nicht nur rechtlich gesichert sein. Die individuelle Handlungsfreiheit in Mills Schadensprinzip beinhaltet auch, frei von gesellschaftlichem Druck zu sein. Wer gegen allgemeine Moralauffassungen verstößt, ohne dabei anderen zu schaden, darf nicht durch gesellschaftlichen Druck gezwungen werden, sich fremden Moralvorstellungen anzupassen.19 Somit kann das harm principle als vermittelndes Prinzip zwischen zwei Dimensionen individueller Freiheit gesehen werden. Auf der einen Seite steht das individuelle Interesse an Schutz vor übermäßigen Eingriffen in die individuelle Handlungsfreiheit. In dieser Hinsicht schränkt das harm principle die legitimen, mit Druck durchsetzbaren Anforderungen an den Einzelnen ein. Auf der anderen Seite erlaubt es die Einschränkung der Handlungsfreiheit zum Selbstschutz beziehungsweise zum Schutz vor Fremdschädigung. Obwohl der Einzelne an seiner individuellen Autonomie interessiert ist, sprechen seine Interessen auch gleichzeitig für ein Schädigungsverbot. Und aus diesem Interesse an Schutz wird für den Einzelnen eine Nichtschädigungspflicht generiert: 16
A.a.O.: 109. Ebd. Die Rolle des liberty principle für gesellschaftliche Freiheit hebt z.B. Riley (1991) hervor. „Mill’s liberty principle says each person has a moral right to liberty in that sense if and only if his conduct is purely self-regarding.“ (A.a.O.: 33, Hervorh. im Original). 18 Vgl. Mill 2013: 109 f. 19 Vgl. a.a.O.: 109 ff. 17
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill
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Die Gesellschaft bietet ihm Schutz vor der Verletzung seiner eigenen Interessen und er ist im Gegenzug verpflichtet, die Interessen aller anderen Gemeinschaftsmitglieder zu wahren, was vor allem den Verzicht auf Fremdschädigung bedeutet.20 Festzuhalten ist hier erstens, dass sich mit dem harm principle argumentieren lässt, dass Fremdschädigung nicht von der individuellen Autonomie der Akteure gedeckt ist. Man könnte auch sagen, dass sie gar nicht die „Freiheit“ besitzen, anderen Schaden zuzufügen.21 Vielmehr besteht für jeden die Pflicht, sich nichtschädigend zu verhalten. Zweitens ist die Nichtschädigungspflicht hier als konsequentialistische Pflicht zu verstehen. Das heißt, sie ergibt sich aus dem Nichtschädigungsinteresse des Handelnden und der Tatsache, dass er gesellschaftlichen Schutz vor Fremdschädigung genießt, und ist keine von seinem eigenen tatsächlich vorhandenen Schutzinteresse unabhängige Verpflichtung. Dazu, wie der Schadensbegriff Mills zu deuten ist, gibt es allerdings sehr unterschiedliche Interpretationen. Eine gängige interpretative Einschränkung lautet, dass nicht jedwede negative Konsequenz auch einen Schaden darstellt, der Schadensbegriff Mills wird auch dann aber unterschiedlich interpretiert.22 Nach einer gegensätzlichen Interpretation ist der Schadensbegriff bei Mill deshalb vage, weil er sich auf jedwede negative Konsequenz beziehe. Das harm principle schütze den Einzelnen lediglich vor Paternalismus, jedweder fremdbezogene negative Effekt berechtige die Gesellschaft aber zur Zwangsausübung, die dann aber aus utilitaristischen Erwägungen eingegrenzt sei.23 Eine weitere Interpretationsweise besagt, dass der Schadensbegriff bei Mill weitgehend offen bleibt und einer näheren Bestimmung durch eine ergänzende, angemessene Theorie bedarf.24 Es geht mir hier nicht um die beste Interpretation des Mill’schen harm principle, sondern darum, zentrale Aspekte in Mills Argumentation als für die Frage nach einem minimalmoralischen Handlungsanspruch an ökonomische Akteure auch unter nicht-idealen Bedingungen aufschlussreich aufzuzeigen. Deshalb werde ich folgend auf zwei weitere Interpre20
Vgl. a.a.O.: 108. Vgl. a.a.O.: 118. „Kurz, wo ein bestimmter Schaden oder eine bestimmte Gefahr eines Schadens für einen Einzelnen oder für die Gemeinschaft vorliegt, da scheidet der Fall aus dem Bezirk der Freiheit aus und gehört in den der Moral oder des Gesetzes“ (ebd.). 22 Eine anschauliche Übersicht findet sich bei Turner (vgl. 2014: 302 ff.). Brown (1972: 144) beispielsweise spricht von einer „rough identification of harming, injury, and causing evil“, wobei auch Unterlassungen einbegriffen seien. Bezogen auf gesellschaftliche Verpflichtungen des Einzelnen sei Mills Schadensbegriff aber besonders unklar (vgl. a.a.O.: 145 f.). Riley (1991: 22) hingegen interpretiert Mill im Sinne einer Gleichsetzung von „harm“ mit „,perceptible hurt’ or ,perceptible damage’ experienced by a competent agent against his wishes“. 23 Vgl. Turner 2014. Jonathan Riley (vgl. 2015) kritisiert Turners weite Deutung des Schadensbegriffs Mills als unzutreffende und illiberale Deutung. Zum grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Mills harm principle und Paternalismus siehe Dworkin (1997). 24 Vgl. Holtug 2002. 21
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
tationen des Schadensbegriffs bei Mill eingehen, die einerseits verdeutlichen, dass und inwiefern Mills harm principle einen sehr aufschlussreichen Ausgangspunkt für einen solchen Anspruch darstellt, und inwiefern es andererseits für den ökonomischen Kontext zentrale Fragen offenlässt. Damit, einen Schaden zugefügt zu bekommen, kann nicht bloß gemeint sein, in irgendeiner Weise betroffen zu sein.25 Mill argumentiert prägnant, dass sich das Ausmaß der individuellen Autonomie dadurch bestimmte, welche Interessen betroffen sind: „Dem Individuum sollte der Teil des Lebens gehören, bei dem hauptsächlich der Einzelne interessiert ist, der Gesellschaft hingegen der Teil, an dem die Gemeinschaft ihr Interesse hat.“26 Ist nur der Einzelne an seinem Handeln „interessiert“, so ist nur er selbst von seinem Handeln in gravierender Weise betroffen, was nicht ausschließt, dass andere irgendeinen Effekt auf ihre eigene Lebensführung erfahren.27 Wendy Donner hebt den Zusammenhang von Schadensbegriff und Interessen bei Mill hervor und plädiert für eine entsprechende Deutung des harm principle: „The language of harms and interests dominates his discussion. We make headway by seeing harm as the invasion of or injury to interests.“28 Mills eigene Einordnung des Schadensprinzips sei in Bezug auf Interessensverletzungen zu verstehen: „Mill shows that he regards harm and injury to interests as two sides of the same coin.“29 Damit das Schadensprinzip aber auch praktisch handlungsleitend sein kann, muss klar sein, welchen Interessen welches Gewicht zukommt.30 Welche Interessen für Mill schädigungsrelevant sind, ist allerdings wiederum umstritten. Zwar spricht Mill im Utilitarismus vom Sicherheitsinteresse als „the most vital of all interests“,31 auch in der Mill-Interpretation werden aber „vitale Interessen“ unterschiedlich gedeutet.32 Zudem setzt der Rekurs 25 Diese einfache Tatsache ist wiederum Ausgangspunkt für einen Kritikstrang am harm bzw. liberty principle Mills, der auf die als für das harm principle wenig hilfreich angesehene Unterscheidung von Handlungen, die nur den Einzelnen selbst (self-regarding), und solche, die auch andere betreffen (other-regarding), abzielt (vgl. Donner 1991: 189 f.). 26 Mill 2013: 108. 27 Vgl. a.a.O.: 22. „Wenn ich sage: ‚nur ihn selbst‘, so meine ich ihn direkt und in erster Linie, denn was ihn betrifft, kann auch andere durch ihn betreffen“. (Ebd.). 28 Donner 1991: 190 (Hervorh. NP). Auch Brown (1972: 143) sieht stellt die negativen Effekte auf die Interessen anderer als Referenzpunkt für das liberty principle bei Mill heraus: „It is evident […] that Mill is specifying an effect on the interests of other people. It is equally evident that […] he is specifying a negative effect.“ 29 Donner 1991: 191. 30 Vgl. ebd. 31 Mill 2010: 160. 32 Gray (vgl. 1983: 52) versteht vitale Interessen bei Mill als die Interessen an Autonomie und Sicherheit. Donner (1987: 234 f.; 1991: 192) sieht neben Sicherheit und dem Nichterleiden physischer Schäden auch die Freiheit zur Selbstentwicklung (liberty of self-development) als vitales Interesse bei Mill an.
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill
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auf vitale Interessen einen interpretativen Zusammenhang zwischen Utilitarismus und Über die Freiheit voraus.33 Gleichwohl legt der systematische Zusammenhang zwischen Utilitarismus und harm principle bei Mill diese Deutung besonders nahe.34 Denn die Handlungsmaxime der gegenseitigen Nichtschädigung und die aus ihr folgenden moralischen Regeln für den Umgang miteinander sind in Mills utilitaristischer Argumentation für das Wohlergehen der Menschen von einzigartiger Wichtigkeit.35 In einer möglichen Interpretation beantwortet das harm principle dann die Frage, wann Einschränkungen der Handlungsfreiheit aus utilitaristischer Perspektive sinnvoll sind.36 Dem Utilitarismus kann, wenn man ihn für die Interpretation des harm principle hinzuzieht, auf zwei Ebenen eine zentrale Rolle zukommen. Auf einer übergeordneten Ebene wäre entscheidend dafür, ob Zwang gerechtfertigt ist – ganz allgemein gesprochen – ob es dem Allgemeinwohl dienlich ist, wenn in einen Handlungsbereich grundsätzlich eingegriffen wird.37 Auf dieser Ebene besteht das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Autonomie- und gesellschaftlichem Nichtschädigungsinteresse, das durch das Schadensprinzip bearbeitet wird. Auf einer zweiten, inhaltlichen Ebene ließe sich, wie oben angesprochen, im Utilitarismus ein Entscheidungskriterium dafür identifizieren, welche individuellen Interessen besonderem Schutz durch das harm principle unterliegen. Als naheliegende Möglichkeit dafür wiederum erscheint Mills qualitativer Hedonismus.
33
Vgl. Gray 1983: 48 ff. Riley (1991) beispielsweise sieht das liberty principle als Teil Mills utilitaristischer Argumentation: „the liberty principle is really a component of Mill’s complex principle of utility.“ (A.a.O.: 32, Hervorh. im Original). Gray (vgl. 1983: 60; 63 ff.) sieht die für Menschen vitalen Interessen im Utilitarismus (Sicherheit) und in On Liberty (Autonomie) dargestellt, und argumentiert, dass das principle of liberty erst durch den Zusammenhang beider Werke verständlich sei. 35 „Die Moralvorschriften, die es den Menschen verbieten, einander Schaden zuzufügen (wozu, wie wir nicht vergessen dürfen, auch die unrechtmäßige Einschränkung der Freiheit gehört), sind von größerer Bedeutung für das menschliche Wohlergehen als alle Maximen, so wichtig sie auch sein mögen, die jeweils nur für einen Teilbereich des Lebens gelten.“ (Mill 2010: 177 f.) „Ich betrachte Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen, aber es muss Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, begründet in den ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden Wesens.“ (Mill 2013: 20) Für Donner (vgl. 1991: 188) ergibt sich aus dem Zusammenhang beider Schriften, dass das harm principle in Mills Gerechtigkeitstheorie eingebettet ist. 36 Vgl. Gray 1983: 61 f. 37 Vgl. Mill 2010: 37 f.; Mill 2013: 118, 120, 136. „Sobald irgend etwas in die Handlungsweise eines Einzelnen den Belangen anderer Abbruch tut, hat die Gemeinschaft Rechtsgewalt über ihn, und die Frage, ob das Gemeinwohl dadurch gefördert wird oder nicht, wenn sie sich mit ihm befasst, steht zur Debatte.“ (Mill 2013: 109) Diese Deutung ähnelt insofern derjenigen Turners (vgl. 2014), als auch hier utilitaristische Erwägungen eine zentrale Rolle für das Schadensprinzip spielen; dies allerdings schon bei der Bestimmung des Schadensbegriffs selbst und nicht erst bei der Frage, ob schädigendes Handeln zu sanktionieren ist. 34
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Damit stellt sich die Frage, ob der qualitative Hedonismus für ökonomische Akteure einen sinnvollen Schadensbegriff bereitstellen kann.38 Die zwei hier zentralen Probleme sind die Erklärung von Lust als höchstes Ziel, und die qualitative Unterscheidung unterschiedlicher Arten von Lust.39 Dass sich dadurch kein für den ökonomischen Kontext angemessener Schadensbegriff bestimmen lässt, veranschaulichen die Schwierigkeiten, die sich aus beiden Annahmen – jeweils einzeln und kombiniert – ergeben. Denn Mill unterscheidet qualitativ zwischen geistigen und körperlichen Freuden, wobei die höhere Lust durch Anwendung qualitativ höherer, dem Menschen wesentlichen Fähigkeiten entstehen soll, die körperliche Lust aber im Wesentlichen nur tierische Lust sei. Geistige Freuden sind nach Mill den körperlichen aufgrund ihrer Beschaffenheit in einer Weise überlegen, die sie zu einer anderen Art von Lust macht.40 Diese inhaltliche Sicht auf die Beschaffenheit des menschlichen Wohlergehens entfaltet eine auf individueller wie systemischer Ebene zumindest für den wirtschaftsethischen Kontext äußerst problematische Normativität. Für den Einzelnen ergibt sich die moralische Forderung, seine mit den höheren Freuden verbundenen Fähigkeiten auszubilden. Deren Kultivierung sieht Mill als utilitaristische Tugend an.41 Angesichts dieser hedonistischen Idealvorstellung gelungenen menschlichen Lebens ist es für denjenigen, der beide Arten der Freude kennt, seiner Lust abträglich und damit letztlich schädlich, den als niedere kategorisierten Freuden nachzugehen, weil sie seine 38 Eine andere Frage ist die, ob der psychologische Hedonismus eine sinnvolle Vorstellung menschlicher Motivation ist. Harsanyi (vgl. 1982: 54) bestreitet dies: Menschen hätten auch andere als hedonistische Ziele und es sei nicht Aufgabe einer Moraltheorie, menschliche Ziele schon theoretisch zu beschränken. Jonathan Riley hingegen verteidigt Mills qualitativen Hedonismus (vgl. Riley 1993; 1999; 2008), auch in seiner psychologischen Form (vgl. Riley 1999: 357). Eine Diskussion der vielfältigen Kritik am qualitativen Hedonismus bietet Donner (vgl. 1991: 41 ff.). 39 Den von Mill gebrauchten Ausdruck „pleasure“ übersetzt Birnbacher (2010: 202 f.) mit „Freude“, „um dem Gedanken an rein sinnlichen Genuss zuvorzukommen“, aber verwendet synonym auch „Lust“ sowie „Wohlbefinden“ und „Befriedigung“. 40 Vgl. Mill 2010: 27 ff.; Mill 2013: 110 ff. Nach Gibbs (1986) ist es das zentrale Anliegen Mills bei der Einführung einer qualitativen Unterscheidung, mentale Freuden als den körperlichen als grundsätzlich überlegen auszuweisen (vgl. a.a.O.: 42). Allerdings seien die höheren Freuden zwar mit höheren Fähigkeiten verbunden, letztere seien aber nicht kausal ursächlich für erstere, sondern ein Konsens zwischen denjenigen, die beide Formen der Lust aufgrund von Erfahrung kompetent beurteilen können, lasse lediglich auf eine höhere Qualität schließen (vgl. a.a.O.: 46 f.). Eine weiterführende Frage ist dann, ob der qualitative Unterschied dazu führt, dass Lust höherer Qualität solche niedrigerer unabhängig von der jeweiligen Quantität immer überwiegt. Riley (vgl. 1993; 2003; 2008) vertritt diese Ansicht, während Gibbs (vgl. 1986: 49 f.) auf widersprüchliche Formulierungen bei Mill verweist und die Bedeutung der situativen Umstände für die Bevorzugung einer spezifischen Art der Lust betont. Schmidt-Petri (vgl. 2003, 2006) vertritt gegenüber Riley die Auffassung, aus der Wahl einer bestimmten Form der Lust trotz relativ geringerer Quantität lasse sich lediglich auf deren qualitative Höherwertigkeit schließen. 41 Vgl. Mill 2010: 33 f.
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill
93
geistigen Freuden beeinträchtigen.42 Und gesamtgesellschaftlich ergibt sich daraus, wenn ein möglichst lustvolles Leben als der Zweck allen Handelns angesehen wird,43 die normative Forderung, geistige Freude gegenüber körperlichen bevorzugt zu behandeln beziehungsweise körperliche durch geistige Lust zu ersetzen, wenn dies die Summe aller empfundenen Lust steigert. Diese doppelte Normativität begünstigt einen Relativismus substantieller Schädigungen. Denn wenn von unterschiedlichen Arten der Lust ausgegangen wird, dann müsste es auch einen wesentlichen Unterschied ausmachen, welche Art der Lust negativ getroffen wird, und die Verhinderung höherer Lust müsste eine wesentlich schwerwiegendere Schädigung (eine der qualitativ anderen Art) darstellen. Verstärkt wird dieses Problem noch dadurch, dass die relative Qualität der unterschiedlichen Arten von Lust sich nach dem Urteil derjenigen richtet, die aufgrund ihrer mit den höheren Fähigkeiten verbundenen Kompetenz dazu in der Lage sind.44 Zumindest im Falle von Uneinigkeit über den Wert unterschiedlicher Freuden erscheint bei Mill das Urteil derjenigen, die aus Erfahrung kompetent Urteilen können, unverzichtbar und entscheidend.45 Wer sollte auf diese Grundlage beurteilen können, ob im globalen Wirtschaftskontext eine Schädigung vorliegt? Der eigentliche Grund für den Relativismus liegt darin, dass menschliches Wohlergehen in basaler Hinsicht nicht mit dem Interesse an einem möglichst lustvollen Leben gleichzusetzen ist (siehe Kapitel 4). Die Forderung nach einem schädigungsfreien und nach einem möglichst lustvollen Leben liegen stattdessen auf zwei unterschiedlichen Ebenen individueller Lebensführung. Die Gründe dafür, den Schadensbegriff im ökonomischen Kontext nicht im Sinne des qualitativen Hedonismus zu verstehen, können nun auf zwei Gründe reduziert werden. Das minimalmoralische Ziel kann nicht in der Steigerung der höheren Gefühle liegen, weil erstens nicht plausibel gezeigt werden kann, wodurch sich diese Qualität objektiv bestimmen sollte. Müsste etwa jemand seine körperlichen Freuden oder sein körperliches Wohlergehen für geistige Freuden anderer opfern? Stünde das Bedürfnis nach einem abwechslungsreichen Speiseplan grundsätzlich hinter dem nach dem Besuch von Sportgroßveranstaltungen oder Opernbesuchen zurück? Wäre dies zudem wie von Mill vorgeschlagen die Mehrheitsmeinung der aus gesellschaftsstrukturellen Gründen als diesbezüglich urteilsfähig erachteten Personen, so wäre der 42
Vgl. Mill 2013: 111 f. Vgl. Mill 2010: 25, 37. 44 Vgl. a.a.O.: 29; 35; 38 f. 45 Vgl. Gibbs 1986: 48. Auch Donner (vgl. 1991: 158 f.) geht auf das Problem ein, dass sowohl für private wie öffentliche Entscheidungen ein gewisses Fähigkeitenniveau (bezogen auf Erfahrung) vorausgesetzt wird; bezogen auf den Bereich privater Entscheidungen ergebe sich daraus die Forderung zur Selbstentwicklung, bezogen auf öffentliche Entscheidungen die nach egalitärer Bildung. 43
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Vorwurf einer gewissen Illiberalität gegenüber verschiedenen Formen der Lebensführung46 an dieser Stelle berechtigt. Zweitens sind es eben nicht die positiven Gefühle der Akteure, die es zu sichern gilt, denn wie Amartya Sen nachdrücklich zeigt, sind Gefühle anpassungsfähig.47 Stattdessen ist ein „härteres“, objektiveres Kriterium für die Bewertung individuellen Wohlergehens notwendig (vgl. 4.1). An dieser Stelle wird eine weitere mögliche Interpretation des harm principle relevant. Diese deutet das Schadensprinzip bei Mill als eigentlich deontisch.48 In dieser Deutungsweise ist die zentrale Frage, die Mill in On liberty beantwortet, die nach den gerechtfertigten moralischen Verpflichtungen des Einzelnen durch die Gesellschaft. Dabei wird das gesellschaftliche Recht auf Kontrolle und Zwangsausübung als Recht zur Pflichtenauferlegung gedeutet.49 Gefragt werde also, welche Pflichten eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegen darf. Der qualitative Hedonismus wird hier dahingehend interpretiert, dass es relativ dauerhafte, „vitale“ Interessen gebe, die universale, d.h. allen Menschen zukommende, „zwangsbewehrte Rechte“ und entsprechende „vitale Schutzpflichten“ begründen. Diese Schutzpflichten würden auch aktive Besserstellungen beinhalten, sofern diese notwendig sind, um den moralischen Rechten einer Person zu entsprechen.50 Auch hier möchte ich nicht in eine tiefere Debatte über die beste Deutung des Mill’schen Schadensprinzips einsteigen und daher offenlassen, ob ein solch starker Pflichtenbegriff sich durch Mills Schadensprinzip beziehungsweise seinen Freiheitsbegriff decken lässt. Allerdings scheint Mills utilitaristische Sicht auf individuelle Rechte und Verpflichtungen mit dieser Deutung zu konfligieren.51 Die teleologische Argumentation Mills scheint dafür zu sprechen, dass die Verpflichtung auf Nichtschädigung bei ihm konsequentialistisch zu verstehen ist, wie auch die obige Darstellung der Verpflichtung durch die Gesellschaft als Folge gewährter individueller Schutzinteressen zeigt. Letztlich wäre aber auch durch eine deontische Deutung des harm principle der angemessene Schadensbegriff für den ökonomischen Kontext nicht ohne weitere Deutungen erkennbar, denn auch „vitale Schutzpflichten“ und die Pflichten zur Mitwirkung an deren institutioneller Sicherung52 sowie zur „Rücksichtnahme“53 sind für ökonomi46
Vgl. Birnbacher 2017:199 f. Vgl. z.B. Sen 1983: 160. 48 Vgl. Stepanians 2015. 49 Vgl. a.a.O.: 75 f. 50 A.a.O.: 76 f. 51 Vgl. Mill 2010: 159 f. „Ein Recht zu haben bedeutet demnach, etwas zu haben, das mir die Gesellschaft schützen sollte, während ich es besitze. Wenn nun jemand fragt, warum sie das tun sollte, kann ich ihm keinen anderen Grund nennen als die allgemeine Nützlichkeit.“ (A.a.O.: 61). 52 Stepanians 2015: 77. 53 A.a.O.: 81. 47
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sche Akteure nicht selbsterklärend. Außerdem wird für das Bestehen moralischer Rechte in obiger Deutung eine vorgängige Verpflichtung der Pflichtenträger vorausgesetzt.54 Für ökonomische Akteure ist aber gerade oft nicht klar, welche spezifischen situativen Pflichten bestehen, und die grundsätzliche Offenheit ökonomischer Handlungssituationen stellt ein Problem für Konzeptionen des Schadensprinzips dar, die auf klar bestehende Pflichten angewiesen sind (vgl. Kapitel 5). Der Versuch einer deontischen Deutung des harm bzw. liberty principle verweist also vor allem auf den wichtigen Umstand, dass das Schadensprinzip, weil und wenn es individuelle Freiheit sichern soll, auf deontische Elemente angewiesen ist, die in Mills Konzeption eine dafür unzureichende Beachtung finden. Ein Einwand könnte an dieser Stelle sein, dass sich die hier als zentral erachteten Schwierigkeiten des qualitativen Hedonismus durch eine regelutilitaristische Konzeption auflösen ließen. Insbesondere zwei Gründe sprechen aber dagegen: Erstens geht es im Regelutilitarismus um gute Regeln, und nicht um gute Einzelhandlungen,55 in dieser Arbeit aber um den individuellen und situativen Umgang mit „Ausnahmen“. Mithin um die Frage: Was ist vom Einzelnen Akteur gefordert, wenn allgemein gute Regeln nicht zu guten Ergebnissen führen würden? Statt allgemein guter Regeln geht es um Einzelhandlungen und um jeweils gute Folgen.56 Zweitens soll hier keine bestimmte umfassende Idee des Guten, wie etwa die des allgemeinen größten Glücks und die dafür dienlichen Regeln, zugrunde gelegt werden – Nichtschädigung ist kein moralisches Ideal. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es für die hiesige wirtschaftsethische Fragestellung ein entscheidender Vorteil des harm principle ist, dass es auf den Umgang mit vorhandenen gesellschaftlichen Voraussetzungen und gegenseitigen Schädigungspotentialen gerichtet ist und dabei von idealen Voraussetzungen auf allen relevanten Ebenen absieht. Recht und Moral als äußerer Druck für die Durchsetzung von Nichtschädigung sind bei Mill letztlich auch deshalb notwendig, weil immer die Möglichkeit besteht, dass die inneren Sanktionen der Handelnden aufgrund von Gewissenlosigkeit nicht greifen.57 Darüber hinaus bietet das harm principle Mills für den ökonomischen Kontext grundlegende strukturelle Hinweise, lässt aber gleichzeitig wichtige, vor allem inhaltliche Fragen offen. Zunächst wird die minimalmoralische Position durch den liberalen Zusammenhang gestärkt und gleichzeitig verdeutlicht: Die minimalmoralische Forderung nach gegenseitiger Nichtschädigung öko54 55 56 57
Vgl. a.a.O.: 77. Vgl. Pauer-Studer 2010: 67 f. Als Vergleich ließe sich hier die Idee der „Rights as Trumps“ (Dworkin 1984) anführen. Vgl. Mill 2010: 87 f.
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nomischer Akteure beinhaltet auch die Vermittlung unterschiedlicher Freiheitsinteressen auf Seiten des potentiellen Schädigers und des potentiell Geschädigten. Das harm principle ist ein konstruktiver Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines wirtschaftsethischen Schadensprinzips, weil es minimalmoralische Standards der Nichtschädigung mit einem großen Maß individueller Freiheit verbindet. Insofern kann gegenseitige Nichtschädigung ökonomischer Akteure auch als liberale, durch den Liberalismus selbst begründete moralische Forderung verstanden werden. Der zentrale und moralisch verbindliche Eingriffsgrund in die ökonomische Freiheit der Akteure ist drohender Schaden für andere.58 Kein Grund zur freiheitseinschränkenden Einmischung ist es hingegen, dass möglicherweis ein alternatives Verhalten als noch vernünftiger angesehen würde. Einer Konsumentin beispielsweise moralische Vorhaltungen zu machen, dass sie zwar moralisch unproblematische Produkte konsumiere, davon aber noch immer „unvernünftig“ viele oder nicht das unter moralischen Gesichtspunkten besonders gute Produkt erwirbt, wäre ebenso unangebracht, wie etwa einem Unternehmen moralisch vorzuwerfen, es würde über nichtschädigende Arbeitsbedingungen hinaus nicht noch zusätzliche Annehmlichkeiten bieten und stattdessen auf die Höhe der Produktionskosten abstellen. Mill thematisiert auch das Zufügen negativer Konsequenzen in Wettbewerbssituationen. Seine allgemeine Beschreibung hinzunehmender Wettbewerbsverluste und -niederlagen ist dabei sehr plausibel: In vielen Fällen bereitet jemand anderen in legitimier Sache notwendig – und darum rechtmäßig – Unannehmlichkeiten oder Verluste oder vernichtet eine berechtigte Gewinnchance. [….] Wer in überfüllten Berufen oder bei einer Staatsbeamtenprüfung Erfolg hat, wer beim Ringen um einen erstrebten Preis den anderen vorgezogen wird, dem winkt Erfolg aus dem Verlust der anderen, aus ihren vergeblichen Bemühungen und enttäuschten Hoffnungen. Aber wie jeder zugeben wird, ist es für die allgemeinen Belange der Menschheit besser, dass die Menschen unbekümmert um derlei Erwägungen ihrem Ziele nachjagen.59
Aus Perspektive wirtschaftsethischer Fragestellungen, die sich minimalmoralisch am Schadensprinzip orientieren, ist der Zusammenhang, den er spezifischer zwischen dem harm principle und ökonomischem Handeln herstellt, aber ambivalent. Einerseits sieht Mill „Handel“ als „soziale[n] Akt“ an.60 Andererseits findet sich hier aber die im ersten Kapitel kritisierte Normativität der Vorstellung ökonomischer Effizienz, denn Mill geht es vor allem um die 58 Auch Eingriffe zur Verhinderung der Selbstschädigung können unter Umständen gerechtfertigt sein, unterliegen aber höheren Rechtfertigungsanforderungen und sind insbesondere gegen Paternalismusvorwürfe zu verteidigen. 59 Mill 2013: 136. 60 Ebd.
3.3 Das harm principle bei John Stuart Mill
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Versorgungsvorteile des Freihandels.61 Das harm principle und Freihandel werden dabei explizit nicht miteinander verbunden: Wie das Prinzip der persönlichen Freiheit in der Lehre vom Freihandel nicht enthalten ist, so ist es auch in den meisten Fragen nicht zu finden, welche die Grenzen dieser Lehre betreffen, z.B. […] wieweit sanitäre Maßnahmen oder Schutzmaßregeln für die in gefährlichen Betrieben Beschäftigten dem Unternehmer aufzuerlegen seien. Solche Fragen schließen Betrachtungen über Freiheit nur insoweit ein, als es ceteris paribus stets besser ist, die Leute sich selbst zu überlassen, als sie unter Aufsicht zu stellen. Aber dass man sie rechtmäßig zu diesem Zweck kontrollieren kann, ist im Prinzip unbestreitbar.62
Dennoch scheint Mill, wie sich im letzten obigen Satz zeigt, auch die Einschränkung wirtschaftlicher Freiheiten mit dem Ziel der Nichtschädigung nicht auszuschließen. So ließe sich argumentieren, dass erstens das Problem von Schädigungen im ökonomischen Kontext aus Mills Perspektive nicht vorrangig erschien, und er stattdessen die Güterversorgung in den Fokus der moralischen Bewertung ökonomischen Handelns rückte.63 Zweitens lehnt Mill Beschränkungen von Produktion und Handel deshalb als „schlecht“ ab, „weil sie das gewünschte Ergebnis nicht hervorbringen.“64 Mit einer geänderten Sichtweise auf die „Ergebnisse“ bestimmter ökonomischer Handlungsweisen scheint dann unter Berufung auf Mill eine stärkere normative Kritik an diesen Praktiken, die zur Ausweitung des harm principle auf den Bereich ökonomischen Handelns führt, möglich. Offen sind nach der Beschäftigung mit Mills harm principle drei zentrale, zusammenhängende Fragen. Erstens ist bei Mill das Schadensprinzip darauf ausgelegt, individuelle Freiheit bestmöglich zu schützen. Dafür muss es zwischen individuellen Schutz- und Freiheitsinteressen vermitteln können. Dem gegenüber geht es hier im Zusammenhang wirtschaftsethischer Fragestellungen nicht um den bestmöglichen Schutz individueller Freiheit, sondern um den Schutz vor Schädigungen. Deshalb ist im Folgenden die Frage zu klären, wie genau das Schadensprinzip dann zu verstehen ist. Zwar könnte darauf scheinbar eindeutig geantwortet werden, dass mit dem Schadensprinzip als wirtschaftsethisches Prinzip die Verhaltensregel gemeint ist, (möglichst) nie61 Die „Lehre vom Freihandel“ skizziert Mill in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Heute […] hat man aber erkannt, dass man sowohl für die Billigkeit wie für gute Qualität der Gebrauchsgüter am wirksamsten sorgt, wenn man Herstellern und Verkäufern völlig freie Hand lässt, mit der Einschränkung allerdings, dass die Käufer gleich Freiheit haben zu kaufen, wo sie wollen.“ (A.a.O.: 136 f.). Vgl. a.a.O.: 137. 62 Ebd. (Hervorh. im Original). 63 Ein zentrales Anliegen Mills war die Beseitigung von Armut, und er war sehr zuversichtlich, dass dies durch geeignete gesellschaftliche Gestaltung und individuelles Handeln gelingen würde (vgl. a.a.O.: 47). 64 A.a.O.: 137.
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mandem Schaden zuzufügen. Inhaltlich ist diese Antwort aber nicht zufriedenstellend, weil damit immer noch offenbleibt, was es für ökonomische Akteure bedeuten sollte, Schaden nicht zuzufügen. Für den ökonomischen Kontext ergibt sich also zweitens die Fragen nach dem angemessenen Schadensbegriff und drittens die nach der Art der Verpflichtung ökonomischer Akteure auf Nichtschädigung.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips Für die oben als offen herausgestellten Fragen hinsichtlich des Schadensprinzips im ökonomischen Kontext lassen sich aus den Theorien einer jeweils auf Nichtschädigung gerichteten Minimalmoral Kurt Bayertz65 und Bernard Gerts66 wichtige Erkenntnisse gewinnen. Auf je eigene Weise machen beide Autoren den Schadenszustand für die Begründung des Prinzips gegenseitiger Nichtschädigung stark, und in beiden Konzeptionen wird eine Minimalmoral als konsensuales Ergebnis individueller Nichtschädigungsinteressen angenommen. Während Bayertz die Fremdschädigung und die damit verbundenen Übel zum argumentativen Ausgangspunkt nimmt, geht Gert davon aus, dass es die rationalen Interessen jedes Menschen sind, die dafürsprechen, gegenseitige Schädigungen zu unterlassen Im Folgenden möchte ich zeigen, dass beide Autoren den Schadenszustand mit prudentiellen intersubjektiven Forderungen verbinden, um so ein allgemeingültiges Schadensprinzip (Bayertz) beziehungsweise universale moralische Regeln (Gert) zu begründen, und dass es dieser letztlich auf Klugheitsargumenten beruhende Ansatz ist, der im ökonomischen Kontext nicht überzeugen kann. Zunächst werde ich Bayertz’ Theorie vorstellen und dafür argumentieren, dass die normative Wirkung dort eigentlich nicht vom Schadenszustand selbst, sondern vom realen gegenseitigen Einfordern nichtschädigenden Verhaltens herrührt. Daran anschließend werde ich darauf eingehen, welche Schwierigkeiten prudentieller Begründungen für den ökonomischen Kontext sich speziell an Bayertz’ Ansatz veranschaulichen lassen. Es ist hier zu betonen, dass Bayertz selbst seine Begründung des Schadensprinzips nicht als wesentlich prudentielle Begründung auffasst. In der Auseinandersetzung mit seinem Ansatz zeigt sich aber, dass dort dennoch Klugheitsgründe die entscheidenden Gründe für den Einzelnen darstellen, auf Fremdschädigung zu verzichten. Anschließend werde ich Gerts Begründung der moralischen Regeln vorstellen, die sich explizit auf Klugheitsargumente stützt, und in diesem Zusammenhang auch die wichtigen Erkenntnisse hervorheben, die die Klugheitsperspektive für das Schadensprinzip ökonomischer Akteure beisteuert. 65 66
Vgl. Bayertz 2014. Vgl. Gert 1993.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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Abschließend werde ich die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer prudentiellen Begründung der Nichtschädigungsverpflichtung ökonomischer Akteure thematisieren. 3.4.1 Kurt Bayertz: Nichtschädigung als gesellschaftliche Forderung Kurt Bayertz stellt für die Begründung gegenseitiger Nichtschädigung auf den intuitiv plausiblen Zusammenhang zwischen bestimmten, allgemeinen Übeln, die kein Mensch erleiden möchte, und entsprechenden allgemeinen Schutzinteressen ab. Sein Ansatz erscheint zunächst deshalb besonders überzeugend, weil er die Existenz allgemeinmenschlicher Übel als zentrales Argument für das Schadensprinzip anführt: Andere vor Schädigungen durch das eigene Verhalten zu bewahren – die „Minimierung anthropogener Schäden“67 – sei das, was Moral in ihrem Kern ausmacht. Alle Menschen seien sich gleich darin, dass sie weder getötet noch verletzt werden wollen, und darum sei dies auch minimalmoralisch gefordert.68 Für seine Konzeption des Schadensprinzips beansprucht Bayertz dann, dass sie jedem immer einen Grund liefere, sich moralisch zu verhalten: Wer sich nicht moralisch verhält, der riskiert oder verursacht Übel für andere.69 Diese moralischen Forderungen seien zwar moralisch verbindlich, gleichzeitig aber keine rigorosen moralischen Forderungen, weil sie inhaltlich auf ein Minimum beschränkt und von individuellen Moralvorstellungen abgegrenzt seien.70 Bayertz macht ein allgemeines Schädigungsverbot als minimalmoralischen Konsens aus, der sich historisch im Zuge sozialer Aushandlungsprozesse über die möglichen verbindlichen Moralstandards gebildet habe. Angesichts pluraler Wertvorstellungen bestehe die Minimalmoral der Nichtschädigung als verbindlicher Kern gegenseitiger Handlungserwartungen. Diese Erwartungen bildeten sowohl die Schnittmenge der unterschiedlichen Wertvorstellungen ab und könnten deshalb als Minimalmoral gelten; sie seien gleichzeitig aber auch die einzigen Standards, auf die eine allgemeinverbindliche Einigung noch möglich sei. Der Pluralismus an umfassenden Moralvorstellungen mache die Einschränkung des normativen Anspruchs der Moral auf die Minimalmoral notwendig.71 „Moral“ in diesem auf ihren Kern reduzierten Verständnis sei als Schutz aller anderen, vom individuellen Handeln betroffenen Personen zu verstehen; wer minimalmoralisch handelt, der handele fremdnützig, indem er alle anderen vor den besonders negativen Folgen des eigenen Handelns schütze.72 67 68 69 70 71 72
Bayertz 2014: 114. Vgl. a.a.O.: 114 ff. Vgl. a.a.O.: 246. Vgl. a.a.O.: 62. Vgl. a.a.O.: 34 ff., 115 ff.; Bayertz 2016a: 152 ff. Vgl. Bayertz 2014: 37 ff., 115.
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Als besonders plausibel herauszustellen ist hier, dass Bayertz die Minimalmoral strikt von individualmoralischen Vorstellungen trennt, denn minimalmoralisch geht es nicht um das gute Leben.73 Im Gegenteil, denn andere vor möglichen Schäden des eigenen Verhaltens zu schützen enthält Zumutungen an den Einzelnen. Nicht selten steht es im Widerspruch zu seinen privaten Motiven und zeichnet sich gerade durch eine unvermeidbare Spannung zum Selbstinteresse aus. Dennoch ist der Schutz vor Fremdschädigung moralisch gefordert.74 Außerdem betont Bayertz, dass ein Verzicht auf die Minimalmoral zugunsten persönlicher Moralvorstellungen nicht dazu führen würde, dass die moralischen Forderungen damit „menschenfreundlicher“ wären.75 Indem Bayertz auf die erlittenen Übel als Begründung für die Forderung nach Nichtschädigung abstellt, zeigen sich drei wichtige Eigenschaften auch eines wirtschaftsethischen Schadensprinzips. Erstens wird deutlich, dass die faktische Akzeptanz des Schadensprinzips durch die einzelnen Akteure bereits auf substantiellen Voraussetzungen aufbaut. Bayertz verweist darauf, dass das Schadensprinzip, wie er es konzipiert, keinen zwingenden Grund für moralisches Handeln liefern kann, weil es die Ankerkennung der normativen Relevanz gegenseitig verursachter Übel schon voraussetzt.76 Zweitens besitzt eine auf den Schadenzustand rekurrierende Begründung des Schadensprinzips für Akteure, die andere durch ihr Handeln nicht schädigen wollen, hohe intuitive Plausibilität. Drittens ist zwar kein Akteur gezwungen, sich nichtschädigend zu verhalten; ein Akteur, der die normative Relevanz von Fremdschädigung nicht sieht oder leugnet, kann dies natürlich praktisch tun. Er ist dennoch den moralischen Gründen, die für das Schadensprinzip sprechen, ausgesetzt. Auch ein Akteur, für den aus persönlicher Perspektive keine (moralischen) Gründe für den Verzicht auf Fremdschädigung vorliegen, wäre dennoch berechtigter moralischer Kritik (dem moralischen Sollen) ausgesetzt.77 Bayertz’ Argumentation lässt sich an dieser Stelle also folgendermaßen zusammenfassen: Wir können immer entgegen der moralischen Forderungen handeln und uns ihnen in gewisser Weise entziehen, indem wir sie als nicht relevant erachten. Wir können aber gleichzeitig nichts daran ändern, dass andere diese Forderungen berechtigterweise ans uns stellen. Und wenn wir das Zufügen gegenseitiger Übel als normativen Handlungsgrund anerkennen, dann folgt daraus, dass wir entsprechend handeln müssen. Außerdem ist jemand, der der Minimalmoral nicht folgt, sozialem wie moralischem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Bayertz geht also letztlich von einer gewissen Objektivität
73 74 75 76 77
Vgl. a.a.O.: 40. Vgl. a.a.O.: 50; 58 ff. A.a.O.: 61. Vgl. a.a.O.: 246. Vgl. a.a.O.: 69 f.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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der minimalmoralischen Forderungen aus, und um diese angenommene Objektivität wird es im Folgenden gehen. Angesichts der bisherigen Ausführungen und insbesondere seiner Betonung der normativen Wirkung der allgemeinmenschlichen Übel erscheint es naheliegend, dass sich diese Objektivität direkt aus dem Schadensbegriff ergibt. Wenn „moralisch sein“ für ihn heißt, anderen nicht zu schaden (und das ist ja Bayertz’ Minimalmoral), dann sagt Bayertz eigentlich, man solle anderen nicht schaden, eben weil man ihnen ansonsten schadet. Die normative Wirkung der Schädigungen scheint also vollends auf den Schadensbegriff angewiesen zu sein. Dieser ist bei Bayertz allerdings inhaltlich erstaunlich dünn: Als Übel gelten Tod, Verletzung und Betrug,78 und zwar verweist Bayertz auch auf „die elementaren Bedürfnisse und Interessen menschlicher Individuen“ sowie deren „Überleben“ und „Wohlergehen“,79 eine genauere inhaltliche Bestimmung bleibt aber aus. In Bezug auf die Objektivität des Schadensbegriffs macht Bayertz seine Argumentation von der Analogie zu „Grün“ abhängig: Dass etwas eine Schädigung und deshalb normativ relevant ist, könne ebenso wenig sinnvoll bestritten werden, wie, dass etwas Grünes grün ist. Gleichzeitig könnten dafür auch keine weiteren Argumente angeführt werden.80 Dieses Analogie-Argument ist aber in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens ist es nicht so, dass immer völlig klar wäre, ob eine Schädigung vorliegt. Dagegen spricht, dass Schädigungen mitunter nur bei genauerer Betrachtung der Konsequenzen für die Betroffenen sichtbar werden und nicht immer auf den ersten Blick von Schlechterstellungen zu unterscheiden sind. Ob etwa eine Entlassung auch eine Schädigung darstellt, ist nicht ohne weitere Kenntnisse der individuellen Situation des Betroffenen zu beurteilen. Die Frage, was für ökonomische Akteure damit gemeint ist, dass sie andere nicht schädigen sollen, müsste andernfalls einfach zu beantworten sein, was offensichtlich nicht der Fall ist. Zweitens ist es nicht so, dass neben dem Verweis auf das Vorliegen eines Schadens keine weiteren Argumente dafür angeführt werden könnten, dass es sich tatsächlich um einen solchen handelt. An dieser Stelle ist aber zunächst der erste Einwand entscheidend, dass es keineswegs immer offensichtlich ist, ob ein Schaden vorliegt, und dass deshalb auch mit dem Verweis auf eine „offensichtliche“ Objektivität von Schadenszuständen eine minimalmoralische Begründung des Schadensprinzips keine sehr überzeugende Begründung ist. Und tatsächlich wird die Objektivität der Minimalmoral in Bayertz’ Theorie eigentlich nicht durch den Schadensbegriff gewährleistet, sondern sozial konstruiert. Die moralische Verpflichtung des Einzelnen auf gegenseitige 78 79 80
Vgl. a.a.O.: 116, 120. A.a.O.: 246. Vgl. a.a.O.: 250 ff.
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Nichtschädigung führt Bayertz auf ein spezifisches „Wollen“ zurück,81 das sich auf zwei Ebenen verorten lässt, die ich im Folgenden als „Wollen I“ und „Wollen II“ bezeichne. Erstens soll das Wollen I als allgemeinmenschliches Wollen die Objektivität der Übel gewährleisten. Dabei muss eine Auswahl unter dem vielfältigen menschlichen Wollen möglich sein, um subjektive von objektiven moralischen Forderungen unterscheiden zu können. Welches Wollen objektiv in der Hinsicht ist, dass es minimalmoralische Relevanz besitzt, ergibt sich für Bayertz einerseits in Form des Wollen I aus dem, „was unter dem Begriff ‚menschliche Natur‘ zusammengefaßt werden kann.“82 Nicht getötet, verletzt oder betrogen werden zu wollen sind keine willkürlichen Forderungen, sondern grundlegende menschliche Bedürfnisse. Deshalb sind die entsprechenden Übel objektive Übel und bedeuten einen objektiven Schaden. Hier ist das Wollen zunächst noch so zu verstehen, dass es Ausdruck real existierender Bedürfnisse ist und deshalb auch das daraus folgende moralische Sollen eine reale Grundlage besitzt, weshalb die minimalmoralischen Forderungen jenseits der Bereitschaft einzelner Akteure, sich moralisch zu verhalten, dennoch an diese bestehen.83 Zweitens ist dieses menschliche Wollen aber objektiv aufgrund seiner sozialen Dimension. Mit „Objektivität“ ist hier eine unmittelbare, soziale Objektivität gemeint: Die moralischen Forderungen werden mit Druck an den Einzelnen herangetragen. Wenn die Minimalmoral einen Vorrang vor dem Selbstinteresse besitzt, indem sich der Einzelne den moralischen Forderungen auch durch Ignoranz nicht entziehen kann, dann ist dieser Vorrang ganz real zu verstehen: Im Zweifelsfall folgen soziale Sanktionen.84 Der Vorrang der Minimalmoral folgt für Bayertz „aus den sozialen Beziehungen zwischen den Menschen.“85 Dass alle Menschen in gleicher Weise fundamental verletzlich sind, führt dazu, dass sie tatsächlich voneinander einfordern, das Zufügen entsprechender Übel zu unterlassen. Insofern sollen wir anderen keine Übel zufügen, weil sie keine Übel zugefügt bekommen wollen. Das Sollen, das Bayertz als grundlegend für das Schadensprinzip ansieht, versteht er dabei als einen durch gegenseitige Handlungserwartungen formulierten Imperativ.86 Dieser wird innerhalb sozialer Interaktion bestärkt und bekräftigt, sodass es sich nicht um individuelles Wollen handelt, sondern um ein empirisches soziales und als solches institutionalisiertes Wollen.87 Für Bayertz stellt sich die Objektivität der gegenseitigen Nichtschädigungspflicht also als soziale Tatsa81 82 83 84 85 86 87
Vgl. Bayertz 2014: 111 ff.; Bayertz 2016a. Bayertz 2014: 119. Vgl. a.a.O.: 119 f. Vgl. a.a.O.: 120 ff. A.a.O.: 121 (Hervorh. NP). Vgl. a.a.O.: 242. Vgl. a.a.O.: 120; 2016a: 152.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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che dar; das fremde Wollen tritt dem Einzelnen als externe Handlungsaufforderung entgegen.88 Wenn Bayertz zur Verhinderung einer Partikularmoral in minimalmoralischen Fragen nach „einer kompromißlosen Begründung des Vorrangs der Moral vor dem Selbstinteresse“89 verlangt, dann ist damit die Notwendigkeit des sozialen Einforderns universalmoralischen Verhaltens gemeint. Die Minimalmoral besitzt Normativität dann, wenn sie soziale Normativität besitzt, wenn der Einzelne den sozialen Forderungen ausgesetzt ist. Somit ist der Nichtschädigungsimperativ der Minimalmoral bei Bayertz eigentlich „objektives“ Resultat des sozial vorhandenen gegenseitigen Einforderns der minimalmoralischen Verhaltensstandards. Nicht der Schaden selbst ist es, der hier normativ wirkt, sondern der soziale Druck entfaltet imperative Wirkung. Dass dieser Druck nicht wiederum willkürlich ist, wird durch die sozialen Prozesse gewährleistet, die die normativen Forderungen durchlaufen. Das Wollen changiert bei Bayertz also zwischen dem, was als allgemeinmenschliches Wollen im Sinne basaler Bedürfnisse gelten kann, und dem empirischen sozialen Wollen. Dabei stehen beide in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: Es gibt eine biologische Basis dafür, was das Wollen beinhalten kann; die gesellschaftlichen Prozesse ermöglichen aber auch ein Wollen, das über diese Basis hinausgeht.90 Die entscheidende Frage ist nun, ob bei Bayertz das Wollen I in seiner ersten, auf den Schadenszustand bezogenen Bedeutung auch ohne das Wollen II in der zweiten, sozialen Bedeutung bestehen könnte. Da Bayertz die Minimalmoral dezidiert von der individuellen Perspektive des Einzelnen ablöst,91 ist nicht ersichtlich, wie das individuelle Interesse an Nichtschädigung jenseits entsprechender sozialer Institutionen eine normative Rolle spielen sollte. Denn dass der Einzelne selbst nicht geschädigt werden will, scheint für Bayertz systematisch nicht relevant zu sein. Die Verbindung zwischen individuellem Wollen und Sollen spielt nur über die gesellschaftliche Dimension vermittelt und damit indirekt eine Rolle: Zum einen gibt das individuelle Nicht-Geschädigt-Werden-Wollen Aufschluss über allgemeine menschliche Übel, und zum anderen wirkt der Einzelne dadurch, dass er bestimmte Dinge nicht erleiden will, an der Institutionalisierung des Sollens mit (s.o.). So bleibt eine unplausible Lücke in Bayertz’ Ansatz dort, wo es um das eigene Wollen gegenseitiger Nichtschädigung geht. Warum sollte für den Handelnden nur das fremde, nicht aber gleichzeitig auch das eigene Wollen das Schadensprinzip begründen? Warum sollte das prudentielle Interesse an Nichtschädigung nicht direkt als Grund für die Anerkennung des Schadensprinzips dienen? Dass jede 88 89 90 91
Vgl. Bayertz 2014: 119 ff., 241 f. A.a.O.: 221 (Hervorh. im Original). Vgl. Bayertz 2016a: 155 ff. Vgl. a.a.O.: 152 ff.
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Person, die an der Vermeidung der objektiven Übel interessiert ist, unter Bedingungen etwa gleich verteilter Schädigungspotentiale auch einen direkten Grund hat, das Schadensprinzip als geeignetes Mittel zur Sicherung ihres eigenen Wohlergehens anzuerkennen, ist offensichtlich. Wenn die Tatsache, dass Menschen diese Übel nicht erleiden wollen, der entscheidende Grund dafür sein soll, andere nicht zu schädigen, dann ist unverständlich, dass Bayertz dieses Wollen nicht aus Perspektive der ersten Person in seine Begründung des Schadensprinzips einbezieht. Stattdessen scheint die Geltung der Minimalmoral davon abzuhängen, dass entweder innere oder äußere Sanktionen vorliegen, dass der Handelnde entweder seinem eigenen Gewissen oder sozialem Druck ausgesetzt ist. Dafür, dass wiederum der soziale Druck, das Drohen äußerer Sanktionen entscheidend ist, spricht, dass Bayertz die individuelle Verpflichtung auf Nichtschädigung wie beschrieben nur als „sekundär[e]“ Verpflichtung für möglich hält: „als ein von seinem Verpflichtetsein-durch-andere abgeleitetes Phänomen.“92 Indem der individuellen Klugheitsperspektive des Handelnden die entscheidende Rolle in Bayertz’ Ansatz zukommt, wird die Problematik des zunächst scheinbar bedeutungslosen eigenen Interesses an Nichtschädigung eingefangen: Es wäre angesichts des gesellschaftlichen Drucks einfach unklug, anderen zu schaden. Um zu sehen, warum man sich in Bayertz’ Konzeption an das Prinzip der gegenseitigen Nichtschädigung halten sollte, muss man nur annehmen, dass dies die klügste Strategie zur Verfolgung der eigenen Interessen ist. Demnach wäre es in Bayertz’ Theorie zwar so, dass vorgeblich das fremde Wollen der Grund dafür ist, andere nicht zu schädigen, dass aber eigentlich doch das Selbstinteresse an Nichtschädigung der entscheidende Grund dafür ist, dem sozial bedingten Imperativ zu entsprechen. Zwar meint Bayertz, dass eine moralische Handlung darin bestünde, sich vom Eigeninteresse zu distanzieren und im Interesse anderer zu handeln93 und betont zudem die Unmöglichkeit prudentieller Begründungen einer Universalmoral unter Bedingungen asymmetrischer sozialer Beziehungen.94 Diese Sichtweise steht aber nur scheinbar im Gegensatz zu einer prudentiellen Interpretation seines Ansatzes, denn „moralisches“ Handeln steht dort nur im Gegensatz zum direkten Selbstinteresse, nicht aber zum aufgeklärten, wohlverstandenen Eigeninteresse. Das Schadensprinzip lässt sich innerhalb von Bayertz’ Begründung widerspruchsfrei als zweckrationale Überlegung formulieren: „Man soll anderen nicht schaden, weil das unklug wäre.“ Bayertz’ Ansatz ließe sich damit letztlich am plausibelsten als eine Form des Ethischen Egoismus deuten, was wiederum zu neuen Widersprüchlichkeiten führt. 92 93 94
Bayertz 2014: 242. Vgl. Bayertz 2016b: 327. Vgl. Bayertz 2014: 217.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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Denn der Ethische Egoismus verpflichtet das Individuum, für sich selbst das beste Ergebnis herbeizuführen. Werden dabei die Interessen anderer gefördert, so geschieht dies nur als Mittel im Zuge des eigenen Vorteilsstrebens.95 Der Ethische Egoismus ist keine Beschreibung von Verhalten oder Charakter einzelner Akteure, setzt also nicht voraus, dass Einzelne sich tatsächlich so verhalten, sondern eine ethische Theorie, die besagt, dass der eigene Vorteil die Grundlage für die Urteile und Handlungen jedes Menschen sein sollte. Diese prinzipielle Verfolgung des eigenen Vorteils verlangt vom moralisch Handelnden, für sich selbst die besten Folgen anzustreben, und auch die moralischen Urteile andere betreffend am eigenen Vorteil auszurichten. So müssten moralische Konfliktsituationen stets zum eigenen Vorteil hin aufgelöst werden. Das bedeutet zwar zum einen, dass er nicht im Widerspruch steht zu selbstlosem Handeln als Strategie. Zum anderen erfolgt das Berücksichtigen fremder Interessen aber nicht mit dem Ziel, diese zu schützen, sondern ist das Ergebnis eigennütziger Kalkulationen.96 Daraus ergeben sich drei wesentliche Schwierigkeiten des Ethischen Egoismus. Erstens ist das prinzipielle Verfolgen des eigenen Vorteils angesichts der realen Umsetzungsmöglichkeiten selbstwidersprüchlich. Denn um wirklich wollen zu können, dass jeder stets seinen eigenen Vorteil anstrebt, müsste es so etwas wie eine natürliche Harmonie der individuellen Interessen geben. Sofern die Empirie diese aber widerlegt, enthält der Ethische Egoismus in der Realität einen „Widerspruch im Wollen“.97 Wenn es nicht stimmt, dass das prinzipielle Vorteilsstreben des Einzelnen den Interessen aller anderen entspricht, dann kann nicht jeder den Ethischen Egoismus wollen. Vielmehr würde der Ethische Egoismus zu schlechten Konsequenzen führen und tut es auch immer wieder, wenn Einzelne nach ihm handeln. Zweitens kann der Schaden selbst nicht als externer Grund gelten, d.h. sofern er nicht vom Handlenden bzw. Schädigenden selbst anerkannt wird, scheint es moralisch unproblematisch zu sein, andere zu schädigen. Um überhaupt moralische Signifikanz zu haben, muss eine mögliche Schädigung dem Handelnden selbst moralisch wichtig sein, womit die normative Bedeutung von Schädigungen von seiner subjektiven Einschätzung abhängig gemacht wird. Wenn ein Arbeitgeber etwa einfachhin meint, es sei für arbeitende Kinder besser, zu arbeiten, als auf den – wenn auch möglicherweise sehr geringen – Lohn aus dieser Arbeit verzichten zu müssen, dann wird er vielleicht Kinderarbeit auch als moralisch unproblematisch ansehen und damit einen paradigmatischen Schädigungsfall gar nicht als solchen erkennen. Und drittens unterscheidet der Ethische Egoismus auf unzulässige Weise zwischen den eigenen und fremden Interessen, indem er die 95 96 97
Vgl. Rachels 2007: 214. Vgl. Frankena 2017: 19 ff. A.a.O.: 20.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Interessen der ersten Person als objektiv wichtiger darstellt. Es gibt aber kein überzeugendes Kriterium, um einen kategorialen Unterschied zwischen den Interessen unterschiedlicher Personen (den eigenen und denen anderer) plausibel zu begründen.98 Der Ethische Egoismus gebietet prinzipiell kluges Handeln und gerade darin unterscheidet er sich von der Moral.99 Dass in einer Entscheidungssituation die prudentielle Perspektive und die moralische Perspektive zu konträren Handlungsempfehlungen kommen können, zeigt David Copp am Beispiel des Gyges:100 Gyges is a shepherd in the service of the king of Lydia. One day he discovers a magic ring that makes him invisible when he twists it a certain way on his finger. Using the ring to become invisible at crucial times, Gyges commits adultery with the queen, attacks the king with her help, kills the king, and takes over the kingdom.101
Nach Copp, der Platons Darstellung etwas erweitert, war der Königsmord in Gyges’ Selbstinteresse, weil sein Leben danach viel besser war, als es als Hirte je hätte sein können; gleichzeitig war der Mord moralisch falsch.102 Dieses Beispiel zeigt, dass im Einzelfall fehlende Sanktionierung unmoralischen Verhaltens nichts daran ändert, dass Moral gesollt ist. Gyges darf ebenso wenig töten wir jeder andere. Es ist gerade die Differenz zwischen Selbstinteresse und Moral, die das Beispiel so gut illustriert. Individuelles Handeln ökonomischer Akteure im Sinne des prinzipiellen, unreflektierten Verfolgens des eigenen Vorteils stellt aufgrund dieser Differenz ein ernsthaftes wirtschaftsethisches Problem dar. 3.4.2 Begründungsschwierigkeiten des sozial bedingten Sollens Bayertz’ Theorie des Schadensprinzips ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie zeigt wesentliche Aspekte des Schadensprinzips auf, beinhaltet aber Schwierigkeiten, die sich im ökonomischen Kontext zu grundsätzlichen Problemen verstärken. Zunächst ist die These Bayertz’ hervorzuheben, „daß die Wünsche und das Wollen konkreter Individuen den Boden bilden, aus dem das moralische Sollen erwächst.“103 Diese Verbindung als kausal anzusehen, 98
Vgl. Rachels 2007: 219 f. Vgl. Frankena 2017: 21. Mit dieser Kritik ist selbstverständlich nicht gemeint, dass Moral unkluges Verhalten fordern würde; vielmehr ist die Vereinbarkeit mit Selbstinteresse ein zentrales Anliegen. 100 Copp bezieht sich auf die Beschreibung des Gyges-Mythos in Platons Der Staat. Ich werde mich hier auf die Wiedergabe der Darstellung Copps beschränken; seine Argumentation lässt sich so besonders einfach nachvollziehen. 101 Copp 2007: 286 f. 102 Vgl. a.a.O.: 287. 103 Bayertz 2014: 112. 99
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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unterstreicht zudem, dass das Rationalitätsmodell der ökonomischen Theoriebildung zumindest keinen umfassenden Anspruch auf Handlungsgründe besitzen kann.104 In diesem ganz allgemeinen Sinn des gegenseitigen Wollens der Nichtschädigung ist Bayertz’ Perspektive wichtig für wirtschaftsethische Fragestellungen, weil sie den Blick dafür öffnet, dass es auch in ökonomischen Beziehungen ein spezifisches wechselseitiges Wollen gibt. Wirtschaftsethische Theoriebildung könnte insofern auch als Explikation der wechselseitigen Forderungen verstanden werden. In dieser allgemeinen Deutung sind Bayertz’ Ausführungen zum Abgleich beider Wollens-Ebenen (Wollen I und Wollen II in der obigen Darstellung) als soziale Lernprozesse aufschlussreich, weil sie darauf hinweisen, dass auch objektive moralische Forderungen kontextsensitiv sind,105 worauf ich in den beiden folgenden Kapiteln ausführlich eingehen werde. Die entscheidende Frage ist aber, ob Bayertz’ Theorie im ökonomischen Kontext das selbstformulierte Ziel einlösen kann, „das Minimum dessen“ aufzuzeigen, „was den Individuen als verpflichtend auferlegt ist.“106 Dass dem nicht so ist, liegt einerseits daran, dass der Schadensbegriff nicht so selbstevident ist, wie Bayertz annimmt, und andererseits an den verschiedenen Facetten des Grundproblems, dass er das individuelle Sollen als Entsprechung des sozialen Wollens konstruiert. Ein inhaltlich schwacher Schadensbegriff wie der von Bayertz führt im ökonomischen Kontext zu gleich mehreren Problemen. Erstens ist es mit Bayertz’ Konzeption nicht möglich, den unterschiedlichen moralischen Status ökonomischer Akteure zu berücksichtigen. Denn weder „Tod“ noch „Verletzung“ stellen für Unternehmen einen Schaden dar. Natürlich gibt es Gründe dafür, die Existenz oder die Größe einzelner Unternehmen sichern zu wollen, aber diese Gründe sind auf die Ansprüche der mit ihnen verbundenen Personen zurückzuführen. Auf diese Zusammenhänge werde ich in den beiden folgenden beiden Kapiteln ausführlich eingehen. Um erkennen zu können, ob die betroffenen Personen einen Schaden erleiden, ist zweitens ein Differenzierungskriterium zwischen Schlechterstellungen und Schädigungen notwendig. Dafür ist eine inhaltlich dünne Auffassung von Übeln, wie sie sich bei Bayertz exemplarisch findet, nicht ausreichend. Denn jemand kann in Bayertz Ansatz getötet, verletzt oder betrogen werden, oder eben nicht. Entgegen dieser inhaltlich wenig differenzierten Sichtweise ist es erstens durchaus möglich, jemandem dauerhaft geringfügige, dennoch in der Summe nicht schwerwiegende negative Konsequenzen zuzufügen, die ihn
104 105 106
Vgl. Bayertz 2016b. Sehr überzeugend zeigt dies Sen (2017), vgl. dazu auch Neuhäuser (2013). Bayertz 2014: 41.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
zwar schlechterstellen, aber nicht schädigen.107 Drittens gibt es vor allem im ökonomischen Kontext Schäden, die von einem solch dünnen Schadensbegriff gar nicht erfasst werden, weil sie nicht sinnvoll unter „Tod“, „Verletzung“ oder „Betrug“ zu subsumieren sind, wie etwa das Zahlen sehr niedriger Löhne oder das Verhindern von Arbeitnehmervertretungen. Zudem gibt es Schädigungen, die auf eine inhaltliche Ausdeutung von „Überleben“ und „Wohlergehen“ angewiesen wären. Das wird beispielsweise deutlich an der Situation eines Arbeitnehmers, der durch seinen Lohn zwar sein Überleben sichern kann, nicht aber die basalen Voraussetzungen des eigenen Wohlergehens. Ein viertes, mit dem wenig substantiellen Schadensbegriff verbundenes Problem ist die Orientierung am status quo. Jeweils gilt als Übel nur eine Verschlechterung gegenüber dem Ausgangszustand, nicht aber ein Abweichen von einer substantiellen Wohlergehensposition. Gerade die individuelle Position relativ zu einer absoluten Position der ausreichenden materiellen Versorgung ist aber für den wirtschaftsethischen Schadensbegriff zentral. Schädigungen können auch in der Verhinderung einer Besserstellung bestehen. So ist es möglich, jemandem einen Lohn zu zahlen, den er zuvor gar nicht erhielt, und ihn insofern gegenüber dem Ausgangszustand besserzustellen, und ihn trotzdem dadurch zu schädigen, dass der Lohn zu niedrig ist, um sein Wohlergehen zu sichern. Schädigungen werden im Zuge einer Reduktion auf Schlechterstellungen im Vergleich zum Ausgangszustand also nicht richtig aufgefasst, weshalb die damit einhergehende Beschränkung auf negative Pflichten (auf ein Unterlassen von Schlechterstellungen gegenüber dem Ausgangszustand) inadäquat ist. Zumindest für wirtschaftsethische Fragestellungen ist eine differenzierte Sichtweise auf Schädigungen notwendig, als Bayertz’ Ansatz sie ermöglicht. Um im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlichem Wettbewerb und persönlichen Konsequenzen einzelner Marktteilnehmer Aussagen über die moralische Dimension einzelner Folgen machen zu können, und um dabei Idealismus in einer der beiden in Kapitel 2 kritisierten Varianten zu vermeiden, muss ein substantiell stärkerer Schadensbegriff zur Verfügung stehen. Dieser würde auch der problematischen Rolle des sozialen Drucks für das Schadensprinzip in Bayertz’ Theorie entgegenwirken. Denn ein sozial bedingtes Sollen ist nicht geeignet, in den Beziehungen ökonomischer Akteure einen gegenseitigen Nichtschädigungsimperativ zu begründen. So hängt das Herausbilden des gesellschaftlichen Imperativs der Nichtschädigung von sozialen 107 Sich im Wettbewerb gegenüber einem einzelnen Mittbewerber besonders anzustrengen und diesem den Wettbewerb besonders schwer zu machen, mag für diesen unangenehm und eine Schlechterstellung gegenüber anderen Mitbewerbern und einem fiktiven status quo ohne diese individuellen Bedingungen sein; sofern ihm keine ernsthaften Konsequenzen drohen, entsteht für ihn dennoch kein Schaden. Dabei sind auch die Motive des Mitbewerbers, sich besonders anzustrengen, irrelevant. Die Absicht, es einem bestimmten Mitbewerber schwerer als anderen zu machen, führt noch nicht zu Schädigungen.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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Beziehungen ab, die für Interaktionen zwischen Individuen eng genug sind, um die Handlungserwartungen mit ausreichend starkem sozialem Druck aneinander herantragen zu können. Ökonomische Beziehungen sind aber indirekter als andere soziale Beziehungen, sie sind oft anonym und marktwirtschaftlich vermittelt. Zudem können sie in hohem Maße asymmetrisch sein. Ökonomische Akteure sind mit sehr unterschiedlichen Ressourcen ausgestattet und verfügen über sehr unterschiedliche Verhandlungspositionen.108 Ökonomische Beziehungen unterscheiden sich damit wesentlich von den zwischenmenschlichen Beziehungen, die Bayertz für den gesellschaftlichen Konsens über Fremdschädigung und deren Vermeidung voraussetzt.109 Zugleich sind die Handlungserwartungen im ökonomischen Kontext international sehr unterschiedlich. Was in einzelnen Ländern und Regionen als Schädigung aufgefasst wird, mag andernorts als bloße Schlechterstellung gelten. Die Voraussetzung des sozialen Wollens für das individuelle Sollen birgt so die Gefahr des Kulturrelativismus und Irrtums über moralische Verpflichtungen. Denn dass Forderungen nach Nichtschädigung nicht erhoben werden, könnte als Argument dafür dienen, die Allgemeingültigkeit des Schadensprinzips in Zweifel zu ziehen und zu meinen, (bestimmte) Mitglieder einiger Kulturen „wollten“ entweder nicht vor Übeln geschützt werden, oder sie wären für sie gar keine Übel. So könnte die in der Kakaoproduktion und dem Kobaltabbau verbreitete Kinderarbeit als moralisch unproblematisch missverstanden werden, weil die Familien durch den Einsatz von Kindern als Arbeitskräften in gewisser Hinsicht, nämlich bezogen auf das verfügbare Familieneinkommen, bessergestellt werden. Und zudem könnte der Einzelne nicht für sich (unabhängig von gesellschaftlichen Normen) fordern, nicht geschädigt zu werden, wenn sein eigenes Interesse an Nichtschädigung immer erst gesamtgesellschaftlich formuliert und adressiert werden müsste. Allgemeiner gesprochen besteht die Gefahr, dass dort, wo die soziale Institution des Nicht-Geschädigt-Werden-Wollens in Form sozialen Drucks als Voraussetzung für das Sollen fehlt, auch gar kein Sollen zu bestehen scheint. Denn welche Möglichkeiten hätte ein Einzelner in dieser Sichtweise, schädigende Strukturen anzuprangern? Dabei scheint Bayertz davon auszugehen, dass der moralische Kern (die Minimalmoral) empirisch hinreichend unstrittig ist, um die individuelle Perspektive zugunsten der sozialen Perspektive zu schwächen. An Bayertz’ Begründung eines minimalmoralischen Schadensprinzips zeigen sich damit drei zentrale Schwierigkeiten. Erstens führt ein weitgehender Verzicht auf die inhaltliche Deutung von Übeln dazu, dass die normative Wirkung der erlittenen Schädigungen nicht die systematische Rolle beanspruchen 108 109
Vgl. Suchanek 2015a: 3, siehe hierzu auch Fn. 79, Kap. 2. Vgl. Bayertz 2016a: 157 f.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
kann, die ihr eigentlich zusteht. Die im Schadenszustand selbst liegenden Gründe sind substantiell stärker als von Bayertz angenommen. Zweitens steht die moralische Bedeutung, die Bayertz dem sozialen Sollen zuspricht, in Widerspruch zum evaluativen Charakter des Schadensprinzips bei Mill, wo es ja gerade gerechtfertigten von ungerechtfertigtem sozialem Druck unterscheiden sollte, und macht zugleich moralischen Irrtum möglich. Drittens spielt die Perspektive des Handelnden eine unplausible normative Rolle, weil sie entweder gar nicht direkt mit dem Schadensprinzip verbunden ist, wie Bayertz selbst angibt, oder in der Interpretation des Ethischen Egoismus die oben beschriebenen Probleme mit sich bringt. Plausibler wäre es deshalb, das allgemeine Wollen und das individuelle Sollen nicht als jeweilige Gegenstücke aufzufassen, sondern das individuelle Sollen als begründet sowohl durch das eigene als auch das fremde Wollen. 3.4.3 Bernard Gert: Nichtschädigung als rationale Strategie Eine bei Bayertz offen geblieben Möglichkeit wäre es, die Gründe des Einzelnen für den Verzicht auf Schädigungen als Rationalitätsgründe zu verstehen, die die Klugheitsperspektive über den Ethischen Egoismus hinaus erweitern. Bernard Gert bietet eine Theorie darüber an, wie das Bestehen moralischer Regeln als rational in einem nicht mit dem Selbstinteresse identischen Sinne verstanden werden kann. Ein angemessenes Rationalitätsverständnis sei die beste Erklärung für die moralischen Regeln, die er als bereits existenten festen Kern diverser umfassender Moralvorstellungen voraussetzt.110 Gert geht es nicht darum, auf rationale Weise allgemeinverbindliche moralische Regeln zu identifizieren, sondern darum, bestehende moralische Regeln zwischenmenschlichen Verhaltens (als) rational zu erklären.111 Die Ausgangslage ist somit in gewisser Hinsicht die gleiche wie die bei Bayertz, insofern auch Gert von einem faktischen minimalmoralischen Konsens ausgeht. Dabei verzichtet er dezidiert auf die Suche nach prinzipiellen Nichtschädigungsgründen.112 Stattdessen möchte er zeigen, dass die von ihm angeführten moralischen Regeln das rationale Interesse jedes Menschen an der Vermeidung der gleichen Übel widerspiegeln.113 Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der Versuch, moralische Regeln als Klugheitsregeln verständlich zu machen, wiederum wichtige Fragen bezüglich dieser Regeln aufwirft. Dafür werde ich kurz auf sein Rationalitätsverständnis und die moralischen Regeln, die Gert als gerechtfertigt vorschlägt, eingehen; aufschlussreich ist aber vor allem die darauf aufbauende Auseinandersetzung mit der „rationalen“ Perspektive auf 110 111 112 113
Vgl. Gert 1983. Vgl. a.a.O.: 29. Vgl. a.a.O.: 12. Vgl. a.a.O.: 116 ff.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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moralische Regeln. Mit diesem verbunden ist ein spezifisches Verständnis des öffentlichen Befürwortens, das die Möglichkeit offenlässt, zwar offiziell für moralische Regeln einzutreten, diese aber heimlich systematisch zu brechen – damit also „Klugheitslücken“ für die einzelnen Akteure lässt. Aufbauend auf der Kritik an Bayertz’ Begründungsansatz möchte ich anhand der „rationalen“ Begründung bei Gert zeigen, dass sich das Schadensprinzip für ökonomische Akteuren nicht als Klugheitsregel verstehen lässt. Um zu zeigen, dass es für jeden die gleichen Rationalitätsgründe für die gleichen moralischen Regeln gibt, führt Gert rationale Überzeugungen und irrationale Bedürfnisse an. Die rationalen Überzeugungen lassen sich als Grundannahmen über die gegenseitige Verletzbarkeit in zentralen Aspekten menschlichen Lebens zusammenfassen. Rationale Überzeugungen lauten etwa: „Der Mensch ist sterblich, er kann von anderen Menschen getötet werden, und er möchte im allgemeinen nicht getötet werden.“ Oder: „Die Menschen möchten im allgemeinen die Freiheit und die Chancen haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und es ist möglich, daß einige Menschen andere ihrer Freiheit und ihrer Chancen berauben.“114 Irrationale Bedürfnisse wiederum sind die Bedürfnisse danach, getötet zu werden, Leid zugefügt zu bekommen, in seinen Chancen und Fähigkeiten beschnitten zu werden, oder sich selbst der eigenen Lust zu berauben. Wer nach einem der genannten Bedürfnisse um ihrer selbst willen handelt, wer beispielsweise Leid zugefügt bekommen oder eigener Fähigkeiten beraubt werden möchte, einfach um des Bedürfnisses selbst willen, der handelt – pathologische Fälle ausgenommen – irrational.115 Dass diese Bedürfnisse wirklich irrational sind, sehen wir letztlich daran, dass sie gemeinhin als irrational bewertet werden.116 Weiter meint Gert nun, über die Irrationalität dieser Bedürfnisse die menschlichen Übel objektiv bestimmen zu können, nämlich als die Gegenstände dieser irrationalen Bedürfnisse. Übel sind für ihn also genau das, was alle rationalen Menschen – Menschen mit rationalen Überzeugungen – vermeiden möchten.117 Und die moralischen Regeln spiegeln das rationale Interesse jedes Menschen an der Vermeidung dieser gleichen Übel wider, indem sie dazu geeignet sind, das Erleiden eben dieser Übel zu verhindern. Die moralischen Regeln bilden, angefangen beim Tötungsverbot, den gesamten Bereich allgemeinmenschlicher Übel ab.118 Den Inhalt der moralischen Regeln sieht Gert darin, Schlechtes zu vermeiden. Damit möchte er die Probleme lösen, die er in einer Verbindung von moralischen Regeln mit der Förderung des Guten in utilitaristischer Perspektive sieht. Statt mit dem höchsten Gut müssten die moralischen Regeln mit den 114 115 116 117 118
A.a.O.: 52 f. Vgl. a.a.O.: 60 ff. Vgl. a.a.O.: 68. Vgl. a.a.O.: 77 f. Vgl. a.a.O.: 176.
112
3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
größten Übeln befasst sein.119 Den irrationalen Bedürfnissen und den rationalen Überzeugungen entsprechend stellt Gert folgende 10 moralische Regeln auf: 1. Du sollst nicht töten. 2. Du sollst keine Schmerzen verursachen. 3. Du sollst nicht unfähig machen. 4. Du sollst nicht Freiheit und Chancen entziehen. 5. Du sollst nicht Lust entziehen. 6. Du sollst nicht täuschen. 7. Du sollst Deine Versprechen halten. 8. Du sollst nicht betrügen. 9. Du sollst dem Gesetz gehorchen. 10. Du sollst Deine Pflicht tun.120 Hier ist erstens festzuhalten, dass mit dem Berauben von Fähigkeiten ein zentraler Schadensaspekt121 von Gerts moralischen Regeln aufgegriffen wird, der in Gerts Ansatz dann aber keine weitere Rolle spielt. Und zweitens ist der passive Charakter dieser Regeln zu betonen: Meist könnten sie ohne zu handeln befolgt werden, weil es sich um Verbote handelt, die darauf abstellen, Schlechtes zu vermeiden. Deshalb sei es für den Einzelnen meistens nicht schwierig, die Regeln zu befolgen.122 Gert möchte die moralischen Regeln zwar als rationale Regeln erklären, moralisches Handeln ist bei ihm aber keine rationale Forderung in einem starken Sinne: Rationalität fordert nicht moralisches Handeln. Es ist nicht irrational, unmoralisch zu handeln, denn der Wunsch, Übel zu vermeiden, bezieht sich nur auf das Individuum und die ihm Nahestehenden, an deren Wohl ihm gelegen ist. Es ist durchaus möglich, dass ein rationaler Mensch denjenigen, an deren Wohlergehen er nicht persönlich interessiert ist, ohne Grund Übel zufügen möchte.123
119
Vgl. a.a.O.: 33. A.a.O.: 176. Den Inhalt der einzelnen Regeln und der Regeln in ihrer Gesamtheit werde ich hier nur insofern thematisieren, wie er zum besseren Verständnis der Rationalitätsbegründung und zur Anwendungsproblematik der Regeln und ihrer Begründung im ökonomischen Kontext von Interesse ist. 121 Hierauf gehe ich noch ausführlich ein, siehe Abschnitt 4.1.3. 122 Vgl. Gert 1983: 107 f. 123 Vgl. a.a.O.: 74. „Wir stimmen überein, daß man keinen Grund braucht, um nach irgendwelchen Bedürfnissen zu handeln, es sei denn nach einem Bedürfnis, das die Aufgabe wichtigerer Interessen erforderte oder gegen das Selbstinteresse verstoßen würde. Somit sehen wir es als rational erlaubt an, daß ein Mensch andere verletzt, bloß weil er dazu Lust hat. Wir modifizieren diese ausgesprochen egoistische Theorie der Rationalität lediglich in der Weise: es ist nicht irrational, anderen zu helfen, auch wenn man sich damit selbst Schaden zufügt.“ (A.a.O.: 74 f.). 120
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
113
Der argumentative Kern Gerts ist, dass genau die oben aufgeführten Regeln jeden rationalen Menschen effektiv vor den Übeln schützen, vor denen er geschützt sein möchte, beziehungsweise vor denen er die ihm Nahestehenden geschützt wissen möchte.124 Hier kommen die Klugheitsgründe auch für die Begrenzung des Geltungsbereiches der moralischen Regeln ins Spiel. Denn moralische Handlungsanforderungen verallgemeinern zu können, heißt für Gert, sie jederzeit jedem gegenüber umsetzen zu können und aus rationalen Gründen an ihrer jederzeitigen allgemeinen Umsetzung interessiert zu sein. Der Einzelne bewertet potenzielle moralische Regeln aus seiner individuellen Perspektive heraus, und ist an Regel interessiert, die ihn in seiner Lebensführung nicht übermäßig einschränken. Verallgemeinerbar in diesem Sinne sind für Gert deshalb nur moralische Regeln, die das Unterlassen bestimmter Handlungen fordern, nicht aber moralische Ideale, die er als die auf aktives Handeln des Einzelnen ausgeweiteten Inhalte der moralischen Regeln versteht: Während die moralischen Regeln fordern, das Zufügen von Übeln zu vermeiden beziehungsweise zu unterlassen, zielen die moralischen Ideale darauf, Übel zu verhindern.125 Übel nicht zuzufügen und Übel zu verhindern sind für Gert also erstens zu unterscheiden und zweitens nicht gleichermaßen moralisch verbindlich, obwohl beide Handlungsweisen auf die Minderung von Übeln zielen. Aufgrund ihres aktiven Charakters sind die moralischen Ideale nicht jederzeit gegenüber jedem umzusetzen und deshalb nicht rational verbindlich. Gert trennt strikt zwischen der universalen Forderung, das Zufügen von Leid zu unterlassen, und der Förderung allgemeinen Wohlergehens, das kaum einem Einzelnen möglich und deshalb nicht Teil der moralischen Regeln ist.126 Verallgemeinerbarkeit moralischer Handlungsanforderungen knüpft Gert also an die Forderung jederzeitiger praktischer Umsetzbarkeit in dem speziellen Sinne, dass jeder jederzeit das allgemeine Wohl fördern beziehungsweise jedwede Übel verhindern (können) müsste. Dass nur die moralischen Regeln moralisch verbindlich sind, liegt bei Gert somit eigentlich nicht daran, dass sie einen substantiellen Kern moralischer Ansprüche schützen würden, sondern daran, dass nur sie seinen speziellen Rationalitätsanforderungen unterliegen – dass nur sie für sie die Klugheitsgründe gelten, die Gert als ausschlaggebend ansieht. Damit zusammenhängend möchte ich im Folgenden zeigen, dass Gert ein spezielles Verständnis öffentlichen Befürwortens vertritt, das dazu führt, dass „Klugheitslücken“ in Form moralischer Schlupflöcher entstehen; insbesondere im ökonomischen Kontext sind diese so groß, dass sie die rationale Begründung selbst konterkarieren.
124 125 126
Vgl. a.a.O.: 116 ff. Vgl. a.a.O.: 179. Vgl. a.a.O.: 109 f.
114
3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Dass Gert die moralischen Regeln wesentlich als Klugheitsregeln konzipiert, wird besonders deutlich durch sein Verständnis dessen, was es bedeutet, moralische Regeln im öffentlichen Diskurs zu vertreten. In einer Welt, in der die Menschen sich gegenseitig Übel zufügen können – in der die Menschen die eingangs erwähnten rationalen Überzeugungen besitzen – sei für jeden Menschen durch das öffentliche Befürworten der Einhaltung diese allgemeinmenschlichen Übel vermeidenden Regeln der wirksamste Schutz der eigenen Person und der Nahestehenden vor Schädigungen zu erreichen. Weil es Übel gibt, die keine rationale Person grundlos erleiden möchte, ist es für alle rational, öffentlich zu fordern, niemand solle ungerechtfertigt Übel zugefügt bekommen. Für Gert nehmen die Akteure dann die moralische Einstellung ein, wenn sie öffentlich die allgemeine Einhaltung der moralischen Regeln und damit den Verzicht auf das gegenseitige Zufügen von Übeln fordern – die moralische Einstellung ist mithin die, die öffentlich vorgetragen wird.127 Diese rationale Erklärung der moralischen Regeln zeigt, warum der einzelne Akteur ein Interesse an der allgemeinen Geltung dieser Regeln hat, und dass es für ihn die beste Strategie ist, sich öffentlichkeitswirksam für die allgemeine Einhaltung dieser Regeln auszusprechen. Was sie aber nicht sagt, ist, dass es für jeden einzelnen Akteur auch rational wäre, sich selbst immer an die moralischen Regeln zu halten. Nur das öffentliche Einfordern und Vertreten der moralischen Regeln ist rational in diesem speziellen Sinne gefordert. Es wäre aber deshalb nicht irrational im prudentiellen Sinne, nicht moralisch zu handeln. Zunächst ist dieser Schluss unspektakulär und auch nicht problematisch, sofern er sich auf die Unterscheidung zwischen einem guten und einem moralischen Leben bezieht. Allerdings liegt hier auch der Kern des Problems einer „rationalen“ Begründung der moralischen Regeln: Rationalität spricht auf praktischer Ebene sowohl für als auch gegen die moralischen Regeln. So geht Gerts Theorie eigentlich noch einen Schritt über die bloße Unterscheidung des moralischen und des rationalen Verhaltens hinaus, indem das Brechen der moralischen Regeln rational sein kann, während gleichzeitig die moralischen Regeln ebenfalls nur durch Rationalität abgesichert sind. Sofern die Wahrscheinlichkeit, dass eigene Verstöße gegen die moralischen Regeln entdeckt werden, hinreichend gering ist, oder auch die Sanktionen, die in diesem Fall zu befürchten sind, so schwach ausfallen, dass sich ein Regelverstoß angesichts der zu erwartenden Gewinne zu lohnen scheint, kann es rational sein, die Regeln nicht einzuhalten. Mehr noch: Es kann eine rationale Strategie sein, die Einhaltung der moralischen Regeln zwar nach außen hin – öffentlichkeitswirksam – zu befürworten, sie aber systematisch jedes Mal zu brechen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.
127
Vgl. a.a.O.: 140 f.
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Ein Verständnis moralischer Regeln als Klugheitsregeln ist hier verbunden mit einem Verständnis des öffentlichen Diskurses als Teil des eigenen Vorteilsstrebens. Das öffentliche Befürworten wird zweckrational gedeutet und nicht als Mechanismus zur Überprüfung der eigenen Argumente für oder gegen eine bestimmte Handlungsweise. Letztlich geht es um Selbstschutz, nicht aber um ein Interesse an der moralisch richtigen Position als solche. Weder die moralische Einstellung noch das öffentliche Befürworten implizieren, dass niemand aus moralischen Gründen geschädigt werden sollte. Besonders gut wird dies dadurch illustriert, dass Gert zu Plausibilisierung seiner Ansicht über den Zusammenhang zwischen Rationalität und dem Inhalt der moralischen Regeln das Bedürfnis, Blumen abzureißen, inhaltlich gleichsetzt mit dem Bedürfnis, andere Menschen zu schädigen: Für beides seien in gleicher Weise keine Gründe erforderlich.128 Die Frage nach dem „Warum“ des moralischen Handelns lautet denn auch rein prudentiell: Übel für andere besitzen normative Wirkung allein dadurch, dass und nur insofern es unklug wäre, andere zu schädigen, weil dadurch das eigene Risiko, geschädigt zu werden, zunimmt.129 Der Zustand des Geschädigten spielt dagegen keine normative Rolle: Dieser taucht nicht als Person mit moralischen Rechten auf, sondern nur als Restriktion im Klugheitskalkül des Handelnden. Bevor ich die in Auseinandersetzung mit Bayertz’ Theorie begonnene Kritik an einer Klugheitsbegründung moralischer Regeln ökonomischer Akteure im folgenden Abschnitt vertiefe, gilt es hier zunächst, wichtige Hinweise für wirtschaftsethische Fragestelllungen festzuhalten, die sich aus Gerts Begründung ebenfalls ergeben. Zunächst ist moralisches Handeln für Gert weder das Handeln gemäß noch entgegen dem Selbstinteresse: Es sollte unmittelbar klar sein, daß die Moral nicht immer fordern kann, gegen das Selbstinteresse zu handeln. So viele Handlungen in unserem Selbstinteresse fallen aus dem Bereich der Moral heraus, daß diese Auffassung nicht einmal plausibel ist. Und selbst wenn unsere Handlungen unter eine moralische Regel oder ein moralisches Ideal fallen, mag es in unserem Selbstinteresse sein, moralisch zu handeln.130
Nicht selten stehen die moralischen Regeln zudem im Gegensatz zu den individuellen Bedürfnissen und Interessen der einzelnen Personen.131 Auch von Bayertz wurde moralisches Handeln ja bereits als potentielle „Zumutung“ charakterisiert, weil es vom Einzelnen verlangt, seine situativen Bedürfnisse zurückzustellen. Damit lässt sich für ökonomische Akteure die intuitive Plausibilität sowohl ökonomischer als auch moralischer Gründe einfangen: Es er128 129 130 131
Vgl. a.a.O.: 73. Vgl. a.a.O.: 263 f. A.a.O.: 278. Vgl. a.a.O.: 106.
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scheint gleichzeitig nachvollziehbar, dass etwa das Zahlen möglichst niedriger Löhne dem Selbstinteresse von Unternehmen entspricht, und dass dem aus moralischer Perspektive Grenzen gesetzt sind. Große Plausibilität besitzt darüber hinaus die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Graden moralischer Verbindlichkeit, wie sie sich bei Gert in der Unterscheidung zwischen rational geboten und rational erlaubt, zwischen moralischen Regeln und moralischen Idealen, und bei Bayertz mit der Unterscheidung zwischen Moral im weiteren und im engeren Sinne finden. Weil sich die moralischen Regeln bei Gert auf einen Kernbereich menschlicher Schutzinteressen beschränken, ein Großteil der menschlichen Bedürfnisse aber nicht mit den moralischen Regeln konfligiert, ist es oft in moralischer Hinsicht unproblematisch, wenn jeder tut, was er möchte.132 Damit ist nicht alles, was Menschen tun, moralisch relevant, was ja auch die Ausgangsposition des harm principle bei Mill war. Sie können auf eine beliebige Weise handeln, ohne dass dies den moralischen Regeln widerspräche, denn die moralischen Regeln sind gar nicht von der Entscheidung für oder gegen eine Handlungsoption betroffen. Konsumentscheidungen etwa sind moralisch nicht relevant, sofern andere dadurch nicht geschädigt werden, selbst wenn es andere Optionen geben mag, die Einzelnen aus zusätzlichen Gründen als vorzugswürdig – etwa als besonders vernünftig – erscheinen. Ebenfalls wichtig ist Gerts Hinweis darauf, dass moralische Regeln, um effektiv wirksam sein zu können, Ausnahmen haben müssen. In bestimmten Situationen können moralische Regeln gebrochen werden, ohne dass dieses Brechen der Regeln unmoralisch wäre.133 In Ausnahmefällen wäre das Festhalten an den Regeln sogar unmoralisch.134 So kann es in moralischen Dilemmasituationen gefordert sein, vergleichsweise geringere Schädigungen in Kauf zu nehmen, damit noch größere ausbleiben. In Kapitel 4 (vgl. 4.2) werde ich darauf eingehen, wie sich das Schadensprinzip wirtschaftsethisch als moralische Regel darstellt, und in Kapitel 5 (vgl. 5.3.2) auf den Umgang mit solchen Ausnahmesituationen. Die irrationalen Bedürfnisse, die Gert nennt, können zudem als substantieller Hinweis darauf verstanden werden, dass in basaler Hinsicht große Übereinstimmung zwischen den Bedürfnissen aller Menschen und deren Bedeutung für das eigene Wohlergehen herrscht. Dass es irrational wäre, grundlos getötet werden zu wollen, Schmerzen zu erleiden oder der eigenen Freiheit und Chancen beraubt zu werden, erscheint schon intuitiv plausibel. Die Wohlergehensposition, in der sich ökonomische Akteure befinden müssen, um nicht geschädigt zu sein, lässt sich aber überzeugender substantiell begrün132 133 134
Vgl. a.a.O.: 65 f. Vgl. a.a.O.: 106. Vgl. a.a.O.: 135.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
117
den als über das Ausweisen irrationaler Bedürfnisse (hierauf werde ich im folgenden Abschnitt noch eingehen). Aus einem „rationalen“ Verständnis der moralischen Regeln ergibt sich somit eine Art Doppelbefund zum Verhältnis der rationalen und moralischen Handlungsanforderungen an ökonomische Akteure. Einerseits sind viele ihrer Handlungen aus minimalmoralischer Perspektive als moralisch neutral zu bewerten. Sie können dann auch allein deshalb als rationale Handlungen verstanden werden, weil individuelle Gründe für sie vorliegen. Andererseits sind aber viele der Handlungen, die als „ökonomisch rational“ (d.h. als moralisch unproblematisch aufgrund ökonomischer Vorgaben und entsprechender Kosten-Nutzen-Kalkulationen) erscheinen mögen, eigentlich moralisch hoch relevant, nämlich jedes Handeln, das in den Bereich moralischer Regeln fällt. 3.4.4 Zentrale Schwierigkeiten prudentieller Begründungen des Schadensprinzips Abschließend möchte ich nun die Positionen Bayertz’ und Gerts als prudentielle Begründungen für den Verzicht auf Fremdschädigung rekapitulieren, und dabei die zentralen Schwierigkeiten dieser Sichtweise im ökonomischen Kotext herausstellen. Von beiden Autoren werden die Interessen des Einzelnen, keine Übel zu erleiden, für ihre jeweilige Begründung des faktischen Verzichts auf gegenseitige Schädigung stark gemacht. Obwohl nicht immer explizit, bauen beide Theorien dabei in je eigener Weise letztlich auf Klugheitsargumenten auf. Das zeigt sich deutlich daran, dass die allgemeinmenschlichen Übel für sie nur Klugheitsgründe liefern, und die moralische Perspektive und eine normative Wirkung der Übel als solche fehlt. Insbesondere unter den allgemeinen Umständen, die bei Bayertz und Gert vorausgesetzt werden, mögen Klugheitsgründe allerdings tatsächlich oft für nichtschädigendes Verhalten sprechen. In wirtschaftsethischer Perspektive ergeben sich daraus jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Zunächst besitzen ökonomische Akteure keine weithin geteilten „rationalen Überzeugungen“, wie Gert sie voraussetzt. Sie müssen nicht von in etwa gleichem gegenseitigen Schädigungspotential ausgehen. Deshalb ist es nicht realistisch, davon auszugehen, dass ein effektives soziales Sollen Fremdschädigung im ökonomischen Kontext verhindert. Vor allem aber ist es für ökonomische Akteure oft gar nicht die klügste Strategie, zur Verfolgung ihres eigenen Vorteils das Vermeiden gegenseitiger Übel öffentlich einzufordern. Deshalb führt der Ethische Egoismus im ökonomischen Kontext gar nicht zuverlässig zum sozialen Sollen der Nichtschädigung. Im Gegenteil, es kann unter Umständen rational sein, gegen das Bestehen moralischer Verantwortlichkeit zu argumentieren, um sich selbst mehr Handlungsfreiheit durch das Abwehren moralischer Handlungsanforderungen und der
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
damit verbundenen Einschränkungen zu verschaffen. Gert und Bayertz gehen beide von einem Konsens zwischen Personen aus, die sich gegenseitig in vergleichbarer Weise schädigen können, und die sich selbst und die ihnen Nahestehenden schützen wollen. Beide Annahmen treffen auf ökonomische Akteure in ihrer Gesamtheit aber nicht zu. Für sie ist es nicht immer vorteilhaft, das Prinzip oder die Regel des gegenseitigen Nichtschädigens (öffentlich) zu vertreten. Wenn die moralischen Regeln als faktischer Konsens zwischen rationalen Personen verstanden werden, ist zudem nicht klar, welcher Status Akteuren zukommt, die die vorausgesetzten rationalen Fähigkeiten nicht besitzen. Für Gert scheinen diese Fähigkeiten die Voraussetzung dafür zu sein, um direkt moralisch berücksichtigt zu werden.135 Dies legt zum einen seine Formulierung nahe, dass derjenige, der aufgrund fehlender Fähigkeiten zur moralischen Urteilsbildung in seinen Handlungen auch nicht moralisch beurteilt werden könne, „außerhalb des Bereichs der Moral“ stehe.136 Zum anderen spricht die Deutung des rationalen Konsenses als Klugheitskonsens dafür, dass derjenige, der nicht zu reziproken Schädigungen fähig ist – der, wenn er selbst geschädigt wird, darauf nicht mit Vergeltung reagieren würde oder könnte – nicht als Teil des Konsenses aufgefasst würde.137 Die einzige Möglichkeit der Berücksichtigung scheint die als indirekter Risikofaktor zu sein, indem die rationalen Konsenspartner davon ausgehen müssten, dass seine Schädigung das Risiko von Vergeltungsmaßnahmen durch Dritte erhöht. Wer selbst nicht Teil der „rationalen“ Gemeinschaft ist, wäre in dieser Perspektive auf den Schutz anderer angewiesen. Das lässt die Möglichkeit der Einigung mächtiger Akteure auf Schädigungen strukturell schwacher Akteure offen, sofern von diesen keine reziproken Schädigungen zu erwarten sind. Unternehmen mit großer Marktmacht könnten sich etwa einig sein, dass das Zahlen möglichst geringer Löhne unter Wettbewerbsbedingungen moralisch unproblematisch ist, während den betroffenen Arbeitnehmern nichts anderes übrigbliebe, als die Bedingungen zu akzeptieren oder die Arbeitsstelle nicht anzutreten, ohne dass sie in der Lage wären, die Unternehmen dadurch in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Eine weitere wichtige Frage ist die, welche Möglichkeit in beiden Ansätzen bestünde, moralischen Irrtum zu erkennen. In der Auseinandersetzung mit Bayertz wurde diese Problematik bereits angesprochen. Dabei hat sich gezeigt, dass ein starker Anspruch an die moralische Richtigkeit der historischen und sozialen Filterprozesse besteht. Dies trifft insbesondere für Gert zu, indem dieser gerade auf ein Schadensprinzip verzichtet, und stattdessen nur auf individuelle Klugheitsgründe abstellt. Angesichts der realen Gegebenheiten 135 136 137
Vgl. a.a.O.: 40 ff. A.a.O.: 41. Vgl. van Luijk 1992: 168 f.
3.4 Prudentielle Begründungen des Schadensprinzips
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hätten diese zur Herausbildung der moralischen Regeln geführt. Da Gert die Kriterien für moralische Regeln aus als bestehend angenommenen Regeln herleitet,138 wäre es ohne Kenntnis dieser Regeln gar nicht möglich, zu wissen, was moralisch verbindlich gefordert ist. Im ökonomischen Kontext besteht allerdings gerade Unklarheit darüber, welches überhaupt die verbindlichen moralischen Regeln sind. Hier von vorhandenen Standards auf gültige moralische Regeln schließen zu wollen, wäre aufgrund der kontextuellen Besonderheiten noch schwieriger als in den allgemeineren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen, die Bayertz und Gert voraussetzen. Wenn das soziale Wollen dem individuellen Wollen der Nichtschädigung einzelner Akteur widerspricht, etwa weil ein Konsens zwischen (vielen) einflussreichen ökonomischen Akteuren über eine bestimmte Handlungsweise besteht, die andere Akteure, die ohne reale Einflussmöglichkeiten auf die Herausbildung des sozialen Wollens sind, schädigt, dann ist nicht zu sehen, wie die strukturell schwächeren Akteure ihre berechtigten Forderungen in Bayertz’ oder Gerts Theorie effektiv erheben könnten. Zwar spricht Bayertz dieses Problem an, indem er betont, dass die eine Partikularmoral sich nicht ohne weiteres zu einer Universalmoral entwickeln lässt, und insbesondere nicht unter Bedingungen asymmetrischer sozialer Beziehungen.139 Dieses Problem stellt sich aber insbesondere im ökonomischen Kontext, und dort nicht als Ausnahmefall – und gerade deshalb ist es so wichtig, dass einzelne ökonomische Akteure ihre moralischen Forderungen individuell und potentiell im Widerspruch zu vorhandenen, faktisch geltenden moralischen Standards formulieren können. Klugheitsgründe und moralischer Irrtum bedingen sich für ökonomische Akteure mitunter gegenseitig, wie sich mit Gert zeigen lässt. Denn hier bestünde die einzige Möglichkeit, den Irrtum zu erkennen, darin, die irrationalen Überzeugungen als falsch auszuweisen. Für wesensmäßig unterschiedliche ökonomische Akteure ergeben sich aber unterschiedliche rationale Überzeugungen, denn sie haben voneinander sehr unterschiedliches Gefährdungspotential zu erwarten. Auf der Rationalitätsebene, wie Gert sie beschreibt, gäbe es dann ökonomische Akteure, für die bestehende „moralische“ Regeln als die genau richtigen erscheinen, und sie hätten aus ihrer prudentiellen Perspektive auch keinen Grund, diese Regeln zu hinterfragen. Insgesamt zeigt sich, dass das Schädigungspotential ökonomischer Akteure zwar für minimalmoralische Standards spricht, dass Klugheitsgründe für diese Standards aber nicht hinreichend sind. Denn es ist nicht irrational im Sinne von unklug, unmoralisch zu handeln. Im Gegenteil: es kann besonders klug sein, öffentlich moralische Regeln zu befürworten und sie zum eigenen Vorteil zu brechen, wann immer dies lohnend erscheint. Ein großes, international 138 139
Vgl. Gert 1983.: 29 ff. Vgl. Bayertz 2014: 215 ff.
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agierendes Unternehmen könnte beispielsweise die Einhaltung nichtschädigender Produktionsstandards öffentlich befürworten, vielleicht sogar im Zuge einer Selbstverpflichtung, und dennoch diese Standards immer dann unterschreiten, wenn ökonomische Gründe dafürsprechen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass dieser Regelbruch entdeckt und soweit öffentlich wird, dass dem Unternehmen daraus ernsthafte negative Konsequenzen erwachsen würden. So kann das Heucheln eine rationale Strategie sein; gerade das ist es aber nicht, was wir suchen, wenn wir nach moralischen Regeln fragen. Die Schwierigkeit besteht dabei nicht darin, dass es klug sein kann, das Festhalten an moralischen Standards vorzutäuschen – das kann es zweifelsohne sein. Natürlich ist es plausibel, dass aus Klugheitsperspektive ein Unterschied besteht zwischen dem öffentlichen Befürworten und der tatsächlichen Bereitschaft, die befürworteten Regeln auch umzusetzen. Das zeigt aber nur, dass die rationale als prudentielle Perspektive nicht die richtige Perspektive auf die moralischen Regeln erlaubt: Auch dann, wenn keine Sanktionen drohen, ist moralisches Handeln gefordert. Die eigentliche Schwierigkeit der prudentiellen Perspektive liegt darin, dass eine Grundlage dafür fehlt, die Strategie moralischen Heuchelns moralisch zu verurteilen, weil auch die Moral dort ja auf Klugheitsgründen aufbaut. Es kommt letztlich nicht darauf an, ob moralisches Handeln im Eigeninteresse der Akteure liegt. Für einige Akteure mag das manchmal oder sogar oft zutreffen, für andere vielleicht sehr selten. Weil der eigentliche Grund, moralisch zu sein, aber nicht in den Interessen des Handelnden, sondern in den fremden Übeln liegt, könnte es (oft) klug sein, (generell) moralisch zu handeln – daraus ergäbe sich noch nicht, dass darin die primäre Begründung für moralisches Handeln liegt. Einen letzten Punkt, der im Folgenden eine wichtige Rolle spielen wird, möchte ich hier noch kurz deutlich machen, weil er einen letzten wichtigen Gegensatz zu den Theorien Gerts und Bayertz’ bildet. Die mit einem wirtschaftsethischen Schadensprinzip verbundenen Regeln sind moralische Regeln für das Handeln ökonomischer Akteure. Als solche besitzen sie keinen passiven Charakter, d.h. sie können nicht schon durch das Unterlassen von Handlungen befolgt werden. Vielmehr besteht die Anwendung der moralischen Regeln für ökonomische Akteure oft darin, zwischen mehreren Handlungsoptionen eine auszuwählen. Spätestens an dieser Stelle ist nicht mehr klar, worin der signifikante Unterschied zwischen dem Vermeiden und dem Verhindern von Übeln bestehen sollte. Stattdessen müssen die moralischen Regeln mindestens im ökonomischen Kontext auch das Verhindern von Übeln beinhalten, wenn sie schlechte Konsequenzen effektiv entgegenwirken sollen. Eine moralische Unterscheidung von Verhindern und Vermeiden baut auf einer Unterscheidung von Tun und Unterlassen auf, die nicht relevant sein kann,
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext
121
wenn es um die Folgen von Handlungen für andere geht. Diese Position werde ich im nächsten Abschnitt weiter begründen. Gegenüber Bayertz und Gert möchte ich also die These vertreten und im Folgenden plausibilisieren, dass schlechte Konsequenzen zu verhindern auch ein aktives Verhindern von Übeln erfordert, und dass Übel nur in einem minimal guten Zustand verhindert sind. Diese Interpretation baut auch darauf auf, dass die bestimmende Unterscheidung im Verbindlichkeitsgrad der moralischen Regeln und weiteren, persönlichen moralischen Idealen nicht die zwischen einem Konsens über Übel und einem Konsens über eine umfassende Vorstellung des Guten ist. Beide Autoren sehen das Schadensprinzip beziehungsweise die moralischen Regeln auf die Vermeidung von Übeln als minimalmoralische Forderung beschränkt. Diese Beschränkung soll jeweils dem rationalen Pluralismus umfassender Moralvorstellungen Rechnung tragen. Insbesondere Gert geht davon aus, dass es universale Einigkeit nur darüber geben kann, was für Menschen schlecht ist.140 Es ist aber möglich, auch zwischen einem Konsens über das minimal Gute und einem über das Guten im umfassenden Sinne zu unterscheiden. Im folgenden Kapitel werde ich argumentieren, dass sich auch unter nicht-idealen Bedingungen ein minimaler Konsens darüber plausibilieren lässt, was gut ist: nämlich menschliches Wohlergehen. Für diesen minimalen Konsens ist keine umfassende Vorstellung des Guten notwendig.
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext Joel Feinberg diskutiert das Schadensprinzip im strafrechtlichen Kontext. Diese Diskussion steuert in mehrfacher Hinsicht wichtige Erkenntnisse für die Konzeption eines wirtschaftsethischen Schadensprinzips bei. Erstens zeigt Feinberg, dass das Schadensprinzip, um anwendbar zu sein, immer kontextspezifisch gedeutet werden muss. Zweitens zeigt er, dass eine Schädigung in den Schadenszustand und die Schädigungshandlung aufzugliedern ist. Nur so lässt sich erkennen, was eine Schädigung kontextspezifisch ausmacht. Drittens stellt er die zentrale Bedeutung von Wohlfahrtsinteressen für den Schadenszustand heraus. Viertens zeigt Feinberg überzeugend, dass mit dem Fokus auf den Schadenszustand, also die Konsequenzen einer Schädigung, die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen keinen wesentlichen normativen Unterschied beinhaltet. Fünftens zeigen diese Ausführungen und die Spezifizierung des Schadensprinzips im rechtlichen Kontext, wie sie sich in wichtigen substantiellen Aspekten von den Anforderungen des ökonomi140
Vgl. Gert 1983: 114.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
schen Kontextes unterscheidet. Dadurch wird noch einmal konkretisiert gezeigt, dass es nicht möglich ist, wirtschaftsethische Fragestellungen allein durch Bezug auf den Rechtsrahmen zu beantworten. Deshalb werde ich im Folgenden Feinbergs Konzeption des Schadensprinzips einerseits als wichtigen Ausgangspunkt für ein wirtschaftsethisches Schadensprinzip, und andererseits als exemplarisch für die rechtstheoretische Perspektive auf Schädigungen behandeln. Dafür werde ich zunächst auf die fundamentale Bedeutung des Schadenszustandes in Feinbergs Schadensprinzip eingehen und dabei zeigen, inwiefern dieser mit der Verletzung von Interessen und insbesondere von Wohlfahrtsinteressen zusammenhängt. Daran wird auch deutlich, dass es für eine Schädigung nicht auf die Frage ankommt, ob jemand durch Tun oder Unterlassen mit den schädigenden Konsequenzen ursächlich verbunden ist. Anschließend werde ich auf Feinbergs Schädigungsbegriff eingehen, der die kontextspezifische Kritik einleitet. Abschließend werde ich die entscheidenden theoretischen wie praktischen Differenzen des rechtlichen und des wirtschaftsethischen Kontextes herausstellen. 3.5.1 Schadenszustand und Interessensverletzungen Feinbergs Betrachtungsweise erlaubt einen differenzierten Blick auf den Schadensbegriff, indem er einerseits mehrere, kontextspezifische Schadensformen unterscheidet, und indem er andererseits den Schadenszustand und die Schädigungshandlung getrennt voneinander bewertet. Aus beiden Differenzierungen ergeben sich bei ihm ein spezifisches Schadensverständnis und -prinzip. Dabei geht Feinberg davon aus, dass der Zustand, in den jemand durch eine Schädigung versetzt wird (oder in den versetzt zu werden ihm droht), zentraler Bezugspunkt des Schadensprinzips sein muss. Die Zustandsbewertung selbst ist auch unabhängig von den damit kausal zusammenhängenden Handlungen. Ob jemand sich in einem Schadenszustand befindet, hängt nicht davon ab, wie er in diesen gelangt ist. Wer jemanden schädigt, der verursacht bei diesem einen „schadhaften“ Zustand („harmed condition“), oder riskiert diesen zumindest.141 Dieser Zustand zeichnet sich wesentlich durch die ernsthafte Beeinträchtigung von Interessen aus, die mit dem Wohlergehen der Person zusammenhängen. Eine geschädigte Person erfährt die negative Beeinflussung von Zuständen und Dingen, an denen sie im Zusammenhang mit ihrem eigenen Wohlergehen ein Interesse hat.142 Um zu beurteilen, ob sich jemand in einem solchen Zustand befindet, sind also die betroffenen Interessen des Akteurs zentral. „Interessen“ versteht Feinberg grundsätzlich so, dass sie 141 142
Feinberg 1987: 31. Vgl. a.a.O.: 33 f.
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext
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menschliches Wohlergehen maßgeblich beeinflussen. Interessen sind für ihn „distinguishable components of a person’s well-being: he flourishes or languishes as they flourish or languish.“143 Interesse an etwas zu haben, bedeutet demnach, dass die eigene Lebensführung davon betroffen ist. So führt das Schadensprinzip Feinbergs zu einer Ausgangsfrage zurück, die bei Mill und auch aus prudentieller Perspektive offengeblieben war, nämlich zu der nach den schädigungsrelevanten Interessen ökonomischer Akteure. Feinberg argumentiert, dass das starke Beeinträchtigen von Interessen zwar einerseits als deren „Verletzung“ bezeichnet werden kann, weil dadurch der moralische Aspekt hervorgehoben wird, dass andererseits diese Bezeichnung aber wenig zum substantiellen Verständnis des Schadenszustandes beiträgt. Analytisch könnten die relevanten Beeinträchtigungen von Interessen besser und im Wesentlichen synonym als „Zurücksetzen“, „Konterkarieren“, „Vereiteln“, „Ver“- oder „Behindern“ beschrieben werden.144 Feinberg selbst verwendet vor allem die Bezeichnung des „Zurücksetzens von Interessen“ beziehungsweise spricht von „zurückgesetzten Interessen“ („set back interests“). Eine genauere begriffliche Betrachtung zeigt dann zweierlei: Erstens wiesen die beeinflussten Interessen bereits vor der fraglichen Einflussnahme eine eigenständige Entwicklung auf. Wer Interessen zurücksetzt, der greift demnach in einen Verlauf ein. Zweitens verweisen alle diese Bezeichnungen auf eine Art Referenz- oder Schwellenwert, relativ zu dem die Beeinflussung stattfindet.145 Um auszumachen, welchen Interessen eine besondere Bedeutung für das individuelle Wohlergehen jeder Person zukommt, greift Feinberg auf die Vorstellung eines Interessennetztes („net of interests“) zurück. Die Interessen jeder Person seien auf eine bestimmte, zwar individuelle aber zugleich in ihrem strukturellen Zusammenhang allgemeingültige Weise geordnet.146 So hat jeder Mensch ein übergeordnetes Interesse an seinem eigenen allgemeinen Wohlergehen, aus dem sich wiederum sehr unterschiedliche individuelle Interessen an bestimmten Dingen und Zuständen ergeben.147 Das individuelle Selbstinteresse am eigenen Wohlergehen versteht Feinberg dabei als eine Art Hintergrundinteresse. Dieses wird nicht direkt, sondern über die Erfüllung weiterer, aus dem allgemeinen Wohlergehensinteresse abgeleiteter Interessen angestrebt. Wenn jemand ein Interesse an etwas hat, dann deshalb, weil es ihm die Erfüllung seiner grundlegenden Bedürfnisse und damit verbundenen Interessen ermöglicht.148 143 144 145 146 147 148
A.a.O.: 34. A.a.O.: 51 ff. (Übers. NP). A.a.O.: 53 f.; 136 ff. A.a.O.: 55 ff. Vgl. a.a.O.: 34. Vgl. a.a.O.: 55 f.
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Eine besondere Rolle nehmen dabei Wohlfahrtsinteressen ein, weil sie die Voraussetzungen individuellen Wohlergehens abbilden. Wohlfahrtsinteressen sind hier basale menschliche Interessen; ohne die Gegenstände dieser Interessen wäre menschliches Wohlergehen nicht möglich. Andererseits gibt es höherstufige Interessen, die über persönliches Wohlergehen hinausgehen, etwa allgemeine ökonomische oder politische Ziele. Solche übergeordneten Interessen sind die individuelle Weise, in der das eigene Wohlergehen je individuell verstanden wird. Ein Beispiel ist das Interesse an Wohlstand. Dies ist in Feinbergs Konzept zwar ein ökonomisches, dennoch aber kein Wohlfahrtsinteresse, sondern baut vielmehr auf Wohlfahrtsinteressen auf und geht nicht nur über Wohlfahrt, sondern auch Wohlergehen hinaus.149 Wohlergehen markiert also gewissermaßen einen Grenzwert zwischen basalen menschlichen Interessen und individuellen persönlichen Interessen. Wohlfahrtsinteressen sind die Interessen an einem Minimum an materieller Grundversorgung, Gesundheit und politischer Freiheit, das eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für das individuelle Wohlergehen ist.150 Sie nehmen im Zusammenspiel aller persönlichen Interessen der verschiedenen Ebenen eine besondere Rolle ein, denn sie sind die Voraussetzung dafür, überhaupt so etwas wie übergeordnete Interessen haben zu können.151 Und andererseits sind die instrumentellen Wünsche oft auf sie gerichtet, etwa wenn jemand Überstunden leisten möchte, um eine finanzielle Grundversorgung sicherzustellen.152 Aufgrund ihrer Ermöglichungsfunktion für die Interessen auf höherer Ebene sind Wohlfahrtsinteressen „vitale Interessen“; werden sie negativ beeinflusst, dann sind die negativen Auswirkungen auf die Gesamtheit der persönlichen Interessen besonders groß.153 Dieser Ermöglichungsfunktion entsprechend bilden sie ein Mindestmaß an körperlichen, geistigen, emotionalen, sozialen und finanziellen Grundvoraussetzungen dafür ab, was als gutes Leben gelten kann.154 Wohlfahrtsinteressen sind demnach zum einen allgemeinmenschliche Interessen an einer minimalen Grundgüterversorgung, die notwendig ist, um ein gutes Leben führen zu können oder auch überhaupt eine eigene Vorstellung davon ausbilden zu können, was das eigene gute Leben ausmachen würde. Zum anderen sind sie besonders anfällig für Zurücksetzungen, weil sie leicht direkt getroffen werden können. Für das individuelle Wohlergehen sind sie auch deshalb so zentral, weil die übergeordneten Wohlergehensinteressen meist indirekt, über eine Zurücksetzung der dafür notwendigen Wohlfahrtsinteressen, getroffen
149 150 151 152 153 154
Vgl. a.a.O.: 57. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O.: 58 f., 112. Vgl. a.a.O.: 57. Vgl. a.a.O.: 204. Vgl. a.a.O.: 37.
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werden.155 Diese Interessen an etwas sind es insbesondere, die geschädigt werden können und bei deren Zurücksetzung ein Schaden entsteht.156 Möchte man wissen, warum jemand als geschädigt gilt, dann reicht es nicht aus, nur das positive Recht zu betrachten, sondern es muss die Frage gestellt werden, warum wir bestimmte Handlungen als Schädigungen betrachten. Da es Feinberg in seiner Diskussion des Schadensprinzips um die Frage geht, welche Handlugen überhaupt als justitiabel anzusehen sind, können dafür nicht die legalen Rechte selbst entscheidend sein. Stattdessen rekurriert er auf moralische Rechte: Um als Schädigung im normativen Sinne zu gelten, muss eine Handlung moralische Rechte verletzen.157 So abstrakt formuliert mag die Rede von moralischen Rechten wenig aufschlussreich erscheinen und eher neue Fragen aufwerfen als die moralische Dimension einer Schädigung aufzuzeigen. Feinberg geht aber erstens davon aus, dass jedes Interesse, das nicht selbst moralisch zu verurteilen ist, auch moralisch geschützt ist. Und zweitens greift er auf das Netz von Interessen zurück, um die Vorstellung von moralischen Rechten zu konkretisieren. Von moralischen Rechten zu sprechen, sei bezogen auf Wohlfahrtsinteressen – verstanden als basale menschliche Interessen – besonders plausibel.158 Auf die Argumente dafür, Wohlfahrtsinteressen als genuin verbunden mit moralischen Rechten zu verstehen, werde ich im nächsten näher Kapitel eingehen (vgl. 4.1.4). An dieser Stelle möchte ich zunächst nur anhand des systematischen Zusammenhangs zwischen Wohlfahrtsinteressen und moralischen Rechten in Feinbergs Theorie drei wichtige Punkte festhalten: Erstens spricht der zentrale Stellenwert von Wohlfahrtsinteressen für menschliches Wohlergehen dafür, diese als Grundlage für moralische Rechte aufzufassen; zweitens ist die moralische Dimension der Schädigung mit einer Verletzung dieser Rechte verbunden ist; und drittens geht mit der Auffassung bestimmter Interessen als moralische Rechte ein Anspruch gegenüber anderen Akteuren auf ein bestimmtes Verhalten ihrerseits einher. 3.5.2 Tun und Unterlassen als kausale Faktoren Der Schadenszustand wird also maßgeblich bestimmt durch die Konsequenzen, die sich aus Sicht der betroffenen Person ergeben. Diese Konsequenzen stellen zum einen die kausale Verbindung zwischen dem Schädigenden und dem Geschädigten her, und sie sprechen außerdem gegen einen in diesen Zusammenhängen moralisch signifikanten Unterschied zwischen Tun und Unterlassen. Auf die Begründung für letzteres werde ich folgend zuerst eingehen, um 155 156 157 158
Vgl. a.a.O.: 112. Vgl. a.a.O.: 34. Vgl. a.a.O.: 109 ff. Vgl. a.a.O.: 111 f.
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darauf aufbauend zeigen zu können, inwiefern Tun und Unterlassen nach Feinberg jeweils gleichermaßen als kausaler Faktor verstanden werden können. Dass zwischen Tun und Unterlassen beziehungsweise zwischen dem aktiven Herbeiführen und dem bloß passiven Zulassen von Schadenszuständen kein wesentlicher Unterschied besteht, folgt aus der zentralen Rolle, die der Zustand des Geschädigten für das Schadensprinzip spielt. Denn in dieser Perspektive gibt es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen der Verursachung und der Nichtverhinderung von Schaden, weil jeweils ein geschädigter Zustand resultiert.159 Besonders deutlich wird dies angesichts zweier Situationen, in denen alle moralisch relevanten Faktoren gleich sind, und der einzige Unterschied darin besteht, dass eine Situation mit einem Tun, und die andere mit einem Unterlassen kausal verbunden ist.160 Intuitiv mag es zwar einen entscheidenden moralischen Unterschied machen, ob ein Akteur einen bestimmten Zustand aktiv herbeiführt, oder ihn nur passiv, durch Verzicht auf eine verhindernde Handlung, zulässt. Anhang einiger eindrücklicher Beispiele argumentiert allerdings Shelly Kagan gegen eine moralische Unterscheidung zwischen dem aktiven Herbeiführen („doing“) und dem Zulassen („allowing“) negativer Konsequenzen und meint, unsere Intuitionen leiteten uns in der Annahme eines moralisch relevanten Unterschiedes zwischen beiden Verhaltensweisen fehl.161 Ich möchte hier gegenüber Kagan eine abgeschwächte Position einnehmen und nicht behaupten, dass es für das Bestehen einer Schädigung nie entscheidend ist, ob sie mit einem Tun oder mit einem Unterlassen verbunden ist. Aufgrund der Besonderheiten des ökonomischen Kontextes – der Art der Beziehungen zwischen den Akteuren und der relevanten Konsequenzen, die durch die Zustände der Akteure, und diese wiederum durch deren Wohlfahrtsinteressen bestimmt sind (auf diese Zusammenhänge werde ich in den folgenden beiden Kapiteln ausführlich eingehen) – macht es allerdings für das hier vertretene wirtschaftsethische Schadensprinzip keinen Unterschied. Eine zweite Hinsicht, in der Tun und Unterlassen moralisch nicht verschieden sind, ist die Art der Handlung, zu der das Schadensprinzip verpflichtet. Eine zustandsbezogene Interpretation des Schadensprinzips führt dazu, dass auch aktive Hilfe in solchen Fällen geboten sein kann, in denen jemand weder den ursprünglichen Schadenszustand selbst herbeigeführt hat, noch in einer besonderen, spezifisch verpflichtenden Beziehung zu demjenigen steht, der Hilfe bedarf, noch jedem gleichermaßen Hilfsbedürftigen helfen könnte.162 Auf die Besonderheiten dieser folgenorientierten Perspektive werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen. An dieser stellt ist festzuhalten, dass es auf159 160 161 162
Vgl. a.a.O.: 126 ff. Vgl. a.a.O.: 166 f. Kagan 1989: 83 ff. Vgl. Feinberg 1987: 126 ff.
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext
127
grund der normativen Wirkung der Konsequenzen (des Schadenszustandes) weder so ist, dass man nur durch Tun schädigen kann, noch ist man durch das Schadensprinzip nur zu Unterlassungen verpflichtet. Die kausale Verbindung zwischen Schädigendem und Geschädigtem versteht Feinberg also nicht über Ursachen und Wirkungen, sondern über Ursachen und Konsequenzen.163 Insofern sowohl Tun als auch Unterlassen ein erklärender Faktor dafür sind, dass ein bestimmter Zustand besteht, können sie zumindest als ein kausaler Faktor angesehen werden, wenn auch nicht als die einzige Ursache. Sie waren entweder unter vielen notwendigen Bedingungen die entscheidende oder zumindest eine entscheidende Bedingung für das Eintreten einer bestimmten Konsequenz. Oder sie waren zwar keine notwendige Bedingung, aber dennoch ein kausaler Faktor. Feinberg führt für diese abstrakten Zusammenhänge das Beispiel eines Ertrinkenden an, der durch das Zuwerfen einer Rettungsweste gerettet werden könnte, was entweder eine einzige Person oder eine Gruppe von Personen unterlässt.164 In allen Fällen leuchtet es ein, dass das jeweilige Unterlassen mitursächlich für das Ertrinken, und jeweils ein kausaler Erklärungsfaktor ist. Besonders wichtig an Feinbergs Argumentation ist hier, dass die kausale Bewertung des Tuns oder Unterlassens nicht davon abhängt, ob schon die sonstigen Umstände ausgereicht hätten, um den fraglichen Zustand herbeizuführen. Stattdessen hebt Feinberg hervor, dass die Situation maßgeblich durch die Möglichkeit des Schädigenden geprägt war, zu handeln und positiven Einfluss zu nehmen. Selbst wenn in Abwesenheit des Schädigenden ohnehin die gleichen negativen Konsequenzen eingetreten wären, war er nun einmal anwesend und hätte durch Tun oder Unterlassen einen entscheidenden positiven Einfluss nehmen können.165 Es gibt in solchen Situationen, in denen eine Person auf das Wohlergehen einer anderen entscheidend einwirken kann, demnach keinen moralisch neutralen „Handlungsstandard“ des Nichthandelns oder Unterlassens. Gleichwohl muss die kausale Verbindung für ökonomische Akteure weitergehend begründet werden, wofür ich im nächsten Kapitel den relevanten Zustand näher betrachten (vgl. 4.1) und in Kapitel 5 ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen darstellen werde. 3.5.3 Die Zustandsbezogenheit des wirtschaftsethischen Schadensprinzips Wichtig ist Feinbergs Hinweis darauf, dass Interessen unterschiedlicher Personen immer potenziell in Konflikt miteinander stehen. Dabei ist mit zwei Arten „kompetitiver Interessen“ umzugehen. Darunter fallen einerseits solche, die in Interessenskonflikten stehen, die potenziell aufzulösen sind, und ande163 164 165
Vgl. a.a.O.: 125. Vgl. a.a.O.: 174 f. Vgl. a.a.O.: 173 f.
128
3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
rerseits solche Interessen, sie an sich kompetitiv sind, weil sie darauf gerichtet sind, besser als andere zu sein. Interessen dieser zweiten Art können im Wettbewerb nicht geschädigt werden, weil sie auf Wettbewerbssituationen angewiesen sind und zu Wettbewerben nun einmal immer auch Verlierer gehören.166 In Interessenkonflikten sind dann Regeln notwendig, die bestimmen, welche Interessen besonders schützenswert sind. Für solche Regeln sind die vorhandenen Interessen nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen, und obwohl der geeignete Maßstab dafür diskutiert werden kann, sind es die Wohlfahrtsinteressen, die als basale Interessen von Verletzungen in Interessenskonflikten ausgeschlossen sein müssen.167 Für Wohlfahrtsinteressen im Wettbewerb lässt sich mit Feinberg also durchaus dafür argumentieren, dass auch in Wettbewerbssituationen nicht alles erlaubt ist, sondern moralisch unproblematischer Wettbewerb vielmehr gerade die Verletzung von Wohlfahrtsinteressen ausschließt. Auch legitimer Wettbewerb ist, um Schaden zu vermeiden, auf substantielle Vorstellungen davon angewiesen, welche Bereiche nicht dem Wettbewerb ausgesetzt werden dürfen. Dass Wohlfahrtsinteressen als basale Interessen hierbei die zentrale Rolle spielen, wird mit Feinberg ebenfalls deutlich. Mit dem bisher Gesagten lässt sich die moralische Beurteilung von Wettbewerbssituationen folgendermaßen charakterisieren: Im ökonomischen Wettbewerb werden einzelne Wettbewerber immer negative Konsequenzen hinnehmen müssen, aber negative Konsequenzen, die ihre Wohlfahrt in bestimmtem Maße beziehungsweise in bestimmter Weise einschränken, sind Schädigungen. Den Ausdruck der „zurückgesetzten Interessen“ beziehungsweise des „Zurücksetzens von Interessen“ werde ich deshalb folgend übernehmen, auch wenn begrifflich damit ein gewisse Verschiebung gegenüber der Verwendung Feinbergs einhergeht: Gemeint ist dann damit eine möglichst treffende Beschreibung des Zustandes einer Person bezogen auf ihre Interessen. Für Feinberg hingegen spielt der Handlungsaspekt des Zurücksetzens die zentrale Rolle. Dass Interessen zurückgesetzt sind, macht für Feinberg aber noch nicht die normative Dimension der Schädigung aus. Ein Schaden im justitiablen Sinne entsteht erst dadurch, dass Interessen in relevanter Weise verletzt werden. Dafür ist eine moralisch zu verurteilende Handlung notwendig.168 „Schaden“ in für Feinberg normativ relevanter Hinsicht setzt sich aus dem Schadenszustand und der normativen Dimension des Unrechts zusammen. Der normative Schadensbegriff beinhaltet für ihn neben den zurückgesetzten Interessen auch 166 Vgl. a.a.O.: 218 f. Feinberg führt hierfür das Beispiel von Tennisspielern an, die innerhalb der geltenden Regeln des Tennisspiels auch durch Spielverluste keinen Schaden erleiden können (vgl. a.a.O.: 219). 167 Vgl. a.a.O.: 113 f. 168 Vgl. a.a.O.: 105.
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext
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das Zurücksetzen selbst, also den Handlungsaspekt.169 Damit unterscheidet er zwei Arten von Schadenszuständen: Zustand a, der angesichts der getroffenen Interessen des Geschädigten zwar als Schädigung zu verstehen ist, dem aber gegenüber Zustand b das für Feinberg entscheidende Kriterium der Ungerechtigkeit fehlt, das sich bei jeweils zurückgesetzten Interessen einzig noch daraus ergibt, dass der Zustand auf eine bestimmte Weise herbeigeführt wurde. Der einzige für die Beurteilung der Art des Schadens relevante Unterschied zwischen den Zuständen a und b ist bei Feinberg also, dass nur die Handlung, die zu Zustand b geführt hat, normativ zu verurteilen ist. Das Unrecht entsteht hier durch das Verhalten des schädigenden Akteurs. Verhalten, das zwar einen Schadenszustand verursacht, aber zu entschuldigen oder zu rechtfertigen ist, verursacht keine strafbare, mithin keine normativ relevante Schädigung.170 Feinberg unterscheidet so zwischen „wrongful harms“ und „harms that are not wrongs“.171 So besteht im Rechtskontext noch die Möglichkeit, die Verletzung von Wohlfahrtsinteressen aus deontologischen Gründen als bloße Schlechterstellung aufzufassen, sofern die Verletzung von Wohlfahrtsinteressen nicht vollständig vom positiven Recht erfasst ist. Mit anderen Worten: Solange sich jemand pflichtgemäß verhält, entstünde auch kein Schaden. In normativer Hinsicht falsch ist ein Verhalten dann, wenn es nicht pflichtgemäß und deshalb nicht zu verteidigen ist.172 Es ist dort der Schädigungsbegriff (anstelle des Schadensbegriffs), der die moralisch gewichtigere Rolle spielt. Zwar geht der Schadenszustand analytisch der Schädigungshandlung voran, dennoch ist die Handlungsbewertung entscheidend für die strafrechtliche Bewertung. Das ist auch der Grund dafür, dass eine rechtliche Position im ökonomischen Kontext nicht ausreichend ist. Entgegen der rechtlichen Bewertung von Schädigungen ist nicht entscheidend, aus welchen Motiven heraus eine Handlung erfolgte, und ob sie als pflichtgemäß eingestuft werden kann. Stattdessen ist im ökonomischen Kontext der Schadenszustand zentral, und damit das Schadensverständnis a: Jemand ist allein durch den Zustand geschädigt, in dem er sich befindet (oder der ihm ernstlich droht). Wirtschaftsethisch geht es gerade darum, dass moralisch verboten und damit eine Schädigung sein kann, was rechtlich erlaubt ist, etwa das Zahlen sehr niedriger Löhne oder ein nicht oder kaum vorhandener Arbeitnehmerschutz. Es ist nicht die Rahmenordnung der Wettbewerbssituation, die als letzter Referenzpunkt dafür dienen kann, ob ein individueller Akteur als geschädigt oder nur als schlechter gestellt zu gelten hat. Und selbst eine bestmögliche 169 Vgl. a.a.O.: 34 ff. Feinberg spricht auch von einer „Überlappung“ beider Schadensverständnisse, also zustands- und handlungsbezogen (a.a.O.: 36). 170 Vgl. a.a.O.: 108 f. 171 A.a.O.: 114. 172 Vgl. a.a.O.: 108.
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3 Das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Minimalposition
Rahmenordnung kann Schädigungen nicht verhindern. Ein zentrales Argument in der Auseinandersetzung mit der Ökonomischen Ethik war stattdessen, dass es auch in einer möglichst gut geregelten Wettbewerbswirtschaft einen Unterschied zwischen der rechtlichen und der moralischen Bewertung des Verhaltens ökonomischer Akteure gibt. Wenn Feinberg also angibt, dass sich ein Schaden im relevanten Sinne dadurch auszeichnet, ungerechtfertigterweise verursacht worden zu sein, dann zeigt sich darin der zentrale Unterschied der rechtlichen und der moralischen Perspektive auf Schädigungen: Rechtlich ist der Handlungsaspekt entscheidend, moralisch aber der Zustandsaspekt. In dieser substantiellen Sichtweise müssen wir jemanden sogar dann als geschädigt ansehen, wenn er ohne moralisch problematisches Verhalten anderer, etwa in Folge einer Naturkatastrophe oder gar eines eigenverschuldeten Unfalls seiner Lebensgrundlage beraubt oder schwer verletzt wird.173 Eine Schädigung beziehungsweise ein normativ relevanter Schaden entsteht schon allein aufgrund der Konsequenz für die Wohlfahrtsinteressen einer Person, ohne dass dafür noch ein spezifisches Verhalten, etwa rechtlich relevantes, des Verursachers hinzukommen müsste. Allerdings ist der Handlungsaspekt nicht vollkommen unwichtig. Denn erstens geht es ja um die Frage nach dem angemessenen Handeln der Akteure, also um die richtige Reaktion auf einen Schadenszustand. Natürlich muss für ökonomische Akteure ein Handlungsbereich eingegrenzt werden, innerhalb dessen sie für die Nichtschädigung anderer Akteure Sorge zu tragen haben, und in Ausnahmefällen moralischer Dilemmasituationen können zudem Schädigungen gerechtfertigt sein (vgl. 5.3.2). Dabei ist aber die normative Kraft der handlungsbezogenen Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründe geringer als im rechtlichen Kontext: Moralisch kann von ökonomischen Akteuren mehr gefordert sein als rechtlich. Hier reichen rechtliche Gründe für eine moralische Entlastung des Handelnden nicht aus, es gibt keine „harms that are no wrongs“, wie sie sich bei Feinberg finden. Damit ist dennoch wiederum nicht gemeint, dass jeder Schadenszustand, in dem sich irgendein Akteur befindet, für jeden anderen Akteur eine Handlungsverpflichtung implizieren würde, sondern nur, dass ein Schadenszustand nicht davon abhängig ist, ob er aus einer moralisch falschen Handlung resultiert. Auch ist es möglich, dass Schadenszustände bestehen, ohne dass es jemanden gäbe, der etwas dagegen tun könnte. Zweitens kann eine Handlung selbst ein normativ entscheidender Teil der Schädigung sein, indem sie selbst zu einem schädigenden Risiko führt (das Thema des Risikos im Zusammenhang mit Schädigungen wird in Abschnitt 5.3.3 näher betrachtet). Ein dauerhafter schwerwiegender Verstoß 173 Insofern entspricht der Schadensbegriff dem „gewöhnlichen“ Verständnis (vgl. Feinberg 1987: 34).
3.5 Die Zustandsbezogenheit von Schädigungen im ökonomischen Kontext
131
gegen erforderliche Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz etwa muss als Schädigung verstanden werden; dies insbesondere dann, wenn den Arbeitnehmern keine adäquate Alternative zur Verfügung steht, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Selbst dann, wenn die Verstöße niemals dazu führen würden, dass tatsächlich ein Unglück eintritt, wäre es unangemessen, zu behaupten, die Arbeitnehmer würden durch das dauerhafte Risiko für Leib und Leben am Arbeitsplatz nicht geschädigt. An diesem Beispiel zeigt sich zudem, dass keine Schädigungsabsicht vorliegen muss, um dennoch zu schädigen, denn auch dann, wenn der Verstoß unwissentlich erfolgen würde, würde sich die Bewertung der Situation nicht wesentlich ändern.
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip Die Ergebnisse der bisherigen Kapitel lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Ein wirtschaftsethisches Schadensprinzip muss aufgrund seiner kontextuellen Herausforderungen einen moralischen Anspruch an die ökonomischen Akteure formulieren, der unabhängig von der jeweiligen situativen Anerkennung durch die Akteure besteht. Mit anderen Worten: Ob es erlaubt ist, andere Akteure zu schädigen, kann nicht davon abhängen, ob ein entsprechender faktischer Konsens besteht. Denn gerade hier ist es ja ein Grundproblem, dass ökonomische Akteure die moralische Relevanz der Schädigungen, die sie anderen zufügen, nicht immer anerkennen. Ein Grund dafür kann die räumliche und soziale Entfernung vieler ökonomischer Beziehungen sein. Ein weiterer eine übertriebene, in die Apologetik übersteigerte Vorstellung moralisch neutralen Wettbewerbs, der dann angeblich immer nur zu Schlechterstellungen, nie aber zu Schädigungen führen kann, weil die Wettbewerbsergebnisse moralisch mindestens neutral – wenn nicht aufgrund von Fairness- und Effizienzgesichtspunkten generell positiv – zu bewerten seien; auch wenn sie mitunter sehr negativ für einzelne Akteure ausfallen. Ob ökonomische Akteure geschädigt werden, lässt sich nur anhand der für sie relevanten Folgen feststellen, das war das zentrale Ergebnis des vorigen Kapitels. Als folgenorientiertes moralisches Prinzip entspricht das wirtschaftsethische Schadensprinzip wichtigen moralischen Intuitionen wie der, dass es für die moralische Bewertung einer Handlung einen entscheidenden Unterschied macht, ob Dritte dadurch im Wettbewerb nur geringfügige Schlechterstellungen hinnehmen müssen, oder ob sie in ihrer existenziellen Grundlage getroffen werden. Anderen verbreiteten Intuitionen mag der Fokus auf Handlungskonsequenzen für die Identifikation von Schädigungen widersprechen, beispielsweise der nach einem moralischen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen. Daran zeigt sich zunächst aber nur, dass es nicht trivial ist, moralische Intuitionen und moralische Prinzipien zusammenzubringen. Verbreitet ist die moralphilosophische Forderung nach Prinzipien, die nicht nur auf Intuitionen basierende ad-hoc-Prinzipien sind, sondern allgemeinen Kriterien von Theoriebildung entsprechen, indem sie Einfachheit, aber zugleich Erklärungskraft und Kohärenz besitzen. Dafür kommt dem Abgleich mit Intuitionen dann eine wichtige Funktion zu. Zwar ist nicht die Deckungsgleichheit
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
zwischen Intuitionen und Prinzipien das Ziel, dennoch müssen sich aus den moralischen Prinzipien Urteile ergeben, mit denen wir substantiell einverstanden sind, d.h. sie dürfen unseren Intuitionen nicht zu stark widersprechen.1 In diesem und dem folgenden Kapitel wird es deshalb auch darum gehen, das wirtschaftsethische Schadensprinzip als moralische Regel als im Wesentlichen übereinstimmend mit verbreiteten moralischen Intuitionen zu plausibilisieren. Dabei kann es unter Bedingungen des Wertepluralismus grundsätzlich nur um eine möglichst gute Begründung durch eine möglichst hohe Plausibilisierung und nicht um eine Letztbegründung gehen.2 Dass dennoch einige Intuitionen dem Schadensprinzip widersprechen werden, ist schon aufgrund der Normativität einerseits moralischer, andererseits ökonomischer Gründe zu erwarten. Mit der ökonomischen Rationalität verbundene Intuitionen und solche, die mit starken Moralitätsvorstellungen wie etwa einer Vernunftethik im Sinne Peter Ulrichs verbunden sind, stehen nicht nur miteinander im Konflikt, sondern teilweise auch mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip. Gleichzeitig nimmt dieses Prinzip jeweils wichtige Intuitionen beider Perspektiven auf. Insbesondere in nicht-idealen Handlungssituationen wird es vielen ökonomischen Akteuren als wichtig erscheinen, sowohl moralische als auch ökonomische Anforderungen an ihre eigenen Handlungen zu stellen und sich vor allem an den Folgen ihrer Handlungen zu orientieren. Ob sie es etwa für moralisch geboten halten, ihren Konsum dadurch zu beschränken, dass sie höherpreisige und damit bei gleichem Budget weniger Produkte kaufen, wird sich maßgeblich danach richten, welche konkreten Folgen ihre persönliche Konsumbeschränkung hervorruft. Zugleich mag dabei auch eine Rolle spielen, wie sie sich dadurch im Vergleich zu anderen ökonomischen Akteuren stellen und insbesondere, ob sie dadurch in relevanter Hinsicht Wettbewerbsnachteile beziehungsweise „Ausbeutung“ hinnehmen müssen. Diese Perspektiven soll das Schadensprinzip auf plausible Weise vermitteln. Die Grundthese dabei ist, dass ökonomisches Handeln, das zentrale moralische Gesichtspunkte vernachlässigt, unvernünftig ist. Dass es dabei im Folgenden stärker um eine pragmatische Plausibilisierung denn um eine philosophische Begründung geht, ist durch das Ziel begründet: Es geht letztlich um die Überzeugung realer, nicht-idealer Akteure, und dabei ist eine pragmatische Plausibilisierung als weithin besser zugänglich anzusehen; dies insbesondere dann, wenn sie weithin geteilte Grundsätze zum Ausgangspunkt nimmt. Es geht demnach um die Anknüpfung an einen etablierten Diskurs, mit dem Ziel der substantiellen Überzeugung realer Akteure. 1 Vgl. Kagan 1989: 11 f. Kagan stellt diese Diagnose für moralphilosophisches Vorgehen entsprechend dem Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) John Rawls’, dem er sein eigenes Vorgehen entgegenstellt, das auf einen noch stärkeren Widerspruch zu verbreiteten Intuitionen hinausläuft (vgl. a.a.O.: 11 ff.). 2 Vgl. Birnbacher 1995: 156; Neuhäuser 2014: 210.
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
135
Im Anschluss an Joel Feinberg lässt sich für dieses Kapitel die Frage stellen, was es im ökonomischen Kontext heißt, dass eine Handlung moralisch nicht zu verteidigen ist. Dabei geht es nicht darum, was von Akteuren unter möglichst guten institutionellen Voraussetzungen zu erwarten ist, sondern stattdessen um die Frage, was man von nicht-idealen Akteuren auch in einem nicht-idealen institutionellen Umfeld erwarten kann und muss. Auch hier wird erneut die Differenz zu einer idealtheoretischen Deutung der Ökonomischen Ethik Homanns, wie sie im zweiten Kapitel gegeben wurde, deutlich, auf deren Grundlage sich die beiden Thesen formulieren ließen, dass erstens gar keine Nichtschädigungspflicht existiert und eine entsprechende moralische Empörung fehlgeleitet wäre – dass sie aus persönlichen Moralvorstellungen folgt, die aber dem moralischen Pluralismus unterliegen; und dass zweitens nicht von moralisch relevanten Schädigungen, sondern von durch Eigeninteresse gerechtfertigten Schlechterstellungen zu sprechen sei. Dagegen möchte ich folgend zeigen, dass ein universalmoralischer Konsens gegenseitiger Nichtschädigung auch unter ökonomischen Akteuren in nicht-idealen Kontexten möglich ist, und sich ein objektiver Unterschied zwischen Schlechterstellungen und Schädigungen begründen lässt. Mit dem Schadensprinzips als wirtschaftsethischer Ansatz ist eine spezifische Form der Folgenorientierung verbunden, die sich auf drei Ebenen erstreckt. Erstens sind die Folgen entscheidend für die Identifikation des Schadenszustandes (vgl. 3.5). Zweitens ist für die Handlungsbewertung beziehungsweise für die moralisch geforderten Handlungen entscheidend, welche Folgen von ihnen zu erwarten sind. Und drittens sind die Folgen auf diesen beiden Ebenen entscheidend dafür, wozu einzelne Akteure je situativ verpflichtet sind. Diese Zusammenhänge werde ich in diesem und dem nächsten Kapitel deutlich machen. Die dritte Ebene ist im folgenden Kapitel zentral, während es in diesem vor allem um die Bedeutung der Folgen für den Schadenszustand und für das Schadensprinzip als moralische Handlungsregel geht. Dieses Kapitel beginne ich damit, den für den ökonomischen Kontext relevanten Schadenszustand von Personen als Zurücksetzung vitaler Interessen unter den Schwellenwert des minimalen Wohlergehens zu plausibilisieren. Dafür spielen Joel Feinbergs Deutung von Wohlfahrts- als vitale Interessen und der Fähigkeitenansatz in Amartya Sens Deutung jeweils eine zentrale Rolle. Zudem werde ich auf Feinbergs Argumente für ein Verständnis vitaler Interessen als mit moralischen Rechten verbunden eingehen und dafür plädieren, die Wohlfahrtsinteressen ökonomischer Akteure als deren moralische Ansprüche aufzufassen (4.1). Danach werde ich auf das wirtschaftsethische Schadensprinzip als moralische Regel eingehen und es als „Sekundärprinzip“ im Sinne John Stuart Mills darstellen (4.2). Abschließend werde ich auf die minimalen persönlichen Voraussetzungen für das Erkennen und Anwenden dieser Regel eingehen, die sich als Wohlwollen beziehungsweise Unparteilichkeit
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
in ebenfalls minimaler Hinsicht verstehen lassen: Ein ökonomischer Akteur handelt „unparteiisch“, indem er sein eigenes Wohlergehen nicht als objektiv wichtiger als das anderer ansieht und nach einer entsprechenden Handlungsregel bei ökonomischen Handlungen sucht beziehungsweise solchen Regeln entsprechend handelt (4.3).
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen 4.1.1 Probleme eines subjektivistischen Wohlergehensbegriffs Für die praktische Wirksamkeit des Schadensprinzips ist es notwendig, möglichst genaue Aussagen darüber treffen zu können, wann wirklich jemandes Wohlergehen in minimalmoralisch relevanter Hinsicht beeinträchtigt ist. Entlassungen beispielsweise stellen zwar immer eine Beeinträchtigung des Wohlergehens dar, sie können aber sowohl Schädigungen als auch bloße Schlechterstellungen sein. Mit der Annahme eines Schwellenwertes des Wohlergehens, der Schädigungen von Schlechterstellungen unterscheidet, ist die These verbunden, dass es überhaupt eine hinreichend objektive Vorstellung menschlichen Wohlergehens gibt, nach der sich die Bewertung von Folgen für den Einzelnen vornehmen lässt. Nach Dieter Birnbacher dagegen kommt als Referenz für Folgenbewertung nur „der Wert des subjektiven Wohlbefindens bzw. des Erlebens von subjektiv als positiv zu bewertenden Bewußtseinszuständen“ infrage.3 Das heißt, er geht davon aus, dass es für die Folgenbewertung letztlich darauf ankommt, ob es den Betroffenen subjektiv besser oder schlechter geht. Birnbacher führt unterstützend die wohl kaum kontroverse Annahme an, dass „es grundsätzlich besser ist, daß jemand sich – seiner eigenen Einschätzung nach – besser als schlechter fühlt“.4 Allerdings ergibt sich daraus, dass mehr subjektives Wohlbefinden grundsätzlich besser ist, nicht, dass dies auch der geeignete Maßstab ist, um den Zustand einer Person zu beurteilen oder um alternative Szenarien zu vergleichen. Einen zentralen Einwand gegen ein solches auf subjektive Bewusstseinszustände rekurrierendes Wohlergehensverständnis formuliert Ingrid Robeyns mit Blick auf menschliche Fähigkeiten in ihrer Interpretation des bekannten Gedankenexperiments Robert Nozicks zum rein maschineninduzierten menschlichen Erleben: Nach allgemeinem Verständnis seien nicht nur mentale Zustände, sondern auch Tätigkeiten und Seinszustände und die Fähigkeit zu deren Realisierung für menschliches Wohlbefinden unerlässlich.5 3
Birnbacher 1995: 158. Ebd. 5 Vgl. Robeyns 2017: 129. Nozick (2013: 42 f.) gibt folgende Beschreibung dieses Gedankenexperimentes: „Suppose there were an experience machine that would give you any ex4
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
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Ein wichtiges Problem einer am subjektiven Wohlbefinden ausgerichteten moralischen Bewertung von Folgen ist das Phänomen adaptiver Präferenzen. Diese bestehen in einer Situation, in der die subjektive und die objektive Bewertung persönlichen Wohlbefindens eklatant voneinander abweichen.6 Mit „Adaption“ kann dabei zum einen ein psychologischer Anpassungsprozess gemeint sein, der dazu führt, dass bestimmte, nicht verfügbare als unattraktive Optionen gewertet werden. Etwas, das unerreichbar ist oder scheint, wird als Ergebnis dieser Anpassung als etwas angesehen, was zu erreichen auch gar nicht erstrebenswert wäre.7 Adaption ist hier die Anpassung der eigenen Bestrebungen an die (vermeintlich) vorhandenen Möglichkeiten und damit verbunden eine Deutung der (vermeintlich) unerreichbaren Option als ohnehin schlechte Option.8 Oder die Adaption wird stärker auf die als objektiv angenommene Wohlergehensposition bezogen, von der die Präferenzen einer Person abweichen.9 Die Gefahr sich an die gegebenen Zustände anpassender individueller Präferenzen erkennt auch Birnbacher an, woraus sich bei ihm allerdings nur eine Kritik am Präferenzutilitarismus und nicht an der angenommenen Subjektivität menschlichen Wohlergehens ergibt.10 6 perience you desired. Superduper neuropsychologists could stimulate your brain so that you would think and feel you were writing a great novel, or making a friend, or reading an interesting book. All the time you would be floating in a tank, with electrodes attached to your brain. Should you plug into this machine for life, reprogramming your life’s experiences? If you are worried about missing out on desirable experiences, we can suppose that business enterprises have researched thoroughly the lives of many others. You can pick and choose from their library or smorgasbord of such experiences, selecting your life’s experiences […]. Of course, while in the tank you won’t know that your’re there; you’ll think it’s all acutally happening. […] Would you plug in? What else can matter to us, other than how our lives feel from the inside?“ (Hervorh. im Original). 6 Vgl. Robeyns 2017: 137. 7 Vgl. a.a.O.: 138. 8 Vgl. Elster 1982: 219, 235. Elster führt hierfür das anschauliche Beispiel eines Fuchses an, der die unerreichbaren Weintrauben für sauer hält (a.a.O.: 219). Solche adaptiven Präferenzen stellen dann auch ein grundlegendes Problem für auf subjektive Präferenzen abstellende Sozialwahltheorien dar (vgl. Elster 1982). Zur Illustration lässt sich hier wieder gut das Beispiel des Fuchses anführen: „For the utilitarian, there would be no welfare loss if the fox were excluded from consumption of the grapes, since he thought them sour anyway. But of course the cause of his holding the grapes to be sour was his conviction that he would be excluded from consumption of them, and then it is difficult to justify the allocation by reference to his preferences.“ (A.a.O.: 219) Elster stellt eine solche Präferenzanpassung auch als Problem für die persönliche Autonomie heraus (vgl. a.a.O.: 233). 9 Vgl. Robeyns 2017: 138 f. 10 Vgl. Birnbacher 1992: 73 f. Harsanyi (1982: 54) versteht den von ihm vertretenen Präferenzutilitarismus als spezifische utilitaristische Theorie im Gegensatz zu hedonistischen und auf mentale Zustände abzielende Utilitarismus-Versionen: „[preference utilitarianism] defines social utility in terms of individual utilities, and defines each person’s utility function in terms of his personal preferences. Thus, in the end, social utility is defined in terms of people’s personal preferences.“ Zwar zielt Harsanyi in seiner präferenzutilitaristischen Position auf „wahre“ im Gegensatz zu tatsächlich vorhandenen Präferenzen ab und meint damit die
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Für den Schadenszustand ökonomischer Akteure spielen beide Verständnisse von Adaption (das psychologische und das auf den Gegensatz zu einem objektiven Wohlergehenszustand bezogene) zusammen. Deshalb trifft die hier wesentliche Kritik, die mit der Adaption von Präferenzen ausgedrückt wird – dass sie eine Position jenseits objektiven Wohlergehens subjektiv als erstrebenswerteste Position erscheinen lassen – auch auf subjektivistische Wohlergehensverständnisse zu. Anschaulich zeigen lässt sich dies am von Birnbacher für subjektives Wohlergehen angeführten Kriterium des Leids.11 Denn empfundenes Leid ist der Gefahr von Relativismus und von Gewöhnungseffekten stark ausgesetzt. Eine Person kann beispielsweise aufgrund kultureller Normen nur vorgeben, nicht zu leiden, obwohl sie in absoluter Armut lebt, und ihre öffentlich kommunizierten Präferenzen entsprechend anpassen. Sie kann vorgeben, gar nicht an den Mitteln minimalen Wohlergehens interessiert zu sein, zu denen sie keinen Zugang hat. Oder sie empfindet in einer von außen durchaus als schadhaft zu beurteilenden Situation tatsächlich kein Leid, weil sie sich mit ihrer Situation „arrangiert“ hat, und passt auch ihre Präferenzen entsprechend an. Dennoch wäre es in beiden Konstellationen unzutreffend, ihren Zustand objektiv als den des persönlichen Wohlergehens zu betrachten. Dass der eigene Lebensstandard nicht mit den eigenen positiven Gefühlen korrelieren muss, zeigt auch folgendes Beispiel Sens: Jemand kann aufgrund persönlicher Merkmale in der Lage sein, sein empfundenes Wohlergehen maßgeblich durch den Anblick von Regenbögen abhängig zu machen, ohne dass man deshalb sagen würde, er besäße allein aufgrund dieser Fähigkeit einen hohen Lebensstandard.12 Ronald Dworkin zeigt ebenfalls, dass es für die Zustandseinschätzung desjenigen, dem möglicherweise Hilfe zukommen muss, weder auf dessen eigene subjektive Situationseinschätzung ankommt, noch darauf, wie er relativ zu dem potentiell Helfenden steht,13 sondern dass entscheidend ist, wie dessen „Bedrohungen“ und „Nöte“ objektiv einzuschätzen sind.14 11 Präferenzen, die jemand hätte, wenn er alle relevanten Informationen besäße, die Überlegungen immer unter größtmöglicher Sorgfalt anstellte und sich auch in einer für eine rationale Wahl möglichst günstigen psychischen Ausgangssituation befände (a.a.O.: 55). Ein offensichtliches Problem für einen wirtschaftsethischen Schadensbegriff besteht darin, dass eine solche Unterscheidung zwischen tatsächlichen und „wahren“ Präferenzen wiederum ganz eigene Probleme mit sich brächte, wie etwa die Notwendigkeit, vorhandene Präferenzen immer auf diese Kriterien hin zu überprüfen. Vor allem aber können auch „wahre“ Präferenzen adaptiv sein, denn die verfügbaren Informationen können ja gerade dafürsprechen, Präferenzen auszubilden, die sich von einer objektiven Wohlergehensposition unterscheiden. 11 Vgl. Birnbacher 1995: 159. 12 Vgl. Sen 1983: 160. 13 Vgl. Dworkin 2014: 467 f. 14 A.a.O.: 468.
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
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Eine weitere wichtige mit der angenommenen Subjektivität menschlichen Wohlergehens verbundene Frage ist die, wie ein einzelner Akteur das Leid eines anderen ökonomischen Akteurs bewerten und das Leid überhaupt verlässlich wahrnehmen sollte. Denn erstens sind Einschätzungen über die (relative) Qualität einer bestimmten positiven Erfahrung letztlich vom Betroffenen selbst am zuverlässigsten vorzunehmen.15 Aus der Außenperspektive lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob sich für jemanden wirklich mehr subjektives Wohlbefinden aus einer bestimmten Option gegenüber einer anderen ergibt. Und zweitens besteht ein zusätzliches praktisches Problem, wenn beide in anonymen marktwirtschaftlichen Austauschbeziehungen stehen. Es ist schwer vorstellbar, wie eine Konsumentin einschätzen sollte, ob eine am Herstellungsprozess etwa eines bestimmten Kleidungsstückes beteiligte Näherin „Leid“ erfährt, ohne dabei auf weitere Kriterien zurückzugreifen. Daher geht es im Folgenden darum, stärker objektive Kriterien für menschliches Wohlergehen zu identifizieren, ohne dass damit gesagt sein soll, dass Leid für Wohlergehen keine Rolle spielt. Auch ist nicht gemeint, dass subjektives Wohlergehen und insbesondere empfundenes Glück nicht wichtig wären; Glück empfinden zu können ist eine wichtige menschliche Fähigkeit, und weitere wichtige menschliche Fähigkeiten werden nicht selten zu mehr empfundenem Glück führen.16 Dennoch stellen subjektiv empfundenes Leid oder Glück nicht das geeignete Kriterium für Schädigungen im ökonomischen Kontext dar. 4.1.2 Wohlfahrtsinteressen als vitale Interessen und relative Armut Im Zusammenhang mit dem Schadensprinzip stellt Joel Feinberg die Bedeutung von Wohlfahrtsinteressen für menschliches Wohlergehen heraus (vgl. 3.5.1). Das Nachvollziehen seiner Begründung lässt sich hier gut als Ausgangspunkt für einen möglichst objektiven Schadensbegriff nehmen. Entsprechend ihrer Ermöglichungsfunktion für Wohlergehen decken Wohlfahrtsinteressen für Feinberg einen breiten Bereich menschlicher Interessen ab und beinhalten basale monetäre, aber auch physische, psychische und soziale Interessen: In this category are the interests in the continuance for a foreseeable interval in one’s life, and the interests in one’s own physical health and vigor, the integrity and normal functioning of one’s body, the absence of absorbing pain and suffering or grotesque disfigurement, minimal intellectual acuity, emotional stability, the absence of groundless anxieties and resentments, the capacity to engage normally in social intercourse and to enjoy and maintain friendships, at least minimal income and financial security, a toler15 16
Vgl. Crisp 2006: 633. Vgl. Robeyns 2017: 135 f.
140
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
able social and physical environment, and a certain amount of freedom from interference and coercion.17
Feinberg macht deutlich, dass Wohlfahrtsinteressen zugleich als basal und als trivial anzusehen sind, weil ohne sie die übergeordneten individuellen Ziele nicht erreicht werden können, gleichzeitig aber ein Mensch selbst dann, wenn all seine Wohlfahrtsinteressen gesichert sind, noch kein erfülltes, gutes Leben führt, sondern lediglich die Voraussetzungen dafür besitzt.18 Besonders deutlich wird die minimale Wohlergehensposition, die durch die Sicherung der Wohlfahrtsinteressen ermöglicht wird, durch den Unterschied zum bloßen Lebenserhalt, wie Feinberg ihn beschreibt: Wer Wohlfahrt nicht als Voraussetzung für Wohlergehen anstrebt, sondern für das bloße Überleben, für den verlieren Wohlfahrtsinteressen ihren instrumentellen Charakter. Die Sicherung der Wohlfahrtsinteressen ist dann gleichbedeutend mit Wohlergehen. Dass diese Situation einen Ausnahmezustand darstellt, zeigt sich auch darin, dass die übergeordneten Ziele dann nicht mehr der individuellen Lebensplanung entsprechen, sondern Wohlfahrtsinteressen selbst zu diesen Zielen werden. Extreme Armut führt dazu, dass die Wohlfahrt nicht mehr dem Wohlergehen dient, sondern selbst das Wohlergehen ausmacht, und die Betroffenen ihr Wohlergehen in bloßem Überleben sehen. Diese Armut stellt eine Notsituation dar, in der die Erfüllung vitaler Interessen aufgrund existentiellen Mangels selbst zum einzig relevanten Interesse wird.19 Mit Feinberg lässt sich demnach vereinfachend sagen, dass Wohlergehen jenseits von Armut beginnt.20 Gemeinhin wird die Vorstellung absoluter Armut auf arme Weltregionen beschränkt, während für wohlhabendere Regionen der Maßstab relativer Armut gebräuchlich ist.21 Bezogen auf die Fähigkeit, basale Bedürfnisse zu befriedigen, scheinen sich absolute und relative Armut allerdings weniger stark zu unterscheiden, als dies die sehr unterschiedlichen Einkommensgrenzen vermuten lassen. Sen argumentiert sehr überzeugend dafür, auch relative Ar17
Feinberg 1987: 37. Vgl. ebd. 19 Vgl. a.a.O.: 58 f. 20 Wenn ich folgend den Zusammenhang zwischen minimalem Wohlergehen und der Abwesenheit von Armut beschreibe, der für das wirtschaftsethische Schadensprinzip entscheidend ist, dann möchte ich dabei keinen spezifischen Armutsbegriff verteidigen. Stattdessen geht es mir darum, deutlich zu machen, inwiefern Armut ein sehr aufschlussreiches Kriterium für Schädigungen im ökonomischen Kontext ist. 21 Vgl. Sen 1983. Die Einkommensgrenze für absolute Armut (international poverty line) der Weltbank liegt aktuell bei 1,90 US$ pro Tag (vgl. Weltbank 2015), während die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) relative Armut bei einem geringeren verfügbaren Haushalteinkommen als 50% des Medians in einer Gesellschaft annimmt. Damit sollen die landesspezifischen Armutsschwellen erfasst werden (vgl. OECD 2019: 100). 18
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
141
mut über einen „Kern“ von Armut zu verstehen, der absolut ist.22 Sein Grundgedanke dabei ist, dass relative Armut nur deshalb und nur dann wirkliche Armut bedeutet, weil und sofern Personen wichtige Fähigkeiten aufgrund ihrer Armut fehlen.23 Für diese Fähigkeiten wiederum können relative Positionierungen innerhalb eines sozialen Gefüges ausschlaggebend sein, wodurch sich möglicherweise auch die Fokussierung auf relative Armut in wohlhabenden Regionen erklären lasse.24 Sen führt hier ein Beispiel Adam Smiths aus dem WN an, in der Öffentlichkeit ohne Scham aufzutreten, was nur absolut erfüllt werden kann (entweder jemand muss sich schämen, oder nicht), aber dennoch relativer Mittel bedarf: Welche Kleidung dafür notwendig ist, hängt von kulturellen Bedingungen ab.25 Es gibt nach Sen demnach kulturell bedingte Bedürfnisse, die aber auf wichtige Fähigkeiten gerichtet sein können, die absolute Armutskriterien ausmachen:26 „At the risk of oversimplification, I would like to say that poverty is an absolute notion in the space of capabilities but very often it will take a relative form in the space of commodities or characteristics.“27 Indem Sen Armut mit Blick auf menschliche Fähigkeiten betrachtetet (anstatt in Verbindung mit Gütern oder dem damit verbundenen Befriedigungsniveau), möchte er vor allem den Armutszustand erfassen (mit dem oft relative Mittel verbunden sind).28 Dass dieser Zustand bezogen auf menschliche Fähigkeiten als absolut und zugleich relativ verstanden werden kann, macht relative Armut zu einem kontextsensitiven Kriterium für Schädigungen. So lässt sich anhand von landessspezifischen Einkommensgrenzen feststellen, ob jemand relativ arm ist. Relative Armut besitzt damit für alle Weltregionen potenzielle Bedeutung, was dafürspricht, sie als Kriterium für Schädigungen im ökonomischen Kontext heranzuziehen. Insofern handelt es sich bei dem Schwellenwert minimalen Wohlergehens, auf den ich am Ende dieses Abschnittes noch näher eingehen werde, um eine flexible Schwelle, die sich den regionalen Einkommensgrenzen anpasst. Eine solche flexible Schwelle ist intuitiv einleuchtend und steht in Übereinstimmung mit alltäglichen Heuristiken ökonomischer Akteure. Beispielsweise kann es bei Überlegungen darüber, ob ein bestimmter gezahlter Stundenlohn moralisch problematisch ist, als hilfreich angesehen werden, den Lohn zum regionalen Lohnniveau ins Verhältnis zu setzten und einzuschätzen, welcher Lebensstandard damit vor Ort verbunden ist. 22
Vgl. Sen 1983: 159. Vgl. a.a.O.: 155 ff. 24 Vgl. a.a.O.: 155 f., 159. 25 Vgl. a.a.O.: 159. 26 Beispielhaft führt Sen die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse von Schulkindern zur Bildungspartizipation an (vgl. a.a.O.: 162). 27 A.a.O.: 161. 28 Vgl. a.a.O.: 163 f. 23
142
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Bei solchen zustandsbezogenen Betrachtungen relativer Armut geht es dann nicht primär um Fragen globaler Ungleichheit,29 sondern um einen Vergleich des Wohlergehens der betroffenen Akteure mit dem Ziel der moralischen Orientierung in nicht-idealen Entscheidungssituationen. Relative Armut kann dabei besonders aufschlussreich sein. Während es beispielsweise unmoralisch wäre, für einen moralisch nicht relevanten Vorteil der Angestellten in Land A Schädigungen Dritter in Kauf zu nehmen, etwa indem in einem Zulieferbetrieb in Land B schädigende Löhne gezahlt werden, um den Angestellten in Land A hohe Boni-Zahlungen zu ermöglichen, die sie weiterhin an das Unternehmen binden sollen, wäre die moralische Bewertung nicht so eindeutig, wenn in Land B ein Lohn gezahlt würde, dessen Höhe geringfügig über der Grenze zur relativen Einkommensarmut liegt und entschieden werden müsste, entweder dort das Lohnniveau etwas anzuheben, oder den Beschäftigten in Land A weiterhin ein Weihnachtsgeld zu zahlen, das für diese aufgrund des auch für Land A nicht besonders hohen Lohnniveaus möglicherweise die Voraussetzung dafür ist, ihren Kindern ohne größere finanzielle Schwierigkeiten Weihnachtsgeschenke kaufen zu können; dies insbesondere dann, wenn das Beschenken von Kindern zu Weihnachten respektive das Beschenktwerden als Kind zu Weihnachten in Land A eine wichtige soziale Funktionsweise darstellt. Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass relative Armut als Kriterium für Schädigungen nicht immer ausreichend ist, sondern mit einer noch stärkeren inhaltlichen Betrachtung des Schadenszustandes zu verbinden ist. Dafür spricht schon Sens Argumentation für einen absoluten Kern relativer Armut, und besonders deutlich macht dies sein Hinweis, dass „wirkliche Armut (verstanden als Mangel an Chancen) leicht viel bedrohlicher sein [kann], als wir aus Einkommenszahlen ablesen können.“30 Jemandem, der nach monetären Maßstäben nicht als arm erscheint, können dennoch wichtige Fähigkeiten fehlen.31 So lässt sich mit Sen Armut in einer vertieft substantiellen Sicht als „schwerer Mangel an Freiheit zum Wohlbefinden“32 verstehen. Deshalb bedarf relative Armut als grundsätzlich geeignetes Schadenskriterium im Sinne praktischer Wirksamkeit hier einer inhaltlichen Ergänzung durch eine substantielle Vorstellung davon, welche Fähigkeiten für ökonomische Akteure als schädi29
Vgl. a.a.O.: 157 ff. „The fact that some people have a lower standard of living than others is certainly proof of inequality, but by itself if cannot be a proof of poverty unless we know something more about the standard of living that these people do in fact enjoy. It would be absurd to call someone poor just because he had the means to buy only one Cadillac a day when others in that community could buy two of these cars each day. The absolute considerations cannot be incosequentional for conceptualising poverty.“ (A.a.O.: 159). 30 Sen 2017: 284. 31 Vgl. a.a.O.: 281. 32 A.a.O.: 316.
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
143
gungsrelevant aufzufassen sind. Eine vertiefte inhaltliche Betrachtung möglicher Schadenszustände ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn ein Zustandsvergleich zweier oder mehrerer von relativer Armut betroffener oder bedrohter Akteure notwendig ist – wenn also in moralisch dilemmatischen Situationen Schädigungen gegeneinander abzuwägen sind. 4.1.3 Die Bedeutung „vitaler“ Fähigkeiten und Funktionsweisen Für eine solche inhaltliche Ergänzung ist der Fähigkeitenansatz (capabilityapproach) sehr aufschlussreich. Dieser ist ein prominent von Sen und Martha Nussbaum ausgearbeiteter Ansatz mit breitem Anwendungsfeld vor allem im Bereich der Entwicklungspolitik und Menschenrechte.33 In Verbindung mit Untersuchungen zur Sozialwahltheorie besitzt der Fähigkeitenansatz auch bei Sen eine starke politische Orientierung.34 Damit könnte auch er der Kritik ausgesetzt sein, unter nicht-idealen politischen Bedingungen zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten zu führen. Drei Argumente lassen sich aber dafür anführen, dass der Fähigkeitenansatz mit diesen Problemen konstruktiv umzugehen vermag. Erstens ist das politische „Ideal“ vergleichsweise wenig idealistisch. Selbst in seiner politischen Dimension ist der Fähigkeitenansatz damit weniger voraussetzungsreich und anwendungsfreundlicher insbesondere als die Integrative Wirtschaftsethik.35 Zweitens ist der Fähigkeitenansatz als Ansatz keine geschlossene Theorie, sondern für kontextspezifische Anwendung offen.36 Dabei ist zwar die politische Ebene dominant, aber nicht zwingend.37 Und drittens ist die Bereitstellung eines Maßstabes für individuelles Wohlergehen eine der zentralen Anwendungsweisen dieses Ansatzes.38 Deshalb ist er auch für individualethische Fragen ökonomischer Akteure aufschlussreich, indem er den objektiven Zustand der von einer Handlungsoption Betroffenen in den Fokus rückt. Ein großer Vorteil des Fähigkeitenansatzes ist, dass sich mit ihm wichtige Intuitionen einfangen lassen. So lässt sich mit dem Ansatz inhaltlich überzeu33 Vgl. Robeyns 2017; Sen 2017. Sens argumentative Grundlage ist für die Reichweite und Gestalt des Fähigkeitenansatzes richtungsweisend (vgl. Neuhäuser 2013: 63 ff.; Robeyns 2017). Nussbaum legt eine eigene inhaltliche Ausdeutung dieses Ansatzes anhand einer Fähigkeiten-Liste vor, die als eigene theoretische Anwendung des Ansatzes und damit als spezifische capability-Theorie gelten kann (vgl. Robeyns 2017: 92 ff.). 34 Vgl. Sen 2017: 258 ff., 271; Neuhäuser 2014: 200 f., 210. „Die Informationen, auf die sich der Befähigungsansatz konzentriert, können starken Einfluss auf die Bewertung von Gesellschaften und sozialen Institutionen ausüben, und genau darin besteht sein Hauptbeitrag.“ (Sen 2017: 260). 35 Vgl. Neuhäuser 2014; Sen 2017: 347 ff. 36 Vgl. Robeyns 2017. 37 Vgl. a.a.O.: 179 ff. 38 Vgl. a.a.O.: 23 f.
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gend begründen, dass im Falle notwendiger Entlassungen die Frage entscheidend zu berücksichtigen ist, ob die betroffenen Akteure alleinstehend sind oder eine Familie haben, für deren Unterhalt sie möglicherweise zudem bisher maßgeblich allein zuständig waren. Allgemeiner gesprochen wird aus Perspektive des Fähigkeitenansatzes die Frage möglich, ob ein bestimmter Akteur die Fähigkeit hat oder hätte, eine moralisch relevante Aufgabe zu erfüllen oder in einen moralisch relevanten Zustand zu gelangen; im Falle des obigen Beispiels, ob er fähig wäre, seine Familie zu ernähren. Zudem spricht für den Fähigkeitenansatz im Kontext der hiesigen Fragestellung, dass er bewusst die empirische mit der normativen Analyse verbindet, um praktische Lösungsvorschläge erarbeiten zu können.39 Wann sich eine Person in einem Zustand minimalen Wohlergehens befindet, lässt sich mit dem Fähigkeitenansatz differenziert analysieren. Dafür sind die zwei Grundbegriffe des Fähigkeitenansatzes – „Fähigkeiten“ (capabilities) und „Funktionsweisen“ (functionings) – und ihr Zusammenspiel sowie die damit verbundene Vorstellung menschlichen Wohlergehens genauer zu betrachten. Diese Zusammenhänge werden besonders plastisch, wenn Funktionsweisen zum Ausgangspunkt genommen werden. Funktionsweisen sind empirisch sehr gut greifbar, weil es sich dabei um die real durchgeführten Tätigkeiten (doings) und vorhandenen Zustände (beings) von Akteuren handelt.40 Funktionsweisen sind das, was ein bestimmter Akteur erreicht hat.41 Beispielsweise kann von einem ökonomischen Akteur gesagt werden, dass er eine bestimmte berufliche Position einnimmt, gut oder schlecht bezahlt wird, dass er einen langen oder kurzen Arbeitsweg hat, körperlich sehr stark fordernde Arbeit verrichtet, aufgrund bestehender Sozialversicherung vor Armut geschützt ist, in einem stark baufälligen Gebäude eine bestimmte Anzahl von Wochenarbeitsstunden bei einer bestimmten Menge von Pausen- und Urlaubszeiten arbeitet und so weiter. Bereits hier wird deutlich, dass Funktionsweisen einerseits eine sehr dichte Beschreibung der Situation eines Akteurs zulassen, andererseits schon für einen einzelnen Akteur sehr zahlreich sind, weshalb es wichtig ist, diejenigen Funktionsweisen in den Blick zu nehmen, die für einen bestimmten Kontext relevant sind. Außerdem wird deutlich, dass Funktionsweisen nur eine bestimmte empirische Auswahl der Zustände und Tätigkeiten ausmachen, die für einen einzelnen Akteur möglich wären. Neben den real vorhandenen gibt es demnach auch viele Funktionsweisen, die ein Akteur aktuell nicht realisiert hat. Sofern die Realisierung leicht wäre, besitzt er aber entsprechende Fähigkeiten. Fähigkeiten können deshalb als „realisierbare Funktionsweisen, potenzi39 40 41
Vgl. Neuhäuser 2013: 89 f. Vgl. Robeyns 2017: 38 ff.; Neuhäuser 2013: 64. Vgl. Robeyns 2017: 38.
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
145
elle oder latente Zustände und Tätigkeiten“ aufgefasst werden.42 Ingrid Robeyns beschreibt Fähigkeiten als Möglichkeiten: „what people are able to be and to do“.43 Amartya Sen bringt seine besondere Freiheitsperspektive zum Ausdruck, wenn er die „Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt“ zum spezifischen Referenzpunk des Fähigkeitenansatzes erklärt.44 Es ist nicht schwer zu sehen, inwiefern die Fähigkeiten-Perspektive den wirtschaftsethischen Blick substantiell erweitert. Ein Arbeitnehmer, für den es aufgrund der Arbeitsmarktsituation leicht möglich wäre, das Beschäftigungsverhältnis zu wechseln, besitzt die Fähigkeit zum Jobwechsel. Fährt er auch bei schlechtem Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit, obwohl er sich problemlos ein eigenes Auto leisten oder eine Mitfahrgelegenheit organisieren könnte oder wäre es ihm stattdessen oder sogar zusätzlich möglich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, so verfügt er über die Fähigkeit, auch auf anderem Wege zu seiner Arbeitsstelle zu gelangen, ohne der Witterung so stark ausgesetzt zu sein. Mit Fähigkeiten sind also real verfügbare Optionen gemeint. Deshalb sind sie so wichtig und von Funktionsweisen zu unterscheiden, denn allein von den Funktionsweisen lässt sich noch nicht darauf schließen, wie der Zustand einer Person zu bewerten ist. Einerseits ist es möglich, dass eine Person freiwillig eine Funktionsweise realisiert, die andere Personen als sehr unattraktive Option auffassen, und andererseits können nur Fähigkeiten, nicht aber die Funktionsweisen einzelner Akteure eingeschränkt sein, weil zufällig die verfügbare Option ihrer bevorzugten Option entspricht; in beiden Fällen wird allein mit Blick auf die Funktionsweisen nicht deutlich, in welcher Situation sich eine Person tatsächlich befindet.45 Für Akteure gibt es demnach eine weitere Klasse nicht realisierter Funktionsweisen, die auch nicht in ihren Fähigkeiten enthalten sind, und dennoch eine große Relevanz für sie besitzen können. So lässt sich fragen, ob eine ökonomische Akteurin mit einer sehr hohen Wochenarbeitsstundenzahl wirklich die Fähigkeit besitzt, diese (wesentlich) zu reduzieren. Sofern sie das gerne täte, ohne die Fähigkeit dazu zu besitzen, ist das für ihr Wohlergehen offensichtlich ein großes Problem. Zunächst könnte die Entscheidungssituation der Akteurin so aufgefasst werden, als hinge die Antwort auf die Frage, ob sie weniger oder sogar erheblich weniger (etwa 30 anstelle von 60 Stunden pro Wo42
Neuhäuser 2013: 65. Zwar weist insbesondere in Sens Arbeiten der Fähigkeitenbegriff eine gewisse Entwicklung auf. In einem frühen Stadium des Ansatzes sieht Sen Personen mit einer Fähigkeit, der eine Vielzahl von Funktionsweisen korrespondieren, ausgestattet. Sens späterer Fähigkeitenbegriff ist aber so zu verstehen, dass Fähigkeiten potenzielle Funktionsweisen abbilden (vgl. Robeyns 2017: 91 f.). Dieser Interpretation werde ich mich im Folgenden anschließen. 43 Robeyns 2017: 38. 44 Sen 2017: 259. 45 Vgl. Neuhäuser 2013: 66 f.
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che) arbeiten könnte, allein von ihren arbeitsvertraglichen Regelungen ab, und vielleicht noch ihrer Bereitschaft, die Arbeitsstelle zu wechseln. Mit dem Fähigkeitenansatz ist aber eine dichtere und zugleich treffendere Beschreibung der Situation möglich. Denn ob die Akteurin wirklich weniger arbeiten „kann“, hängt natürlich entscheidend davon ab, mit welchen Einkommenseinbußen sie zu rechnen hätte, ob das geringere Einkommen noch ausreichend wäre, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, ob es tatsächlich andere, vergleichbare Arbeitsstellen in ihrer Umgebung gibt usw. Ob das geringere Einkommen lebensunterhaltssichernd wäre, hängt zudem davon ab, ob sie nur ihren eigenen Unterhalt sichern muss, oder den ihrer Kinder oder anderer Familienangehöriger und welches Einkommen ansonsten noch in der Familie verfügbar ist. Andererseits wären sehr lange Arbeitswege zu einer alternativen Arbeitsstelle, verbunden vielleicht noch mit geringerem Lohn und (sehr) hohen Fahrtkosten, ein Grund, die Fähigkeit dieser Akteurin, zu dieser Arbeitsstelle zu wechseln, ernsthaft anzuzweifeln. Viele weitere empirische Tatsachen lassen sich anführen, um die Fähigkeit zum Stellenwechsel zu überprüfen. Offenkundig ist, dass es möglich ist, dass sie nicht die Fähigkeit besitzt, eine alternative Funktionsweise zu realisieren, und dass gerade der Blick auf die Fähigkeiten die Betrachtungen substantiell erweitert beziehungsweise vertieft. Deutlich wird an obigem Beispiel außerdem, dass es auf die persönlichen und sozialen Bedingungen ankommt, ob ein Akteur wirklich über bestimmte Fähigkeiten verfügt. Ihm mögen zwar Güter zur Verfügung stehen, die für andere Akteure auch zu bestimmten Fähigkeiten führen würden; für ihn selbst, angesichts seiner persönlichen Situation, mag es dennoch so sein, dass er mit den vorhandenen Gütern nicht die gleichen Funktionsweisen realisieren kann. Sen betont deshalb die Bedeutung individueller Faktoren, die entscheidend dafür sind, ob und wie sehr verfügbare Mittel (etwa ein bestimmtes verfügbares Einkommen) in bestimmte Funktionsweisen umgewandelt werden können. Diese Faktoren können persönlicher oder sozialer Art sein oder sich aus geographischen Voraussetzungen ergeben.46 Es ist also möglich, dass bestimmte Fähigkeiten gänzlich fehlen, die aber für das Wohlergehen von Personen wichtig sind. Einschränkungen des Wohlergehens lassen sich so auch als Mangel an realisierbaren Funktionsweisen und damit als Mangel an Fähigkeiten beschreiben. Vielleicht hat ein Arbeitnehmer wegen sehr langer Arbeitszeiten nicht mehr ausreichend Zeit für die Betreuung der eigenen Kinder; wenn es beiden Elternteilen so geht, sie ihre Arbeit aber nicht aufgeben oder zeitlich einschränken können, weil sie dann ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen können – wenn sehr lange Wochenarbeitszeiten für sie also eine existentielle Notwendigkeit darstellen – dann ist es möglicherweise sogar erforderlich, dass sie ihre Kinder von anderen Personen, etwa 46
Vgl. Sen 2017: 283.
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
147
den Großeltern, betreuen lassen. Vielleicht müssen die Kinder dafür aufgrund räumlicher Entfernungen oder mangelnder infrastruktureller Voraussetzungen sogar fern von ihren Eltern leben, sodass sie den Alltag ohne Eltern und die Eltern den Alltag ohne ihre Kinder verbringen müssen. Daran zeigt sich, dass die Fähigkeiten unterschiedlicher Personen voneinander beeinflusst werden: Aufgrund hoher Arbeitszeiten und niedrigen Lohnniveaus können die Eltern in obigem Beispiel die Betreuung ihrer Kinder nicht wahrnehmen, wodurch den Kindern die Fähigkeit genommen wird, bei ihren Eltern aufzuwachsen. Ein ökonomischer Akteur kann sich durch fehlende Funktionsweisen, aber auch durch fehlende Fähigkeiten in einem Schadenszustand befinden.47 Zu fragen ist in einer bestimmten Entscheidungssituation nicht nur, was ein bestimmter Akteur tut oder über welche konkreten Mittel er verfügt, sondern auch, ob er bestimmte Mittel hätte beziehungsweise eine bestimmte Handlung ausführen könnte – also bestimmte Funktionsweisen realisieren könnte. Sens Argumente gegen „Nutzen“ als bloße Wunscherfüllung illustrieren diese erweiterte Fähigkeiten-Perspektive: „a basic capability index not only shifts attention from utility to some basic human functionings (e.g., to move freely, not to be hungry), it also shifts attention from actual performance to capabilities (what a person can do rather than what he does do).”48 Einerseits geht es also zentral um Funktionsweisen, andererseits erlaubt die Betrachtung von Fähigkeiten auch einen Blick über die vorhandenen Funktionsweisen hinaus. Die Fähigkeiten-Perspektive ist nicht nur wichtig, weil sie eine differenziertere Betrachtung individueller Situationen erlaubt, indem sie den Blick über realisierte Funktionsweisen hinaus lenkt, sondern auch deshalb, weil sie es ökonomischen Akteuren ermöglicht, heuristisch zu entscheiden. Insbesondere hinsichtlich der Faktoren Lohn, Arbeitszeiten, Sozial- und Krankenversicherung, Sicherheit am Arbeitsplatz, aber auch Urlaubszeiten und Vereinigungsfreiheit sind Heuristiken praktisch sehr gut möglich. Es ist beispielsweise nicht notwendig, zu wissen, welche Funktionsweisen eine Ar47 Sich auf Fähigkeiten anstatt auf Funktionsweisen zu berufen, gilt besonders dann als attraktiv, wenn Paternalismus vermieden werden soll (vgl. Robeyns 2017: 107). Dieser mögliche Einwand, die Festlegung auf bestimmte Funktionsweisen als „vitale“ Funktionsweisen, die für das individuelle Wohlergehen wichtig sind, sei paternalistisch, greift hier aber aus zwei Gründen nicht: Erstens wäre ein Paternalismus-Vorwurf zynisch, wen es um basale Funktionsweisen geht: Es ist nicht paternalistisch, davon auszugehen, dass es grundsätzlich wichtig für Menschen ist, keinen Hunger zu leiden, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben usw. Zweitens ist es mit dem Fähigkeitenansatz gerade möglich, auch Ausnahmen von dieser Annahme ohne theoretische Schwierigkeiten zuzulassen, gerade indem er Funktionsweisen und Fähigkeiten unterscheidet. Sofern jemand die Fähigkeit besitzt, diese wichtigen Funktionsweisen zu realisieren, ist es natürlich ohne theoretische Schwierigkeiten möglich, dass er darauf verzichtet, um seine eigene Vorstellung eines guten Lebens zu verwirklichen. 48 Sen 1981: 209 (Hervorh. im Original).
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
beitnehmerin genau realisiert hat, um zu wissen, dass ihr wichtige Fähigkeiten fehlen müssen, wenn sie zu einem sehr geringen lokalen Lohn arbeitet. Andererseits ist es heuristisch gut einschätzbar, dass eine andere Arbeitnehmerin, die nach fair trade-Standards bezahlt wird, über mehr wichtige Fähigkeiten und Funktionsweisen verfügen wird. Zudem ist Empörung über bestimmte, als schädigend empfundene Arbeitsbedingungen nicht unbedingt die Empörung über die Arbeitsbedingungen einer einzelnen Person, die sich erst angesichts des Wissens über die von ihr realisierten Funktionsweisen einstellt, sondern bereits Empörung darüber, dass diese Arbeitsbedingungen nach allgemeiner Einschätzung grundsätzlich mit einer Beschränkung wichtiger Fähigkeiten und des Wohlergehens einhergehen müssen.49 Besonders deutlich wird die Wirksamkeit von Heuristiken bezogen auf Kinderarbeit. Es ist sehr gut möglich, die Situation arbeitender Kinder hinsichtlich ihrer Fähigkeiten auch ohne empirische Einzelfallkenntnisse hinreichend treffend einzuschätzen, um von einem geschädigten Zustand auszugehen. In anderen Fällen kann es notwendig sein, die Situation empirisch genauer zu betrachten. Allerdings ist in einem nicht-idealen Kontext auch keine völlige Sicherheit zu erwarten. Im Zweifelsfall ist es aber besser, Schädigungen auszuschließen. Da zudem die vitalen Interessen des Handelnden gleichwertig in die Folgenabwägung einfließen (vgl. 5.3), wird so schlimmstenfalls ein nicht-vitales Interesse zugunsten eines anderen nicht-vitalen Interesses beeinträchtigt. Auch durch möglichst genaue Betrachtung der realen Gegebenheiten kann es aber natürlich immer wieder Situationen geben, in denen keine eindeutige Einschätzung hinsichtlich eines möglicherweise bestehenden Schadenszustandes getroffen werden kann. Deutlich geworden ist, dass die normative Kritik am Fehlen bestimmter Funktionsweisen und Fähigkeiten mit einer spezifischen Vorstellung menschlichen Wohlergehens verbunden ist. Die Frage, welche Funktionsweisen und Fähigkeiten für Wohlergehen vorhanden sein müssen, ist auch innerhalb des Fähigkeitenansatzes – seiner Inderdisziplinarität entsprechend – nicht eindeutig beantwortbar. Dennoch lässt sich grundsätzlich zwischen Wohlergehen in der freiheitsbezogenen Dimension (wellbeing freedom) und Wohlergehen bezogen auf die erreichten Zustände und Funktionsweisen (achieved wellbeing) unterscheiden. Das heißt, Wohlergehen kann mit dem Fähigkeitenansatz zum einen darin gesehen werden, individuelle Freiräume für die Umsetzung je eigener spezifischer Vorstellungen individueller guter 49 Natürlich wäre es möglich, dass diese Bedingungen kompensiert werden, beispielsweise indem ein anderes Familienmitglied ein sehr hohes Einkommen erzielt und so innerfamiliär ein schädigendes Lohnniveau ausgleicht; das ändert aber nichts an der Einkommenssituation dieser Person selbst und bringt sie sogar noch in Abhängigkeit von diesen Kompensationen, wodurch sie möglicherweise die Fähigkeit verliert, die familiäre Situation frei zu wählen.
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
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Lebensführung zu schaffen, und andererseits darin, bestimmte Funktionsweisen herzustellen.50 Ein wirtschaftsethisches Schadensprinzip verlangt nach einem Schadensbegriff, der es den einzelnen Akteuren erlaubt, empirische Befunde leicht einzuordnen und mit Heuristiken zu arbeiten. Ziel ist eine möglichst klare Einschätzbarkeit der moralischen Dimension einzelner Handlungssituationen. Oft wird dafür vor allem das auf Funktionsweisen bezogene Wohlergehen (achieved wellbeing) informativ sein.51 Ein inhaltlich vergleichsweise wenig festgelegtes und stark auf individuelle Freiheit abzielendes Verständnis menschlichen Wohlergehens findet sich bei Sen. Fähigkeiten und Funktionsweisen müssen und können nach ihm nicht einheitlich für jede Anwendung festgelegt werden.52 Gleichwohl lassen sich bei ihm als besonders basal erachtete Fähigkeiten identifizieren. Diese ergeben sich daraus, was für die Möglichkeit notwendig ist, nicht in Armut zu leben. Wohlergehen ist in dieser Perspektive erst dann möglich, wenn diese Fähigkeiten in hinreichendem Maße vorhanden sind, um nicht arm sein zu müssen.53 Welche konkreten Funktionsweisen für die Möglichkeit, nicht in Armut zu leben, notwendig sind, kann regional zwar unterschiedlich ausfallen, dennoch lassen sich diese Funktionsweisen und entsprechenden Fähigkeiten beziehen auf einen angemessenen Lebensstandard, wie ihn die Vereinten Nationen in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 beschreiben. Dort heißt es in Artikel 25, Absatz 1: Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
An dieser Stelle ist es wichtig, auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, an dem der Fähigkeitenansatz eingeführt wurde: nämlich auf das Ziel, solche Interessen von Personen näher zu bestimmen, deren Zurücksetzen für ökonomische Akteure eine Schädigung ausmacht, die sich also innerhalb ökonomischer Beziehungen beeinflussen lassen. Diese Einschränkung ist für die Wirksam50
Vgl. Robeyns 2017: 118 ff. Wichtig ist zunächst einmal auch im wirtschaftsethischen Kontext, beide Wohlergehensbegriffe zu unterscheiden. Dann kann bei einzelnen Entscheidungen zwischen nichtidealen Szenarien deutlich gemacht werden, welcher Art die Erwägungen zum angestrebten Wohlergehen sind. So kann es z.B. besser sein, achieved wellbeing zu erhöhen, aber noch besser, wellbeing freedom zu erhöhen; dennoch ist vielleicht nur die Realisierung bestimmter Zustände (achieved wellbeing) zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich, woraus sich dann die moralische Forderung ergäbe, diesen Zustand anzustreben, selbst wenn theoretisch ein besserer Zustand (mehr individuelle Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, also wellbeing freedom) denkbar und unter anderen Umständen auch erreichbar wäre. 52 Vgl. Sen 2017: 270. 53 Vgl. Robeyns 2017: 94 f. 51
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keit des Schadensprinzips wichtig, und sie ist auch weniger restriktiv, als man zunächst vielleicht meinen könnte, wie sich gerade mit dem Fähigkeitenansatz zeigen lässt, denn zahlreiche Funktionsweisen und Fähigkeiten ökonomischer Akteure lassen sich offensichtlich durch das Lohnniveau, durch Arbeitszeiten und weitere arbeitsvertragliche Regelungen wie etwa Kündigungs-, Versicherungs- und Mutterschaftsschutz sowie die baulichen Maßnahmen und Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz entscheidend beeinflussen. Für die Identifikation ökonomisch schädigungsrelevanter Fähigkeiten und Funktionsweisen fällt auf, dass die zu Beginn des vorigen Abschnitts aufgeführten Wohlfahrtsinteressen bei Feinberg eine starke Deckungsgleichheit mit dem oben beschriebenen Lebensstandard aufweisen. Die innerhalb ökonomischer Beziehungen beeinflussbaren, von Feinberg genannten Wohlfahrtsinteressen gebe ich folgend sinngemäß in deutscher Übersetzung wieder: körperliche Gesundheit und Unversehrtheit, die Abwesenheit starker Schmerzen und unnötiger Ängste, Teilnahme am sozialem Leben, ein Mindestmaß finanzieller Sicherheit und (zumindest in gewissem Maße) die Freiheit von Zwang. So gehen Wohlfahrtsinteressen als vitale Interessen über bloßen Lebenserhalt hinaus, wenn sie auf einen Zustand bezogen werden, der in minimaler Hinsicht als Wohlergehen verstanden werden kann. Mit einem solchen minimalen Wohlergehenszustand sind in einer inhaltlichen Interpretation relativer Armut bestimmte Funktionsweisen beziehungsweise Fähigkeiten verbunden. Angesichts des bisher Gesagten können als fester und unkontroverser Kern eines wirtschaftsethischen Schadensbegriffs mithin folgende Funktionsweisen und entsprechenden Fähigkeiten gelten: die Versorgung mit beziehungsweise der Zugang zu ausreichender Nahrung und zu sauberem Trinkwasser; das Leben in einer Unterkunft, die vor Witterung schützt und soziale Teilhabe ermöglicht; eine materielle Versorgung, die ein gesellschaftlich angemessenes Kleiden und soziale Teilhabe ermöglicht; der Zugang zu Gesundheitsversorgung und die Fähigkeit, für die eigene Gesundheit vorzusorgen; an einem Arbeitsplatz zu arbeiten, der sicher ist, insofern er keine unnötige Gefahr für Leib und Leben bedeutet; die Abwesenheit psychischen und sozialen Zwangs; für Wechselfälle des Lebens vorsorgen zu können; über die finanziellen und zeitlichen Mittel zu verfügen, die eigenen Kinder versorgen und betreuen zu können. Im Folgenden werde ich von „vitalen Fähigkeiten“ und „vitalen Funktionsweisen“ ökonomischer Akteure sprechen, wenn solche, mit dem Zustand minimalen Wohlergehens dieser Akteure verbundene Fähigkeiten und Funktionsweisen gemeint sind und entsprechend von „vitalen Interessen“ und „Wohlfahrtsinteressen“ in diesem spezifischen, eingegrenzten Sinne. Fehlende „vitale“ Funktionsweisen können als Indikator dafür genutzt werden, dass möglicherweise ein Schadenszustand vorliegt. Diese Schäden sind aber nicht wirklich „ökonomische“ Schädigungen, sondern sind Schädi-
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gungen deshalb, weil es dem geschädigten Akteur aufgrund seines Wohlfahrtsniveaus nicht möglich ist, wichtige Funktionsweisen auszubilden. Zudem verfeinert sich durch die Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und Fähigkeiten die Sicht auf den Zustand einer Person entscheidend. Denn bestimmte Funktionsweisen können so verstanden werden, dass sie die Option beinhalten, sich auch anders zu verhalten (z.B. Formen der Abstinenz).54 Konsumverzicht wäre damit eine Funktionsweise, während jemandem, der (lebens-) wichtige Güter nicht konsumieren kann, diese wichtige Fähigkeit fehlt. Ein solcher Schadensbegriff besitzt eine große praktische Stärke, denn er ist einerseits geeignet, die Situation derjenigen in den Fokus zu rücken, die global am schwächsten gestellt sind; gerade indem das Phänomen der relativen Armut in den Blick genommen wird, besitzt er aber andererseits auch hohe Relevanz für ökonomisch und sozialstaatlich stärker entwickelte Regionen. Dass für paradigmatische Schädigungsfälle die individuellen Fähigkeiten und Funktionsweisen der betroffenen Akteure eine entscheidende Rolle spielen, und dass sich Schädigungen dadurch mitunter viel genauer erkennen lassen als dies unter der bloßen Verwendung des Kriteriums relativer Armut möglich wäre, zeigt Iris Marion Youngs Beschreibung der Arbeitsbedingungen in sweatshops: The vast majority of garment workers worldwide are women, often young women, who are readily accessible and relatively pliant from the employer’s point of view. Shifts are commonly at least ten hours, six days a week, and forced overtime is common. Factories usually have strict rules, which often include restrictions on talking and going to the bathroom, and supervisors are often abusive as a matter of policy. Working conditions are often dangerous, with poorly ventilated, overheated spaces and little protective equipment. Women workers often suffer sexual harassment or verbal abuse. Workers who protest their exploitation or attempt to organize unions are typically intimidated, beaten, or fired. Wages for these workers are often below the local legal minimum wage, and even when they are not, the wages fall below what the workers need for subsistence. Health benefits and pension plans are a fantastic dream, and there is no job security.55
Nach verbreiteten Intuitionen werden dies sicherlich Schädigungsfälle darstellen. Darüber hinaus lässt sich erstens erneut hervorheben, dass die Funktionsweisen, die für die Abwesenheit relativer Armut notwendig sind, regional unterschiedlich ausfallen können. Auch für ein „wenigstens minimal annehmbares Leben“56 brauchen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge. Zweitens lässt sich mit Sen dafür argumentieren, es dem demokratischen Dis54
So macht es das Fasten aus, dass eine Person diese Option für sich ausgewählt hat (vgl. Sen 2017: 264). 55 Young 2004: 366 (Hervorh. NP). 56 Sen 2017: 316.
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kurs zu überlassen,57 den Schadensbegriff weiter auszudeuten. Dass dieser Diskurs nicht überall möglich ist, verweist dann auf die praktische Bedeutung eines kontrafaktischen, internen Diskurses der Akteure, auf den ich am Ende dieses Kapitels eingehen werde, und für den sich ebenfalls bei Sen wichtige Beiträge finden. Bei diesem internen Diskurs geht es darum, durch eine Überprüfung aus möglichst unparteiischer Perspektive zu vertretbaren Lösungen zu kommen (vgl. 4.3). Obwohl Sen eine demokratische Lösung anstrebt, kann dieser interne Diskurs in nicht-idealer Perspektive als zweitbeste Lösung auch innerhalb seines Ansatzes angesehen werden. Vor allem aber geht es mir hier nicht um eine demokratisch-deliberative Konkretisierung des Schadensprinzips, und der Verweis auf die Bedeutung des demokratischen Diskurses bei Sen soll an dieser Stelle nur dazu dienen, deutlich zu machen, dass ein für kontextsensitive Deutungen offener Schadensbegriff eben aufgrund dieser Möglichkeit diskursiver Einigung nicht als problematisch angesehen werden muss. Außerdem ist hervorzuheben, dass es hier zwar nicht um eine demokratischdeliberative und als solche auch mit Idealisierungen verbundene Lösungsperspektive geht, dennoch aber der demokratische und der interne Diskurs nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen sondern vielmehr davon auszugehen ist, dass erstens demokratische Prozesse zwar voraussetzungsreicher sind und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, dennoch aber zu sehr konkreten Ergebnissen beispielsweise für einzelne Länder etwa durch die Ausdeutung relativer Armut oder auch eine gesellschaftliche Einigung über international anzuwendende Handelsstandards58 führen können. Zweitens ist davon auszugehen, dass vernünftige Lösungen des individuellen (nicht-idealen) wie demokratischen (idealen) Diskurses konvergent sind. Gerade die nicht-idealen Bedingungen – hier der Mangel an demokratisch-diskursiver Einigung auf allgemeine Nichtschädigung ökonomischer Akteure – machen dann Wirtschaftsethik so wichtig (vgl. Kapitel 2). Eine vollständige universale Liste schädigungsrelevanter Funktionsweisen oder Fähigkeiten ökonomischer Akteure ist deshalb nicht nur schwer zu begründen, sondern auch angesichts der Möglichkeit demokratischer Deliberation und individueller moralischer Reflexion nicht notwendig, um das Schadensprinzip wirtschaftsethisch wirksam zu machen. 57 Eine übersichtliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen öffentlichem Vernunftgebrauch und Demokratie bei Sen mit Einordnung zentraler Kritikpunkte findet sich bei Neuhäuser (vgl. 2013: 102 ff.), zum Zusammenspiel des öffentlichen Vernunftgebrauchs und demokratischer Strukturen, ihren Voraussetzungen und demokratischer Partizipation als globales und historisches Phänomen siehe auch Sen (2017: 347 ff.). 58 So ist beispielsweise die staatliche Zertifizierung durch den Grünen Knopf auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards in der Textilproduktion gerichtet, „von der Zahlung von Mindestlöhnen, über die Einhaltung von Arbeitszeiten bis zum Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit“ (https://www.gruener-knopf.de/gruener-knopf, aufgerufen am 13.1.2022, Hervorh. NP).
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4.1.4 Wohlfahrtsinteressen als moralische Ansprüche Aufgrund der zentralen Stellung von Wohlfahrtsinteressen für menschliches Wohlergehen argumentiert Feinberg wie bereits angesprochen dafür, diese als moralische Rechte aufzufassen. Er stellt heraus, dass wir uns auch und vielleicht gerade dann auf moralische Rechte berufen, wenn es keine entsprechenden juridischen Rechte gibt. Dabei werden sie als fundamentale Rechte auf eine bestimmte gegenseitige Behandlung aufgefasst, die jenseits und unabhängig von rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten existieren.59 Moralische Rechte seien ein wichtiges Konzept innerhalb unserer moralischen Urteile,60 und dabei setzten wir ihre tatsächliche Existenz voraus.61 Gleichzeitig besitzen sie eine Indikator-Funktion für möglichen juridischen Regelungsbedarf.62 Zentral ist in Feinbergs Verständnis moralischer Rechte deren Anspruchscharakter, der wiederum Folge der vitalen Interessen von Personen ist: It is because I have a claim-right not to be punched in the nose by you, for example, that you have a duty not to punch me in the nose. It doesn’t seem to work the other way round. That is, it is not the case that my right not to be punched in the nose by you exists only because you have a prior duty not to punch people in the nose. My claim and your duty both derive from the interest that I have in the physical integrity of my nose.63
Indem er moralische Rechte als Ansprüche („claims“) beschreibt, geht es Feinberg darum, zu zeigen, in welcher Position sich der Inhaber dieser Rechte in moralischer Hinsicht befindet.64 Als „claim-rights“ sind solche Rechte einforderbar: To say they have moral rights is to say that morally they are in a position to claim what they want as their due, what they have coming, and what the other party is under a moral obligation to them (not merely regarding them) to provide. A claim is different from a mere demand like that of a gunman for your money or your life, and it is different from begging, imploring, or beseeching, for to claim is to invoke the authority of 59 Vgl. Feinberg 1992a: 150 ff. Ein moralisches Recht ist nach Feinberg eines, „whose existence is not derived from any political enactment, and not subject to alteration by human volition, one which is discovered rather than invented or created […]“ (Feinberg 1992b: 175). 60 Vgl. Feinberg 1992a: 151. 61 Vgl. a.a.O.: 152, 157 f. „[…] a moral right in the objective sense […] may be unrecognized by both a country’s conventional morality and its legal system, in which case it remains a true moral right anyway. This latter point is well illustrated, I think, by the Gestapo arrest, the right to the free exercise of religion in Iran, the right of Indian widows not to incinerate themselves, and the right of the daughters of the Cairo garbage collectors not to be subjected to sexual mutilations before marriage. Arguably, in each of these cases, critical morality confers a genuine moral right that is unrecognized, indeed explicitly denied […]“ (A.a.O.: 152, Hervorh. NP). 62 Vgl. a.a.O.: 156 ff. 63 A.a.O.: 156 (Hervorh. NP). 64 Vgl. Feinberg 1992b: 193.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
governing rules or principles by producing reasons certified by those principles as relevantly applicable and binding. The claimant has control over the claimee’s duty […].65
Deutlich wird hier zudem, dass moralische Rechte als Ansprüche in einer Weise mit Pflichten verbunden sind, die die moralische Position des Inhabers dieser Rechte stärkt. So begründen moralische Rechte moralische Pflichten, indem sie Aufschluss über die berechtigten moralischen Ansprüche eine Person gegenüber einer anderen geben: It is difficult to imagine how one could know what one ought to do (generally) without first determining what rights various persons are likely to have against one, and which of these rights are likely to be waived. There is, I think, considerable plausibility in the view that your rights have a moral priority over my duties, in the sense that the duties are derived from them rather than the other way around.66
Dabei verbleibt, wie Feinberg sagt, die „Kontrolle“ über die bestehenden Pflichten zumindest in moralischer Hinsicht beim Inhaber der moralischen Rechte.67 Moralische Rechte als Grundlage moralischer Verpflichtungen anzusehen, nimmt die Perspektive des Betroffenen und potentiell Geschädigten in besonderer Weise ernst: Die basalen Interessen von Person A sind ursächlich für ihren moralischen Anspruch und für die korrespondierende Pflicht von Person B. Die Verpflichtung geht von Person A selbst aus, sie wird als Person mit moralischen Rechten und mit moralisch relevanten basalen Interessen angesehen, der eine entsprechende Autorität über die Pflichten anderer zusteht. Der Autorität von Person A entspricht die Rechtfertigungspflicht von B gegenüber A in Bezug auf den Umgang mit As Rechten und Bs Pflichten.68 Ein wichtiger möglicher Einwand ist natürlich, dass moralisch Rechte, wenn ihnen keine legalen Rechte korrespondieren oder wenn diese legalen Rechte nicht durchgesetzt werden, den Geschädigten kaum hilfreich sein können. Dieser Einwand trifft aber vor allem auf Fälle zu, in denen durch die Abwesenheit legalen Schutzes ein irreversibler Schaden eintritt.69 Feinberg hebt angesichts solcher Fälle hervor, dass moralische Rechte natürlich nicht ausreichend sind, um effektiven Schutz zu bieten, aber dennoch oft eine wichtige und nützliche Funktion besitzen.70 Vor allem ist in Fällen, in denen es um ei65
A.a.O.: 180 (Hervorh. NP). Feinberg 1992a: 156 (Hervorh. NP). 67 Vgl. Feinberg 1992a: 155; 1992b: 180; auch Beauchamp und Childress (vgl. 2013: 368) heben diesen mit dem „Beanspruchen“ verbundenen Aspekt moralischer Kontrolle des Rechteinhabers hervor. 68 Vgl. Feinberg 1992a: 155 f. 69 Vgl. Feinberg 1992b: 176. 70 „Even if moral rights are valuable commodities in general, they are not sufficient to reward their possessors to some degree in all circumstances. One can say in their behalf only that the world is better off generally for having them, that they do in many cases confer subtle benefits, but at most they are necessary not sufficient for one’s overall good, and in no case are they guaranteed protections.“ (Ebd.). 66
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
155
nen dauerhaft schadhaften Zustand geht, dem Abhilfe geschaffen werden kann (um einen Schaden, der behoben werden kann), das moralische Recht durch die ihm innewohnende Autorität über die Pflichten von B sehr wichtig. Denn es gibt A – und ebenfalls B oder auch C – die Möglichkeit, seine Situation richtig einzuschätzen (als Verletzung seiner moralischen Rechte anstatt nur einer Verletzung von Bs Pflicht) und moralische Forderungen zu formulieren oder von anderen formulieren zu lassen. So hebt Feinberg auch hervor, dass moralische Rechte zur Verhinderung von Adaption an schädigende Zustände wichtig sind.71 Damit zusammen hängt eine bereits mehrfach angeklungene, in ihrer Einfachheit aber dennoch sehr wichtige Erkenntnis zur Bedeutung moralischer Rechte: Moralische Rechte sind zwischen allen Personen gleich verteilt und bestehen grundsätzlich für jede Person jeder anderen Person gegenüber. Sie hängen nicht davon ab, ob jemand sie (in einer bestimmten Situation) beansprucht oder ob er überhaupt Kenntnis von ihnen hat.72 Wenn nun Wohlfahrtsinteressen hier im Sinne des Fähigkeitenansatzes auf den Schwellenwert minimalen Wohlergehens mit dem Kriterium der Abwesenheit relativer Armut bezogen werden, dann lässt sich mit Feinberg dafür argumentieren, dass Menschen ein moralisches Recht auf die vitalen Funktionsweisen und Fähigkeiten haben, die sie von relativer Armut befreien und ihnen minimales Wohlergehen ermöglichen. Eine entsprechende Nichtschädigungspflicht kommt dann allen anderen ökonomischen Akteuren zu, wobei damit noch nicht gesagt ist, welche situativen Pflichten damit für sie verbunden sind. Diese wichtige Frage werde ich im folgenden Kapitel aufgreifen. Ich denke, dass diese Sichtweise auf minimales Wohlergehen und entsprechende moralische Rechte auch intuitiv plausibel ist, dennoch möchte ich nicht eingehender die Position verteidigen, die mit minimalem Wohlergehen verbundenen und als solche vitalen Interessen beziehungsweise Fähigkeiten und Funktionsweisen als moralische Rechte zu verstehen. Denn wie ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels argumentieren werde, ist es schon ausreichend, das minimale Wohlergehen jedes Menschen als von gleicher moralischer Bedeutung anzusehen, um das Schadensprinzip als Handlungsregel relevant zu machen. Ich folge hier aber dem Argument Feinbergs, dass dann, wenn man davon ausgeht, dass es moralische Rechte gibt, solche Interessen aufgrund ihrer Funktion für menschliches Wohlergehen besonders plausibel als moralische Rechte aufgefasst werden können.73 71
Vgl. a.a.O.: 179 f. Vgl. Feinberg 1992a: 149, 155, 168 f. 73 Vgl. Feinberg 1987: 112. Da Feinberg den aktiven Charakter der moralischer Rechte als Anspruchsrechte überzeugend herausstellt, und die Rede von moralischen Ansprüchen möglicherweise eine noch stärkere intuitive Plausibilität besitzt als die von Rechten, werde ich im Folgenden im oben dargestellten Sinne Feinbergs von moralischen Ansprüchen sprechen, wo die spezifischen moralischen Rechte ökonomischer Akteure im hiesigen Schadensverständnis gemeint sind. 72
156
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Vitale Interessen ökonomischer Akteure als moralische Ansprüche zu verstehen, stärkt das Schadensprinzip in zweifacher Hinsicht. Erstens verdeutlicht die beschriebene Differenz zwischen legalen Rechten und moralischen Ansprüchen erneut, dass es grundsätzlich nicht ausreichend ist, sich auf rechtliche Regelungen zu verlassen, weil angesichts moralischer Ansprüche gravierende rechtliche Regelungslücken bestehen können; hier zeigt sich klar die praktische Bedeutung des Schadensprinzips unter nicht-idealen Bedingungen. Zweitens wird deutlich, dass Akteure deshalb zur Nichtschädigung verpflichtet sind, weil andere Akteure ein entsprechendes Recht besitzen. Damit verbleibt die Kontrolle über die Nichtschädigungs-Verpflichtung bei demjenigen, der diese Rechte besitzt, und sie besteht unabhängig davon, ob eine bestimmte Person sich ihrer Rechte bewusst ist. Damit wird ausgeschlossen, dass ein Akteur A einen anderen Akteur B durch seine als freiwillig verstandene Zustimmung zu den ihn schädigenden Handlungsweisen74 (etwa arbeitsvertraglichen Regelungen) aus der Pflicht zur Nichtschädigung entlassen kann. Denn selbst wenn diese schädigenden Regelungen legal sein sollten, hätte der Geschädigte A noch immer einen moralischen Anspruch darauf, dass die Regelungen zu seinen Gunsten auf ein nichtschädigendes Niveau geändert würden, da B nicht über As moralische Ansprüche verfügen kann. 4.1.5 Minimales Wohlergehen als Schwellenwert Für die Folgenorientierung des wirtschaftsethischen Schadensprinzips ist der Schwellenwert des Wohlergehens entscheidend. Inwiefern Wohlergehen als absoluter Maßstab zu verstehen ist, und weshalb dieser Maßstab für das Schadensprinzip so wichtig ist, lässt sich gut anhand von Feinbergs Argumentation für einen festen Referenzwert für die Identifikation eines Schadenszustandes zeigen. Wie der Zustand einer Person normativ einzuschätzen ist (ob ein Zurücksetzen vitaler Interessen und damit eine Schadenszustand vorliegt), ist nicht daran zu erkennen, ob es einer Person besser, schlechter oder genauso gut geht wie vor dem fraglichen Eingriff. Wie im vorigen Kapitel erwähnt, macht Feinberg zurückgesetzte (beeinträchtigte) Interessen als solche aus, die 74 Dass ein Akteur auch dann als geschädigt angesehen werden kann, wenn er bestimmten Regelungen oder Handlungen zugestimmt hat, begründet Feinberg damit, dass die „Zustimmung“ zu eigenen Handlungen eigentlich als Frage nach Freiwilligkeit aufzufassen ist: „Now, I suppose that the notion of consent applies, strictly speaking, only to the actions of another person that affect oneself. If so, then, consent to one’s own actions is a kind of metaphor. Indeed, to say that I consented to my own actions, seems just a colorful way of saying that I acted voluntarily. My involuntarily actions, after all, are, from the moral point of view, no different from the actions of someone else to which I have not had an opportunity to consent. In any case, it seems plainly false to say that a person cannot be harmed by actions, whether his own or those of another, to which he has consented.“ (Feinberg 1971: 106 f., Hervorh. im Original).
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
157
sich auch ohne den zu bewertenden Eingriff bereits in einer Entwicklung relativ zu einem bestimmten Referenzwert befunden haben (vgl. 3.5.1). Deshalb sei eine substantielle Schwelle in Form einer Referenzlinie („baseline“) notwendig, um einen Zustand bezogen auf Interessen normativ bewerten und treffende Aussagen darüber machen zu können, ob die damit ursächlich verbundene Handlung als Schädigung zu verstehen ist.75 Der Schwellenwertcharakter des Wohlergehens wiederum lässt sich gut an Feinbergs Beschreibung von Wohlfahrtsinteressen als „minimal but nonultimate goals“76 verdeutlichen: Wohlergehen bildet hier die Schwelle zwischen einem Schadenszustand und einem Zustand des individuell guten Lebens. Nicht geschädigt zu werden beziehungsweise zu sein macht dennoch nicht das gute Leben aus.77 Das Schadensprinzip ist mit der Frage verbunden, was minimalmoralisch verbindlich geregelt werden und was Gegenstand des individualmoralischen Handlungsspielraumes der Akteure bleiben soll. Insofern erfüllt der Schwellenwert des Wohlergehens eine Doppelfunktion. Erstens gibt er an, wann die Interessen ökonomischer Akteure auf eine minimalmoralisch signifikante Weise zurückgesetzt sind. Und zweitens markiert er einen Grenzwert für den jeweiligen Anwendungsbereich von Minimalmoral und persönlichen Moralvorstellungen. Dass der Schwellenwert dies leisten kann, hängt mit einer Eigenheit dieses Wertes zusammen, die Liam Shields als wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Suffizienztheorien herausstellt.78 Er argumentiert, dass die Gründe dafür, Menschen in einer bestimmten Weise zu behandeln, sich mit Erreichen eines Schwellenwertes ändern.79 Shields verbindet dazu die These, dass es gewichtige Gründe dafür gibt, Menschen bis zu einem gewissen Niveau mit bestimmten Gütern zu versorgen, mit der zweiten These, dass dann, wenn dieses Versorgungsniveau erreicht ist, nicht mehr die gleiche Dringlichkeit hinsichtlich der Versorgung mit diesen Gütern besteht und sich deshalb die Art der Gründe für weitere Güterversorgung ändert.80 Shields hebt hervor, dass die Konzentration auf solche Schwellenwerte gerade in nicht-idealen Situationen eine wichtige Orientierung bieten kann.81 Dabei ist es dann nicht so, dass nach 75 Feinberg 1987: 53, 136 ff. Die zentrale Bedeutung einer substantiellen Schwelle für die Anwendung eines Schadensprinzips stellen auch Petersen (vgl. 2014) und Holtug (vgl. 2002: 368 ff.) heraus. 76 Feinberg 1987: 37. 77 Vgl. Feinberg 1987: 31 ff. 78 Vgl. Shields 2012. 79 Vgl. a.a.O.: 107. 80 Vgl. a.a.O.: 112. „This means that once a person has secured enough the relationship between our reasons to benefit her and how well-off she is changes. Whether she has secured enough or not affects the rules that determine the weight of our reasons to benefit her.“ (A.a.O.: 108). 81 Vgl. a.a.O.: 111.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Erreichen des Schwellenwertes keine weiteren Fragen von Verteilungsgerechtigkeit zu stellen wären, sondern die Maßstäbe oberhalb und unterhalb der Schwelle sind unterschiedliche.82 Von einem Schwellenwert für minimalmoralische Standards auszugehen, bedeutet also nicht, dass jenseits des Schwellenwertes keine weiteren Wertungen vorgenommen werden könnten. Der Fähigkeitenansatz zeigt, dass mit dem Schwellenwert ein tatsächlicher Wechsel der Lebensweise verbunden ist. Damit wird ein zentraler Einwand gegen Schwelllenwertkonzeptionen entkräftet, der sich aus der Annahme ableitet, diese Werte würden willkürlich gesetzt und seien unplausibel, weil im Zweifelsfall schon kleine Änderungen des individuellen Zustandes zu qualitativen Änderungen in der Bewertung des Zustands führen können.83 Dieser Einwand verliert aber dadurch an Plausibilität, dass selbst dann, wenn die Änderungen etwa der materiellen Versorgung als solche als geringfügig erscheinen mögen, es sich dennoch bei dem dadurch angestrebten Zustand um den eines in minimaler Hinsicht guten Lebens handelt, und es für den Einzelnen durchaus einen fundamentalen Unterschied macht, ob er die Schwelle zum guten Leben überschreitet oder nicht.84 Ein Leben knapp unterhalb der Armutsschwelle ist ein qualitativ anderes, als ein Leben knapp oberhalb dieser Schwelle, auch wenn der Einkommensunterschied anderen, die sich wesentlich oberhalb dieser Schwelle befinden, als geringfügig erscheinen mag. Der Schwellenwert lässt sich weiter veranschaulichen, indem er als Lösungsansatz für Interessenskonflikte auf den beiden unterschiedlichen Ebenen betrachtet wird. So sind Konflikte zwischen Interessen jenseits der Schwelle (zwischen zwei Interessen des Typs A) für das Schadensprinzip nicht relevant. Interessenskonflikte zwischen Interessen oberhalb und vitalen Interessen unterhalb der Schwelle (zwischen Interessen der Typen A und B) lassen sich durch das Schadensprinzip eindeutig zugunsten vitaler Interessen (Typ B) auflösen. Nicht schädigungsrelevante Interessen müssen also systematisch schädigungsrelevanten Interessen den Vorrang geben. Aber auch Konflikte zwischen vitalen Interessen (Typ B – Typ B) lassen sich durch das Schadensprinzip bearbeiten. Dies sind auch die besonders interessanten Fälle für die Anwendung des Schadensprinzips. Dass das Schadensprinzip für Konfliktfälle der Konstellationen Typ A – Typ B und Typ B – Typ B Lösungen anbieten kann, werde ich diesem und dem folgenden Kapitel zeigen. Dafür ist entscheidend, dass die Folgenorientierung mit einer Verpflichtung der einzelnen Akteure auf 82 Vgl. a.a.O.: 110 f. Zudem mag es andere Ziele geben, die vorrangig sind; bürgerliche Grundrechte etwa mögen als gewichtiger angesehen werden als das allgemeine Erreichen eines ausreichenden Wohlstandsniveaus (a.a.O.: 106). 83 Vgl. Benbaji 2005: 322 f.; Chung 2017: 1925 f. 84 Vgl. Benbaji 2005: 323. Benbaji verweist zudem darauf, dass auch in anderen Zusammenhängen oft marginale Unterschiede zu einem qualitativen Unterschied führen können, etwa bei der Frage, ob jemandem ein Personenstatus zukommt (a.a.O.: 323 f.).
4.1 Wohlfahrtsinteressen und minimales Wohlergehen
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Nichtschädigung verbunden ist. Diese Verpflichtung ist im Sinne einer strengen Pflicht zu verstehen. Das heißt, dass Nichtschädigung nicht einfach eines von mehreren Abwägungskriterien darstellt. So werden Paradoxien teleologischer Ethik vermieden, die sich daraus ergeben können, dass diese ein potenzielles Aufrechnen aller positiven und negativen Handlungsfolgen annimmt.85 Dagegen sind konsequentialistischen Erwägungen aus deontologischer Perspektive dadurch Grenzen gesetzt, dass auch jenseits des kumulativen Gesamtergebnisses moralische Maßstäbe an die Bewertung von Handlungen angelegt werden.86 Die deontologische Perspektive verhindert so, dass die Schädigung Einzelner zugunsten der Besserstellung (hier gemeint als Gegenstück zur Schlechterstellung) anderer moralisch legitimiert wird. Zudem lösen die deontologischen Elemente der Folgenorientierung zwei weitere zentrale Probleme konsequentialistischer Argumentation. Diese bestehen in der Begründungsschwierigkeit von Ausnahmen konsequentialistischer Handlungsregeln sowie der Schwierigkeit, anzugeben, wann eine Handlung jenseits der denkbar besten Handlungsoption als ausreichend gut angesehen werden kann.87 „Folgenorientierung“ ist hier demnach nicht im Sinne einer rein konsequentialistischen Argumentation zu verstehen. Denn zwar ist das wirtschaftsethische Schadensprinzip durchaus konsequentialistisch geprägt, wenn damit gemeint ist, dass sich die moralische Bewertung einer Handlung aus der Bewertung ihrer Konsequenzen ergibt.88 So beinhaltet es etwa mit dem Verzicht auf die Unterscheidung von Tun und Unterlassen per se einen für konsequentialistische Ethik charakteristischen Aspekt.89 Allerdings ist die Frage, welche Folgen minimalmoralisch anzustreben sind, durch die moralischen Ansprüche der Akteure bestimmt, wodurch konsequentialistische Überlegungen wieder begrenzt werden. Diese deontologische Beschränkung konsequentialistischer Argumentation wird im folgenden Kapitel im Zusammenhang der Verantwortung ökonomischer Akteure weiter konkretisiert. Dieter Birnbacher verteidigt konsequentionalistische Ethikkonzeptionen90 gegen zwei Einwände, die auch hier relevant sind, selbst wenn keine rein kon85 Vgl. Birnbacher 2017: 194 f. Bernward Gesang (vgl. 2003: 89 ff.) stellt als Hauptproblem des Utilitarismus das Fehlen eines Maßstabes für die Verhältnismäßigkeit von Nutzengewinnverrechnungen heraus. Auch im Utilitarismus sei ein objektiver Maßstab notwendig (vgl. a.a.O.: 104 ff.). Dieser Maßstab soll dann einerseits allgemeine Pflichten begründen und diese andererseits auch begrenzen (vgl. a.a.O.: 125 ff.). 86 Vgl. Schmidt 2011. Deontologisch müssen nicht die zugrundeliegenden Motive für die Beurteilung einer Handlung entscheidend sein (a.a.O.: 47). 87 Vgl. Schroth 2011: 38 f. 88 Vgl. Schroth 2009: 73. 89 Vgl. Schroth 2011: 39 f. 90 Birnbacher selbst spricht von teleologischer Ethik synonym zum Konsequentialismus als Sammelbegriff für jede ausschließlich folgenorientierte Ethik, unabhängig von der jeweils als relevant angenommenen Art der Folgen (vgl. Birnbacher 2017: 191).
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
sequentialistische Perspektive eingenommen wird. Die erste Kritik bezieht sich auf die mögliche Rechtfertigung der Verwendung schlechter Mittel für die Erreichung guter Zwecke, die sich aus der moralischen Orientierung an Folgen ergibt. Allerdings, so Birnbacher, macht es konsequentialistische Argumentation gerade aus, dass es ihr bei der moralischen Bewertung um die Folgen und nicht um die eingesetzten Mittel geht, insofern laufe diese Kritik ins Leere. Zudem seien selbstverständlich auch die Nebenfolgen (d.h. unbeabsichtigte, aber absehbare Folgen) der eingesetzten Mittel zu bedenken. Auch die Nebenfolgen fließen in die Bewertung des voraussichtlichen Handlungsergebnisses mit ein, und schlechte, unbeabsichtigte Nebenfolgen können gute beabsichtigte Folgen überwiegen. Der zweite Einwand lautet, dass Bewertungen der Alltagsmoral ausgeblendet würden. Die Bewertung der Mittel und dabei die Unterscheidung von Tun und Unterlassen, von beabsichtigten und nicht beabsichtigten Folgen und die Tatsache, dass jemand lediglich als Mittel zum Zweck gebraucht wird, spielten in der Alltagsmoral aber eine wichtige Rolle. Hiergegen wendet Birnbacher ein, dass Urteile über die moralische Qualität der Mittel ebenfalls im Wesentlichen als an den Folgen orientiert zu erklären seien: Wir beurteilen beispielsweise beabsichtigte Schädigungen anders als unbeabsichtigte, weil sie eine größere gesellschaftliche Gefahr darstellen.91 Insbesondere in Fällen, in denen die Handlungsmotive nicht konstitutiv für die Beziehung zwischen den Betroffenen sind – wie im Falle ökonomischer Beziehungen –, ist diese Entgegnung plausibel. Auch lässt sich für ökonomische Beziehungen sagen, dass mögliche Instrumentalisierungen nicht die normative Bewertung der Handlungen bestimmen. Eine Arbeitgeberin kann einen Arbeitnehmer aus rein instrumentellen Gründen zu nichtschädigenden Bedingungen beschäftigen und ihm vielleicht sogar besonders angenehme Arbeitsbedingungen bieten, ohne dass der Arbeitnehmer allein aufgrund der Motive der Arbeitgeberin als geschädigt anzusehen wäre. Zudem sind die alltäglichen Intuitionen bezüglich Schädigungen im ökonomischen Kontext vermutlich gar nicht so stark an der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen und beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen orientiert, wie es der zweite Vorwurf voraussetzt. Zu vermuten ist vielmehr, dass verbreitete Intuitionen in paradigmatischen Fällen wie dem vom Kinderarbeit besagen, dass es keinen kategorialen Unterschied macht, ob diese durch Tun oder durch Unterlassen herbeigeführt wird, oder ob sie beabsichtigt oder unbeabsichtigt geschieht, sondern dass es auf das Ergebnis ankommt – auf die Frage, ob Kinderarbeit stattfindet oder nicht.
91
Vgl. Birnbacher 2017: 192 ff.
4.2 Nichtschädigung als moralische Regel
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4.2 Nichtschädigung als moralische Regel Das Schadensprinzip ist Teil einer minimalmoralischen Perspektive, die auf die Einhaltung moralischer Regeln im Gegensatz zur situativen Prinzipienfindung setzt: Im alltäglichen Handeln ökonomischer Akteure reicht es aus, sich an moralische Regeln zu halten und adäquat mit Ausnahmesituationen umzugehen. Nichtschädigung als „Prinzip“ ist hier im Sinne einer allgemeinen Handlungsregel zu verstehen,92 genauer als sekundäres Prinzip nach John Stuart Mill.93 Mill geht davon aus, dass primäre moralische Prinzipien als „Norm der Moral“94 nach sekundären Anwendungsprinzipien verlangen, die anderen lebenspraktischen Orientierungshilfen gleichen.95 Aus einem Grundprinzip lassen sich nach Mill moralische Regeln ableiten, die darauf gerichtet sind, dieses primäre Prinzip umzusetzen beziehungsweise das ethische Ziel zu erreichen. Moralische Regeln sind nach ihm dann als sekundäre (abgeleitete) Moralprinzipien zu verstehen.96 Aus utilitaristischer Perspektive ist bei Mill das primäre Prinzip das Nützlichkeitsprinzip.97 In diesem Abschnitt geht es zentral um die Rolle und Eigenschaften des Schadensprinzips als Sekundärprinzip, wofür ich zunächst kurz darstelle, wie Mill Sekundärprinzipien konzipiert, und anschließend das wirtschaftsethische Schadensprinzip als moralische Regel für ökonomische Akteure charakterisiere. Zuvor sei aber das hier angenommene, ebenfalls kontextspezifische Primärprinzip benannt. Obwohl das Schadensprinzip als praktische Regel den Kern des hier verfolgten wirtschaftsethischen Ansatzes bildet, ist auch das Primärprinzip für das Schadensprinzip wichtig, weil es sowohl dessen Grundlage als auch die für den Umgang mit Dilemmasituationen bildet, wie sich gleich noch genauer zeigen wird. Dabei ist zu beachten, dass dieses primäre Prinzip dem nicht-idealen Rahmen entsprechen muss, um das Ziel der praktischen Wirksamkeit zu erfüllen. Das heißt, auch ökonomische Akteure, die nicht-ideale moralische Akteure sind – beispielsweise keine ideal vernünftigen Akteure – müssen in der Lage sein, dieses Grundprinzip als gültig anzuerkennen und sich bei ihren Handlungen und bei ihren Entscheidungen in moralischen Dilemmasituationen darauf zu beziehen. Den Ergebnissen des vorangegangenen Abschnittes entsprechend wird hier die Sicherung des minimalen Wohlergehens aller Menschen als die dem Schadensprinzip zugrunde liegende allgemeine Handlungs92
Vgl. Neuhäuser 2011: 217. Mill 2010: 73 ff. Wenn folgend von Sekundär- und Primärprinzipien die Rede ist, sind demgemäß primäre und sekundäre Handlungsregeln gemeint. 94 A.a.O.: 39. 95 Vgl. a.a.O.: 73 f. 96 Vgl. a.a.O.: 73 ff. 97 Vgl. a.a.O.: 13 f. 93
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
regel verstanden. Im darauffolgenden Abschnitt (4.3) werde ich die Voraussetzungen zur Anerkennung dieses Prinzips und der Anwendung des Sekundärprinzips auf Akteursebene behandeln. Auch wenn einem Primärprinzip gefolgt wird, bedeutet dies für Mill nicht, dass in jeder Situation eine grundsätzliche Entscheidung darüber getroffen werden muss, durch welche Handlung diesem Prinzip am besten entsprochen werden kann. Stattdessen gibt es empirisches Wissen darüber, welche Handlungsweisen am ehesten zum Primärziel beitragen, und aus diesem Wissen lassen sich Regeln als „Gebote der Moral“98 ableiten.99 Diese abgeleiteten Regeln sind entsprechend vorläufig und mit geändertem Wissensstand oder der Identifikation noch zielführender Regeln veränderbar. Dass praktische Regeln grundsätzlich verbesserbar sind, bedeutet dennoch nicht, dass sie nicht vorläufig gültig und handlungsleitend sein sollten.100 Sekundäre Moralprinzipien gleichen mithin einem „allgemeinen Schluss“ menschlicher Lebenserfahrung,101 also einem Schluss aus einem als primär angenommenen Zweck und empirischen Erfahrungen auf die besten alltäglichen Handlungsweisen und entsprechende Regeln zum Erreichen dieses Zwecks. Moralische Regeln ergeben sich für Mill aus der Tendenz, mit der bestimmte Handlungsweisen zu den erwünschten Ergebnissen führen.102 Aufgrund der realen Gegebenheiten menschlichen Lebens lassen sich moralische Regeln allerdings nicht als untereinander widerspruchsfrei formulieren, was aber nicht auf ein Problem des Primärprinzips zurückzuführen ist, sondern auf die tatsächliche Existenz moralischer Konflikte, die sich auch in Konflikten zwischen einzelnen Handlungsregeln niederschlagen und situative Anpassungen sowie Ausnahmen von den Regeln notwendig machen.103 Dass die abgeleiteten moralischen Regeln Ausnahmen haben, zeigt, dass auch Abwägungen unter Maßgabe des Primärprinzips möglich sein müssen.104 So lässt sich mit Mill sagen, dass sich die Stärke einer ethischen Theorie gerade im Umgang mit Ausnahmesituationen zeigt.105 In Fällen moralischer Konflikte tritt dann die moralische Verantwortung des Einzelnen deutlich hervor: Hier muss er den 98
A.a.O.: 73. Vgl. a.a.O.: 71 f. 100 Vgl. a.a.O.: 69 ff. „Aber die Regeln der Moral für verbesserungsfähig zu halten heißt nicht, sich über die mittleren allgemeinen Prinzipien hinwegzusetzen und jede einzelne Handlung unmittelbar am obersten Prinzip prüfen zu wollen. Es ist nicht einzusehen, warum die Anerkennung eines ersten Prinzips mit der Einbeziehung sekundärer Prinzipien unverträglich sein sollte.“ (a.a.O.: 73). 101 A.a.O.: 75. 102 Vgl. a.a.O.: 23. 103 Vgl. a.a.O.: 75 f. 104 Vgl. a.a.O.: 69. 105 „In jedem System der Moral treten Fälle auf, in denen Pflichten eindeutig einander widerstreiten, und dies sind die eigentlichen Schwierigkeiten und Probleme sowohl für die ethische Theorie als auch für das gewissenhafte praktische Handeln.“ (A.a.O.: 77). 99
4.2 Nichtschädigung als moralische Regel
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„Spielraum zur Anpassung an die jeweils besonderen Umstände“ im Zuge seiner moralischen Verantwortung nutzen. Dabei kann er dann „widerstreitende Rechte und Pflichten“ auf das Primärprinzip beziehen. Dass die Normanwendung immer wieder mit Widersprüchlichkeiten umgehen muss, spricht nicht gegen die Bedeutung des Primärprinzips, sondern vielmehr für sie (als letzte Entscheidungsgrundlage).106 Ein Rekurs auf das Primärprinzip ist aber eben nur bei Konflikten im Bereich der Sekundärprinzipien notwendig.107 Indem die moralische Regel als eine Alltagsanwendung des Primärprinzips konzipiert ist, die gerade auf den Verzicht einer jeweils eigenständigen moralischen Situationsbewertung angelegt ist, ist auch nachvollziehbar, dass Handlungsregel und Handlungsmotiv sich nicht entsprechen müssen. Die Richtigkeit einer Handlung hängt nicht vom zugrundeliegenden Motiv ab, das Handlungsmotiv darf nur der Regel nicht zuwiderlaufen.108 So wird noch einmal verdeutlicht, dass die Klugheitsbegründung des Schadensprinzips im ökonomischen Kontext, wie im letzten Kapitel in Auseinandersetzung mit den Theorien Kurt Bayertz’ und Bernard Gerts herausgestellt, nicht erfolgversprechend sein kann: Sie macht die Begründung der Handlungsregel von Handlungsgründen abhängig, die diese Handlungsregel systematisch unterlaufen, indem zwar die öffentliche Befürwortung der Regel klug sein könnte, während das heimliche Regelbrechen ebenfalls klug wäre. Diesen Punkt werde ich im nächsten Abschnitt wieder aufgreifen. Der Zusammenhang zwischen dem primären und dem sekundären Prinzip lässt sich gut schematisch darstellen, indem das Primärprinzip als erste von zwei Prämissen und das Sekundärprinzip als Konklusion verstanden wird, wie John M. Baker zeigt. Die zweite Prämisse bildet dann empirische Erfahrungswerte über die gemeinhin mit dem gewünschten Ergebnis verbundenen Handlungsweisen ab.109 Daran lässt sich besonders deutlich erkennen, dass Ethik als praktische Disziplin110 auf der allgemeinen Ebene und der Anwendungsebene 106
Ebd. Vgl. a.a.O.: 79. 108 Vgl. a.a.O.: 55 f., 61. „Im Gegenteil, neunundneunzig von hundert Handlungen haben andere Motive und das mit Recht, solange die Regel der Pflicht sie nicht verurteilt.“ (A.a.O.: 57, Hervorh. NP). Wichtig ist das Motiv aber für die Beurteilung der handelnden Person (vgl. a.a.O.: 61). Auf die Bedeutung des Charakters des Handelnden für die vorliegende Fragestellung werde ich in Kapitel 5 eingehen. 109 Vgl. Baker 1971. Außenvorlassen werde ich hier die Frage, ob als Handlungs- oder Regelutilitarist zu verstehen ist. Zwar zeigt Baker für Brown (1974), dass Mills Utilitarismus als Handlungsutiliatarismus gemeint ist, diese Frage wurde (vgl. Gaus 1980) und wird aber sehr kontrovers diskutiert, wobei Turner (2015) gegen die vorherrschende regelutilitaristische Deutung Mills dessen praktische Regeln mit einer handlungsutilitaristischen Deutung verbindet. 110 Baker stellt das Verhältnis von „Art“ und „Science“ bei Mill heraus, im Sinne der Übersichtlichkeit verwende ich hier aber schon Mills (2010) Beschreibung der Ethik als „practical art“ (a.a.O.: 8) beziehungsweise in der Übersetzung als „praktische Disziplin“ (a.a.O.: 9). 107
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
die entscheidende Rolle spielt. Sie legt die Ausgangsprämisse fest und leitet die moralischen Regeln auf Sekundärebene als Konklusion ab. Deutlich wird zudem, dass für die praktischen Handlungsregeln die empirischen Erfahrungswerte als generalisierte Aussagen in Form der zweiten Prämisse eine unverzichtbare Rolle spielen. Was etwa das Schadensprinzip von einer Arbeitgeberin fordert, wird erst dadurch erkennbar, dass zuvor ebenfalls klar ist, was für eine Arbeitnehmerin eine Schädigung bedeuten würde – beispielsweise ihre aus einer sehr hohen Anzahl von Wochenarbeitsstunden resultierende Unfähigkeit, ihre Kinder im eigenen Haushalt zu versorgen. Wenn also ethisch entschieden ist, welches das anzustrebende Ziel ist (Prämisse 1) und hinreichend klar ist, wie sich dieses Ziel erreichen lässt, welche Handlungen gemeinhin dazu beitragen, dass der gewünschte Zustand erreicht wird (Prämisse 2), dann lassen sich abgeleitete Handlungsregeln aufstellen (Konklusion). Die moralischen Regeln, die sich auf der Stufe der Konklusionen ergeben, sind dann die Sekundärprinzipien.111 Weil sie von den in der empirischen zweiten Prämisse angenommenen kausalen Zusammenhängen abhängen, die aber nur Tendenzen und keine vollständig sicheren Handlungsergebnisse wiedergeben, ist es möglich, dass sich moralische Regeln widersprechen,112 was für Mill, wie gesehen, aber kein theoretisches Problem ist, sondern vielmehr die realen moralischen Konfliktsituationen widerspiegelt. Wenn eine moralische Regel als Sekundärprinzip verstanden wird, dann ist damit also gemeint, dass sie meistens zu den erwünschten (Prämisse 1) Ergebnissen führt (Prämisse 2). Sie ist eine Regel, an der sich Alltagshandlungen orientieren, einerseits gerade damit nicht jede einzelne Handlung am Grundprinzip überprüft werden muss und andererseits, weil dies für Mill ohne die generalisierten Aussagen der zweiten Prämisse gar nicht möglich ist.113 Für ein Handeln gemäß dieser Anwendungsregel ist zudem kein gegenseitiges Wohlwollen oder überhaupt eine moralische Motivation notwendig; sie kann auch durch Einüben und Gewohnheit befolgt werden.114 Und sie ist eine Regel, die in moralischen Konfliktfällen Ausnahmen vorsieht. Bezogen auf Nichtschädigung als moralische Regel bedeutet die grundsätzliche Folgenorientierung, dass Ausnahmen von der Regel dann nicht nur möglich, sondern auch moralisch gefordert sind, wenn deren Befolgung besonders schlechte Folgen hätte. Kurt Baier zeigt Ausnahmen, die der Regel selbst dienen, als Bestandteil der Regel selbst auf.115 In diesen Konfliktfällen ist das Primärprinzip heranzuzie111
Vgl. Baker 1971: 69 f. Vgl. a.a.O.: 71. 113 Vgl. Mill 2010: 11 ff., 77 f. 114 Vgl. Birnbacher 2010: 204. 115 Vgl. Baier 1974: 182 ff. Solche regelkonformen Ausnahmen sind das Gegenteil zu Ausnahmen, die der Regel widersprechen und zugunsten einer bestimmten Person (etwa des Handelnden selbst) gemacht werden (ebd.). 112
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
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hen, und der Charakter des Handelnden beziehungsweise die Ausbildung moralischer Tugenden ist dann besonders wichtig, gerade weil regelgemäßes Handeln ja nicht mehr möglich ist.116 Den Umgang mit moralischen Konfliktsituationen im Zusammenhang mit den wirtschaftsethischen Schadensprinzip werde ich im folgenden Kapitel thematisieren, hier geht es zunächst nur darum, wie dieses Prinzip als moralische Regel zu verstehen ist. Wird das wirtschaftsethische Schadensprinzip als moralisches Sekundärprinzip verstanden, dann können ökonomische Akteure unabhängig von ihren Motiven und auch rein gewohnheitsmäßig minimalmoralisch handeln. Ein Ausnahmefall wären Motive, die mit dem Schadensprinzip in Konflikt geraden, worauf ich ebenfalls im nächsten Kapitel eingehen werde (vgl. 5.3.3). Zudem können sie entsprechend minimalmoralischer Regeln handeln, ohne sich in jeder Handlungssituation oder überhaupt der moralischen Begründung dieser Regeln bewusst zu sein. Diese Beschreibung moralischen Handelns ökonomischer Akteure mag kontraintiutiv erscheinen, lässt sich aber durch folgendes Beispiel weiter plausibilisieren. Vielleicht ist ein Akteur in einem Bereich tätig, in dem rechtliche Regelungen oder unternehmensinterne Regeln Schädigungen effektiv verhindern und er ist aus prudentiellen Gründen, aus Gewohnheit oder auch anderen nicht-moralischen Gründen bestrebt, den Rechtsrahmen strikt einzuhalten und Regelungslücken nicht auszunutzen. Aus hiesiger minimalmoralischer Perspektive würde er moralisch unproblematisch handeln, und ihm aufgrund ihrer fehlenden moralischen Motivation unmoralisches Verhalten vorzuwerfen erschiene zu rigoros.117 So kann jemand auch rein zufällig und ohne tieferes Nachdenken nichtschädigend handeln, und dies möglicherweise sogar dauerhaft.
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure 4.3.1 Unparteilichkeit und Wohlwollen Eine wichtige bisher offene, für die praktische Wirksamkeit des Schadensprinzips aber entscheidende, Frage ist die nach den persönlichen Voraussetzungen ökonomischer Akteure, das Grundprinzip (Primärprinzip) minimalen Wohl116 Vgl. Mill 2010: 61; 77. Zudem ist es für das Befolgen des Sekundärprinzips natürlich sehr hilfreich, entsprechende Tugenden auszubilden (vgl. a.a.O.: 107 f.). 117 Damit ist, wie bereits angesprochen, nicht gemeint, dass die charakterliche Bewertung einer Person nicht über die minimalmoralische Bewertung hinausgeht. Jemand, der einzig selbstinteressiert handelt (sofern einem Menschen dies möglich ist) und deshalb das Schadensprinzip einhält, wird auf Grundlage von Maßstäben, die jenseits des Schadensprinzips angelegt werden, anders beurteilt werden als jemand, der sich auch um das Wohlergehen anderer um ihrer selbst willen bemüht. Zudem können moralische Motive natürliche eine sehr wichtige Ausgangsmotivation für minimalmoralisches Handeln im hiesigen Verständnis darstellen.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
ergehens aller Menschen anzuerkennen. Zwei Grundgedanken Mills lassen sich dabei zum Ausgangspunkt nehmen, wobei der zweite hier zentral ist. Erstens wird nach Mill das Primärprinzip (bei ihm das Nützlichkeitsprinzip) auch durch die Gemeinschaftsgefühle der Menschen gestützt.118 Gemeinschaftsgefühle sind für ihn die Gefühle des Menschen als gesellschaftliches Wesen.119 Wichtig ist an dieser Stelle, dass sich aus diesem „mächtigen natürlichen Gefühl“ als dem „Verlangen nach Einheit mit unseren Mitgeschöpfen“120 die Notwendigkeit ergibt, die Interessen aller anderen Gemeinschaftsmitglieder als gleichermaßen wichtig anzusehen. Alle Menschen als in grundlegender Hinsicht gleich wahrzunehmen schließt für Mill ein, ihre Interessen nicht zu verletzen und den Schutz fremder Interessen (und sei es instrumentell) zu befürworten.121 In einer weniger voraussetzungsreichen Interpretation ließe sich dieser Grundgedanke so verstehen, dass das Leben in menschlicher Gemeinschaft gemeinhin mit dem Bedürfnis nach einer Verbindung zu den Mitmenschen verbunden ist, und dass aufgrund dieses Bedürfnisses andere Menschen als in minimaler Hinsicht gleichwertig verstanden werden müssen, indem deren basale Interessen als gleichwertig und damit gleichberechtigt angesehen werden. So lässt sich eine mögliche Motivation für minimalmoralisches Verhalten beschreiben. Auch Donald Dworkin argumentiert, dass die Ankerkennung der gleichen objektiven Wichtigkeit menschlichen Lebens die praktische Möglichkeit einschränkt, existentielle Nöte auch völlig fremder Menschen einfach auszublenden.122 Zudem verweist Mill selbst darauf, dass diese Vorstellung „natürlicher“ Gemeinschaftsgefühle nicht mit einer empirischen Aussage über deren vollständige Existenz verbunden sein muss. Dass Gemeinschaftsgefühle natürlich, also mit dem Wesen des Menschen verbunden seien, bedeute nicht, dass sie auch individuell oder gesellschaftlich tatsächlich (bereits) umfassend vorhanden sind, oder dass sie vollständig entwickelt sein müssten, um eine wichtige moralische Funktion für die Stützung des Primärprinzips zu übernehmen. Auch vergleichsweise schwache Gefühle der Verbundenheit mit anderen führe etwa schon dazu, 118
Vgl. Mill 2010: 93 f. Diese Gefühle seien die Grundlage des Utilitarismus, die sich auch analytisch, durch Überprüfung der eigenen Moralvorstellungen, nicht auflösen lasse (vgl. ebd.). 119 Vgl. a.a.O.: 95 ff. „Das tiefwurzelnde Selbstverständnis, dem gemäß sich jedes Individuum schon jetzt als gesellschaftliches Wesen sieht, wird es ihm als eines seiner natürlichen Bedürfnisse erscheinen lassen, die eigenen Gesinnungen und Ziele mit denen der Mitmenschen in Einklang zu wissen.“ (A.a.O.: 101 f.). 120 A.a.O.: 95. Gemeinschaftsgefühle sind nach Mill als natürlich zu verstehen auch dann, wenn sie das Ergebnis eines Lernprozesses sind, nämlich im gleichen Sinne, in dem auch andere erlernte Fähigkeiten dem Menschen eigen sind. So verstanden „ist die moralische Fähigkeit“ für Mill „ein natürlicher Spross unserer Natur“ (ebd.). 121 A.a.O.: 95 f. „Eine Gesellschaft von Gleichen kann nur unter der Voraussetzung existieren, dass die Interessen aller gleichermaßen geachtet werden.“ (A.a.O.: 97). 122 Vgl. Dworkin 2014: 465, 468.
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
167
dass zumindest stark rücksichtsloses Verhalten dem Einzelnen als praktisch undurchführbare Handlungsoption erscheint.123 Der zweite hier wichtige Grundgedanke Mills ist die mit seiner Utilitarismus-Interpretation verbundene Forderung nach Unparteilichkeit hinsichtlich des Wohlergehens der Betroffenen bei der Beurteilung der Folgen einer bestimmten Handlung.124 Allerdings erfordert Unparteilichkeit nach Mill nicht nur, bei der Entscheidungsfindung von den eigenen Interessen abzusehen, sondern auch, allen anderen Betroffenen Wohlwollen – also mehr als „Unvoreingenommenheit“ oder „Parteilosigkeit“ in einem alltäglichen Verständnis – entgegen zu bringen. Zwar impliziert die Folgenorientierung der Handlungsbewertung bei Mill auch, dass die geforderte Uneigennützigkeit nicht auf die Motive der Einzelhandlungen, sondern auf die allgemeinen Regeln, denen die einzelne Handlung folgt, bezogen ist.125 Dennoch sieht er das Ideal utilitaristischer Beurteilung in der Goldenen Regel formuliert, die nicht nur fordere, sich anderen gegenüber so zu verhalten, wie man selbst wollen würde, dass diese sich gegenüber einem selbst verhalten, sondern auch, den anderen dabei mit Wohlwollen in Form von Nächstenliebe zu begegnen.126 Zwar stellt dies nur eine mögliche Interpretation der Goldenen Regel dar, aber die Verbindung mit der Perspektive der Nächstenliebe ist die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren dieser Regel bei Mill,127 und nach Peter Ulrich für die Funktionsfähigkeit der Regel an sich.128 Für sich stehend sei die Goldene Regel als „bis heute populärste Ausformulierung des Reziprozitätsgedankens“129 eben aufgrund der fundamentalen Rolle der Reziprozität zu sehr an die Klugheitsperspektive gebunden, um auszuschließen, dass reziprok auch negative Erfahrungen beantwortet werden.130 Reziprozität nicht nur in strategischer, sondern auch in ethischer Hinsicht entstehe erst im Zusammenspiel mit Nächstenliebe, wobei Ulrich nicht auf deren emotionalen Aspekt, sondern auf die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen – des Selbst und der anderen – abzielt.131
123
Vgl. Mill 2010: 101 f. Um moralisch richtige Entscheidungen treffen zu können, müsse das Glück aller als gleichwertig anerkannt und von der bloßen Verfolgung des eigenen Glücks Abstand genommen werden (vgl. a.a.O.: 53 f.). Die utilitaristische Ethik entspreche letztlich der „Rücksicht […], die wir den Interessen unserer Mitmenschen schulden“ (a.a.O.: 91 f.). 125 Vgl. a.a.O.: 55 f. 126 A.a.O.: 53. 127 Vgl. Burton/Goldsby 2005: 374. 128 Vgl. Ulrich 2008: 61 ff. 129 A.a.O.: 61. 130 Vgl. a.a.O.: 61 ff. 131 Vgl. a.a.O.: 64. „Hier geht es gerade nicht darum, sich durch Nächstenliebe selbst ‚beliebt‘ zu machen, sondern darum, jeden Menschen, auch uns selbst, als prinzipiell liebenswürdig zu erkennen.“ Gefordert sei eine „Symmetrie von Nächsten und Selbstliebe“ (ebd., Hervorh. im Original). 124
168
4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Diese notwendige Ergänzung der Goldenen Regel um eine moralische Perspektive bringt die Frage nach der jeweiligen Vorrangigkeit moralischer Gründe und solcher des Eigeninteresses wieder ins Spiel.132 Insbesondere für wirtschaftsethische Fragestellungen hilft ein Rekurs allein auf die Goldene Regel nicht weiter, ohne dass zuvor geklärt ist, von welcher Perspektive aus die Anwendung der Regel erfolgen soll.133 In problematischer Weise offen lässt die Regel, was es heißen soll, jemanden und vor allem alle Beteiligten und Betroffenen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.134 Dass Ulrich die Nächstenliebe als Ausdruck der Gleichwertigkeit aller Personen deutet, weist darauf hin, dass es diese Perspektive ist, die für die erfolgreiche Anwendung moralischer Regeln entscheidend ist. Bevor ich hierauf weiter eingehe, müssen jedoch zuvor noch kurz die zwei wichtigsten Gründe dafür angesprochen werden, dass auch eine Vorstellung von Nächstenliebe als stärkeres emotionales Wohlwollen für ökonomische Kontexte nicht weiterhelfen würde. Eine solch starke Vorstellung von Wohlwollen wäre für ökonomische Akteure eine problematische Voraussetzung für Nichtschädigung, weil erstens nicht davon auszugehen ist, dass starkes emotionales Wohlwollen in vielen modernen ökonomischen Beziehungen besteht. Zweitens zeigt Donald Dworkin in einer intuitiv einleuchtenden und realistischen Einschätzung des Verhältnisses von Fremd- und Eigeninteresse, dass die gleiche objektive Bedeutung aller menschlichen Leben anzuerkennen nicht die Bereitschaft beinhaltet, das eigene Wohlergehen zugunsten des Wohlergehens anderer erheblich einzuschränken.135 Eine Konsumentin, der das Wohlergehen derjenigen wichtig ist, die an der Herstellung ihrer konsumierten Kleidung beteiligt sind, muss deshalb nicht bereit sein, einen so erheblichen Teil ihrer verfügbaren fi132
Vgl. a.a.O.: 63. Vgl. Burton/Goldsby 2005. Suchanek (2015a: 17) etwa formuliert folgende Goldene Regel als dezidiert normativen Ansatz für ökonomische Akteure: „Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil!“ Diese Form der Goldenen Regel spielt in der Unternehmens- und Managementethik Suchaneks eine zentrale Rolle (vgl. Suchanek 2015a: 187 ff., Suchanek/von Brook 2017). 134 Vgl. Burton/Goldsby 2005: 376 f. „The Golden Rule is deceptively simple. For it […] to be practically useful the superficial simplicity must be brushed aside and the underlying complexity must be explored. In a business setting, or any setting beyond two people, the rule’s implications for behavior in a social setting must also be explored. This means that the rule’s instructions for dealing with multiple stakeholders with conflicting interests must be found. If these issues are not explored, the call to use the Golden Rule as a universal ethical principle is empty.“ (A.a.O.: 373, Hervorh. NP). „It ensures, if followed, that no one will be treated in a way the actor would not consent to, but it allows for different treatment if different moral principles arrive at different views of the morality of a particular action.“ (A.a.O.: 375, Hervorh. NP). 135 Vgl. Dworkin 2014: 464 f. „Sie können die objektive Wichtigkeit des Lebens einer fremden Person anerkennen, ohne denken zu müssen, daß Sie selbst nicht mehr Geld und Möglichkeiten haben sollten als diese.“ (A.a.O.: 466 f.). 133
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
169
nanziellen Ressourcen für den Konsum von unter nachweislich nichtschädigenden Bedingungen produzierten Kleidung aufzuwenden, dass sie selbst deshalb von relativer Armut betroffen ist. Bezogen auf Unternehmen ist drittens einzuwenden, dass eine uneigennützige Interpretation von Wohlwollen oftmals den Unternehmenszwecken widerspräche.136 Auch wenn eine gewisse Unparteilichkeit bei der Beurteilung der Handlungsfolgen für ökonomische Akteure gefordert ist, um die Interessen anderer angemessen berücksichtigen zu können, ist für nicht-ideale ökonomische Akteure eine Vorstellung von Unparteilichkeit notwendig, die nicht auf das Vorhandensein starken Wohlwollens angewiesen ist. 4.3.2 Unparteilichkeit als Distanzierung vom Selbstinteresse Ein anschaulicher Ausgangspunkt für eine solche nicht-ideale Vorstellung von Unparteilichkeit ist Adam Smiths Vorstellung objektiver moralischer Beurteilung, wie er sie mit dem „unparteiischen Beobachter“ (impartial spectator)137 darstellt. Zwar setzt auch Smith dabei die Existenz gegenseitigen Mitgefühls als Motivation dafür voraus, überhaupt eine moralische Perspektive einnehmen zu wollen.138 Wo diese Bereitschaft zu moralischem Handeln aber vorhanden ist, da nimmt der Handelnde eine von seinem Eigeninteresse verschiedene und abstrahierende, und so eine möglichst neutrale Perspektive ein, um fremde Interessen angemessen berücksichtigen und zu moralischen Urteilen gelangen zu können. Die unparteiische Perspektive ist demnach eine, die von der natürlichen Selbstbevorzugung Abstand nimmt.139 Man kann mit Smith sagen, dass ein wohlwollender Akteur um Objektivität bemüht ist, und deshalb die Perspektive des neutralen Beobachters einnimmt. Wohlwollen kann in einem ganz grundlegenden Verständnis als ein Streben nach gleicher Distanz zu allen Betroffenen verstanden werden, und unparteiische Beurteilung wiederum lässt sich als Form des „Wohlwollens“ in ganz basaler Hinsicht verstehen, die von einer anspruchsvolleren Form des Wohlwollens (in Form etwa von Nächstenliebe) zu unterscheiden ist. Mit Unparteilichkeit ist allerdings keine vollständige, sondern nur eine gegenüber einer subjektiven Perspektive stärkere Unparteilichkeit gemeint.140 Dabei geht es darum, über Distanzierung von der eigenen individuellen Position Unparteilichkeit in ausreichendem Maße herzustellen, um das Wohlergehen der vom eigenen Handeln Betroffe136 Vgl. Suchanek 2015a: 261. Allerdings kann eine schwächere, mit Eigennutz kompatible Vorstellung von Wohlwollen für Unternehmen eine wichtige Tugend sein, wenn sie etwa besonders kundenfreundlich sind (ebd.). 137 Smith, TMS, III.3.1. 138 Vgl. a.a.O.: I.i.1. 139 Vgl. Smith, TMS, II.ii.2.1, III.4.7 ff.; Suchanek 2015a: 182 f. 140 Vgl. Neuhäuser 2014: 206.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
nen angemessen einschätzen zu können. Diese einfachere Form des Wohlwollens beinhaltet keine moralische Motivation. Stattdessen zielt sie auf den Maßstab ab, der für die Verallgemeinerbarkeit von Handlungen angelegt wird. Wie sich im vorigen Kapitel, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Gerts Begründung der moralischen Regeln, gezeigt hat, ist es für die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsregeln entscheidend, in Hinblick worauf eine Handlungsweise als verallgemeinerbar gelten kann. Dagegen ist es problematisch, allein die Bereitschaft zur Verallgemeinerung als Rechtfertigung für moralische Regeln anzuführen.141 Denn es könnten beispielsweise ausschließlich Klugheitsgründe sein, die jemanden dazu bewegen, ein Handlungsprinzip verallgemeinern zu wollen.142 Klugheitsgründe aber sind nicht a priori universell, und insbesondere zwischen ökonomischen Akteuren vermutlich sehr unterschiedlich. Machtasymmetrien etwa können dazu führen, dass unterschiedliche Akteure von ihren jeweiligen persönlichen Standpunkten aus sehr unterschiedliche Maximen verallgemeinern wollen können würden. Aus Sicht eines Unternehmens mit großer Marktmacht etwa werden unter prudentiellen Gesichtspunkten andere arbeitsrechtliche Regularien als allgemeine Regel wünschenswert sein als aus Sicht eines einzelnen Arbeitsnehmers ohne berufliche Alleinstellungsmerkmale. Was ein einzelner Akteur als allgemeingültig wünschenswerte Regel erachten würde, ist aufgrund der sehr unterschiedlichen Klugheitsstandpunkte kein verlässlicher Anhaltspunkt dafür, welche Regeln allgemein wünschenswert wären. Dies war auch die zentrale Schwierigkeit an der Rationalitätsbegründung der moralischen Regeln bei Bernard Gert. Auch wurde bereits die Gefahr angesprochen, dass Urteile über die moralisch richtige Handlungsweise vom selbstinteressierten Standpunkt aus tendenziell dazu führen, dass die moralischen Anforderungen unter Berufung auf das Eigeninteresse beziehungsweise persönliche Wettbewerbsnachteile abgewehrt werden. Ein gewisses Maß an Unparteilichkeit und Neutralität in der Beurteilung von Handlungsoptionen ist für ökonomische Akteure deshalb zentral: Um Irrtümer über ihre moralischen Verpflichtungen zu vermeiden, ist es unverzichtbar, dass Urteile von außerhalb des „Nah“-Bereichs einbezogen werden. Nähe und Ferne sind hier in einem weiteren Sinne gemeint und können auch der Wesensart nach bestehen. Sucht beispielsweise eine Unternehmenslenkerin unter ihresgleichen nach einer vertretbaren Lösung für arbeitsrechtliche Fragestellungen, so liegen andere Lösungen im Bereich des Vertretbaren, als wenn sie mit ökonomischen Akteuren anderer Art wie Arbeitnehmern spricht; sie muss sich, um zu allgemein vertretbaren Positionen zu gelangen, fragen, was aus der Sicht aller ökonomischen Akteure eine angemessene Lö141 142
Vgl. Frankena 2017: 32 f., 111; Mill 2010: 15; Sen 2017: 144 f. Vgl. Baier 1974: 179 f.
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
171
sung wäre. Solche Rechtfertigungssituationen zeigen die hohe praktische Relevanz des unparteiischen Standpunktes auf, denn die Akteurin wird sich, um ihr Handeln zu rechtfertigen, möglicherweise darauf berufen müssen, wie sie zu ihrem Urteil über die moralisch richtige Handlungsweise gekommen ist. Dafür wird sie, wenn sie nach allgemeiner Akzeptanz ihrer Urteile strebt, vermutlich Kriterien der Unparteilichkeit bemühen. Sie wird sich nicht auf die Position von Partikularinteressen beispielsweise von Top-Manager zurückziehen können; praktisch zumindest nicht, ohne moralische Empörung hervorzurufen. Als wichtiger Einwand könnte hier angeführt werden, dass partikulare Standpunkte dennoch allgemein vertretbar wären, weil sich alle Akteure einig darin sind, dass sie sich als Unternehmenslenker genauso oder zumindest nicht wesentlich anders verhalten würden und ihre Empörung eigentlich eine Enttäuschung darüber ist, nicht für sich selbst ein besseres Ergebnis erzielt zu haben. Dass in der Begründung durch Partikularinteressen zumindest in Fällen, in denen das Wohlergehen der anderen beteiligten Akteure auf dem Spiel steht, aber aus moralischer Perspektive ein Problem besteht, lässt sich mit Bezug auf Mill dadurch begründen, dass sie die anderen Akteure, die keine TopManager sind, dann nicht als Gleiche und deren Interessen nicht als grundsätzlich gleichwertig ansieht. Das Problem partikularmoralischer Urteilsfindung in Bezug auf vitale Interessen der Betroffenen liegt darin, dass die eigenen Interessen oder die Interessen bestimmter Akteure als objektiv wichtiger betrachtet werden. Hier greift die Kritik am Ethischen Egoismus (vgl. 3.4.1): Die Klugheitsperspektive einzelner Akteure als deren legitime, vertretbare moralische Perspektive zu akzeptieren, würde der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der vitalen Interessen aller Menschen widersprechen. Amartya Sen interpretiert den unparteiischen Zuschauer Smiths als „Denkmodell“, das auf spezielle Weise die Möglichkeit bietet, unterschiedliche Standpunkt zu vermitteln. Folgend werde ich dessen Ansatz als für ökonomische Fragen besonders plausiblen Ansatz aufzeigen, womit nicht gesagt sein soll, dass dies für alle Kontexte gilt. Hier bietet er allerdings den großen Vorteil, Gerechtigkeitsfragen außen vor lassen zu können. Das ist wichtig, weil hier ein Modell gefragt ist, das für möglichst viele, unterschiedliche nicht-ideale Akteure gelten kann, und es weniger voraussetzungsreich ist, anzunehmen, dass diese ihre individuellen Entscheidungen daran orientieren, ob jemand geschädigt wird, als daran, ob sie bei ihren Handlungen Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechen. Sen versteht den unparteiischen Beobachter als „Mittel kritischer Überprüfung und öffentlicher Diskussion“.143 Dieses Modell soll es also ermöglichen, auch bei Entscheidungen zwischen mehreren nicht-idealen Optionen zu Einschätzungen über die allgemein zu bevorzugende Option zu gelangen. Wichtig ist Sen, dass „vergleichende Einschätzungen“ möglich werden, das heißt
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
Aussagen über die relativ bessere jenseits der theoretisch optimalen Option.144 Er selbst verweist darauf, dass das Denkmodell des unparteiischen Beobachters und die damit verbundene Objektivität als Verfahren so zu verstehen sind, dass dessen Ergebnisse ganz überwiegend, aber nicht unbedingt immer richtig sind.145 In diesem Verständnis gewährleistet die Unparteilichkeit, wie sie sich mit dem unparteiischen Beobachter beschreiben lässt, die öffentliche Vertretbarkeit der moralischen Urteile, die deshalb auch einen Anspruch auf Objektivität stellen können. Mit Vertretbarkeit ist hier eine Form der Rechtfertigung moralischer Urteile nach dem Modell des öffentlichen Vernunftgebrauchs gemeint, das darauf ausgelegt ist, die eigenen Urteile gegen kundige Einwände erfolgreich verteidigen zu können.146 Der Anspruch moralischer Urteile auf Objektivität und damit allgemeine Gültigkeit lässt sich nach Sen verteidigen, indem die jeweils vertretenen Werte und moralischen Urteile dem rationalen öffentlichen Diskurs ausgesetzt werden und dort gegen fundierte Kritik aus unterschiedlichen Perspektiven bestehen. Dass unterschiedlichste Sichtweisen einbezogen werden, ist hierbei zentral, denn so wird die Unparteilichkeit der moralischen Urteile gewährleistet. Dafür sind gerade auch die Urteile derjenigen zu bedenken, die nicht selbst von einer Handlung betroffen sind und die Handlungssituationen distanziert betrachten können.147 Unparteilichkeit gewährleistet nach Sen Vertretbarkeit, und aus dieser folgt eine hinreichende Objektivität der moralischen Urteile, um sie als gerechtfertigt anzusehen. Rechtfertigbarkeit ist hier als Test konzipiert, im öffentlichen Vernunftgebrauch argumentativ zu bestehen.148 Diese Perspektive universeller Unparteilichkeit fordert und ermöglicht es zugleich, durch Einbeziehung fremder Perspektiven eine „provinzielle Beschränkung von Werten“ zu vermeiden.149 Unparteilichkeit und der dafür notwendige Perspektivwechsel – weg von der eigenen Perspektive hin zu einer verstärkt neutralen, allgemeinen Perspektive – können als zentrale Aspekte einer nicht-idealen Vorstellung öffentlichen Vernunftgebrauchs verstanden werden.150 Die Einbeziehung fremder, nicht an einer Entscheidungsfindung beteiligter Perspektiven bezeichnet Sen als „offene Unparteilichkeit“. Diese ist wichtig, 143 Sen 2017: 162. Für Sen (2017: 98 f.) ermöglicht der so interpretierte unparteiische Zuschauer „Fairness“ in Gerechtigkeitsfragen. Dem gegenüber werde ich folgend der hier vorliegenden Fragestellung entsprechend nicht von „fairen“, sondern von „moralisch unproblematischen“ oder „minimalmoralischen“ Lösungen wirtschaftsethischer Fragen sprechen. 144 A.a.O.: 98 f., 162, 270 f. 145 Vgl. a.a.O.: 67 f. 146 Vgl. a.a.O.: 72 f. 147 Vgl. a.a.O.: 72 f.; 151 ff. 148 Vgl. a.a.O.: 149. 149 A.a.O.: 72. 150 Vgl. a.a.O.: 72 ff.
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
173
wenn Entscheidungen auch Personen betreffen, die selbst nicht mitentscheiden können.151 Sen spricht in diesem Zusammenhang auch von „Interessenvertretung“.152 Es ist naheliegend, dass dieser insbesondere in globaler Perspektive eine wichtige Funktion zukommt.153 Anschaulich macht dies wiederum der unparteiische Beobachter, den Sen als mit der Grundanforderung konfrontiert interpretiert, „dass er zumindest erkennt, wie die Probleme ‚mit den Augen anderer Menschen‘ gesehen würden, also aus der Perspektive ‚wirklicher Zuschauer‘ von fern und nah.“154 Damit wird ein Vernunftanspruch an die Akteure gestellt, der wesentlich bescheidener ist als der in Ulrichs vernunftethischer Idealkonzeption und dabei dennoch mit der Perspektive der Unparteilichkeit und der (öffentlichen) Vertretbarkeit aufgreift, was an der Integrativen Wirtschaftsethik besonders plausibel erscheint: Nämlich, dass es auch im ökonomischen Handeln einen anderen Standpunkt als den des Selbstinteresses gibt und dass dieser mit der „Vernunft“ der Akteure zu tun hat. Dabei spielt die Möglichkeit der unparteiischen Begründung eine zentrale Rolle. Ergebnis einer solchen „vernunftgeleiteten Praxis“ kann eine unvollständige, aber nützliche Übereinkunft sein.155 4.3.3 Unparteilichkeit und der moralische Standpunkt ökonomischer Akteure Wie nun lässt sich die möglichst unparteiische Urteilsfindung für ökonomische Akteure praktisch durchführen? Einerseits muss Unparteilichkeit als Ideal verstanden werden. Als solche kann und muss sie in einer nicht-idealen Welt andererseits dennoch als wichtige Orientierungsidee dienen. Die eingängige Forderung nach gleicher Distanz ist dabei ein vermittelndes Element zwischen idealer und nicht-idealer Unparteilichkeitsperspektive. Das heißt, ob das Handeln eines ökonomischen Akteurs einem vertretbaren Primärprinzip entspricht, lässt sich daran erkennen, ob er bei seiner Urteilsfindung ausreichende Distanz zu seinen eigenen Interessen (und der der ihm Nahestehenden) gewahrt hat. Dabei geht es um Distanz von der eigenen Perspektive, nicht aber von den eigenen Gefühlen, sofern diese nicht der Unparteilichkeit selbst im Wege stehen. Sen stellt Gefühle vielmehr als wichtigen Ausgangspunkt moralischer Reflexion heraus: Wer stark emotional angesprochen wird, 151
A.a.O.: 161 f., 179. A.a.O.: 166. 153 Vgl. a.a.O.: 167 ff. In Sens Darstellung bezieht sich diese Vorstellung von Interessenvertretung zwar auf die globale Gerechtigkeitsperspektive, aber auch in allgemeinerer Beschreibung, jenseits expliziter Gerechtigkeitsfragen, ist diese „offene“ Unparteilichkeitsvorstellung für Fragen, die über regionale und nationale Bezüge hinausgehen, von grundlegender Bedeutung. 154 A.a.O.: 164. 155 A.a.O.: 163. 152
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
hat guten Grund, nach dem Gegenstand der eigenen gefühlsmäßigen Reaktion zu fragen.156 Die Figur des unparteiischen Beobachters hat noch einen weiteren praktischen Vorteil, denn als innerer Beobachter zeigt er, dass und wie moralische Rechtfertigung nach den Kriterien des rationalen öffentlichen Diskurses auch kontrafaktisch stattfinden kann. Nach Sens Denkmodell kann der Einzelne sich selbst die Frage stellen und prozedural beantworten, was aus möglichst neutraler Sicht das richtige, allgemein vertretbare moralische Urteil wäre. Wer fremde (ihm selbst ferne) Perspektiven einbezieht und Überlegungen der oben beschrieben Form – gleichsam im Diskurs mit sich selbst – anstellt, kann sich auf die öffentliche Diskussion auch dann berufen, wenn sie nicht tatsächlich, sondern nur intern, nach den gleichen Kriterien, stattgefunden hat.157 Es lässt sich auch sagen, dass ein Akteur mit unparteiischer Urteilsfindung und Distanzierung von den eigenen Interessen einen bestimmten Standpunkt eingenommen hat, der, gerade indem er sich vom klugen Verfolgen des Eigeninteresses – dem strategischen Berücksichtigen der Bedürfnisse anderer – unterscheidet, als moralischer Standpunkt angesehen werden kann.158 Kurt Baier bezeichnet diesen „Standpunkt der Moral“ als „Instanz für Interessenkonflikte“.159 Das Handeln nach Prinzipien anstatt nach individuellen Klugheitserwägungen zeichnet diesen Standpunkt aus: „Wenn man den Standpunkt der Moral einnimmt, dann handelt man aufgrund von Prinzipien und nicht nach Faustregeln, die den eigenen Zwecken dienen sollen“160, wie man es auf Grundlage des wohlverstandenen Eigeninteresses täte.161 Stattdessen werden vom moralischen Standpunkt aus die Regeln eingehalten, „unabhängig davon, ob man damit den eigenen Zwecken oder den Zwecken anderer dient oder nicht.“162 In Baiers formaler Charakterisierung dieses Standpunktes fallen zentrale Aspekte dessen zusammen, was bisher als Forderungen nach Unparteilichkeit für ökonomische Akteure aufgezeigt wurde: Man kann nicht sagen, jemand habe den Standpunkt der Moral eingenommen, wenn er nicht bereit ist, die moralischen Regeln als Prinzipien und nicht einfach als Faustregeln 156
Vgl. a.a.O.: 67. Vgl. a.a.O.: 72 f. Für Tugendhat (2010: 118 f.) ist ein hypothetischer, interner Diskurs bezogen auf die Begründetheit der Ergebnisse sogar ebenso gut wie ein realer, sofern Unparteilichkeit gewahrt ist. 158 Vgl. Baier 1974: 178 ff. Noch allgemeiner lässt sich sagen, dass der moralische Standpunkt sich direkt oder indirekt auf Handlungen bezieht, mit Präskriptivität verbunden ist und den Anspruch auf Universalisierbarkeit der Urteile ausdrückt (vgl. Suchanek 2015a: 162 f.). 159 Baier 1974: 181. 160 Ebd. 161 Vgl. a.a.O.: 178 ff. 162 A.a.O.: 181. 157
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
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zu behandeln, d.h. Dinge aufgrund eines Prinzips zu tun, nicht nur zweckgebunden zu handeln, nur um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und außerdem muß er nach Regeln handeln, die für alle gelten und nicht einfach für ihn selbst oder eine bevorzugte Gruppe.163
Diese vom Prinzip der Unparteilichkeit geforderte Distanzierung von der selbstinteressierten Perspektive hat im ökonomischen Kontext besonderes Gewicht, weil es gerade hier in der Praxis oft vorkommt, dass ökonomische Anreize der Minimalmoral widersprüchlich entgegenstehen, und dass die Akteure (kollektiven) Irrtümern über ihre moralischen Verpflichtungen unterliegen. Erst aus einer möglichst unparteiischen Perspektive heraus lässt sich überhaupt zuverlässig erkennen, was minimalmoralisch gefordert ist.164 Dafür ist, wie gesagt, der Maßstab der Verallgemeinerung zentral, und nicht das Vorhandensein moralischer Motive. So stellt Christian Neuhäuser heraus, dass es für ökonomische als moralische Akteure entscheidend ist, dass sie aus der moralischen Perspektive heraus handeln können: Entscheidend ist […], dass zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden: die ökonomische Sprache, in der es um Anreize und Sanktionen, Nutzen und Kosten geht, und die moralische Sprache, in der es um richtig und falsch, gut und schlecht, verantwortlich und verantwortungslos geht. Es reicht für eine moralische Akteurin aus, die moralische Sprache zu verstehen, um den moralischen Standpunkt einnehmen zu können; was ihre wahren Motive sind, braucht praktisch nicht zu interessieren.165
Bei einer solchen unparteiischen im Sinne einer möglichst distanzierten Selbstvergewisserung über die moralisch richtige Handlungsweise ökonomischer Akteure handelt es sich also nur um eine Anwendung der moralischen Kriterien und es müssen nicht notwendigerweise moralische Motive des Akteurs vorliegen: „Eine Entscheidung vom moralischen Standpunkt aus zu fällen heißt, die relevanten moralischen Gründe in die Überlegungen mit einfließen zu lassen und im Entscheidungsprozess angemessen zu berücksichtigen.“166 Es ist auch möglich, dass ein Akteur den unparteiischen als den moralischen Standpunkt einnimmt, um zu rechtfertigbaren Urteilen zu gelangen, diese Urteile aber aus Klugheitsgründen wünscht, beispielsweise um sich nicht moralischer Kritik auszusetzen und seine Marktposition durch moralisch einwandfreies Handeln abzusichern. Er hat damit aber ungeachtet seiner Motive nicht vom subjektiven Klugheitsstandpunkt aus geurteilt, sondern von einem hinreichend objektiven, unparteiischen Standpunkt aus. Das Wissen über die ob163
A.a.O.: 196 (Hervorh. NP). Die Bedeutung eines moralischen Standpunktes für ökonomische Akteure wird immer wieder, wenn auch in unterschiedlicher Form, hervorgehoben, so etwa von Goodpaster (vgl. 1983: 7), Suchanek (vgl. 2015a: 162 ff.) in Bezug auf Unternehmen und Harsanyi (1982: 39, 47) in seiner Beschreibung „moralischer Präferenzen“. 165 Neuhäuser 2011: 66 f. 166 A.a.O.: 64 f. 164
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
jektive Gleichwertigkeit des minimalen Wohlergehens aller Menschen könnte zudem auch rein empirisch erfolgen. Vielleicht hat ein Akteur nur die Erfahrung gesammelt, dass er mit Argumenten, die diese Gleichwertigkeit leugnen, seine Positionen nicht erfolgreich zu verteidigen vermag, und festgestellt, dass menschliches Wohlergehen als gleichwertig vorauszusetzen einfach die erfolgreichste Handlungsstrategie ist. Auch dann wäre es ihm – der Folgenorientierung des wirtschaftsethischen Schadensprinzips und dem nicht-idealen Ansatz entsprechend – möglich, zu minimalmoralisch unproblematischen Urteilen zu gelangen. Diese Interpretation des moralischen Standpunktes für ökonomische Akteure lässt sich noch weiter vertiefen durch die Kriterien, die William K. Frankena für den moralischen Standpunkt formuliert. Ziel dieser Kriterien ist es, durch die erzeugte, verstärkt neutrale Perspektive die moralische Beurteilung von der Existenz und der Beschaffenheit vorhandener gesellschaftlicher moralischer Normen und Diskurse zu entkoppeln: „Jemand nimmt dann den moralischen Standpunkt ein, wenn er sich nicht vom Grundsatz des Egoismus leiten lässt, wenn er Prinzipien folgt, wenn er bereit ist, diese Prinzipien zu verallgemeinern, und wenn er bei alledem das Wohl jedes Mitmenschen in gleichem Maße berücksichtigt.“167 Zu den Kriterien dieses moralischen Standpunktes gehören nach Frankena über Unparteilichkeit und der Bereitschaft zur Verallgemeinerung hinaus auch noch die Abwesenheit von Zwang, begriffliche Klarheit und vollständige Informationen darüber, welche Aspekte zu berücksichtigen sind. Wer von diesem Standpunkt aus urteile, sei berechtigt, objektive Gültigkeit seiner moralischen Urteile zu beanspruchen.168 Auch diese Kriterien beinhalten Idealisierungen, wirklich vollständige Informationen etwa werden selten vorliegen, und vollständige Unparteilichkeit ist praktisch nicht einforderbar.169 Dennoch lassen sich die von Frankena aufgeführten Kriterien als zusätzliche analytische Kriterien für das Ideal gleicher Distanz verstehen. In diesem Verständnis wäre der moralische Standpunkt dann einerseits ein durchaus hilfreiches Ideal, an dem überprüft werden kann, ob ein Akteur ein unparteiisches Urteil getroffen hat.170 In nicht-idealer Perspektive kann andererseits auch ein ökonomischer 167
Frankena 2017: 112 (Hervorh. NP). Vgl. a.a.O.: 110 f. 169 Zudem mag es Fälle geben, in denen vollständige Unparteilichkeit schon theoretisch gar nicht gefordert wäre, beispielsweise bei Entscheidungen zwischen mehreren Handlungsweisen, von denen die eine Schädigungen für die eigenen Angestellten bedeuten würde, und alternative Handlungsoptionen vergleichbare Schädigungen von Angestellten eines anderen Unternehmens. 170 Dabei ist es natürlich eine inhaltliche Frage, wie die Kriterien der Abwesenheit von Zwang, der begrifflichen Klarheit und der Vollständigkeit der Informationen interpretiert werden. Für eine wirtschaftsethische Minimalmoral der gegenseitigen Nichtschädigung lässt sich das Kriterium der vollständigen Informationen als realistisches Abschätzen der relevan168
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
177
Akteur, der sich an diesen Kriterien orientiert, ohne sie vollständig zu erfüllen, den moralischen Standpunkt als verstärkt unparteiischen, nicht-selbstinteressierten Standpunkt für sich beanspruchen. Insofern ist der moralische Standpunkt hier als ein Ideal zu verstehen, an dem sich reale Akteure orientieren können – was möglichen Überforderungseinwänden entgegenwirkt. Dennoch muss eine solche Orientierung praktisch eingeübt werden und würde mitunter ein wesentlich anderes als das gegenwärtige Verhalten erfordern. Das Handeln als moralischer Akteur, das Einnehmen des moralischen Standpunktes, ist ein Lernprozess, auch wenn eine prinzipielle Fähigkeit dazu besteht.171 Insbesondere Unternehmen müssen erst lernen, ihr eigenes Handeln aus der Außenperspektive zu betrachten.172 Dafür gibt es allerdings mehrere günstige Ausgangspunkte. Einer davon ist die weite gesellschaftliche Verbreitung einer Vorstellung von basaler Unparteilichkeit: Viele ethische Aussagen „wirken so trivial, weil sie für uns so selbstverständlich klingen – und das ist an sich eine gute Nachricht“.173 Mitunter erfolgt eine Orientierung bereits an der unterstellten Bewertung eines unparteiischen Beobachters.174 Dennoch ist die Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln das Herausbilden und Schulen entsprechender Kompetenzen, mithin des moralischen Urteilsvermögens.175 Dieses Urteilsvermögen verbindet Andreas Suchanek mit der praktischen Herausforderung, fremde Perspektiven angemessen zu berücksichtigen, um zu sehen, welche Erwartungen bestehen, welche dieser bestehenden Erwartungen berechtigt sind, und was von anderen berechtigterweise zu erwarten ist. Die zu stellende Grundfrage dabei sei die nach der Akzeptabilität von Handlungen aus Sicht eines unparteiischen Betrachters.176 Die Voraussetzung dafür seien bestimmte Fähigkeiten auf Seiten der einzelnen Akteure, sowohl die Wahrnehmung als und das Entscheiden in moralisch signifikanten Handlungssituationen, sowie die Kommunikation und Begründung der gewählten Handlungsweisen und deren Umsetzung betreffend.177 Es geht also insgesamt darum, Situationen als moralisch relevant ten171 Folgen und Nebenfolgen einer Handlung, genauer als Informationen über die realistisch erwartbaren Auswirkungen auf das Wohlergehen aller Betroffenen deuten. Abwesenheit von Zwang besteht, sofern kein ökonomischer Zwang vorliegt, was wiederum dann der Fall ist, wenn dem Akteur selbst durch moralisches Handeln kein Schaden droht. Dabei muss begriffliche Klarheit darüber herrschen, was mit „Schaden“ genau gemeint ist. Und natürlich wäre der Standpunkt ein substantiell anderer, wenn diese Kriterien im Sinne der Mainstream Economics gefüllt würden, wenn etwa davon ausgegangen würde, dass die moralisch relevanten Informationen im jeweiligen „Nutzen“-Zuwachs für die Akteure selbst bestünden. 171 Vgl. Neuhäuser 2011: 119 f. 172 Vgl. ebd.; Suchanek 2015a; Suchanek 2019: 43 ff. 173 Suchanek 2015a: 4 (Hervorh. im Original). 174 Vgl. a.a.O.: 16 f., 183. 175 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010: 11, Suchanek 2014: 3. 176 Vgl. Suchanek 2015a: 12 f. 177 Vgl. a.a.O.: 13.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
wahrzunehmen und um Übung im Umgang mit diesen Situationen, um „die Fähigkeit, moralische Aspekte des Alltagshandelns wahrzunehmen und angemessen im eigenen Handeln oder der eigenen Beurteilung des Handelns anderer zu berücksichtigen.“178 Daraus ergibt sich ein zweiter Ausgangspunkt, denn moralisches Urteilsvermögen ist „eine Fähigkeit, ähnlich etwa der Fähigkeit, Bilanzen zu lesen“,179 und gerade aus der Tatsache, dass moralisches Urteilen abhängig ist von und veränderbar mit verfügbaren Informationen, ergibt sich – auch für Unternehmen – die Möglichkeit, ihr moralisches Urteilsvermögen zu schulen und diese Fähigkeit (weiter-) zu entwickeln.180 Gefragt ist als Ergebnis eines solchen Lernprozesses dann Unparteilichkeit als Haltung181 beziehungsweise die „Übernahme einer grundsätzlich moralischen Einstellung“.182 Einen dritten wichtigen Ausgangspunkt für einen solchen auf prinzipielle Nichtschädigung abzielenden Lernprozess bietet die Tatsache, dass es auch starke Gründe des Selbstinteresses gibt, sich nichtschädigend zu verhalten. Der investive Aspekt von moralischer Selbstbindung, den Suchanek detailliert herausarbeitet,183 kann ein besonders überzeugender motivationaler Ausgangspunkt für entsprechende Lernprozesse sein. Insbesondere für Unternehmen geht es schon angesichts ihres Selbstinteresses immer wieder darum, Regeln und das Regelverständnis anderer zu interpretieren.184 In dieser Perspektive bietet der moralische Standpunkt dann besondere Vorteile, indem er ein Nachvollziehen der Sichtweise „der Gesellschaft bzw. aller Betroffener“ und eine angemessene Berücksichtigung der negativen Konsequenzen der eigenen Handlungen für andere ermöglicht:185 „ein moralisches Urteil ist gewissermaßen die Antwort auf die Frage ‚Was soll ich tun?‘ aus Sicht der Gesellschaft.“186 Dabei zeigt sich dann, dass verantwortungsvolles Handeln „alles andere als trivial“ ist187 und die praktische Umsetzung moralischer Anforderungen eine erhebliche praktische Herausforderung.188
178 A.a.O.: 8. Suchanek (2015a: 301; Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011) betont dabei die Bedeutung des Verhaltens von Führungskräften. Für deren Lernprozess schlägt er ein spezifisches Konzept eines ethischen Kompasses vor, dessen Grundprinzip das Vermeiden von Schädigungen (allerdings unter Verwendung eines anderen Schadensbegriffes als in dieser Arbeit) ist (vgl. Suchanek/von Brook 2017; Suchanek 2019). 179 Suchanek 2014: 4. 180 A.a.O.: 3.; Suchanek 2015a: 162. 181 Vgl. a.a.O.: 182 f. 182 Neuhäuser 2011: 120. 183 Vgl. Suchanek 2015a: 10 ff.; 187 ff.; Suchanek 2015b.; Suchanek 2019; Suchanek 2020. 184 Vgl. Suchanek 2015a: 259. 185 A.a.O.: 12 f. 186 A.a.O.: 163 (Hervorh. im Original). 187 Suchanek/Lin-Hi 2010: 11. 188 Vgl. Suchanek 2015a: 5, 301 ff.
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
179
Für diese Herausforderung wurde in diesem Abschnitt ausgehend von der Kritik an einer voraussetzungsreichen Vorstellung gegenseitigen Wohlwollens, wie sie bei Mill in Form der Goldenen Regel und der Nächstenliebe zu finden ist, eine vergleichsweise voraussetzungsärmere Vorstellung von Wohlwollen in der Form des unparteiischen Beobachters nach Smith entwickelt. Dafür war die Interpretation dieses Beobachters im Zuge von Sens Denkmodell maßgeblich. Auf den ökonomischen Kontext verengt wurde diese Vorstellung basaler Unparteilichkeit weiter vertieft durch den moralischen Standpunkt ökonomischer Akteure, der als möglichst unparteiischer und als solcher vom Selbstinteresse verschiedener Standpunkt verstanden wurde. Die Kriterien Frankenas können dann als Beurteilungskriterien dafür herangezogen werden, ob möglichst unparteiisch geurteilt wurde. Im Ergebnis lassen sich so theoretische Tiefe und eine möglichst starke Objektivität bei der Beurteilung von Handlungen einzelner Akteure kombinieren mit der Bereitstellung von Orientierungspunkten für Handlungen nicht-idealer Akteure. Wobei die nicht-idealen Voraussetzungen auf Akteursebene hier beinhalten, dass unparteiisches Urteilen mehr oder weniger bewusst, und unabhängig von den persönlichen Motiven erfolgen kann. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich zudem, dass es minimalmoralisch unproblematisch ist, andere schlechter zu stellen, und geboten sein kann, sich selbst schlechter zu stellen oder Schlechterstellungen hinzunehmen, um Fremdschädigung zu vermeiden. Weder können unbegrenzte Forderungen zur Hilfeleistung an jemanden gestellt werden, noch ist es völlig seiner eigenen Einschätzung überlassen, ob ihm Hilfsleistungen zuzumuten sind. Jemand kann seine eigenen Ziele auch für so wichtig halten, dass er meint, sie dürften auch zugunsten einer Schadensvermeidung Dritter nicht eingeschränkt werden, sich dabei aber objektiv irren.189 Dabei spielt der Schwellenwert minimalen Wohlergehens die entscheidende Rolle: Jenseits eigener relativer Armut und bei gesicherten Wohlfahrtsinteressen gelten andere normative Maßstäbe für das Handeln ökonomischer Akteure und Selbstbeschränkung kann hier von ihnen gefordert sein. Unterstützend lassen sich die bereits mehrfach angesprochenen Intuitionen hervorheben, gemäß derer Fremdschädigung auch im ökonomischen Kontext ein moralisches Problem darstellt. Diese Intuitionen und die mit ihnen verbundene moralische Empörung sind mit der Frage nach legitimem Handeln ökonomischer Akteure verbunden. Um sich moralisch verantwortlich zu verhalten beziehungsweise die Frage nach der eigenen moralischen Verantwortung zu stellen, können deshalb sowohl sozialer Druck und Klugheitsgründe angeführt werden als auch die Tatsache, dass viele Menschen auch moralische Akteure sein wollen. Kurt Bayertz illustriert mit der Figur des „Amoralisten“ 189
Vgl. Dworkin 2014: 468 ff.
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4 Das Schadensprinzip als folgenorientiertes moralisches Prinzip
jemanden, der für Moral völlig unzugänglich ist, und deshalb die Frage nach dem „Warum“ des Moralischseins selbst mit Hinweis auf das Unterlassen von Fremdschädigung nicht verstehen kann.190 Es erscheint nicht sehr wahrscheinlich, dass viele ökonomische Akteure sich selbst so verstehen. Dennoch muss ein minimales Wohlwollen in Form der Bereitschaft, von der eigenen Perspektive abzurücken und eine tendenziell unparteiische Perspektive einzunehmen, vorhanden sein. Von jemandem, der das Schadensprinzip als moralische Regel ansieht, kann gesagt werden, dass er sich selbst in ganz grundlegender Hinsicht nicht für objektiv wichtiger hält als alle anderen Menschen und diese als „Gleiche“ versteht, deren basale Interessen er deshalb nicht einfach übergehen kann. Deshalb kann sich Wirtschaftsethik in diesem Verständnis direkt nur an Akteure mit minimalem Wohlwollen richten. Zugleich kann aber aus der Bedeutung, die ein schadloser Zustand für jeden Menschen hat, auch die moralische Forderung abgeleitet werden, das eigene Handeln auf Fremdschädigung hin zu überprüfen, sich dafür vom eigeninteressierten Standpunkt zu distanzieren und Nichtschädigung als Handlungsgrund ernst zu nehmen.191 Diese Forderung trifft auch jene Akteure, die den moralischen Standpunkt nicht einnehmen und vielleicht gar nicht einnehmen wollen. Es hängt nicht von ihrem tatsächlich vorhandenen Verantwortungsgefühl ab, ob moralisches Handeln von ihnen gefordert ist: „Moralische Verantwortlichkeit ist mehr als die empirische Gewissensstimme.“192 Das deckt sich mit verbreiteten Intuitionen, denn moralische Vorwürfe werden vor allem dann erhoben, wenn jemand wider besseres Wissen gehandelt hat, wenn er sich der moralischen Dimension seines Handelns zumindest in Teilen bewusst war oder angesichts seines Wissenshorizontes hätte sein müssen. Damit verbunden ist dann der Vorwurf, sich nicht genauer informiert oder gründlicher nachgedacht zu haben. Letztlich ist auch kein Konsens über den Grund für die moralische Bedeutung minimalen Wohlergehens notwendig; im Gegensatz zu Ulrich wird Moralität hier weiter verstanden und lässt einen vernünftigen Pluralismus ethi190
Bayertz 2014: 244 ff. Welche Handlungen dann genau gefordert sind, muss ggf. auch jenseits des gesamtgesellschaftlichen Diskurses weiter spezifiziert werden, etwa innerhalb von Unternehmen, Branchen und Verbänden. Als aktuelles Beispiel hierfür lässt sich die Initiative von Diakonie und Caritas zur nachhaltigen Textilbeschaffung und ihr Bekenntnis zu ihrer gemeinsamen Verantwortung als große und wirkmächtige Verbraucher von Textilien verstehen. Zentrales Argument sind dabei die Marktrelevanz des eigenen Einkaufsverhaltens und damit verbunden die Möglichkeit, Menschen durch verbesserte Produktionsbedingungen besserzustellen: „Wenn wir zielgerichtet […] fair gehandelte Textilien nachfragen, haben wir einen großen Hebel, um etwas zum Besseren zu bewegen. Wir tragen zum Schutz der Menschenrechte in den Lieferketten bei, verhelfen den Menschen zu besseren Arbeits- und Einkommensbedingungen […]“ (vgl. Deutscher Caritasverband 2020, Hervor. NP). 192 Lenk/Maring 1995: 248. 191
4.3 „Unparteilichkeit“ ökonomischer Akteure
181
scher Gesinnungen zu. Es geht nicht darum, darzulegen, welche moralischen Motive genau ökonomische Akteure leiten. Entscheidend ist in der hier vertretenen nicht-idealen minimalmoralischen Perspektive nur, dass ökonomische Akteure dieses Wohlergehen als normative Vorgabe für ihr Handeln ansehen. Mittel wie die Verfügbarkeit von Gütern lassen sich dann an diesem normativen Ziel messen. Mit dem Fähigkeitenansatz lässt sich dabei argumentieren, dass diese Güter nicht an sich wichtig sind, sondern aufgrund ihres Beitrages zum Wohlergehen.193 Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass sie dann als weniger bedeutungsvoll gelten können, wenn sie nicht auf einen Zustand minimalen Wohlergehens gerichtet sind. Die normative Bedeutung der Güter ändert sich demnach ebenfalls mit Erreichen des Schwellenwertes. Diese Unterscheidung ist dann wichtig, wenn durch den Verzicht auf Güter in einem persönlichen Wohlergehensbereich oberhalb der Schwelle das Erreichen einer minimalen Wohlergehensposition anderer möglich wird (gleichwohl werden mit Erreichen des Schwellenwertes natürlich nicht gleich grenzenlose moralische Anforderungen an einen Akteur gestellt). Daran wird auch deutlich, dass es sich bei einem aus dieser Perspektive möglicherweise moralisch geforderten Verzicht nicht um einen Selbstzweck handelt, und dass kein Verzicht eingefordert wird, der jenseits konkreter Konsequenzen für das Wohlergehen anderer „vernünftig“ wäre.
193
Vgl. Robeyns 2017: 48 ff.
5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure Ökonomische Akteure befinden sich in mehrfacher Hinsicht in „offenen“ Handlungssituationen. Sowohl ökonomischen Anreizen als auch moralischen Gründen kommt eine jeweils eigene Normativität zu, die nicht selten als konflikthaft wahrgenommen wird. Zudem treten immer wieder moralische Dilemmasituationen im ökonomischen Handeln auf, die gleichwohl nach einer Entscheidung nach moralischen Kriterien verlangen, wie etwa betriebsbedingte Kündigungen, mit denen die Forderung nach Sozialverträglichkeit verbunden wird. Eine Offenheit besitzen alltägliche ökonomische Handlungssituationen grundsätzlich auch dadurch, dass durch eine gute Rahmenordnung nicht ausgeschlossen werden kann, dass einzelne Handlungen zu Schädigungen führen, weil ein Ordnungsrahmen nie ideal ausgestaltet sein kann (dies war ein wichtiges Argument in der Auseinandersetzung mit der Ökonomischen Ethik Karl Homanns, das durch die Differenz legaler und moralischer Rechte bzw. Ansprüche (vgl. 4.1.4) gestärkt wird). Auch lassen sich zwar objektive minimalmoralische Anforderungen an ökonomische Akteure formulieren, die sich in das wirtschaftsethische Schadensprinzip übersetzen lassen, wie sich in Kapitel 4 gezeigt hat. Offen ist aber gleichzeitig oftmals, welche Einzelhandlungen die jeweilige situative Umsetzung dieser allgemeinen Handlungsregel von den Akteuren konkret verlangt, etwa bei der Umsetzung von Sozialverträglichkeit im Falle von Entlassungen. Als Ausgangspunkt lässt sich hier deshalb festhalten, dass oft nicht von vornherein klar bestimmbar ist, zu welcher Handlungsoption ein Akteur jeweils verpflichtet ist, selbst wenn klar ist, dass für ihn grundsätzlich die Pflicht zur Nichtschädigung besteht. Diese situative Offenheit lässt sich durch die Verantwortung ökonomischer Akteure erfolgreich bearbeiten, wie dieses Kapitel zeigen soll. Dass „Verantwortung“ im ökonomischen Kontext einen zentralen normativen Begriff darstellt, legt auch schon die alltagssprachliche Verwendung nahe. Wir sprechen oft davon, dass ein Unternehmen oder eine Managerin „verantwortlich“ sei, und auch Konsumenten werden individuell und kollektiv immer wieder für ihre Kaufentscheidungen verantwortlich gemacht. Dabei wird „Verantwortung“ alltagssprachlich für die Beschreibung sehr unterschiedlicher Phänomene gebraucht. So mag die Managerin beispielsweise für die Quartalszahlen eines Unternehmens, aber auch für Entlassungen als verant-
184
5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
wortlich angesehen werden, das Unternehmen für die Art der Bewerbung seiner Produkte, für den Umgang mit seinen Mitarbeitern, mit Ressourcen oder der Umwelt ganz allgemein, mitunter sogar für die Wahrung oder den Schutz der Menschenrechte. Einer einzelnen Konsumentin mag eine einzelne Konsumentscheidung oder ein grundsätzlich als moralisch problematisch angesehener Konsumstil vorgeworfen werden. Einerseits scheint „Verantwortung“ ökonomischer Akteure also in unserem Alltagsverständnis ökonomischen Handelns und unseren moralischen Intuitionen verankert zu sein, andererseits bleibt bei dieser vielfältigen Verwendung der jeweils verwendete Verantwortungsbegriff oft unklar. Die zunehmende Komplexität der Handlungssituationen, mit denen die Akteure umgehen müssen, mag auch eine Rolle spielen, wenn die Wahrnehmung von Verantwortung zunehmend als freiwillig empfunden wird.1 Dem gegenüber möchte ich im Folgenden eine spezifische Vorstellung moralischer Verantwortung ökonomischer Akteure plausibilisieren, die als komplementär zum wirtschaftsethischen Schadensprinzip angesehen werden kann. Als solche ist sie mit der Folgenorientierung des Schadensprinzips verbunden, indem sich aus den Zuständen einzelner Akteure situative Pflichten für andere Akteure ergeben können, und nicht als primär „freiwillig“ zu verstehen. Verantwortung lässt sich als Tugend oder in ihrer relationalen Dimension (als das Verhältnis, in dem ein Akteur zu etwas steht) thematisieren.2 Im Folgenden geht es um den relationalen Aspekt und um „Verantwortung“ als moralische Verantwortung; dieser wird nur ins Verhältnis zur rechtlichen und zur politischen Verantwortungsdimension gesetzt, wo dies für ein vertieftes Verständnis der moralischen Verantwortungsdimension notwendig ist.3 Zunächst wird der angemessene Verantwortungsbegriff für den nicht-idealen wirtschaftsethischen Kontext herausgearbeitet (5.1). Danach wird diese spezifische moralische Verantwortung ökonomischer Akteure veranschaulicht. Zentral dabei ist das verantwortliche Abwägen von Schädigungen, also der Umgang mit moralischen Dilemmasituationen und Risiken; auf den Umgang mit Risiken werde ich im Sinne der hier verfolgten Herausarbeitung des Schadensprinzips selbst allerdings nur überblicksartig eingehen (5.3). An dieser Stelle ist noch hervorzuheben, dass die Verantwortungsperspektive auf ökonomische Akteure eine grundsätzlich positive Sichtweise auf diese bedeutet. Denn mit Verantwortung wird zugleich eine Problemlösungsfähigkeit zugeschrieben.4 Wenn von ökonomischen Akteuren gesagt wird, es läge in 1
Vgl. Goldstein 2018: 89 f. Vgl. Dworkin 2014: 177. 3 Die moralische Verantwortungsdimension kann auch als Grundlage der politischen und rechtlichen Verantwortung von Konsumenten und Unternehmen gesehen werden (vgl. Neuhäuser 2012; Neuhäuser 2017b: 776 f.); siehe auch Fn. 6, Kap. 5. 4 Vgl. Kaufmann 1995: 83. 2
5.1 „Verantwortung“ und das wirtschaftsethische Schadensprinzip
185
ihrem Verantwortungsbereich, andere nicht zu schädigen, dann wird damit auch ausgesagt, dass sie nichtschädigend handeln können. Dennoch bleibt die tatsächliche Verantwortungsfähigkeit kontextgebunden.5
5.1 „Verantwortung“ und das wirtschaftsethische Schadensprinzip Kurt Bayertz stellt die evaluative Neutralität des Verantwortungsbegriffes heraus: Aus „Verantwortung“ selbst ergebe sich noch nicht, wofür jemand verantwortlich ist. Die Normativität des Verantwortungsbegriffes entstehe erst aus der Orientierung an als positiv erachteten Zuständen und der Sorge eines Akteurs für das Bestehen dieser Zustände. Der Sorge-Aspekt betont dabei, dass es in diesem Verantwortungsverständnis nicht nur darum geht, für bereits entstandene Schäden Verantwortung zu tragen, sondern vor allem um ein bestimmtes zukunftsgerichtetes Handeln.6 Die Normativität ergibt sich hier also aus den angestrebten Zuständen. Allerdings ist auch dann, wenn die wünschenswerten Zustände identifiziert sind, damit noch nicht klar, wer in einer bestimmten Situation der Träger von Verantwortung für die Realisierung dieser Zustände ist. Verantwortung als Phänomen ist damit selbst kontextabhängig.7 Als Sorge und bezogen auf den Umgang mit „offenen“ Handlungssituationen stellt „Verantwortung“ also bereits eine spezifische Interpretation dar. Deutlich zeigt dies ein Vergleich zum liability-Modell von Verantwortung; ebenfalls verdeutlicht wird dabei, weshalb die „offene“ Perspektive der Sorge im ökonomischen Kontext wichtig ist. Das liability-Modell ist darauf ausgerichtet, spezifische Pflichten möglichst klar bestimmten Pflichtenträgern zuzuordnen. Damit verbunden ist sowohl ein Vergangenheits-Bezug von Verantwortung als auch eine Entlastung aller anderen Akteure, denen spezifische Pflichten für spezifische vergangene Schadensfälle nicht zugeschrieben werden können.8 Als „Liability“ ist Verantwortung am juridischen Verständnis orientiert und es geht darum, dass Akteure, die sich nicht ihren klar geregelten Pflichten entsprechend verhalten, sanktioniert werden können.9 Solche klaren Pflichtenmodelle sind aber im ökonomischen Kontext nicht plausibel, denn wenn beispielsweise Entlassungen notwendig sind, stellt sich immer noch die Frage, wer entlassen werden soll. Hieran wird deutlich, weshalb für ökonomische Akteure unter nicht-idealen Bedingungen „Verantwortung“ anstelle von 5 6 7 8 9
Vgl. Neuhäuser 2011: 69. Vgl. Bayertz 1995: 32. Vgl. a.a.O.: 65. Vgl. Young 2004: 367 f. Vgl. Heidbrink 2010: 8.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
„Pflicht“ zentral ist:10„Verantwortung“ ist im Vergleich zum Begriff der „Pflicht“ auf die Realisierung bestimmter Zustände beziehungsweise Handlungszwecke bezogen, während sich der Pflichtenbegriff auf konkrete, mit Normativität versehene Handlungen beziehungsweise Handlungsweisen bezieht und Akteuren damit klare Handlungsvorgaben macht.11 Im Zuge der moralischen Verantwortung ökonomischer Akteure geht es hier aber, wie eingangs erwähnt, um ein relationales Verhältnis, das sich aus den als positiv erachteten Zuständen ergibt. D.h., während in einem pflichtenzentrierten Modell A die Handlung x auf Grund einer feststehenden Verpflichtung ausführen sollte, wäre A zustandsbezogen zu x verpflichtet, um z zu erreichen; sofern aber y besser geeignet ist, um z zu erreichen, wäre A zu y und nicht zu x verpflichtet. Auf die „Verantwortung“ anstelle der „Pflicht“ ökonomischer Akteure zu rekurrieren, kann in Verbindung gesehen werden mit einem „stärker relationale[n], prozedurale[n] und diskursive[n] Verständnis von Moral, das im Ausgang von dem grundsätzlich normativen Verhältnis zu anderen ein Procedere vorschlägt, wie den Ansprüchen anderer Rechnung getragen werden kann.“12 Gleichzeitig ergibt sich gerade aus dem Gegensatz zur Pflichterfüllung eine mit der Verantwortungsausübung verbundene Erfolgserwartung.13 Zwar ist das Schadensprinzip mit einer allgemeinen Nichtschädigungspflicht verbunden. Diese allgemeine Pflicht lässt sich aber nicht durch die Erfüllung spezifischer, vorgängig feststehender Pflichten erfüllen – vielmehr ergeben sich einzelne Pflichten erst aus den jeweiligen moralischen Ansprüchen einzelner Akteure, d.h. aus ihren Wohlfahrtsinteressen, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat (vgl. 4.1.4). Verantwortung als Sorge greift diese Perspektive situativer Offenheit auf, indem Verantwortung bezogen wird auf „Ereignisse, bezüglich derer man aktiv werden sollte und kann.“14 Dies kann bezogen auf ökonomische Akteure auch im Zuge politischer Verantwortung geschehen, indem etwa ökonomische (Anreiz-) Strukturen durch politischen Druck verändert werden.15 Das Schadensprinzip ist als moralische Regel aber primär mit der moralischen Verantwortung ökonomischer Akteure verbunden, denn es soll eine möglichst klare normative Orientierung auch in rechtlich ungeregelten Situationen bieten und ist mit den moralischen Ansprüchen von Personen verbunden. Diese moralische Verantwortung ökonomischer Akteure wiederum kann als Grundlage für deren politische Verantwortung gesehen 10 Einen Überblick über die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen beider Begriffe geben Neuhäuser/Buddeberg (2015). 11 Vgl. Mieth/Bambauer 2017: 248 f. 12 Neuhäuser/Buddeberg 2015: 55 (Hervorh. NP). 13 Vgl. Kaufmann 1995: 88. 14 Bratu 2017: 489 (Hervorh. im Original). 15 Vgl. Young 2004.
5.1 „Verantwortung“ und das wirtschaftsethische Schadensprinzip
187
werden. Je nach realer Einflussmöglichkeit kann dann Verantwortung für Strukturen Teil der moralischen Verantwortung sein.16 Wirtschaftsethisch bietet der Verantwortungsbegriff große praktische Vorteile, denn er kann die situative Gestaltungsoffenheit ökonomischer Handlungssituationen konstruktiv bearbeiten. Erstens ist er nicht auf das konstitutive Verhältnis von Rechten und vorgängigen korrespondierenden Pflichten angewiesen. Zweitens lässt er es damit zu, einen Aufgabenbereich festzulegen, innerhalb dessen es den Akteuren dann obliegt, zu entscheiden, wie sie ihre Verantwortung wahrnehmen. Drittens lassen sich durch „Verantwortung“ konsequentialistische und deontologische Gesichtspunkte verbinden.17 Es macht die Verantwortungsperspektive gerade aus, dass sie eine strikte Trennung zwischen teleologischer und deontologischer Sichtweise hinter sich lässt.18 Der Verantwortungsbegriff kann also zeigen, dass ökonomische Akteure in einer mit moralischen Handlungsanforderungen verbundenen Beziehung zueinanderstehen, ohne dass es notwendig wäre, die moralischen Rechte eines Akteurs auf die spezifischen Pflichten eines anderen Akteurs zurückzuführen. Für einen ökonomischen Akteur geht es dann nicht darum, pflichtgemäß zu handeln, sondern als Verantwortungsträger in einer Weise, die er normativ rechtfertigen kann.19 Gerade indem moralische Verantwortung nicht mit zuvor klaren Pflichten verbunden ist, wird Verantwortlichkeit durch „kritische (Schwellen-) Werte“ aktualisiert.20 Der Verantwortungsbegriff entspricht so den substantiellen Schädigungen im ökonomischen Kontext, die auch dann bestehen, wenn keine eindeutigen Pflichtzuschreibungen möglich sind. Dies kann der Fall sein, weil beispielsweise primäre Pflichtenträger wie Arbeitgeber ihren Nichtschädigungspflichten nicht nachkommen, und die betroffenen Arbeitnehmer aufgrund ihres Schadenszustandes dennoch einen moralischen Anspruch darauf haben, dass ihr Zustand verbessert wird. Der Begriff der „Verantwortung“ ist geeignet, die 16 Vgl. Neuhäuser 2012: 287. So kann aus der moralischen Verantwortung von Konsumenten auch folgen, Transparenz hinsichtlich der Produktionsbedingungen, moralisches Handeln von Unternehmen und rechtliche Regulierung einzufordern (a.a.O.: 288 f.). Auch das gegenseitige moralische Adressieren und Zuweisen von Verantwortung kann als wichtiger Bestandteil der politischen Verantwortungsdimension von Unternehmen und Konsumenten verstanden werden, wenn die moralische Dimension zugrunde gelegt wird (a.a.O.: 290 ff.). 17 Vgl. Neuhäuser/Buddeberg 2015: 53. 18 Vgl. Birnbacher 2017; Steigleder 2017. 19 Vgl. Neuhäuser/Buddeberg 2015: 54. „Ob jemand verantwortlich gehandelt hat, zeigt sich dann auch nicht allein in der Handlung, sondern impliziert darüber hinaus eine Bewertung, ob und wie jemand sich uns sein Handeln anderen gegenüber begründet und begründen kann und wie sehr er bereit ist, dies zu tun und andere in seinem Handeln zu berücksichtigen.“ (Ebd.). 20 Lenk/Maring 1995: 247 f.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
Offenheit von Handlungssituationen mit moralischen Standards zu verbinden und wird so der Perspektive der Geschädigten und der Beziehung der ökonomischen Akteure gerecht, die sich minimalmoralisch am besten als Verantwortungsbeziehung verstehen lässt. Dieses spezifische relationale Verhältnis wird im Folgenden systematisch, und in Abschnitt 5.3 dann hinsichtlich zentraler Anwendungsfragen betrachtet.
5.2 Ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen Verantwortung als „Sorge-für-Verantwortung“ setzt eine „normativ relevante Beziehung“ voraus, die zugleich den Bereich dieser spezifischen Verantwortung festlegt.21 Das heißt, um zu wissen, wofür ein Akteur A in einer bestimmten Situation verantwortlich ist, muss zunächst klar sein, inwiefern er in einer Beziehung zu Akteur B oder C steht. Im Falle moralischer Verantwortung ergibt sich der Beziehungsaspekt aus dem Einfluss eines Akteurs (des Verantwortungssubjektes) auf den als moralisch relevant erachteten Zustand eines anderen Akteurs (des Verantwortungsobjektes).22 Die moralisch relevanten Zustände des wirtschaftsethischen Schadensprinzips wurden im vorherigen Kapitel als Zustände minimalen Wohlergehens identifiziert. Diese Wohlergehenszustände stellen den moralischen Maßstab für die Verantwortung ökonomischer Akteure dar. Ein Akteur A steht als Verantwortungssubjekt dann in einer Verantwortungsbeziehung mit Akteur B als Verantwortungsobjekt, wenn er auf dessen Wohlergehen einen moralisch relevanten Einfluss ausüben kann – wenn er also als ökonomischer Akteur einen Einfluss darauf hat, ob sich Akteur B ober- oder unterhalb des Schwellenwertes relativer Armut beziehungsweise minimalen Wohlergehens befindet. Dieser moralische Maßstab ist Teil der Verantwortungsrelation, die sich analytisch in vier Teile aufgliedern lässt: In den Urheber (U), den Adressaten (A), das Ereignis (E) und eben den Maßstab (M).23 Erst dadurch, dass (M) moralisch verstanden wird, handelt es sich um moralische anstatt etwa politischer Verantwortung. Als moralische Verantwortung „besteht [sie] gegenüber der moralischen Gemeinschaft und sie besteht dafür, sein Handeln an moralischen Regeln auszurichten.“24 Diese Relation lässt sich auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse bereits weitgehend im Zusammenhang mit dem wirtschaftsethi21
Bayertz 1995: 67. Vgl. Lenk/Maring 1995: 247. 23 Vgl. Neuhäuser 2012: 280 f. 24 A.a.O.: 282. Wird der Maßstab nicht moralisch verstanden, ist beispielsweise politische Verantwortung durchaus als klassische Lobbyarbeit zu verstehen; erst ein moralischer Maßstab für die politische Verantwortungsdimension macht dann normative Kritik an einem solchen Verständnis möglich (a.a.O.: 284 f.). 22
5.2 Ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen
189
schen Schadensprinzip interpretieren. Urheber (U) ist jeder ökonomische Akteur, der als kausaler Faktor im Sinne Feinbergs gelten kann, der also einen kausalen Beitrag zum moralisch relevanten Zustand eines anderen Akteurs (A) leistet. Als kausaler Beitrag gelten dabei sowohl Tun als auch Unterlassen, und dies auch dann, wenn sie nicht der einzige oder vielleicht nicht einmal der bestimmende Faktor für das Eintreten oder Fortdauern eines Zustandes sind, wie sich an der Darstellung kausaler Faktoren bei Feinberg gezeigt hat (vgl. 3.5.2). Eingeschränkt ist (U) aber dadurch, dass nur kausale Beiträge innerhalb ökonomischer Beziehungen relevant sind, worauf ich noch eingehen werde. Das Ereignis (E), das es herbeizuführen gilt, ist ein schadensfreier Zustand als Zustand minimalen Wohlergehens. Dabei wird weiterhin deutlich, dass der Maßstab (M) erst den Zusammenhang zwischen (U) und (A) herstellt, und auch das als relevant zu betrachtende Ereignis (E) ergibt sich nicht ohne Kenntnis des Maßstabes.25 Erst dadurch, dass minimales Wohlergehen aller Akteure als moralischer Maßstab in ökonomischen Beziehungen angesehen wird, ergibt sich, welches Ereignis – nämlich ein schadensfreier Zustand beziehungsweise ein Zustand möglichst nahe am Schwellenwert – von welchem Urheber gegenüber welchem Adressaten herbeizuführen ist. Offen ist bisher aber noch immer die Frage, wie genau der moralische Maßstab die Verbindung zwischen Verantwortungssubjekt und Verantwortungsobjekt im Zusammenhang mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip generiert. Diese Frage stellt sich allerdings nur für positive Pflichten, denn negative Pflichten kommen jedem Akteur selbst zu: Jeder ist selbst dafür verantwortlich, schädigende Handlungen zu unterlassen.26 Und durch die situative Zuordnung von Verantwortungsträger, -inhalt und -objekt werden positive Pflichten eingeordnet und begrenzt.27 Dass nicht immer klar ist, wem positive Pflichten zukommen, lässt sich gerade durch die normative Zustandsorientierung der Verantwortung erklären. Amartya Sen argumentiert, dass das Sichern moralischer Rechte konsequentialistische Betrachtungen notwendig machen kann, wenn einzelne Pflichtenträger ihrer Pflicht nicht nachkommen, während es praktisch wiedersinnig wäre, darauf zu bestehen, dass positive Pflichten nur solchen Akteuren zukommen, die die schadhaften Zustände oder Pflichtverletzungen in einem strikten Verständnis verursacht haben.28 Gemeint ist, dass dann, wenn sich ein Akteur in einem Zustand befindet, in dem seinen moralischen Ansprüchen nicht entsprochen wird, die positive Pflichten, die auf die Beseitigung dieses Zustands gerichtet sind, auch Akteuren zukommen können, die selbst nicht den Aus25
Vgl. a.a.O.: 281. Vgl. Neuhäuser 2011: 204 f. Zwar können auch hinsichtlich negativer Pflichten Abwägungen notwendig sein, darauf werde ich aber im nächsten Abschnitt eingehen. 27 Vgl. a.a.O.: 188; 203 f. 28 Vgl. Sen 1988: 71 ff. 26
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
gangszustand schon versursacht haben. So stellt sich der Verantwortungsbegriff unter Orientierung an den angestrebten Zuständen als „proaktiver“ Begriff dar: „Verantwortung zu übernehmen oder wahrzunehmen, bedeutet, bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf die Zukunft zu übernehmen oder zu erfüllen.“29 Werden diese angestrebten Zustände als mit moralischen Ansprüchen verbunden aufgefasst, so ist sorgende Verantwortung nicht nur vorwärts-, sondern auch rückwärtsgerichtet. Damit ist gemeint, dass die als moralisch angesehenen Rechte von Personen nicht nur zu wahren und zu schützen sind, sondern zudem die Pflicht besteht, verletzte Rechte wiederherzustellen, und diese Pflicht ist eben nicht an eine Verursachung des ursprünglichen Schadenszustandes gebunden.30 Moralische Verantwortung ist damit nicht „trägerspezifisch“.31 Wie ökonomischen Akteuren unter nicht-idealen Bedingungen im Rahmen des Schadensprinzips positive Pflichten zukommen, gilt es nun weiter zu plausibilisieren. Christian Neuhäuser beschreibt nach Kurt Baier drei Möglichkeiten, verantwortlich zu werden: Erstens durch freiwillige Übernahme von Verantwortung und einer damit einhergehenden Selbstverpflichtung. Zweitens aufgrund der Umstände, die derart sind, dass die moralischen Ansprüche anderer nicht anders zu sichern sind, sodass jemandem Verantwortung situativ eindeutig zufällt. Eine dritte Möglichkeit ist Verantwortlichkeit als Resultat eines Zuweisungsprozesses.32 Dass es sich im Falle des wirtschaftsethischen Schadensprinzips nicht um freiwillige Verantwortungsübernahme handelt, ist offensichtlich – stattdessen geht es ja gerade darum, dass dieses Prinzip jenseits von Freiwilligkeit gilt. Auch an dieser Stelle wird der Unterschied zur rein teleologischen Perspektive deutlich. Aus einer solchen empfiehlt Dieter Birnbacher, vor allem auf eine aus Kosten-Nutzen-Kalkülen möglicherweise resultierende freiwillige Verantwortungsübernahme zu setzen.33 Unter Bedingungen gegenläufiger ökonomischer Anreize und fehlenden (öffentlichen) moralischen Drucks ist aber erstens nicht davon auszugehen, dass alle Akteure freiwillig die ihnen zukommende Verantwortung übernehmen werden; und selbst, wenn dem so wäre, sprechen zweitens die moralischen Ansprüche der Akteure dafür, dass die moralische Verantwortung ökonomischer Akteure nicht in freiwilliger Verantwortungsübernahme zu sehen ist, dass es ihnen also nicht normativ freisteht, verantwortlich zu handeln oder nicht (vgl. 4.1.4). Aber auch die dritte Option scheidet hier aus, weil sie auf Prozesse des Zuweisens und deren Legitimität angewiesen ist.34 Das Ziel solcher Zuweisungsprozesse kann dann in einem 29 30 31 32 33 34
Birnbacher 2017: 191. Vgl. Steigleder 2017: 173. Lenk/Maring 1995: 248. Vgl. Neuhäuser 2011: 48, 205. Vgl. Birnbacher 2017: 202 f. Vgl. Neuhäuser 2011: 205 ff.; 221 ff.
5.2 Ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen
191
„Netz der Verantwortung“ gesehen werden, das durch erfolgreiche Zuweisung von Verantwortung so eng gezogen ist, dass die Gefahr von Verletzungen moralischer Ansprüche im ökonomischen Kontext praktisch minimiert wird.35 Die Perspektive des wirtschaftsethischen Schadensprinzips ist aber eine andere: Hier geht es darum, welche moralische Verantwortung einzelnen Akteuren in Schadensfällen zukommt, die gerade daraus resultieren, dass rechtliche Regelungslücken bestehen oder auch das Verantwortungsnetz nicht eng genug ist. Die moralische Verantwortung ökonomischer Akteure im Sinne des Schadensprinzips lässt sich aber als situatives Zufallen von Verantwortung aufgrund des normativen Maßstabes minimalen Wohlergehens verstehen. In dieser Sichtweise kommt einem ökonomischen Akteur immer dann situativ Verantwortung zu, wenn in Zusammenhang mit seinen Handlungen ein Schaden für einen anderen Akteur droht, indem dessen Wohlergehen auf moralisch relevante Weise beeinflusst wird (wenn der Schwellenwert des Wohlergehens nicht erreicht wird). Ein Akteur hat dann situativ die Verantwortung, den Zustand des anderen Akteurs auf einem nichtschädigenden Niveau zu erhalten oder zu verbessern oder zumindest einen Teil zum Erhalt oder der Zustandsverbesserung beizutragen. Ein Akteur, dessen Einfluss auf den Zustand eines anderen Akteurs besonders groß ist, ist damit auch situativ besonders stark verantwortlich. Mit der eigenen Einflussmöglichkeit steigt das Ausmaß dessen, was im Zuge der Verantwortlichkeit von einem Akteur gefordert werden kann; ein Ergebnis, das schon intuitiv besonders plausibel ist. Neuhäuser führt bezogen auf Unternehmen folgendes Beispiel für situativ zufallende Verantwortung an: Angenommen, ein kleiner Zulieferbetrieb beschäftigt Mitarbeiterinnen unter gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, und es gibt keinen gut funktionierenden Staat, der diesen Mangel in kurzer Zeit angemessen rechtlich regeln könnte. Weiter angenommen, der Zulieferbetrieb arbeitet vor allem für einen großen internationalen Konzern. Dann ließe sich durchaus argumentieren, dass der große Konzern eine positive Pflicht hat, angemessen auf den Zulieferbetrieb einzuwirken und eine Verbesserung der Sicherheitsbedingungen zu erreichen.36
An diesem Beispiel zeigt sich, dass mit der situativ zufallenden Verantwortung wiederum spezifische situative Pflichten verbunden sind, die sich aber erst situationsspezifisch aus der Verantwortung ergeben. Diese situativen moralischen Einzelpflichten lassen sich dann verstehen „als konkrete praktische Forderungen […], die plausibel auf eine zugrundeliegende Verantwortung rückführbar sind.“37 35 36 37
A.a.O.: 206. A.a.O.: 213. Mieth/Bambauer 2017: 249 (Hervorh. NP).
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
Deutlich wird hier außerdem, dass die normativ relevante Beziehung zwischen ökonomischen Akteuren zwar einerseits nicht schon dadurch generiert wird, dass diese in irgendeiner Weise miteinander in Berührung kommen. Ein bloß zufälliges Begegnen, wie es für rechtlich zu sanktionierende Hilfspflichten ausreichend sein kann,38 reicht hier nicht aus. Und auch das Verhältnis von Kosten und Nutzen der Hilfeleistung ist nicht entscheidend. Insofern geht es nicht um allgemeine Hilfspflichten, die „immer dann“ bestünden, „wenn man sich selbst nicht helfen kann und ein anderer ohne vergleichbare Kosten zur Hilfeleistung in der Lage ist.“39 Stattdessen müssen die Akteure in einer ökonomischen Beziehung zueinander stehen, die so direkt ist, dass das Handeln des einen das Wohlergehen des anderen signifikant zu beeinflussen vermag. Andererseits ergibt sich aus der grundsätzlichen Folgenorientierung auch, dass die normative Beziehung zwischen den Akteuren schon durch die Einflussmöglichkeit auf das Wohlergehen des anderen generiert wird, und es eben nicht darauf ankommt, dass die Akteure in einem spezifischen Rollenverhältnis zueinander stehen. So wird auch die potentiell globale Reichweite dieser Verantwortung deutlich, denn indem sich Handlungsfolgen räumlich erstrecken, geht damit auch eine entsprechende Verantwortung einher.40 Eine solche grundsätzlich globale Perspektive der ökonomischen Beziehungen und einer entsprechenden Verantwortung ist angesichts der Globalisierung von Märkten schwer zu bestreiten: […] various forms of technology have brought consumers closer to producers and have allowed producers to locate facilities around the world. These movements, and the accompanying strengthening of economic relationships around the world, have allowed for markets to be seen as global instead of national or even regional.41
Angesichts dieser grundsätzlich globalen Perspektive und der Rede von positiven Pflichten ist es allerdings wichtig, auf die dennoch begrenzte Reichweite einer damit einhergehenden Verantwortlichkeit hinzuweisen. Wenn hier moralische Ansprüche von Personen mit positiven Rechten auf eine Beseitigung eines Schadenszustandes verbunden sind, bedeutet das nicht, dass ein einzelner Akteur zu einem bestimmten Zeitpunkt mit allen bestehenden moralischen Ansprüchen aller anderen Akteure konfrontiert ist. Diese Sichtweise auf positive moralische Rechte deckt sich mit der an Bernard Gerts Begründung moralischer Regeln in Abgrenzung von moralischen Idealen vorgebrachten Kritik, dass die Universalisierbarkeit der Nichtschädigungspflicht im Sinne des wirtschaftsethischen Schadensprinzips nicht dadurch unmöglich gemacht 38 Vgl. Feinberg 1987: 140, 171; in Deutschland ist charakteristisch für eine solche allgemeine Hilfspflicht die Regelung der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). 39 Steigleder 2017: 176 (Hervorh. im Original). 40 Vgl. Birnbacher 1995: 153 ff. 41 Burton/Goldsby 2005: 371 (Hervorh. NP).
5.2 Ökonomische Beziehungen als Verantwortungsbeziehungen
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wird, dass ein Akteur nicht zu jeder Zeit jedem Opfer drohender Schädigung helfen kann. Stattdessen kommt hier die nicht-ideale Folgenorientierung des Schadensprinzips zum Tragen. So ist der jeweils vergleichsweise bessere Zustand herbeizuführen, indem zumindest die Schädigung einiger Akteure verhindert wird, auch wenn dies nicht für alle möglich sein mag. Zudem ist ein einzelner Akteur hier nur als ökonomischer Akteur im Rahmen seiner ökonomischen Tätigkeiten verantwortlich. Kein ökonomischer Akteur kann verpflichtet sein, einem anderen Akteur, mit dem er ökonomisch in Beziehung tritt, sein gesamtes privates Vermögen oder auch nur einen Großteil davon zukommen zu lassen, um den Zustand des anderen so weit zu verbessern oder zu erhalten, dass dieser sich in einer minimalen Wohlergehensposition befindet. Eine solche Pflicht würde nicht nur unser marktwirtschaftliches System praktisch verunmöglichen, sondern wäre auch hochgradig kontraintuitiv und vor allem mit den Vorwürfen moralischer Überforderung und eines moralischen Rigorismus beziehungsweise Idealismus konfrontiert. Die Nichtschädigungspflicht und die damit verbundene Verantwortlichkeit ökonomischer Akteure muss sich stattdessen auf die Reichweite der ökonomischen Beziehung beschränken, beispielsweise auf nichtschädigende Arbeitsbedingungen und bauliche Sicherheitsstandards im Falle einer Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehung oder dem Kauf nichtschädigend erzeugter Produkte im Falle von Konsumentscheidungen. Teil dieser folgenorientierten Perspektive auf Verantwortung ist also auch deren Begrenzung.42 Positive Pflichten ökonomischer Akteure müssen aus praktischen wie moralischen Gründen begrenzt sein.43 So ist unabhängig davon, ob ein Schaden vorliegt, auch für den potentiell verantwortlichen Akteur zu beachten, welche Auswirkungen damit auf sein eigenes Wohlergehen verbunden wären. Hier kann der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen doch eine Rolle für die 42 Mit einer grundsätzlichen Einschränkung positiver Pflichten im Rahmen der individuellen Verantwortung steht das hier vorgeschlagene wirtschaftsethische Schadensprinzip im Gegensatz zur konsequentialistischen Argumentation Kagans (vgl. 1989), der den Konsequentialismus grade dadurch stark zu machen versucht, dass er die Begrenztheit moralischer Ansprüche an menschliches Handeln bestreitet. Es ist nach Kagan nicht nur so, dass alles getan werden darf, um die besten Konsequenzen für alle zu erreichen, vielmehr muss auch alles dafür getan werden. Dem einzelnen Akteur bleibt unter Umständen kaum die Möglichkeit, eigene private Ziele zu verfolgen, wenn seine private Einschränkung zur Herbeiführung der besten Konsequenzen für alle führt. Im Ergebnis ist dann nichts mehr Privatsache, stattdessen sind immer die besten Konsequenzen anzustreben. Eine solche Sicht kritisiert Kurt Baier (1974: 192 f.) vehement: „Die Moral fordert von uns, nur denen Gutes zu tun, die unsere Hilfe wirklich brauchen. Die Meinung, wir müßten immer die Handlung, die das Beste bewirkt, tun oder immer dann, wenn wir keine dringenderen Pflichten haben, hätte das absurde Ergebnis, daß wir immer unrecht tun, wenn wir uns erholen; denn bei diesen Gelegenheiten wird es immer Möglichkeiten geben, besseres zu bewirken, als wir durch unsere Entspannung bewirken können.“ 43 Vgl. Neuhäuser 2011: 203 f.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
Begrenzung von Verantwortung spielen, weil Verantwortung oft Handlungen erfordert und nicht bloß durch Unterlassungen umsetzbar ist, aktives Handeln aber generell einen größeren persönlichen Einsatz fordert. Wenn Verantwortung aktives Tun fordert, dadurch aber persönliche Interessen der Akteure erwartbar stärker betroffen sind als durch Unterlassen, dann ist Verantwortung auch durch ihren aktiven Charakter begrenzt.44 Dass ein ökonomischer Akteur verantwortlich handelt bedeutet zuletzt nicht, dass die konkreten Ergebnisse der Verantwortungsausübung unkontrovers ausfallen müssen. Es ist durchaus möglich, einen ökonomischen Akteur für sein verantwortungsvolles Handeln und das damit verbundene Einnehmen des moralischen Standpunktes zu loben, und dennoch der Meinung zu sein, er hätte bei seinen Überlegungen hinsichtlich der moralisch vorzugswürdigen Handlungsweise zu anderen Ergebnissen kommen müssen.45 Dass beides zugleich möglich ist – Konsens darüber, dass ein Akteur verantwortlich gehandelt hat und Dissens über seine Handlungsweise – ergibt sich gerade daraus, dass Verantwortung auf den Umgang mit offenen Handlungssituationen bezogen ist. Zwar kann das Schadensprinzip als moralische Handlungsregel die mit relativer Unparteilichkeit verbundene Objektivität beanspruchen. Diese Handlungsregel muss aber auch umgesetzt werden, und dabei ist es zwar möglich, aus der universalmoralischen, möglichst unparteiischen Perspektive heraus, Handlungsoptionen zu vergleichen. Dabei können aber natürlich Situationen auftreten, in denen Uneinigkeit darüber herrscht, ob beispielsweise eine Schädigung hätte verhindert werden können, oder welcher Schädigung im Zweifelsfall mehr moralisches Gewicht zukommt. Wenn im Falle notwendiger Entlassungen beispielsweise zu entscheiden wäre, ob einem gut qualifizierten Familienvater mittleren Alters oder einer nur noch wenige Berufsjahre vom Renteneintrittsalter entfernten Arbeitnehmerin gekündigt wird, und beiden Schädigungen drohen – etwa dem Familienvater, weil der Beitrag seines Einkommens zum Familieneinkommen bisher maßgeblich dafür war, dass er und seine Familie sich oberhalb der Schwelle zur relativen Armut befanden, der Arbeitnehmerin, weil die verbleibenden Berufsjahre für sie notwendig sind, um ausreichend hohe Rentenansprüche zu erwerben, um im Alter vor relativer Armut geschützt zu sein – ist vielleicht auch angesichts der Fähigkeiten und Funktionsweisen beider Akteure kein völlig unkontroverses Urteil darüber zu fällen, welche Schädigung als schwerwiegender anzusehen ist.
44 45
Vgl. Birnbacher 1995: 151. Vgl. Goodpaster 1983: 7.
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure 5.3.1 Zur Verantwortungsfähigkeit von Unternehmen und Konsumenten Bisher wurde gezeigt, wie sich die moralische Verantwortung ökonomischer Akteure in Verbindung mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip verstehen lässt. Es bleibt aber noch herauszustellen, dass ökonomische Akteure überhaupt als verantwortungsfähige Akteure aufzufassen sind. Dafür sind grundsätzlich drei Voraussetzungen zu erfüllen. Um verantwortungsfähig zu sein und somit Verantwortung zugeschrieben bekommen zu können, muss ein Akteur erstens kausalen Einfluss auf die Welt ausüben können. Zweitens muss er Handlungsfreiheit besitzen, indem ihm mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung stehen. Dabei dürfen die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nicht nur theoretisch bestehen, sondern sie müssen für den Akteur auch praktisch verfügbar sein. Kann von einem Akteur nicht vernünftigerweise erwartet werden, die oder eine mit der Wahrnehmung von Verantwortung verbundene Handlung zu wählen, dann besitzt er auch keine verantwortungsgenerierende Willens- und Handlungsfreiheit. Und drittens muss er in der Lage sein, die Handlungsalternativen vom moralischen Standpunkt aus zu beurteilen.46 Kausalität lässt sich wie mit Joel Feinbergs Verständnis kausaler Faktoren gezeigt bereits dann annehmen, wenn eine fragliche Handlung nicht die alleinige Ursache für ein bestimmtes Ergebnis war. Zudem wären weithin geteilte Intuitionen und moralische Empörung über ökonomische Handlungsweisen wie Kinderarbeit ohne die Annahme der Möglichkeit kausaler Einflussnahme nicht verständlich. Die Fähigkeit des Urteilens vom moralischen Standpunkt aus wurde für ökonomische Akteure im letzten Kapitel dargestellt und bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. Die Frage, ob jemand Handlungsfreiheit in dem Sinne besitzt, „dass es keine äußeren Faktoren gibt, die eine Akteurin davon abhalten, etwas zu bewirken“, ist grundsätzlich mit interpretativem Spielraum verbunden.47 Die beste Einschätzung ist diesbezüglich die, was vernünftigerweise erwartbar ist. Zwar lässt auch dies noch Raum für Interpretation, gleichwohl ist dieser eingeschränkt, wenn mit der „vernünftige[n] Erwartbarkeit“ die Forderung verbunden wird, im Zweifelsfall „vernünftige, also rational nachvollziehbare Gründe“ funktionaler oder normativer Art anzugeben, „warum jemand in seinen Handlungen nicht als frei gelten soll.“48 Es wird also davon ausgegangen, dass grundsätzlich Handlungsfreiheit besteht, und dass derjenige, der seine eigene Handlungsfreiheit bestreitet, sich unter Rechtfertigungsdruck befindet. Eine drohende Kündigung etwa kann als ernsthafte Einschränkung der Hand46 47 48
Vgl. Neuhäuser 2011: 56 ff. A.a.O.: 59. A.a.O.: 60 (Hervorh. im Original).
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
lungsfreiheit aufgefasst werden, und eine Bedrohung des eigenen Lebens ohnehin,49 während es nicht als Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit gelten kann, wenn beispielsweise Bonuszahlungen ausfallen oder geringer ausfallen würden, falls ein Akteur sich moralisch unproblematisch verhält. Die Annahme der Handlungsfreiheit macht wieder die Differenz zu den Mainstream Economics ebenso wie zu Homanns Ansatz der Normativen Ökonomik deutlich, denn dort wird das Bestehen von Handlungsalternativen für ökonomische Akteure ja durch die angenommene Normativität der ökonomischen Gründe beziehungsweise der Systemimperative grundsätzlich als sehr eingeschränkt angesehen. Als Hauptproblem für Verantwortungsfähigkeit könnte das Kriterium der Willensfreiheit angesehen werden.50 Allerding lässt sich die praktische Frage der Willensfreiheit auch von der metaphysischen trennen, indem Willensfreiheit als praktisch gegeben vorausgesetzt wird und dort, wo sie bezweifelt wird, dies situativ gezeigt werden müsste.51 Ronald Dworkin weist zudem darauf hin, dass Personen unabhängig von der Frage, ob sie tatsächlich einen freien Willen besitzen, diesen in Handlungssituationen als Handelnde selbst immer voraussetzen müssen. Denn wer eine Entscheidung trifft, geht notwendigerweise davon aus, dass es nicht gleichgültig ist, für welche Option er sich entscheidet und dass diese Entscheidung im zuzurechnen ist. Praktisch setzen wir Willensfreiheit in Entscheidungssituationen deshalb immer voraus und empfinden Verantwortung für die gewählte Option.52 Und auch anderen unterstellen wir die Fähigkeit, nach Gründen zu handeln und verantwortlich zu sein, und müssen dies für das Funktionieren sozialer Interaktion auch tun, wie Julian Nida-Rümelin argumentiert.53 Insgesamt lassen sich ökonomische Akteure damit als grundsätzlich verantwortungsfähig voraussetzen.54 Allerdings sind angesichts der moralischen Verantwortungsfähigkeit unterschiedlicher Akteursgruppen noch zwei zentrale mögliche Einwände zu betrachten. Erstens könnte für Unternehmen bezweifelt werden, dass es sich bei ihnen überhaupt um moralische Akteure handelt. Das heißt, obwohl der Einfluss ihrer Handlungen auf das Wohlergehen anderer Akteure mitunter erheblich sein mag, könnten Unternehmen dennoch als moralisch nicht adressierbar angesehen werden. Zweitens könnte für Konsumenten im Gegensatz dazu die Relevanz ihrer einzelnen Konsumentscheidungen angezweifelt werden, indem 49
Vgl. a.a.O.: 58 ff. Vgl. a.a.O.: 60 f. 51 Vgl. a.a.O.: 61. 52 Vgl. Dworkin 2014: 376 ff. 53 Vgl. Nida-Rümelin 2005: 26 f. 54 Eine differenzierte Positionierung zur Verantwortungsfähigkeit unterschiedlicher ökonomischer Akteure findet sich in den Arbeiten Christian Neuhäusers (vgl. Neuhäuser 2011; Neuhäuser 2012). 50
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
197
die hinreichende Wirkmächtigkeit dieser Einzelhandlungen bestritten wird. Beide möglichen Einwände wurden bereits vielfach diskutiert, weshalb ich im Folgenden nur kurz auf die im Kontext dieser Arbeit wichtigsten Gegenargumente eingehen werde. Dass sich Unternehmen als moralische Akteure verstehen lassen, ist differenziert herausgearbeitet worden. Ein zentrales Argument dabei ist die interne Entscheidungsstruktur von Unternehmen, die ihnen Handlungen und Entscheidungen als organisationale Einheit zurechenbar macht. Unternehmen sind in dieser Sichtweise deshalb als moralfähige Akteure anzusehen, weil sie eine rationale Entscheidungsstruktur besitzen.55 Peter French stellt die interne Entscheidungsstruktur von Unternehmen („Corporation’s Internal Decision Structure“, „CID-Struktur“) heraus, die so zu beschreiben sei, „daß wir von korporativer Intentionalität sprechen dürfen“.56 Unternehmen haben nach French eigene, sich aus ihrer Interessenlage ergebende Gründe, die unabhängig sind von den persönlichen Gründen etwa der Unternehmenslenker.57 Kenneth Goodpaster betont die Informationen, die Unternehmen darüber zur Verfügung stellen, welche „moralischen Prämissen“ innerhalb ihrer Entscheidungsstrukturen zu berücksichtigen sind. Innerhalb der Unternehmensorganisation getroffene Entscheidungen Einzelner könnten deshalb als moralische Entscheidungen des Unternehmens verstanden werden, wenn diese auf Grundlage solcher im Unternehmen verfügbaren Informationen getroffen werden.58 Kurt Bayertz hebt die Bedeutung der Organisationsstrukturen für Verantwortungszuschreibungen hervor, denn die Zurechnung zu Individuen könne intern über klare Strukturen nachvollzogen werden, während das Unternehmen gleichzeitig aus der Außenperspektive als Individuum erscheint, dem Verantwortung zugerechnet werden kann.59 Christian Neuhäuser verbindet Annahmen über die interne Entscheidungsstruktur und die Rolle personaler Agenten innerhalb dieser Struktur mit der Verantwortungsfähigkeit von Unternehmen zu einem spezifischen Verständnis von Unternehmen als moralische Akteure, für das sich exemplarisch folgende Zusammenfassung anführen lässt: Sie besitzen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Pläne die dafür notwendigen Absichten und Überzeugungen und können mithilfe ihrer Mitarbeiterinnen zielgerichtet 55
Vgl. Goodpaster 1983; French 1998; List/Pettit 2011; Neuhäuser 2011; Neuhäuser 2017b: 781 f. 56 French 1998: 321. Entscheidend für diese interne Entscheidungsstruktur sind das „Organisations- und Verantwortungsablaufdiagramm“ und die „Anerkennungsregeln für korporative Entscheidungen“; zusammen erlauben diese eine Beschreibung aus der Außenperspektive als „korporative Handlungen“ (a.a.O.: 322 f.). 57 Vgl. a.a.O.: 326. 58 Vgl. Goodpaster 1983: 12. 59 Vgl. Bayertz 1995: 53.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
in die Welt eingreifen. Sie sind darüber hinaus auch grundsätzlich verantwortungsfähig, weil sie aufgrund ihrer Vernünftigkeit in der Lage sind, die Sprache der Moral zu verstehen.60
Unternehmen sind in seinem Verständnis in der Lage, „mit Verantwortungszuschreibungen und moralischen Vorwürfen“ umzugehen, anstatt nur auf systemische Anreize zu reagieren.61 Der moralische Status der Unternehmen selbst wird wiederum unterschiedlich bewertet.62 Ich schließe mich hier der Position an, dass Unternehmen zwar moralische Pflichten, aber keine moralischen Rechte besitzen, wie sie im deutschsprachigen Raum von Neuhäuser stark gemacht wird.63 Im Zusammenhang dieser Arbeit spricht für diese Sichtweise, dass daraus, dass die Zustände von Personen die moralische Grundlage für das Schadensprinzip bilden, auch folgt, dass Unternehmen selbst nicht als mit moralischen Rechten ausgestattet anzusehen sind. Stattdessen sind es die mit einem Unternehmen durch ökonomische Beziehungen verbundenen Personen, die nicht geschädigt werden dürfen und durch deren potenzielle Schädigung die Existenz eines Unternehmens überhaupt erst eine diesbezügliche minimalmoralische Signifikanz besitzt. Angestellte erfahren negative Konsequenzen, wenn das Unternehmen, bei dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen, aufhört zu existieren. Möglicherweise werden sie dadurch geschädigt, indem sie dauerhaft die Möglichkeit zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes verlieren. Auch Unternehmenseigentümer, Aktionäre, alle Share- und Stakeholder, deren Wohlergehen von der Existenz eines Unternehmens abhängig ist, können durch dessen Verschwinden geschädigt werden. Deshalb kommt aber nicht schon dem Unternehmen selbst so etwas wie ein moralisches Recht auf Überleben um seiner selbst willen zu. Im Folgenden werde ich also den moralischen Akteursstatus von Unternehmen als moralisch verantwortungsfähig – entsprechend ihrem Status als moralische Akteure und der Erfüllung der oben genannten Kriterien von Verantwortungsfähigkeit –, aber nicht mit moralischen Rechten ausgestattet voraussetzen. Diese Sichtweise wirkt sich auf die Zumutbarkeit von Wettbe-
60
Neuhäuser 2011: 181. Vgl. Neuhäuser 2011: 32. Sie seien „freie Akteure, die selbst fähig sind, nach ethischen Gesichtspunkten zu entscheiden und daher auch in der Sprache der Moral verantwortlich gemacht werden können“ (a.a.O.: 33). 62 Für French (vgl. 1995: 63, 79) besitzen Unternehmen moralische Rechte und Pflichten. List und Pettit (vgl. 2011: 180 ff.) dagegen sprechen Unternehmen einen beschränkten Personenstatus zu und sehen sie zwar als vollständig verantwortlich, aber nur begrenzt mit moralischen Rechten ausgestattet; welche moralischen Rechte Unternehmen zukommen, hänge von den menschlichen Interessen ab. 63 Vgl. Neuhäuser 2011: 124 f. Nach Neuhäuser sind Unternehmen moralische Akteure, aber keine Personen und besitzen deshalb auch keine personalen Rechte (vgl. a.a.O.: 119 ff.). 61
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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werbsnachteilen für Unternehmen aus: Diese sind dann moralisch relevant, wenn dadurch Menschen geschädigt werden.64 Weniger eindeutig mag die Fähigkeit zur kausalen Einflussnahme und damit die Verantwortungsfähigkeit für einzelne Konsumenten erscheinen. Naheliegend ist der Einwand, der Effekt einzelner Konsumentscheidungen auf Dritte sei bestenfalls marginal, was insbesondere dann schwer wiegt, wenn es für ökonomische Akteure nicht um konkrete Einzelpflichten, sondern um signifikante Folgen ihres Handelns für Personen geht. Allerdings lässt sich auch die Verantwortung von Konsumenten differenziert betrachten und erstens die moralische, rechtliche und politische Verantwortung von Konsumenten mit der von Unternehmen ins Verhältnis setzten, woran ersichtlich wird, dass Konsumenten einerseits moralische Verantwortung zukommt, moralisches Handeln von Unternehmen sowie rechtliche Regulierung einzufordern, und sie andererseits von Unternehmensseite moralisch adressierbar sind.65 Zudem kann es als Teil von Konsumentenverantwortung angesehen werden, wenn sie durch ihre Konsumentscheidungen einen business case für Unternehmen generieren, indem sie moralisches Handeln für Unternehmen gewinnsteigernd machen.66 Vor allem aber haben einzelne Kaufentscheidungen durchaus wichtige Effekte auf einzelne Menschen, und insbesondere für den Kauf von fair trade-Produkten ist dieser Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen: „Einige Menschen verdienen mehr Geld und können selbstbestimmter leben [….] Diese Effekte produzieren keinen Systemwechsel, aber sie ersparen wirklichen Menschen […] viel Leid und sind daher aus moralischer Perspektive durchaus wirkungsvoll und auch geboten.“67 Zu unterscheiden ist demnach zwischen der Verantwortung von Konsumenten für strukturelle Bedingungen,68 und der Verantwortung, die ihnen aufgrund ihrer Einflussmöglichkeiten auf das Wohlergehen Einzelner zukommt. 64 Heidbrink (2010: 3) dagegen sieht die wirtschaftsethische Verwendung des Verantwortungsbegriffs mit der Frage verbunden, „wie Marktakteure ihre Handlungen so gestalten können, dass deren Folgen weder wettbewerbliche Nachteile mit sich bringen noch zu Schäden des Individual- oder Gemeinwohls führen“ (Hervorh. NP). Auch aus Perspektive der Ökonomischen Ethik soll sich verantwortliches Handeln zumindest mittelfristig nicht negativ auf die Wettbewerbssituation des jeweiligen Akteurs auswirken (vgl. Abschnitt 6.3 in dieser Arbeit). 65 Vgl. Neuhäuser 2012: 288 ff. 66 Vgl. Neuhäuser 2017b: 767; Suchanek 2015a: 320 f.; Aßländer 2011: 71. „Wenn zahlreiche Konsumenten daran interessiert sind, Lebensmittel oder Textilien so günstig wie möglich zu bekommen und als Folge des sich daraus ergebenden Kostendrucks auf die Anbieter dieser Güter die Sozialstandards sehr niedrig sind, so liegt das sicherlich nicht in der Intention der Konsumenten, dennoch ist es plausibel, die niedrigen Sozialstandards (auch) als Folge ihres Konsumverhaltens anzusehen.“ (Suchanek 2007: 179, Hervorh. NP). 67 Neuhäuser 2012: 288. 68 Young (vgl. 2004) argumentiert für eine politische Verantwortung der Einwohner wohlhabender Staaten angesichts schädigender Arbeitsbedingungen wie denen in sweatshops.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
Als Beispiel für Konsumentenverantwortung lässt sich der Kakaokonsum anführen. Warum sollte bei einem Genussmittel, das in gewisser Hinsicht als Luxusgut verstanden werden kann, von einzelnen Konsumenten nicht erwartbar sein, höhere Preise zu zahlen, die nicht nur mit fairen Handelsstandards, sondern mit einem Verbot von Kinderarbeit und dessen tatsächlicher Durchsetzung vereinbar sind? Zumal die Preissteigerungen, die damit verbunden wären, nicht so hoch ausfallen müssten, dass Schokolade für Menschen mit geringem Einkommen nicht mehr finanzierbar wäre.69 Ein höherer Kakaopreis, der nichtschädigende Herstellungsprozessen entspricht, ist deshalb ein Beispiel für eine sowohl sinnvolle (wirkungsmächtige wie zumutbare) Einschränkung; sie führt über ein verbessertes Lohnniveau, arbeitsrechtliche Regulierung und den Ausschluss von Kinderarbeit und -sklaverei zu einer starken substantiellen Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen. Das Ausmaß der Verantwortung hängt mit der jeweiligen Möglichkeit zusammen, das Wohlergehen anderer Akteure zu beeinflussen. Deshalb können einzelne Unternehmen stärker verantwortlich sein als einzelne Konsumenten und werden oft auch so wahrgenommen. Andererseits kann der Effekt einzelner oder kollektiver Konsumentscheidungen auf das Wohlergehen (einzelner) anderer Personen mitunter groß sein. Und schließlich gibt es zahlreiche Konsumenten, deren Selbstverständnis es entspricht, moralische Akteure zu sein, und die ihren Konsumentscheidungen grundsätzlich – wenn nicht unbedingt jeder einzelnen – moralische Bedeutung beimessen. 5.3.2 Dilemmatische Situationen, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe Andere Akteure nicht zu schädigen ist auch als Minimalmoral mitunter eine komplexe Aufgabenstellung, denn auch bei der Anwendung des Schadensprinzips als moralische Regel obliegt es dem einzelnen Akteur, Entscheidungen darüber zu treffen, welche Folgen und Nebenfolgen wichtig und wahrscheinlich sind. Und er muss auch entscheiden, in welcher Form er sie berücksichtigt. 69 Die günstigste Tafel Schokolade, die diesen Bedingungen sehr nahekommt, kostet 1,49 € pro 100g (vgl. Öko-Test, Dezember 2019: 44 f.). Als naheliegendes Gegenargument könnte eine nicht immer ausreichend gegebene Kontrolle über die Wertschöpfungsketten sein. Dieses Argument greift hier aber nicht, weil zunächst gemeint ist, dass dort, wo eine ausreichende Kontrolle möglich ist, auch eine Nichtschädigungspflicht besteht. Zudem ist fraglich, ob – wo ins Feld geführt – tatsächlich immer eine Unmöglichkeit der Überprüfung besteht, oder nicht vielmehr ökonomischen Gründen ein zu starkes Gewicht eingeräumt wird. Gerade in paradigmatischen Schädigungsfällen ist immer wieder fehlende, aber mögliche Kontrolle festzustellen. All dies sind dann eher Argumente für ein eine gesetzliche Regelung zur Kontrolle von Lieferketten als gegen individuelle Verantwortlichkeit bei bestehendem Schädigungspotential.
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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Folgendes Beispiel illustriert die Komplexität verantwortlichen Entscheidens: Ein Unternehmen stellt kurz- oder auch mittelfristig Arbeitnehmer in einer ökonomisch noch schwach entwickelten Region ein. Diese werden durch die Arbeitsbedingungen selbst nicht geschädigt (ihre Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen sind in der Gesamtheit so gestaltet, dass die Arbeitnehmer nicht relativ arm sind). Durch diese Arbeitsplätze oder besser gesagt durch die Möglichkeit, dieser Erwerbsarbeit nachzugehen, werden sie zunächst bessergestellt, weil es ein solches Angebot der Lohnarbeit zuvor gar nicht gab. Allerdings müssen sie dafür ihre bisherige Lebensgrundlage aufgeben, indem sie ihren Landbesitz verkaufen oder die Bewirtschaftung von Land oder die Haltung von Nutztier aufgeben. Dabei ist aus Unternehmenssicht von vornherein klar oder zumindest nicht sehr unwahrscheinlich, dass die Bereitstellung dieser Arbeitsplätze höchstens mittelfristig erfolgt, um Lohnpotentiale auszuschöpfen. Weil es sich um eine strukturschwache Region handelt, woran sich auch absehbar mittelfristig nichts ändern wird, besteht ein ernst zu nehmendes Risiko, dass die Arbeiter anschließend keine Weiterbeschäftigung in einem anderen Unternehmen und damit aller Voraussicht nach auch keine wohlfahrtssichernde Arbeitsstelle finden und wieder auf die eigene Landwirtschaftsproduktion angewiesen sein werden. Auf Grundlage des im vorangegangenen Kapitels herausgearbeiteten Schadensbegriffs, der die als vital zu verstehenden Fähigkeiten und Funktionsweisen ins Zentrum rückt, spricht einiges dafür, dass die Arbeitnehmer geschädigt werden, wenn sie tatsächlich anschließend keine neue Arbeitsstelle finden und sich auch nicht einfach auf die vorherige Weise wieder selbst versorgen können (Land müsste zurückgekauft werden oder brachliegendes Land erst neu bestellt bzw. neue Viehzucht erst begonnen werden). Und bereits das (hohe) Risiko, mit dem die Arbeiter dieser Situation ausgesetzt werden, scheint hier für eine Schädigung zu sprechen. Zugleich ist es möglich, dass aus Unternehmenssicht die Standortverlagerung in die fragliche Region die einzige Möglichkeit ist, eine große Anzahl heimischer Arbeitsplätze zu sichern. Dann spielt auch das jeweilige soziale Sicherungssystem eine Rolle. Sind die Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze durch die Standortverlagerung gesichert werden sollen, durch bestehende Sozialversicherung so gut abgesichert, dass ihnen durch einen Arbeitsplatzverlust zwar zweifellos eine Schlechterstellung, aber keine Schädigung droht, spricht das stark dafür, die Arbeitsplätze an den Standort B zu verlagern; dies noch mehr, wenn dort ebenfalls eine ausreichende soziale Sicherung im Falle des Arbeitsplatzverlustes besteht. Ein weiterer Aspekt ist allerdings die Frage, ob auch Standort A sich in einer strukturschwachen Region befindet, sodass die Arbeitnehmer zunächst zwar sozial ausreichend vor Schädigungen geschützt sind, dies aber nur temporär. Es wäre auch möglich, dass beide möglichen Szenarien mit einem vergleichbaren Risiko der Schädigung verbunden sind. Dann
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wäre dem Verantwortungsträger im Falle einer tatsächlich eintretenden Schädigung kein moralischer Vorwurf zu machen, obwohl eine Schädigung eingetreten ist, weil er aufgrund der Dilemmasituation entschuldigt war und eine Entscheidung treffen musste. Wieder anders wäre die Entscheidungssituation zu bewerten, wenn es gar nicht sehr wahrscheinlich wäre, dass der neue Standort nur mittelfristig ist, wenn gar keine zeitliche Begrenzung geplant wäre oder wenn es sich bei Region B um eine im wirtschaftlichen Aufbruch befindliche Region handelt, die absehbar alternative Arbeitsplätze bieten wird. Dieses Beispiel illustriert auch, dass es sich bei Fragen der Unternehmensverantwortung normalerweise um Fragen mittlerer Reichweite handelt: nicht um Fragen nach der Individualethik von Managern oder nach der Legitimität unternehmerischen Handelns an sich, sondern um Fragen nach den Unternehmenszielen und -strategien und deren moralischen Grenzen.70 Die Gewinninteressen von Unternehmen sind differenziert zu betrachten. Natürlich haben Unternehmen ein berechtigtes Interesse an der Sicherung ihrer Existenz durch Profitabilität, das aufgrund des positiven Beitrags unternehmerischen Erfolgs für das Wohlergehen aller Share- und Stakeholder zudem moralische Relevanz besitzt.71 Dieses berechtigte Interesse an Profitabilität kann aber nicht per se Schädigungen anderer Akteure aufwiegen. Dies wäre nur in Ausnahmen der Fall, wenn in moralischen Dilemmasituationen ein entsprechendes Abwägungsergebnis erzielt wird, weil der Schaden durch das Verschwinden eines Unternehmens mindestens so groß wäre wie der Schaden, der Dritten durch die Handlungsweise des Unternehmens zugefügt würde. Die Voraussetzung dabei ist aber natürlich, dass es sich nicht um ein per se schädigendes Geschäftsmodell handelt. Wer Fremdschädigung zur Voraussetzung seines eigenen unternehmerischen Erfolgs macht, kann keine moralische Dilemmasituation für sich reklamieren. Eine solche Situation stellt deshalb auch kein Abwägungsproblem dar. Das „Problem der ‚schmutzigen Hände‘“ verdeutlicht solche Abwägungsprobleme. Denn zum einen ist es angesichts von verantwortungsvollen Aufgaben so, dass Pflichterfüllung nicht nur nicht ausreichend ist, sondern das Zurückziehen auf normalerweise geltende moralische Regeln oder die eigenen guten Motive zu schlechten Konsequenzen führen kann. Es kann deshalb von Verantwortungsträgern moralisch gefordert sein, gegen moralische Regeln zu verstoßen. Moralische Dilemmasituationen können „schmutzige Hände“ notwendig machen.72 Möglicherweise ist die Schließung eines Unternehmens70
Vgl. Goodpaster 1983: 3. Vgl. Neuhäuser 2011: 225 f.; siehe hierzu auch die Grundposition der Ökonomischen Ethik (vgl. Fn. 124, Kap. 2). 72 Celikates 2011: 278 f. Max Weber (vgl. 2008: 71 ff.) zeigt, dass immer dann, wenn nicht davon auszugehen ist, dass Handeln nach den eigentlich als verbindlich anerkannten moralischen Grundsätzen zu den intendierten Folgen führt, es notwendig ist, selbst die Verantwor71
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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standortes a in Land A und eine Verlagerung in Land B notwendig, um das Bestehen des Unternehmens und auch das der Arbeitsplätze an den Standorten b und c in Land A zu sichern. Zum anderen gilt es auch in solchen Situationen, eine angemessene Entscheidung zu treffen, und moralische Dilemmata wären unvollständig beschrieben, wenn sich der Handelnde einfach für eine beliebige der moralisch problematischen Alternativen entscheiden könnte. Das wirklich Dilemmatische an solchen Situationen besteht gerade darin, dass auch im Falle einer notwendigen Entscheidung zwischen alternativen Schädigungen noch moralische Anforderungen an die Entscheidungsfindung bestehen. Ernst Tugendhat stellt heraus, dass es beim Abwägen gerade nicht darum geht, dass eine Entscheidung anhand der subjektiven Kriterien des Abwägenden ausreichend wäre, sondern stattdessen auch für Abwägungen die Perspektive der Unparteilichkeit einzunehmen ist.73 Moralisch verantwortliches Handeln bedeutet dann, sich aus moralisch zu rechtfertigenden Gründen für eine der schlechten Alternativen zu entscheiden. Auch wenn es grundsätzlich schwierig ist, Abwägungskriterien zu bestimmen, so lässt sich durch die Anforderung von Unparteilichkeit mit Rückgriff auf das Schadensprinzip sagen, dass in moralischen Dilemmasituationen zugunsten der geringstmöglichen Schädigung abzuwägen ist. Auch Konflikte zwischen vitalen Interessen beziehungsweise Funktionsweisen und Fähigkeiten (Konflikte zwischen zwei Interessen vom Typ B, vgl. 4.1.5) lassen sich lösen, denn erstens können sie unterschiedlich stark von Zurücksetzung betroffen sein, und zweitens sind auch zwischen ihnen hierarchische Unterschiede möglich. Hier ist entscheidend, dass das Schädigungsverbot im Sinne einer deontischen Beschränkung zu verstehen ist und kein strenges Verbot darstellt: normalerweise sind Schädigungen verboten und bestimmte Gründe werden durch die deontische Beschränkung von konsequentialistischen Überlegungen ausgeschlossen, in Dilemmasituationen können einige Schädigungen aber erlaubt sein, was Abwägungen notwendig macht. Diese Schrankenfunktion lässt sich gut an Donald Dworkins Verständnis von moralischen und politischen Rechten als „Trümpfe“ veranschaulichen.74 Diese stechen „ansonsten überzeugende Rechtfertigungen aus“.75 Dennoch können diese
73 tung dafür zu übernehmen, innerhalb der gegebenen (nicht idealen) Bedingungen die gewünschten Folgen herbeizuführen. Andernfalls bestünde die Gefahr von Verantwortungslosigkeit in einer komplexen Welt. Denn die realen Probleme erfordern es immer wieder, schlechte Mittel zu guten Zwecken einzusetzen und stellen die Handelnden vor Abwägungsprobleme. In solchen Fällen ist die Bereitschaft zur individuellen Verantwortungsübernahme unerlässlich, d.h. zu einer Entscheidung in einer Situation auch unter eigentlich klaren moralischen Vorgaben unvollständiger Handlungsvorschriften. 73 Vgl. Tugendhat 2010: 100. 74 Vgl. Dworkin 1974. 75 Dworkin 2014: 556.
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Rechte in Ausnahmefällen auch „übertrumpft“ werden.76 Die Nichtschädigungspflicht gilt demnach nicht immer. Es ist auch möglich, dass schädigendes Handeln in Ausnahmefällen eigentlich verantwortliches Handeln ist, weil dadurch noch größere Schädigungen verhindert oder vermieden werden.77 Weil es unzulässige und zulässige Schädigungen gibt, muss auch die Frage nach einem möglichen Vorrang der Moral und den sich daraus ergebenden Handlungsvorschriften für wirtschaftsethische Fragestellungen eigens behandelt werden. Für die Frage, wann Schädigungen zulässig sind, spielen Rechtfertigungsgründe die entscheidende Rolle. Rechtfertigungsgründe unterscheiden sich von Entschuldigungsgründen, wobei erstens Rechtfertigungen Handlungen richtig machen, die ohne Rechtfertigung falsch wären, während entschuldigte Handlungen dennoch falsch bleiben, und zweitens durch Rechtfertigung immer eine vollständige Entschuldigung erfolgt, während Entschuldigungen graduell sein können. Zudem ist die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung oder Entschuldigung drittens selbst von normativen Prämissen abhängig – es ist nicht unabhängig von normativen Vorannahmen klar, was als Grund für eine Rechtfertigung oder Entschuldigung angeführt werden kann. Deshalb müssen die angeführten Gründe immer auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden.78 Für beide Fälle werde ich im Folgenden Beispiele anführen, wobei ich zunächst auf Rechtfertigungsgründe und anschließend auf Entschuldigungsgründe eingehe. Rechtfertigungsgründe werden durch Dilemmasituationen generiert und erscheinen insbesondere in Bezug auf individuelle Konsumentscheidungen als besonders plausibel, weil damit immer die Art und Menge der konsumierba76 Dworkin 1984: 161. „Ein Recht kann zudem selbst dann als Trumpf gelten, wenn es in Ausnahmesituationen nicht das Gemeinwohl aussticht, etwa wenn die konkurrierenden Interessen gewichtig und dringlich sind, wie es zum Beispiel der Fall sein mag, wenn eine große Anzahl von Menschenleben oder die Existenz des Staates selbst in Frage stehen. Dann, so könnten wir sagen, wird der Trumpf übertrumpft, nicht von einer gewöhnlichen Rechtfertigung, sondern von einem höheren Trumpf.“ (Dworkin 2014: 788, En. 1, Hervorh. NP). 77 So meint beispielsweise Suchanek (2014: 7), Kinderarbeit „unter bestimmten Bedingungen zu akzeptieren“ könne „verantwortlich sein“ (vgl. auch Suchanek 2015a: 285 f.). Unter nicht-idealen Bedingungen und mithilfe des Fähigkeitenansatzes lässt sich diese Position dahingehend bestätigen und zugleich verfeinern, dass es aus dieser Perspektive einen großen Unterschied macht, ob etwa ein neunjähriges Kind ganztags in einem sweatshop, in der Kakaoproduktion oder im Kobaltabbau arbeiten muss, oder ob ein vierzehnjähriges Kind beispielsweise 20 Stunden in der Woche zu an sich nicht schädigenden Arbeitsbedingungen arbeitet und so den Lebensstandard seiner Familie erheblich in Richtung der Schwelle minimalen Wohlergehens verbessern, seinen jüngeren Geschwistern eine rudimentäre Schulbildung ermöglichen und verhindern kann, dass diese wiederum selbst arbeiten. Damit ist gleichwohl nicht gesagt, dass die Erwerbsarbeit des vierzehnjährigen Kindes moralisch unproblematisch wäre. 78 Vgl. Neuhäuser 2011: 214 ff.
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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ren Waren und Dienstleitungen und damit das eigene Wohlstandsniveau des Konsumenten direkt betroffen ist. Natürlich muss die Nichtschädigung Dritter durch Konsumverzicht ins Verhältnis gesetzt werden zur eigenen Schlechterstellung durch diesen Verzicht. Dass bei der Bestimmung der situativen Pflichten immer auch die moralischen Rechte des Akteurs eine Rolle spielen, erklärt, warum jemandem manchmal nicht die Nichtschädigungs-Pflichten zukommen, die man in einer Situation ohne Ansehung des betroffenen Akteurs annehmen würde. Wo statt eigenen Schlechterstellungen Selbstschädigungen drohen, wird das Abwägen von Schädigungen notwendig. Das Zusammenspiel des gleichen moralischen Rechts auf minimales Wohlergehen und situativer Rechtfertigungsgründe bei Konsumentscheidungen lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich die Situation eines Akteurs vor Augen führen, der selbst materiell sehr schlecht gestellt ist, und sich Kleidung für ein Bewerbungsgespräch kaufen muss. Für ihn mag die einzige finanzierbare Option Kleidung sein, die unter problematischen, aber nicht Leib und Leben bedrohenden Herstellungsbedingungen entstanden ist. Die herstellenden Personen haben vielleicht eine sehr hohe Zahl von Wochenarbeitsstunden zu leisten und besitzen eine mangelhafte Sozial- und Krankenversicherung, was sicherlich eine Schädigung darstellt. Dennoch ist eine Abwägung vorzunehmen mit der drohenden Schädigung des arbeitssuchenden Akteurs für den Fall, dass ein Konsumverzicht dieser unter problematischen Bedingungen hergestellten Kleidung für ihn bedeuten würde, dass er keine Kleidung hat, um sich bei einem Vorstellungsgespräch angemessen zu präsentieren und in der Öffentlichkeit ordentlich gekleidet aufzutreten. Dann könnte argumentiert werden, dass die Fremdschädigung, die mit seinem Konsum verbunden ist, nicht größer oder sogar geringer ist, als die Schäden, die ihm drohen, wenn er keine Arbeitsstelle zur Sicherung seines Lebensunterhaltes findet. Hierbei spielt dann auch eine wichtige Rolle, dass sein Konsum in strukturelle Bedingungen eingebettet ist und er allein durch seinen Konsumverzicht die Arbeitsbedingungen ja nicht grundlegend ändern kann. Diese Sichtweise auf individuelle Rechtfertigungsgründe erklärt auch, weshalb bestimmte moralische Forderungen an einzelne ökonomische Akteure auf eine spezielle Art des Konsums oder gar des Konsumverzichts als unangemessene Härte erscheinen. Die Verantwortung von Konsumenten kann in materieller Not sehr begrenzt und Handeln nach dem Selbstinteresse sehr weitgehend legitim sein; erlaubt ist aber auch dann natürlich nicht alles. Auch für Unternehmen lassen sich Rechtfertigungsgründe anführen. Aufgrund des besonderen Akteursstatus von Unternehmen sind diese Gründe aber von vornherein stärker eingeschränkt als bei menschlichen Akteuren mit moralischem Personenstatus. Allerdings sind die im Unternehmen tätigen oder von dessen Handlungen betroffenen Menschen natürlich mit den Handlungen von Unternehmen verbunden und können deshalb Rechtfertigungen
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von schädigenden Unternehmenshandlungen bedingen.79 Schädigungen durch Unternehmen lassen sich deshalb dann und nur dann rechtfertigen, wenn dadurch noch größere Schädigungen dieser Menschen abgewendet werden. So kann ein Rechtfertigungsgrund für Entlassungen einiger weniger Mitarbeiter die drohende Insolvenz eines Unternehmens sein, wodurch die Schädigung einer noch größeren Zahl von Mitarbeiter einherginge.80 Die Entlassungen wären dann deshalb nicht moralisch falsch, weil sie durch das Verhindern noch größerer Schädigungen gerechtfertigt wären. Mit Ausnahme von schädigenden Geschäftsmodellen können strukturelle Bedingungen zudem auch für Unternehmen als Rechtfertigungsgrund verstanden werden, nämlich wie schon im obigen auf Konsumenten bezogenen Beispiel nicht per se, aber im Zusammenspiel mit weiteren Gründen. So macht es einen Unterschied, ob ein Unternehmen seinen Gewinn und damit seine Existenz auf dem Zahlen schädigender Löhne gründet, oder ob ein Unternehmen, das seine Angestellten normalerweise zu nichtschädigenden Bedingungen beschäftigt in Ausnahmesituationen zur Vermeidung von Insolvenz für einen begrenzten Zeitraum von diesen Bedingungen etwa im Zuge von Lohnkürzungen abrückt, und dies unter Wettbewerbsbedingungen, die das einzelne Unternehmen nur marginal beeinflussen kann. Schließlich sind Extremfälle denkbar, in denen selbst durch gründliches Abwägen in Dilemmasituationen nicht festzustellen ist, welcher Handlungsoption universalmoralisch Vorzug zu geben wäre. In solchen Fällen können es dann die persönlichen Moralvorstellungen der entscheidenden Akteure sein, die berechtigterweise die Grundlage für die Entscheidungsfindung bilden. Auch Weber erkennt solche Fälle persönlicher Verantwortlichkeit an, in denen doch die eigene Gesinnung der letzte Referenzpunkt für die Entscheidungsfindung sein muss.81 Dann wäre nur eine Kritik an der getroffenen Entscheidung aufgrund divergierender persönlicher Moralvorstellungen möglich, und dem Akteur aus minimalmoralischer Perspektive kein Vorwurf mehr zu machen, sofern seine Entscheidungen nicht wiederum unnötige Schädigungen verursachen. Zudem lassen sich Entschuldigungsgründe für ökonomische Akteure anführen, womit dann aber der Bereich des Abwägens von Schädigungen verlassen wird. Das heißt, es geht hier nicht mehr darum, „Gründe zu nennen, die selbst moralisches Gewicht haben“; auch Entschuldigungsgründe können allerdings „den moralischen Druck abschwächen“.82 Als wesentlicher Entschuldigungsgrund für Unternehmen wie für Konsumenten ist im Zu79 80 81 82
Vgl. a.a.O.: 216 f. Vgl. a.a.O.: 218. Vgl. Weber 2008: 81. Neuhäuser 2011: 218.
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sammenhang mit dem Schadensprinzip Unwissenheit oder ein eingeschränkter Informationsstand anzusehen. Dennoch kann diese Entschuldigung nicht per se gelten, sondern muss immer situativ betrachtet werden. Weder Unternehmen noch Konsumenten können einfach als Entschuldigung anführen, sie hätten vom Schädigungspotential ihrer eigenen Handlungen eben nichts gewusst. Vielmehr ist zu schauen, ob vernünftigerweise erwartbar gewesen wäre, das Informationsdefizit zu beheben, wobei für diese Erwartbarkeit die gleichen Anforderungen zu stellen sind wie an Handlungsfreiheit (siehe die Kriterien zu Verantwortungsfähigkeit oben). Nicht rational nachvollziehbar wäre etwa, wenn ein Unternehmen trotz Informationen über erhebliche Baumängel in Zulieferbetrieben andere Betriebe in der gleichen Region nicht auf vergleichbare Mängel hin überprüft. Dennoch muss anerkannt werden, dass es auch Informationsdefizite geben kann, die selbst durch etwa besonders sorgfältige Überprüfung von Zulieferbetrieben möglicherweise nicht völlig ausgeschlossen werden können. Auch hier gilt, dass Unternehmen aufgrund ihrer konkreten Geschäftsfelder und -praktiken insbesondere bei steigendem Informationsniveau über Schädigungspotentiale weniger leicht auf Entschuldigungsgründe verweisen können. Mitunter wird eine mögliche Entschuldigung sogar aufgrund des spezifischen Geschäftsbereichs von vornherein ausgeschlossen.83 Für einzelne Konsumenten stellt es zwar eine ungleich größere Herausforderung dar, jedes einzelne konsumierte Produkt auf mit dessen Herstellung möglicherweise verbundene Schädigungen hin zu überprüfen. Dennoch steigt diesbezüglich der Umfang und der Zugang zu relevanten Informationen, sowohl durch eine zunehmende Fülle leicht zugänglicher Berichte und Selbstauskünfte von Unternehmen als auch durch eine zunehmende Zertifizierung von Produktionsstandards, sodass auch von Konsumenten Unwissenheit nicht ohne weiteres als Entschuldigungsgrund angeführt werden kann. Allgemein lässt sich sagen, dass auch mit dem Grad der Informiertheit das Ausmaß der individuellen Verantwortung zunimmt – wenn auch nicht unbegrenzt und nicht unbedingt in jedem Fall. Vielleicht erscheint dieser Zusammenhang kontraintuitiv, aber gerade an dieser Stelle wird das situative Zufallen von Verantwortung deutlich. So kann es sein, dass zwei Konsumentinnen mit vergleichbarem Budget und einer vergleichbaren Lebenssituation sich in relevanter Hinsicht nur durch ihren Grad der Informiertheit über das Schädigungspotential von bestimmten Produktionsbedingungen unterscheiden. In diesem Fall wäre die besser informierte Konsumentin stärker verantwortlich, in ihren Konsumentscheidungen dieses Schädigungspotential zu berücksichtigen. Gleichzeitig kann sich die weniger informierte Konsumentin nicht ohne weiteres durch ihre Uninformiertheit entschuldigen kann, denn diese darf ers83
Vgl. a.a.O.: 219.
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tens nicht durch Ignoranz begründet sein, um als Entschuldigungsgrund gelten zu können, und zweitens kann es als ihre Verantwortung angesehen werden, sich besser zu informieren. 5.3.3 Risiken Eine besondere Rolle für die Verantwortung ökonomischer Akteure spielt zudem der Umgang mit Risiken. Franz-Xaver Kaufmann weist auf die „wechselnden Teilbedeutungen“ des Risikobegriffes im Sprachgebrauch wie „Chance, Gefahr, Wagnis, Schaden, Unsicherheit, Ungewißheit, Wahrscheinlichkeit“ hin.84 In der theoretischen Betrachtung ist aber ein Verständnis von „Risiko“ als Schadenswahrscheinlichkeit vorherrschend.85 Wer einen Schaden riskiert, der erhöht demnach die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses spezifischen Schadens wesentlich.86 Zentral bei einer genaueren inhaltlichen Betrachtung von Risiken ist zudem der Aspekt des Entscheidens im Gegensatz zur Gefahr, die unabhängig von spezifischen Entscheidungen besteht.87 Auch kommt die Offenheit des Verantwortungsbegriffs zum Tragen, indem Verantwortung einerseits auf einen Handlungsbereich bezogen ist, der es den Verantwortungsträgern abverlangt und ihnen gleichzeitig zutraut, solche offenen Aufgaben zu lösen, und andererseits wie der Risikobegriff mit Entscheidungen verbunden ist.88 Grundsätzlich muss sich die Risikokalkulation dem Wissensstand anpassen, und steigendes Wissen über mögliche Folgen steigert grundsätzlich auch die Verantwortung zum angemessenen Umgang mit einschätzbaren Risiken.89 Abgesehen von weiteren kontextspezifischen Deutungsmöglichkeiten des Risikobegriffs90 lässt sich „Risiko“ im Zusammenhang mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip als von Entscheidungen abhängige Wahrscheinlichkeit der Zurücksetzung vitaler Interessen (beziehungsweise einer Einschränkung vitaler Fähigkeiten oder Funktionsweisen) verstehen. Wie hoch ein Risiko ist, hängt dann von der Eintrittswahrscheinlichkeit und „vom Umfang der in Betracht gezogenen möglichen Entscheidungsfolgen“91 ab. Gleichzeitig ist für den verantwortlichen Umgang mit Risiken im ökonomischen Kontext entscheidend, dass über diesen Kern des Risikos als Wahrscheinlichkeit ein Normativitätsaspekt von Risiken hinzukommt 84
Kaufmann 1995: 76. Vgl. Oberdiek 2009: 369. 86 Vgl. Placani 2017: 78. 87 Vgl. Kaufmann 1995: 76 ff. 88 Vgl. a.a.O.: 83. 89 Vgl. Birnbacher 1995: 143. 90 Vgl. Kaufmann 1995: 76 f. So lässt sich mit „Risiko“ beispielsweise auch die zunehmende Kontrollierbarkeit von Gefahren thematisieren (a.a.O.: 77), um die es hier aber gerade nicht geht. 91 Kaufmann 1995: 79 (Hervorh. im Original). 85
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und der Risikobegriff diesbezüglich weiter zu fassen ist,92 worauf ich im Folgenden nach einer Betrachtung des engeren Risikobegriffs für das Schadensprinzip noch eingehen werde. Kagan argumentiert, dass einerseits auch das Riskieren von Schädigungen dem Schädigungsverbot unterliegen muss, damit dieses plausibel ist – dass andererseits aber nicht jedwedes Risiko einer Schädigung von diesem Verbot erfasst sein kann, weil es erstens in Situationen, in denen eine große Schädigung durch das Riskieren einer geringeren Schädigung abgewendet werden könnte, dann nicht möglich wäre, dieses Risiko einzugehen, und zweitens viele unser alltäglichen Handlungsweisen wie das Autofahren mit einem Risiko verbunden sind, anderen Schaden zuzufügen, ohne dass wir sie deshalb als verboten ansehen.93 Kagan schlägt deshalb für das moralische Verbot von Risiken eine flexible Schwelle („sliding threshold“) vor, die sich der Eintrittswahrscheinlichkeit anpasst.94 Diese ist kompatibel mit der Annahme, dass auch die Höhe des Schadens für die Höhe der Schwelle maßgeblich ist.95 Für das Schadensprinzip als zustandsbezogene Handlungsregel ist klar, dass die Höhe des Schadens ebenfalls für die Risikobewertung heranzuziehen ist. Für die theoretische wie praktische Risikobewertung spielen demnach das Ausmaß des möglichen Schadens und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit zusammen; dabei gilt es, Katastrophen auf jeden Fall zu vermeiden, also sehr schlechte Folgen auch nicht bei mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit zu riskieren.96 Kaufmann spricht von „Katastrophenschwellen“, die schon bei sehr niedriger Eintrittswahrscheinlichkeit sehr großer Schäden gelten und den „Bereich des riskanten Entscheidens“ durch Ausschluss von Katastrophen grundsätzlich beschränken. Dabei seien die „Entscheidungsrisiken“ aufgrund ihrer Abhängigkeit von der möglichen Schadensgröße „grundsätzlich nicht objektivierbar“ und auch Katastrophenschwellen letztlich subjektiven Einschätzungen ausgesetzt.97 Eine gewisse Subjektivität des Risikos ergibt sich demnach schon aus der Tatsache, dass es der Einschätzung einzelner Akteure obliegt, als wie gravierend der drohende Schaden einzuschätzen ist. Und für 92
Vgl. Placani 2017: 79 f. Vgl. Kagan 1989: 87 ff. 94 Vgl. a.a.O.: 89. Folgende Beschreibung gibt Kagan für diese flexible Anpassung der Schwelle: „The threshold for risking taking the life of another with 90 percent probability may be quite high – high enough, e.g., so that I cannot shoot a gun at one even in order to save two. But the threshold is not infinite: I may be able to risk a 90 percent chance of killing another in order to save, say, 100 others. At 60 percent the threshold is lower, perhaps making it permissible to impose such a risk in order to save 70 others. At 10 percent the threshold is lower still; and at 1 percent, even lower. As the risk of death approaches 0 percent, the threshold itself approaches zero – the constraint offering next to no barrier to the promotion of the good.“ (A.a.O.: 89 f.). 95 Vgl. a.a.O.: 91 f. 96 Vgl. Birnbacher 1995: 152 f.; Kaufmann 1995: 78 f. 97 Kaufmann 1995: 79. 93
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die Einschätzen der Wahrscheinlichkeit ist praktisch ebenfalls keine vollständige Objektivität einforderbar, weil die objektive und die subjektiv vor dem eigenen Erfahrungshintergrund vorgenommene Einschätzung natürlich voneinander abweichen können.98 Allerdings stellt die Subjektivität auf beiden Ebenen – auf der der Schadensund der der Wahrscheinlichkeitseinschätzung – kein grundsätzliches Hindernis für einen verantwortlichen Umgang mit Risiken im ökonomischen Bereich dar, denn diese Subjektivität ist begrenzt. Auch wenn es letztlich dem einzelnen Akteur obliegt, in einem spezifischen Fall die Schadenshöhe einzuschätzen, und insofern eine nicht vermeidbare Subjektivität bei der Schadenseinschätzung besteht, so lässt sich doch hinreichend objektiv sagen, was im ökonomischen Kontext überhaupt einen Schaden darstellt, wie Kapitel 4 gezeigt hat. Unsicher kann eine Akteurin A dann noch sein, ob für Akteur B Folgen in Form eines Schadens oder einer Schlechterstellung drohen; ist aber absehbar, dass es sich bei der riskierten Folge um eine Zurücksetzung vitaler Interessen handeln würde, so kann sich A nicht mehr darauf zurückziehen, dass B „nur“ eine geringfügig schlechte Folge drohe. Zweitens sind auch die Einschätzungen über die Wahrscheinlichkeiten nicht völlig subjektiv, womit nicht nur gemeint ist, dass natürlich gefordert ist, die Risikobewertung nicht von den eigenen Interessen abhängig zu machen und die Eintrittswahrscheinlichkeit möglichst „objektiv“ aus einer möglichst neutralen Perspektive zu betrachten. Über den Hintergrund persönlicher Erfahrungen hinaus ist es für Akteure in paradigmatischen Fällen hinreichend einschätzbar, ob eine Eintrittswahrscheinlichkeit angesichts der möglichen Folgen ein verantwortlich einzugehendes Risiko darstellt oder nicht. Unstrittig etwa ist, dass die „Katastrophenschwelle“ erreicht ist, wenn aus ökonomischen Gründen schwerwiegende negative gesundheitliche Folgen in Kauf genommen werden, wie es beispielsweise für Bauvorschriften in der Textilwirtschaft immer wieder dar Fall ist. Andererseits ist es aber natürlich möglich, dass eine vergleichsweise geringe Schädigung mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit verbunden ist, während sich durch das Riskieren eines geringfügigen Schadens sehr positive Folgen sehr wahrscheinlich realisieren lassen. In solchen Fällen würde ein verantwortlicher Umgang mit Risiken vielleicht darauf hinauslaufen, das Risiko einzugehen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass für einen verantwortlichen Umgang mit Risiken das Ausmaß des drohenden substantiellen Schadens negativ mit dem Ausmaß der vorhandenen Eintrittswahrscheinlichkeit korreliert, dass also große Schädigungen auch mit sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit schon durch das Schadensprinzip verboten sind (mit möglichen Ausnahmen in Dilemmasituationen), während vergleichsweise geringe Schädigungen tendenziell mit einer größeren Eintrittswahrscheinlichkeit verbun98
Vgl. Oberdiek 2009: 369 f.
5.3 Ökonomische Akteure als moralisch verantwortliche Akteure
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den sein müssen, um sie zu unerlaubten Risiken zu machen; dies insbesondere dann, wenn dem möglichen Schaden sehr positive mögliche Folgen gegenüberstehen. Dennoch ist im Umgang mit Risiken unter Verwendung des Schadensprinzips oft eine Einzelfallprüfung und -abwägung notwendig, die unter nicht-idealen Bedingungen nur jeweils bestmöglich anhand der verfügbaren Informationen und nach den Kriterien der Unparteilichkeit verantwortlich vorgenommen werden kann. Wichtig ist, dass eine Schädigung auch dann vorliegen kann, wenn ein Schadenszustand nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Stattdessen verursacht unter Umständen bereits das Riskieren eines Schadens eine Schädigung.99 Zwei Fälle sind dabei zu unterscheiden. Erstens kommt hier die normative Wirkung des Schadens zum Tragen: Ein Risiko stellt nicht nur eine Eintrittswahrscheinlichkeit dar, sondern besitzt auch eine normative Wirkung, indem es einen Handlungsgrund darstellt. Denn das Wissen über ein bestehendes Risiko kann dazu führen, dass ansonsten verfügbare Handlungsoptionen für einen Akteur praktisch nicht mehr infrage kommen.100 Ein Schaden für ökonomische Akteure entstünde daraus dann, wenn diese verringerten Handlungsoptionen dazu führten, dass Wohlfahrtsinteressen zurückgesetzt beziehungsweise vitale Fähigkeiten eingeschränkt werden, etwa indem keine Arbeit an einem hinreichend sicheren Arbeitsplatz verfügbar ist.101 Das kann natürlich auch aufgrund von anderen Faktoren als menschlichen Entscheidungen der Fall sein, etwa weil es sich um eine von Erdbeben besonders betroffene Region handelt. Erstens lässt sich aber sagen, dass es sich dabei um eine „Gefahr“ und nicht um ein Risiko handelt, und zweitens kann es durchaus der Fall sein, dass sich potentielle Arbeitnehmer dadurch in einem Schadenszustand befinden; dennoch stellt dies keine Schädigung durch andere ökonomische Akteure dar und fällt deshalb nicht in den Anwendungsbereich des Schadensprinzips. Zweitens kann jemand durch bestehende Risiken geschädigt werden, auch wenn sich aufgrund des Risikos seine Auswahlentscheidung nicht verändert. Auch in dieser Form sind schädigende Risiken ein zentrales Problem im ökonomischen Bereich. Ein Beispiel dafür ist der Handel mit sogenannten subprime-Krediten. Dies sind Immobilienkredite, die für die Kreditnehmer mit einem erhöhten Risiko verbunden sind, diese nicht mehr bedienen zu können.102 Es ist eine plausible Einschätzung, dass bei solchen Krediten bereits das 99 Vgl. Feinberg 1987: 118 ff. Das Risiko eines Schadens wird auch juridisch mit dem Gefährdungsschaden erfasst (vgl. Rengier 2019: 282 ff.). 100 Vgl. Placani 2017: 80. 101 Die Verringerung von Optionen kann auch als Autonomie-Problem aufgefasst werden, wenn Autonomie als von wählbaren Optionen abhängig verstanden wird. Die Verringerung von Optionen an sich wäre dann schon ein Schaden (vgl. Oberdiek 2009: 371 ff.). 102 Vgl. Sommer 2012.
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5 Nichtschädigung als Verantwortung ökonomischer Akteure
eingegangene hohe finanzielle Risiko eine Schädigung darstellt. Allgemeiner interpretiert lässt sich sagen, dass jemand schon dadurch geschädigt wird, dass er – in diesem Fall möglicherweise auch ohne sein eigenes Wissen oder in einer für ihn bestehenden Notsituation, die ihm wenig reelle Wahlmöglichkeiten offenlässt – einem hohen, seine eigene finanzielle Existenz bedrohendem finanziellen Risiko ausgesetzt wird. Beide Fälle können auch kombiniert auftreten, wie es sich im Bereich der Textilwirtschaft auch immer wieder zeigt. Dort begrenzt mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz die Wahlmöglichkeiten – ein Arbeitsplatz ist vielleicht eine besonders schlechte Option, weil die Bauvorschriften bekanntermaßen nicht eingehalten werden. Gleichzeitig gibt es vielleicht aber keine alternativen Arbeitsplätze, sodass der Arbeitsplatz wegen andernfalls drohenden existentiellen Nöten letztlich doch gewählt wird, was zu einer dauerhaften Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit führt. Selbst wenn das Rana Plaza nicht eingestürzt wäre, wäre schon das Risiko des Einsturzes aufgrund der Höhe des möglichen Schadens eine Schädigung gewesen bzw. war dies vor dem Katastrophenfall. Das Thema des Risikos ist auf eine weitere Weise mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip verbunden. Denn zwar sind die Handlungsmotive ökonomischer Akteure minimalmoralisch normalerweise nicht relevant, einen wichtigen Ausnahmefall bilden allerdings Situationen, in denen die Motive selbst ein Risiko darstellen. Dies kann aus den folgenden zwei Gründen der Fall sein. Wenn ein Akteur primär aus Klugheitsgründen das Schadensprinzip einhält, ist das dann ein Problem, wenn sich deshalb signifikant die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er bei veränderten Anreizen schädigend handelt. Das Problem stellen hier allerdings die Nebenfolgen seiner Motive dar und nicht die Motive selbst. Und praktisch wirkt die übernommene Verantwortung diesem Risiko entgegen, weil auch ein Akteur, der aus ökonomischen Gründen Verantwortung übernimmt, für die Zukunft insofern gebunden ist, als er unter zusätzlichen Rechtfertigungsdruck gerät, wenn er seine verantwortliche Handlungsweise wiedereinstellt. Ein anderer Fall läge vor, wenn von den Motiven selbst ein direktes Risiko ausgeht, etwa weil ein Akteur darauf bedacht ist, einem anderen Akteur nicht nur den Wettbewerb möglichst schwer zu machen, sondern seine wirtschaftliche Existenz möglichst weitgehend zu vernichten. Wenn die Absichten dazu und die unternommenen Versuche ernsthaft sind, dann kann aus solchen Motiven und den mit ihnen verbundenen Handlungen schon durch das dauerhafte und ernsthafte Risiko, in einen Schadenzustand versetzt zu werden, eine Schädigung resultieren, selbst wenn nie ein „Handlungserfolg“ eintritt.
6 Fazit und Ausblick 6.1 Das Schadensprinzip als nicht-ideale wirtschaftsethische Position Abschließen gilt es hier noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, von dem aus das Schadensprinzip als wirtschaftsethische Position entwickelt wurde, um die Argumentation und die erzielten Ergebnisse zu rekapitulieren und zwei Themen anzusprechen, die im Zusammenhang mit dem Schadensprinzip noch von besonderer Relevanz sind. Nach der Rekapitulation in diesem Abschnitt werde ich im nächsten Abschnitt (6.2) kurz auf das Verhältnis des Schadensprinzips zur ökonomischen Rationalität und in diesem Zusammenhang zu anderen (wirtschaftsethischen) Ansätzen und abschließend auf das Thema Corporate Social Responsibility (CSR) eingehen (6.3). Im ersten Kapitel wurde eine in moralischer Hinsicht problematische Normativität des ökonomisch Rationalen aufgezeigt. Ausgehend von der dargestellten Aufwertung des Eigeninteresses und des Nutzenstrebens in den Arbeiten Adam Smiths und John Stuart Mills (1.1) wurde diese Normativität für die dominante ökonomische Theoriebildung der Mainstream Economics dargestellt. Deren Hauptproblem lässt sich hier zusammenfassend dadurch veranschaulichen, dass eine normative Überbetonung ökonomischer Gründe zu Schädigungen beispielsweise durch Arbeitsbedingungen wie denen in sweatshops führt und diese mitunter sogar vermeintlich zu rechtfertigen vermag (1.2). Für die normative Kritik hieran bieten wiederum die Arbeiten Smiths und Mills einen wichtigen Ausgangspunkt durch den mit ihnen zu kritisierenden dann offensichtlich fehlenden Zusammenhang von Eigeninteresse und Gemeinwohlförderung und von ökonomischen mit ethischen Fragestellungen. Im zweiten Kapitel wurden die Ansätze der Integrativen Wirtschaftsethik und der Ökonomischen Ethik als mögliche Lösungsversuche dieser Normativitätsproblematik betrachtet. Auf jeweils eigene Weise stellten sich beide als zu idealistisch heraus, um diese Normativität praktisch wirksam einzuschränken. Während der Ansatz Peter Ulrichs sehr hohe Vernunftanforderungen auf Individual- wie Systemebene stellt (2.1), kann auch dem Ansatz Karl Homanns ein Idealismus die Gestaltungsfähigkeit der Rahmenordnung betreffend und eine damit einhergehende zu starke Entlastung der einzelnen Akteure vorgeworfen werden. Das „Können“ ist natürlich in ganz grundsätzlicher Hinsicht
214
6 Fazit und Ausblick
die Voraussetzung für das „Sollen“ ökonomischer Akteure. Es wäre unsinnig, von den Akteuren ein Verhalten einzufordern, das ihnen überhaupt nicht praktisch möglich ist. Allerdings gilt es dabei auch, das „Können“ differenziert zu betrachten. Ökonomischen Akteuren ist es möglich, bis zu einem gewissen Grad Wettbewerbsnachteile hinzunehmen, um nicht gegen moralische Anforderungen zu verstoßen (2.2). Durch diese Kritik wurde die nicht-ideale wirtschaftsethische Perspektive für die Wirtschaftsethik gestärkt, aus der es darum geht, auch unter nicht-idealen Voraussetzungen auf Akteurs- und Systemebene relative Verbesserungen gegenüber einem als in moralischer Hinsicht defizitär verstandenen Zustand herbeizuführen (2.3). Als nicht-idealer, minimalmoralischer Ansatz mit den Zielen praktischer Wirksamkeit und moralischer Verbindlichkeit wurde im dritten Kapitel das Schadensprinzip eingeführt und auf die Anforderungen des ökonomischen Kontextes hin überprüft (3.1 und 3.2). Ausgangspunkt war das harm principle John Stuart Mills, das für ökonomische Akteure allerdings insbesondere die wichtige Frage nach dem angemessenen Schadensbegriff offenließ (3.3). Auch die Klugheitsperspektive stellte sich im ökonomischen Kontext als unzureichend heraus, weil sie die normative Verbindlichkeit gegenseitiger Nichtschädigung dort nicht sicherstellen kann (3.4). Stattdessen ergibt sich die normative Verbindlichkeit des Schadensprinzips für ökonomische Akteure zustandsbezogen aus den Interessen der anderen Akteure, wie die Auseinandersetzung mit dem juridischen Schadensprinzip Joel Feinbergs gezeigt hat. Dort wurde ebenfalls deutlich, dass dann sowohl Tun als auch Unterlassen als kausale Faktoren aufzufassen sind (3.5). Dieser mit normativer Wirkung verbundene Zustand wurde im vierten Kapitel als minimales Wohlergehen mithilfe des Fähigkeitenansatzes plausibilisiert. Minimales Wohlergehen besteht demnach in der Abwesenheit relativer Armut beziehungsweise dem Vorhandensein vitaler Funktionsweisen und Fähigkeiten. Diese vitalen Interessen lassen sich als moralische Ansprüche verstehen (4.1). Als moralische Regel in Form eines Sekundärprinzips ist das Schadensprinzip auf den Umgang mit diesen Ansprüchen gerichtet, wobei bereits ein regelkonformes, aber nicht „moralisch“ motiviertes Verhalten minimalmoralisch ausreichend ist (4.2). Die persönlichen Voraussetzungen dafür bilden Unparteilichkeit und das Einnehmen des moralischen Standpunktes, die sich als Wohlwollen in sehr basaler Hinsicht verstehen lassen (4.3). Aus den moralischen Ansprüchen von Akteur A ergeben sich allerdings nicht automatisch situative Pflichten für Akteur B, sondern eine situative Verantwortung und dieser entsprechende Pflichten ergeben sich, wie im fünften Kapitel dargestellt, erst aus dem situativen Zufallen von Verantwortung innerhalb ökonomischer Beziehungen aufgrund des Maßstabes minimalen Wohlergehens (5.2). Unternehmen wie Konsumenten sind als grundsätzlich verantwortungsfähig aufzufassen, aber nur Personen besitzen moralische Rechte; die
6.1 Das Schadensprinzip als nicht-ideale wirtschaftsethische Position
215
minimalmoralische Relevanz einzelner Unternehmen geht deshalb von den mit ihnen hinsichtlich ihres Wohlergehens verbundenen Personen aus. Als moralisch verantwortungsfähige Akteure müssen Konsumenten und Unternehmen immer wieder mit moralischen Dilemmasituationen umgehen und Schädigungen abwägen, wobei für sie individuelle Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe vorliegen können. Zudem ist der verantwortliche Umgang mit Risiken eine grundsätzliche Herausforderung für ökonomische Akteure (5.3). Das Schadensprinzip als minimalmoralische wirtschaftsethische Position lässt sich gut im Verhältnis zur Ökonomischen Ethik illustrieren. Einen wichtigen Ausgangspunkt teilt dieser Ansatz des Schadensprinzips mit der Ökonomischen Ethik: Handeln im Eigeninteresse ist nicht per se unmoralisch. Wie von der Ökonomischen Ethik als Bedingungen für Handlungsrelevanz von Moral im ökonomischen Kontext gefordert, ist die Minimalmoral des Schadensprinzips „mit dem Eigeninteresse vereinbar“.1 Aber nicht jedes eigeninteressierte Handeln ist legitim. Diese Einschränkung lässt sich ebenfalls aus Perspektive der Ökonomischen Ethik stark machen,2 wobei an moralisch akzeptable eigeninteressierte Handlungen die Bedingung gestellt wird, dass damit eine „allgemeine Besserstellung“ einhergeht.3 Im Gegensatz dazu fordert das hier vorgeschlagene Schadensprinzip nicht, dass jede eigeninteressierte Handlung zum gegenseitigen Vorteil sein muss, sondern, dass sie nicht mit Schädigungen einzelner Akteure verbunden ist. Als wirtschaftsethischer Ansatz grenzt das Schadensprinzip die Reichweite ökonomischer Rationalität normativ durch die Beschränkung legitimer Zwecke ein. Individuelle Verantwortung ökonomischer Akteure wird selbst innerhalb einer möglichst guten Rahmenordnung immer unerlässlich bleiben, weil es immer Regelungslücken gibt, und weil nicht immer alle Regelverstöße geahndet werden. Gleichzeitig kann man nicht davon ausgehen, dass jeder Akteur und vor allem nicht jeder sehr einflussreiche Akteur eine Art (Berufs-) Ethos besitzt, das ihn auf Nichtschädigung verpflichtet. Insbesondere im Bereich der Textilwirtschaft und auf dem Finanzmarkt finden sich prominente Gegenbeispiele. Deshalb ist es nicht ausreichend, sich auf die Selbstbindung der Akteure zu verlassen. Zwar kann in ganz basaler Hinsicht auf eine „freiwillige Beschränkungen der eigenen Freiheit in jenen Fällen, in denen dies andere schädigen würde“4 auch aus Perspektive des hier vertretenen Schadensprinzips nicht verzichtet werden, weil praktisch ja immer die Möglichkeit besteht, sich schädigend zu verhalten. Hier geht es aber um die moralische und 1 2 3 4
Suchanek/Lin-Hi 2010: 4. Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010; Suchanek 2015a; Suchanek 2020. Suchanek/Lin-Hi 2010: 5. Suchanek 2015a: 15.
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6 Fazit und Ausblick
als solche normative Verbindlichkeit von Nichtschädigung als Handlungsregel, und maßgeblich für diese – also dafür, welches Verhalten aus minimalmoralischer Perspektive von einzelnen Akteuren zu erwarten ist – sind die moralischen Ansprüche der anderen ökonomischen Akteure. Der Schwellenwert minimalen Wohlergehens begrenzt dann mögliche Zielsetzungen: Schädigende Ziele beziehungsweise mit Schädigungen verbundene Ziele sind nicht legitim. Ein Abstreiten der moralischen Anforderungen an das eigene Handeln als ökonomischer Akteur lässt sich dann als inakzeptable Vorstellung von der eigenen moralischen Verantwortung zurückweisen. So bietet die Minimalmoral des Schadensprinzips im ökonomischen Kontext ein besonders hohes Maß moralischer Verbindlichkeit. Wollen einzelne Akteure die moralischen Anforderungen an sie bestreiten, so müssen sie entweder bestreiten, a) dass relative Armut beziehungsweise ein Zustand, der nicht als minimale Wohlergehensposition verstanden werden kann, einen Schadenszustand ausmacht, oder b) dass dieser Schaden normativ relevant ist oder c) dass ihnen eine situative Verantwortlichkeit zukommt. Während a) angesichts der starken Argumente für die moralische Bedeutung von Wohlfahrtsinteressen und eines weitgehenden diesbezüglichen gesellschaftlichen Konsenses nicht erfolgversprechend ist, können b) und c) durchaus zutreffen, sind aber eben nicht pauschal, sondern immer mit Blick auf die einzelne Situation zu beurteilen. Indem sich im Schadensprinzip moralische Verbindlichkeit und praktische Wirksamkeit verbinden, handelt es sich bei den minimalmoralisch verbindlichen Forderungen nach Nichtschädigung nicht um ein „unfruchtbares Moralisieren“.5
6.2 Das Schadensprinzip und ökonomische Rationalität Ausgangspunkt des wirtschaftsethischen Schadensprinzips war eine Kritik an der – praktisch wie theoretisch – starken Normativität der ökonomischen Rationalität. Insofern ist abschließend auch das Verhältnis des Schadensprinzips zur ökonomischen Rationalität zu betrachten. Amartya Sen vertritt ein Verständnis rationaler Wahl, das er für gegenüber der Rational Choice-Theorie „weniger restriktiv und überzeugender“ hält, und in dessen Sinne Rationalität verbunden mit dem Schadensprinzip als erweitert verstanden werden kann: Rationalität wäre dann wesentlich dadurch charakterisiert, „dass wir unsere Entscheidungen explizit oder implizit aufgrund von Argumenten treffen, die unserer kritischen Überprüfung standhalten.“6 Die Rationalität einer Wahl bezieht sich nach Sen auf die individuelle 5 6
Suchanek/Lin-Hi 2010: 5. Sen 2017: 207.
6.2 Das Schadensprinzip und ökonomische Rationalität
217
„Entscheidung für Handlungen wie für Ziele, Werte und Prioritäten“, die „vernunftgeleiteter kritischer Prüfung“ unterzogen werden.7 Dabei ist gewohnheitsmäßig vernünftiges Wählen möglich und auch praktisch erforderlich, denn die kritische Überprüfung muss und kann nicht tatsächlich jedes Mal stattfinden, sondern sie muss sich nur als Maßstab an jede Wahl anlegen lassen, indem die Gründe der kritischen Überprüfung durch Reflexion und Diskurs standhalten würden.8 Sen selbst bezeichnet sein Verständnis von rationaler Wahl als „kritisch geprüfte[r] Wahl“ als „sowohl anspruchsvoll wie permissiv“. Anspruchsvoll sei sie im aufgezeigten Sinne und insbesondere gegenüber der Rational-Choice-Theorie, denn ein solches Rationalitätsverständnis stellt dann wiederum das des Rational Choice in seiner Normativität infrage:9 „Die so genannte ‚Rational Choice‘ Theorie, die darauf beharrt, Rationalität einfach als intelligentes Wahrnehmen von persönlichem Eigeninteresse zu definieren, verkauft vernünftiges Denken weit unter Preis.“10 Permissiv sei es, weil das Ergebnis einer solchen Wahl dennoch individuell sehr unterschiedlich ausfallen kann.11 Denn auch wenn Rationalität nach Sen mit der kritischen Überprüfung einen gewissen Vernunftanspruch an die Akteure stellt, ist damit noch nicht eine Vernünftigkeit in der Weise gemeint, wie sie sich aus der Unparteilichkeit durch Einbeziehung fremder Interessen ergibt. Trotz seines erweiterten Rationalitätsverständnisses gehen die Anforderungen der Vernunft für Sen über die der Rationalität hinaus:12 Die Anforderungen der kritischen Prüfung müssten geschärft und verdichtet werden, wenn wir von der Idee der Rationalität zu der Vorstellung von Vernünftigkeit übergehen […] Die Perspektiven und Einschätzungen sowie Interessen anderer Menschen hätten hier eine Rolle, die Rationalität für sich genommen nicht zwangsläufig verlangt.13
Mit dem von ihm herausgearbeiteten erweiterten Rationalitätsverständnis geht es Sen darum, dass eine altruistische Motivation nicht irrational ist, und nicht darum, „den überlegt nach persönlichem Nutzen Strebenden“ als irrational zu charakterisieren.14 Rationalität steht hier nicht im grundsätzlichen Gegensatz oder Widerspruch zum eigenen Vorteilsstreben, sondern es wird lediglich die Normativität der Rational Choice-Theorie in den Wirtschaftswissenschaften kritisiert: Rationalität macht keine so strengen Anforderungen (insbesondere keine so strengen Konsistenzanforderungen), wie Rational 7
A.a.O.: 208. Vgl. a.a.O.: 208 f. 9 Sen 2017: 209. 10 A.a.O.: 222. 11 Vgl. a.a.O.: 210 f. 12 Vgl. Sen 2017: 222 ff. 13 A.a.O.: 224. 14 A.a.O.: 222. 8
218
6 Fazit und Ausblick
Choice und Mainstream Economics behaupten.15 In diesem Sinne argumentiert auch Kurt Bayertz, dass ein angebliches Rationalitätsversagen nicht selbstinteressierter Motivation auf eben dieser falschen Normativität beruht, dass es aber gerade nicht so ist, dass es rationaler wäre, nur das eigene Selbstinteresse zu verfolgen, als auch die Interessen anderer um ihrer selbst willen zu berücksichtigen.16 Rationalität allerdings so stark mit Moralität zu verbinden, dass sie moralisches Handeln gebiete, sei dagegen nicht nur sehr schwer zu begründen, sondern aufgrund eigenständiger moralsicher Gründe auch gar nicht notwendig: „Ein anständiger Mensch nimmt auf die Interessen anderer Menschen nicht deshalb Rücksicht, weil es rational geboten ist, sondern, weil es moralisch geboten ist.“17 Das wirtschaftsethische Schadensprinzip veranschaulicht dieses moralische Gebot der Berücksichtigung fremder Interessen im nicht-idealen Kontext. Dass es falsch ist, bestimmte – nämlich schädigende – Handlungen mit der ökonomischen Rationalität zu rechtfertigen, liegt aus Sicht des Schadensprinzips nicht daran, dass die ökonomische Rationalität keine Gründe bereitstellen würde. Sondern es liegt daran, dass diese Gründe in bestimmten Situationen beziehungsweise Handlungsbereichen nicht zählen. Sie sind dann aus moralischen Gründen nicht handlungsleitend relevant, nämlich im Bereich unterhalb der Schwelle minimalen Wohlergehens. In diesem begrenzten Bereich besteht ein normativer Vorrang der Moral, der sich aus dem Zustand der (potenziell) Geschädigten ergibt. Dieser normative Vorrang der Moral ist als bedingter Vorrang zu verstehen: Schwache moralische – als „moralisch“ im weiteren Sinne zu verstehende – Gründe haben keinen Vorrang vor anderen starken normativen Gründen,18 etwa ökonomischen. Hier ist damit gemeint, dass Handlungen, die im Bereich oberhalb der Schwelle zu verorten – „moralisch“ im weiteren Sinne – und deshalb minimalmoralisch nicht relevant sind, weil sie das Wohlergehen der Akteure nicht auf moralisch relevante Weise beeinflussen, die aber ökonomisch sehr erstrebenswert sind, nicht als moralisch verboten aufzufassen sind. So wird moralischer Rigorismus vermieden. Zudem können Dilemmasituationen vorliegen, für die die Vorrangfrage wiederum situationsspezifisch zu klären ist. Der bedingte Vorrang der Moral kann darüber hinaus auch auf Identitätsebene bestehen. So kann davon ausgegangen werden, dass eine Vielzahl ökonomische Akteure – wenn auch nicht alle, vielleicht nicht einmal die Mehrzahl und vor allem nicht alle sehr einflussreichen, weshalb die Betonung der Begrenzung durch moralische Ansprüche Dritter ja so wichtig ist – ein Ethos be15 Vgl. Sen 2017: 203 ff. Siehe auch Sens Aufsatz „Internal Consistency of Choice“ (Sen 2004: 121 ff.). 16 Vgl. Bayertz 2016b: 332. 17 A.a.O.: 333 (Hervorh. im Original). 18 Vgl. Neuhäuser 2017a.
6.2 Das Schadensprinzip und ökonomische Rationalität
219
sitzen, das sich analog zum Berufsethos verstehen lässt, wie Max Weber es für Berufspolitiker beschreibt: Auch wenn (politisch) oft zweckrationale Überlegungen entscheidend sind, so gibt es doch einen Bereich, innerhalb dessen bestimmte Dinge aufgrund der praktischen Identitäten der Handelnden praktisch nicht möglich sind.19 So gesehen kann auch die Identität der ökonomischen Akteure eine Begrenzung der ökonomischen Rationalität darstellen. Diese Beschränkung ökonomischer als nicht-moralischer Rationalitätsgründe ließe sich dann beispielsweise als durch die persönliche Identität bedingter schwacher Vorrang der Moral innerhalb individueller Präferenzordnungen verstehen.20 Damit ist einerseits gemeint, dass der Vorrang der Moral bei der Wahl der individuellen Handlungsalternativen nicht strikt ist – es muss nicht immer „vernünftig“ sein, der Moral den Vorrang zu geben.21 Dennoch ist davon auszugehen, dass erstens das Selbstverständnis als moralischer Akteure eine wichtige Präferenz vieler Akteure darstellt, die sich aufgrund ihres Status für die Reflexion der eigenen anderweitigen Präferenzen auch als Meta-Präferenz verstehen ließe,22 und dass es zweitens als vernünftig gelten kann, Normen, die „den Bereich einer universellen Kernmoral repräsentieren, als von größter Wichtigkeit in der subjektiven Präferenzordnung abzubilden.“23 Für viele ökonomische Akteure ist dies vermutlich eine adäquate und plausible Beschreibung ihres Urteilens und Verhaltens. Diese Innenperspektive der Akteure lässt sich folgendermaßen beispielhaft beschreiben: Ein Akteur kauft bestimmte Kleidung nicht, weil er niemand sein möchte, der seine Mitmenschen schädigt. Das heißt nicht, dass er glaubt, so die Arbeitsbedingungen im Alleingang zu verändern, sondern dass er jenseits möglicherweise bestehender Konsumentenverantwortung schon allein deshalb bestimmte Dinge nicht tun möchte, weil das eine Beteiligung an problematischen Praktiken bedeuten würde. Es ist also festzuhalten, mit dem Schadensprinzip zwar eine Kritik am Rationalitätsverständnis der Mainstream Economics verbunden ist, diese Kritik aber auf dessen Normativität gerichtet ist. Teil dieser Normativitätskritik ist ein in gewisser Weise „erweitertes“ Rationalitätsverständnis, damit ist hier aber lediglich gemeint, dass auch moralische oder ethische Gründe als rationale Gründe gelten können, also nicht als irrational zu charakterisieren sind – ohne dass allein aufgrund der jeweiligen Rationalität einer bestimmten Art von Gründen ein Vorrang zukäme. Damit ist ein Weg zum Umgang mit der in Kapitel 1 aufgezeigten Normativitätsproblematik ökonomischer Rationalität 19
Vgl. Weber 2008: 81. Vgl. Neuhäuser 2017a: 212. 21 Vgl. a.a.O.: 196 f. 22 Vgl. Neuhäuser 2017a: 201 f. Sen (2004: 454) bezeichnet Matapräferenzen auch als „ranking of rankings“. 23 Vgl. Neuhäuser 2017a: 213. 20
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6 Fazit und Ausblick
angesprochen, der hier nicht beschritten wurde, nämlich die Argumentation für ein anderes Verständnis ökonomischer Rationalität, wofür es wiederum unterschiedliche Ansätze gibt. Diese Ansätze werde ich folgend kurz skizzieren, um zu verdeutlichen, worum es in dieser Arbeit nicht ging. Etwa kann gefragt werden, ob ein Handeln ausschließlich im Sinne der ökonomischen Rationalität für den Einzelnen angesichts gesellschaftlicher Zusammenhänge und sozialer Einbettung wirklich rational wäre,24 diese Frage wurde hier aber gerade nicht behandelt. Auch, ob die ökonomische Rationalität die ökonomische Handlungsdimension ökonomischer Akteure richtig beschreibt, wird hier offengelassen. Einschlägige Kritik, insbesondere die Amartya Sens, zu dieser Frage wurde in Kapitel 1 allerdings kurz angeführt. Auch argumentiert beispielsweise Michael S. Aßländer, neue Konsum- und Investitionsformen, die sich gerade aus dem Widerstand gegen bloße Gewinn- und Nutzenmaximierung ergeben, ließen sich nicht mehr mithilfe neoklassischer Nutzenmaximierungsvorstellungen einfangen.25 Auf der Rationalitätsebene wären dann verschiedene Möglichkeiten der Einbeziehung moralischer Handlungsgründe denkbar. Eine vergleichsweise schwache Kritik am ökonomischen Rationalitätsverständnis ist die Ausgangsposition Daniel Hausmans: Er kritisiert die Annahme „gegebener“ Präferenzen und meint, die ökonomische Theoriebildung müsse die Bildung von Präferenzen in ihre Analyse aufnehmen.26 Ein anderer Ansatzpunkt findet sich bei Kurt Bayertz, der ein anderes Rationalitätsverständnis fordert, das neben der Wahl der besten Mittel auch die Fähigkeit einschließen müsse, darüber zu entscheiden, welchen Wünschen überhaupt nachzugehen ist.27 Als besonders starke Positionen sind die von Peter Ulrich zu verstehen, der meint, dass Rationalität mit Vernunft gleichzusetzen wäre und eine „Transformation“ des ökonomischen Rationalitätsverständnisses fordert,28 sowie die von Peter Koslowski, der eine interne Begrenzung der ökonomischen Rationalität durch vernünftiges Maßhalten und umfassende Zweckbestimmung als notwendig ansieht29 und mit der Vorstellung einer postmodernen „Kulturgesellschaft und Wirtschaftskultur“ verbindet.30 Während Hausmans Vorschlag darauf abzielt, als vorhanden angenommene moralische Handlungsmotive überhaupt als relevant für die Präferenzbildung aufzufassen, geht Bayertz’ Vorschlag weiter, indem er auch die mögliche Forderung nach einer Präferenzänderung beinhaltet, wenn dies aus ethischer Sicht 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Nida-Rümelin 2011: 16. Vgl. Aßländer 2013: 157 f. Vgl. Hausman 2012: 105 ff., 117 ff. Vgl. Bayertz 2014: 222 f.; 2016b. Vgl. Ulrich 1993. Vgl. Koslowski 1992. A.a.O.: 79.
6.3 Das Schadensprinzip und CSR
221
notwendig wäre.31 Als Maximalpositionen lassen sich hier die von Ulrich und Koslowski verstehen. Eine letzte Abgrenzung ist noch gegenüber einer weiteren Fragestellung vorzunehmen: Fragen lässt sich natürlich auch, inwiefern moralisches Handeln im Eigeninteresse ökonomischer Akteure liegt, und welche Handlungsanforderungen sich daraus je situativ ergeben.32 Auch dies ist natürlich eine wichtige, hier aber nicht behandelte Fragestellung; es geht hier also ebenfalls nicht um Nichtschädigung als Teil der ökonomischen Rationalität. Die Position des hier vorgeschlagenen Schadensprinzips ist dagegen folgende: Eine Handlungsoption kann ökonomisch rational sein und aus ethischer Perspektive problematisch; die Frage ist dann, welche Perspektive entscheidend ist und nicht, ob sie in einem umfassenden Sinne rational ist. Um Nichtschädigung zu erreichen, reicht eine solche Eingrenzung der ökonomischen Rationalität aus. Es muss dann nicht gezeigt werden, dass eine moralisch problematische Handlung ökonomisch nicht rational ist, sondern nur, dass aus moralischen Gründen nicht die ökonomische Rationalität entscheidend ist. Menschen sind unterschiedlich motiviert, weder nur im Sinne der Rational Choice-Theorie beziehungsweise der Mainstream Economics noch nur vernünftig i.S. Ulrichs. Allerdings liegt gerade in der Tatsache, dass unterschiedliche Motive für ökonomische Akteure vorliegen ein wichtiger wirtschaftsethischer Ansatzpunkt, weil zum einen das Selbstverständnis vieler ökonomischer als (auch) moralische Akteure, und zum anderen immer wieder auch deren Selbstinteresse wirksame Ausgangspunkte für moralische Selbstansprüche bilden.
6.3 Das Schadensprinzip und CSR Aufgezeigt wurde, weshalb minimalmoralisches Handeln von ökonomischen Akteuren auch unabhängig von deren Eigeninteresse gefordert ist: um die vitalen Interessen anderer zu schützen. Gezeigt wurde auch, wie sich für einzelne Akteure dieses minimalmoralische Handeln verstehen lässt – nämlich als Streben nach einer möglichst unparteiischen Perspektive und dem Anwenden des Schadensprinzips als moralische Regel. Im Umgang mit grundsätzlich offenen Handlungssituationen ergeben sich dann aus der Verantwortung ökonomischer Akteure je situative Pflichten, die aber eben erst das Ergebnis eines reflexiven Prozesses sein können und für die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen sind. Das Abwägen in moralischen Dilem31
Vgl. Bayertz 2016b: 331 ff. Vgl. Suchanek 2015a; Suchanek 2015b; Suchanek 2019; Suchanek 2020; Suchanek/von Brook 2017 sowie die Position Suchaneks und Lin-His in Abschnitt 6.3 in dieser Arbeit. 32
222
6 Fazit und Ausblick
masituationen stellt dann eine besondere Herausforderung in ohnehin offenen Handlungssituationen dar. Für Unternehmen stellt sich in nicht-idealer Perspektive die Frage der konkreten Umsetzung. Aus dem oben Gesagten lässt sich für sie die Anforderung ableiten, diese Verantwortung und das verantwortliche Abwägen zu institutionalisieren, d.h. eine Instanz zu schaffen, die reflexiv mit dem wirtschaftsethischen Schadensprinzip befasst ist. Diese Anforderung schließt an die Debatte um Corporate Social Responsibility (CSR) an, und diese werde ich hier aufgreifen, um zu zeigen, was sich aus dem Schadensprinzip ganz grundsätzlich für CSR ableiten lässt. Dort spielt das Schadensprinzip in der hier erarbeiteten Form bisher keine Rolle. Weder im CSR-Diskurs,33 wo es „hauptsächlich darum [geht] zu beschreiben, welchen freiwilligen und sozial wertvollen Tätigkeiten insbesondere große Unternehmen neben ihrem Kerngeschäft nachgehen.“34 Noch in der praktischen Umsetzung: So richtet sich Compliance auf die Einhaltung vor allem rechtlicher Regeln,35 während verbreitete freiwillige Tätigkeiten im Bereich des gesellschaftlichen Engagements (Sach-) Spenden, pro-bono-Projekte oder auch die „Freistellung von Mitarbeitern für soziale oder umweltbezogene Aktivitäten“ sind.36 Andreas Suchanek und Nick LinHi kritisieren die aktuelle CSR-Debatte und – Umsetzung als zu unspezifisch;37 CSR sei „derzeit mehr ein Sammelsurium für unternehmerische Aktivitäten sowie gesellschaftliche Forderungen“.38 Suchanek kritisiert darüber hinaus überzeugend eine Vorstellung von CSR als von der unternehmerischen Zielsetzung unabhängige Einzelaktivitäten: „Doch kann Verantwortlichkeit wirklich mit einzelnen guten Taten gleichgesetzt werden? Könnte dann nicht auch die Mafia sich als ‚verantwortliche‘ Organisation etablieren, indem sie mal hier ein Hospiz unterstützt und mal dort 33
Vgl. Crane et al. 2008; Schneider/Schmidpeter 2015; Lin-Hi/Suchanek 2011: 66. Neuhäuser 2017b: 766. Ein Überblick über die Entwicklung von CSR findet sich bei Carroll (2008) und auch bei Neuhäuser (2017b: 767 ff.), dort zusammen mit weiteren Modellen von Unternehmensverantwortung, die aber für das Schadensprinzip keinen besseren Ausgangspunkt bieten als CSR. 35 Vgl. Martens/Kleinfeld 2018: 4. Zudem sind Compliance und CSR nicht selten wiederum organisatorisch getrennt, indem Compliance den Rechtsabteilungen zugeordnet wird, während CSR eher mit Kommunikationsabteilungen verbunden wird (ebd.). 36 Vgl. Suchanek 2015a: 266. 37 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011. 38 Lin-Hi/Suchanek 2011: 64. Verbreitet sei ein Verständnis von CSR als „bloße Kommunikationsaufgabe oder als Sponsoring einiger sozialer Anliegen“, das sich dann aber gerade nicht unbedingt mit entsprechendem Handeln verbindet: „Wirft man heute einen Blick auf Unternehmenswebseiten, wird man feststellen, dass es nahezu kein Unternehmen gibt, das nicht von sich behauptet, gesellschaftliche Verantwortung aktiv zu übernehmen. In der Realität lässt sich jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen kommunizierter und tatsächlicher Verantwortungsübernahme beobachten.“ (Suchanek/Lin HI 2010: 10) Verbreitet sei zudem eine Vorstellung von CSR als „uneigennütziges gesellschaftliches Engagement“ (Suchanek 2010: 3). 34
6.3 Das Schadensprinzip und CSR
223
notleidende Künstler?“39 Das Problem „guter“ Einzeltaten innerhalb von CSR-Konzepten sei, dass sie aus den Gewinnen von Unternehmen finanziert werden, während die Erwirtschaftung dieser Gewinne selbst der moralischen Kritik entzogen bleibe – obwohl sich eben hier die eigentlichen Verantwortungsfragen stellen. So kann es sein, dass die „guten“ CSR-Tätigkeiten durch Schädigungen Dritter überhaupt erst ermöglicht werden.40 Dagegen sei es erforderlich, die Frage nach Unternehmensverantwortung „auf die Problemstellung zuzuspitzen, wie Gewinn und Moral in Konfliktsituationen integriert werden können.“41 Suchanek und Nick Lin-Hi nehmen im CSR-Diskurs somit eine herausgehobene Stellung ein, indem sie ein eigenes Konzept davon vorlegen, wie CSR verstanden werden sollte.42 Der hier zentrale Unterschied zum Ansatz der Ökonomischen Ethik besteht darin, dass es dieser bei CSR zum einen um der Umgang mit von außen zugeschriebener Verantwortung geht, wobei zweitens dieser Umgang mit so entstandenen Verantwortlichkeiten im Interesse der Unternehmen selbst liege.43 Es wird also das Selbstinteresse von Unternehmen an der Legitimität ihres eigenen Verhaltens vorausgesetzt und zum Ausgangspunkt genommen.44 Entsprechend wird auf Selbstbindung gesetzt, und dies gemäß der Ökonomischen Ethik, die ja moralisches Handeln als selbstinteressiertes Handeln durchsetzen will (vgl. 2.2), in Form einer „investiven“ Selbstbindung45 – Verantwortungsübernahme soll für Unternehmen also langfristig gewinnsteigernd sein, um zumutbar zu sein.46 Folgende Formulierung fasst diese Position anschaulich zusammen: Investitionen in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, insbesondere in immaterielle Vermögenswerte wie Reputation, Integrität oder Vertrauen bieten die Möglichkeit, unternehmerische Verantwortung mit Leben 39
Suchanek 2015a: 266. A.a.O.: 267 f. 41 Lin-Hi/Suchanek 2011: 65 (Hervorh. im Original). 42 Vgl. Lin-Hi 2009; Lin-Hi/Suchanek 2010; Suchanek/Lin-Hi 2011, Suchanek 2012; Suchanek 2015b. 43 Vgl. Lin-Hi/Suchanek 2011: 64.; Suchanek 2015a: 134 f. 44 Vgl. hierzu auch Suchanek 2020. 45 Lin-Hi/Suchanek 2011: 79. „Die Verantwortung von Unternehmen besteht darin, in den dauerhaften Erhalt der Licence to operate als Grundlage langfristiger Gewinnerzielung zu investieren.“ (Suchanek 2015a: 135). 46 Vgl. Lin-Hi/Suchanek 2011: 74 ff. „Mit Bezug auf die Logik individueller Selbstbindung wird gezeigt, dass Unternehmen ein wohlverstandenes Eigeninteresse daran haben, auf kurzfristige Gewinne zu verzichten, sofern sich dieser Verzicht als Investition in zukünftige Bedingungen des unternehmerischen Erfolgs erweist. Wenn eine solche investive Selbstbindung nicht in anreizkompatibler Weise möglich ist, sind die Grenzen einer Kompatibilisierung von Gewinn und Moral auf individueller Unternehmensebene erreicht. In Abhängigkeit der Konflikte sind hier entweder kollektive oder semantische Konfliktlösungen zu verfolgen.“ (A.a.O.: 65). 40
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6 Fazit und Ausblick
zu füllen und eröffnen Unternehmen zugleich (neue) Kooperations- und Ertragspotenziale sowie Wettbewerbsvorteile.47
Angestrebt wird also eine „Kompatibilisierung von Gewinn und Moral“, die „ihre Grenzen“ dort finde, wo sich „der Verzicht auf kurzfristige Gewinne nicht als lohnende Investition ausweisen lässt.“48 Die Unbestimmtheit im Bereich CSR, die aus Perspektive des hier vertretenen Schadensprinzips besteht, kann durch den Ansatz der Ökonomischen Ethik nicht vollständig aufgelöst werden, da es dieser um den Umgang mit „moralisch“ im weiteren Sinne zu verstehenden Anforderungen geht49 und sie verantwortliches Handeln dabei gewissermaßen als einen klugen Umgang mit solchen moralischen (gesellschaftlichen) Herausforderungen versteht.50 Das hier erarbeitete Schadensprinzip als allgemeine Handlungsregel ist aber auf den Umgang mit Konflikten zwischen dem Selbstinteresse der Akteure und per se moralisch verbindlichen Ansprüchen anderer Akteure gerichtet. Es soll diese moralischen Ansprüche auch und gerade dann absichern, wenn entsprechende Forderungen nicht erhoben, die Ansprüche also nicht artikuliert werden. Es geht hierbei um den Umgang vor allem mit Regelungslücken und um moralisches Handeln unabhängig vom Selbstinteresse mit dem Ziel der Sicherung der moralischen Ansprüche. Gefordert ist im Zweifelsfall Gewinnverzicht, wenn dies notwendig ist, um das Schadensprinzip einzuhalten, also nach der Grundregel der Nichtschädigung zu handeln. „Responsibility“ mein dann nicht „Verantwortung“ verstanden „als Verzicht auf individuelle Vorteile zu Lasten Dritter mit investivem Charakter“,51 sondern schränkt im Gegensatz zur Ökonomischen Ethik die zu berücksichtigenden „Lasten Dritter“ auf bestimmte Interessen ein, die dann aber gegebenenfalls zulasten von Gewinnerzielung zu berücksichtigen sind. Damit gemeint ist allerdings nicht ein Verständnis von Unternehmensverantwortung als Gewinnverzicht, verbunden mit altruistischem (verstanden als Gegensatz zu eigeninteressiertem) Handeln, wie es Suchanek und Lin-Hi kritisieren.52 47
Suchanek/Lin-Hi 2010: 12. Lin-Hi/Suchanek 2011: 80. 49 „So steht das Konstrukt ‚Moral‘ für unterschiedlich definierte ethische Erwartungen, Interessen, Ansprüche, Normen, Standards usw.“ (Lin-Hi/Suchanek 2011: 66). 50 Vgl. Suchanek/Lin-Hi: 2010: 4 f. Wenn Anreizstrukturen und der Ordnungsrahmen als maßgeblich für den moralischen Anspruch an ökonomisches Handeln aufgefasst werden und das Selbstinteresse der jeweiligen Akteure und die Ermöglichung beziehungsweise Erleichterung von Kooperation als normative Ausgangspunkte genommen werden, – wenn es gemäß dem Ansatz der Ökonomischen Ethik um Vereinbarkeit von Eigeninteresse und moralischem Handeln geht – ist der Fokus auf interne und externe institutionelle Selbstbindung angesichts faktisch erhobener Forderungen (vgl. Lin-Hi/Suchanek 2011: 79) natürlich folgerichtig und für sich genommen schon allein angesichts des motivationalen Aspektes des investiven Charakters eine äußerst relevante Fragestellung. 51 Suchanek/Lin-Hi 2010 (Hervorh. NP). 52 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010: 7 ff. 48
6.3 Das Schadensprinzip und CSR
225
Insgesamt stellt die CSR-Perspektive der Ökonomischen Ethik vier wichtige Ausgangspunkte auch für die Perspektive des hier vertretenen Schadensprinzips bereit. Erstens ist dies die oben dargestellte Kritik, die sich in einer Kritik an Inhalt und Methode von CSR-Strategien subsumieren lässt: Es sei „nach wie vor konzeptionell unklar, welche Verantwortung Unternehmen sinnvollerweise zugeschrieben werden kann und wie Unternehmen dieser Zuschreibung operativ gerecht werden können.“53 Auf die Frage, welche Verantwortung sich sinnvollerweise zuschreiben lässt, wurde mit dem Schadensprinzip eine Antwort aus nicht-idealer Perspektive gegeben: Sie besteht je situativ für Nichtschädigung. Einen zweiten Ausgangspunkt bietet die Ökonomische Ethik durch die Zielsetzung „Unternehmensstrukturen und Mechanismen zu schaffen, welche den Verzicht auf bestimmte Formen der Gewinnerzielung auf Unternehmensebene institutionell verankern“.54 Unverantwortlich sei Unternehmensführung, „wenn den aktuellen oder potentiellen Konflikten zwischen Gewinn und Moral nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird bzw. diese nicht erkannt werden.“55 Demgemäß ist Reflexion notwendig zur Verhinderung von Schädigungen durch erkennen und bearbeiten schädigungsrelevanter Situationen. Insbesondere Kapitel 5 hat gezeigt, dass Verantwortung für ökonomische Akteure immer wieder mit situationsspezifischem Abwägen verbunden ist. Eine Aufgabe, die sich auch für Lin-Hi und Suchanek ergibt: Es sei “immer auch nötig, die konkreten Maßnahmen auf der operativen Ebene von einem allgemeineren Standpunkt aus zu beurteilen im Hinblick auf ihr Konfliktpotential und die oft schwierigen Abwägungen, die damit verbunden sind.“56 Damit verbunden ist die strategische Herausforderung, „die mittlerweile in zahlreiche fragmentierte Unternehmensbereiche aufgeteilten ‚Verantwortlichkeiten‘ gewissermaßen konzeptionell zusammenzuhalten“.57 Für CSR gemäß dem hiesigen Schadensprinzip geht es dann darum, eine Instanz, die dezidiert den in Kapitel 4 beschriebenen moralischen Standpunkt einnimmt und so Unparteilichkeit in einem Unternehmen zu institutionalisieren. Eine solche Reflexions- beziehungsweise Deliberationsinstanz innerhalb der Unternehmen steht dann vor der komplexen Aufgabe, Schädigungspotential von Handlungsweisen und Einzelhandlungen zu erkennen, an die (möglicherweise unterschiedlichen) Adressaten(-gruppen) heranzutragen, die unter nicht-idealen Bedingungen beste Handlungsweise gemäß der situativ zufallenden Verantwortung zu identifizieren und diese wie53 54 55 56 57
Lin-Hi/Suchanek 2011: 63. A.a.O.: 79. A.a.O.: 65. A.a.O.: 71. A.a.O.: 70.
226
6 Fazit und Ausblick
derum zu kommunizieren. Da es um den Schutz vitaler Interessen der ökonomischen Partner geht, muss diese Instanz präventiv mit dem Ziel der Nichtschädigung tätig sein. Hier kommt der dritte Ausgangspunkt ins Spiel, den Suchanek und Lin-Hi aufzeigen, denn CSR ist für sie aufgrund der komplexen Aufgabenstellung und der zentralen Bedeutung innerhalb der Unternehmensorganisation eine Managementaufgabe.58 Die CSR-Diskussion verstehen sie als „Ausdruck der Relevanz normativer Fragestellungen in der Unternehmensführung“.59 Demgegenüber kann hier gesagt werden, dass der Reflexions- beziehungsweise Deliberationsprozess an die Unternehmensstruktur und die Geschäftsfelder anpassbar ist, wenn er vom Ziel der Nichtschädigung im hiesigen Verständnis her gedacht wird. Je nach Geschäftsfeldern und Größe kann sich eine unterschiedliche strukturelle Umsetzung ergeben. Zudem ist das Schadensprinzip nicht für jedes Unternehmen aufgrund seiner Geschäftstätigkeiten aktuell praktisch relevant (möglicherweise ist aktuell kein Schädigungspotential im hiesigen Sinne vorhanden). Dennoch ist es immer potenziell relevant (sofern Schädigungspotential besteht, wird es praktisch relevant). Sicherlich besteht immer auch die Notwendigkeit der Bereitstellung der relevanten Informationen an die Unternehmensführung, Deliberation mit dem Ziel der Nichtschädigung ist aber nicht unbedingt (nur) eine Managementaufgabe. Stattdessen kann es auch sinnvoll sein, eine das Management ebenso wie betroffene Unternehmensabteilungen im Sinne des Schadensprinzips beratende Instanz einzuführen. Hier ist der vierte Ausgangspunkt der Ökonomischen Ethik wichtig, der CSR in der Übernahme von Verantwortung sieht.60 Denn da praktisch ja immer die Möglichkeit besteht, situativ zufallende Verantwortung nicht auszuüben, d.h. Verantwortung nicht zu übernehmen, auch wenn sie einem einzelnen Akteur aufgrund des Schadensprinzips zukommt, geht es bei CSR auch in Verbindung mit dem Schadensprinzip um die Übernahme von Verantwortung. Damit ist hier zwar nicht gemeint, dass eine entsprechende Selbstbindung den Unternehmen normativ freistünde, tatsächlich tut sie dies aber zweifelsohne. Mit der Artikulation und Kommunikation der minimalmoralisch relevanten Aspekte einer bestimmten Handlungsweise kommt der reflexiven Instanz deshalb die wichtige Funktion zu, die Unternehmensführung oder andere je relevante Entscheidungsträger zur Übernahme (d.h. zur Ausführung) der situativ zufallenden, d.h. normativ verbindlichen Verantwortung zu bewegen. Suchanek und Lin-Hi geben diesbezüglich eine Formulierung guten Managements, die jenseits begrifflicher Unterschiede – etwa hinsichtlich „legiti58 59 60
Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010. Lin-Hi/Suchanek 2011: 64. Vgl. Lin-Hi/Suchanek 2011; Suchanek/Lin-Hi 2011.
6.3 Das Schadensprinzip und CSR
227
mer Interessen“,61 die dort nicht als vitale Interessen im Sinne dieser Arbeit verstanden werden – mit Blick auf das angelegte Verhältnis von berechtigtem Gewinnstreben und der Notwendigkeit der Beachtung der Interessen Dritter auch für das Schadensprinzip gelten kann: Ein gutes Management zeichnet sich gleichermaßen durch wirtschaftlichen Erfolg und Verantwortungsübernahme aus. Die Übernahme von Verantwortung bedeutet, dass das Verfolgen des Eigeninteresses bzw. die Gewinnerzielung nicht zu Lasten Dritter erfolgt und impliziert, dass die legitimen Interessen der von unternehmerischen Entscheidungen beeinflussten Akteure nicht verletzt werden.62
Insgesamt lässt sich festhalten, dass es notwendig ist, jeweils zielführende CSR-Strukturen mit dem Schadensprinzip zu verbinden, um die Verletzung moralischer Ansprüche zu verhindern. Der primäre Grund für CSR liegt aus dieser Perspektive mithin in der Sicherung eben dieser Ansprüche. Hinzu kommt aber, dass CSR-Strukturen aus zwei weiteren Gründen wichtig sind, die es hier kurz anzuführen gilt. Zunächst sind sie wichtig, um einzelnen Menschen im Unternehmen strukturell moralisches Handeln zu ermöglichen, denn „unmoralische“ Pläne von Unternehmen können für einzelne Mitarbeiter durchaus zu moralischen Dilemmasituationen führen.63 Zudem zeigt die Ökonomische Ethik anschaulich, dass es nicht selten auch im langfristigen, aufgeklärten Eigeninteresse von Unternehmen liegt, verantwortlich zu handeln. So werden die langfristig positiven Auswirkungen geeigneter CSR auf Unternehmensgewinne herausgestellt.64 Dabei ist „Gewinn“ als „Kurzformel für das konsolidierte Zielsystem eines Unternehmens“ gemeint, unter das 61 So vertritt Suchanek einen vergleichsweise offenen Interessensbegriff und versteht legitime Interessen als „Vertrauenserwartungen anderer“ bezogen auf das Einhalten von Versprechen und Gesetzen (Suchanek 2014: 6) und die Beachtung vorhandener gesellschaftlicher moralischer Werte und Normen (vgl. Suchanek 2015a: 277). Diese hier wichtige Differenz lässt sich auch so charakterisieren, dass in Suchaneks Ansatz sämtliche gesellschaftlich vorhandenen Werte und Normen als legitim aufgefasst werden und dann in einem Abgleich mit den empirischen Voraussetzungen zu deren Verwirklichung eine als vernünftig zu verstehende Lösung zu suchen ist (vgl. Suchanek 2020). Dagegen findet in dieser Arbeit eine normative Einschränkung schon auf der Ebene der als legitim zu verstehenden Interessen statt. 62 Suchanek/Lin-Hi 2010: 5 (Hervorh. im Original). 63 Vgl. Neuhäuser 2011: 164 ff. Auch schon Compliance ist für eine erfolgreiche Umsetzung auf eine entsprechende Unternehmensstruktur angewiesen, wie Suchanek/Lin-Hi (2010: 11) herausstellen: „Der einzelne Mitarbeiter darf nicht befürchten, dass die Befolgung der formalen Regeln im systematisch zum Nachteil gereicht. Die Praxis zeigt jedoch, dass vielfach interne Strukturen vorherrschen, die es dem einzelnen Mitarbeiter erschweren, verantwortungsvoll zu agieren […]“. 64 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010; Lin-Hi/Suchanek 2011. Den business case von CSR – womit CSR als „Erfolgsfaktor“ oder auch „Marktchance“ gemeint ist (Schreck 2015: 71) – behandeln auch Kurucz et al. (vgl. 2008: 93) und unterteilen ihn in vier möglichen Formen der Gewinnsteigerung durch 1) die Absenkung von Kosten und Risiken, 2) das Erzielen von Wettbewerbsvorteilen, 3) gesteigerte Reputation und Legitimation sowie 4) Synergieeffekte.
228
6 Fazit und Ausblick
auch „funktional ähnliche Begriffe wie Rentabilität, Shareholder Value, Wettbewerbsvorteile, Mitarbeitermotivation u.a.m. subsumiert werden können.“65 Zentral dabei sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit zur Ermöglichung von Kooperation und Senkung von Transaktionskosten,66 sowie die Sicherung der gesellschaftlichen Legitimität als Licence to operate.67 Suchanek stellt den Erhalt von Vertrauenswürdigkeit deshalb ins Zentrum von Unternehmensverantwortung.68 Dabei ist es aus Unternehmensperspektive oft vorteilhaft, wenn von Seiten des Managements möglichst klare und reflektierte Antworten darauf gegeben werden können, was es für ein Unternehmen konkret bedeutet, verantwortungsvoll zu handeln.69 Wenn diese Antwort in minimalmoralischer Hinsicht mit dem hier vertretenen Schadensprinzip gegeben wird, bleibt darüber hinaus die Möglichkeit offen, zusätzliche Verantwortung in Form investiver Selbstbindung zu übernehmen; das Schadensprinzip kann dies durch die Unterscheidung von minimalmoralischen Anforderungen und weiteren, persönlichen Moralvorstellungen sogar als legitim ausweisen. Dadurch leistet es einen sehr wichtigen Beitrag zu der grundsätzlichen Herausforderung, die Lin-Hi und Suchanek an Unternehmen und als CSR-Aufgabe formulieren, nämlich die Grenzen von Unternehmensverantwortung möglichst klar herauszuarbeiten und zu kommunizieren: Die Herausforderung für Unternehmen liegt vor allem in der glaubwürdigen Kommunikation der Grenzen ihrer Verantwortung unter Verweis auf Kontexte – z.B. den gesellschaftlich erwünschten Leistungswettbewerb – und in einer Weise, die Akzeptanz erzeugt […]. Dies ist bereits deshalb notwendig, da es faktisch unmöglich ist, alle zahlreichen – und vielfach auch inkommensurablen – Verantwortungszuweisungen konkret erfüllen zu können. Insofern besteht die Notwendigkeit, einige dieser Ansprüche auf semantischer Ebene zu bewältigen, d.h. die Nicht-Erfüllung von Einzelnen Forderungen zu plausibilisieren. […] Unternehmen haben – im gesellschaftlichen Interesse – die Grenzen ihrer Verantwortung nachvollziehbar erklären zu können.70
Mit dem Schadensprinzip als argumentative Grundlage ließe sich dann beispielsweise sagen, dass es ein falsches Verständnis von CSR ist, Spenden in Land A zu leisten und gleichzeitig in Land B schädigende Löhne zu zahlen. Ein minimalmoralisch richtiges Verständnis wäre demgegenüber das Zahlen 65
Lin-Hi/Suchanek 2011: 66. Vgl. a.a.O.: 74, 78; Suchanek/Lin-Hi 2010: 8; vgl. die kurze Einordnung der Ökonomischen Ethik Suchaneks in Abschnitt 2.2.3. 67 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2011: 64, 84; Suchanek 2020. 68 Vgl. Suchanek 2015a: 14, 64 ff., 267; Suchanek 2019: 48 f. 69 Vgl. Suchanek/Lin-Hi 2010: 11 f.; Lin-Hi/Suchanek 2011: 83 ff.; Suchanek 2015a. 70 Lin-Hi/Suchanek 2011: 84. Suchanek betont, dass sich aus der Zuweisung von Verantwortung eigene „Führungs- und Managementaufgaben“ bezogen auf den Umgang mit diesen Zuweisungen ergeben, die auch die kommunikative Beeinflussung künftiger Zuweisungen betreffen (2015a: 257). 66
6.3 Das Schadensprinzip und CSR
229
nichtschädigender Löhne in Land B, im Zweifelsfall auch zulasten der Spendenfähigkeit in Land A. Als noch bessere Möglichkeit, C(S)R umzusetzen, kann dann das Zahlen nichtschädigender Löhne in Land B mit zusätzlichen CSR-Konzepten in Land A oder C angesehen werden; diese können dann auch in minimalmoralischer Perspektive in Form investiver Selbstbindung erfolgen. Hier zeigt sich deutlich der Stellenwert von Reflexion und dem Ausbau des moralischen Urteilsvermögens innerhalb von Unternehmensstrukturen. Das Schadensprinzip kann dann entscheidend zur Beantwortung von den für eine C(S)R-Strategie zentralen Fragen wie „Worum geht es eigentlich? Was ist das Problem? Welche Ziele sollten damit erreicht werden? Wie erreicht man sie?“71 beitragen.
71
Suchanek 2015a: 5.
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Sachregister Armut, absolute 140–141 Armut, relative 140–143, 151, 155, 179, 188, 194, 216
Nichtschädigung 81, 95–96, 108–109, 119, 130, 155–156, 158–159, 186–187, 204–205
Dilemma, moralisches 71, 116, 130, 143, 161, 183, 201–204, 206, 227 Dilemmastrukturen 59–61, 63–64
Ökonomismus 34–36
Eigennutz 22–23, 28, 32, 35–36, 55, 62–65, 68, siehe auch Selbstinteresse Fähigkeiten 140–152, 155, 194, 201, 203 Fähigkeitenansatz 143–152, 155, 158, 181 Folgenorientierung 135, 158–160, 164, 176, 184, 192–194 Fremdschädigung 56 , 69, 88–89, 100, 179, siehe auch Schädigung Funktionsweisen 144–152, 155, 194, 201, 203 Gründe, ökonomische 22, 35–36, 53–54 Handlungssituation, offene 30, 66–67, 74–75, 134, 149, 183–188, 194 Homo oeconomicus 25–26, 31, 35, 63–64 Individualmoral 46–49, 59–61, 64–75, 100, 157 Konsumentenverantwortung 199–200, 205, 207–208, siehe auch Verantwortung Lebensdienlichkeit 42–43, 52–53 Minimalmoral 83–85, 157–158, 161, 165, 179–181 Motive 65, 83, 165, 175, 212 Nicht-ideal 75–76, 80, 82–83, 134–135, 142–143, 156–157, 190–191
Pflichten, situative 184, 191, 193–194 Präferenz, adaptive 137–138 Regel, moralische 73–74, 80, 83, 116, 119–120, 165, 170 Schadensprinzip, wirtschaftsethisches 80–85, 156, 190–194, 2015–216, 218, 221 Schadenszustand 128–130, 138, 142, 147–152, 156–157, 189–190 Schädigung 150–152, siehe auch Fremdschädigung Schwellenwert 84, 123, 141, 155–158, 216 Selbstinteresse 14, 27–28, 103–106, 115, 173, 178, 224, siehe auch Eigennutz Standpunkt, moralischer 174–177 Unparteiischer Beobachter 169, 171–174, 177 Unternehmensverantwortung 28, 196–199, 201, 203, 205–207, 224–229, siehe auch Verantwortung Verantwortung, moralische 70, 179–180, 186–194, siehe auch Konsumentenverantwortung; Unternehmensverantwortung Vorrang der Moral 55, 204, 218–219 Wettbewerb 48, 52–53, 58–61, 67–72, 83–84, 128–130 Wohlergehen 26–27, 30–31, 73, 122–125, 148–152, 155, 191–193 Wohlfahrtsinteressen 122–125, 127–129, 139–140, 155–156, 186 Wohlwollen 12, 61–62, 167–170, 180