New York und Tokio in der Medienkunst: Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung [1. Aufl.] 9783839405918

Urbanismusdebatte trifft auf Medienkunst. Am Beispiel von New York und Tokio werden in diesem Band urbane Mythologisieru

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German Pages 236 [260] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung
Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie
Probleme einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse
„Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen...“ – Bildung und Versagung
Bildungsprozesse – Zwischen erfahrener Dezentrierung und objektivierender Analyse
Andere Fremde. Annotationen zur Erforschung kultureller Differenz und interkultureller Kommunikation im Rahmen einer relationalen Hermeneutik
Modi komplexer und längerfristiger Lernprozesse. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Theorie des Lernens und der Bildung
Lehren als Moment im Bildungsprozess
Über das schwierige Finden der verlorenen Zeit. Biographisierungsprozesse im Film aus bildungstheoretischer Perspektive
Filmbildung. Zur filmischen Untersuchung von Bildungsprozessen am Beispiel von Broken Flowers und Don’t Come Knocking
Angst – Augen – Blick
Anhang
Transkription der Diskussion über Rassismus (Auszug)
Transkription des biographischen Interviews mit „Bernard“ (Auszug)
Autorenverzeichnis
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New York und Tokio in der Medienkunst: Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung [1. Aufl.]
 9783839405918

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Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung

Theorie Bilden Band 7 Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini, Michael Wimmer (Herausgeber im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg)

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe »Theorie Bilden« wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Dabei ist der Zusammenhang von Theorie und Bildung in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, ist doch Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. In dieser Schriftenreihe werden theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre von Mitgliedern des Fachbereichs publiziert, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Es handelt sich dabei um im Kontext der Fakultät entstandene Forschungsarbeiten, hervorragende Promotionen, Habilitationen, aus Ringvorlesungen oder Tagungen hervorgehende Sammelbände, Festschriften, aber auch Abhandlungen im Umfang zwischen Zeitschriftenaufsatz und Buch sowie andere experimentelle Darstellungsformen.

Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.)

Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Gedruckt mit Unterstützung der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Hans-Christoph Koller, Daniel Kuck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-588-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung

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HANS-CHRISTOPH KOLLER, WINFRIED MAROTZKI, OLAF SANDERS Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie

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RAINER KOKEMOHR Probleme einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

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HANS-CHRISTOPH KOLLER „Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen...“ – Bildung und Versagung

83

KÄTE MEYER-DRAWE Bildungsprozesse – Zwischen erfahrener Dezentrierung und objektivierender Analyse

95

ALFRED SCHÄFER Andere Fremde. Annotationen zur Erforschung kultureller Differenz und interkultureller Kommunikation im Rahmen einer relationalen Hermeneutik JÜRGEN STRAUB

109

Modi komplexer und längerfristiger Lernprozesse. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Theorie des Lernens und der Bildung

141

THEODOR SCHULZE Lehren als Moment im Bildungsprozess KARL-JOSEF PAZZINI

161

Über das schwierige Finden der verlorenen Zeit. Biographisierungsprozesse im Film aus bildungstheoretischer Perspektive

181

WINFRIED MAROTZKI Filmbildung. Zur filmischen Untersuchung von Bildungsprozessen am Beispiel von Broken Flowers und Don’t Come Knocking

199

OLAF SANDERS Angst – Augen – Blick

219

TIM SCHMIDT, TANJA TREDE-SCHICKER, GEREON WULFTANGE

Anhang Transkription der Diskussion über Rassismus (Auszug)

239

Transkription des biographischen Interviews mit „Bernard“ (Auszug)

251

Autorenverzeichnis

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EINLEITUNG HANS-CHRISTOPH KOLLER/WINFRIED MAROTZKI/OLAF SANDERS

Bildung stellt nach wie vor eine zentrale Kategorie pädagogischer Reflexionen dar. Zu den zahlreichen Versuchen, diesen Begriff, der in seiner bis heute maßgeblichen Fassung aus der Zeit um 1800 stammt, so zu reformulieren, dass er den seither veränderten gesellschaftlichen Bedingungen gerecht wird, gehört auch die vor allem von Rainer Kokemohr inspirierte Auffassung von Bildung als Transformationsprozess, in dem das Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen durch die Konfrontation mit neuartigen Problemlagen eine weitreichende Veränderung erfährt. Diese Konzeption von Bildung als Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstbezugs knüpft an die bildungstheoretische Tradition seit Humboldt an, geht darüber jedoch in zweifacher Weise hinaus. Zum einen hebt sie hervor, was den Anlass bzw. die Herausforderung für Bildungsprozesse darstellt, nämlich eine Art von Krisenerfahrung, in der sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen als nicht mehr ausreichend erweist. Und zum andern umfasst diese Neufassung des Bildungsbegriffs im Unterschied zur klassischen Bildungsphilosophie ausdrücklich eine empirische Perspektive, der zufolge bildungstheoretische Überlegungen auch einen Anschluss an die (qualitativ-)empirische Untersuchung von Bildungsprozessen eröffnen sollten. Wer sich bei dem Versuch, die Überlegungen, die zu dieser Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse geführt haben, genauer nachzuvollziehen, auf die Suche nach entsprechenden Texten Rainer Kokemohrs begab, stand vor der Schwierigkeit, dass dessen einschlägige Überlegungen bislang nur an eher verstreuten und bisweilen entlegenen Stellen erschienen sind. Um diese Schwierigkeit zu beheben und den Zugang zur Arbeit und zum Denken Kokemohrs zu erleichtern, haben wir Rainer Kokemohr gebeten, einen Beitrag zu verfassen, der sein Verständnis transformatorischer Bildungsprozesse auf seinem heutigen Stand präsentiert. Dieser Beitrag eröffnet den vorliegenden Band und führt in sein Anliegen ein; er steht aber zugleich im Mittelpunkt der weiteren Beiträge, die sich in ganz unterschiedlicher Weise darauf beziehen. Ob Kokemohrs Veröffentlichungspraxis auch dazu dient, von sich abzulenken, wie Karl-Josef Pazzini am Ende seines Beitrages in anderem Zusam7

KOLLER/MAROTZKI/SANDERS

menhang vermutet, mag dahingestellt bleiben. Sollte dies so sein, dann sicher um der Sachen willen, um die es ihm geht und die sich im Lauf der Zeit auseinander entwickelten. Typisch für Kokemohrs Arbeit ist aus unserer Perspektive zweierlei: erstens die enge Verknüpfung von begrifflichen Klärungen und empirischen Analysen und zweitens das Teilen dieser Praxis mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern seines Oberseminars an der Universität Hamburg, dessen Themenschwerpunkte mit seinen Arbeitsschwerpunkten wechselten, von der Interaktions- zur Biographieforschung (Biographie verstanden als sedimentierte Interaktion) und, von der Biographie- zur interkulturellen Bildungsforschung (die vor allem auch mit seinem schulreformerischen Engagement in Kamerun zu tun hat und immer wieder durch dieses angestoßen und herausgefordert wurde und wird). Denken müsse sich bewähren, so Kokemohrs Auffassung. Theorie, Empirie und Praxis bilden für ihn eine dynamische Triade, die keine festen Hierarchien kennt. Stattdessen gelte es alles gegeneinander so stark wie möglich zu machen. Die weiteren Beiträge dieses Bandes dokumentieren eine Tagung, die im September 2005 im Hamburger Warburg-Haus stattgefunden hat. 1 Dieser Tagung lag als gemeinsamer Bezugspunkt eine frühere Fassung des Beitrags von Rainer Kokemohr zugrunde. Nach einem von Kokemohr selbst in vielen Tagungen erprobten Modell waren die Referentin und die Referenten gebeten worden, sich in ihren Beiträgen auf jeweils eigene Weise auf diesen Text zu beziehen. So sind eine Reihe ganz unterschiedlicher Kommentare entstanden, die die Dichte der damaligen Diskussion zumindest andeuten und in verschiedener Weise vertiefen. Anlass der Tagung war die Emeritierung Rainer Kokemohrs. Deshalb handelt es sich bei diesem Band um eine Festschrift, allerdings um eine, die – ähnlich wie René Magrittes berühmtes Bild Ceci n’est pas une pipe – mit einem Satz unterschrieben ist, der das vermeintlich Offensichtliche bestreitet und eine Differenz behauptet. Bei Magritte geht es um die Differenz zwischen Bild und Gegenstand, bei dieser Festschrift um die Frage, was gefeiert werden soll: der Emeritus oder die gemeinsame Arbeit. Wir haben uns für die gemeinsame Arbeit entschieden, die es festzuschreiben gilt, um sie weiterzuschreiben. Wir haben uns dafür entschieden, weil es unserer Ansicht nach die beste Form ist, die Arbeit Rainer Kokemohrs zu würdigen. Die Beiträge umkreisen die von Rainer Kokemohr aufgeworfenen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit je verschiedener Schwerpunktsetzung. Hans-Christoph Koller deutet Kokemohrs Text als Beitrag zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse und versucht nachzuzeichnen, wel1

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Nur ein Beitrag, der von Tim Schmidt, Tanja Trede-Schicker und Gereon Wulftange, ist auf dem Symposion nicht vorgetragen worden. Er stammt aus dem Oberseminarzusammenhang, von dem wir auch viele Jahre profitiert haben.

EINLEITUNG

che Antworten auf die Grundfragen einer solchen Theorie darin enthalten sind bzw. welche neuen Fragen dadurch aufgeworfen werden. Dabei hebt er hervor, dass Kokemohrs Ansatz es erlaube, nicht nur den Anlass (nämlich Fremdheitserfahrungen), sondern auch den Gegenstand (die narrativen Welt- und Selbstentwürfe der Subjekte) und die Transformationspotentiale solcher Bildungsprozesse (die unbewussten Bewegungsgründe sprachlicher Äußerungen) theoretisch und empirisch genauer zu bestimmen. Käte Meyer-Drawe verfolgt Spuren einer verschütteten vormodernen Tradition des Bildungsbegriffs, in der Bildung nicht als Selbstfindung, Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung begriffen, sondern in Bezug auf einen konstitutiven Mangel gedacht wurde. Sowohl in der griechischen Klassik als auch im alttestamentarischen Bilderverbot und der deutschen Mystik sieht sie der Bildung des Menschen eine unaufhebbare Fremdheit eingeschrieben, die im Zuge der Formulierung des modernen Bildungsbegriffs vergessen zu werden drohe. Bildung, so Meyer-Drawes Ergänzung gegenüber Kokemohr, werde deshalb nicht nur durch die Erfahrung des Fremden in der Begegnung mit anderen herausgefordert, sondern auch durch eine Fremdheitserfahrung im Verhältnis zu sich selber, die davon geprägt sei, dass „wir uns als leibliche Wesen selbst nur auf Umwegen und niemals unmittelbar gegeben“ sind. Alfred Schäfer beschreibt die Grundlosigkeit der Selbstvergewisserung des neuzeitlichen Subjekts als konstitutiv für die klassischen Bildungstheorien und sieht deren Lösung des Problems darin, Bildung als eine „Möglichkeitskategorie“ zu begreifen, die qualifizierende Optionen eröffnet, ohne ihre Wirklichkeit unter Beweis stellen zu müssen. Das Problem, auf das Kokemohrs Anliegen einer empirischen Analyse von Bildungsprozessen stoße, liegt für Schäfer darin, dass diese den Anspruch erhebe, Bildung bzw. deren Möglichkeit in objektivierender Einstellung empirisch identifizieren zu können. Eine weitere ungelöste Schwierigkeit bestehe darin, dass dies unter Berufung auf einen Theorierahmen, nämlich Lacans strukturale Psychoanalyse, erfolge, der sich „an der Selbstreferenz des Analysanden bewähren müsste“ und deshalb objektivierende Identifikationen als problematisch erscheinen lasse. Jürgen Straub geht von einem ethischen Motiv in Kokemohrs Überlegungen aus, nämlich von der Forderung nach Anerkennung der Anderheit bzw. der radikalen Fremdheit des Anderen, die von dessen bloß relativer Andersheit unter Maßgabe eines tertium comparationis zu unterscheiden sei. Straubs Interesse gilt der Frage, wie dieses ethische Motiv (und die damit verbundene Unterscheidung zwischen radikaler und relativer Differenz) mit Kokemohrs Anliegen einer empirischen Analyse transkultureller Bezugnahmen zu vereinbaren sei, die doch auf die identifizierende (und daher notwendig relationale) Bestimmung des Anderen bzw. seiner Handlungen ziele. Die spezifische Qualität von Kokemohrs empirischen Analysen sieht er darin, dass diese zeigten, „wie

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KOLLER/MAROTZKI/SANDERS

jeder Versuch [...], relative (kulturelle) Differenzen zu (re-)konstruieren, [...] an prinzipielle Grenzen stößt und über sich hinausweist“. Theodor Schulze stellt die Frage nach der Struktur von Bildungsprozessen in den Kontext einer Theorie komplexer und längerfristiger Lernprozesse. Anhand der empirischen Materialien, auf die sich Kokemohrs Beitrag bezieht, unterscheidet er vier kognitive Verhaltensweisen, nämlich Lebenserfahrung, Interpretation, reflexive Konstruktion und diskursive Verständigung, und benennt Bedingungen, unter denen solche Verhaltensweisen zu Modi des Lernens werden. Abschließend versucht Schulze dem Begriff der Bildung einen Ort im Kontext einer Theorie umfassender und längerfristiger Lernprozesse zuzuweisen. Karl-Josef Pazzini fragt mit Jacques Lacan „Wie lehren, was die Psychoanalyse uns lehrt?“ und bezieht diese Frage auf die Arbeit von Kokemohr. Pazzini untersucht die Lehre Lacans anhand eines Films, der einen Vortrag, eine seminaristische Situation, einen Auftritt dokumentiert. Dabei geht es um den Begriff des Diskurses, um Mischungen oder Gefüge von Diskursen, die als Wagnis „zur Anregung von Bildungsprozessen“ nötig seien, „die dem Fremdem nicht ratlos ausweichen müssen oder es verdrängen, gar verwerfen“. Es handelt sich um ein Wagnis, weil Lehrende bei solchen „Balanceakten“ auch, bald für längere Zeit, bald kürzer verunglücken können. Häme und Verehrung sind einander Kehrseiten. Die drei letzten Beiträge widmen sich dem Film als einem potentiellen Ort oder Medium von Bildungsprozessen, wie er in den letzten Jahren auch zunehmend in den Fokus von Rainer Kokemohrs Interesse gerückt ist. Winfried Marotzki untersucht dabei die (auto)biographische Arbeit in Andrej Tarkowskijs Film Der Spiegel und deutet diese unter Bezug auf die Erinnerungs- und Gedächtniskonzeption Paul Ricœurs als einen Bildungsprozess, in dem neue Zukunftshorizonte dadurch eröffnet werden, dass Vergangenheit akzeptiert und Schuld anerkannt wird. Olaf Sanders fragt am Beispiel von Wim Wenders Don’t Come Knocking und Jim Jarmuschs Broken Flowers nach den Bildungsprozessen, die durch den Film selbst ablaufen. Seine Überlegungen gehen aus von der Kinophilosophie Gilles Deleuzes, die den Film selbst zum Pädagogen erklärt und großen Autoren wie Jean-Marie Straub, Roberto Rosselini oder Jean-Luc Godard eine Pädagogik oder Didaktik zuschreibt. Dass dies auch für Wenders und Jarmusch möglich wäre, setzt der Beitrag voraus. Eine Besonderheit der ausgewählten Filme, die zur Zeit des Symposions im Kino liefen, liegt in der Thematisierung von Bildungsprozessen älterer Männer. Tim Schmidt, Tanja Trede-Schicker und Gereon Wulftange schließlich analysieren Sequenzen aus Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof unter dem Gesichtspunkt der Angst als bildungstheoretischem Transformationsmotiv. Sie nutzen psychoanalytische Werkzeuge. Es geht ihnen darum, wie Kokemohr 10

EINLEITUNG

ausgehend von Lacan, dem – so eine These – seit der Klassik für die Bildungstheorie notwendigen Subjektbegriff wieder eine hinreichende Komplexität und Prozessualität zu verleihen. Als „Brennpunkt des Bildungsprozesses“ eröffnet der Begriff der Angst darüber hinaus weitere Problemfelder, stiftet Fragen nach produktiver Angst-Lust und bildungsverhindernden Phobien.

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BILDUNG ALS WELT- UND SELBSTENTWURF IM ANSPRUCH DES FREMDEN. EINE THEORETISCH-EMPIRISCHE ANNÄHERUNG EINE BILDUNGSPROZESSTHEORIE

AN

RAINER KOKEMOHR

Vorbemerkung Die in diesem Band versammelten Kommentare, Interpretationen und Kritiken beziehen sich auf den nachfolgenden Text (S. 21-69), der den Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Symposions vorgelegen hat, das im Oktober 2005 im Warburg-Haus der Universität Hamburg stattgefunden hat. In diesem Text versuche ich zu untersuchen, ob und in welcher Weise Erfahrung von Fremdheit Bildungsprozesse heraufordert. Gegenstand meiner Untersuchung ist das Transkript einer Diskussion, die wir im Juli 2001 während eines mehrtätigen Symposions innerhalb des Teilprojekts „Biographische Bildungsprozesse afrikanischer Migranten in Deutschland am Beispiel von Studierenden aus Kamerun“ des Hamburger Afrika-Sonderforschungsbereichs „Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung“ geführt haben. Wir: das sind Diskussionsteilnehmer aus Kamerun, aus Frankreich, aus der Schweiz und aus Deutschland. Unsere Diskussion hatte sich an der als Transkript vorliegenden lebensgeschichtlichen Erzählung des Kameruner Studenten Bernard entzündet, der von seinen Rassismuserfahrungen während seines Studiums in Deutschland berichtet. 1 Um den oft sperrigen Text für die Diskussion handhabbarer zu machen, habe ich ihn zu Beginn der dreitägigen Veranstaltung im Warburg-Haus zu vergegenwärtigen versucht. Die vergegenwärtigenden Bemerkungen stelle ich auch hier leicht überarbeitet in der Hoffnung voran, einige weniger durchsichtige Argumente und Figuren des Textes zu akzentuieren, ohne den vorgelegten Bezugstext, von Fehlerkorrekturen abgesehen, zu verändern.

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Beide Transkripte sind im Anhang dieses Bandes (S. 243 ff.) auszugsweise abgedruckt.

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RAINER KOKEMOHR

Der Student Bernard berichtet von der Erfahrung in der Warteschlange vor einer McDonalds-Kasse. Als eine zweite Kasse geöffnet worden sei, habe der neue Kassierer, statt ihn, den Afrikaner, der als zweiter in der ersten Kassenschlange gewartet habe, den Dritten, einen Weißen hinter ihm, zur sofortigen Bedienung an seine Kasse gewinkt. Das Verhalten des Kassierers, das er in analogen Situationen ähnlich erfahren habe, deutet der Kameruner Student Bernard als rassistisch. Der Konflikt in der Diskussion bezieht sich auf diese Wertung: Welches wäre die Position, aus der dem Verhalten des Kassierers das Prädikat „rassistisch“ zugesprochen werden könnte? Die eine Seite behauptet, das individuelle Verhalten sei rassistisch, nämlich systematischer Ausdruck einer rassistisch verfassten Gesellschaft. Die andere Seite entgegnet, das Prädikat „rassistisch“ sei eine Zuschreibung, die im gegebenen Fall nicht nachprüfbar sei, da sie sich auf die nicht formulierte Sinnwelt eines Handelnden beziehe und einem externen Beobachter nicht zugänglich sei. Die damals geführte Diskussion ist ohne Ergebnis geblieben, wenn man unter einem Ergebnis versteht, dass der Konflikt zugunsten einer gemeinsamen Deutung überwunden wird – und sei es auch eine solche, in der der Dissens festgehalten wird. Mein Text ist, anders als der theoretische Aufwand vermuten lassen mag, dem praktischen Interesse geschuldet, die gegeneinander fremden Ansprüche aufzunehmen und eine handlungsrelevante Antwort zu suchen. Ich suche eine Antwort in der Vermutung, dass Bildung als ein Prozess zu begreifen ist, der durch einen fremden Anspruch herausgefordert wird. 2 Dem liegt die früher formulierte Vorstellung zu Grunde, dass Bildungsprozesse dort notwendig werden, wo Erfahrungen nicht in die Grundfiguren jener lebensgeschichtlich aufgebauten Ordnung integriert werden können, die meine alltäglichen Interpretationen leiten. In diesem Sinn hatte ich Bildung als Prozess des Fraglichwerdens hergebrachter und des tentativen Entwurfs neuer Ordnungsfiguren zu verstehen versucht. Diese Überlegung, deren lebensgeschichtliche Wurzeln in einem teils kulturellen, teils lebensgeschichtlichen Erbe liegen und die mich mit Winfried Marotzki zur Zeit seiner Assistentur in dem von mir vertretenen Arbeitsbereich an der Universität Hamburg verbindet, hat sich als sehr komplex erwiesen. Eine Frage betraf, wie Hans-Christoph Koller (2005) jüngst ausgeführt hat, den Charakter sowohl des Fraglichwerdens als auch des Neuentwurfs. Ist dieser Prozess als eine Art argumentativer Prozess eher der Logik verpflichtet? Oder ist er eher ein Prozess, der sich aus figurativen Potenzialen rhetorischer Figuren speist? Meine Erfahrungen anderer Gesellschaften und deren kultureller Figurationen haben meine Neigung verstärkt, Bildung als 2

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Ich erprobe die Annahme, dass Bezugnahme auf Fremdes eine bildungstheoretisch paradigmatische Situation in dem Sinn ist, dass ein Bildungsprozess durch die Erfahrung von Fremdem herausgefordert werden kann, das, in das mir vertraute Welt- und Selbstverhältnis einbrechend, einer Deutung in dessen Grundfiguren widersteht. Deshalb verstehe ich Bildungsprozesse als durch Fremdes herausgeforderte Veränderung von Grundfiguren meines Welt- und Selbstverhältnisses.

BILDUNG ALS WELT- UND SELBSTENTWURF IM ANSPRUCH DES FREMDEN

rhetorischen Prozess aufzufassen, der von widerständigen Erfahrungen angetrieben wird und sich aus dem figurativen Überschusspotenzial symbolischer Systeme und ihrer imaginären Aufladung speist. Im vorliegenden Text versuche ich, den Anspruch des genannten Konfliktes aufzunehmen, indem ich bereit liegende theoretische Angebote zu nutzen und sie schrittweise in Analysemöglichkeiten zu übersetzen, sie zugleich aber durch den Bezug auf mögliche Anschlusstheorien in produktiver Widerständigkeit zu lesen suche. Die drei Theorien sind Bernhard Waldenfels’ Topographie des Fremden, Paul Ricœurs Narratologie und Jacques Lacans Reflexionen im Umkreis seines Begriffs des Objekts »a«. In allen drei Durchgängen sind nicht die empirischen Subjekte und ihre Intentionen mein Thema. Vielmehr beziehe ich mich auf die Diskussion als Text – als Text im Sinn der Ricœurschen Erzähltheorie. Wichtig ist mir Ricœurs Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem implizierten Erzähler – eine Unterscheidung nicht nur in Übereinstimmung mit moderner Erzählforschung –, der zufolge der empirische Erzähler in einem Text grundsätzlich nur in textueller Figuration, also als „implizierter“ Erzähler erscheint. Entsprechend unterscheide ich in der Diskussion zwischen den empirischen Subjekten, die als solche nicht mein Thema sind, und den implizierten, also textuell konfigurierten Sprechern. Sofern ich sie in ihren Figurationen und Figurationskontexten wahrnehme, typisiere ich sie. Meine Lektüre enthält wie jede Begriffskonstruktion ein idealtypisches Moment, das sich durch Kritik zwar revidieren, aber nicht vermeiden lässt. Dieser Einsicht entspricht die Auffassung, dass die erzähltheoretische Einsicht in die Differenz von empirischem und impliziertem Erzähler letztlich für eine jede sozial in Erscheinung tretende personale und institutionelle Instanz, also für uns als soziale Identitäten gilt. Wir sind anderen wie uns selbst noch in intimster Zuwendung nur kraft der symbolischen Konfiguration unseres „Ich“ zugänglich. Das vor aller Figuration wirkende Reale unserer Existenz kann zwar Unruhe stiften, nicht aber gleichsam frei von aller Figuration als solches erscheinen. Auch eine Formulierung wie „ein als solches nicht sagbares Reales“ ist eine textuelle Figur – eine Figur der gesagten Unsagbarkeit. Bildungsprozesse werden gemeinhin als Prozesse der Bezugnahme des Subjekts auf Welt gedacht. Doch schon das Zwielicht der Formulierung des Subjekts der Bildung zwischen dem Genitivus subiectivus „das Subjekt bildet sich“ und dem Genitivus obiectivus, formulierbar als „Bildung vollzieht sich am Subjekt“, deutet ein Problem an, dem dieser Bildungsbegriff nicht entgeht. Es besteht in der cartesianischen Neigung, Subjekt und Welt als zwei Entitäten vorzustellen. Fraglich scheint dann nur, in welches Verhältnis das Subjekt zu Welt tritt und ob sich etwa qualitative Unterschiede zwischen einem Verhältnis des Lernens und einem Verhältnis der Bildung ausmachen lassen oder ob auf den Bildungsbegriff ganz verzichtet werden solle, weil sich das in ihm angesprochene Verhältnis hinreichender begrifflicher Bestimmung entzieht. 15

RAINER KOKEMOHR

Ich halte am Bildungsbegriff fest, fasse Bildung aber als qualitativ spezifischen Prozess auf, der, anders als ein Lernprozess, die kategorialen Figuren betrifft, kraft derer sich das Verhältnis von Subjekt und Welt entwirft und modifiziert. Diese Auffassung schließt ein, dass ein Bildungsprozess „Subjekt“ und „Welt“ in ihrer je gegebenen symbolisch typisierenden Konfiguration aufbricht und anders refiguriert. Dieser Bildungsbegriff hat den Vorteil, das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig zu halten. Mit dieser Vorstellung mag aber auch die Sorge verbunden sein, dass „Subjekt“ und „Welt“ der Beliebigkeit flottierender Interpretation anheim fallen, die sie und mit ihr den Bildungsprozess selbst unbestimmbar macht. Man könnte versuchen wollen, dem Problem der Konturlosigkeit durch den Bezug auf das Subjekt als absoluter Instanz im Sinne der Transzendentalphilosophie Kants zu entgehen, von der aus die synthetische Einheit der Apperzeption und mit ihr Erkenntnis möglich werde. Doch Kant hat deutlich darauf hingewiesen, dass uns das absolute Subjekt wie auch die Vernunftideen nicht als Gegenstand der Erfahrung, sondern nur „als Gegenstand in der Idee“ (Kant 1968: B 698) gegeben sind, so dass wir uns auf „unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist“ (ebd.: B 156) , erkennen. Das transzendentale Subjekt ist Kant zufolge zwar logisch notwendig vorauszusetzen, weil wir letztlich nur so unseren Vorstellungen die Einheit eines Welt- und Selbstentwurfs zuschreiben können. Doch Kant sieht in diesem Subjekt nur eine Idee, von der allein der regulative Gebrauch gemacht werden kann, die Einheit der Mannigfaltigkeit zu sichern. Diese Idee könne aber selbst nicht Gegenstand unserer Erkenntnis werden. Damit wird vor aller symbolischen Figuration ein Subjekt gedacht, das in unaufhebbarer Spannung zur figurierten Welt und zum figurierten Subjekt und der Unbestimmtheit formlos mannigfaltigen Flottierens nur die logische Einheit des „ich denke“ verbürgt, aber weder die Ausgewogenheit unserer empirischen Anschauungen, Erkenntnisse und Überzeugungen noch einen uns selbst durchsichtigen Selbstbezug sichern kann. Die Vorstellung meiner selbst als eines prä-figurativen Dass schlechthinniger Existenz, das, sei es noch so rudimentär, vor aller symbolisch-imaginären und sozial vermittelten Figuration anzusprechen wäre, ist ein Trugbild. Über das Subjekt ist anders als in imaginär-symbolischer Figuration nicht zu sprechen. Jede Bezugnahme auf ein präfiguratives Dass setzt ein imaginär-symbolisch figuriertes Das. So bleibt eine jede Analyse und Interpretation, die empirisch gehaltvolle Aussagen über Bildungsprozesse, über bildungsaffine Interaktionen und über die durch sie aufgerufenen Verweisungen zu machen sucht, auf symbolische Figurationen und deren imaginären Gehalt bezogen. Wenn Bildungsprozesse etwas mit Welt- und Selbstverhältnissen zu tun haben und wenn sich deren Figuration die Qualität der Beziehung verdankt, in die Sub16

BILDUNG ALS WELT- UND SELBSTENTWURF IM ANSPRUCH DES FREMDEN

jekte zu Objekten der Erfahrung treten, dann darf nicht vergessen werden, dass in dieser Beziehung sowohl die Subjekte als auch die Objekte als figurierte, als „Subjekte“ und „Objekte“ erscheinen, deren Konstitution sich immer schon Prozessen sozialer Interaktion verdankt, in denen, was ist, nur im Spiegel des Anderen auftritt. Um diese Einsicht ernst zu nehmen, scheint mir ein phänomenologischer Zugang aussichtsreich, sofern er jene Tiefenschicht anspricht, aus der sich Figurationen von Subjekt und Welt, ihres Auseinandertretens und ihrer je sich refigurierenden Verhältnisse speisen. Ich folge dem phänomenologischen Weg von Bernhard Waldenfels und dem narratologischen Konzept von Paul Ricœur, die den Blick auf jene Schicht strukturieren, bevor ich mich Lacans Analyse im Umkreis des Objekts »a« anschließe, das die Dynamik der Tiefenschicht sagbar zu machen sucht. Zwei – eher unscheinbar bleibende – Argumente liegen dem letzten Teil des nachfolgenden Textes zu Grunde. Es ist zunächst das Argument, dass das symbolische Feld ein unabschließbar offenes, differentielles Signifikantensystem ist, innerhalb dessen ein jeder Signifikant auf andere Signifikanten verweist und in dieser „differentiellen“ Verweisung mögliche Bedeutung evoziert. Das differentielle Signifikantensystem ist kein Objekt der Art, das sich definieren, durch die Angabe seiner Grenzen bestimmen ließe. Für das symbolisch figurierte „Subjekt“ wie für symbolisch figurierte „Welt“ bedeutet dies, dass, was immer mir „Subjekt“, “Welt“ oder ein Ausschnitt von „Welt“ bedeuten mag, kraft der Differenz bedeutet, in der Signifikanten ihre Kontur gewinnen. Was Merleau-Ponty über das „Rot vor meinen Augen“ sagt, dass nämlich „dieses Rot […] seine Eigenart dadurch [sc. gewinnt], daß es von seinem Platze aus mit anderen Rottönen der Umgebung in eine Verbindung tritt und mit diesen eine gewisse Konstellation bildet oder auch mit anderen Farben, die es dominiert oder von denen es dominiert wird, die es anzieht oder von denen es angezogen wird, die es abstößt oder von denen es abgestoßen wird“ (MerleauPonty 1986: 174), gilt auch für symbolisch figurierte „Subjekte“ und symbolisch figurierte „Welten“. Wie immer sie figuriert sind, sind sie, wie man mit Lacan formulieren kann, Figurationen, die auf der Signifikantenkette gleiten. Und der Farbenblinde, dem die Rottöne nur ein Grau sind, lässt begreifen, dass sich das Gleiten auf der Signifikantenkette auch dem Blick verdankt, mit dem ich darauf schaue. Diese Einsicht ist die Voraussetzung für das zweite Argument. 3 Es betrifft den von Lacan in oft schwierigen Analysen und Reflexionen betonten, eigentümlichen Status des Objekts »a« als Objekt-Ursache-des-Begehrens, das, gleichsam zwischen den Signifikanten gleitend sich symbolischer Figuration entzieht und im Seinsmangel unerfüllbares Begehren aufruft. Lacan entfaltet den Gedanken, dass das Begehren den Menschen gegen ein differenzlos ge3

Für die Betonung dieses Argumentes danke ich den Mitgliedern meines Oberseminars, insbesondere Tim Schmidt (vgl. auch Baas 1996).

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RAINER KOKEMOHR

fährliches Genießen schützt, das ihn im Phantasma jener ursprünglichen Ununterschiedenheit vergehen ließe, in der die Figuration von „Subjekt“ und „Welt“ ihren ontogenetischen Ausgang genommen hat. In den Vorgaben der Lacanschen Spekulation wird das Prekäre auch des Bildungsprozesses denkbar. Das Objekt »a«, auch ein Abkömmling des kantischen „Ding an sich“, hat seine bildungstheoretische Faszination nicht zuletzt darin, so an das Erbe der Kantischen Transzendentalphilosophie anzuknüpfen, dass das Fragile lebensgeschichtlicher Figurationen gegenwärtig gehalten wird und im flimmernden Feld des differentiellen Signifikantensystems die Evokation konkurrierender Welt- und Selbstentwürfe denkbar wird. Ob sich meine Deutung aufrecht erhalten lässt, dass die Negation des Anderen im anderen auf jene Kraft des Objekts »a« verweisen und deshalb zum „Bildungsvorhalt“ werden kann, wird weiterer Diskussion vorbehalten bleiben müssen. Die hier offene Frage betrifft das Verhältnis zwischen dem Individuum, das in seiner Figuration als „Subjekt“ erregt wird, sofern es sich einem Problem ausgesetzt sieht, das in den Figuren seines Welt- und Selbstverhältnisses nicht auslegbar ist, und dem Objekt »a«, das sein Begehren antreibt und im Flimmern der Signifikanten neue Figuren entwerfen lässt. Wie immer diese Diskussion ausgehen mag, ist zu beachten, dass sich Bildungsprozesse als imaginär-symbolische Kon- und Refigurationen vollziehen und bewähren müssen. Im symbolischen Feld bewähren sie sich darin, dass Sätze, die etwa in einer Diskussion ausgetauscht werden, im Signifikantenfeld bestimmte Anschlüsse sinnvoll oder möglich und andere Anschlüsse unsinnig oder unmöglich machen. 4 Im praktisch relevanten Sinn möglicher und nicht möglicher Anschlüsse möchte ich auch die in meinem Text vorgeschlagene Lösung des Zwei-Warteschlangen-Problems im McDonalds-Lokal verstehen. Was ich anfangs eher als einen verlegenen Ausweg betrachtet habe, nämlich die inzwischen oft praktizierte Vereinigung konkurrierender Warteschlangen zu einer einzigen Schlange vor mehreren Kassen oder Schaltern, scheint mir inzwischen ein Beispiel mit durchaus systematischem Gewicht zu sein. Auch das Rassismusproblem, und vielleicht gerade es, ist durch seine Sagbarkeit innerhalb eines Diskursfeldes bestimmt. Erst Sagbarkeit macht Rassismus zum praktischen Problem. 4

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Hier ließe sich auf J.-F. Lyotard verweisen, der die radikale Kontingenz von Sätzen betont, derart, dass einem jeden Satz immer schon ein anderer Satz vorausgeht (vgl. Lyotard 1989: 119). Jede semiotisch geäußerte Aussage ist ein Satz im Sinne Lyotards. Er besteht aus einem Sender, einem Referenten, einer Bedeutung und einem Empfänger. Folgt man Lyotard, gibt es keine weitere, den Satz verursachende Instanz. Denn auch der Sender des Satzes ist nicht dessen Ursache im Sinne einer dem Satz voraus liegenden Instanz; er bezeichnet nur innerhalb des Satzes die Instanz, der qua Satzfigur Verantwortung für eine geäußerte Aussage zugeschrieben wird. – Natürlich kann man hier auch an Michel Foucault denken, der von der Einheit von Diskursen durch die Zeit hindurch spricht, einer Einheit, die bestimmte Diskurse ein- und andere ausschließt (vgl. Foucault 1999: 77).

BILDUNG ALS WELT- UND SELBSTENTWURF IM ANSPRUCH DES FREMDEN

Deshalb mindert es sich in dem Maße, in dem ihm imaginär-symbolische Figuren entzogen werden, die es allererst sagbar und zu einem praktischen Moment von Welt machen. Wo es nur eine Warteschlange gibt, verlieren Sätze, die die Konkurrenz mehrerer Warteschlangen evozieren, ihren Sinn. Natürlich löst die eine Warteschlange nicht jedes Rassismusproblem schlechthin. Aber sie entzöge dem Rassismusthema, wie es in der Bernard-Erzählung auftritt, seine Figuration. Zugleich machte die einfache Reihung, die als praktische Figur die Individuen zu gleichrangig Wartenden machte, wenn auch nur im schlichten Modus zeitlicher Abfolge eine Anerkennung des Anderen sagbar. Die vielleicht aufkommende Furcht, die Figur der Ein-Reihung präformiere eine klassische Verdrängung, halte ich nicht für gerechtfertigt. Denn in ihr wird die Existenz von Rassismus nicht geleugnet. Es wird das Rassismusthema nur in dem Maße aufgelöst, in dem es seine Sagbarkeit der Existenz konkurrierender Warteschlangen verdankt. Leider, und das muss sofort hinzugefügt werden, ist der Entzug entsprechender Figurationen kein Allheilmittel. Denn nicht jedes Element, das sich als symbolisch-imaginäre Figur nutzen lässt, kann der Sagbarkeit entzogen werden. Eben wegen dieser Unmöglichkeit wird etwa die Hautfarbe so oft zur bevorzugten Projektionsfläche rassistischer Figurationen. Ihnen lässt sich im Sinne der hier vorgebrachten Überlegungen nur durch eine Aufklärung des Zusammenhangs von Interessen und Figurationen begegnen. Der vorliegende Text ist dem praktischen Interesse geschuldet, Wege für die Überwindung des Diskussionskonfliktes zu suchen. Im praktischen Interesse bietet der Text mit dem Begriff des Bildungsvorhalts eine Figuration an, die, als Anregung aufgenommen, den symbolischen Austausch prägen kann. Doch im praktischen Interesse können wir unsere Welt- und Selbstentwürfe nicht endlos revozieren. Mit ihrer Artikulation im Felde des Handelns konturieren unsere Welt- und Selbstentwürfe praktisch verbindlich dessen figuratives Potential, das, wie ich zu zeigen versuche, als Potential zwar zum Bildungsvorhalt werden kann, aber nicht als Bildungsprozess wirklich werden muss. Anders ist dies, wo wir uns in theoretischer Radikalität von praktischen Interessen handelnden Welt- und Selbstverhaltens frei sagen können. Einen solchen Weg habe ich in einem älteren Text mit dem Titel „Interpretation – Lektüre – Interkulturalität“ versucht (vgl. Kokemohr 2007). Er ist auf einen anderen Gegenstand bezogen, dem hier vorgelegten Text aber verwandt und zugleich anders. Er ist verwandt, weil es auch dort um das Problem der Wahrnahme des Anderen im anderen geht. Er ist aber in zwei Hinsichten ein anderer Text. Dort diskutiere ich den Geltungsgrund meiner eigenen Analyse und Interpretation der beklemmenden Lebensgeschichte meines Kameruner Freundes „François“. Der zweite Unterschied liegt darin, dass ich dort von Interpretationsebene zu Interpretationsebene fortschreitend den verschatteten Geltungs19

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grund meiner eigenen Interpretationsfiguren auf- und widerrufe. Es ist dies ein Weg, der sich, in der Analyse und Interpretation einer empirischen Geschichte, dem Weg anzunähern versucht, den ich zusammen mit Tobias Klass als den Weg des Nietzscheschen Zarathustras nachgezeichnet habe (vgl. Klass/Kokemohr 1998). Dort wäre ein Bildungsprozess, als Prozess des Denkens verstanden, ein Durchmachen von Erfahrungen, die zum immer wieder neuen Selbstaufbruch, das ist: zum Aufbruch und zur Revokation der Figuren eines je entworfenen Welt- und Selbstverhältnisses nötigen. In der Welt praktischen Handelns, die, wenn auch nur im Modus der Vorläufigkeit, auf die Konsistenz eines „ich“ und seiner Entwürfe vertrauen muss, wird ein permanenter Selbstaufbruch, eine permanente Revokation der Grundfiguren meines je gesagten „Selbst“ schwerlich möglich sein. Sie aber zu denken scheint mir eine sinnvolle, vielleicht notwendige Ergänzung zu dem handlungspraktischen Weg zu sein, den ich im hier vorgelegten Text suche. Die kritische Rückfrage des Interpreten an sich selbst und an seine Interpretation tritt im praktisch interessierten Text tendenziell in den Hintergrund. Sie wird vom handlungspraktischen Interesse, die „gegeneinander fremden Ansprüche aufzunehmen und eine handlungsrelevante Antwort zu suchen“, überdeckt. Als Interpret entdecke ich den möglichen Bildungsvorhalt der Negation des Anderen im anderen. Strukturell enthalten und deshalb nachweisbar, so meine ich, ist der Bildungsvorhalt in den Textfiguren, in denen sich die Diskussionspartner artikulieren. Um die Dynamik des Bildungsvorhalts jedoch zu entfalten, muss er gelesen, refiguriert und als Welt- und Selbstverhältnis entworfen werden. Ob er seine Dynamik für die empirischen Sprecher jenseits ihrer textuellen Figuration entfaltet, kann im Rahmen eines Interpretationstextes, der, aus der Beobachterperspektive formuliert, an die implizierten Sprecher gebunden ist, natürlich nicht behauptet werden. Der vorliegende Text erlaubt nur, über die Erkenntnis des textstrukturell gegebenen Bildungsvorhalts, über seine mögliche Relevanz für die Aufnahme der gegeneinander fremden Ansprüche und über meine Lektüre als vielleicht möglichen Entwurf einer handlungsrelevanten Antwort zu urteilen. Winfried Marotzki, Hans-Christoph Koller und Olaf Sanders, als ehemals Wissenschaftliche Assistenten im von mir vertretenen Arbeitsbereich stets kritisch konstruktive, im besten Sinn selbständige Diskussionspartner, an deren anregende Wirkung ich mich gern und dankbar erinnere, danke ich dafür, mir den nachfolgenden Text abverlangt, das Symposion umsichtig organisiert und für die Publikation seiner Ergebnisse gesorgt zu haben. In welcher Schuld ich auch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen stehe, die mit ihren Beiträgen meinen Text in ihren Blick nehmen und manche Klarheit in das Dunkel meines Weges bringen, wird sich den Leserinnen und Lesern des Bandes leicht erschließen.

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Einleitung In früheren Arbeiten (vgl. Kokemohr 1989; Prawda/Kokemohr 1989; Kokemohr 2000) habe ich vorgeschlagen, Bildung als Prozess aufzufassen und als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen zu untersuchen, die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen. Der Vorschlag lässt sich auch so formulieren, dass Bildung der Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung ist, in deren Denk- und Redefiguren mir meine „Welt“ je gegeben ist. Widerständige Erfahrungen können in Texten, Bildern oder anderen Formen auftreten. Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt. Weil aber stets nahe liegt, dass eingelebte Figuren durch Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung textuell-symbolischer oder bildhaft-imaginärer Einbrüche aufrecht erhalten werden, ist mit diesem Bildungsbegriff vorausgesetzt, dass nicht jede subsumtionsresistente Erfahrung in einen Bildungsprozess einmündet. Ich halte den vorgeschlagenen Begriff des Bildungsprozesses weiterhin für aussichtsreich. Doch unklar ist das in diesem Begriff vorausgesetzte Verhältnis von Instanzen und Prozess. Orientiert an dieser Frage versuche ich, zur kritischen Klärung jener cartesianisch-neuzeitlichen Voraussetzung beizutragen, die sich als Präsupposition des selbstreferenziellen Subjekts niederschlägt. Um das Subjekt, statt als Instanz, als Moment eines Prozesses zu denken, versuche ich, den vorgeschlagenen Bildungsprozessbegriff im Blick auf die textuelle Konstitution des Subjekts und ihren symbolisch-imaginären Gehalt auszubauen. Dazu nehme ich theoretische Mittel auf, die mir, so hoffe ich, erlauben, den Bildungsprozessbegriff zu entfalten und seinen empirischen Gehalt in Analysen eines Streits zu erproben. Der Streit wird keinen Bildungsprozess in actu, wohl aber Momente seiner Blockade erkennen lassen. Er wird zeigen, dass Selbstreferenz ein Konstrukt ist, das sich spezifischer Bezugnahme auf andere verdankt und aus der Qualität der Bezugnahme das Bildungspotenzial zum Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses gewinnt – oder nicht gewinnt. Der Bildungsbegriff der Aufklärungstradition gilt dem selbstreferenziellen Subjekt und seiner Autonomie. Die Figur des selbstreferenziellen Subjekts ist jedoch ebenso wie sein Kontext, das Projekt der Moderne, dem Verdacht imaginärer Konstruktion ausgesetzt und der Kritik unterworfen worden. Der vorgeschlagene Bildungsprozessbegriff steht dieser Kritik nahe, insofern er darauf verweist, dass die Konstruktion eines Subjekts ein Prozess ist, der sich auf eine Weise symbolisch-imaginär vollzieht, die den Autonomie-Topos untergräbt. Allerdings sehe ich nicht, dass diese Einsicht in erziehungswissenschaftlichem 21

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Kontext schon bis auf die Ebene der empirischen Analyse solcher Prozesse gebracht worden wäre, die als Bildungsprozess angesprochen werden können. Auf diese Ebene konzentriere ich mich. Der Versuch, den Bildungsbegriff in empirischer Analyse aus einer zu engen Bindung an das selbstreferenzielle Subjekt zu lösen, mag angesichts gewohnter Überzeugungen als wenig aussichtsreich erscheinen oder sogar die theoretische Sorge auslösen, das Subjekt als den systematischen Bezugspunkt bildungstheoretischen Denkens aufzugeben. Denn der Übergang von der Vorstellung eines selbst- zu der eines, wie ich vorläufig sagen will, sozialreferenziellen Subjekts ist mehr als der Austausch eines Prädikates, das dem Subjekt zu- oder abgesprochen werden könnte. Er betrifft die Konstruktion des Subjekts im Kern. Dass der Versuch dennoch sinnvoll ist, lässt sich in erster Näherung mit dem Hinweis rechtfertigen, dass manche Kulturen innerhalb ihres symbolischen Kosmos kein selbstreferenzielles Subjekt konstruieren. Während in europäischen Kulturen das, was als Subjekt bezeichnet wird, sprachlich unabhängig von je bestimmten Bezugnahmen auf andere mit dem indexikalischen, von bestimmten Kontexten weit gehend unabhängigen Ausdruck ich oder seinen Äquivalenten etwa des englischen I, des französischen je usw. angesprochen werden kann, verweist eine Sprecherin oder ein Sprecher in manchen außereuropäischen Kulturen auf sich in verschiedenen semantisch-syntaktischen Redefiguren, deren Wahl von jenem anderen abhängt, auf den Bezug genommen wird. So gibt es im Japanischen verschiedene ich-Pronomina, deren Wahl von der Beziehung abhängt, in der ein Sprecher zum je angesprochen steht, und artikuliert zugleich die Qualität der Beziehung. Ähnliches gilt – wenn auch weniger ausgeprägt – in manchen afrikanischen Sprachen wie dem Ghomala der Bamiléké in Kamerun, in denen das ich-Pronomen durch Ausdrücke erweitert wird, die das Ich als Gruppenmitglied stets in Figuren sozialer Allianzen einbinden. Deshalb muss man, sofern man innerhalb solcher Kulturen von Subjekten sprechen will, den Begriff von seiner neuzeitlich-europäischen Hypothek des autonomen Subjekts entbinden und als Index einer Position in sozialen Allianzen deuten. 5 Als empirisches Dokument werde ich das Transkript einer Diskussion untersuchen, das ein Beispiel dessen repräsentiert, was man interkulturelle Kommunikation zu nennen sich angewöhnt hat. So genannte interkulturelle Kommunikation kann als Paradigma sozialreferenzieller Bildungsprozesse gelten, sofern der Charakter des kulturell Verschiedenen sich in Diskursen ausspielt, die verschiedenen Ordnungen zugehören. Im Blick auf die Frage nach der Struktur von Bildungsprozessen ist so genannte interkulturelle Kommunikation strukturell nicht von so genannter intrakultureller Kommunikation un5

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Dies nicht zu sehen lässt viele Projekte sog. Entwicklungshilfe wie auch sog. interkultureller Kommunikation gerade dort scheitern, wo der Topos des selbstreferenziellen Subjekts im gut vermeinten Willen durchgesetzt wird, den Anderen in seiner Andersheit zu achten.

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terschieden. Denn auch hier sind Kommunizierende an ihre je eigene, sozialisatorisch erworbene Ordnung gebunden, wie intrakulturell scheiternde Ehen, Generationen- oder Gruppenkonflikte zeigen können. Ich zitiere die Rede von interkultureller Kommunikation zurückhaltend. Denn sofern wir uns nur vom Boden unserer je eigenen kulturellen Ordnung aus auf die je andere Kultur beziehen können, gibt es zwischen oder über den Kulturen keine Position, die das Prädikat inter im Sinne einer Gleichzugänglichkeit verschiedener Kulturen rechtfertigte. Die Rede von Kultur schließt die Differenz zu anderen Kulturen in der Weise ein (vgl. Matthes 1992), dass mir die andere Kultur nur im Ausgang von meiner Ordnung aus zugänglich werden kann. Dies heißt zugleich, dass zutreffender von Versuchen transkultureller Bezugnahme zu sprechen ist und dass diese angesichts der Fremdheit der je anderen Kultur gelingen oder scheitern kann – eine für die Untersuchung von Bildungsprozessen günstige Bedingung, weil das Risiko des Scheiterns dazu zwingt, die über Bildungsprozesse entscheidende Qualität der Bezugnahme auf Fremdes herauszuarbeiten und den Bildungsprozessbegriff gegen seine Vereinnahmung durch solche normativen Interpretationen zu schützen, die ihn in der Figur eines selbstreferenziell-transzendentalen Subjekts an das Phantasma einer metakulturellen Position binden. Was ein Bildungsprozess empirisch ist, kann sich im Lichte der Möglichkeiten und, deutlicher noch, im Lichte der Schwierigkeiten transkultureller Bezugnahme zeigen. Um das Problem transkultureller Bezugnahme herauszustellen, beziehe ich mich einleitend (I) auf B. Waldenfels’ phänomenologische Theorie des Fremden. Wegen ihres radikalen Fremdheitsbegriffs ist sie geeignet, die Diskussion über Bildungsprozesse als Bezugnahme auf fremde Diskurse anzuleiten. In einem zweiten Schritt (II) versuche ich, die sprachtheoretische Schicht dieses Konzeptes herauszustellen, indem ich sie im Rahmen der Texttheorie P. Ricœurs auslege. Texttheorie bietet sich an, sofern Texte Welt- und Selbstentwürfe sind. In diesem Sinn begreift Ricœur das Erzählen als unhintergehbare humane Praxis, kraft derer die, die sich als erzählende Instanzen artikulieren, ihren Welt- und Selbstbezug vermöge der textuellen Artikulationsfiguren ihres kulturellen Kosmos entwerfen, dessen wichtigstes Sediment die Sprache in ihrer symbolisch-imaginären Qualität ist. Der genannte theoretische Rahmen bereitet eine erste Analyse des ausgewählten Dokumentes im Interesse am Problem der Fremdheit vor. Da Waldenfels’ Theorie des Fremden und Ricœurs Erzähl- als Texttheorie zwar einen Interpretationshorizont für empirische Analysen, nicht aber schon ein methodisches Analyseinstrumentarium anbieten, übersetze ich im nächsten Abschnitt (III) den texttheoretisch reformulierten phänomenologischen Blick auf das Fremde in eine diskursanalytisch orientierte Untersuchung der Verwendung von Personalpronomina. Personalpronomina können, wie im Hinweis auf IchFiguren verschiedener Kulturen schon angedeutet, ein für Bildungsprozesse 23

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paradigmatischer Untersuchungsgegenstand sein, weil sie Sprecherinstanzen in ihrer Bezugnahme auf andere figurieren. Diese Analyse führt zu dem Ergebnis, dass die als Beispiel herangezogene Diskussion von Ex- und Inklusionsbewegungen geprägt ist, die den Zugang zum jeweils anderen dadurch verfehlen, dass sie ihn entweder in das Phantasma transzendental immer schon eingelöster Zugänglichkeit ein- oder ihn aus dem Phantasma der je eigenen, grundsätzlich nicht zugänglichen Besonderheit ausschließen. Die Engführung der Analyse zeigt Schwierigkeiten transkultureller Bezugnahme. Dennoch ist es problematisch, hier vom Scheitern transkultureller Bezugnahme oder vom Scheitern eines Bildungsprozesses zu sprechen. Was als Scheitern erscheint, ist nicht zuletzt dem methodischen Zugang und der Definition des Untersuchungsgegenstandes geschuldet. Denn was ist der Gegenstand einer Untersuchung, die nach Bildungsprozessen in einer zeitlich und situativ begrenzten Diskussion fragt? Sähe man Bildungsprozesse durch die Minuten bestimmt, die die Diskussion im Leben der Diskutanten einnimmt, oder durch die aktuellen Gesprächspartner, mit denen hier und jetzt gestritten wird, dann übersähe man, dass Bildungsprozesse ihre Potenziale möglicherweise erst nachträglich erweisen. Man liefe Gefahr, den zeitlich oder situativ begrenzten Vollzug von Diskussionen mit dem Vollzug oder Nichtvollzug von Bildungsprozessen zu verwechseln. Bildungsprozesse greifen in lebensgeschichtliche Tiefenschichten ein, die über eng begrenzte Prozeduren hinausweisen. Eine Diskussion, die im Moment ihrer Durchführung Merkmale des Scheiterns tragen mag, kann gerade wegen des momentanen Scheiterns zum Auftakt einer radikalen Veränderung von Grundfiguren eines eingelebten Welt- und Selbstentwurfs werden, das erst in nachfolgenden Diskussionen, in Selbstgesprächen, in Gesprächen mit anderen Partnern oder auch in Verarbeitungsformen wirklich wird, die sich ihrerseits in phantasmatischen Imaginationen vorbereiten oder ausspielen können. Diese Möglichkeit stellt jede empirische Analyse von Bildungsprozessen vor die Frage der Definition ihres Gegenstandes. Weil das Problem weniger der Wirklichkeit von Bildungsprozessen als vielmehr dem methodischen Rahmen der Untersuchung geschuldet ist, suche ich in einer Zwischenbilanz nach Wegen, das Begrenzungsproblem zu überwinden. Einerseits darf man die Analyse nicht auf positive Feststellungen des Vollzugs oder Nichtvollzugs eines Bildungsprozesses in einem begrenzten Dokument beschränken. Andererseits kann man Bildungsprozesse und transkulturelle Bezugnahmen weder als empirisch unendliche Prozesse eines schwankenden Profils dokumentieren noch analysieren. Deshalb versuche ich, in der begrenzten Situation, die das Transkript abbildet, figurative Bildungspotenziale zu entdecken, die über den zeitlich begrenzten Gegenstand, die endlich dokumentierte Diskussion hinausweisen.

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Nach Potenzialen, auf mehr und anderes zu verweisen, als im Moment des diskursiven Vollzugs manifest wird, frage ich in einem zweiten Untersuchungsgang. Hier vergewissere ich mich in einem weiteren theoretisch vorbereitenden Abschnitt (IV) der in der ersten Analyse erreichten Situation, indem ich gleichsam nach ihrer Kehrseite frage und hervorhebe, dass eine jede Analyse den blinden Fleck verdeckt, den ihr Grundbegriff besetzt. Während der erste Blick die dokumentierte Diskussion in narratologischer Bahn auf kulturelle Figuren hin auslegt, gilt dieser zweite Blick dem, was, systematisch verdeckt, die Diskurse antreibt. Um das von der ersten Analyse Verdeckte in den Blick zu nehmen, beziehe mich auf J. Lacans Begriff des Objekts »a«, der seinen Ort auf der Schwelle zwischen der Ordnung des Dings und des in sie einbrechenden Phallus hat (V). Meine Bezugnahme auf Lacan ist durch mein Interesse an Bildungsprozessen bestimmt. Ohne den – auf begrenztem Raum ohnehin nicht einlösbaren – Anspruch, der Komplexität des Lacanschen Denkens gerecht zu werden, nutze ich sein Begriffssystem, um diskursives Bildungsprozesspotenzial sichtbar zu machen, das in einer Analyse verborgen bleibt, die sich auf manifeste Äußerungsfiguren beschränkt. Die Analyse des Diskussionsdokumentes im neuen Theorierahmen, die ich anschließend (VI) zu führen versuche, hebt in der kommunikativen Bezugnahme auf den Diskussionspartner ein Begehren hervor, das in der Negation des A/anderen entwirft, was sich mit Lacan Objekt »a« nennen lässt und als blendendes Substitut die Unmöglichkeit autonomer Selbstverbürgung verschattet. Abschließend (VII) versuche ich, den in der doppelten Analyse gewonnenen Bildungsbegriff zu formulieren. Scheinbar paradox erschließe ich den Begriff eines möglichen Bildungsprozesses aus der Untersuchung eines Dokumentes, das in seiner manifesten Gestalt eben diesen nicht erkennen lässt. In der Einsicht in das, was den möglichen Bildungsprozess blockiert, bewährt und spezifiziert sich jedoch, wenn ich recht sehe, die Auffassung, dass Bildung als Prozess der Be- oder Verarbeitung widerständiger Erfahrung möglich ist. Es bewährt sich die Auffassung, dass ein Bildungsprozess möglich wird, wo widerständige Erfahrung nicht als abstraktes Diskussions-, sondern als Handlungsproblem aufgenommen wird. Als Handlungsproblem macht es einen Bildungsprozess möglich, der in der Achtung der Fremdheit des Anderen ein Welt- und Selbstverhältnis entwirft, in dem sich das Handlungsproblem lösen kann. Aufgegeben wird mit diesem Ergebnis die im Bildungsbegriff wie auch in Vorstellungen interkultureller Kommunikation oft wirksame Norm eines identischen Verstehens. Ersetzt wird diese nicht ungefährliche Norm durch die liberale Vorstellung je konkreter Problembearbeitung durch Partner, die kooperieren, ohne das Problem auch in seiner Tiefenschicht als dasselbe deuten zu müssen. 25

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Die vorliegende Arbeit selbst ordnet sich der Herausforderung eines Erkenntnisprozesses unter, der durch die Erfahrung des Scheiterns jener Diskussion ausgelöst ist. Die dokumentierte Diskussion gilt Rassismuserfahrungen, von denen ein afrikanischer Student in Deutschland berichtet. Als ein an der damaligen Diskussion Beteiligter versuche ich, zur Überwindung des manifesten Scheiterns jener Diskussion dadurch beizutragen, dass ich das verschattete Widerspruchspotenzial auslege, das die verschiedenen Diskurse antreibt. Dass mein Text nur produktiv ist, wenn er, bezogen auf den in Frage stehenden Konflikt 6 , zeigt, wie ein Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses möglich ist, ist eine Ricœur verpflichtete Einsicht, dass Texte als Konfigurationen zu begreifen seien, die erst in der refigurierenden Lektüre durch Andere zum Entwurf einer anderen Welt werden. Der Entwurf einer anderen Welt und eines anderen Selbst führt nicht zu einem Text, der den Widerstreit der Diskurse überwindet, indem er das Widerstreitende in Hegelscher Versöhnung auf den Begriff brächte und aufhöbe. 7 Mein Text kann nur einen möglichen Weg konfigurieren, dessen refigurierende Lektüre in einen Welt- und Selbstentwurf einmünden mag, der an die Stelle dessen tritt, was in der Diskussion lähmend repetiert wird. Ein Bildungsprozess ereignet sich meiner Annahme nach als Entwurf eines Welt- und Selbstverhältnisses, der um den Preis neuer Verschattung ins Licht setzt, was vorausgehende Entwürfe verdeckten. Dieser Text ist eine Skizze. Deren Ausarbeitung bleibt umfangreicherer Arbeit vorbehalten. In ihr wird zu erproben sein, ob der hier gefundene Begriff allgemein für Bildung als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen gilt, die der Interpretation innerhalb eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen. Bewährt sich der Weg, Bildungsprozesspotenziale in der Verbindung eines texttheoretisch-narratologischen Blicks auf kulturelle Figu6

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Ich setze nicht bei der Klärung des Rassismusbegriffs und seiner historischen Hypothek an. Vielmehr nehme ich Rassismus als ein Thema, an dem sich die Struktur des gesuchten Bildungsprozessbegriffs exemplarisch zeigen kann. Die Rede vom Entwurf eines Welt- und Selbstverhältnisses schließt ein, dass Welt und Selbst auch anders entworfen werden können. Mit dieser Vorstellung ist ausgeschlossen, dass Bildung Verstehen im Sinne einer Einfühlung oder Einschmelzung ins Andere, ins Fremde ist. Die Sehnsucht nach differenzloser Identifikation mit dem Anderen als Person schlägt leicht in Figuren eines anderen kulturellen Imperialismus um, der nicht dadurch unschuldiger wird, dass er vom Willen zur Anerkennung getragen wird. Manche Vorstellung interkultureller Kommunikation, eine andere Kultur zu achten, indem man kraft empathischer Identifikation in ihr heimisch werde, wird dort, wo jenseits eines nur zuschauenden Denkens und Deutens, das unschuldig zu bleiben wähnt, auch zu handeln ist, in der Einsicht zersetzt, dass sich die Differenz von Vertrautem und Fremdem in Diskursen entwirft, die das Vertraute und das Fremde kraft symbolischer Artikulation transformieren, und das heißt, in ihrer Originalität zerstören. Unschuldige transkulturelle Bezugnahmen gibt es nicht (vgl. etwa Clifford 1993). Artikulierte Bezugnahme verändert die Bezug Nehmenden wie auch die, auf die Bezug genommen wird – was immer wechselseitig gilt. Der Blick des Fremden trifft die Einheimischen – und umgekehrt. Ob ein Entwurf angemessen, produktiv oder reich ist und den Namen der Bildung zu Recht trägt, entscheidet sich erst in der Geschichte seiner Fortsetzungen, also stets nur in Vorläufigkeit.

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ration mit einem psychoanalytischen Blick auf Potenziale eines Begehrens zu identifizieren und verschattetes Subjektivierungsbegehren für Welt- und Selbstentwürfe verantwortlich zu machen, in denen sich das Potenzial kultureller Figuren ausspielt?

„Bewährbare Zugänglichkeit des Fremden in der Form des original Unzugänglichen“ Das untersuchte Dokument ist das Transkript eines Streitgesprächs zwischen Kameruner und deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über ein lebensgeschichtliches Interview, in dem ein Student aus Kamerun über seine Rassismuserfahrungen in Deutschland spricht. Die Transkription präsentiert die Diskussion als Text, und die Sprecher, die im Transkript erscheinen, sind textuelle Instanzen. Zwar macht diese methodische Zurückhaltung die Antwort schwierig, wer oder was die Subjekte sind, die die Diskussion führen. Aber schwierig ist die Frage nach dem Subjekt spätestens seit Freuds berühmtem Satz, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei (vgl. Freud 1982: 284). S. Freud hatte die Abhängigkeit des Ich vom Unbewussten im Blick. Doch er wusste auch, dass „Dauerspuren“ 8 des symbolisch-kulturellen Kosmos, vermittelt durch das Über-Ich, am unbewussten Aufbau des Ich teilhaben und die Selbstgewissheit des cartesianisch reinen Bewusstseins-Ichs unterhöhlen. Unter einer interkulturell genannten Kommunikation wird gewöhnlich eine Kommunikation kulturell verschiedener, einander mehr oder weniger fremder Individuen oder Gruppen verstanden. Oft ist die Vorstellung interkultureller Kommunikation vom Ideal geprägt, den Fremden, den Anderen zu verstehen. Dabei bleibt oft unausgesprochen, dass das Verstehen des Fremden im Rahmen von Figuren gedacht wird, die dem eigenen Bewusstsein zugänglich sind. Zu fragen ist hier, wie ein Bezug auf Fremdes möglich ist, der das Fremde als Fremdes anerkennt, statt es vom Eigenen aus zu denken und es damit tendenziell imperialer Interpretation auszusetzen. B. Waldenfels antwortet auf diese Frage mit der Aussage, dass das Fremde, das uns anspricht, nicht einfach zugänglich sei (vgl. Waldenfels 1997: 16 ff.). Den Grund für diese Verengung sieht er in dem Umstand, dass wir Kultur in einem begrifflichen Rahmen begreifen, der in frühen Gesellschaften wie der der klassischen Griechen als „mythischer Rahmen“ eingeführt und als „kosmisches Ordnungsgefüge“ bereitgestellt worden sei, „der Eigenes und Fremdes“ umgreift (ebd.: 16). Diese, so darf man ergänzen, auch heute noch nachwirkende Figur sei erst brüchig geworden, als zu Beginn der Neuzeit „die ‚Kette des Seins‘, die einstmals alles 8

Vgl. Freud 1975b: 366. Der Ausdruck Dauer- oder Erinnerungsspuren (der Erregung) wird von Freud in seinen metapsychologischen Arbeiten häufig verwendet. Er gilt der Inkompatibilität von Bewusstsein und Erinnerung.

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mit allem verknüpfte, zerreißt“ (ebd.). Damit habe die „Gesamtordnung“ und mit ihr die Vernunft die Kraft des das je Besondere immer schon in sich Begreifenden verloren. Mit dem Verlust der Gesamtordnung sei „das Fremde ausdrücklich und unwiderruflich in den Kern der Vernunft und in den Kern des Eigenen“ eingedrungen (ebd.: 17). Das Fremde sei jedoch in der paradoxen Weise in den Kern des Eigenen eingedrungen, dass es sich zeige, indem es sich uns entziehe (vgl. ebd.: 18). Das Paradox des Fremden, das sich zeige, indem es sich nicht zeige, erläutert Waldenfels in Anlehnung an Husserls Formel der „bewährbaren Zugänglichkeit des Fremden in der Form des original Unzugänglichen“ (Waldenfels 1997: 25). Fremdes trete in der Form von Ansprüchen auf, „die eine Erfahrung von Fremdem in Gang setzen“ (ebd.: 18). ‚Erfahrung machen‘ heiße etwas „durchmachen“, was seine Qualität in der Intentionalität im Sinne Husserls habe, die darin bestehe, das uns „etwas als etwas, also in einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint“ (ebd.: 19). Da ein Sachverhalt für uns durch die Art des Zugangs zu ihm bestimmt sei, seien Sachverhalt und Zugangsart nicht zu scheiden. Da also die Zugangsart entscheide, als was uns ein Sachverhalt erscheint, sei alle Erfahrung auf „Ordnungen“ (ebd.) verwiesen, die mögliche Zugangsarten festlegen. Der Umstand, dass verschiedene Ordnungen und mit ihnen verschiedene Zugangsarten spezifische Erfahrungen ermöglichen und andere ausschließen, so dass alle Wahrnehmung ein Zugleich von In- und Exklusion sei, bedeute, dass es je bestimmte Ordnungen gebe, dass es aber die „eine einzige Ordnung“ (ebd.: 20) nicht geben könne. Die Formulierung verweist nicht nur darauf, dass Wahrnehmung stets meine Wahrnehmung ist. Wichtiger noch ist, dass Wahrnehmung nur in einer semiotisch figurierten Ordnung bewusst werden kann. Meine Wahrnehmung ist an die symbolisch figurierte Ordnung meines Hier und Jetzt gebunden, so dass sie von der Ordnung eines Anderen unterschieden ist, ohne dass es eine beide vereinende Meta-Ordnung gibt. Waldenfels’ Vorstellung von Eigenem und Fremdem folgt keiner von außen auf beide projizierten Identitätslogik a = nicht b. Er sieht das Fremde nicht vom Eigenen vermöge eines tertium comparationis als eines sie einenden Kriteriums unterschieden. Vielmehr stehe Fremdes dem Eigenen kraft seiner anderen Ordnungsfiguren entgegen. Indem es aus einer „gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung“ hervorgehe, sei es vom Eigenen ähnlich wie das Schlafen vom Wachen durch eine Schwelle getrennt (Waldenfels 1997: 21). In meinen Ordnungsfiguren zugänglich gemacht bleibe unzugänglich, was in meinen Ordnungsfiguren keine symbolische Gestalt findet. Waldenfels’ topologische Rede von der Schwelle ist nicht zufällig gewählt. Sie bewahrt die Leibbindung der Ordnungsfiguren. Da es nicht möglich sei, zugleich auf beiden Seiten der Schwelle zu stehen, könne es eine absolute, vom Hier und Jetzt ganz abgelöste, von einem abstrakten Bewusstsein getragene 28

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und alle besonderen Ordnungen umgreifende Ordnung nicht geben, wie Waldenfels mit der Geschlechterdifferenz verdeutlicht, in der es „keinen neutralen‚ dritten Menschen‘ [sc. gibt], der voraussetzungslos zwischen Mann und Frau unterscheiden könnte“ (ebd.: 20). Waldenfels entfaltet das Motiv der Schwelle samt seiner Funktion für die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem durch den Freudschen, von J. Lacan prominent aufgenommenen Begriff der Identifizierung (Waldenfels 1997: 22). Sie bedeute jene Verwandlung, durch die „ich ich selbst werde durch Einbeziehung anderer“ (ebd.). In Anspielung auf den ödipalen Konflikt, durch den das Kind Freud zufolge die im Begehren entspringende Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil durch Identifikation mit diesem in eine lebbare Ordnung bringt, sowie in Auslegung dieses Motivs auf die Identifikation mit dem von William James betonten social self, das George Herbert Mead zum generalisierten Anderen erhebt, skizziert Waldenfels die Ordnung des Eigenen als eine Wir-Ordnung. Fremdheit bedeute folglich „Nichtzugehörigkeit zu einem Wir“ (ebd.). Da das Eigene an die Wir-Ordnung des leiblich gelebten Ortes gebunden sei, gebe es das Fremde unabhängig von ihr ebenso wenig, wie es das Eigene überhaupt gebe. Eigenes und Fremdes seien korrelative Begriffe, so dass ein Fremdes überhaupt zu behaupten ebenso monströs sei wie die Behauptung eines Links überhaupt. Stattdessen seien verschiedene, mit der Zugänglichkeit des Fremden verbundene Fremdheitsstile zu unterscheiden und Fremdheit bestimme sich, wie Waldenfels mit Husserl formuliert, „okkasionell“ (Waldenfels 1997: 23). Da es keine lebbare Metaposition zu diesen Begriffen gebe, seien sie nicht Terme, sondern „Topoi“ (ebd.), eben verschiedene Orte der Erfahrung, an denen zugleich zu sein unmöglich sei. Auch hier beruft sich Waldenfels auf Husserls Theorie der Fremderfahrung. Da der Ort des Fremden vom Ort des Eigenen durch eine Schwelle geschieden sei, sei er „im vollen Sinne gar nicht zu erreichen“ (Waldenfels 1997: 24). Mit dieser Aussage distanziert er sich ausdrücklich von Kommunikationsund Sprachtheorien, die, indem sie die Möglichkeit von Verständigung „auf dem vorgegebenen Boden einer Gemeinsamkeit“ (ebd.: 25) immer schon unterstellen, das voraussetzen, was gerade in Frage stehe. Waldenfels vermeidet gleichermaßen die hier nahe liegenden Fallen sowohl eines kulturellen Relativismus wie auch die eines das Fremde in sich aufhebenden Universalismus. Er entfaltet vielmehr Husserls Überlegung, dass „das Wesen des Fremden in der ‚bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen‘“ zu suchen sei. Diese Husserlsche Überlegung meide die cartesianische Frage, was das Wesen des Fremden sei, eine Frage, die die Existenz des Fremden als eines befragbaren Objekts voraussetze, auf das man sich durch Einfühlung oder Analogieschluss beziehen zu können meine, sich damit aber einer „petitio principii“ schuldig mache (Waldenfels 1997: 25). Stattdes29

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sen sei Husserls Einsicht zu folgen, „Fremdheit durch die Art ihrer Zugänglichkeit“ (ebd.: 26) bestimmt zu sehen. Mit der Bestimmung der Fremdheit durch die Art ihrer Zugänglichkeit ist das markante Argument benannt, dem ich meine weitere Untersuchung zu verpflichten suche. Die Bindung des Eigenen und des Fremden an zwei Topoi führt in die Frage, wie vom Ort des Eigenen aus ein Bezug auf Fremdes und seinen Ort unter der Bedingung möglich sei, dass der Ort des Fremden vom Ort des Eigenen durch eine Schwelle originaler Unzugänglichkeit geschieden ist. Waldenfels nähert sich dem Paradox der Zugänglichkeit des Fremden als der „Zugänglichkeit eines original Unzugänglichen“ in topologischer Begrifflichkeit: „Der Ort des Fremden in der Erfahrung ist streng genommen ein Nicht-Ort. Das Fremde ist nicht einfach anderswo. Es ist das Anderswo, und zwar eine ‚originäre Form des Anderswo‘“, wie er Merleau-Ponty zitiert (Waldenfels 1997: 26; Hervorhebung im Orig.). Das Fremde gleiche „dem Vergangenen, das nirgends anders zu finden ist als […] in der Erinnerung“ (ebd.). Man darf in diesem Vergleich vielleicht eine Anspielung auf Freuds schon zitierte Gedächtnistheorie sehen. Ihr folgend können Erfahrungen „Erinnerungsspuren“ hinterlassen, die als „Bahnungen“ der Erfahrungsverarbeitung fungieren, ohne selbst als semiotisch verfasste und deshalb dem Bewusstsein zugängliche Erfahrungen präsent zu sein. Wenn Waldenfels dem Fremden eine „Art leibhaftiger Abwesenheit“ (ebd.) zuspricht, kann die leibhaftige Abwesenheit im angedeuteten Sinne Freuds als Hinterlassenschaft verstanden werden, die der oder das Fremde am Ort des Eigenen hinterlassen könne, ohne in der bewussten Ordnung des Eigenen zu erscheinen (vgl. ebd.: 27). Noch komplizierter werde die Diskussion durch die neuzeitliche Dezentrierung des Subjekts, die zu der Einsicht geführt habe, dass auch das „Terrain des Eigenen“ durch eine „Fremdheit meiner selbst“ oder „Fremdheit unserer selbst“ (Waldenfels 1997: 27) durch- und zersetzt sei, so dass das Ich, unhintergehbar in aussagendes und ausgesagtes Ich geschieden, nicht mehr als eine einheitliche Instanz gedacht werden könne, eine Einsicht, die, wenn sie unklug behandelt werde, in die Aporie einer allgemeinen, auch das Eigene durchtränkenden Fremdheit führen und jede Differenz zwischen Eigenem und Fremdem auflösen könne. Gegen sie beruft sich Waldenfels erneut auf Husserls paradoxes Argument der „bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“. Sie legt er so aus, „daß etwas da ist, indem es nicht da ist und sich uns entzieht“ (ebd.: 29). Fremderfahrung werde im Horizont der aus der platonischen Philosophie bekannten Figur abwesender Anwesenheit möglich. Diese Figur abwesender Anwesenheit ist hier jedoch, anders als bei Platon, ohne den Bezug auf eine Idee zu denken, die Eigenes und Fremdes zu einen suggeriert, indem beidem eine fassbare Gestalt zugesprochen wird, von der her der Ort des Hier und Jetzt seine Kontur erhalte. Dagegen sei die Erfahrung des Frem30

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den nur im Respekt vor der Schwelle zu würdigen, die die Unzugänglichkeit des Fremden vom Eigenen aus markiere. Das Fremde, das sich den Gestaltungsfiguren des Eigenen nicht fügt, sei nur als ein Anspruch aufzunehmen, auf den zu antworten sei. Vielleicht ist dieser Vorgang in Anlehnung an die Spiegelerfahrung zu denken, für die Lacan argumentiert, dass das Spiegelbild (moi) kein Abbild meiner selbst, sondern eine vom Abbild systematisch abweichende 9 Gestalt sei, die sich dem Anderen verdanke, der meinen Blick kreuze. So verstanden ist das Ich, das den Anspruch des Fremden aufzunehmen sucht, am Ort seines Hier und Jetzt, jedoch nicht als ein cartesianisches Subjekt eines selbstreferenziellen Bewusstseins. Es erscheint vielmehr als ein Ich, dessen Gestalt sich dem konstitutiven Differenzeffekt des ansprechenden Blicks des Anderen verdankt, der ihm durch den Spiegel vermittelt entgegentritt. Wenn aber zutrifft, dass die Gestalt des Ich unhintergehbar an den Blick des Anderen gebunden ist, lebt das Ich auf jener Schwelle, die die ihm zugesprochenen, seinem Bewusstsein zugänglichen Figuren seiner Hier-und-JetztGestalt von jenem Unbewussten scheidet, dessen Gestaltlosigkeit sich jenen Figuren entzieht. Der Anspruch des Fremden, verstanden als „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“, siedelt auf der Schwelle, die das Ich als strukturelle Differenz von Gestalt und Gestaltlosigkeit, von Ordnung und Nicht-Ordnung, von Figur und Nicht-Figur in sich trägt. Wenn der als Bahnung wirksame, aber in der Erfahrung des Fremden gestalthaft nicht gegenwärtige Blick ermöglicht, was Waldenfels den Anspruch des Fremden nennt, dann ist die Beziehung zwischen Anspruch und Antwort anderes, als die Worte im Alltagssinn nahe legen. Das Ich kann dem Anspruch dann und nur dann antwortend entsprechen, wenn der Anspruch jene dem konstitutiven Blick des Anderen ursprünglich entliehene Ordnung des Ich so erregt, dass diese Ordnung in Frage gerät und sich im neuen Blick zu neuer Gestalt, zu neuem Entwurf öffnet. Waldenfels’ Reflexion auf das Fremde erlaubt, den bildungstheoretisch zentralen Gehalt in der Zuschärfung des Motivs abwesender Anwesenheit zusammenfassen. In der Aussage „Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht“ (Waldenfels 1997: 42) übersetzt Waldenfels das platonisch-ontologische Motiv in ein Handlungs- und Kommunikationsmotiv. Dem Fremden sei nicht dadurch zu begegnen, dass man es bespreche und direkt auf es zugehe (vgl. ebd.: 51). Statt zu fragen, was das Fremde sei und wozu es diene, sei „von der Beunruhigung durch das Fremde auszugehen“ (ebd.; Hervorhebung im Orig.). Diese zunächst vielleicht harmlos erscheinende Formulierung, die an gängige Sensibilisierungs- oder auch Gegenübertragungstheorien erinnern könnte, hat im Waldenfels’schen Kontext die starke Bedeutung, dass die Erfahrung des Fremden in der Wahrnahme des dezentrierten, des durch den Spiegelblick des 9

Z. B. durch die Rechts-Links-Vertauschung, die etwa bei kontrollierten Bewegungen vor dem Spiegel kognitiv durchaus mühsam zu disziplinieren ist.

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Andren aus seinem Zentrum ver-rückten Subjekts selbst ansetzt. Auf die Beunruhigung durch das Fremde antworten heißt hier, das mich ansprechende Fremde als erregenden Eingriff in meine Ordnung zu erfahren und jede Antwort, die ich zu geben versuche, als Moment eines Prozesses zu entwerfen, in dem ich dem, was sich den Figuren meiner Ordnung entzieht, eine andere Gestalt zu geben suche, eine Gestalt, unter deren Gebot ich, wissend, dass sie als Gestalt aus dem Erregungspotenzial meiner Ordnungsfiguren dem Anspruch des Fremden nie in seiner originalen Unzugänglichkeit entsprechen kann, eine für den Anderen und für mich lebbare Ordnung zu entwerfen suche. Die Schwelle meiner Ordnung kann ich nicht in der Weise überschreiten, dass ich mich in die Ordnung des Anderen versetze. Da eine jede Ordnung, die eigene wie die fremde, das vorgestalthaft Amorphe ihrer Herkunft als vergessenes Erbe in sich trägt, ist sie kein Ort, an den ich gehen könnte. Zugänglich wird sie mir nur, indem ich auf die Spuren antworte, die ihr Anspruch kraft seiner dem Amorphen abgerungenen Gestalt in meiner dem Amorphen abgerungenen Ordnung auslöst. Einfacher formuliert: Auf den Anspruch des Fremden kann ich nur antworten, indem ich eingedenk des Grauens, der Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen, dem meine Ordnung abgewonnen ist, eben diese meine Ordnung durch das Oszillieren eines Grauens, einer Angst aufstören lasse, der auch jener Anspruch abgewonnen ist, und eine Ordnung erfinde, in der sich der Anspruch des Fremden auslegen lässt. Dem einfachen Blick auf die Aussagen des Anderen, auf deren vermeintlichen Inhalt oder deren Proposition bleibt die Fremdheit des Fremden unzugänglich. Um Waldenfels’ Einsicht empirisch-analytisch nutzen zu können, bedarf sie methodischer Konkretion. Die Richtung meines ersten Konkretionsversuchs ist durch den Umstand vorgegeben, dass der fremde Anspruch – etwa im Rahmen einer Diskussion – Spuren zeitigt, die sich ebenso wie die Antwort als Text figurieren, dessen Figuren transkribiert zum Gegenstand der Analyse werden können. Die Objektivation der Spuren zum Transkript textueller Figuren muss methodologisch jedoch der Einsicht in die originale Unzugänglichkeit des Fremden verpflichtet bleiben.

Zugänglichkeit des original Unzugänglichen und die dreifache Mimesis Einen hier hilfreichen Textbegriff entwickelt P. Ricœur in seiner Erzähltheorie. Ricœur weist das Erzählen als Existenzial menschlichen In-der-Welt-Seins aus, das sich als Weltentwurf vollziehe. Weltentwürfe sind für ihn notwendige Artikulationen humaner Existenz, da uns Welt nie als solche gegeben sei, sondern stets nur als „Welt“ figuriert werde. Die Figuration von Welt als „Welt“

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ermöglicht Ricœur zufolge, die Grenzen einer Ordnung zu sichern oder im Entwurf einer anderen „Welt“ zu verändern. Seine dreibändige Untersuchung „Zeit und Erzählung“ leitet Ricœur (1988-91) mit dem Gegensatz von Dissonanz und Konsonanz ein. Im Ausgang von diesen Begriffen und den Orten ihres historisch-systematischen Auftretens entfaltet er das Strukturprinzip des Erzählens als Synthesis des Widerspruchs, die er zuvor 10 als das Prinzip der Metapher herausgearbeitet hatte. Den Begriff der Dissonanz entnimmt er Augustins Zeitreflexion, den der Konsonanz Aristoteles’ Poetik. Ricœur zeichnet zunächst Augustins aporetische Reflexion über die Zeit nach, die dieser im 11. Buch seiner „Bekenntnisse“ führt. Die Aporie bestehe im Widerspruch vom Sein der Zeit und von ihrem Nichtsein, der darin bestehe, dass wir uns sprechend auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als etwas Seiendes beziehen, während doch im Moment des Sprechens Vergangenheit schon vergangen und Zukunft noch nicht wirklich sei. Beide seien also nicht. Auch für die Gegenwart gelte die Aporie. Denn Gegenwart sei nicht als immer dauernde. So entstehe das ontologisch paradoxe Problem, „wie […] man das Positive der Verben ‚vergangensein‘, ‚eintreten‘, ‚sein‘ mit dem Negativen der Adverbien ‚nicht mehr‘, ‚noch nicht‘ und ‚nicht immer“ vereinbaren könne (Ricœur 1988-91: I, 19). Es mag die Augustinsche Zeitreflexion als eine Reflexion erscheinen, die nur einen eher nebensächlichen Aspekt des Erzählens thematisiert. Dies ist jedoch nicht so. Ricœur beharrt zu Recht auf der engen Bindung des Erzählens an das Zeitproblem. Denn ein Erzählen, wenn es denn das Entwerfen von „Welt“ ist, kann die Einheit des Erzählten nur als zeitlichen Prozess vorstellen. Zweitrangig ist dabei, ob Zeit erzählend als fiktive oder als soziale Zeit vorgestellt wird. Zweitrangig ist dabei ebenfalls, mit welchen Mitteln in welcher Kultur Zeit vorgestellt wird. (Dass es z. B. im Chinesischen keine Zeitbestimmungen auf der Ebene der Verben gibt, heißt nicht, dass dort nicht erzählt werden könnte.) Die Augustinsche Zeitaporie von Sein und Nichtsein wird von Ricœur als fundamentale Dissonanz aufgefasst, die dem Erzählen zu Grunde liege. Erzählen erscheint damit als ein in die Dissonanz hinein gestellter Prozess des Vorstellens, in dem sich der Erzähler erzählend der Dissonanz von Sein und Nichtsein aussetzt und diese zu lösen sucht, ohne sie als Dissonanz auflösen zu können. Ricœur zufolge kann er nur auf die Dissonanz antworten, indem er sie erzählend in eine Gestalt der Konsonanz bringt. Ähnlich wie Waldenfels zufolge das Fremde auf der Schwelle von Gestalt und Nicht-Gestalt als Anspruch wahrzunehmen ist, auf das auf jener Schwelle zu antworten sei, versteht Ricœur die Zeitaporie als Anspruch, auf den erzäh10 In der 5. Studie: Metapher und Referenz des Buches Die lebendige Metapher (vgl. Ricœur 1986: 209 ff.).

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lend zu antworten sei. Der Anspruch der Zeitaporie ist jedoch schärfer als der des Fremden. Zwar fordern beide eine Antwort. Doch dem Anspruch des Fremden lässt sich – wenn auch nur scheinbar – ausweichen, indem man sich im Eigenen einhaust. Ricœur erkennt dagegen die Zeitaporie als ontologisches Fundamentalproblem, dem sich nicht ausweichen lasse. Dies ist der Grund, weshalb Ricœur das Erzählen als fundamentale, das Leben als menschliches ermöglichende Praxis thematisiert. Um der Antwort auf die Zeitaporie einen ersten Begriff zu geben, folgt Ricœur Aristoteles. Dabei liest er dessen „Poetik“, unbekümmert um die etwa 700 Jahre Vorgängigkeit zu Augustin, als systematischen Komplementärtext zu dessen „Bekenntnissen“: „Augustin seufzt infolge des existentiellen Zwanges der Dissonanz. Aristoteles erkennt im dichterischen Akt schlechthin – der Komposition des tragischen Gedichtes – den Triumph der Konsonanz über die Dissonanz. Selbstverständlich bin ich es“, fährt Ricœur fort, „als Leser von Augustinus und Aristoteles, der diesen Zusammenhang zwischen einer lebendigen Erfahrung, in der die Dissonanz die Konsonanz zerreißt, und einer im besonderen Sinne sprachlichen Tätigkeit herstellt, in der die Konsonanz die Dissonanz überwindet.“ (Ricœur 1988-91: I, 54) Von Aristoteles übernimmt Ricœur den Begriff der Mimesis. Mimesis, zunächst als Nachahmung übersetzbar, habe im aristotelischen Kontext jedoch einen anderen Gehalt als im platonischen. Für Platon sei das Kunstwerk im Rahmen seiner Ideenlehre mimesis im Sinne einer Nachahmung der Idee, „um zwei Stufen vom idealen Urbild entfernt, das seine letzte Grundlage ist“ (Ricœur 1988-91: I, 59). Für Aristoteles dagegen habe „die mimesis […] nur eine Entfaltungsdimension: die des menschlichen Tuns, der Kompositionskünste“ (ebd.). Um mit Ricœur die Pointe des aristotelischen mimesis-Begriffs hervorzuheben, kann man darauf hinweisen, dass für Platon bekanntlich der Abstand der mimesis zur Idee der Grund war, seine eigene, das Urbild verstellende und deshalb als schlecht beurteilte Dichtung zu vernichten und sich dem Philosophieren als dem vermeintlich unverstellten Schauen der Ideen zuzuwenden, wie es das Höhlengleichnis darstellt. Indem Aristoteles dagegen den ontologischen Bezug der mimesis auf die Ideen aufgibt, stellt er deren praktische Würde heraus. Ricœur folgt Aristoteles in dem Argument, dass mimetische Dichtung als Entfaltung menschlicher Kompositionskünste ein sprachliches Handeln sei, das ohne Verankerung in der platonischen Idee die Dissonanz in Gestalten der Konsonanz bindet, und das heißt: das gleichsam von sich aus Disparate als einen zutreffenden – einen „pertinenten“ (ebd.: 7 und passim) – Zusammenhang entwirft. Die Figur solcher Bindung des Dissonanten zur Konsonanz sei für Aristoteles der mythos, was Ricœur als intrigue bzw. mise en intrigue (und der deutsche Übersetzer als Fabel) übersetzt. Gemeint ist damit die sprachliche Artikulation eines welthaltigen Handlungszusammenhangs, der notwendig Zusammenhang in und durch Zeit sei. 34

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Im Problem der Zeitaporie als Anspruch, auf den erzählend zu antworten sei, zeigt sich eine erste Brücke zwischen Ricœurs Narratologie und Waldenfels’ Topographie des Fremden. Das Motiv der als Metapher oder als intrigue, nie jedoch vor aller Figuration sagbaren Bindung des Dissonanten zur Konsonanz ist die zweite Brücke. Denn die Bindung des Dissonanten zur Konsonanz formuliert die „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“, sofern Metapher und Erzählung die Figur eines sagbaren Zugangs hervorbringen, der original, das heißt außerhalb der neuen Sagbarkeit nicht besteht. Es liegt also nah, Ricœurs Narratologie als ein Konzept zu nutzen, um das Motiv des Fremden, das sich zeigt, indem es sich entzieht, im Raum sprachlichen Handelns theoretisch zu entfalten. Indem Metapher und Erzählung Ricœur zufolge Welt in sprachlicher Figuration als Konsonanz des Dissonanten konstituieren, erlauben sie, auf den Anspruch des Fremden auf der Schwelle meiner Ordnung zu antworten, ihm jedoch zugleich im Wissen seiner ontologischen Bodenlosigkeit seine originale Unzugänglichkeit zu bewahren. Metapher und Erzählung sind Ricœur zufolge Modi weltlich-humaner Existenz, sofern sie Dissonantes im prädikativen Raum bildhaft-sagbarer Ordnung hervor- und zu imaginär-symbolischer Konsonanz bringen, ohne ihm cartesianische Gewissheit zuzusprechen. Ricœurs Erzähltheorie erlaubt, narratologisch die Erfahrung zu entfalten, dass „das Fremde ausdrücklich und unwiderruflich in den Kern der Vernunft und in den Kern des Eigenen“ (vgl. oben S. 28) eingedrungen ist. Sie erlaubt, das Fremde als sprachlich zugänglich zu denken und darin seine originale Unzugänglichkeit zu achten. Sie entfaltet das seit Nietzsche virulente Motiv, dass humane Welt nur figurierte, gleichsam in Anführungszeichen gesetzte „Welt“ diesseits der Schwelle des Nichts ist, das in imaginär-symbolischen Ordnungsentwürfen human lebbar wird. Ricœurs Erzählbegriff umfasst fiktionales und historisches Erzählen. Er umfasst alles Sprechen, das etwas als Sachverhalt zur Sprache bringt und alte Ordnungen anerkennt oder neue Ordnungen entwirft. Im Prozess des Erzählens unterscheidet Ricœur drei Phasen, Mimesis I, Mimesis II und Mimesis III. Grob vereinfacht (zum Folgenden vgl. Ricœur 1988-91: I, 90 ff.) meint Mimesis I, die Phase der Präfiguration, den Umstand, dass sich jede Erzählung aus Figuren speist, die als Elemente möglicher Bedeutung im Sprachvorrat einer Kultur bereit liegen. Konfiguration nennt Ricœur den Akt der Mimesis II, der diese Figuren zu einem textuellen Ensemble neuer Bedeutungen synthetisiert. Realisiert sieht er die neuen Bedeutungen im Akt der Refiguration, der Mimesis III als dem Akt der Lektüre. Sie bestehe darin, die zum Text konfigurierten Bedeutungen als refigurierenden Entwurf einer „Welt“ wirklich werden zu lassen. In diesem Rahmen klärt Ricœur das Problem des Erzählers, das erzähltheoretische Pendant zum Subjektproblem, durch die Unterscheidung zwischen empirischem und impliziertem Autor (vgl. Ricœur 1988-91: III, 258). Den im 35

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konfigurierten Text auftretenden Erzähler, der in der Erzählung selbst konfiguriert wird, nennt er den „implizierten Erzähler“, in dessen Gestalt allein ein empirischer Erzähler auftreten könne. Er sei im Prozess von Prä-, Kon- und Refiguration nur in der Weise gegeben, in der die Erzählerfigur aus präfigurativen Elementen konfigurierend synthetisiert und refigurierend ausgelegt wird. Was man den präfigurativen Gehalt des empirischen Subjekts nennen kann, kann sich seiner narratologischen Einsicht zufolge nur in der dreifachen Mimesis zur Geltung bringen. Der empirische Erzähler, der nur in der Gestalt des implizierten Erzählers erscheine, sei dem Text ebenso unzugänglich wie, so ergänze ich, jener Gehalt des Ich, der sich der Gestalt entzieht, die ihm vom Spiegelblick zugesprochen wird. Ricœur deutet das Erzählen als Entwurf von „Welt“. Damit legt er den Erzählprozess grundsätzlich als Überschreitung je gegebener „Welt“ aus. Die Überschreitung je gegebener „Welt“, eine Ordnung in dem von Waldenfels betonten Sinn, vollzieht sich Ricœur zufolge als Prozess, der das kulturell Präfigurierte zu einem Text konfiguriert, der Weltentwürfe ermöglicht, die in refigurierender Lektüre wirklich werden können. Ein solcher Entwurf einer „Welt“ schließt verschiedene Möglichkeiten ein. In der Konfiguration der Mimesis II und in ihrer Refiguration als Mimesis III kann er eine schon gegebene „Welt“ als deren spiegelnde Wiederholung stabilisieren oder in deren Brechung oder Überschreitung eine neue „Welt“ hervorbringen. Folgt man dieser Einsicht, dann ist empirisch sowohl nach sprachlich-figurativen Prozessen zu fragen, in denen neue Weltentwürfe aufscheinen, als auch nach Prozessen, in denen gegebene Weltentwürfe stabilisiert werden.

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Schematisch vereinfacht lässt sich der Prozess der dreifachen Mimesis so darstellen: Mimesis II: Konfigurationen der präfigurierten Elemente zum Text Mimesis I: kulturell präfigurierte Elemente

Mimesis III: verschiedene Refigurationen (Lektüren) des Konfigurierten Textes zu Weltentwürfen

Figur 1: Die 3 Mimesis-Phasen nach Ricœur Waldenfels denkt die Bezugnahme auf Fremdes in der Auslegung der Husserlschen Formel von der bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen. Ricœurs mimetischer „Welt“-Entwurf lässt sich als eine narratologische Fassung der Zugänglichkeit des original Unzugänglichen lesen. Denn die dreifache Mimesis macht textuell zugänglich, was vor oder außerhalb textueller Fassung unzugänglich ist. Sie entwirft nicht einen Weg hin zu einem Fremden, das als Objekt an anderem Ort gegeben wäre. Vielmehr ist sie Entwurf in dem Sinn, dass allererst die mimetische Kon- und Refiguration jene Struktur Grund legender Differenz entwirft, vermöge derer Subjekt und Objekt so auseinander treten, dass sich das Subjekt auf das Objekt beziehen kann. Jeder mimetische Entwurf von „Welt“ wiederholt die ursprüngliche Setzung, durch die Welt als „Welt“ erkennbar und ein Ort des Handelns wird. Original unzugänglich wird Welt zugänglich in narrativen Figuren, die „Welt“ als etwas vorstellen, das uns einem „Vergangenen“ gleich anspricht und „nirgends anders zu finden ist als

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in seinen Nachwirkungen oder in der Erinnerung“ (Waldenfels 1997: 26) 11 , und das Vorgestellte in der Stabilisierung je schon zugänglicher „Welt“ oder deren anderer Restitution der Bewährung aussetzt.

Ein Streit und seine narratologische Analyse Gegenstand der Analyse ist eine strittige Diskussion. Afrikanische und deutsche Teilnehmer eines Kolloquiums streiten, ob ein Situationsverhalten, das der in Deutschland lebende afrikanische Student Bernard 12 in einem biographischen Interview rassistisch nennt, tatsächlich ein Ausdruck von Rassismus sei. In einem McDonalds-Lokal habe er sich vor einer Kasse bis auf den zweiten Platz durchgewartet, als die Nebenkasse eröffnet worden sei und der neue Kassierer, statt ihn, den Afrikaner, zu bedienen, die hinter ihm wartenden Europäer zu vorzeitiger Bedienung hergewinkt habe. Die Diskussion führt in die Verfestigung gegensätzlicher Interpretationen. Während einige deutsche Teilnehmer argumentieren, es könne sich um eine alltägliche Warteschlangenszene handeln und es müsse das Verhalten des Kassierers nicht rassistisch sein, betonen einige afrikanische Teilnehmer seinen eindeutig rassistischen Charakter. In dieser Situation entwirft der deutsche Teilnehmer D einen theoretischen Rahmen für den epistemologischen Status von Rassismuserfahrungen. Rassismus sei kein Objekt, auf das man zeigen, das man in Beschreibungsbegriffen darstellen könne. Verhalten werde als rassistisch interpretiert und als Interpretation durch den einen, den anderen oder beide Handelnden sozial wirksam.

11 „Das Paradox der Husserlschen Bestimmung des Fremden liegt nun darin, daß die Zugänglichkeit sich als Zugänglichkeit eines Unzugänglichen erweist. Der Ort des Fremden in der Erfahrung ist streng genommen ein Nicht-Ort. Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo, und zwar eine ‚originäre Form des Anderswo‘. […] (sc. Es ist) die Fremderfahrung als Erfahrung der Ferne vor dem Gegensatz von Ja und Nein anzusetzen […] Insofern handelt es sich bei der Bestimmung des Fremden nicht […] um eine negative Definition. Das Fremde stellt kein Defizit dar wie all das, was wir zwar noch nicht kennen, was aber auf seine Erkenntnis wartet und an sich erkennbar ist. Vielmehr haben wir es mit einer Art leibhaftiger Abwesenheit zu tun. Das Fremde gleicht dem Vergangenen, das nirgends anders zu finden ist als in seinen Nachwirkungen oder in der Erinnerung.“ (Waldenfels 1997: 26) – Ich rücke in meiner Argumentation Welt in die Nähe des Fremden im Waldenfels’schen Sinn. Gerechtfertigt scheint mir dies durch den Umstand, dass sich die Zugänglichkeit von Welt ebenso wie die von Fremdem der Differenz setzenden Macht verdankt, die mit der symbolisch-imaginären Figuration von „Welt“ auf den Plan tritt. Sie hat ihren ontogenetisch frühesten Ausdruck vermutlich in der Negation, in der sich dieses als nicht jenes erweist und Welt als „Welt“ artikulierbar werden lässt (vgl. zu diesem Problem auch Freud 1975c). In gewisser Weise wiederholt sich, wenn auch auf voraussetzungsreicherem Niveau, in jedem mimetischen „Welt“Entwurf die Ursprung gebende Verneinung. 12 Der Name ist maskiert.

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Diesem Vorschlag wird von den afrikanischen Teilnehmern C1 und C2 widersprochen. Rassistisches Verhalten dürfe nicht als nur individuelles Verhalten verharmlost werden. Es sei ein von Afrikanern in Deutschland objektiv erlebter Tatbestand, der in der rassistischen Rechtsordnung der deutschen Gesellschaft verankert sei und sich im Verhalten der Individuen niederschlage. Der Konflikt lohnt die genauere Untersuchung. Wenn das Argument berechtigt ist, dass mit textuellen Kon- und Refigurationen Möglichkeiten transkultureller Bezugnahmen gesetzt oder nicht gesetzt sind, muss sich die Qualität des in der Diskussion geführten Streits in der textuellen Gestalt kon- und refigurierender Bezugnahme auf die jeweils Anderen und deren „Welt“ erweisen. Deshalb übersetze ich die Frage nach dem Streit über die Rassismus-Erfahrung in die Frage, ob die textuellen Konfigurationen, die das Transkript abbildet, Möglichkeiten transkultureller Bezugnahme im Sinne neuer „Welt“-Entwürfe eröffnen oder beschränken. Der deutsche Sprecher D erläutert seine Aussage, Rassismus sei ein Deutungsbegriff, indem er zwischen der symbolischen und der vorsymbolischen Ebene sozialer Existenz unterscheidet: „Die Hautfarbe ist ein Das, etwas, das ich bin, ohne dass es mir auffällt, das vorrangig zum Auffallen, zur Repräsentation ist. Etwas, zu dem ich mich immer eigentlich nicht bewusst verhalte, erst wenn ich in einen Kontext komme, nicht in Douala, sondern in Deutschland, in einen Kontext komme, wo das Verhältnis der symbolischen Inszenierung oder der symbolischen Repräsentation dieses Das […] als solches problematisch wird, indem die anderen mich bezogen auf das Das, was ich bin, nageln, festzunageln versuchen, singularisieren sie mich in meinem Das. Und ich weiß nicht genau, wie die es machen, aber ich merke diese Differenz, die eingezogen wird. […]. Ich merke diese Differenz […]. Diese Differenz invoziert in mir als demjenigen, der dieses Das hat, um darüber verfügen zu können – das kann auch eine Behinderung oder sonst irgend etwas sein – wer dieses Das hat, es bringt in mir hervor das Problem des Verhältnisses von Das und Was, von dem, was ich als Hautfarbe bin und wie ich normalerweise umgehe, was vollkommen unproblematisch ist, wenn der symbolische Horizont das bestätigt. Also ich kriege dann ein Problem der Singularität an der Stelle, die sich nicht mehr in ein Allgemeines einfach übersetzen lässt, nämlich ein symbolisch konnotiertes Allgemeines.“ (Diskussionstranskript: Zeile 163 ff.)

Die schwierige Formulierung enthält eine weniger schwierige Grundfigur. Hautfarbe werde erst dort zum Problem, wo die Anderen anderer Hautfarbe sind. Kompliziert wird die Formulierung durch die Unterscheidung von Das 13 und Was. Die Selbstverständlichkeit, in einer Gesellschaft Gleichfarbiger zu leben, werde mit der Migration gebrochen, und der Migrant werde in die Dif13 Die Tonaufnahme der Diskussion lässt offen, ob hier ein Das oder ein Dass zu verstehen gegeben oder gehört wird. Da es aber eingeführt wird als ein „etwas, das ich bin“, folge ich der Lesart der Transkription, die es als Das deutet.

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ferenz geworfen. Verursacht sei die Differenzerfahrung durch den Gegensatz zwischen der auffällig gewordenen Hautfarbe, dem Was ihrer symbolisch repräsentierten, sozial wahrgenommenen Gegebenheit, und dem symbolisch nicht repräsentierten Das ihrer gelebten, aber nicht gesagten Existenz. Interessant für das konfigurative Potenzial transkultureller Bezugnahme kann der Gebrauch von Personalpronomina sein. Schon W. v. Humboldt hat in seinem Dualis-Aufsatz die Funktion von Personalpronomina herausgearbeitet, „Welt“ zu konstituieren, und gezeigt, dass mit dem Ich das Nicht-Ich und mit der kulturellen Prägung dieser Differenz ein kulturspezifisches Welt- und ein Selbstverhältnis gesetzt ist (vgl. Humboldt 1979). 14 So verstanden sind Personalpronomina sprachliche Keimzellen, die zur Entscheidung beitragen, in welcher „Welt“, kraft welchen Welt- und Selbstverhältnisses wir auf Andere und auf uns Bezug nehmen. D spricht in der ich-Form. Seine ich-Rede referiert weder auf ein du noch auf ein er, ein wir, ein ihr oder ein sie: „Die Hautfarbe ist ein Das, etwas, das ich bin, ohne dass es mir auffällt […] Ich merke diese Differenz […] Also ich kriege dann ein Problem…“. Dieses ich wird nicht als ein individuelles ich im Sinne einer autobiographischen ich-Erzählung (*als ich neulich in Douala war, ist mir Folgendes passiert) konfiguriert. In ihm konfiguriert sich vielmehr eine Instanz, die sich einerseits an die Stelle eines Kameruners „nicht in Douala, sondern in Deutschland“ setzt und sich andererseits und zugleich als ein anthropologisch verallgemeinertes ich zu verstehen gibt und damit als ein ich zu lesen ist, dem sich stellvertretend für Menschen überhaupt das Schema einer jeden Rassismuserfahrung zeige. Die Konfiguration des ich legt die refigurierende Lektüre auf anthropologische Verallgemeinerung nahe: „Diese Differenz invoziert in mir, als demjenigen, der dieses Das hat […] – wer dieses Das

14 Humboldts erstaunliche Formulierung nimmt manch spätere Einsicht vorweg: „Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seyns ist Einheit. Daher mag es stammen, dass die erste und einfachste Theilung, wo sich das Ganze nur trennt, um sich gleich wieder, als gegliedert, zusammenzuschliessen, in der Natur die vorherrschende, und dem Menschen für den Gedanken die lichtvollste, für die Empfindung die erfreulichste ist. – Besonders entscheidend für die Sprache ist, dass die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgendwo sonst, einnimmt. Alles Sprechen beruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar / in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschengeschlecht in zwei Classen, Einheimische und fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung. […] Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behufe seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit / durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen“ (Humboldt 1979: 137 ff.).

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hat, es bringt in mir hervor, das Problem des Verhältnisses von Das und Was“… Ausdrücklich – die Differenz invoziert in mir –, wird das ich als eines refiguriert, dem die Verfügung über das Was „in mir“ zugesprochen wird, dann im wer verallgemeinert und sogleich asyntaktisch ins ich zurückgeholt: „wer dieses Das hat // es bringt in mir hervor…“ Was zunächst als Antwort auf den sich verfestigenden Streit und auf den Anspruch der Anderen gelesen werden mag, zeigt sich in der Verkettung der Personalpronomina als Entwurf einer Ordnung, die für eine jede Rassismuserfahrung gelte. So lässt sich, was in anderer Refiguration als Figur der Bescheidenheit singulärer ich-Erfahrung gelten könnte, als textuelle Konfiguration eines epistemischen, gleichsam empirisch gewordenen transzendentalen Subjekts lesen, das über die Rassismuserfahrung hinaus Einsicht in den epistemologischen Charakter kultureller Identitätskonstruktion überhaupt habe. Folgt man dieser Refiguration, entwirft die D-Rede in der ich-Figur eine „Welt“, die von der der traditionellen wir-„Welt“ der Bamiléké, der Herkunfts-„Welt“ der C1 und C2, radikal, nämlich in der Grundfigur des „Welt“-Entwurfs verschieden ist. ich (empirisch)

als Afrikaner nicht in Douala, sondern in Deutschland

der empirisch besondere Fall

ich (epistemisch)

das allgemeine Schema begreife Rassismus überhaupt als Differenzphänomen

Figur 2: Die Ambiguität des ‚ich‘ der empirisch-epistemologischen D-Rede Um den Gebrauch der Personalpronomina in der Entgegnung des Sprechers C1 auf die D-Rede verständlich zu machen, ist ein Hinweis notwendig. Die Diskussion wird teils auf Deutsch mit französischer Übersetzung, teils auf Französisch geführt. Weil der Übersetzer auf D als il in der dritten Person Singular verweist, wird das ich der D-Rede in der Übersetzung zum il. Dieses il nimmt der antwortende Sprecher C1 auf.

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Um die Verknüpfung der C1- mit der D-Rede inhaltlich zu erläutern, ist zu ergänzen, dass sich die D-Rede auch auf die vorab diskutierte Frage bezieht, ob man Bernards Rassismuserfahrung als einen Bildungsprozess werten könne. Der Sprecher D hatte argumentiert, dass Rassismus ein Interpretationsphänomen und kein ontologisch Gegebenes sei, weshalb auf der Basis der vorliegenden Bernard-Erzählung unentschieden bleiben müsse, ob es tatsächlich zu einem Bildungsprozess im Sinne einer Einsicht in den Charakter von Rassismus gekommen oder ob Bernard einem unaufgeklärten Rassismus-Begriff verhaftet geblieben sei. C1 entgegnet D in einer längeren, hier in Ausschnitten zitierten Sequenz: „Il dit sur cette base, il est impossible de parler de Bildungsprozess et tout. Ce point, on l’a aussi évoqué dans la logique de l’argumentation de Bernard quand il dit, les gens le font sans […] ils agissent sans se rendre compte de ce qu’ils font. Pour lui, nous avons compris cela comme une argumentation qui systématise la généralisation que Bernard fait du racisme en Allemagne. Il dit, les gens sont tellement racistes qu’ils posent des actes racistes sans se rendre compte qu’ils posent des actes racistes. Partir de ça maintenant pour dire, que si les gens le font sans se rendre compte, on peut dire que quand Bernard réalise, constate cela, il n’y a pas d’évolution dans son comportement. C’est peut-être une façon de dire que cela, mais la réalité étant qu’il s’agissait pour Bernard d’abord premièrement de dire que l’Allemagne dans tout son système est raciste, il est tellement raciste que les gens dans leur comportement quotidien posent des actes sans se rendre compte que ce sont des actes racistes. Et c’est en cela même que le racisme devient très dangereux parce que les gens posent des actes racistes sans se rendre compte qu’ils sont en train de discriminer les autres.“ (Diskussionstranskript: Zeile 272 ff.)

C1 fasst hier zunächst die D-Rede in der Aussage zusammen, D bestreite, dass man von einem Bildungsprozess sprechen könne. Diese Behauptung habe man – on – auch schon ins Spiel gebracht, als man Bernard unterstellt habe, er spreche nur vom unbewusst rassistischen Verhalten der Menschen und verkenne deshalb, was Rassismus sei. Doch diese Aussage sei falsch, weil Bernard seine Aussage nicht auf das individuelle Verhalten der Menschen beziehe. Sein Bildungsprozess bestehe vielmehr in der Einsicht in den wirklichen Charakter des Rassismus, der darin bestehe, dass das gesellschaftliche System Deutschlands rassistisch und dass das Handeln der Menschen rassistisch sei, weil sie vom System und den systemisch vorgegebenen Deutungsfiguren geprägt seien. Der Sprecher C1 refiguriert die D-Rede also als eine Aussage, die individuelles Verhalten verharmlose, weil sie nicht deren systemischen Kern zur Sprache bringe. Ihm setzt er die Aussage entgegen, dass Rassismus gesellschaftlich bedingt sei und sich als gesellschaftliches Verhalten unbedacht in den Individuen niederschlage.

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Die Aussage der gesellschaftlichen Bedingtheit wird von C2, dem zweiten Kameruner Sprecher, bestätigt, an den C1 die Rede übergibt. Die von C2 als entscheidend hinzugefügte Behauptung sagt, dass der Rassismus ein Tatbestand sei, den man erlebt haben müsse, um angemessen über ihn sprechen zu können, und der verfehlt werde, wenn man unabhängig von der erlebten Praxis den Text der Bernard-Erzählung sehe. Indem C2 zurückweist, dass Rassismus in Deutschland nicht existiere und nur ein von den Afrikanern erfundenes Phänomen sei, refiguriert seine Rede die D-Rede, statt als eine epistemologische, als eine Sachverhaltsaussage. Rassismus sei keine Spekulation, er sei keine Einbildung – keine représentation – , er sei eine Realität. C1 D sagt (falsch): dass Bernard den Rassismus verkenne, indem er ihn nur als ein individuelles Verhalten sehe.

Ich, C1, sage aber (richtig): dass Bernard den deutschen Rassismus als ein im System begründetes Verhalten erkennt. Ich, C1, rufe C2, den kundigeren Kenner des deutschen Rassismus auf. Ich, C2, sage, dass D Unrecht hat, weil er nur auf den Text schaut und diesen einer Interpretation unterwirft, ohne die Wirklichkeit wahrzunehmen, die Bernard erlebt.

Rassismus ist Rassismus ist

keine Spekulation, keine Einbildung eine Realität.

Figur 3: Der Gegensatz zwischen D und C1/C2 in der C-Konfiguration Ich kehre zur C1-Rede zurück. Indem der Sprecher C1 auf D als ein il verweist, spricht er zu den anwesenden Anderen über D als den Gegenstand seiner Rede. Damit konfiguriert er eine triadische Struktur, in der er sich als ein ich an die anderen anwesenden du’s wendet und zu ihnen über den aus dem Diskurs ausgeschlossenen er spricht: „(*je vous explique qu’)il dit sur cette base, il est impossible de parler de Bildungsprozess et tout“.

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du (du's) = Andere(r)

anwesend

ich (C1)

er = das Objekt der Rede = der aus der Gemeinschaft von ich und du ausgeschlossene Andere anwesend abwesend

Figur 4: Der triadische Kommunikationsbezug der C-Rede Die C1-Rede konfiguriert also – im stumm die Rede begleitenden ich sage euch – eine Gemeinschaft von sprechendem ich und angesprochenen du’s und schließt das er als Objekt der Rede aus der ich-du-Gemeinschaft aus. Verstärkt wird dieser Einschluss der angesprochenen Anderen und der Ausschluss des Sprechers D, indem das von D zum Bildungsprozess des Bernard Gesagte in einem pejorativen et tout zusammengefasst wird. So konfiguriert sich das C1ich in positiver Inklusion der anwesenden du’s und abweisender Exklusion des D. Doch indem der Sprecher C1 durch Inklusion der richtig Erkennenden und Exklusion des falsch Denkenden einen Gegensatz zwischen den tatsächlich anwesenden Diskutanten konfiguriert, positioniert er sich sozial prekär. Deshalb überrascht nicht, dass der Gebrauch der Personalpronomina in den nachfolgenden Sätzen komplizierter wird. Zunächst heißt es: „Ce point, on l’a aussi évoqué dans la logique de l’argumentation de Bernard quand il dit, les gens le font sans […] ils agissent sans se rendre compte de ce qu’ils font“. Hier wird das auf den Sprecher D verweisende il durch ein allgemeines on ersetzt. On ist in französischen, mehr noch in Sprachgewohnheiten des frankophonen Kamerun eine Partikel, die verschiedene Interpretationen zu- und in der Schwebe lassen kann. Im gegebenen Satz kann das on als zweideutige Aussage gelesen werden. Einerseits kann es all jene Diskussionsteilnehmer ansprechen, die in Bernards Argumentation den nur individuell unreflektierten Charakter rassistischen Verhaltens, nicht aber seinen systemischen Grund sehen. Andererseits kann es die Referenz auf sie abdunkeln, so dass keiner der Angesprochenen ausdrücklich kritisiert und als möglicher Allianzpartner ausgeschlossen wird. Wer also mit on angesprochen wird, bleibt unbestimmt. Dem unbestimmten on wird jedoch ein bestimmter propositionaler Gehalt zugeordnet. Das geschieht in zwei Schritten. Zunächst kritisiert C1, in der D-Rede werde ver44

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harmlosend die falsche Aussage wiederholt, dass die Leute nur individuell unbewusst handeln, jene Aussage also, die man schon der Rede des Bernard zugeschrieben habe. Die zweite, wichtigere Modifikation besteht darin, dass der Sprecher D seine Aussage im Potentialis formuliert hatte, während C1 in den Realis wechselt. So wird aus der Aussage des D *Es ist möglich, aber nicht sicher, dass das Verhalten der Leute rassistisch ist ein *Das Verhalten der Leute ist rassistisch. jene, die das rassistische Verhalten verharmlosend als nur individuell unbewusstes Verhalten deuten on

?

ihr, an die ich mich als meine Solidarpartner wende Euch sage ich meine Kritik an D

1. D wiederholt nur die falsche Deutung, dass das Verhalten nur individuell unbewusst ist. 2. Es ist nicht nur möglich, dass das Verhalten der Leute rassistisch ist – es ist rassistisch

Figur 5: Die Umdeutung des Unbestimmt-Möglichen zum Bestimmten Anzufügen bleibt, dass, verbunden mit den bestimmten Personalpronomina je und vous, die Bewegung vom Möglichen zum Wirklichen vom Sprecher C2 fortgeführt wird, an den C1 die Rede übergibt. Während die C1-Rede die Anwesenden noch stumm in die Gemeinsamkeit eines wir einbindet, stellt die C2Rede auf dem Boden beanspruchter Selbstgewissheit („je vous dis“) den anwesenden Zweiflern („je vous dis“) jene Realität entgegen, gegenüber der Äußerungen vom D-Typus falsche Spekulationen seien. Die C2-Rede konfrontiert die Angesprochenen mit einer Aussage, die jede Interpretation als falsch bezeichnet, die die behauptete Realität nicht anerkennt. Damit wird die Ricœursche Einsicht abgedunkelt, dass ein Text stets mehrere Lektüren erlaubt und erst in einer seiner möglichen Lektüren zum Weltentwurf wird. Dem konfigurierten Satz wird nur eine einzige Deutung zugestanden. Wo die C1-Rede noch unbestimmt ist, wird die C2-Rede bestimmt. Diese Bestimmtheit der C2-Rede steht im Kontext der von C1 aufgerufenen triadischen Struktur und der in ihr konfigurierten Gruppenallianz. Damit sind der Sprecher D einerseits und die Sprecher C1 / C2 andererseits in der Konfiguration ihrer Sozialbezüge einander entgegengesetzt. Das textuelle D-ich konfiguriert sich als selbstreferenzielles Subjekt eines alle einbegreifenden Interpretationsschemas. Das textuelle C1und das C2-ich konfigurieren sich sozialreferenziell in der Inklusion der gleich Erlebenden und der Exklusion des Anderen. Was dieser Unterschied bedeutet, ließe sich im Blick auf die unterschiedlichen Vergesellschaftungsmodi der in 45

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Frage stehenden Kulturen weiter auslegen (was hier wegen des begrenzten Raums nicht geschehen soll). Festzuhalten ist aber, dass im Gebrauch der Personalpronomina verschiedene präfigurative Potenziale und mit ihnen verschiedene „Welten“ konfiguriert und in verschiedenen Welt- und Selbstverhältnissen refigurativ ausgespielt werden. Natürlich wäre es zu einfach, die Figur der Selbstreferenz der deutschen und die der Sozialreferenz der Kultur der Bamiléké zuzurechnen. Gegen solche Schematisierung spricht schon der Umstand, dass sich auch die Figuration der Selbstreferenz, wenn auch im Modus des Nicht-Bezugs, aus einer triadischen Struktur speist. Empirisch noch wichtiger ist, dass in beiden Bezugskulturen Figuren der Selbst- und der Sozialreferenz auftreten. Da sie in je kulturspezifischen Situationen auftreten, kann der Gegensatz der Sprecher-Konfigurationen nur als Gegensatz kulturspezifischer Situationen, nicht aber als Gegensatz der in Frage stehenden Kulturen überhaupt gelten. 15 Die D- und die C1/C2-Diskurse sind Konfigurationen, die in der Refiguration durch nachfolgende, sie aufnehmende Diskurse zu Weltentwürfen entfaltet werden. Eine weiter gehende Analyse muss wahrnehmen, dass sich die Diskurse aus präfigurativen Elementen speisen, die kulturell bereit liegen, und zu Texten konfiguriert werden, die in nachfolgenden Diskursen und Gegendiskursen zustimmend oder ablehnend als „Welt“-Entwürfe refiguriert werden. Doch auch die nachfolgenden Diskurse und Gegendiskurse entfalten je nur einen möglichen Weltentwurf. Deshalb bleiben die Diskurse unabhängig von den empirischen Sprechern und ihren möglichen Intentionen für weitere Refigurationsmöglichkeiten offen, die sich in Analysen und Interpretationen wie der hier vollzogenen entwerfen lassen. Wenn sich die konfigurierten D- und C1/C2-Diskurse auf weitere Refigurationsmöglichkeiten hin auslegen lassen, kann der Streit vielleicht auch über die reziproke Blockade jener Diskurse hinaus geführt werden. Wenn dies gelingt, kann meine Analyse- und Interpretationsarbeit zum Entwurf einer Welt jenseits wechselseitiger Ausschließung und damit zum Entwurf eines Bildungsprozesses beitragen, der die Ordnung wechselseitiger Ausschließung in einer anderen Konfiguration überschreitet. Ein solcher Bildungsprozess kann nicht das Fremde in seiner originalen Unzugänglichkeit zugänglich machen. Er kann auch nicht den Streit aufheben. Er kann nur einen refigurierenden Entwurf ermöglichen, der eingedenk der originalen Unzugänglichkeit des in den Diskursen nicht Gesagten eben diesem Ungesagten Sagbares abzugewinnen, Sagbares gleichsam in Unsagbares hinein zu entwerfen versucht. Ein solcher Entwurf ist, mit Ricœur gesprochen, eine Konfiguration, deren Fruchtbarkeit sich in der Refiguration ihrer kritischen Leser bewähren muss. Für den Bil15 Dieser Hinweis ist auch wichtig, weil die Behauptung, es handele sich um die Differenz von Kulturen, einen statischen Kulturbegriff ins Spiel brächte, der der Pragmatik des hier rekonstruierten Prozesses widerspräche.

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dungsprozess ergibt sich, dass er kraft des Entwurfs eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses ein grundsätzlich transindividueller und transkultureller Prozess ist. Eingebunden in die dreifache Mimesis von kultureller Prä-, textueller Kon- und kritischer Refiguration kann er einsam weder entworfen werden noch sich bewähren. Mögliche Refigurationen der D- und C1/C2-Diskurse, die die wechselseitige Ausschließung überschreiten, eröffnen sich, wenn man die textuellen Exund Inklusionsbewegungen als symbolische Artikulationen der Wahrnahme des jeweils Anderen in der Form einer Nicht-Wahrnahme liest. Einer solchen Lektüre zufolge ist Fremdes, Anderes, Ungesagtes in den D- und C1/C2-Diskursen jeweils im Exklusionsmodus anwesender Abwesenheit anwesend. Folge ich dieser Annahme, dann muss ich in der Figur des abwesend Anwesenden nach einem möglichen Bildungsprozess suchen. Anwesende Abwesenheit ist eine zweideutige Figur. Anders als eine contradictio in adiectu behauptet anwesende Abwesenheit die Gegenwart des Nicht-Gegenwärtigen. Sie behauptet dies zu Recht, sofern die Abwesenheit des Anwesenden in den Diskursen selbst kon- und refiguriert wird. Sofern das Fremde als anwesend Abwesendes kon- und refiguriert wird, lässt sich nicht umstandslos von scheiternden Bildungsprozessen sprechen. Denn dann sind Redefiguren eines anwesend abwesenden Fremden – etwa das ich, das ein allgemeines wir einschließt und in diesem Einschluss den anwesenden er/il ausschließt –, kein Scheitern, wie es einem Blick erscheinen mag, der nur den einfachen Gegensatz von Gelingen und Nichtgelingen kennt. Es sind vielmehr Vorhalte, die in der Doppelfigur von In- und Exklusion Nichtgesagtes als ein Mögliches enthalten, das im präfigurativen Anspruch des Nichtgesagten noch nicht konfiguriert und im Entwurf einer möglichen Antwort noch nicht refiguriert ist, aber kraft einer Modifikation des Verhältnisses zwischen figurativem Element und Bezugssystem kon- und refiguriert werden kann. So könnte etwa das D-ich durch die Modifikation seiner epistemologischen Qualität oder das C1/C2-ich durch eine Modifikation der triadischen Struktur einen anderen Bezug zum anwesenden du oder er konfigurieren. Sprechen kann man hier – einem musikalischen Vorhalt ähnlich – vom Vorhalt eines Bildungsprozesses in dem doppelten Sinn, dass dieser in einer Kon- und Refiguration als möglicher Entwurf vorgehalten, als verwirklichter Entwurf aber (noch) vorbehalten bleibt. In solchem Vorhalt kündigt sich die Zugänglichkeit eines original Unzugänglichen an. Dessen kon- und refigurierende Artikulation könnte den Vorhalt auflösen, in einen anderen Welt- und Selbstentwurf einmünden und einen Bildungsprozess wirklich werden lassen.

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Operative Verschattung des Begehrens im sozialen Prozess der Bildung Eugen Finck hat im Anschluss an E. Husserl darauf aufmerksam gemacht, dass eine jede Aussage den Begriff verschattet, den sie operativ voraussetzt. J. Derrida hat die operative Verschattung als Problem der Selbstabschließung von Aussagen kritisiert (vgl. Höfliger 1995: 15 ff.). Er betont, dass auch selbstreflexive Figurationssysteme von einer Sprache zehren, die die Hypotheken ihrer Geschichte verschattend in die Reflexion einträgt. Urteile und Reflexion operierten in einer Sprache, die figurativ zwar etwas, nicht aber vor aller Figuration sich zu sagen und zu denken erlaube. Die Husserl-Derridasche Kritik bezieht sich auf die operative Verschattung des Geltungsgrundes propositionaler Aussagen. Ähnlich kann man fragen, ob und in welcher Weise das Movens der Aussagen, die sich in der analysierten Diskussion zeigen, operativ verschattet ist. Für den D-Diskurs kann dies bedeuten, nach Verschattungen von Redefiguren zu fragen, die das epistemologische Ich als fraglosen Bezugspunkt der Kritik konfigurieren. Entsprechend lässt sich der C1/C2-Diskurs nach Verschattungen von Redefiguren befragen, die in der Berufung auf das eigene Erleben Selbstgewissheit konfigurieren. Diskurse über Rassismus mögen stärker als andere von operativer Verschattung ihres Bewegungsgrundes geprägt sein. Denn Rassismus ist ein spezifisches Verhalten weg vom Ich und auf den anderen hin mit dem Impetus, diesem anderen nicht nur sein konkretes Verhalten hier und jetzt zu spiegeln, sondern sein Verhalten im Referenzrahmen einer Geschichte von Imperialismus und Kolonialismus zu refigurieren. Das aussagende ich konfiguriert den ausgesagten Diskussionsgegner, indem es sein besonderes Verhalten in ein allgemeines Bild einstellt. Einsam lässt sich weder rassistisch handeln noch darüber reden. Rassistisch zu handeln oder über rassistisches Verhalten zu streiten setzt das Bild des anderen voraus, auf das als den ausgesagten Gegner sich das aussagende ich bezieht. Dieses Bild kann einen anwesenden Gegner oder einen abwesend anwesenden Anderen figurieren, der Rassismus-Diskurs braucht es, weil anders Rassismus sich nicht formulieren lässt. Rassismus objekttheoretisch streitend oder metatheoretisch reflektierend zum Thema zu machen heißt deshalb, in eine imaginäre Praxis einzutreten. Die operative Verschattung einer Rede, die unhintergehbar die Hypothek ihrer Geschichte trägt, ist nicht auf die Ebene der Propositionen noch auf die des ausgesagten Ich beschränkt. Die Analyse des Dokumentes zeigt, dass sie in den verschiedenen Redesequenzen in unterschiedlicher Weise das aussagende ich trifft, das als Ankerpunkt des Aussagens konfiguriert wird. Bildungstheoretisch ist diese Verschattung zentral, weil die Erhellung der Aussagefunktion des aussagenden ich darüber entscheidet, ob widerständige Erfahrung den Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses evoziert. Bleibt die Aus48

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sagefunktion abgedunkelt, bleibt das aussagende ich und mit ihm das ihm zugehörende Welt- und Selbstverhältnis gleichsam in der Figur des ausgesagten Ich gebunden. Die bildungstheoretische Frage führt über den Rahmen logischpropositionaler Analysen hinaus in die Funktion des Aussagens selbst. Wie lässt sich die operative Verschattung eines Streits über rassistisches Verhalten empirisch analysieren? Wenn es richtig ist, dass ‚rassistisches Verhalten‘ ein Prädikat ist, das dem besonderen Individuum zuspricht, von einer allgemeinen historischen Hypothek geprägt zu sein, dann lässt sich in einem ersten Schritt danach fragen, wie in der Diskussion Besonderes und Allgemeines redend zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ein Beispiel innerhalb des Diskussionstextes findet sich in einer Sequenz, die der oben zitierten vorausgeht und in der das D-ich seine längere Ausführung darüber einleitet, dass ein Beobachter im Blick auf ein Individuum nicht über den rassistischen Charakter seines Verhaltens entscheiden könne: „Ich fange mit der Situation bei McDonald an und deren vermeintlicher Eindeutigkeit. Ich kenne die Situation. Ich ärgere mich mindestens einmal die Woche darüber. Das ist die Erfahrung die man in jedem normalen Kaufhaus macht. Man steht in einer Schlange, man hat sich mühsam durchgewartet bis auf den zweiten Platz, man ist also gleich dran. Und dann macht die andere Kasse auf. Und die wird nie die Leute aufrufen, die direkt als nächste dran sind, sondern immer die, die dahinter stehen. Ich betrachte das auch als ungerecht, aber im Sinne von ‚Pech gehabt‘, also im Sinne von ‚verdammt noch mal, hätte die nicht fünf Minuten früher aufmachen können diese Kasse‘.“ (Diskussionstranskript: Zeile 6ff.; satzweise eingeschobene Übersetzungen sind übersprungen)

Das D-ich setzt mit der Nennung der „Situation bei McDonald“ ein. Wenn es sagt, sich regelmäßig darüber zu ärgern, spricht es der Situation ein allgemeines Prädikat zu. Für die Frage möglicher Verschattung ist interessant, dass die Subsumtion des Besonderen unter ein Allgemeines als selbstverständlich konfiguriert wird. Das geschieht dadurch, dass die Situation bei McDonald als ein allgemeiner Vorstellungsraum entworfen wird, in den die Diskussionspartner einbezogen werden: „Ich fange mit der Situation bei McDonald an [...] Ich kenne die Situation. Ich ärgere mich mindestens einmal die Woche darüber. Das ist die Erfahrung die man in jedem normalen Kaufhaus macht. Man steht in einer Schlange, man hat sich mühsam durchgewartet bis auf den zweiten Platz, man ist also gleich dran.“ Der Vorstellungsraum wird als bekannt und als Ort normaler Ärgernis konfiguriert. Der Hinweis auf den Ärger nimmt anaphorisch zurückweisend nicht nur die Klage des Studenten Bernard auf. Zugleich appelliert er kataphorisch vorausweisend an die Kontrahenten der Diskussion als Co-Subjekte gleicher Emotion. Das wiederholte man ratifiziert die Co-Subjektivität, indem es den Ärger als natürliches Empfinden aller möglichen Subjekte in der Warteschlange konfiguriert. 49

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Eine operative Verschattung liegt nicht schon darin, dass die D-Rede das Besondere nur im Schema eines Allgemeinen prädiziert. Denn das gilt für eine jede Prädikation. Der Einsatz der Rede Ich fange mit … an … Ich kenne … Ich ärgere mich konturiert das Ausgesagte nicht nur als ein Etwas, das das ausgesagte Ich kennt, sondern als eines, über das das aussagende ich redend verfüge. Die Verschattung vollzieht sich dadurch, dass der Vorstellungsraum von einem ich aus entworfen wird, das zugleich als aussagendes ich und, als ausgesagtes Ich, als allgemeine Instanz konfiguriert wird. 16 Die unentschiedene Referenz des Personalpronomens verdeckt die Differenz von aussagendem ich und ausgesagtem Ich. So hat der in der Rede entworfene Vorstellungsraum seinen perspektivischen Ankerpunkt in einem aussagenden ich, das als ausgesagtes Ich konfiguriert wird, als aussagendes, die Rede konfigurierendes ich aber außerhalb des entworfenen Vorstellungsraums bleibt. Operativ verschattet ist also die Doppeldeutigkeit des Personalpronomens. Der verschatteten Differenz von aussagendem ich und ausgesagtem Ich verdankt sich die (cartesianische) Selbstgewissheit der Aussagen über die Erkennbarkeit der Welt. Einleitungen zu längeren Redesequenzen sind interessant, sofern sie die Vorstellungsräume entwerfen, in denen Sachverhalte geschildert, Vorgangsdarstellungen angesiedelt oder Argumente entwickelt werden. Das aussagende ich konfiguriert sich als ausgesagtes Ich und mit ihm ein spezifisches Weltund Selbstverhältnis. Auch die Einleitung des C2-Diskurses ist im Blick auf die Differenz von aussagendem ich und ausgesagtem Ich interessant. Ihr Verständnis setzt den Blick auf den vorausgehenden C1-Diskurs voraus. Der Diskurs des C1-ich bringt zur Sprache, dass der D-Diskurs über die Unentscheidbarkeit dessen, was der Student Bernard tatsächlich im unbewussten Verhalten der Menschen begreife, peut-être une façon de dire, vielleicht eine präfigurierte Redeweise sei, dass diese Redeweise aber Bernards Argument verfehle, dass nämlich das unbewusst rassistische Verhalten der Menschen in der deutschen Geschichte verankert sei. Das C1-ich übergibt dann seine Rede an das C2-ich mit der Bitte, die Einsicht Bernards in jenem Sinn auszuführen, in dem es schon am Vortage darüber gesprochen habe. Das C2-ich leitet seinen Diskurs in der folgenden Weise ein: „J’apprécie, les contentions de rhétorique de [D] m’impressionnent beaucoup. Pour faire des spéculations sur des choses qui apparemment il spécule sur du vécu, et ça, moi, je me rends compte parce que depuis nous sommes en train de discuter sur des questions, de méthodes et je me rends. Je ne sais pas ou est-ce que Monsieur X est déjà dans le texte qu’on se rend compte quand il peut contredire par exemple je vais dans les cas pratiques. Il veut contredire le schéma de McDonald pour dire c’est une injustice, il a eu la malchance. Je voudrais bien, je 16 Das aussagende, die Rede konfigurierende ich erscheint im Text natürlich nie als es selbst, sondern immer nur in der ausgesagten Form eines aussagenden ich. Um die Formulierung jedoch nicht allzu sehr zu belasten, spreche ich vereinfachend vom aussagendem ich als dem ich, das den Diskurs konfiguriert.

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BILDUNG ALS WELT- UND SELBSTENTWURF IM ANSPRUCH DES FREMDEN vous rappelle un schéma dans lequel il y a un guichet. Le guichet est plein, occupé par quelqu’un, avec un servant, et un guichet est vide. Et un servant arrive sur le guichet vide et demande aux gens de passer à ce guichet-là. Je vous rappelle que dans le cas de Bernard le guichet vide était celui devant lequel il se trouvait et l’autre était occupé. Il a même servit quelqu’un qui s’en est allé. Il le dit dans le texte. L’exemple que vous donnez est un exemple que vous transposer sur ce texte.“ (Diskussionstranskript: Zeile 313 ff.)

In der ersten Äußerung, in der das C2-ich von seiner Wertschätzung der Ausführungen des D-ich spricht, konfiguriert das aussagende ich die Aussage als Geständnis. Das j’apprécie bleibt ohne Objekt. Indem es als Anakoluth abbricht, evoziert es ein phonetisch nahes j’avoue. Damit konfiguriert sich das C2-ich zunächst in einer Figur der Intimität. Es öffnet sich als ausgesagtes Ich in seiner Verletzbarkeit. Doch diese wird im Anakoluth und der folgenden Objektaussage sogleich als bloßer Schein refiguriert, wenn es heißt, „les contentions de rhétorique de D m’impressionnent beaucoup“. Denn in den DAusführungen „contentions de rhétorique“ zu sehen heißt, sie als einen Diskussionsbeitrag zu deuten, der mit verkrampften 17 rhetorischen Mitteln operiere. Indem das C2-ich diese contentions als etwas anspricht, das es stark beeindrucke, wird rückwirkend auch die Eingangsfigur des Geständnisses als Ironie refiguriert. Tatsächlich könne der D-Diskurs nicht beeindrucken, da D nur abstrakt über Bernards Aussagen spekuliere und sie im Lichte eines falschen Beispiels interpretiere, statt auf dem Boden eines Erlebens ernst zu nehmen, was Bernard in seinem Text sage. Kraft der Ironie ist der in dieser Einleitung entworfene Vorstellungsraum komplex. Zunächst scheint das Ich der Rede im j’apprécie in den vom D-ich entworfenen Vorstellungsraum einbezogen. In diesem Schein ist die Differenz von aussagendem ich und ausgesagtem Ich wie im D-Diskurs verschattet. Doch indem die Figur des anerkennenden Geständnisses ironisch refiguriert und in einer Gegenfigur der Tatsächlichkeit fortgeführt wird, wird ein Gegenraum konfiguriert, innerhalb dessen nicht nur die D-Argumentation, sondern das dem D-ich präsupponierte Ich selbst als Objekt der Deutung und Bewertung konfiguriert wird. Ähnlich wie im D-Diskurs wird auch hier die Mehrdeutigkeit des Personalpronomens zwischen aussagendem ich und ausgesagtem Ich verschattet und souveräne, eigenem Erleben zugeschriebene Selbstgewissheit konfiguriert.

17 Larousses Dictionnaire de la Langue Française (Dubois 1993) gibt zu contentions an: „1: […] Tension forte et profonde des muscles, des nerfs ou de l’esprit […]. 2. Action de maintenir en place les fragments d’un os fracturé, à l’aide d’appareils […]“.

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Das Objekt »a« (Lacan) als imaginärer Fluchtpunkt des Begehrens Zum besseren Verständnis der operativ verschatteten In-Eins-Setzung von aussagendem ich und ausgesagtem Ich lassen sich begriffliche Mittel nutzen, die Jacques Lacan im Rahmen seiner Phallus-Theorie im Blick auf das Objekt »a« 18 entwickelt. Lacan führt diesen Begriff ein, um etwas zu bezeichnen, das imaginär und ins Symbolische verweisend etwas evoziert, das den Figurationsprozess antreibt, ohne je selbst in ihm zu erscheinen. Ehe ich im Rahmen der konkreten Analyse auf die Überlegungen Lacans eingehe, will ich, um mich nicht in ihren Verwicklungen zu verlieren, die formale Struktur seiner Argumentation skizzieren, so weit sie für meinen Zusammenhang wichtig ist. 19 Lacan unterscheidet drei Ordnungen, die des Realen, des Imaginären und des Symbolischen. Das Reale sei grundsätzlich der Sagbarkeit entzogen, während Welt in der symbolischen Ordnung, von Lacan in einem weiten Begriff 20 als Ordnung der Sprache verstanden, als „Welt“ sagbar werde. Das Imaginäre als Ordnung des Phantasmatischen und Bildhaften sieht er gleichsam auf der Schwelle zwischen dem unsagbaren Realen und dem symbolischen Sagen von „Welt“. Welt tritt diesem Konzept zufolge nur als imaginierte und gesagte „Welt“ in Erscheinung und Rede. Um diese sehr rohe Zurichtung des Lacanschen Konzeptes im Blick auf die Möglichkeit von Bildungsprozessen in der Bezugnahme auf Fremdes zu nutzen, sind zwei Fragen wichtig. Was treibt die Bewegung vom unsagbar Realen über das imaginäre Vorstellen zum symbolischen Sagen an? Wie wird der Umschlag vom Nichtsagbaren ins Gesagte gedacht? Ich beginne mit der zweiten Frage. Lacan denkt den Umschlag vom Nichtsagbaren ins Gesagte als den Effekt einer Differenz. Während für das neugeborene Kind Welt noch ein Ganzes sei, das jedoch unmöglich in dem Sinn sei, dass das Kind in diesem Stadium des einfachen Organismus weder Welt noch sich als etwas wahrnehmen, sich weder auf sich noch auf Welt als etwas beziehen könne, werde ihm Welt wie auch sein Ich erst wahrnehmbar durch einen „Riss“ (Lacan 1991: 122), kraft dessen sich ihm, vermittelt durch den 18 Vom objet petit »a« spricht Lacan seit 1955 im Umkreis des so genannten Schema L innerhalb des Seminars II (Lacan 1991). 19 Dies kann nur eine sehr rohe und auf meinen Zweck ausgerichtete Skizze sein, die – als theoriestrategischer bricolage – nicht beansprucht, der Komplexität des Lacanschen Konzeptes gerecht zu werden. Ich begrenze meine Bezugnahme auf Lacan auch in dem Versuch, seine Begriffe zu nutzen, mich aber ihrem Formulierungsdiktat zu entziehen. Dabei entstehende Verschiebungen oder Missverständnisse können so natürlich nicht entschuldigt werden. 20 Vgl. etwa seine Ausführungen zur Sprache in Lacan 1975b, bes. S. 136 ff., wo er vor allem die Sprache im Sinne des französischen langage thematisiert, was für ihn etwa „Sprache als System im allgemeinen, ungeachtet jeder spezifischen Sprache“ (Evans 2002: 279) bedeutet und für das es im Deutschen kein Äquivalent gibt.

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Blick in den Spiegel und das Wort etwa der Mutter, seine Gestalt als etwas Konturiertes darstelle, das aus dem ungeschiedenen Ganzen hervortrete. Die Gestalt werde im Blick in den Spiegel in der Weise konstituiert, dass dem Kind durch den Erwachsenen, der ihm das Spiegelbild deutet, auf der Schwelle zur Sprache seine Gestalt zugesprochen werde. Kraft des Risses kon- und refiguriere sich, um Ricœurs Termini zu verwenden, nicht nur die Welt als „Welt“, sondern ebenso das kindliche Subjekt als ausgesagtes Ich, das von seinem Beginn an unhintergehbar sozial konstituiert sei. Den kategorialen Ursprung des Subjekts in diesem Riss entfaltet Lacan im frühen Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ und in dessen späteren Ausarbeitungen (vgl. Lacan 1990: 154 ff. und 1991: 141 f.) als den Umschlag aus der Unsagbarkeit in die imaginär-symbolische „Gestalt“ (Lacan 1975a: 64 f.). Angetrieben werde die Bewegung vom Realen als einem ungeschiedenen Ganzen zum gestalthaft Bestimmten und zur Sagbarkeit der Welt durch Angst. Um sie zu erläutern, beruft sich Lacan zunächst auf Freud, der den Säugling, unfähig, die Bewegung seiner Gliedmaßen zu koordinieren, Zerstückelungsphantasien ausgesetzt sehe. Diese im Realen des biologischen Körpers gründenden Phantasien und die aus ihnen entstehende Angst trieben den Ur-Sprung in die imaginär-symbolische Gestalt an. Der Sprung in die wahrgenommene Gestalt lasse das Kind sich „jubilatorisch“ äußern (Lacan 1975a: 64). Er sei ein kategorialer Ursprung im strengen Sinn des Begriffs. Er bestehe darin, dass das unsagbar Reale, das weder imaginär noch symbolisch Artikulierte in die Gestalt des dargestellten und gesagten Ich, oder, wie Lacan in der Unterscheidung vom aussagenden Je formuliert, des Moi umschlage, ein Umschlag, durch den der Mensch um den Preis des uneinholbaren Verlustes eines freilich nie artikulierbaren Ganzen der Welt die sagbare „Welt“ gewinne. Eine Herausforderung an das Verstehen ist hier Lacans Behauptung, dass sich die Sagbarkeit der „Welt“ der Negation verdanke. Er entwickelt dieses Argument wiederum in der Berufung auf Freud, der im Aufsatz „Die Verneinung“ die Begreifbarkeit von Welt in der Erfahrung der Differenz von Lust und Unlust, und daran anschließend, von Außen und Innen sowie von Anwesenheit und Abwesenheit entspringen sieht (vgl. Freud 1975c, bes. 374 f.). In der Analyse des Fort-da-Spiels seines Enkels hatte Freud die Reichweite der Differenzerfahrung in der Strukturierungsleistung des Kindes entdeckt, das die Abwesenheit der Mutter in die eigene Verfügung bringe, indem es diese durch eine imaginär-symbolische Figur – im genannten Spiel: durch eine Garnrolle – substituiere, die ihm An- und Abwesenheit darzustellen erlaube (vgl. Freud 1975a: 224 ff.). In Anlehnung an de Saussures Sprach- und Zeichentheorie, deren begriffliche Mittel Freud noch nicht kannte, entfaltet Lacan die Freudsche Argumentation in einer Weise, der Waldenfels’ phänomenologische Formulierung nahe ist, dass das Fremde sich zeige, indem es sich nicht zeige. Lacan nimmt ernst, dass das imaginär-symbolisch figurierte Zeichen nicht dadurch 53

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bedeutet, dass es etwas bezeichnet. Es bedeute vielmehr nur kraft seiner Beziehung auf andere Zeichen innerhalb eines differenziellen Zeichensystems. Die besondere Wendung, die Lacan diesem Saussureschen Argument gibt, liegt in seiner Interpretation des Verhältnisses von An- und Abwesenheit. Die Antriebsdynamik für den imaginär-symbolischen Prozess vermutet Lacan, wie angedeutet, in der Angst. Diese sieht er, wiederum in Anlehnung an Freud, primordial in der Kastrationsangst gründen, die aus der Wahrnehmung der leiblichen Differenz der Geschlechter resultiere. Die Wahrnehmung, dass in einem sensiblen Körperbereich dem einen Geschlecht fehle, was das andere habe, evoziere Angst, dass das Vorhandene ein potenziell An- oder Abwesendes sei. Diese Angst könne – von beiden Geschlechtern, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – nur überwunden werden, indem der abwesende oder von Abwesenheit bedrohte Phallus als Ort des körperlich Realen in eine symbolische Funktion umschlage. Die symbolische Funktion, in die der Phallus umschlage, ist für Lacan nicht eine Funktion unter anderen. Er denkt in ihr jene primordiale Funktion, die die Differenz von An- und Abwesenheit zur Grundfigur der Sinngebung eines jeden konkret bedeutenden Zeichens innerhalb des differenziellen Zeichensystems werden lasse. In diesem Sinn ist der Phallus in der Lacan-Rezeption auch als Signifikant ohne Signifikat angesprochen worden (vgl. Widmer 2001: 27). So verstanden ist der symbolische Phallus eine Funktion, die nur in ihrer Wirkung, nicht aber als diese selbst in Erscheinung tritt. So ergibt sich für Lacan eine Struktur, in der das Subjekt unüberschreitbar an den Ursprung in die imaginär-symbolische Gestalt gebunden ist und sich in einer Welt findet, die als „Welt“, als Signifikat im differenziellen Verweisungsspiel der Signifikanten gründet, das seinerseits Bedeutung und Sinn nur zu entwerfen erlaubt, weil es über jenem Abgrund von Unsagbarkeit aufgeführt wird, den der im Phallusmotiv primordial vollzogene Umschlag der Angst in deren imaginär-symbolische Fassung überbrückt. Lacan hat die Psychodynamik dieser Struktur durch den Begriff des Objekts »a« weiter ausgelegt. Der Phallus als signifikante Funktion ohne Signifikat, angesiedelt am Ort des Umschlags von unsagbar Realem in imaginäre Vorstell- und symbolische Sagbarkeit, sei als Funktion wirksam, aber selbst nicht sagbar. Da in ihm jedoch die Sagbarkeit der Welt als „Welt“ und mit ihr die Ichfunktion des aussagenden ich gründet, referiere auf ihn eine jede Artikulation des Welt- und Selbstbezugs durch das aussagende ich. Doch es lasse sich nicht direkt auf die der Sagbarkeit entzogene phallische Funktion 21 refe-

21 Es mag auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen, von der der Sagbarkeit entzogenen phallischen Funktion zu sprechen, sie also zu sagen. Der Widerspruch erweist sich als ein scheinbarer, wenn man bedenkt, dass das Sagen der unsagbaren Funktion diese zwar mit symbolischen Mitteln repräsentiert, sie aber nicht als sie selbst sagt. Im Sagen erscheint die phallische Funktion also, genau genommen, gleichsam als in Zeichen gesetzte »phallische Funktion«. Es regiert hier dieselbe Logik wie zwischen dem ausgesag-

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rieren. Deshalb trete an seine Stelle das, was Lacan das Objekt »a« nennt. Sofern im Objekt »a« die phallische Signifikantenfunktion vorstell- und sagbar werde, die einem jeden Welt- und Selbstbezug zu Grunde liege, sei es der psychodynamische Referenzpunkt eines jeden Sagens. Lacan deutet diesen Gedanken wiederholt im Bild des Schirms, auf den sich, einer optischen Projektion gleich, abbilde, was selbst jenseits des Schirms unsichtbar bleibe (vgl. Lacan 1987: 97 ff.). In dieser Vorstellung übersetzt sich der in Angst gründende Sprung in die Sagbarkeit in ein nie einholbares Streben nach dem, was sich als Objekt »a« zwar auf dem Schirm abbildet, nie aber als es selbst in Erscheinung tritt. Der signifikante Sprung aus dem unsagbar Realen in die Ordnungen des Imaginären und Symbolischen trage dem Subjekt die Kosten eines uneinlösbaren „Begehrens“ ein (zu diesem Zentralbegriff Lacans vgl. ebd.: 247). Da das dem Begehren nachlebende Subjekt im Objekt »a«, das zwischen imaginärer und symbolischer Ordnung changiert, das Reale je verfehle, das dennoch als stete Drohung vor aller Signifikanz das Leben begleite und das verlorene Ganze vor aller Figuration erinnere, trete mit dem Umschlag von der Unsagbarkeit des Realen in die Vorstell- und Sagbarkeit des Imaginären und Symbolischen nicht das eine an die Stelle eines anderen. Indem ein jedes Vorstellen und Sagen auf ein Objekt »a« verweise, das seinerseits verdeckend auf unsagbar Reales verweise, bleibe das Subjekt unentrinnbar in die Dynamik von aussagendem ich und ausgesagtem Ich, von Sag- und Unsagbarkeit, von An- und Abwesenheit eingebunden. Im Seminar IV hat Lacan im Schema des Schleiers die skizzierte funktionale Struktur veranschaulicht (vgl. Lacan 2003: 183). Das Subjekt sehe sich dem Schleier als einem Schirm gegenüber, auf den sich ein Objekt abbilde, das seinerseits auf ein unsagbares Nichts verweise:





Objekt

Subjekt

• Nichts

Vorhang

Figur 6: Das Schema des Schleiers (nach Lacan) Wenn man diese Skizze als Veranschaulichung auch des Verhältnisses zwischen Subjekt, Objekt »a« und dem unsagbaren Realen lesen darf, dann zeigt sie dem Subjekt das Objekt »a« in seiner das Reale repräsentierenden Funktion ten Moi und dem aussagenden Je, das seinerseits natürlich auch nur als gleichsam in Zeichen gesetztes »Je« gesagt werden kann.

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als ein Bild auf der Projektionsfläche des Vorhangs. Es erscheint als etwas gleichsam auf der Grenze des Erscheinens, als Erscheinung zwischen An- und Abwesenheit. Lacan formuliert seine Überlegungen orientiert am Subjekt. Sofern dieses Subjekt als artikulierte Ichfunktion auftritt, ist es für ihn kraft seiner symbolischen Artikulation immer schon in den Kosmos seiner Kultur so eingebunden, dass dem Subjekt sein ausgesagtes Subjektsein vom kulturellen Kosmos her zugesprochen wird. Lacan spricht hier vom Anderen, in dessen Großschreibung er andeutet, dass dieses Andere nicht nur immer schon das Subjekt transzendiere, sondern auch das sei, von dem aus das Subjekt bedeutet werde. Indem die Mutter dem Kind vor dem Spiegel sein Bild zuspreche, werde dieses Kind als ein Subjekt angesprochen: durchherrscht von der Idealisierung des mütterlichen Blicks und den signifikanten Potenzialen der Sprache, kraft derer sich der mütterliche Blick artikuliere. Sofern das Subjekt an diese Grundstruktur gebunden bleibe, sei seine Anwesenheit in der symbolischen Ordnung der Signifikanten doppelt von der Differenz von An- und Abwesenheit gezeichnet: gezeichnet durch seinen Ursprung aus dem Realen in die Signifikanz und gezeichnet durch Signifikanzen, Bedeutung und Sinn, die sein Sprechen nie einholen könne. Noch einmal komplexer zeigt sich die Situation, wenn man, statt den Blick auf das eine Subjekt zu beschränken, es im Austausch mit anderen Subjekten betrachtet. Folgt man auch hier der Lacanschen Vorstellung, dann ist nicht nur zu fragen, wie sich die Subjekte in Objekten »a« auf in ihnen abwesend Anwesendes beziehen. Zu fragen ist darüber hinaus, wie sie den sozialen Austausch im Blick auf ihr jeweiliges Objekt »a« und das in ihm abwesend Anwesende figurieren. Bezogen auf den Rassismus-Streit ist zu fragen, ob und ggf. wie sich auf der Folie einer Begrifflichkeit im Anschluss an Lacan der diskursive Austausch darstellt, der sich im Rahmen der textuellen Analyse in reziproker Verschränkung von Ex- und Inklusion als Vorhalt eines nicht realisierten, aber möglichen Bildungsprozesses gezeigt hatte.

Das Objekt »a« als Negation des anderen im Anderen Was in der Husserl-Nachfolge in epistemologischer Einstellung als operative Verschattung einer Sprache reflektiert wird, die die Reflexion von den Hypotheken ihrer geschichtlichen Fundierung abschirmt, indem diese Hypotheken den Schein eines unhintergehbaren Grundes von Welt und Selbst erzeugen, wird in der psychischen Ökonomie der Subjektkonzeption Lacans als Wirkung des Objekts »a« analysiert, das das libidinöse Begehren imaginiert und in dem als dem Phantasma des Mangels das Subjekt sich seiner selbst zu versichern 56

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sucht. Die Artikulation des Begehrens ist an den Zu- und Anspruch des Anderen gebunden. Das selbstreferenzielle Begehren des Subjekts konstruiere sich im Objekt »a« so, dass der Zu- und Anspruch des anderen Individuums jenes Andere evoziere, an dessen – positiv oder negativ – idealisierter Stimme das Subjekt sein Ich-Ideal aufrichte und in eben diesem Akt dessen Alterität verleugne. Was trägt dieser Begriffsrahmen zur Analyse und Interpretation des Auftritts der selbstreferenziellen Subjekte im Dokument des Rassismus-Streits bei? In der D-Rede hatte sich die Verschattung als In-Eins-Setzung von aussagendem ich und ausgesagtem Ich in ein Ich cartesianischer Selbstgewissheit gezeigt, das den epistemologischen Vorstellungsraum der Erkennbarkeit der Welt beherrscht; in der C2-Rede hatte sich die Verschattung als In-Eins-Setzung von aussagendem ich und ausgesagtem Ich in ein Ich gezeigt, das in der Berufung auf erlebtes Leiden Deutungsautonomie behauptet. Ricœur weist darauf hin, dass sich Texte wie die D- und die C-Reden nicht umstandslos als Dokumente empirischer Individuen lesen lassen. Texttheoretisch sind sie diskursive Artikulationen, in denen sich empirische als „implizierte“ Sprecher konfigurieren und als solche refiguriert werden. Der Gegenstand der Analyse sind deshalb auch hier nicht die empirischen Individuen, sondern die „implizierten“, mit Lacan: die imaginär und symbolisch kon- und refigurierten Sprecher-Ichs einschließlich der Kon- und Refigurationen ihrer Welt- und Selbstverhältnisse. Diese Kon- und Refigurationen sind kein fiktives Als-ob. In ihnen spielen sich historisch-kulturelle Hypotheken aus, die die Kon- und Refigurationen kraft ihrer operativen Selbstverschattung zu praktisch wirksamen, Gegenentwürfe hervorrufenden Welt- und Selbstentwürfen machen. Welche Hypotheken sich jeweils textuell ausspielen, ist abstrakt nicht zu sagen. Im Geltungsraum abendländischer Neuzeit liegt die Struktur der cartesianischen SubjektObjekt-Relation einschließlich der Figur subjektiver Selbstreferenz nahe. Sie kann in diesem Raum präfigurative Elemente bereitstellen, die eine jede textuelle Konfiguration und eine jede refigurierende Lektüre grundieren mögen. Solchen Hypotheken hängen Subjekte als sprechende an, in ihnen entfalten sie ihre Gestalt. 22 In der Pronominalanalyse der C1-/C2-Rede hatte sich dagegen angedeutet, dass Diskurse durch präfigurative Elemente der Referenz auf die 22 Ich nehme hier implizit an, dass die C-Reden ähnlichen Grundfiguren der Selbstreferenz verpflichtet sind wie die D-Rede. Jedoch sind die unterschiedlichen historisch-kulturellen Hypotheken zu bedenken, wie es sich schon im Teil III in der unterschiedlichen Bezugnahme auf Andere zeigt. Dennoch wäre es zu einfach, die D- und die C-Rede als zwei verschiedene Kulturen zu unterscheiden. Man handelte sich nicht nur einen statischen Kulturbegriff ein. Man verkennte vor allem, dass weder Signifikantennetze noch imaginäre Szenarien homogene Ordnungen bilden. Sie vollziehen und bezeugen selbst vielfältige transkulturelle Durchdringungen. Deshalb ist jeweils redespezifisch nach Kon- und Refigurationen zu fragen. Weder ist es sinnvoll, nach der Bestimmung zu fragen, was Rassismus sei, noch nach der Figur, in der sich über Rassismus sprechen lasse.

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soziale Bezugsgruppe grundiert sein können, kraft derer das Ich eines Textes als Figur unhintergehbarer Allianzen konfiguriert wird. Zu fragen ist, wie die D- und C-Diskurse in wechselseitiger Bezugnahme jeweils ein Objekt »a« imaginieren. Sofern diese Objekte »a« nach Lacan nicht in explizit textueller Konfiguration auftreten, bedürfen sie besonderer Refiguration. Im Rahmen der Diskussion werden sie durch die Gesprächspartner wie auch durch die Sprecher als ihre eigenen Leser refiguriert, im Rahmen einer Gesamtanalyse durch den analysierenden Interpreten. Für meine Analyse bedeutet dies, dass sie sich im gelingenden Fall in meiner Refiguration der konfigurierten Redetexte zeigen. Auch refigurierende Deutung bleibt auf die jeweiligen Redetexte verpflichtet. Ihre Überzeugungskraft hängt von textuellen Hinweisen ab. Es scheint wenig aussichtsreich, für die Deutung der Objekt-»a«-Imaginationen nach ähnlich konkreten Hinweisen wie den Personalpronomina in der textuellen Analyse zu suchen. Denn Lacans Objekt »a«, ohne explizit als solches artikuliert zu sein, verweist empirisch gehaltvoll auf etwas, das nicht konfiguriertes Objekt in direkter Referenz ist. Deshalb ist zu fragen, ob die Redetexte kraft ihres präfigurativen Erbes und vermöge spezifischer Konfigurationen etwas evozieren, das ihnen jenseits manifester Artikulation auf der Schwelle zwischen An- und Abwesenheit jene Insistenz eines phantasmatischen, in refigurierender Lektüre zu imaginierenden Objekts »a« gibt, die von den Diskussionspartnern, aber auch vom interpretierenden Leser als ein Drängen über den manifesten Text hinaus refiguriert werden kann. Für die D-Rede lässt sich eine solche Artikulation vermuten. Deren manifestes Argument lautet, es lasse sich aus der Beobachterperspektive über den Rassismus eines beobachteten Verhaltens nichts sagen, da „rassistisches Verhalten“ ein intentionaler Ausdruck sei, man aber die Absichten und Deutungen nicht kenne, in denen ein empirisches Individuum handele. Die D-Rede konfiguriert präfigurative Elemente epistemologischer Selbstreflexion zu einem Text, der einem unausgesprochenen Du als kritische Folie eines jeden Sprechens über Rassismus so angeboten wird, dass das präsupponierte Du als Adressat der Rede im Schatten der Folie gebunden bleibt. Das Ich tritt in große Distanz zum Du, das als dunkler Fleck der Rede dem Lichtkegel des epistemologischen Verdikts ausgesetzt ist. Die D-Rede „Ich bin nicht fertig, ich möchte das weiterführen. Mein Problem ist, dass ich das nicht entscheiden kann“ (Diskussionstranskript: Zeile 66 f.), nämlich, ob es sich im Falle Bernards um Bildung oder Einbildung handele, spricht das in Frage stehende Problem manifest zwar als mein Problem an. Doch die vorausgehende Rede, die im konjunktivischen Irrealis die Deutung abweist, dass man ernsthaft über Bernards Bildungsprozess urteilen könne, lässt im manifest Gesagten die kriti-

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sierten Diskussionspartner als die vermuten, gegen die sich das aussagende ich 23 im Schatten der Verallgemeinerung konturiert: „Ich frage das deshalb, weil die Einschätzung, dass es sich um einen Bildungsprozess gehandelt habe, man könnte ja dann auch sagen, wenn ich auf Leute referiere, die etwas tun ohne es zu wissen, das heißt, die mit dem was sie tun eigentlich einen anderen Sinn verbergen als denjenigen, den ich ihnen unterstelle, es könnte sich dabei möglicherweise nicht um einen Bildungsprozess handeln, wenn ich mich da reinsteigere, sondern um einen Einbildungsprozess.“ (Diskussionstranskript: Zeile 45 ff.)

Vermittelt über ein verallgemeinerndes man setzt das individuierte Ich des Ich frage ein Ich ein, das für ein jedes Ich steht, das auf Leute referier(t), die etwas tun ohne es zu wissen. Dieses allgemeine Ich repräsentiert innerhalb der strittigen Diskussion eben jene Dus, gegen die der Text das Sprecher-Ich wendet. Dieses gewinnt seine Kontur in der Kritik der Dus und deren Vorstellung, Aussagen über Bernards Bildungsprozess machen zu können. Ähnlich wie das Lacansche Ich vor dem Spiegel gewinnt das Sprecher-Ich seine Kontur in der impliziten Berufung auf jene einsichtigen Anderen, die, als urteilende Instanz imaginiert, festlegen, wie Gültiges über Rassismus auszusagen sei, und in der D-Rede – das ist die syntaktische Pointe – in der grammatischen Form eines allgemeinen Ich als epistemologisch allgemeiner, anwesend abwesender Anderer auftreten. Die Interpretation muss sich im Redetext bewähren. Sie kann darauf verweisen, dass in der eben zitierten Rede die begonnene Konstruktion bricht: „Ich frage das deshalb, weil die Einschätzung, daß es sich um einen Bildungsprozess gehandelt habe, man könnte ja dann auch sagen, wenn …“ Das angekündigte Argument weil die Einschätzung wird nicht fortgeführt, jene anderen, die behaupten, dass die Rassismus-Interpretation Bernards Bildungsprozess bezeuge, bleiben wortlos. Die Satzkonstruktion bricht also dort, wo die Einschätzung und mit ihr die einschätzenden anderen zu prädizieren wären. Die kritisierten Dus, als Zeugen aufgerufen, verbleiben im sprachlichen Dunkel, werden zugleich aber als die Subjekte präsupponiert, deren Aussage als unmöglich kritisiert wird. Da Kritik als Negation des Kritisierten die Möglichkeit der nicht kritisierten oder nicht kritisierbaren Position voraussetzt, lässt die gebrochene Rede in den präsupponierten anderen per negationem eine der Kritik enthobene Selbstreferenz als das Objekt »a« aufscheinen, in dem das ich der D-Rede einen seine Subjektivität verbürgenden Anderen phantasmatisch anspricht. Die C1/C2-Rede konfiguriert das Argument, dass über rassistisches Verhalten Aussagen zu machen seien, sofern sich dieses Verhalten aus historischkulturellen Präfigurationen ableite. Es könne aber nur derjenige solche Aussa23 Das, wie oben schon angemerkt, textuell stets als ausgesagtes erscheint.

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gen machen, der die Macht der Präfigurationen erlebt, erlitten habe. Die Rede ist der D-Rede inhaltlich entgegengesetzt, strukturell jedoch ähnlich. Wie die D-Rede ihren Widerpart nur indirekt konfiguriert, konfiguriert die C2-Rede das Aber der Entgegensetzung, indem sie die D-Rede im j’apprécie, les contentions de rhétorique […] apparemment il spécule sur du vécu ironisch refiguriert und die eigene Haltung, dans les cas pratiques zu gehen, als jene kritische Folie auslegt, vor der Aussagen über Rassismus sich zu bewähren hätten. Die Berufung auf das Erleben reserviert urteilende Zugänglichkeit allein jenen, die lebenspraktisch in dieser Ordnung stehen, und behauptet Unzugänglichkeit für all jene, die über Rassismusdiskurse als vom erlebten Leiden getrennte Texte spekulieren. In der Vehemenz des je vous dis … deutet sich an, dass sich das Leiden der Verweigerung einer libidinösen Besetzung, der Verweigerung einer Antwort auf einen Anspruch verdankt. Als Moment in der Dialektik des Begehrens lässt sich die Aussage als etwas lesen, das, kritisch gegen die D-Rede gewendet, das Objekt »a« als eine Figur der Selbstreferenz evoziert, in der sich, kritisch gegen das Objekt »a« der D-Rede gestellt, das Subjekt der C2Rede phantasmatisch einzuholen begehrt. Indem die C2-Rede das Objekt »a« gleichsam im kritisierten anderen aufrichtet, konfiguriert sie in struktureller Analogie zur D-Rede eine ihr entgegengesetzte Aussage, die das Subjekt epistemologischer Selbstreferenz durch ein Subjekt ersetzt, das sein Urteil aus der nur der Gemeinschaft der Leidenden zugänglichen Ordnung gewinnt. Während die D- und C-Sprecher auf der propositionalen Ebene ihre Aussagen in kontradiktorischer Opposition gegeneinander behaupten, verschränken sie sie auf libidinöser Ebene in reziproker Instrumentalisierung der jeweils anderen Seite. Die Negation der Behauptung des jeweils Anderen – in der DRede die epistemologische Unzugänglichkeit des Bernardschen Bildungsprozesses, in der C2-Rede die den Leidenden vorbehaltene Zugänglichkeit richtiger Deutung – evoziert die Objekte »a« als Figuren einer phantasmatischen Selbstgewissheit, die die „unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen“ (Lacan 1975a: 67) meistern zu können scheint. Im Streit treiben die Objekte »a« als nicht einholbare Figuren phantasmatischer Selbstgewissheit die D- und CReden an und blockieren einen möglichen Bildungsprozess. Der phantasmatische Erhalt der als gewiss vermeinten Selbstreferenz subvertiert den möglichen Bildungsvorhalt.

Negation des Anderen als phantasmatische Selbstreferenz Lacan hat keine Bildungstheorie geschrieben. Bildungstheoretisch bedeutsam ist jedoch seine Entdeckung der phallischen Funktion des Objektes »a«. Der Phallus, verstanden als Signifikant ohne Signifikat, kraft dessen sich Signifi60

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kanten mit Sinn und Bedeutung aufladen, spielt seine Dynamik in phantasmatischen Varianten von Objekten »a« aus. Diese werden auf der Grenze zwischen imaginärer und symbolischer Ordnung als Repräsentationen eines im Realen vermeintlich sich befriedigenden Mangels evoziert. Wegen des „Flimmerns“ (Lacan 1987: 89) zwischen den Registern ermöglichen die Objekte »a« Bezugnahmen auf den Anspruch eines Anderen, das den je gegebenen Erfahrungsrahmen transzendiert, ohne dieses Andere jedoch je als dieses einzuholen: potenzielles Movens eines nie endenden Bildungsprozesses, humanes, vor seinem Untergang im differenzlosen Genuss bewahrtes Glück. Das im Horizont des Mangels operierende Objekt »a« legt der Zugänglichkeit des original Unzugänglichen Spuren. Sein Flimmern in und zwischen den Ordnungen entwirft einen vom Anspruch eines Anderen markierten Vorstellungsraum, den zu erobern und auszubauen wir uns auf mögliche Bildungswege machen können. Auch in der Anlehnung an Lacans Begrifflichkeit bewährt sich die Bezugnahme auf transkulturelle Kommunikation als bildungstheoretisches Paradigma, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zunächst lässt die Einsicht in das Flimmern des Objekts »a« zwischen den Ordnungen verstehen, dass transkulturelle Kommunikation (wie jede Kommunikation) nie in identisches Verstehen einmünden kann. Sofern Objekte »a« in der Ordnung des Imaginären spielen, bleiben sie voller Übersetzbarkeit in die Ordnung des Symbolischen entzogen. Sofern sie in der symbolischen Ordnung spielen, sind sie durch kulturelle Rede- und Denkfiguren geprägt, die nur im Maße der Teilhabe am Figurenrepertoire einer Kultur zugänglich sind. Und sofern Objekte »a« auf uneinholbar Reales verweisen, sind sie bestimmender Artikulation entzogen. Ihr Flimmern bewahrt nicht nur transkultureller Kommunikation die Dynamik einer Differenz, die weder durch den Fremden noch durch den einholbar ist, der einheimisch zu sein glaubt. Das Flimmern der Phallusfunktion in Objekten »a« gibt einer jeden Kommunikation das Potential eines unendlichen Bildungsprozesses, es bewahrt sie vor dem Tod. Das analysierte Beispiel transkultureller Kommunikation lehrt, dass ein Objekt »a« phantasmatischer Selbstreferenz auch als Negation des Anspruchs eines Anderen imaginiert werden kann. Doch die Logik der Negation, von Lacan als Dialektik des Begehrens diskutiert, ist gefährlich. Sie führt leicht in verhärtete Objekt-»a«-Konstruktionen, die nicht aufzulösen sind, so lange die Struktur ihres Wirkens unerkannt ist. Eine einfacher formalisierende Skizze der Beispielanalyse mag das Argument verdeutlichen. Die Diskussion gilt der Frage, ob das Verhalten des Kassierers und der Deutschen in der Warteschlange vor der Kasse rassistisch sei. Diese Frage ist das problematische Thema, das die Kontrahenten je auf ihre Weise zu beantworten suchen. Auf der Ebene des manifesten Inhalts versuchen sie, die Frage zu beantworten, indem sie sie auf einen Deutungskontext bezie-

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hen. Auf dieser Ebene erscheinen die herangezogenen Deutungskontexte je für sich als positive Aussagen. Die D-Aussage, dass die Frage unentscheidbar sei, behauptet ihren Wahrheitsanspruch, indem sie die fragliche Behauptung auf die erkenntnistheoretischen Bedingungen ihrer Möglichkeit als den Deutungskontext bezieht, in dem allein die Frage zu diskutieren sei: Die epistemologische Differenz von objektiv beobachtbarem Verhalten und subjektivem Sinn macht die Frage unentscheidbar. Die C-Aussage, das beobachtete Verhalten vor der Kasse sei rassistisch, behauptet ihren Wahrheitsanspruch, indem sie das Verhalten einerseits als unwiderleglichen Ausdruck der deutschen Geschichte und andererseits auf Grund erlittenen Erlebens deutet, das für den rassistisch Initiierten evident sei: Das Verhalten ist rassistisch. Kollektive Geschichte und individuelles Erleben machen die Frage entscheidbar. Die D- und die C-Aussagen stellen also die fragliche Behauptung auf dieser ersten Ebene in verschiedene, einander jeweils ausschließende Deutungskontexte ein. Indem jedoch die D-Aussage die C-Aussage und die C-Aussage die D-Aussage ausschließt, tritt per negationem jener Effekt ein, der nicht nur die jeweiligen Aussagen, sondern unausgesprochen den Welt- und Selbstentwurf der Diskutanten stärkt. Die D-Aussage verankert ihren stummen Anspruch in der Negation der C-Aussage, indem sie diese als Zeugnis eines eklatanten Unverständnisses erscheinen lässt, das in dem Umstand begründet sei, dass den C-Sprechern die notwendige Einsicht in den erkenntnistheoretischen Kontext fehle. Die C-Aussage verankert umgekehrt ihren stummen Anspruch in der Negation der D-Aussage, indem sie diese als Zeugnis eines ebenso eklatanten Unverständnisses erscheinen lässt, das in dem Umstand begründet sei, dass der Sprecher D als Angehöriger der deutschen Gesellschaft von eben jenem Rassismus geprägt sei, den kritisch zu erleiden ihm nicht möglich sei. So verbürgen beide Seiten ihre Welt- und Selbstentwürfe, indem sie die je andere Seite besser zu kennen behaupten als diese sich selbst und ihr die Einsicht in den sie je verbürgenden Kontext zu bestreiten suchen. Der nicht artikulierte Negationseffekt wird zum Objekt »a«, als das der je eigene Welt- und Selbstentwurf stumm evoziert wird. Indem die Stummheit den Gegensatz der Deutungen expliziter Entfaltung entzieht, gibt sie den Welt- und Selbstentwürfen jene Festigkeit, aus der sich die perpetuierende Wiederholung der jeweiligen Deutungen speist. Die zurückgewiesene Deutung der jeweils anderen Seite wird per negationem zum Projektionsschirm, auf dem in der Form eines Objekt »a« der eigene Welt- und Selbstentwurf inszeniert und verbürgt wird. Da im Objekt »a« imaginäre, symbolische und reale Momente spielen und diese durch den Negationseffekt nochmals gebrochen werden, lässt sich die Figur des hier wirksamen Welt- und Selbstentwurfs mit symbolischen Mitteln

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nicht in ihrem vollen Sinn artikulieren. Will man die Figur gleichwohl andeuten, lässt sie sich für den D-Sprecher so formulieren: Ich negiere den C-Anspruch, indem ich auf die epistemologische Differenz von Beobachtung und subjektivem Sinn verweise. Ich versichere mich meines Selbst, indem ich meine Subjektivität in der Negation der C-Aussage verbürge. Für die C-Sprecher lässt sie sich so skizzieren: Ich negiere den DAnspruch, indem ich auf das Zusammenwirken von kollektiver Geschichte und individuellem Erleben verweise. Ich versichere mich meines Selbst, indem ich meine Subjektivität in der Negation der D-Aussage verbürge. Übersetzt man die skizzierten Figuren, um deren reziproke Struktur zu verdeutlichen, in ein Schema, ergibt sich das folgende Bild: strittige Frage: Ist das Verhalten des Kassierers rassistisch? Ebene der manifesten Artikulation: Die Differenz von objektiv beobachtbarem Verhalten und subjektivem Sinn macht die Frage unentscheidbar:

Das Verhalten ist rassistisch. Kollektive Geschichte und individuelles Erleben machen die Frage entscheidbar:

= ?, da epistemologisch unentscheidbar

= ja, da gesellschaftlich geprägt und erlebbar

( imaginärer Welt- und Selbstentwurf in der Negation der C-Aussage )

( imaginärer Welt- und Selbstentwurf in der Negation der D-Aussage )

Negationseffekte im Modus stummer Objekte «a»

Figur 7: Phantasmatische Selbstreferenz in der Negation des Anderen im anderen Die Durchdringung imaginärer, symbolischer und realer Momente im Objekt »a« macht nicht nur die symbolische Darstellung seines vollen Gehalts unmöglich. Wichtiger ist, dass die jeweiligen, gegeneinander stehenden Objekte »a« stumm die Welt- und Selbstentwürfe der Diskutanten tragen und sie zugleich symbolischer Zugänglichkeit entziehen – ein Umstand, an dem Argumentationstheorien scheitern, sofern sie Diskussionen auf einen Streit über 63

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den Wahrheitsgehalt von Propositionen zu reduzieren suchen. Die Verankerung der Welt- und Selbstentwürfe per negationem in den stummen Objekten »a« subvertiert den an der symbolischen Oberfläche argumentativ geführten Streit um die Wahrheit der D- und C-Aussagen zu einem Kampf um Objekte »a« und ihnen phantasmatisch innewohnende Welt- und Selbstverhältnisse. Das kleine Beispiel des Streits um den Rassismus eines Kassiererverhaltens lässt die Grundfigur eines Kulturstreits erkennen, der transkultureller Diskursivität entzogen ist, weil die Objekte »a« und die ihnen zugehörenden Welt- und Selbstverhältnisse kraft der Negation des Anderen kon- und refiguriert werden.

Schluss: Kann der Bildungsvorhalt kultureller Differenz produktiv werden? Interpretiert man den Streit und seine kulturellen Referenzen bildungstheoretisch, ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Die Analyse legt die Sorge nahe, dass kulturelle Differenz durch transkulturelle Bildungsprozesse nicht zu überwinden sei. Die Konfiguration eines Objekts »a« in der Negation des Anderen scheint einen Bildungsprozess zu verhindern, der im Aufbruch der eigenen Ordnung und im Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses einen bewährbaren Zugang zum original Unzugänglichen einer anderen Kultur suchen könnte. Wenn dieser Schluss gerechtfertigt ist, wird die Aufklärungshoffnung widerlegt, dass eine an Argumentation und an propositionalem Denken orientierte Bildung Differenz produktiv ausmünzen und Differenzprobleme dieser Welt lösen könne. Schlimmer noch: Indem argumentativ angestrengte Bildungsprozesse sich in „Bildung“, in phantasmatische Bilder von Bildung umsetzen, verhindern sie, so ist zu vermuten, eben das, was zu erreichen sie in ihrer Anstrengung vorgeben. Scheitert damit das Projekt einer an Transkulturalität orientierten Bildungstheorie? Gesetzt, die Vermutung ist gerechtfertigt, dann scheitert, um es zu wiederholen, nur eine Bildungstheorie, die die Zugänglichkeit des original Unzugänglichen auf Figuren propositionalen Denkens reduziert. Sie scheitert, weil sie damit den Vorbehalt verteidigt und den virtuellen Gehalt schwächt, der im Bildungsvorhalt auch vorgehalten wird. Ist eine andere Bildungstheorie denkbar? Ich habe bewusst von Bildungsprozesstheorie gesprochen. Während der Terminus Bildung an das Individuum als ihren Träger denken lässt, legt der Terminus ‚Bildungsprozess‘ eine andere Vorstellung nahe. Zunächst verweist die Rede vom Prozess auf die Veränderung in der Zeit und in der situativen Rahmung, so dass das Subjekt des Bildungsprozesses nicht mehr als ein schlicht mit sich identisches zu denken ist. Wenn aber, wie ich in Anlehnung an Lacans Analysen zu zeigen versucht habe, das Subjekt als eine Funktion des 64

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Bildungsprozesses zu denken ist, bilden die von Lacan genannten Ordnungen des Realen, des Imaginären und des Symbolischen einen Referenzrahmen von Bildungsprozessen, der zeitlich und situativ unbestimmt ist und nicht auf ein einzelnes Subjekt noch auf seinen Austausch mit anderen, vereinzelt gedachten Subjekten zu reduzieren ist. Bildung wird dann als Prozess eines Handelns begreifbar, das auf ein Problem, verstanden als Anspruch eines original Unzugänglichen, mit dem Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses antwortet, eine Antwort, die das auslösende Problem im Referenzrahmen der verschiedenen Ordnungen durch eine andere Kon- und Refiguration zu lösen verspricht und sich im nie abgeschlossenen Bildungsprozess als ein Zugang, als, mit einem Begriff Ricœurs, als „Neubeschreibung“ (vgl. Ricœur 1986: 235) zu bewähren hat, die das original Unzugängliche achtet. Wie ist ein solcher Bildungsprozess vorzustellen? Eine allgemeine Auskunft, wie ein Bildungsprozess beschaffen sein müsse, der ein Problem als Handlungsproblem aufnimmt und durch seine andere Kon- und Refiguration im Referenzrahmen der verschiedenen Ordnungen, und das heißt: durch den Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses antwortet, kann es jenseits formaler Aussagen schwerlich geben. Erinnern kann man zwar an Waldenfels’ Aussage, dass eine Erfahrung zu machen bedeute, etwas durchzumachen (vgl. oben S. 28). Doch bewähren muss sich die Antwort im bestimmten Entwurf, der die Erfahrung aufnimmt, indem er sie als Handlungsproblem durchmacht. Ob sich ein Entwurf als ein Zugang zum original Unzugänglichen bewährt, lässt sich deshalb nur im Blick auf eine bestimmte Handlungssituation diskutieren. Deshalb versuche ich abschließend, am Beispiel des Rassismusstreits Aspekte eines so verstandenen Bildungsprozesses zu klären. Das Dilemma des Streits ist in dem Luxus begründet, die Frage des Rassismus vom Anspruch des praktischen Handlungsproblems abkoppeln, als nur theoretische Frage diskutieren und in der Negation des Anderen Welt- und Selbstverhältnisse aufrecht erhalten zu können. Anders könnte sich eine Diskussion vollziehen, die sich dem Anspruch stellte, jenes Problem auch handelnd zu bearbeiten, das, als rassistisches Verhalten konfiguriert, von den Streitenden unterschiedlich refiguriert wird. Natürlich würde auch dann die Rede vom Rassismus nicht identisch verstanden. Sie würde vielmehr als Äquivokation fungieren, die es den unterschiedlich Refigurierenden erlaubte, sich auf ein symbolisch gleich Konfiguriertes zu beziehen. Sie könnten sich einem Handlungsproblem stellen, das zu lösen sie anträten. Das Drängen der phantasmatischen Objekte »a« der Streitenden wäre an das und vielleicht im Drängen des Handlungsproblems gebunden. Natürlich darf man auch hier nicht eine alte Illusion durch eine neue ersetzen. Denn was ein drängendes Problem ist, bedarf wie jede Aussage der Interpretation, so dass man vermuten könnte, dass sich der Streit auf die Frage verschöbe, was denn 65

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das drängende Problem sei. Doch man darf sich nicht von einer Identitätsforderung verführen lassen, die über die symbolische Konfiguration hinausginge. Sie wäre nicht nur nicht erfüllbar. Sie würde auch (als romantischer Identitätsterror) den Anspruch des original Unzugänglichen missachten. Im Blick auf die symbolisch gleiche Konfiguration des dem Handeln zur Lösung aufgegebenen Problems *rassistisches Verhalten gibt es und auf die Freiheit der verschiedenen Refigurationen *über rassistisches Verhalten kann der Beobachter nichts sagen oder *die Menschen verhalten sich auf Grund ihrer Geschichte rassistisch lässt sich eine Lösung des Problems finden. Das von Bernard markierte Problem besteht darin, dass der Kassierer, der die zweite Kasse eröffnet, statt ihn, Bernard, den Zweiten in der Warteschlange vor der ersten Kasse, zu bedienen, sich dem Dritten zuwendet, so dass sich Bernard angesichts seiner längeren Wartezeit rassistisch übervorteilt sieht. Das verhaltenspraktische Problem wäre durch eine praktische „Neubeschreibung“ zu lösen, die darin bestehen könnte, dass es vor mehreren Kassen nur eine einzige Warteschlange gäbe, so dass je nach frei werdender Kasse die in der einen Schlange Wartenden vorrückten und Willkür ihrer Reihung vermieden würde. 24 Die Schlichtheit einer solchen Lösung erlaubt, einige theoretische Aspekte einer Bildungsprozesstheorie zu markieren. Die eine Warteschlange vor einer Mehrzahl von Kassen beseitigt zwar nicht die Existenz von Rassismus. Aber sie klammert in der bestimmten Situation eine rassistisch motivierte Konkurrenz der Wartenden aus, indem sie ihr das Figurationspotential entzieht. Auch wenn solche Organisation frei flottierende rassistische Deutungen der Akteure nicht vollends ausschließen kann, lenkt sie das Verhalten so, dass sie für den Handlungsablauf funktionslos bleiben. Damit werden auch Konkurrenz- und Dominanzansprüche der Wartenden neutralisiert. Indem solche Ansprüche des figurativen Handlungsfeldes beraubt werden, finden sich die Wartenden in einem anderen, organisatorisch vorentworfenen Welt- und Selbstverhältnis wieder, das als ein anderer Bildungsvorhalt seinen Gehalt entfalten kann. Zwar bleibt das original Unzugängliche – das, was sich in den Objekten »a« der epistemologischen Selbstverbürgung einerseits, der Selbstverbürgung im erlebten Leiden andererseits andeutet – original unzugänglich. Doch der Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses kann zur Konfiguration einer anderen Praxis führen, die mit der Freiheit verschiedener Refigurationen das original Unzugängliche achtet, als Bildungsvorhalt des unabschließbaren Bildungsprozesses aufrecht erhält und, statt in seiner Originalität, in einem anderen Welt- und Selbstentwurf zugänglich macht. So kann im gegebenen Beispiel die Wahrnahme des Streitthemas als eines zu lösenden Handlungsproblems den möglichen Gehalt des im Streit wirksamen Bildungsvorhaltes so ausmünzen, 24 Diese etwa von der Deutschen Bahn und der Post praktizierte Organisationsform schließt anders immer wieder auftretende Wartekonflikte aus.

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dass das manifeste Verhaltensproblem überwunden und das Rassismusproblem in der Dynamik der verschiedenen Ordnungen als „neubeschreibender“ Entwurf anderer Welt- und Selbstverhältnisse kon- und refiguriert wird.

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RAINER KOKEMOHR

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PROBLEME

THEORIE TRANSFORMATORISCHER BILDUNGSPROZESSE EINER

HANS-CHRISTOPH KOLLER

In dem Text, der den Beiträgen dieses Bandes zugrunde liegt, versucht Rainer Kokemohr eine Bildungstheorie zu entwickeln, die Bildungsprozesse als Transformationen von Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses begreift. Solche Transformationen vollziehen sich demzufolge in Auseinandersetzung mit Erfahrungen, „die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen“ (Kokemohr in diesem Band: 21). Dieses Anliegen lässt sich einordnen in eine Reihe jüngerer Versuche, den Bildungsbegriff als zentrale Orientierungskategorie der Erziehungswissenschaft so zu reformulieren, dass er sowohl veränderten gesellschaftlichen Bedingungen als auch dem neueren Stand sozial- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gerecht wird (vgl. z.B. Klafki 1994 und Peukert 1998; 2000). Die Besonderheit von Kokemohrs Vorhaben gegenüber anderen solchen Versuchen besteht nun nicht allein darin, dass er seine Neufassung des Bildungsbegriffs als „Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie“ kennzeichnet (und damit ausdrücklich den prozessualen Charakter von Bildung ins Zentrum stellt), sondern vor allem in seinem zugleich theoretisch und methodisch originellen Zugriff. Theoretisch zeichnet sich Kokemohrs Projekt dadurch aus, dass er Bildung als einen sprachlich figurierten Transformationsprozess begreift, in dem die Art und Weise, in der ein Subjekt sich zur Welt und zu sich selbst verhält, grundlegende Veränderungen erfährt. 1 Methodisch verfährt Kokemohr so, dass er im Gegensatz zur gängigen Arbeitsteilung zwischen philosophisch orientierter Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung auf eine Verknüpfung beider Vorgehensweisen setzt. Als exemplarischer Bezugspunkt dient ihm dabei das Transkript einer Diskussion auf einer wissenschaftlichen Tagung, in deren Verlauf europäische und afrikanische Wissenschaftler die 1

Dazu kommt, dass Kokemohr in seinem Text den Anspruch erhebt, sich von der in der bildungstheoretischen Tradition weit verbreiteten Präsupposition eines selbstreferenziellen autonomen Subjekts zu lösen und diese durch die Vorstellung eines „sozialreferenziellen Subjekts“ zu ersetzen (in diesem Band: 22). Auf diesen wichtigen und originellen Aspekt von Kokemohrs Vorhaben geht dieser Beitrag aus Raumgründen nicht näher ein.

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Frage erörtern, inwiefern ein bestimmtes Verhalten als „rassistisch“ bezeichnet werden kann. Die Wahl dieses Beispiels inter- oder besser transkultureller Kommunikation ist dabei durch die Annahme motiviert, dass sich gerade „im Lichte der Möglichkeiten und […] Schwierigkeiten transkultureller Bezugnahme zeigen“ könne, „was ein Bildungsprozess empirisch ist“ (Kokemohr in diesem Band: 23). Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Koller 2005a; 2005b), steht die Ausarbeitung einer solchen Theorie transformatorischer Bildungsprozesse vor der Aufgabe, (mindestens) folgende drei Fragen zu beantworten: Erstens: Wie lassen sich die widerständigen Erfahrungen, die Kokemohr als Anlass oder Herausforderung für Bildungsprozesse auffasst, theoretisch und empirisch genauer bestimmen? Gibt es – etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und historischen Konstellationen – typische Herausforderungen, deren Bearbeitung Bildungsprozesse erforderlich macht oder zumindest nahe legt? Zweitens: Welche begrifflichen Konzepte sind geeignet, um die Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses von Subjekten, als deren Transformation Bildung hier verstanden wird, theoretisch zu erfassen und empirisch zu analysieren? Und drittens: Wie sind die Prozesse der Transformation solcher Welt- und Selbstverhältnisse theoretisch und empirisch näher zu beschreiben, die Kokemohr als Bildung begreift? Dabei wäre neben den Verlaufsformen und Bedingungen solcher Bildungsprozesse vor allem die Frage zu untersuchen, wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind. Da ich mich selbst diesem Projekt einer empirisch fundierten Theorie transformatorischer Bildungsprozesse verbunden fühle, werde ich im Folgenden schrittweise prüfen, was der von Kokemohr vorgelegte Text zur Klärung dieser drei Fragen beizutragen vermag, und dabei nicht nur herausarbeiten, worin der Gewinn der von ihm vorgeschlagenen Weichenstellungen besteht, sondern auch welche Probleme sich bei der empirischen Realisierung des Programms stellen und welche Fragen offen bleiben. Die Fruchtbarkeit von Kokemohrs Text sehe ich darin, dass er sowohl eine in ihrer Grundanlage überzeugende Konzeption von Bildungsprozessen vorlegt, als auch eine Fülle von Anschlussfragen aufwirft, die weitere Reflexionen und Analysen herausfordern.

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PROBLEME EINER THEORIE TRANSFORMATORISCHER BILDUNGSPROZESSE

Fremdheitserfahrungen als Anlass für Bildungsprozesse Ich beginne mit der Frage nach der theoretischen und empirischen Erfassung derjenigen Erfahrungen, die zum Anlass eines Bildungsprozesses werden, weil und insofern sie sich der Subsumtion unter die Figuren eine je gegebenen Welt- und Selbstverhältnisses widersetzen. Kokemohr nähert sich dieser Frage theoretisch unter Rekurs auf Bernhard Waldenfels’ „Topographie des Fremden“ (Waldenfels 1997) und sieht den (oder zumindest einen) Anlass für Bildungsprozesse in der Erfahrung des Fremden, wie sie von Waldenfels beschrieben wird. Was bei Kokemohr zunächst „Subsumtionsresistenz“ genannt wurde, erscheint nun als Fremdes, das sich Waldenfels’ paradoxer Formel zufolge zeigt, „indem es sich entzieht“ (ebd.: 42). Demnach entzieht sich das Fremde insofern, als es der Ordnung, die unsere Wahrnehmung strukturiert, nicht zugänglich ist. Gleichwohl zeigt es sich, indem von ihm ein Anspruch ausgeht, indem es beunruhigend und störend in diese Ordnung einbricht. In diesem Rekurs auf Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden sehe ich einen doppelten Gewinn für die Ausarbeitung einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Zum einen wird dadurch hervorgehoben, dass der Anstoß für Transformationen stets von anderswoher kommt. Bildung ist nicht die bloße Entfaltung immer schon vorhandener ‚innerer‘ Kräfte, die der Außenwelt allenfalls im Sinne eines Übungsfeldes bedürfen. Bildung ist vielmehr ein „responsives“ Geschehen, bei dem das Subjekt auf einen Anspruch antwortet, der von einem anderen Ort aus ergeht und dem es sich nicht oder nur um den Preis einer Verhärtung seines Welt- und Selbstverhältnisses entziehen kann. Und zum andern macht der Rekurs auf Waldenfels deutlich, dass Bildung kein harmonisch-naturwüchsiger Reifungsprozess ist, in dem ein Subjekt seine Anlagen im Einklang mit der Umwelt entfalten würde. Bildung wird vielmehr, folgt man Kokemohrs Überlegungen, ausgelöst durch krisenartige Erfahrungen, die mit einer Beunruhigung, einer Störung, ja einem gewaltsamen Einbruch in die gewohnte Ordnung einhergehen. Kokemohrs Deutung von Waldenfels’ Topologie des Fremden erscheint mir allerdings an einer Stelle als problematisch, wo das Fremde unter der Hand mit dem Anderen im Sinne einer anderen Person gleichgesetzt wird. Waldenfels’ Überlegung, wonach aus dem beunruhigenden Charakter der Fremdheitserfahrung die Forderung abzuleiten sei, statt von der Frage, was das Fremde ist, von dieser „Beunruhigung“ auszugehen und dem Fremden seine Fremdheit zu belassen (Waldenfels 1997: 52), deutet Kokemohr bildungstheoretisch als Aufforderung, „eine für den Anderen und für mich lebbare Ordnung zu entwerfen“ (Kokemohr in diesem Band: 32). Auf diese Weise wird nicht nur das Neues hervorbringende Transformationsgeschehen als eine Aktivität des Subjekts verstanden (statt wie bei Waldenfels als etwas, was sich zwischen 71

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dem Ich und dem Anderen vollzieht; vgl. Waldenfels 1997: 53), sondern auch die Fremdheitserfahrung selbst in einer intersubjektiven Beziehung verortet, bei der das Fremde mit dem Anderen im Sinne einer anderen Person gleichgesetzt wird. Dabei weist Waldenfels ausdrücklich darauf hin, dass uns Fremdheit nicht nur „in Anderen“ begegne, sondern als Fremdheit meiner bzw. unserer selbst „im eigenen Haus“ beginne (ebd.: 27) oder – anders formuliert – dass Fremdheit nicht nur intersubjektiv und interkulturell, sondern auch intrasubjektiv und intrakulturell erfahren werden könne. Dieser Hinweis scheint mir auch wichtig im Blick auf die empirische Dimension von Kokemohrs Projekt. Die empirische Analyse von Bildungsprozessen steht vor der Frage, wie Fremdheitserfahrungen als Anlässe für jenes transformatorische Bildungsgeschehen empirisch identifiziert werden können. Das von Kokemohr gewählte Beispiel einer transkulturellen Kommunikation zwischen europäischen und afrikanischen Wissenschaftlern legt nahe, Fremdheitserfahrungen in der wechselseitigen Bezugnahme von ‚Angehörigen‘ oder ‚Vertretern‘ verschiedener Kulturen zu suchen. Und tatsächlich läuft Kokemohrs Analyse auf die These hinaus, dass die beiden konkurrierenden Auffassungen von Rassismus, die in jener Diskussion vertreten werden, einander wechselseitig in dem Sinne fremd seien, dass sie sich im Beitrag des jeweiligen Gegenübers nur insofern zeigen, als sie sich dessen Zugriff entziehen. Dieser Lesart kommt zweifellos einige Plausibilität zu, und doch birgt sie zugleich zwei Probleme, die aus der Gleichsetzung des Fremden mit dem Anderen (im Sinne einer anderen Person) resultieren. Zum einen legt der Kontext der Transkulturalität eine kulturalisierende Reduktion der Interaktionspartner auf ihre jeweilige Herkunftskultur nahe, die bei Kokemohr in der problematischen Benennung des deutschen Teilnehmers als „D“ und (noch mehr) der beiden afrikanischen Wissenschaftler als „C1“ bzw. „C2“ anklingt (als ob diese nur mehr oder weniger austauschbare Repräsentanten einer C-Kultur wären). Zum andern wird bei diesem Vorgehen die Suche nach Fremdheitserfahrungen von vorneherein auf die wechselseitige Bezugnahme der Subjekte aufeinander beschränkt und so die Möglichkeit intrakultureller bzw. intrasubjektiver Fremdheit ausgeschlossen. Dabei wäre doch denkbar, dass Fremdheitserfahrungen im vorliegenden Fall weniger mit den Grenzen zwischen den Personen als vielmehr mit den Unterschieden zwischen den Diskursarten zu tun haben, deren Regeln die Äußerungen der Gesprächspartner folgen. In einer Analyse desselben Dokuments habe ich an anderer Stelle (vgl. Koller 2005a) zu zeigen versucht, dass es sich bei diesem Disput über Rassismus um einen Widerstreit im Sinne Lyotards handelt, bei dem in einer gemeinsamen, von beiden Kontrahenten gesprochenen Diskursart, nämlich der Diskursart wissenschaftlicher Rede ‚etwas‘ nicht artikuliert werden kann, was aber dennoch danach drängt, gesagt zu werden und deshalb nur indirekt (etwa in Intonation und Sprechgeschwindigkeit) zum Ausdruck kommt. Im Kontext von Waldenfels’ Konzep72

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tion des Fremden ließe sich ein solcher Widerstreit als Fremdheitserfahrung begreifen, bei dem jenes ‚Etwas‘ sich zeigt, indem es sich den Regeln der vorherrschenden Diskursart entzieht. Die Suche nach Fremdheitserfahrungen in einem empirischen Dokument hätte diesen Überlegungen zufolge nicht von personalen Instanzen, sondern von Diskursen auszugehen und danach zu fragen, wo und wie sich in einer Diskursart Fremdes zeigt, indem es sich den Regeln dieser Diskursart entzieht. Auf diese Weise entkäme man der problematischen Tendenz, das Eigene und das Fremde mit personalen Instanzen gleichzusetzen, und wäre in der Lage, auch intrasubjektive bzw. intrakulturelle Fremdheitserfahrungen analysieren zu können. Als Fazit im Blick auf die erste der eingangs formulierten Fragen wäre deshalb festzuhalten, dass der Rekurs auf Waldenfels’ Konzeption der Fremderfahrung prinzipiell fruchtbar ist, dass mir aber deren bildungstheoretische Ausformulierung und empirische Konkretisierung als problematisch erscheint.

Narrative Entwürfe von ‚Welt‘ als Grundstruktur des Welt- und Selbstverhältnisses Die zweite eingangs skizzierte Frage, auf die eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu antworten hätte, betrifft die Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses, als deren Transformation Kokemohr Bildung begreift. Wenn geklärt ist, welche Erfahrungen geeignet sind, diese Transformationen hervorzurufen, müsste eine solche Theorie in einem zweiten Schritt erklären, wie die Welt- und Selbstverhältnisse, die Gegenstand dieser Transformationen sind, theoretisch erfasst und empirisch analysiert werden können. Als Ausgangspunkt für die konzeptuelle Erfassung von Welt- und Selbstverhältnissen wählt Kokemohr die Erzähltheorie Paul Ricœurs (vgl. Ricœur 1988-91). Eine Weichenstellung für diese auf den ersten Blick vielleicht überraschende Entscheidung ist bereits an früherer Stelle erfolgt, wenn Kokemohr schreibt, „dass Wahrnehmung nur in einer semiotisch figurierten Ordnung bewusst werden“ könne (Kokemohr in diesem Band: 28). Die Art und Weise, in der ein Subjekt sich zur Welt und zu sich selbst verhält, ist demnach stets sprachlich oder zumindest semiotisch, also zeichenförmig strukturiert. Folgerichtig greift Kokemohr bei der Suche nach einer Theorie, um dieses Welt- und Selbstverhältnis näher zu bestimmen, auf eine Konzeption zurück, die die Welt- und Selbstentwürfe der Menschen als Resultat einer spezifisch sprachlichen Aktivität, nämlich des Erzählens beschreibt. Erzählen ist Ricœur zufolge eine für das menschliche In-der-Welt-Sein konstitutive Aktivität, kraft derer der Mensch seine Welt entwirft und dabei die Grenzen einer Ordnung sichert oder verändert. Ähnlich wie Waldenfels versteht Ricœur das Erzählen dabei als Antwort auf einen Anspruch, in diesem Fall auf die Aporie zwischen dem 73

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Sein und dem Nicht-Sein der Zeit, die Ricœur als existenzielle Dissonanz deutet, die nur erzählend zur Konsonanz gebracht werden könne. Den erzählerischen Weltentwurf beschreibt Ricœur dabei unter Bezug auf das Mimesiskonzept als dreifachen Vorgang der Präfiguration, der Konfiguration und der Refiguration. Präfiguration bezeichnet die im Sprachvorrat einer Kultur bereit liegenden Elemente möglicher Bedeutung, Konfiguration die Synthese dieser Figuren „zu einem textuellen Ensemble neuer Bedeutungen“ und Refiguration das Wirklichwerden dieser konfigurierten Bedeutungen im weltentwerfenden Akt der Lektüre (Kokemohr in diesem Band: 36). Kokemohr zufolge bietet diese Konzeption des Erzählens die Chance, Welt- und Selbstverhältnisse sich bildender Subjekte nicht nur begrifflich genauer zu fassen, sondern auch empirisch zu analysieren, indem man „sowohl nach sprachlich-figurativen Prozessen [fragt], in denen neue Weltentwürfe aufscheinen, als auch nach Prozessen, in denen gegebene Weltentwürfe stabilisiert werden“ (ebd. 36 f.). Den Gewinn dieses Rückgriffs auf die Erzähltheorie Ricœurs besteht darin, dass Welt- und Selbstverhältnisse damit in ihrer sprachlichen Figuriertheit begriffen und so auf ihre Entstehung sowie ihre Um- bzw. Neugestaltung hin untersucht werden können, wie sie sich im Prozess der Produktion oder Rezeption von Erzählungen vollziehen. Menschen, so wäre Ricœur bildungstheoretisch zu interpretieren, verhalten sich zur Welt und zu sich selbst, indem sie erzählend eine Welt (und ein Selbst) entwerfen. Welt und Selbst sind folglich den Subjekten nicht einfach gegeben, sondern werden in erzählerischen Entwürfen allererst hervorgebracht. Im Blick auf das Interesse an der empirischen Analyse von Bildungsprozessen folgt daraus, dass man Welt- und Selbstverhältnisse an der Art und Weise ablesen kann, in der Erzählungen auf kulturell bereit liegende Präfigurationen zurückgreifen, daraus konfigurierend Weltund Selbstentwürfe synthetisieren und schließlich in refigurierenden Lektüren wirklich werden. Daraus erwächst freilich auch ein Problem, wenn man bedenkt, wie Kokemohr seine Überlegungen zu Ricœur in empirische Analysen übersetzt. Bei Ricœurs Konzeption sprachlich-figurativer Weltentwürfe handelt es sich explizit um eine Erzähltheorie und als solche wird sie von Kokemohr zunächst auch eingeführt. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation legt Kokemohr allerdings den Begriff des Erzählens sehr weit aus – etwa, wenn er schreibt, Ricœurs Erzählbegriff umfasse „alles Sprechen, das etwas als Sachverhalt zur Sprache bringt und alte Ordnungen anerkennt oder neue Ordnungen entwirft“ (Kokemohr in diesem Band: 35). Und in seiner empirischen Analyse der Rassismus-Diskussion bezieht Kokemohr sich dann auf sprachliche Äußerungen, von denen man zwar sagen kann, dass sie etwas als Sachverhalt zur Sprache bringen, die man jedoch gemeinhin nicht als Erzählungen bezeichnen würde.

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Zu fragen ist, ob diese großzügige Auslegung des Erzählbegriffs nicht analytisches Potential verschenkt, das vor allem den spezifischen Bezug des Erzählens zur Zeit betrifft. Versteht man das Erzählen – wie Ricœur – als sprachliche Artikulation eines Handlungszusammenhangs in der Zeit und d.h. in einer bestimmten, unumkehrbaren zeitlichen Reihenfolge, so handelt es sich dabei doch um eine spezifische, von anderen Diskursarten unterschiedene Form sprachlichen Handelns. Man müsste sich dann aber entscheiden, ob man – mit Ricœur – diese Form der Rede als konstitutiv für das menschliche In-der-WeltSein begreift und demzufolge als Gegenstand empirischer Analysen auch tatsächlich Erzählungen wählt, oder ob man – über Ricœur hinaus – nach sprachtheoretischen Konzepten sucht, die es erlauben, verschiedene Formen der Rede (wie etwa Erzählen, Argumentieren und Beschreiben) voneinander zu unterscheiden und auf ihre je spezifische Bedeutung für die Konstitution von Weltund Selbstverhältnissen zu untersuchen. Dieser Einwand betrifft auch Kokemohrs empirische Analysen. Denn seine Untersuchung von Welt- und Selbstverhältnissen im Protokoll der RassismusDiskussion beschränkt sich auf den Gebrauch von Personalpronomina und damit auf ein Gebiet, das gerade kein Spezifikum von Erzählungen darstellt, sondern verschiedenen Diskursarten gemeinsam ist. Kokemohrs Begründung seiner Konzentration auf die Art und Weise, in der die Kontrahenten des Streitgesprächs Personalpronomina wie ich, du oder er gebrauchen, mit dem Verweis darauf, dass Personalpronomina eine Art sprachlicher „Keimzellen“ des Weltund Selbstverhältnisses seien (Kokemohr in diesem Band: 40), ist zwar theoretisch plausibel, doch bei der empirischen Einlösung ergeben sich auch hier Probleme. Im Blick auf die Rede Ds, des deutschen Wissenschaftlers, der betont, dass es sich bei Rassismus um ein Konstrukt ohne ontologischen Referenzpunkt handle, arbeitet Kokemohr heraus, dass D, indem er seine Aussagen über die epistemologischen Bedingungen der Rede von Rassismus in der ersten Person Singular formuliere, dieses Ich als „ein anthropologisch verallgemeinertes ich“ zu verstehen gebe (ebd.: 40) und sich so „als selbstreferenzielles Subjekt eines alle einbegreifenden Interpretationsschemas“ (ebd.: 45) konfiguriere, aus dem „Fremdes, Anderes, Ungesagtes“ ausgeschlossen bleibe bzw. darin nur „im Exklusionsmodus anwesender Abwesenheit“ einbezogen werde (ebd.: 47). Das ist am empirischen Dokument gut nachvollziehbar, wenngleich einerseits zu fragen wäre, was es bedeutet, dass auch Kokemohr seine eigenen Aussagen über Bildungsprozesse gelegentlich in ganz ähnlicher Weise in der ichForm präsentiert, und andererseits, ob eine Redeweise in der dritten Person Singular im Blick auf „Fremdes, Anderes, Ungesagtes“ weniger ausschließend wäre – also etwa wenn man in der Rede von D „ich“ und seine Ableitungen z.B. durch „der Mensch“ oder „das Subjekt“ ersetzen würde.

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Als problematisch erscheint mir demgegenüber Kokemohrs Analyse der Rede der beiden afrikanischen Teilnehmer C1 und C2, die im Widerspruch zu D die Auffassung vertreten, dass Rassismus kein bloßes Konstrukt, sondern eine Realität und als solche ein Gegenstand der Erfahrung sei. Den Umstand, dass sowohl C1 als auch C2 sich auf D in der dritten Person Singular beziehen, deutet Kokemohr als „triadische Struktur“, in der sich „ein ich an die anderen anwesenden du’s wendet und zu ihnen über den aus dem Diskurs ausgeschlossenen er spricht“ (Kokemohr in diesem Band: 43). Das eigene Ich werde auf diese Weise „sozialreferenziell in der Inklusion der gleich Erlebenden und der Exklusion des Anderen“ konfiguriert (ebd.: 45 f). Gegen diese Lesart spricht zunächst der von Kokemohr selbst erwähnte Umstand, dass die Verwendung der dritten Person schlicht darauf zurückzuführen ist, dass schon der Übersetzer sich auf D in der dritten Person bezieht und die beiden afrikanischen Teilnehmer also nur eine eingeführte Redeweise fortsetzen (ebd.: 41f.). Gegen diese Lesart spricht aber auch (was Kokemohr nicht erwähnt), dass sowohl C1 als auch C2 in ihren Ausführungen jeweils nach kurzer Zeit von der indirekten Bezugnahme auf D in die direkte Anrede in der zweiten Person wechseln. 2 So finden sich in der gesamten Rede von C2 nach fünf Bezugnahmen auf D in der dritten Person nicht weniger als 24 direkte Anreden mit „vous“. Angesichts dessen scheint es nicht möglich, den Befund einer „Exklusion des Anderen“ aus dem Diskurs von C1 und C2 empirisch aufrechtzuerhalten. Meiner Lesart zufolge steht dem anthropologisch-verallgemeinerten Ich des Beitrags von D bei C2 vielmehr eine Redeweise gegenüber, in der der Widerspruch zu D überwiegend in der direkten Anrede des Gegenübers vorgebracht wird – paradigmatisch formuliert: „Sie sagen, dass X, ich sage Ihnen aber, dass Y“. Es scheint aber fraglich, ob sich daraus wirklich gegensätzliche Welt- und Selbstverhältnisse rekonstruieren lassen, oder ob der Unterschied nicht eher der Dynamik der Diskussion geschuldet ist, in der C1 und C2 ja auf einen Beitrag Ds antworten. Das Fazit im Blick auf die zweite eingangs aufgeworfene Frage lautet daher: Auch wenn der Zugang über den Gebrauch von Personalpronomina prinzipiell aussichtsreich ist, zeigt die empirische Realisierung, dass eine solche Analyse der Artikulation von Welt- und Selbstverhältnissen Gefahr läuft, die interaktive Dynamik des Geschehens zu vernachlässigen. Notwendig wäre es daher, entweder mit Ricœur die Analyse von Personalpronomina in eine wirk2

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So heißt es in der Rede von C1 direkt im Anschluss an die bei Kokemohr zitierte Passage (Diskussionstranskript: Zeile 276 ff.): „Donc, c’est pour répondre à cela, peut-être que je peux ajouter très brèvement pour répondre au long exposé que vous avez fait.“ (Hervorhebung von mir, HCK) Und auch C2 wechselt in seinem längeren Diskussionsbeitrag nach wenigen Sätzen, in denen er sich auf D als „il“ oder „Monsieur D“ bezog, zur direkten Anrede in der zweiten Person („vous“), um diese bis fast ans Ende seiner Rede beizubehalten (vgl. ebd.: Zeile 298 ff.).

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lich narratologische Analyse einzubetten, d.h. in die Analyse der narrativen Artikulation von Handlungszusammenhängen in der Zeit; oder aber (wenn man sich nicht nur auf Erzählungen im engeren Sinn beschränken will) zumindest den prozessualen Charakter der untersuchten Texte bzw. die Dynamik der darin protokollierten Interaktionen stärker zu berücksichtigen.

Zur Struktur von Transformationsprozessen: Das Lacansche Objekt »a« als Movens von Bildung? Die dritte eingangs gestellte Frage zielt auf Verlaufsformen und Bedingungen des Transformationsprozesses, in dem Bildung sich vollzieht, und nach der Art und Weise, in der dabei Neues entsteht. Mit Ricœur lassen sich Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses als diejenige Art erzählerischer (oder allgemeiner: sprachlich-figurativer) Welt- und Selbstentwürfe begreifen, in denen die Grenzen einer gegeben Ordnung nicht einfach bestätigt, sondern verschoben werden und in denen deshalb das die bisherige Ordnung störende Fremde einen Platz finden kann, ohne einfach subsumiert und in die bisherige Ordnung integriert zu werden. Kokemohrs empirische Analyse des Gebrauchs von Personalpronomina ergibt nun, dass in dem untersuchten Dokument keine solchen Transformationsprozesse anzutreffen seien. In beiden Fällen, in der Rede Ds ebenso wie in den Beiträgen von C1 und C2, wird Kokemohr zufolge das die Ordnung störende Fremde ausgeschlossen, ohne dass es zu einem veränderten Entwurf dieser Ordnung käme. In der Rede Ds artikuliere sich dieser Ausschluss darin, dass der anthropologisch-verallgemeinernde Gebrauch der ersten Person das eigene Ich als ein selbstreferenzielles Subjekt konfiguriert, das alle anderen in das eigene Interpretationsschema einbezieht, aber keinen Platz für abweichende Positionen bietet. In den Diskussionsbeiträgen von C1 und C2 dagegen werde das Andere ausgeschlossen, indem das jeweilige Ich sozialreferenziell durch die Inklusion der gleich Erlebenden konfiguriert werde, mit der zwangsläufig die Exklusion all derer einhergehe, die nicht das Gleiche erlebt haben. Gegen diese Deutung könnte nun leicht eingewandt werden, dass die empirische Analyse sich nur auf eine zeitlich begrenzte Interaktion beziehe, aber nichts über das Gelingen oder Scheitern von Bildungsprozessen im Zusammenhang mit jenem Konflikt insgesamt aussage. Diesem Einwand begegnet Kokemohr durch die Entwicklung seines Konzepts des Bildungsvorhalts, der an den Vorhalt in der Musik erinnert, bei dem ein dissonanter, d.h. akkordfremder Melodieton auf betonter Zählzeit eingeführt wird, um erst in einer darauf folgenden Zählzeit in einen akkordeigenen Ton aufgelöst zu werden (vgl. Hempel 1997: 178). Übertragen auf unser Beispiel stellen die Schwierig77

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keiten transkultureller Bezugnahme für Kokemohr eine Art „figurativer Bildungspotenziale“ dar (Kokemohr in diesem Band: 24), die zwar keine aktuelle Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses bedeuten, aber die Möglichkeit einer solchen Transformation gewissermaßen für später ‚vorhalten‘. Bei der Einführung dieses Gedankens wird allerdings nur deutlich, dass angesichts der in den untersuchten Redebeiträgen artikulierten Welt- und Selbstverhältnisse prinzipiell andere Kon- und Refigurationen denkbar wären; unklar bleibt jedoch, welche konkreten Alternativen in den realisierten Konfigurationen bereits angelegt sind und wie solche Bildungsvorhalte im empirischen Material ausfindig gemacht werden können. Wenn Kokemohr nun im nächsten Schritt auf das Konzept des Objekts »a« aus Jacques Lacans strukturaler Psychoanalyse zurückgreift, so lässt sich dieser Rekurs als Versuch deuten, den Begriff des Bildungsvorhalts weiter auszuarbeiten und das darin enthaltene Potential für künftige Bildungsprozesse theoretisch genauer zu bestimmen. Das Objekt »a« bezeichnet in Lacans psychoanalytischer Theorie das imaginäre Objekt des Begehrens, das dazu bestimmt ist, auf den durch die symbolische Kastration verursachten grundlegenden Mangel, d.h. die Unmöglichkeit einer vollen Befriedigung aller Bedürfnisse zu antworten und dem Subjekt an Stelle solcher Befriedigung den Weg des Begehrens zu eröffnen (vgl. Evans 2002: 205 f.). In Lacans sprachtheoretischer Reformulierung Freudscher Konzepte entspricht dieser Bewegung des Begehrens die metonymische Verweisungsrelation zwischen den einzelnen Elementen der unendlichen Signifikantenkette, während die (unmögliche) volle Befriedigung ihre Parallele in der metaphorischen Ersetzungsrelation hat, bei der ein Signifikant an die Stelle eines anderen tritt und auf diese Weise Bedeutung hervorbringt. Das wesentliche Kennzeichen der metonymischen Bewegung des Begehrens ist daher die Nichtfestgelegtheit und unendliche Verschiebbarkeit seiner Objekte. Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass in der Neurose das Begehren des Subjekts dadurch still gestellt ist, dass es sich auf ein bestimmtes Objekt »a« fixiert, während die analytische Kur darauf abzielt, das Begehren aus dieser Fixierung zu lösen und gleichsam wieder zu verflüssigen (vgl. dazu auch Koller 1990: 50-53). Kokemohrs Rekurs auf Lacan lässt sich nun in verkürzender Weise so zusammenfassen, dass mit Lacans Konzept des Objekts »a« eine wesentliche Dimension von Welt- und Selbstverhältnissen erfasst werden könne, nämlich der „operativ verschattete“, weil unbewusste Bewegungsgrund des sprachlichen Sich-Verhaltens zur Welt und zu sich selbst. Dabei stellt die „Verschattung“ dieses Bewegungsgrundes Kokemohr zufolge die Ursache dafür dar, dass dieses Objekt »a« Bildungsprozesse eher blockiert als befördert. Der Gewinn dieser Bezugnahme auf Lacan besteht darin, dass dessen Theorie es erlaubt, den unbewussten Charakter von Welt- und Selbstverhältnissen sowie ihrer Transformationen theoretisch zu erfassen und – dank deren sprach-

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licher Artikuliertheit – auch empirisch zu analysieren. Bildungsprozesse sind demnach nicht nur als Veränderungen von Bewusstseinszuständen zu begreifen, die in wohlgeformten propositionalen Akten zum Ausdruck kommen, sondern vielmehr als Transformationen unbewusster Konstellationen, die sich in sprachlichen Fehlleistungen und anderen formalen Besonderheiten der Rede artikulieren. Mit Lacan kann dabei die metonymische Kraft des Begehrens als das transformatorische Potential des sprachlichen Verhaltens zur Welt und zu sich selbst begriffen werden, das auch den Bewegungsgrund von Bildungsprozessen und damit einen Bildungsvorhalt im Sinne Kokemohrs darstellt. Dieser ungemein produktive Zusammenhang wird in Kokemohrs Argumentation freilich dadurch verdeckt, dass er das Objekt »a« nicht als Potenzial für mögliche Bildungsprozesse einführt, sondern – vermittelt über Eugen Fincks Begriff der „operativen Verschattung“ – in der gleichsam negativen Funktion der Ausblendung des Bewegungsgrunds einer Aussage und damit eher als Blockierung von Bildungsprozessen. Die andere, an die metonymische Bewegung des Begehrens geknüpfte produktive, Bildungsprozesse ermöglichende Dimension fällt dabei unter den Tisch. Dabei wäre gerade dieser Aspekt geeignet, das Konzept des Bildungsvorhalts auszuarbeiten, indem man das Begehren und die metonymische Verschiebbarkeit seiner Objekte als Potenzial für die Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses begreift. Die verengte Interpretation des Lacanschen Objekts »a« zeigt sich auch in Kokemohrs empirischer Analyse der Rassismus-Diskussion. Sein Versuch, zu bestimmen, was in den Redebeiträgen der beteiligten Subjekte jeweils das Objekt »a« und den verschatteten Bewegungsgrund der Äußerungen darstellt, kommt zu dem Ergebnis, dass in den Äußerungen von D und C1 bzw. C2 jeweils eine spezifische Form der Selbstgewissheit begehrt werde – im Falle Ds die der Kritik enthobene Selbstreferenz des anthropologisch verallgemeinerten Ich, im Falle von C1 und C2 die Selbstgewissheit eines Subjekts, „das sein Urteil aus der nur der Gemeinschaft der Leidenden zugänglichen Ordnung gewinnt“ (Kokemohr in diesem Band: 60). In beiden Fällen blockierten die Objekte »a« einen möglichen Bildungsprozess, indem sie dazu beitrügen, die als gewiss vermeinte Selbstreferenz zu erhalten und so das Potential für Bildungsprozesse still zu stellen. Auch wenn dieser Deutung einige empirische Plausibilität zukommt, erscheint die dabei eingenommene Perspektive in bildungstheoretischer Hinsicht als begrenzt. Vor dem Hintergrund des Konzepts der Bildungsvorhalte wäre es fruchtbarer, in empirischen Analysen auch nach textuellen Elementen zu suchen, in den sich solche Bildungsvorhalte artikulieren und ein nicht realisiertes Begehren nach Verwirklichung drängt. Im vorliegenden Fall müsste die Aufmerksamkeit solchen textuellen Phänomenen gelten, die jene unterschiedlichen

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Formen der Selbstgewissheit unterminieren, die Kokemohrs Analyse zufolge das Objekt »a« der fraglichen Äußerungen darstellen. Im Falle der Rede Ds könnte eine solche Analyse etwa Stellen in den Blick nehmen, an denen die vermeintlich stabile Selbstreferenz des anthropologisch verallgemeinerten Ich ins Schwimmen gerät, z.B. wenn es im Transkript heißt: „Wenn ich diesen Rahmen stecke, dann macht für mich auch diese Geschichte mit ‚unknowingly‘ [...] Sinn [...]. Also er hat ein Interesse dran, das so naturalistisch zu interpretieren. Also gleichzeitig, es muss eine Unsicherheit in der Situation bleiben, wenn er sagt, die machen es unbewusst, kann ich denen das doch nicht unterstellen, dass sie naturalistisch vorgehen. Ich kann es, wenn ich diese Differenz mache, usw. ...“ (Diskussionstranskript: Zeile 239 ff.; Hervorhebungen HCK) Hier kommen neben dem anthropologischen Ich mindestens zwei weitere Instanzen ins Spiel: zum einen ein Ich, das nicht mehr anthropologisch generalisierend alle Menschen umfasst, sondern nur den eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung bezeichnet („wenn ich diesen Rahmen stecke“) und damit implizit die Möglichkeit anderer „Rahmen“ oder Standpunkte einräumt – und zum andern ein Er, das sich auf jenen Kameruner Studenten bezieht, von dessen Erlebnis bei McDonalds die ganze Diskussion ausging. Der Wechsel von der dritten zur ersten Person („wenn er sagt, die machen es unbewußt, kann ich denen das doch nicht unterstellen“) bringt gegen die vermeintliche Selbstgewissheit des anthropologischen Ich eine mögliche Differenz der Perspektiven zwischen Er und Ich ins Spiel, die zum Vorhalt eines neuen, veränderten Welt- und Selbstentwurfs werden könnte. Diese hier nur skizzenhaft ausgeführte Überlegung muss genügen, um anzudeuten, wie die Suche nach Bildungsvorhalten im vorliegenden Fall aussehen könnte. Entscheidend daran scheint, dass der empirische Aufweis solcher ‚Keimzellen‘ eines anderen Welt- und Selbstentwurfs Einsichten in das vermitteln könnte, was innerhalb bestehender sprachlich-figurativer Ordnungen über diese hinausdrängt und so die Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses vorbereitet. Ein auf diese Weise weiterentwickeltes Konzept des Bildungsvorhalts wäre geeignet, um Bildungspotentiale zu erfassen, die gleichsam auf ihre Realisierung warten, ohne dass die Art und Weise dieser Realisierung bereits feststünde. Um abschließend noch einmal auf die musikalische Metapher des Vorhalts zurückzukommen: In der Musik bezeichnet dieser Begriff ja nicht nur den einfachen Fall, bei dem ein harmoniefremder Melodieton auf konventionelle Weise „aufgelöst“, d.h. in einen harmonieeigenen Ton überführt wird. Möglich ist vielmehr auch, dass ein Vorhalt durch eine überraschende Modulation in eine neue, unvorhersehbare Tonart hin aufgelöst wird, ja es gibt sogar Vorhalte (wie Wagners berühmten Tristan-Akkord aus dem Vorspiel zu „Tristan und Isolde“), bei denen offen bleibt, ob und in welcher Richtung sie überhaupt aufgelöst werden können, und die schließlich zur Entstehung radikal neuer Kompositionsweisen wie der freien Atonalität und 80

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der Schönbergschen Zwölftontechnik geführt haben. Die theoretisch und empirisch weiterführende, musikgeschichtlich ebenso wie bildungstheoretisch spannende Frage aber ist, wie die Entstehung des Neuen selbst beschrieben und erklärt werden kann, in der das zuvor nur als unbestimmtes Potential, als drängende Tendenz Vorhandene wirkliche Gestalt gewinnt. An dieser offenen Frage, wie aus Bildungsvorhalten neue Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses werden, wird sich eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse weiter abarbeiten müssen.

Literatur Evans, Dylan (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien: Turia + Kant. Hempel, Christoph (1997): Neue Allgemeine Musiklehre, Mainz: Atlantis Schott. Klafki, Wolfgang (1994): »Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts«. In: ders., Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 4. Aufl. Weinheim und Basel: Beltz, S. 43-81. Koller, Hans-Christoph (1990): Die Liebe zum Kind und das Begehren des Erziehers. Erziehungskonzeption und Schreibweise pädagogischer Texte von Pestalozzi und Jean Paul, Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Koller, Hans-Christoph (2005a): »Bildung (an) der Universität? Zur Bedeutung des Bildungsbegriffs für Hochschulpolitik und Universitätsreform«. In: Andrea Liesner/Olaf Sanders (Hg.), Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld: transcript, S. 79-100. Koller, Hans-Christoph (2005b): »Negativität und Bildung. Eine bildungstheoretisch inspirierte Lektüre von Kafkas Brief an den Vater«. Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 49, S. 136-149. Peukert, Helmut (1998): »Zur Neubestimmung des Bildungsbegriffs«. In: Meinert A. Meyer/Andrea Reinartz (Hg.), Bildungsgangdidaktik, Opladen: Leske + Budrich, S. 17-29. Peukert, Helmut (2000): »Reflexionen über die Zukunft von Bildung«. Zeitschrift für Pädagogik 46, S. 507-524. Ricœur, Paul (1988-91): Zeit und Erzählung. 3 Bände, München: Fink. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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„D U

S O L L S T DI R K E I N

MACHEN

BILDNIS

...“ – B I L D U N G

UND

NOCH

GLEICHNIS

VERSAGUNG

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„[...] das Paradox ist Leidenschaft des Gedankens, und der Denker, der ohne das Paradox ist, der ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mittelmäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist es immer, ihren eigenen Untergang zu wollen [...]“. (Kierkegaard, Philosophische Brocken) 1 „Ich war noch nicht bei mir selbst, das sollte mir nicht weh tun. Denn das Selbst – am Morgen von Sartre ausgeliehen, am Abend von Kierkegaard – wollte gar nicht zu sich kommen; es blieb ein großer Entwurf.“ (Muschg, Das gefangene Lächeln) „Ein Reden, das aus der Fremde kommt, bezeichne ich als Antwort.“ (Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden)

In seiner „Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie“ (Kokemohr in diesem Band) bedenkt Kokemohr die produktive Bedeutung der Erfahrung von Fremdem. In erster Linie der Fremde, aber doch auch das Fremde können dann eine Herausforderung bilden, wenn sie die gegebenen Ordnungen übersteigen, entweder weil sie diese an ihre Grenzen treiben oder an einen impliziten Überschuss erinnern. Das Fremde muss unfügsam sein, ein Stachel (vgl. Waldenfels 1990), ansonsten entsteht keine Bewegung, wird kein Vollzug in Gang gesetzt. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf ein Moment im Bildungsprozess, nämlich auf die inhärente Versagung, auf welche er antwortet, ohne sie je überwinden zu können. Sollte es gelingen, das Fremde im Eigenen auszumachen, könnte ein Beitrag zu einer Theorie (auch der interkulturellen) Zwischenleiblichkeit geleistet werden. Dabei ginge es nicht mehr um eine Plurali-

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Für Waldenfels fungiert diese Einschätzung Kierkegaards gleichsam als eine leitende Hinsicht seiner Phänomenologie des Fremden. Der Mensch kommt in dieser Hinsicht als „ein Wesen des Übergangs, das im Übergang zugleich seinen Untergang findet“ in den Blick. Er ist nur deshalb bei sich, weil er niemals ganz bei sich ist (vgl. Waldenfels 2005: 319).

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tät zu vielen, sondern um eine Begegnung angesichts der eigenen Unverfügbarkeit. Das Auszuführende ist in drei Abschnitte gegliedert: Zunächst wird (1.) der Einsatzort auf dem Problemfeld markiert, das Kokemohr in seinem Text zu einer Bildungsprozesstheorie durchschreitet. In einem zweiten Absatz wird dann (2.) genauer erläutert, was unter Bildung und Entzug zu verstehen ist, um schließlich (3.) den hier gemeinten Beitrag zu einer Bildungsprozesstheorie zu präzisieren.

Einsatz Günther Buck stellte vor über zwanzig Jahren fest: „Die umlaufenden Vorstellungen über ‚Bildung‘ ebenso wie ihre Entsprechungen in der zeitgenössischen Theorie der Bildung leiden an einem Erbübel des pädagogischen Denkens: sie versuchen, die Erfahrung einer mutlos stimmenden Situation durch eine optimistische Erschleichung wettzumachen. Beides, negative Erfahrung der Zeit, d.h. Zeitkritik, und projektträchtige Zuversicht in die Möglichkeit und Macht gegenwirkender Bildung, ist dem pädagogischen Bewußtsein seit der historischen Epoche der Aufklärung, seinem Ursprung, in seiner Zusammengehörigkeit eine gewohnte und liebe Übung.“ (Buck 1984: 13)

Die Aktualität dieser Feststellung braucht nicht eigens erläutert zu werden. Nicht nur in den letzten über zwei Jahrhunderten, auch in vormodernen Zeiten verbanden sich Heilserwartungen mit Bildungskonzepten, aber erst seit dem neunzehnten Jahrhundert dient der Bildungsbegriff mit Nachdruck als Programmtitel für einen gesellschaftlichen Aufbruch. Selbst wenn seine lange Tradition nicht aufgenommen wird, profitiert der Bildungsbegriff dabei von seinen metaphysischen Erbschaften. Er suggeriert Vertrautheit, Seriosität, zeitunabhängige Verlässlichkeit sowie die Möglichkeiten von Menschen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Niemand kann derzeit gar nichts mit ihm verbinden, wenige können ihn allerdings auch präzis von seinen Kombattanten wie Kompetenz, Wissen, Information und Identitätsfindung sowie lebenslanges Lernen abgrenzen. Wie kaum ein anderer pädagogischer Begriff fungiert er im Fachdiskurs und im alltäglichen Gebrauch als Sprachmagie voller Verheißung. Stellt er doch reflektiert oder unreflektiert in Aussicht, dass ein individueller Werdensprozess schlummernde Potenziale entfaltet, die gegen das Negative gesellschaftlicher Krisen gerichtet werden können. Längst scheint es Konsens zu sein, dass mit ihm das wichtigste (Human)Kapital der globalisierten Gesellschaft bezeichnet ist. Zwar ist es ein weiter Schritt von der Selbstbildung, deren Vorzeichen in der Renaissance zu finden sind, zum Selbstmanagement, von dem heute immer 84

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wieder die Rede ist, aber entscheidende Weichen zum heutigen Verständnis werden am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gestellt. Seit dieser Zeit kommt es nämlich darauf an, den gesellschaftlichen Entfremdungserscheinungen auf der Basis von Ganzheitssehnsüchten positive Selbstliebe, Selbstübereinstimmung, kurz Identität entgegenzustellen. Das Prinzip der Selbsterhaltung kennzeichnet eine entscheidende Verwerfung in der Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs. Es tritt an die Stelle, an der wir in der vorausliegenden Zeit Praktiken der Askese als Übungen in Selbstbeherrschung und Selbstzwang, Strukturen des Entzugs sowie Formen einer inhärenten konstitutionellen Fremdheit finden. Bevor sich das Selbstverständnis des Menschen im Sinne eines bestimmenden Grundes von Wissen und Handeln als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel normalisierte, stand Bildung Jahrhunderte lang mit einer wesentlichen Untersagung in Beziehung, wie sie etwa im alttestamentlichen Bilderverbot ihren Tradition bildenden Ausdruck fand. In unterschiedlichen Versionen war Bildung nur dann aussichtsreich, wenn das Subjekt von sich als Zentrum allen Sinns absah. Diesen Ort nahm in der jüdischen und christlichen Tradition Gott ein. Aber auch die griechische Klassik kennt einen Bildervorbehalt, wie ihn Platon zum Ausdruck bringt, der um die Originalität der Ideen kämpft. Bilder stehen wie die Schrift im Verdacht, die Lebendigkeit des Logos abzutöten (vgl. Därmann 1995: 13 ff.). 2 Das Leben des Logos wird durch Widerfahrnisse aufrecht erhalten, die er zügeln muss, indem er verhindert, dass aus Mut Übermut und aus Sinnlichkeit Sucht wird. Bildung wird im berühmten Höhlengleichnis der platonischen Staatslehre als schmerzhafte Umkehr aus der Welt der Schatten und des Scheins zu der Idee des Guten bestimmt. Aber der Blick in die Sonne bringt nicht nur Glück und Macht, er verdirbt auch die Augen. Der Rückweg aus der Helle des Sonnenlichts in das Dunkel der Höhle ist quälend, weil nun die Wiedergewöhnung an das Opake ansteht, und demütigend, weil der Heimkehrer aufgrund seiner Sehstörung verlacht wird. Auch die Genesis präsentiert im Alten Testament den Menschen als ein Wesen, das in seiner Privilegierung durch einen Mangel bestimmt ist, dem nämlich eine Gottähnlichkeit gegeben, aber eine Gottgleichheit versagt ist. Gottähnlichkeit des Menschen bedeutet eine konstitutive Unvollkommenheit. Wären wir Gott vollständig gleich, so gäbe es keine Menschen, nur Götter. Aufgrund der Verweigerung der Vollendung sowohl in der Tradition klassischen griechischen Denkens als auch in der Tradition des Alten Testaments ist der Bildung des Menschen von vornherein ein Entzug, eine untersagte Erfahrung (l’expérience interdite, Merleau-Ponty 1964: 110), eingeschrieben, also eine Fremdheit, welche nicht vorübergehend ist, sondern konstitutiv, „eine gelebte Unmöglichkeit“ (Waldenfels 2006: 116). Hier liegt der entscheidende 2

In ihren Mottos erinnert sie pointiert mit Derrida an die Nähe von Tod, Schrift und Bild: „Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch.“ (Därmann 1995: 9)

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Unterschied von Bildungsbegriffen in der Tradition der griechischen Klassik oder des Alten Testaments und jenen der Klassik bzw. des Neuhumanismus, welche zwar Motive einer älteren Tradition aufgreifen, jedoch eine grundsätzlich andere Richtung einschlagen. Der moderne Bildungsbegriff hat seine Vorläufer nicht in sich aufgenommen, so dass man seine Geschichte gerade nicht als lang angebahnte Bewegung auf ein Ziel hin nacherzählen könnte. Unter den wechselnden historischen Voraussetzungen ereignet sich eine elementare Diskontinuität, die an dieser Stelle mit der Formel „Selbstverwirklichung statt Selbstbeherrschung“ angedeutet werden kann. Es handelt sich deshalb nicht lediglich um bloße Vollständigkeit, wenn im Folgenden an einige Strukturmomente der vormodernen Geschichte des Bildungsbegriffs erinnert wird, sondern um ein Anliegen, ruhende Fäden aufzugreifen, Antworten nachzutragen, nach denen nicht mehr gefragt wurde. Es gibt eine Gegenwart, welche sich vor allem von ihren Erwartungen her zeigt. Es gibt aber auch eine Gegenwart, auf die wir aus der Zukunft zurückblicken, insbesondere unter der Hinsicht ihrer versäumten Möglichkeiten (vgl. Ricœur 1998: 48). Damit ist der hier gewählte Einsatzpunkt auf dem von Kokemohr beackerten Problemfeld klar: Während er vor allem die Bedeutung der Fremdheit des Anderen für den eigenen Bildungsprozess ausarbeitet, so soll nachstehend die Aufmerksamkeit auf die dem Eigenen innewohnende Fremdheit gerichtet werden, um aus dieser Perspektive zur Suche nach der Möglichkeit beizutragen, dass Fremde und Fremdes als solche Anerkennung finden, ohne dass sie im Verstehen überwältigt werden. Die heute so beliebte Auffassung von Bildung als Identitätsfindung soll vor diesem Hintergrund und im Sinne der Ausführungen von Kokemohr als Abdunklung, Abwehr, Diffamierung und Bagatellisierung von „subsumtionsresistenten Erfahrungen“ (vgl. Kokemohr in diesem Band: 21) kenntlich werden. Identität steht ihrer Geschichte, aber auch ihrer aktuellen Bedeutung nach für eine Gestik der Weltbemächtigung, die den Wandel verharmlost sowie das Nicht-Ich instrumentalisiert und gerade auch dadurch den Weg zur Anerkennung des Fremden oder Anderen auf subtile Weise verschließt. „Möglich ist die Evidenz des Anderen dadurch, daß ich mir selbst nicht transparent bin und auch meine Subjektivität stets ihren Leib nach sich zieht.“ (Merleau-Ponty 1966: 404). Bildung bedeutet in dieser Hinsicht gerade nicht Selbstfindung, Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung auf dem Grunde einer Überfülle an Möglichkeiten, die nur noch zu verwirklichen sind, sondern eine konflikthafte Lebensführung, einen spezifischen Prozess der Subjektivation, der eingespannt bleibt zwischen reiner Autonomie und bloßer Heteronomie. Bildung in diesem Sinn richtet sich gegen die Suche nach dem Selbst, die Foucault polemisch als „kalifornischer Kult des Selbst“ anspricht, dem es darum geht, „sein wahres Ich [zu] entdecken, indem man es von allem trennt, was es verdunkeln oder entfremden könnte, indem man seine Wahrheit dank einer psychologischen 86

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oder psychoanalytischen Wissenschaft entziffert, die angeblich die Fähigkeit hat, Ihnen zu sagen, was Ihr wahres Ich ist.“ (Foucault 2005: 487)

Eine versagte Erfahrung In der Genesis wird die Imago-Dei-Lehre in Kraft gesetzt. Dort lautet es in der priesterschriftlichen Tradition: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“ Der Mensch ist zum Bilde Gottes geschaffen und darf sich gleichzeitig kein Bildnis von Gott machen. Sofort das erste Gebot hält fest: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“ Zwar ist es aus Sicht der Wissenschaft nicht unproblematisch, beide Bibelstellen aufeinander zu beziehen. Aber in unserem Zusammenhang geht es nicht um Bibelexegese, sondern darum, wie diese Asymmetrie von Ebenbildlichkeit und Bilderverbot im Bildungsdiskurs wirksam wurde. Dem Menschen als Ebenbild Gottes war von Anfang an ein Geheimnis eingeschrieben, eine eigene Fremdheit, die aus der Sicht der Menschen erst dann gemildert werden konnte, als Werke erdacht wurden, wie der Mensch seine Gottebenbildlichkeit mitgestalten konnte. Das kann und ist auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Legte man in christlicher Tradition den Schwerpunkt auf Christus als leiblichen Gott, so eröffnete sich dem Menschen eine Möglichkeit der Imitatio Christi aufgrund einer tadellosen Lebensführung. Er kann an der Gestaltung seiner eigenen Ebenbildlichkeit teilhaben. Gleichzeitig büßt die Ebenbildlichkeit damit ihre Selbstverständlichkeit und ihre Universalität ein. Der Mensch kann in seinen Bemühungen um imitatio scheitern. Sein charakteristischer Gottesbezug sichert ihm eine Sonderstellung im Kosmos, aber auch das spezifische Risiko seiner Existenz. In anderer Hinsicht und in Bezug auf die moralische Lebensführung des Einzelnen weniger gewagt, wurde Gott als Weltbaumeister verstanden. Daraus ergaben sich für den Menschen Chancen, sich in technischen und technologischen Imitationen seinem Vorbild anzunähern. Die Vulgata und die Septuaginta kommen dem hebräischen Text näher als die lutherische Übersetzung. In der Vulgata lautet es „ad imaginem et similitudinem nostram“. Imago als Übersetzung von schelem spielt auf Statuen an, welche die Wirkungsmacht Gottes auf Erden versinnbildlichen. Die eine Seite ist also die Verehrung Gottes auf der Basis der Bilder. Man kann die Bilder aber auch zerstören und damit die Gottheit selbst schädigen. Dies ist im Hinblick auf den Gott Israels unmöglich. Er ist unfasslich. Das Bilderverbot steht für sein Geheimnis und seine Unverfügbarkeit, seine grenzenlose Macht, die auf keinem Wege zu bannen ist. Die Differenz von Bild und Ähnlichkeit wird zum heftig umstrittenen Thema. Dabei bürgert es sich seit Irenaeus ein, imago 87

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mit einer natürlichen und similitudo mit einer symbolischen Ähnlichkeit des Menschen mit Gott gleichzusetzen. Wie es im Einzelnen auch bestellt sein mag, stets bleibt die Ähnlichkeit einer letzten Vollkommenheit beraubt. Der Mensch existiert als mangelhaftes Ebenbild. Nimmt man den Text der Genesis beim Wort, dann liegt die entscheidende Ähnlichkeit des Menschen mit seinem Schöpfer darin, dass er zum Herrscher über die Tier- und Pflanzenwelt ernannt wird wie in der ägyptischen Tradition, in welcher der König die Herrschaft Gottes auf Erden repräsentierte (vgl. Meyer-Drawe 1999: 168 f.). Es können nicht auch nur annähernd alle Implikationen entrollt werden, welche sich an dieser Stelle ergeben. Für den Zusammenhang von Bildung und Selbstentzug ist entscheidend, dass durch diesen konstitutiven Mangel eine produktive Unruhe im Selbstverständnis des Menschen entsteht. Blumenberg hebt diesen Umstand mit folgenden Worten hervor: „Die kühnste Metapher, die die größte Spannung zu umfassen suchte, hat daher vielleicht am meisten für die Selbstkonzeption des Menschen geleistet: indem er den Gott als das GanzAndere von sich absolut hinwegzudenken versuchte, begann er unaufhaltsam den schwierigsten rhetorischen Akt, nämlich den, sich mit diesem Gott zu vergleichen.“ (Blumenberg 1996: 135)

Diese Nötigung zum Vergleich, welche im Verbot selbst wurzelt, bleibt die stetige Bedrohung eines menschenmöglichen Selbst. In der deutschen Mystik wurde die Mitwirkung des Menschen an seiner Gottebenbildlichkeit explizit im Zusammenhang mit dem Terminus Bildung bedacht. Diese bedeutete gestaltete Empfängnis. Es war der Ort zu bereiten, an dem Gott im Inneren des Menschen erscheinen konnte. Die eigentümliche Aktivität einer grundsätzlichen Passivität wurde dabei unterschiedlich gedacht, je nachdem ob man sich eher in der alt- oder neutestamentlichen Tradition orientierte. Zwei grundsätzliche Positionen ergaben sich im Hinblick auf die Fremdheitsthematik. War nach Thomas von Aquin der Mensch „das Bild Gottes in einer fremden Natur“, lag also die Betonung auf der unvollkommenen Ähnlichkeit, so denkt Meister Eckhart ein Etwas in der Seele, das wie Gott ungeschaffen und unerschaffbar ist. Diesem unerschaffenen Grund kommen wir nur nahe, wenn wir uns aller Bilder entledigen. Bildung ist also Entbildung, das genaue Gegenteil der Selbstbildung der Moderne, wenngleich sich in der Selbstbezüglichkeit des Seelengrundes erste Linien des modernen Bildungsbegriffs andeuten. Die Gottebenbildlichkeit gilt in dieser Perspektive nicht mehr ausnahmslos für alle Menschen, sondern nur noch für jene, welche sich der Entbildung unterziehen. Die Prozedur der Entbildung wurde in der folgenden Zeit dadurch leichter, dass der Mensch seit der Renaissance als ein unbestimmtes Wesen begriffen wurde, das sich selbst seine Gestalt gibt. Gott obliegt immer noch die Schöpfung des Menschen als Künstler seiner selbst. Die88

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ser übernimmt jedoch dann die prometheische Aufgabe der Ausgestaltung seines eigenen Seins. Mit dieser Steigerung der Eingriffsmöglichkeiten tritt die inhärente Fremdheit im Bildungsprozess immer mehr zurück – auch unter dem Einfluss des wachsenden Selbstbewusstseins des Menschen, welcher seiner Welt durch technische Eingriffe, methodisch gewonnene Erkenntnisse und politische Herrschaft in zunehmendem Maße ihre unheimliche Fremdheit nimmt. Unter dem Einfluss des wissenschaftlich geprägten Weltbildes, das dem Menschen die Geborgenheit zugunsten der Dezentrierung seiner Erde nimmt, entsteht eine Selbstdeutung, die Norbert Elias unter dem Stichwort „homo clausus“ eindrücklich diskutiert hat. Dabei spielt die Ersetzung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische eine entscheidende Rolle in der Suche nach einem inneren Hort der Sicherheit. Der naturgesetzliche Umlauf der Erde um die Sonne hat keine emotionale Bedeutung, wenigstens keine, die den Menschen selbst irgendwie betrifft wie ehemals seine Stellung im Mittelpunkt des Weltalls. Der Mensch, welcher keine Geborgenheit im Kosmos findet, kapselt sich sprichwörtlich ab, ohne sich dieses Prozesses bewusst zu werden. Er gibt sich als ein Wesen mit einem inneren Kern, der durch unsichtbare Mauern vom Außen gänzlich abgeschieden und geschützt ist. „Der Ausdruck ‚das Innere des Menschen‘ ist eine bequeme Metapher, aber es ist eine Metapher, die in die Irre führt.“ (Elias 1997: 66) 3 Der Objektivierung seiner Welt entspricht das Gefühl des Menschen, ganz auf sich gestellt zu sein. Es sollte lange dauern, bis das Subjekt als Erkenntnisinstanz selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflektion wurde. Die einzelnen Etappen können hier nicht nachgezeichnet werden. Die Möglichkeit, seinem Gott ein ebenbürtiger Schöpfer zu sein, – so kann an dieser Stelle festgehalten werden – gründet vor allem in der Sprache und der Imaginationskraft. In beiden Fällen ist eine creatio ex nihilo im bestimmten Sinne vorzustellen. Der Mensch wird zum Selbstbildner. Er gewinnt sich als Schöpfer seiner selbst, dessen Selbsttransparenz seiner Selbstbehauptung dient. Diese Selbstbehauptung erscheint als gleichsam natürliches Pendant der Selbsterhaltung, deren Notwendigkeit kaum angezweifelt wird. Mit ihrem Auftritt verabschiedet sich die Askese, die ihren Grund verloren hat. Die Erhaltung des Selbst führt per se einen Vorbehalt dem Fremden gegenüber mit sich. Das oder der Fremde bedeuten Bedrohung. Rousseau hält fest: „Il faut donc que nous nous aimions pour nous conserver, il faut que nous nous aimions plus que toute chose; et, par une suite immédiate du même sentiment, nous aimons ce

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Kaum jemand hat wie Norbert Elias darauf aufmerksam gemacht, dass die Differenz von Innen und Außen ein Effekt historischer Prozesse ist. In seinem Sinne kann man Zivilisation geradezu beschreiben als die Herausbildung dieser Differenz, ohne dass je deutlich wurde, wo die Grenzen verlaufen.

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qui nous conserve.“ (Rousseau 1966/1762: 275 f.) 4 Die Konkurrenz mit dem Anderen wird als uneigentliche Lebensform abgewertet. Rousseau hebt in diesem Sinne hervor, dass bei jungen Menschen in der Entwicklung der Eigenliebe „le moi relatif se met en jeu sans cesse, et que jamais le jeune homme n’observe les autres sans revenir sur lui-même et se comparer avec eux, […]: celui qui commence à se rendre étranger à lui-même ne tarde pas à s’oublier tout à fait.“ (Rousseau 1966: 317) 5 Die Eigenliebe, der amour propre, ist eine schädliche Spielart der notwendigen Selbstliebe (l’amour de soi-même). Die Eigenliebe vergleicht ständig, ist nie zufrieden und führt zum Selbstverlust. Von ihr droht die Entfremdung, auf die der moderne Bildungsbegriff von Anfang an reagiert. Der Mensch soll auf nichts und niemanden angewiesen sein: „Er sollte“ – wie Kant sagt – „vielmehr alles aus sich selbst herausbringen“ (Kant 1923: 19). Bildung scheint nur noch Gewinne, keine Verluste zu haben. Weil der moderne Bildungsbegriff als Kampfparole gegen jede Entfremdung ausgegeben wurde, konnte mit ihm kein inhärenter Mangel mehr formuliert werden.

Bildungsprozess Nach der Grußadresse, mit der sich Rousseau in seiner zweiten Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen an die Republik Genf gewandt hat, hebt er gleich zu Beginn seines Vorworts hervor: „Von allen menschlichen Kenntnissen scheint mir die Menschenkenntnis die nützlichste und die am wenigsten fortgeschrittene zu sein; und ich wage zu sagen, dass allein die Inschrift des Tempels von Delphi eine bedeutendere und schwerer wiegende Lehre enthielt als alle dicken Bücher der Moralisten.“ (Rousseau 1993/1754: 57) 6

Rousseau meint das berühmte „Erkenne Dich selbst“, das den Menschen vor Hybris warnen sollte. Foucault hat daran erinnert, dass die Griechen der Klassik eine Sorge der Seele kannten, die nicht im Erkennen aufging, sondern eine gelungene Lebensführung meinte, mit der Menschen ihrem Leben eine Form 4

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„Wir müssen uns lieben, um uns zu erhalten. Deshalb müssen wir uns selbst mehr als alles andere lieben; und als unmittelbare Folge dieser Empfindung lieben wir jene, die uns erhalten.“ (Übers. v. KMD) In der Entwicklung der Eigenliebe „[…] setzt sich das relative Ich unaufhörlich aufs Spiel, und weil der junge Mensch andere nicht mehr betrachtet, ohne auf sich zurückzukommen und sich mit ihnen zu vergleichen, […] zögert derjenige, welcher beginnt, sich selbst fremd zu werden, nicht, sich völlig selbst zu vergessen.“ (Übers. v. KMD) Rousseau verweist in einer Fußnote auf Buffon, der beklagt, dass der Mensch über die Beachtung seiner äußeren Sinne seinen inneren Sinn verloren und damit die Möglichkeit eingebüßt habe, „seine Seele zu gebrauchen“. (Rousseau 1993/1754: 112)

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gaben, welche ein gutes gemeinsames Leben in der Polis ermöglichte. Diese Sorge war nicht darauf aus, ein Selbst zu verwirklichen. Ihr Ziel war nicht die Unterdrückung der Sinnlichkeit, sondern deren Bemeisterung. Sie stand aber als Lebenskunst auch nicht in dem Verdacht bloß narzisstisch zu sein, sondern wurde als Antwort auf eine agonale Existenz gewürdigt (vgl. Foucault 1993: 32 ff.). Auch Nietzsche zielt auf diesen Punkt, indem er betont, dass wir „für uns keine ‚Erkennenden‘“ sind (Nietzsche 1988: 248). Wir „bleiben uns nothwendig fremd“ (ebd.: 247). Die Selbsterkenntnis, welche durch Descartes ihr einschüchterndes Gewicht empfangen hat, ist kein Bollwerk letzter Sicherheit. Nicht erhält unsere Welterkenntnis durch die Selbsterkenntnis ihre Gewissheit, sondern als Welterkenntnis bleibt Selbsterkenntnis unbestimmt, unsicher, riskant. Das Fremde, so führt Plessner aus, ist „nicht bloß ein Anderes [...] (wie etwa dem aufgeklärten Menschen der Stein nichts Fremdes, sondern ein Anderes als er ist, in der nüchternen und indifferenten Bedeutung der bloßen Verschiedenheit, wohl aber die Fremdheit leise im Pflanzlichen, vernehmlicher im Tierischen Boden gewinnt, um schließlich im Menschlichen auch noch für den aufgeklärten Menschen ihre letzte Domäne zu bekommen – und korrelativ dazu in dem rätselvollsten Anblick des Universums). Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum – wir erinnern hier an eine Erkenntnis Freuds – das Unheimliche.“ (Plessner 1981: 193) Nehmen wir an dieser Stelle Kokemohrs Bestimmung von Bildung als Prozess wieder auf, der durch die Erfahrung von Fremdem herausgefordert wird, das sich nicht der gewohnten Ordnung beugt, so begegnen wir dem Fremden in mindestens vierfacher Hinsicht: sowohl in unserer Begegnung mit den Anderen als mit unserer Welt sowie auch in der Rückwendung auf uns selbst und schließlich als Verhältnis zu dem Eigenen im Fremden, also als Verhältnis zu unserer eigenen Verhältnishaftigkeit. Diese Verhältnishaftigkeit ist nicht in Identifizierung zu überführen und damit still zu stellen, weil Menschen durch versagte Erfahrungen bestimmt sind, etwa durch den Entzug ihrer eigenen Geburt und ihres eigenen Todes, aber bereits durch den Rückzug des Gewohnten, das wir in Anspruch nehmen, ohne es dingfest machen zu können. Für uns selbst sind wir als Erkennende stets zu spät. Gerade deshalb müssen wir gebildet werden in einem Prozess, welcher das Selbst als Effekt hinterlässt, der in eigener Gestaltung übernommen wird. Das Bilderverbot steht für eine grundsätzliche Versagung, durch welche die menschliche Existenz bestimmt ist. Wir sind uns als leibliche Wesen selbst nur auf Umwegen, niemals unmittelbar gegeben. Unser Gesicht ist uns z.B. als gelebtes Gegenwärtiges unzugänglich. Wir müssen uns gleichsam Bilder machen, weil uns unsere sinnliche Erfahrung im Hinblick auf uns selbst im Stich lässt. Die Möglichkeiten, welche in den Grenzen unserer Sinne wurzeln, bringt Kant in der Kritik der Ur-

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teilskraft in Erinnerung, und zwar mit Bezug auf das alttestamentliche Bilderverbot: „Vielleicht“ – so Kant – „gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u.s.w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt. Eben dasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns. Es ist eine ganz irrige Besorgnis, daß, wenn man sie alles dessen beraubt, was sie den Sinnen empfehlen kann, sie alsdann keine andere, als kalte leblose Billigung, und keine bewegende Kraft oder Rührung bei sich führen würde. Es ist gerade umgekehrt; denn da, wo nun die Sinne nichts mehr vor sich sehen, und die unverkennliche und unauslöschliche Idee der Sittlichkeit dennoch übrig bleibt, würde es eher nötig sein, den Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm steigen zu lassen, als, aus Furcht vor Kraftlosigkeit der Ideen, für sie in Bildern und kindischem Apparat Hülfe zu suchen.“ (Kant 1983/1793: B 125)

In diesem Sinne bedeutet das Fremde in dem mehrfachen Sinn, der hier ausgeführt wurde, das Lebenselixier von Bildung, Identität dagegen ihr Ende. Dennoch ist der Gefahr vorzubeugen, man könne auf eine Routine im Umgang mit dem Fremden hoffen. Die Frage bleibt: „Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?“ (Waldenfels 2006: 9)

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BILDUNGSPROZESSE – ZWISCHEN ERFAHRENER DEZENTRIERUNG UND OBJEKTIVIERENDER ANALYSE ALFRED SCHÄFER

Die ‚traditionelle Bildungstheorie‘ – über schiefe Fronten Rainer Kokemohr versteht Bildungsprozesse als „durch Fremdes herausgeforderte Veränderung von Grundfiguren meines Welt- und Selbstverhältnisses“ (Kokemohr in diesem Band: 14). Er hält dieses Verständnis einer cartesianisch-aufklärerischen Auffassung des Bildungsbegriffs entgegen: Deren Aufmerksamkeit gelte „dem selbstreferenziellen Subjekt und seiner Autonomie“ (ebd.: 21). Dieses autonome selbstreferenzielle Subjekt wird auch als transzendentales Subjekt markiert (vgl. ebd.: 23) und als Instanz postuliert, die gleichsam den Bildungsprozess zur Einheit bringt: Das Subjekt in dieser Auffassung – so könnte man vielleicht sagen – bestimmt noch durch Irritationen seines Selbst- und Weltverständnisses hindurch eben die Grundfiguren dieser seiner Verständnisse. Kokemohr weist darauf hin, dass ein solches Verständnis dem Verdacht einer imaginären Konstruktion ausgesetzt sei: Statt eines selbstreferenziellen Subjekts sollte vielmehr ein sozialreferentielles Subjekt angenommen werden, das sich vom Anderen (vom Kontext, von der Kultur, dem Kommunikationspartner) her verstehen lasse (vgl. ebd.: 22). Auf diese Weise verändere sich der Status des Subjekts von demjenigen einer Instanz zu dem eines Momentes im Prozess. Bevor auf Folgeprobleme eines solchen Verständnisses eingegangen wird, möchte ich mich zunächst der Frage nähern, inwieweit die Gegenüberstellung einer traditionellen aufklärerischen Bildungstheorie, die durch den Bezug auf ein cartesianisch-transzendentales Subjekt ausgewiesen wird, und einer Bildungsauffassung, die Bildung vom Anderen her begreift, nachvollziehbar ist. Descartes wollte mit der Grundgewissheit zwei Probleme lösen: der letzte unbezweifelbare Satz, das cogito, sollte sowohl die Gewissheit der (aus ihm zu deduzierenden) Erkenntnis garantieren wie auch die Realität der erkannten Welt. Die Bindung des cogito an das sum war schon seinen Zeitgenossen ver-

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dächtig, weil sie die Ebene einer transzendentalen Erkenntnisbegründung mit derjenigen einer Existenzbehauptung vermischte. Und auch die Behauptung eines Gottes als Garanten für die Realitätsadäquanz der Erkenntnis schien und scheint nicht unproblematisch zu sein. Zu einer transzendentalen Erkenntnistheorie wird der Ansatz des Descartes bei Immanuel Kant. Die charakteristische Folge dieser Wandlung besteht nun darin, dass Kant von der Existenz des selbstbewussten Ich, jenem ‚Ich‘, das die transzendentale Apperzeption zur Einheit bringen soll und das damit für die Einheit disparater Erkenntnisse steht, nicht mehr ausgehen kann. Dieses ‚transzendentale Ich‘ kann nur angenommen, nicht aber als empirisch vorhanden und identifizierbar behauptet werden 1 . Und auch in seiner praktischen Funktion, als autonomer Garant moralischer Urteile, kann es nur postuliert werden: ob es ein solches autonomes Subjekt jemals empirisch geben kann – vor dieser Frage muss kapituliert werden. Dass die selbstreferenzielle Grundlegungsfigur des transzendentalen Subjekts sich im Augenblick ihrer Vergewisserung zugleich jeder Identifikationsmöglichkeit entzieht, hat die nachkantische Diskussion nicht ruhen lassen. Neben Versuchen, sich seiner spekulativ zu vergewissern und sich so auch praktisch zum transzendentalen Subjekt zu machen, wie dies beim frühen Fichte 2 geschieht, gibt es andere, die den kantischen Einsatz auf unterschiedliche Weise ernst nehmen: So versuchte man etwa, die uneinholbare Grundlage des Selbstverhältnisses wenigstens über die gefühlte Einheit des eigenen Selbst abzustützen (Jacobi). Andere – wie die Frühromantiker oder auch der mittlere und späte Schelling – gingen davon aus, dass das Selbstverhältnis auf einer für das Subjekt uneinholbaren Voraussetzung gründe, die vor jeder begrifflich notwendigen Subjekt-Objekt-Trennung liege. Jenseits ihrer, das heißt: in konkreten Lebensumständen sei das Ich nur als zerrissenes anzusehen 3 . Dies ist der historische Kontext, in dem die traditionellen ‚neuhumanistischen‘ Entwürfe des Bildungsgedankens statthaben: ein ‚Subjekt‘, das zwar die Welt und seinen Platz in dieser aus sich heraus entwerfen muss, da objektive Sinngaranten wegfallen, das aber dafür keinen Grund in sich selbst zu finden vermag. Es ist die Verunsicherung durch die Welt, die auf genau diesen Sachverhalt hinweist und das Subjekt in die Prozessualität seiner Veränderung bringt. Man kann sich das ganz kurz am Beispiel Humboldts verdeutlichen. Für ihn ist unter Bildung zu verstehen der freie, unreglementierte Umgang eines 1 2

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Dies ist die Position, die Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ akzentuiert hinsichtlich jenes ‚ich, das alle meine Vorstellung muss begleiten können‘. Fichte hatte diese spekulative Figur eines ‚absoluten Ich‘ in der ‚Wissenschaftslehre‘ von 1794 entwickelt, ist aber später von ihr abgerückt in Richtung auf etwas im Ich, das von diesem nicht einzuholen sei (vgl. etwa Gamm 1997). Vgl. zum Deutschen Idealismus etwa neuerdings: Gamm 1997; Iber 1999; Horstmann 2004; zur Diskussion um den Frühidealismus Frank 1989; Henrich 1992.

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Individuums mit der Mannigfaltigkeit der Welt. Wenn das Individuum (und nicht das transzendentale Vernunftsubjekt) sich auf die Welt einlässt, sich an diese verliert, sich seiner selbst fremd wird, gewinnt es die Möglichkeit, aus der Wechselwirkung mit der dann fremden (weil nicht durch eigene Kategorien vorgefertigten) Welt als ein anderer zu sich zurückzukehren. Freie Beschäftigung heißt: nicht am Leitfaden wissenschaftlicher Erschließung, sondern Erfahrungsmöglichkeiten mit allen Sinnen, freies Experimentieren. Mannigfaltigkeit der Welt heißt: nicht vorgeordnete, sondern fremde Welt als Voraussetzung, die ‚Grundfiguren‘ seines Selbst- und Weltverhältnisses zu verändern. Dieser Prozess ist nicht ergebnisorientiert, sondern endlos: die Rückkehr aus der Entfremdung (vgl. Buck 1984) ist keine Beruhigung, sondern das neue Verständnis ist Moment eines endlosen Prozesses. Das ‚Subjekt‘ wird aufgespannt in der Differenz von endlicher Bestimmtheit und unendlichen Veränderungsmöglichkeiten. Wenn es sich überhaupt als etwas begreifen will, dann als Verhältnis zu dieser Differenz, die es konstituiert. Eine solche Perspektive war und ist – zumindest vor dem kulturellen Hintergrund der Moderne, der allerdings neben der (imaginären) Option aufs autonome Subjekt immer auch ein Bewusstsein von dessen Grundlosigkeit transportiert hat – beunruhigend. Man kann daher nachvollziehen, dass der stützende Griff nach traditionell metaphysischen Sicherungen wie etwa nach dem Leibnizǥschen Konzept einer prästabilierten Harmonie bei Humboldt (vgl. Menze 1965; Schäfer 1996), nach göttlicher Absicherung bei Kierkegaard (vgl. Kierkegaard 1992; dazu: Schäfer 2004a) oder nach einem hermeneutischen Erfahrungsbegriff, der die Prozessualität von Bildung an die kumulative Vorstellung eines reifenden Ich bindet, bei Buck erfolgte (vgl. Buck 1981). Das alles aber ändert wenig daran, dass zur Zeit der Entwicklung des modernen Bildungsgedankens die Einsicht in die Grundlosigkeit des sich seiner selbst und der Welt vergewissernden Subjekts virulent war. Bis hierhin könnte es scheinen, als seien die von Rainer Kokemohr aufgeworfenen Probleme dem traditionellen Bildungsdenken gar nicht so fremd. Dass sich das selbstreferenzielle Subjekt aus einer vorgängigen Vermittlung von Welt und Selbst, also als sozial- oder besser weltreferenzielles konstituiert, scheint auch dort bekannt gewesen zu sein. Nicht gefolgt wäre man allerdings seiner (eher angedeuteten) These, dass das selbstreferenzielle Ich nur eine kulturelle Erfindung der Moderne darstellt. Dies kann man nur solange sagen, als man die Moderne auf ihren schon zu Beginn von den Heroen seiner Verkündigung grundsätzlich problematisierten Anspruch eines autonomen Vernunftsubjekts festlegt. Fasst man Selbstreferenzialität dagegen als ein Verhältnis zur sozial nicht kodierbaren Unzugänglichkeit des eigenen Ich auf, dann dürfte es sich um ein Problem handeln, das nicht nur kulturell zurechenbar ist. Auch Kulturen, die das aufgeklärte Vernunftsubjekt nicht kennen, schlagen sich mit dem Problem herum, dass die Menschen in ihren symbolisch codier97

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ten Selbst- und Weltverhältnissen nicht aufgehen, sondern sich dazu immer noch einmal (und sei es nur abweichend) verhalten. Es bleibt die Möglichkeit des Respekts, der sich auch auf die zugängliche Unzugänglichkeit des Gegenübers richtet, das letztlich nicht über sich zu verfügen weiß: dies ist zu achten, auch wenn es misstrauisch machen muss 4 . Oder man bindet – wie etwa in Initiationszeremonien – den unzugänglichen und sozial wie subjektiv nicht verfügbaren Grund des Anderen im eigenen Selbst an einen transzendent-göttlichen Bezugspunkt: Eine solche Bindung macht die Unzugänglichkeit des personalen Grundes für einen selbst wie für die sozial-symbolische Codierung einerseits nachvollziehbar als etwas vor jeder Vergesellschaftung und Subjektivierung Liegendes und verweist andererseits doch auch auf die Bedeutung kultureller Codierungen, die sich in ihrer Legitimation doch diesem zugänglichunzugänglichen Grund des Göttlichen verdanken 5 . Nach einer langen neuplatonisch-christlichen Traditionslinie wird dieses Verhältnis zur eigenen Grundlosigkeit um 1800 als Reflexionsparadoxie gedacht: Man weiß, dass der, der über sich nachdenkt, nicht mit dem identisch ist, über den er nachdenkt. Das Selbst fällt – wie auch in der sozialbehavioristischen Theorie Meads (vgl. Mead 1968) – zwischen Subjekt und Objekt, I und Me, hindurch. Man weiß daher, dass Selbstbewusstsein nicht nach dem Modus eines Gegenstandsbewusstseins gedacht werden kann. Was aber dann? Man zieht den Schluss, dass das Selbst eine ahnbare, aber niemals mittels der Reflexion einholbare Voraussetzung dieser Reflexion ist. Als Voraussetzung liegt sie jedem Selbst- und Weltverhältnis unvordenklich voraus – gleichgültig auch, ob die konkrete Ausprägung des Selbst- und Weltverhältnisses sozial induziert ist. Es kommt – und dies auch in Bildungsprozessen – auf das Verhältnis zum Welt- und Selbstverhältnis an: und zwar so, dass man seiner Grundlosigkeit inne wird, sich zur Differenz von grundlegender Unbestimmbarkeit und Bestimmtheit verhält. Dieses Sich-Verhalten-zu ist nicht als reflexive Selbstbehauptung zu verstehen, sondern (romantisch formuliert) als unendliche Annäherung an jene Differenz, die man ist – ohne dieses ‚ist‘ fassen zu können6 . Es bleibt darauf hinzuweisen, dass diese Figur sich auch in Kokemohrs Entwurf findet: Wenn er davon spricht, dass es um eine durch die Konfrontation mit Fremdheit induzierte „Veränderung meines Welt- und Selbstverhältnisses“ geht (Kokemohr in diesem Band: 14), so deutet das Possessivpronomen ‚mein‘ auf eben jene reflexive oder formaler: selbstreferenzielle Wendung auf

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Dieses Konzept des Respekts vor der Unzugänglichkeit des Anderen habe ich im Hinblick auf die Dogon in Mali zu untersuchen versucht: vgl. Schäfer 2007. Zu dieser Zugangsweise auf das Phänomen der Initiation vergleiche: Schäfer 1999; Schäfer 2004b. Dass dieses Sich-Verhalten nicht allein kognitiv-reflexiv zu verstehen ist, dürfte einer der Hintergründe für die Konjunktur des Erfahrungsbegriffs im Rahmen der Bildungstheorie sein. Dieser bettet Kognitives immer schon in ‚Sinnliches‘, ‚Leibliches‘ – letztlich Rätselhaftes ein.

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das Verhältnis zu sich selbst in der nicht selbst induzierten Veränderung. Allerdings verspricht dieses Possessivpronomen fast schon mehr als die traditionelle Bildungsperspektive und der ebenfalls prozessuale Ansatz Kokemohrs einzuhalten gedenken – nämlich eine den Prozess integrierende und sich zurechnende souveräne Instanz. Wie aber dieser Prozess ohne jene Instanz und ohne jenes (mit Kierkegaard formulierte) Verhältnis, das sich zu sich selbst als einem Verhältnis verhält, als Bildungsprozess zu identifizieren ist, dies müsste die Bildungsprozesstheorie Kokemohrs auf eigene Weise beantworten. Meine Vermutung ist, dass in dieser Antwort sich das Gewicht von der Grundlosigkeit einer notwendigen Selbstvergewisserung hin zu einer objektivierenden Textanalyse vollzieht. Dies möchte ich im nächsten Schritt zeigen. Die Aufgabe des abschließenden Teils wird dann darin bestehen, den Versuch Kokemohrs nachzuvollziehen, von der objektivierenden Textanalyse zum (subjektiven) Möglichkeitshorizont von ‚Bildung‘ zurückzukehren.

Vom Vertrauen in die methodische Identifizierbarkeit des Möglichen Wer von ‚Bildung‘ spricht, meint mehr als bloße Lernprozesse, als die Erweiterung von Kenntnissen oder die gelingende Selbstbehauptung in sozialer Konkurrenz. Er meint auch mehr als „Be- oder Verarbeitung widerständiger Erfahrung“ (Kokemohr in diesem Band: 26). ‚Bildung‘ verweist in ihrer modernen Fassung immer auch auf die Möglichkeit der Bedeutung solcher Beund Verarbeitung für eine Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses. ‚Bildung‘ ist eine Möglichkeitskategorie, die eine Qualifizierung von Lernprozessen impliziert, die für eben diese zu einem Kriterium wird, dem sie real vielleicht nicht genügen können (vgl. Schäfer 2005). Man wird wohl die Bedeutung konkreter Veränderungen für solche des Selbst- und/oder Weltverhältnisses allenfalls hypothetisch unterstellen oder bestreiten können. Dass die Bildungskategorie im Modus der Möglichkeit formuliert wird, hat einen bedeutsamen Vorteil: Dieser besteht nicht nur darin, dass man nicht nachweisen muss, dass sich die ‚Grundfiguren‘, in denen sich das Welt- und Selbstverhältnis ausdrückt, wirklich und dauerhaft geändert haben. Vor allem ist dieser Vorteil darin zu sehen, dass der Referenzpunkt dieser Veränderung, das ‚Subjekt‘, nicht definiert werden muss. Obwohl wahrscheinlich nur an einer solchen ‚Instanz‘ der Prozess der Bildung aufgehängt werden könnte, bleibt sie in der traditionellen Bildungstheorie eher im Dunkel. Man kann sich das an einem einfachen Beispiel aus gegenwärtigen Debatten verdeutlichen. Wenn zunehmend das ‚Subjekt‘ mit Hilfe eines operationalisierten Kompetenzbegriffs vermessen wird, dürften sich die Bildungstheoretiker darin einig 99

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sein, dass damit noch herzlich wenig über Bildung gesagt ist. Auch hier gewinnt der Möglichkeitsbegriff ‚Bildung‘ eine kritische Funktion im Hinblick auf Lernprozesse, denen zumindest zweierlei fehlt: etwas, das diese unterschiedlichen Kompetenzen (soweit man dieses Konstrukt einmal akzeptiert) zur Einheit bringt, und die Dimension einer selbstreferenziellen Bedeutung dieser Haltungen sich selbst und der Welt gegenüber. Was fehlt, scheint also die ‚Subjektivität‘ zu sein – ohne dass man sich allerdings auf deren Bestimmung einlassen würde. Zwar hat es immer Orientierungspunkte des Bildungsprozesses gegeben. Aber schon die ‚Individualität‘ bei Humboldt war als Ausprägung der Universalität des ‚menschlichen Wesens‘ nicht als dessen Besonderung vorzustellen. Wenn es dieses ‚menschliche Wesen‘ nur in der ‚Individualität‘ und deren Mannigfaltigkeit gibt, dann bleibt dieses ‚Wesen‘ unbestimmbar und fällt als normativer Bezugspunkt für Individualität weg, die damit zugleich ‚ineffabile‘ wird. Auch der bei Rousseau in den Vordergrund gerückte Bezugspunkt einer formalen Identität, einer Identität mit sich selbst, erweist sich bei näherem Hinsehen als grundlos: Sein anthropologischer Grund liegt in der Unmittelbarkeit einer tierischen Natur, die wohl kaum als anthropologischer Orientierungspunkt taugt. Es scheint, dass klassische Bildungsvorstellungen ihre eigenen ‚normativen Bezugspunkte‘ zugleich annehmen wie unterlaufen. Sie gewinnen damit einen Möglichkeitsraum, der qualifizierende (und damit kritische) Optionen eröffnet, die durch eine objektivierende Identifikation nicht still gestellt werden können. Diese theoriestrategische Option fehlt nun allerdings, wenn man sich – wie Rainer Kokemohr – einerseits darauf bezieht, dass Bildung eine Veränderung der ‚Grundfiguren‘ des Welt- und Selbstverhältnisses impliziert, wenn man aber zugleich andererseits davon ausgeht, dass sich diese Veränderung der ‚Grundfiguren‘ auch empirisch nachvollziehen lassen müsste. In einer solchen Herangehensweise handelt man sich allererst das Problem der Identifikation einer sich bildenden Subjektivität ein. Denn nun muss man sagen können, was sich verändert hat; man muss sagen können, inwiefern diese Veränderung nicht nur ein aktuelles (und beliebiges) Einschwenken auf eine bestimmte Meinung ist, sondern eine Veränderung der ‚Grundfiguren‘; und man muss, da es sich ja um ‚Grundfiguren‘, das heißt: Habitualisierungen, konstante Formen der Weltund Selbstvergewisserung handelt, die Frage beantworten, inwiefern es sich dabei nicht um Identifikationsmerkmale eines ‚Subjekts‘ handelt. Die letzte Frage ist nicht einfach damit abzutun, dass man das ‚Subjekt‘ als Moment eines Prozesses begreift, in dem es sich ‚medial‘ reproduziert und verändert. ‚Grundfiguren‘ sind wohl zu verstehen als etwas, das dem Prozess weitgehend entzogen ist und das sich nur in besonderen Prozesskonstellationen, eben in Bildungsprozessen, die ja nicht ständig stattfinden, verändert.

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Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird man vielleicht sagen können, dass das Problem der Subjektivität, wie es sich für Kokemohr stellt, vor allem ein Problem der von ihm gewählten Herangehensweise ist. Er geht zwar einerseits davon aus, dass sich eine empirische Bildungsprozessanalyse dem Verdacht aussetzen müsse, „das Subjekt als den systematischen Bezugspunkt bildungstheoretischen Denkens aufzugeben“ (Kokemohr in diesem Band: 22), was zunächst deshalb nicht als gravierend anzusehen sei, weil manche Kulturen eben kein selbstreferenzielles Subjekt kennen würden (vgl. ebd.). Jedoch schleicht sich schon kurz nach dieser Passage ein Unbehagen an der empirischen Bildungsprozessanalyse ein. Dieses Unbehagen richtet sich auf die Identifizierbarkeit dessen, was ‚Bildung‘ in diesen Prozessen sein soll. Eine Fixierung auf die narratologische Analyse von Texten liefe Gefahr, nur eine Momentaufnahme zu liefern: „Man liefe Gefahr, den zeitlich oder situativ begrenzten Vollzug von Diskussionen mit dem Vollzug oder Nichtvollzug von Bildungsprozessen zu verwechseln“ (Kokemohr in diesem Band: 24). Man übersähe, dass Bildungsprozesse „in lebensgeschichtliche Tiefenschichten“ eingreifen und „ihre Potenziale möglicherweise erst nachträglich erweisen“ (ebd.). Das Problem ist damit gestellt. Während der ‚traditionelle Bildungsbegriff‘ gerade vor dem Hintergrund des Problems der Grundlosigkeit einer Selbstvergewisserung des Welt- und Selbstverhältnisses auf die Identifikation eines ‚gebildeten Subjekts‘ verzichtete und Bildung als Möglichkeitskategorie dachte, verändert sich die Frage der ‚Bildung‘, wenn man diese empirisch ausweisen möchte. Wenn Bildung ein empirisch nachvollziehbarer Sachverhalt sein soll, stellt sich das Problem ihrer objektivierenden Identifikation. Ein Problem ist dies vor allem deshalb, weil die qualifizierenden Merkmale der Möglichkeitskonzeption von Bildung, die ‚personverändernde Bedeutung‘ und deren Nachhaltigkeit, nun zu empirisch nachzuweisenden Phänomenen werden. Wie aber soll die Textanalyse eines Gesprächs dies leisten: Wie also soll sie zeigen, dass etwa eine Veränderung im Gesagten „in lebensgeschichtliche Tiefenschichten“ des Sagenden eingreift? Das im traditionellen Bildungsbegriff als möglich Behauptete müsste nun empirisch fundiert werden. Kokemohr sieht die Grenzen eines solchen Vorhabens sehr deutlich und er greift an dieser Stelle wieder auf ‚Bildung‘ als Möglichkeitskonzept zurück: Auch wenn die narratologische Textanalyse Bildungsprozesse nicht identifizieren kann, so bleiben diese in seinen Augen dennoch als nachträglich eintretende immer möglich. Die empirische Identifikation von Bildungsprozessen erscheint dabei aus zwei unterschiedlichen Gründen kaum möglich zu sein. Würden Veränderungen im Gesagten im Rahmen der untersuchten Gesprächssituation festgestellt werden können, so könnte man nicht sagen, ob diese eine ‚lebensgeschichtlich tiefgehende Bedeutung‘ haben. Lassen sich solche Veränderungen – wie in der vorliegenden Analyse – nicht feststellen, so heißt dies noch nicht, dass sie 101

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nachträglich nicht doch eine bildende Bedeutung gewinnen können. Ob also im Gesagten Veränderungsprozesse identifizierbar sind oder nicht – dies besagt noch nichts darüber, ob ‚Bildung‘ vorliegt oder nicht. In beiden Fällen allerdings erscheint sie möglich. Kokemohrs Ausweg aus dieser eingesehenen problematischen Situation ist ein doppelter. In Anlehnung an ‚traditionelle‘ bildungstheoretische Überlegungen wählt er zur Illustration der Möglichkeit von Bildung Situationen mit einem vermutbar hohen Irritationspotenzial. Er sieht diese paradigmatisch gegeben in Situationen ‚interkulturellen‘ Kontakts, in denen sich die zugängliche Unzugänglichkeit des Anderen als Problem zeigt. In solchen Situationen lässt sich mit gleichsam höherer Wahrscheinlichkeit die Realisierung der Möglichkeit von ‚Bildungsprozessen‘ vermuten – auch wenn sie (wie gezeigt) als solche nicht situativ identifizierbar sind. Damit wäre man im Rahmen einer eher traditionellen Annäherung an den Bildungsbegriff. Kokemohr beansprucht aber nun darüber hinaus, dass solche Möglichkeiten, Bildungspotenziale, sich ebenfalls noch in einer objektivierenden Einstellung erschließen ließen. Der Anspruch des methodisch-objektivierenden Nachweises von ‚Bildung‘ rückt damit auf eine andere Ebene. Wenn sich dieser Anspruch im Hinblick auf die Textanalyse aus den erwähnten Gründen nicht einlösen lässt, sondern man allenfalls Möglichkeiten behaupten kann, dann wird diese Perspektive der Objektivierbarkeit nun (mit Hilfe des Rückgriffs auf Lacan) noch auf die Identifikation von Bildungspotenzialen ausgedehnt (Kokemohr in diesem Band: 25). Identifizierbar sein sollen nun die Möglichkeiten ‚lebensgeschichtlich tiefgreifender‘ Veränderungen der Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses. Eine solche Absicht baut auf den Interpretationen der Gesprächstexte auf, in denen Kokemohr nicht nur ein rhetorisches Gefecht oder Verständigungsprobleme festmacht, sondern einen gescheiterten Bildungsprozess. Da die Rede vom Bildungsprozess als solchem aber problematisch erscheint, wird die objektivierende Interpretation des Bildungspotenzials gleichzeitig auch noch den Grund für die ungedeckte Rede von Bildung auf der ersten Ebene der Analyse nachliefern müssen.

Die zugängliche Unzugänglichkeit des Ich Eingangs habe ich darauf hinzuweisen versucht, dass es wohl zwei Traditionslinien der in der Moderne notwendig gewordenen Verständigung über das eigene Selbst gibt. Die eine versucht nach dem Wegfall transzendenter Sicherungen die Gewissheit im Selbstbewusstsein, in einer die Autonomie des Subjekts begründenden Selbstgewissheit, zu finden und bezeichnet einen sozialen Anspruch, der selbst von den Protagonisten eines solchen Anspruchs kaum eingelöst werden konnte. Die andere verweist seit Kant darauf, dass wir uns 102

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unserer selbst nicht sicher sein können, dass wir nur so tun können, als ob wir das wären. Der Grund, den wir in uns selbst zu finden versuchen, bleibt uns nach dieser Lesart unzugänglich – und diese Unzugänglichkeit zeigt sich an den Grenzen des Zugänglichen, an den Grenzen der Reflexion. Diese Grenze mag im Alltagsverständnis, in den symbolischen Figuren unseres Selbst- und Weltverhältnisses, verdeckt sein. Sie zeigt sich aber wahrscheinlich – oder möglicherweise – dann, wenn wir (etwa in Konfrontation mit Fremdem) auf die ‚Grundlagen‘ unseres Welt- und Selbstverhältnisses zurückgeworfen werden. Vor diesem Hintergrund ist der Einsatzpunkt bildungstheoretischer Gedanken ebenso nachvollziehbar wie auch die Unlösbarkeit des damit angegebenen Problems einer möglichen Selbstgewissheit. Bildungstheoretisch fruchtbar erscheinen vor diesem Hintergrund Einsichten in die Grundlosigkeit jener vermeintlich gegründeten und bestimmten Welt- und Selbstverhältnisse. Von Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises über die Frühromantik bis hin zu existenzialistischen Denkfiguren (eine sicherlich gewagte Konstellation) hat man darauf hingewiesen, dass die Existenz (das bloße ‚dass wir existieren‘) jeder Selbstvergewisserung in symbolischen Ordnungsmustern immer schon und über diese unzugänglich voraus liegt. Dieses ‚Dass‘ ist durch kein symbolisch codiertes ‚Was‘ einzuholen (vgl. Visker 1999) 7 . Es bildet eine Grundlage, eine Realität, die dem Symbolischen voraus liegt, und die dennoch nicht zur Begründung des Symbolischen herangezogen werden kann. Dennoch ist dieses unzugängliche ‚Dass‘ nicht nichts. Die Konfrontation mit ihm erlaubt eine Relativierung symbolischer Ordnungsmuster auf eine doppelte Weise. Zum einen deutet sie darauf hin, dass bestimmte dieser Ordnungsmuster (wie etwa der Vorwurf des Rassismus oder dessen Bestreitung) im Hinblick auf das Dass, den realen Geltungsgrund der symbolischen Äußerungen, relativ sind. So fasst Rainer Kokemohr in seiner Interpretation die Aussagen Ds auf. Zum zweiten aber – und darüber hinaus – steht der Bezug auf das ‚Dass‘, auf die unzugängliche Realität, auch und gerade für den Verweis auf das Problem der eigenen Grundlosigkeit im Sinne einer Struktur des Selbstverhältnisses. Ob Hautfarbe, Körperlichkeit, Geschlecht – es lassen sich Auseinandersetzungen um symbolische Codierungen denken, in denen es immer um etwas für das Individuum Bedeutsames geht, sofern es sich um ein ‚Dass‘ handelt, in denen dieses ‚Dass‘ aber selbst nicht als Grundlage oder Geltungsgrund für eigene Bestimmungen genommen werden kann. Und dies, obwohl gerade der Bezug auf das ‚Dass‘ in wechselseitigen Identifikationen ein Engagement bedingt, das die bloße Relativität im Sinne von Beliebigkeit überschreitet – ohne dass 7

Es ist etwas überraschend, dass in der Transkription der Rede Ds (vgl. Kokemohr in diesem Band: 39) dieses Dass, das doch der Repräsentation entgegengestellt wird, nur als ein ‚Das‘, d.h. als ein bestimmbares Etwas und damit: als etwas zur Ordnung des symbolisch Repräsentierbaren Gehöriges, aufgenommen wird. Die Interpretation, dass D der Figur des cartesianischen transzendentalen Subjekts zuzuordnen sei, könnte etwas mit dieser Schreibweise zu tun haben.

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die Beteiligten durch den Verweis auf ihr jeweiliges ‚Dass‘ Gewissheit behaupten könnten. Die Bezugnahme auf das ‚Dass‘ könnte so eine Verständigung jenseits bestimmter und mit Gewissheit vorgetragener Urteile erlauben, die davon lebt, dass ihre realen Bezugspunkte in ihrer Unbestimmbarkeit ernst genommen werden. Im Hinblick auf das interpretierte Gespräch, das an dieser Möglichkeit gemessen als gescheitert erscheint, führt nun Kokemohr im Anschluss an Lacan eine Überlegung ein, die ebenfalls von der Unzugänglichkeit, aber das Begehren steuernden Kraft des Realen ausgeht. Auch für Lacan ist die Realität des Ich das Unfassbare, das in symbolischen Ordnungsmustern, in denen man sich zu identifizieren versucht, Uneinholbare. Es ist aber zugleich das in der Differenz zum Gesagten ‚Erfahrbare‘ ‚sich Meldende‘. Es ist das, von woher sich die Differenz von Imaginärem und Symbolischem im Gesagten aufspannt. Es wirkt als Signifikant, als Bedeutung Verleihendes, das als solches nicht identifiziert, dem also kein Signifikat zugeordnet werden kann. Das unzugängliche ‚Dass‘, die Realität, meldet sich als uneinlösbares Begehren noch in der Sprache an und verweist auf das, was sich der Sprache als Gesagtem entzieht – und auch in diese niemals einholbar ist. In der Strukturtheorie des Subjekts bei Lacan steht der ‚Phallus‘ für die erwähnte Signifikanz ohne Signifikat. Dass diese Signifikanz ohne ein Signifikat vorzustellen ist, bedeutet, dass der ‚Phallus‘ nicht als genereller Interpretationsschlüssel zur Verfügung steht: Man kann nicht jenseits des Gesagten einfach identifizierend auf ihn als das Begehren steuernde ‚Instanz‘ des Sagenden verweisen. Erst Objekte, die Lacan als ‚Objekt klein a‘ bezeichnet, machen die phallische Funktion vorstellbar und sagbar – indem sie diese allerdings zugleich verdecken. Rainer Kokemohr fasst diese strukturtheoretische Überlegung, die die Zerrissenheit und Ortlosigkeit des Subjekts markiert, so zusammen: „Indem ein jedes Vorstellen und Sagen auf ein Objekt »a« verweise, das seinerseits verdeckend auf unsagbar Reales verweise, bleibe das Subjekt unentrinnbar in die Dynamik von aussagendem ich und ausgesagtem Ich, von Sag- und Unsagbarkeit, von An- und Abwesenheit eingebunden“ (Kokemohr in diesem Band: 55). Eine Identität mit sich in der Ordnung des Symbolischen bleibt ausgeschlossen, obwohl sie vergeblich in der Logik des Imaginären begehrt wird. Kokemohr geht nun mit Bezug auf diesen Hintergrund in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt klassifiziert er die beiden analysierten Positionen von D und C1/C2 als ‚Verschattungen‘ der Einheit von aussagendem ich und ausgesagtem Ich. „In der D-Rede hatte sich die Verschattung als In-Eins-Setzung von aussagendem ich und ausgesagtem Ich in ein Ich cartesianischer Selbstgewissheit gezeigt, das den epistemologischen Vorstellungsraum der Erkennbarkeit der Welt beherrscht; in der C2-Rede hatte sich die Verschattung als In-Eins-Setzung von aussagendem ich und ausgesagtem Ich in ein Ich ge-

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zeigt, das in der Berufung auf erlebtes Leiden Deutungsautonomie behauptet“ (Kokemohr in diesem Band: 57). ‚Verschattung‘ meint dann etwa soviel wie die Distanzlosigkeit zum Ausgesagten, in der sich das Begehren des sagenden Ich mit gleichsam kulturellem Hintergrund einnistet. In einem zweiten Schritt wird nun versucht, das Drängen des Realen in der Rede in Form des Objekts ‚a‘ zu identifizieren. Im Hinblick auf D wird dieses Objekt ‚a‘ als „eine der Kritik enthobene Selbstreferenz“ (Kokemohr in diesem Band: 59) ausgemacht, in der das aussagende ich „einen seine Subjektivität verbürgenden Anderen phantasmatisch anspricht“ (Kokemohr in diesem Band: 60). Im Hinblick auf C2 wird (in dialogischem Bezug zur D-Rede) „das Objekt »a« als eine Figur der Selbstreferenz evoziert, in der sich, kritisch gegen das Objekt »a« der D-Rede gestellt, das Subjekt der C2-Rede phantasmatisch einzuholen begehrt“ (ebd.). Bedeutsam scheint dabei zu sein, dass diese phantasmatische Selbstreferenz, die mit einer Negation des Anderen verbunden ist, so zu verstehen ist, „dass die jeweiligen, gegeneinander stehenden Objekt »a« stumm die Weltund Selbstentwürfe der Diskutanten tragen und sie zugleich symbolischer Zugänglichkeit entziehen“ (Kokemohr in diesem Band: 63). Kokemohr verweist auf eine Gefahr dieser Betrachtung: „Sie führt leicht in verhärtete Objekt »a«Konstruktionen, die nicht aufzulösen sind, solange die Struktur ihres Wirkens unerkannt ist“ (Kokemohr in diesem Band: 61). Das Problem besteht nun allerdings nicht so sehr darin, dass die Psychoanalyse vor dem Hintergrund des angegebenen Strukturmodells Schwierigkeiten haben dürfte, jenen Ort anzugeben, von dem her die Struktur des Wirkens ‚erkannt‘, identifiziert werden sollte. Das Erkennen einer solchen Struktur im konkreten Fall dürfte Gegenstand einer Analyse sein, in der vor dem Hintergrund von Widerständen und Übertragungsphänomenen Menschen dazu gebracht werden Deutungen zu übernehmen, von denen man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob sie zutreffen: Wichtig ist, dass mit ihrer Annahme ein anderes Handeln möglich ist (das im Hinblick auf das objektivierende Erkanntwerden ebenfalls problematisch bleibt). Es geht im Verfahren der Analyse wohl kaum um die Verhandlung und Bestätigung von theoretischen Wahrheitsansprüchen. Solche Ansprüche müssen grundsätzlich als problematisch erscheinen, wenn man bedenkt, dass der „Seinsmangel“ in der Differenz des Subjekts – und damit die phallische Funktion wie auch die verschattende Bedeutung des Objekts »a« – nicht aufhebbar ist. Man könnte wohl sagen, dass die Koppelung des ‚Dass‘, des Realen, an das Begehren, jedes Verhältnis zur Differenz des eigenen Selbst, zur eigenen Grundlosigkeit, noch einmal unter die Prämisse imaginärer Wunscherfüllung stellt. Nun ist die Textanalyse allerdings kein therapeutisches Gesprächsangebot, das auf das vermutete Wirken von Objekt »a«-Konstruktionen verweist, sondern eine objektivierende Identifikation, die mit anderen objektivierenden Les-

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arten konkurriert. Damit ergibt sich jedoch das Problem, dass hier ein metapsychologischer Interpretationsrahmen, der sich an der Selbstreferenz des Analysanden bewähren müsste, objekttheoretisch exekutiert wird. Die Zuschreibung phantasmatischer Selbstreferenzen mit dem Anspruch, hier das Aufscheinen des Realen, Unsagbaren, im Sagbaren identifiziert zu haben, der das jeweils sagende ich in Funktion eines bestimmten Objekts »a« bestimmt, dürfte ein äußerst gewagtes Unterfangen sein. Dass diesem ich dann auch noch die Möglichkeit einer Selbstreferenz, die sich zur eigenen Grundlosigkeit verhält und genau darin die Chance gewinnt, ein Deutungsangebot zu akzeptieren, qua objekttheoretischer Perspektive verwehrt ist, macht (über die Identifikationsproblematik hinaus) Anschlüsse an die bildungstheoretische Perspektive schwer vorstellbar. In dem nachträglich zur Tagungsvorbereitung versandten Text ‚Interpretation – Lektüre – Interkulturalität‘ (Kokemohr 2007) findet sich ein anderes Vorgehen Rainer Kokemohrs. Auf der einen Seite könnte man diesen Text als Rekonstruktion eines Prozesses von Re-Lektüren verstehen. Auf der anderen Seite aber kommt hier als Movens dieser Re-Lektüren das eigene Verhältnis des Interpreten zum Text ins Spiel: Das Possessivpronomen ‚mein‘, jene mit Bezug auf den oben verhandelten Text monierte ‚Leerstelle‘, gewinnt damit eine Bedeutung, die das Verhältnis des Autors zu seinen (theoretisch abgestützten und differenzierten) Lektüreversuchen, seine Irritation, aber auch seine letztlich weder in den theoretischen Lektürevorgaben noch in sich selbst einen (symbolischen) Grund findenden Bemühungen, in den Vordergrund rückt. Durch den Bezug auf diese Grundlosigkeit rückt zugleich die Grenze der objektivierenden Identifikation ins Zentrum – und das Thema der Bildung taucht auf: als eines des Autors. Es taucht auf als eines, das die Möglichkeit der Bildung auf Seiten des Autors eröffnet – eine Perspektive auf einen Bildungsprozess, die genau dann ihre (mit Rousseau: theoretische und anrührende) Kraft verliert, wenn man diesen Prozess als Bildung zu vergegenständlichen versucht.

Literatur Buck, Günther (1981): Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre, München: Fink. Buck, Günther (1984): Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, München: Fink. Frank, Manfred (1989): Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gamm, Gerhard (1997): Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart: Reclam. 106

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Iber, Christian (1999); Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Henrich, Dieter (1992): Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795), Stuttgart: Klett. Horstmann, Rolf-Peter (2004): Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt/M.: Klostermann. Kierkegaard, Sören (1992): Die Krankheit zum Tode, Gütersloh: Mohn. Kokemohr, Rainer (2007): »Interpretation – Lektüre – Interkulturalität«. Erscheint in: Gabriele Cappai/Shingo Shimada/Jürgen Straub (Hg.), Kulturanalysen. Kulturelle Praktiken vergleichen und verstehen. Bielefeld: transcript. Mead, George Herbert (1968): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Menze, Clemens (1965): Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, Ratingen: Henn. Schäfer, Alfred (1996): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion, Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Schäfer, Alfred (1999): Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo), Berlin: Reimer. Schäfer, Alfred (2004a): Kierkegaard. Eine Grenzbestimmung des Pädagogischen, Wiesbaden: VS. Schäfer, Alfred (2004b): Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund, Münster: Waxmann. Schäfer, Alfred (2005): Einführung in die Erziehungsphilosophie, Weinheim: Beltz. Schäfer, Alfred (2007): Nähe als Distanz (in Vorbereitung). Visker, Rudi (1999): Truth and Singularity. Taking Foucault into Phenomenology, Dordrecht/Boston/London: Kluwer.

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ANDERE FREMDE. ANNOTATIONEN ZUR ERFORSCHUNG KULTURELLER DIFFERENZ UND INTERKULTURELLER KOMMUNIKATION IM RAHMEN EINER RELATIONALEN HERMENEUTIK 1 JÜRGEN STRAUB

„Nur dann können wir uns mit der Vielfalt der Gattung Mensch und den Unterschieden unter den Menschen aussöhnen […], wenn wir uns wie durch eine außergewöhnliche Gnade bewußt werden, daß Menschen die Erde bewohnen und nicht der Mensch.“ Hannah Arendt

Ausgangspunkte, Prolegomena Es gehört zum medial inszenierten, objektiven Bewusstsein unserer Tage, die eigene Gegenwart als permanenten Anbruch einer neuen, kontinuierlich beschleunigten Zeit zu erfahren. Täglich wird „Neues“ ausgemacht. Dazu gehört auch eine in ihrer gegenwärtigen Gestalt bislang nicht gekannte, geschweige denn erlebte Vielfalt der Kulturen. Zu den gängigen Insignien der modernen Gesellschaft zählt ihre „Multikulturalität“. Europäische Gemeinwesen sind, teilweise noch immer zögerlich und tastend, im Begriff, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Auch hierzulande drehen sich zahlreiche Diskurse, häufig auf das politische Problem der sozialen Integration von Migranten konzentriert, um die Tatsache der kulturell pluralen und heterogenen Verfassung unserer Gesellschaft sowie die daraus erwachsenden Anforderungen an zwischenmenschliche Kommunikation, Kooperation und Koexistenz. 2 1

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Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der anlässlich der Emeritierung Rainer Kokemohrs im Warburg-Haus in Hamburg gehalten wurde (s. hierzu das Vorwort der Herausgeber). Der nun vorliegende Text sei dem Emeritus zugeeignet, von dessen Arbeiten er angeregt wurde und auf die er, vor allem im dritten Abschnitt, in einer nicht marginalen Weise Bezug nimmt. Meistens ist dabei von „Heterogenem“ in einem begrifflich anspruchslosen Sinn die Rede. Bisweilen jedoch meint Heterogenität eine besondere Art von Differenz. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der Begriff für Unterschiede zwischen kulturellen Lebensformen und Sprachspielen, Praktiken, Handlungen und Orientierungen steht, die ein Verhältnis des Widerstreits anzeigen, also als unvereinbar oder inkommensurabel gelten (Lyotard 1987; vgl. auch Rosa 1999; Liebsch /Straub 2003).

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Es ist üblich geworden, Situationen, in denen kulturelle Unterschiede praktisch bedeutsam sind, als interkulturelle Überschneidungssituationen zu bezeichnen. Entsprechend ist von interkultureller Kommunikation und Kompetenz die Rede (vgl. Lüsebrink 2005; Thomas 2003). Dabei rücken auch die besonderen Schwierigkeiten, nicht zuletzt jene polemogenen Tendenzen, Konflikt- und Gewaltpotentiale ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die kulturelle Unterschiede, genauer: gewisse Formen des hermeneutisch vermittelten Umgangs mit solchen Unterschieden mit sich bringen können – keineswegs müssen. Für den oft gedankenlos unterstellten Automatismus, demzufolge kulturelle Differenz geradezu zwangsläufig zu Konflikt und Gewalt führt, gibt es, wie bereits ein unvoreingenommener Blick auf unsere Alltagserfahrung lehrt, keine überzeugenden Argumente (vgl. Liebsch 2001). Gegen induktive – wissenschaftstheoretisch nicht zu rechtfertigende – Verallgemeinerungen, die sich auf einschlägige Beispiele stützen, lassen sich – oft beliebig viele – Gegenbeispiele vorbringen. Es gibt auch im Feld kultureller Unterschiede keine psychosoziale Mechanik der sukzessiven Entfesselung einer Gewalt, die mit harmlos scheinenden Stereotypen und Vorurteilen anhebt, über Stigmatisierungen, Diskriminierungen und Degradierungen, versagte Anerkennung und „hate speeches“ (vgl. Butler 1988) oder andere Formen der Aversion und Aggression ihren Lauf nimmt, um am extremen Ende der Eskalation womöglich in die exzessive Tortur und physische Vernichtung anderer zu münden. Kulturelle Differenzen sowie die damit verwobenen Erlebnisse der Ander(s)heit und Fremdheit gehören zu einem Leben, das unsere Neugier wecken, wach halten und faszinierende Aussichten auf die Erweiterung des eigenen Horizonts und Handlungspotentials eröffnen mag. Die Sehnsucht nach dem Anderen und Fremden motiviert Menschen, bewegt sie und ihr Handeln (vgl. Boesch 1998; 2000). Sie macht Begegnungen mit Anderen und Fremden bisweilen zu einem Ort willkommener Selbsttranszendenz (vgl. Joas 1997). Das Andere und Fremde, zumal in der Gestalt anderer und fremder Menschen, erleben wir jedoch nicht nur als eine Chance, die Grenzen des eigenen Selbst in bereichernder Weise überschreiten und erweitern zu können. Auch Glücksversprechen, die an Hoffnungen auf gelingende Begegnungen mit Anderen und Fremden gekoppelt sind, können enttäuscht werden. Diese Einsicht gehört zu unser aller Erfahrung. Sie nährt, sobald wir es in einer nicht bloß oberflächlichen Weise mit Anderen und Fremden zu tun bekommen, Ahnungen, Befürchtungen und Ängste eines um sich besorgten Selbst. Das Abenteuer des menschlichen Zusammenlebens (vgl. Todorov 1996) birgt stets auch verunsichernde Herausforderungen, offenkundige oder latente Bedrohungen des Selbst der Betroffenen. Die Sehnsucht nach dem Anderen und Fremden ist meistens auch eine Quelle von Unbehagen, unheimlichen Gefühlen und Gestimmtheiten, „Gewahrnissen“ (vgl. Boesch 2005) und Gedanken. Mitunter erstickt dieses Unbehagen die Sehnsucht und gebiert Abschottungen des eigenen 110

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Selbst (und der Gruppe, der man zugehört), rigide Ausgrenzungen des Anderen und Fremden. In solchen Fällen lässt sich das kommunikative Selbstverhältnis einer Person nicht mehr als „Identität“ begreifen und beschreiben. Wir haben es dann vielmehr mit einer Struktur zu tun, die Erik Erikson sehr treffend als „Totalität“ bezeichnet hat (vgl. Erikson 1973; Straub z. B. 1991; 2002; zur triadischen Unterscheidung zwischen Totalität–Identität–Fragmentierung siehe auch die Bemerkungen in 2006a). 3 All das ändert nichts an der unumstößlichen Tatsache, die unser aller Bewusstsein und Leben, in variablem Ausmaß und unterschiedlicher Weise, bestimmt und beseelt: kulturelle Pluralität und Heterogenität sind keine möglichen Optionen, sondern, zumal in modernen Gesellschaften, unausweichliche Lebenselixiere. Das Bewusstsein kultureller Unterschiede prägt vielerorts die öffentliche Selbstverständigung. Menschliches Leben gibt es, so heißt es allenthalben, nur auf dem Boden einer kulturellen Lebensform, die von anderen verschieden ist und sich nur im Vergleich mit solchen Alternativen bestimmen lässt. „Kultur“ ist demnach ein unweigerlich relationaler und komparativer Begriff (Straub/Shimada 1999). Er impliziert kulturelle Differenz, genauer: die 3

Ich unterscheide (mit Erikson und über ihn hinausgehend) die durch Offenheit, Flexibilität und Ambiguitätstoleranz sowie eine konstitutive Dynamik der Selbsttranszendenz charakterisierte Identität akzentuierend von einer totalitären Struktur der kommunikativen Selbstbeziehung, die durch die Wirksamkeit eines „internalisierten“ psychologischen Imperativs konstituiert und reproduziert wird: „nichts was draußen ist, darf hinein, nichts Inneres, das dem zementierten Selbstbild widerstreitet, hinaus!“ Totalität ist ebenso „absolut exklusiv wie absolut inklusiv; ein Zustand des Entweder-Oder, der ein Element der Gewalt enthält“ (Erikson 1973: 168; Straub 2002: 96ff.). Das totalitäre Selbst bewahrt sich durch die Etablierung und Verteidigung unverrückbarer SelbstGrenzen und eine damit verwobene – vielfach durch den Abwehrmechanismus der Projektion vermittelte – Aversion und Aggression gegen die Anderen und Fremden. Totalität setzt, psychologisch bzw. psychoanalytisch betrachtet, eine Gewaltsamkeit voraus, die die Anderen und Fremden ebenso in Mitleidenschaft zieht wie das eigene Selbst. Dessen Handlungspotential, Entwicklungs- und Bildungschancen werden „systematisch“ beschnitten, limitiert. Demgegenüber erhält sich die Identität einer Person, folgt man der Psycho-Logik des Begriffs, notwendigerweise im Übergang, mithin durch Widerfahrnisse und Akte der Selbsttranszendenz. Die an anderer Stelle begründete und erläuterte Rede von einer „transitorischen Identität“ (Renn/Straub 2002) ist, genau genommen, tautologisch. „Identität“ meint prinzipiell jene Struktur der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person, welche wegen ihrer Offenheit für kontingente, „äußere“ oder „innere“ Ereignisse auf Selbsttranszendenz hin angelegt ist. Diese Offenheit hat freilich ihre Grenzen, die das Subjekt vor nicht bewältigbaren Zumutungen und Überlastungen schützen sollen. Jedoch sind diese Grenzen nicht starr, sondern porös und verschiebbar, wobei gegebenenfalls eintretende Verschiebungen keineswegs der Verfügungsgewalt des Subjekts unterstehen. Eine Person kann allenfalls darauf bedacht und darum besorgt sein, nicht in solche Strudel langfristig unkontrollierbarer Erschütterungen und Bewegungen zu geraten, die ihre Identitätsstruktur zu zerstören drohen und sie in einen Zustand der nachhaltigen Diffusion und Fragmentierung treiben. Letzteres bedeutete, dass das Orientierungsvermögen und Handlungspotential eines partiell autonomen Subjekts in einer von ihm leidvoll erlebten Weise massiv untergraben und ausgehöhlt würden. Das wird wohl niemand aus freien Stücken wünschen und wollen – wobei Menschen auch diesbezüglich weder die freie Wahl noch die Macht besitzen, solche destruktiven Übergriffe auf das eigene Selbst völlig zu verhindern.

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praktische Manifestation und symbolische Konstruktion kultureller Unterschiede. Diese Einsicht gehört zum heutigen Allerweltswissen. In seiner massenhaften Ausdehnung ist das medial verbreitete Bewusstsein kultureller Differenz ein historisches Novum. Völlig neu ist es jedoch nicht.

Ein von weit her kommendes Bewusstsein kultureller Differenz Unser kulturelles Gedächtnis (zu diesem Begriff: Assmann 1992) bewahrt die Erinnerung an ein kollektives Selbst- und Weltverständnis, das dem europäischen Kontinent – jedenfalls einigen seiner Bewohner, gewissen Eliten zumal – schon frühzeitig in die Wiege gelegt und maßgeblich von der Wahrnehmung kultureller Differenz geprägt war. (Das gilt selbstredend auch für andere Kontinente und Regionen, von denen hier nicht die Rede ist.) Es diente bereits in der griechischen Antike funktional der sozialen Identitätsbildung (zu diesem Begriff und Vorgang: Tajfel 1978; 1981) und einer im Grunde genommen auch hegemonialen Identitätspolitik. Das sei hier dahingestellt. Beschränkt man sich auf die epistemischen, kognitiven und hermeneutischen Aspekte dieses Bewusstseins, erweisen sich die gegenwärtigen Debatten über die Anerkennung und das Verstehen kultureller Unterschiede (z. B. Taylor 1993), nicht zuletzt über die Offenheit, Dynamik und „Hybridität“ 4 jeder im kulturellen Austausch (vgl. Burke 2000) entstehenden, sich bewahrenden oder sich verändernden Kultur, als Bestandteil einer von weit her kommenden Tradition. Dies bezeugen etwa zahllose Zeilen aus Herodots neun Büchern zur Geschichte, von denen ich im Folgenden – exemplarisch – ein paar wiedergebe. Der Pater historiae überwand seinerzeit unermüdlich weite Entfernungen sowie Sprach- und Kommunikationsbarrieren und betätigte sich dabei als Übersetzer zwischen kulturellen Lebensformen. 5 In seinen Schriften führte er den Griechen ihre gemeinsame Geschichte vor Augen ohne deren interne Differenzen zu verkennen, und machte sie dabei mit vielerlei fremden Gegebenheiten an abgelegenen Orten vertraut. Dabei verließ der Autor den Gegen4

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Der vor allem durch die breite Rezeption der Schriften von Edward Said und Homi Bhabha 1994 (vgl. Ackermann 2004) geläufig gewordene Begriff ist ins Zwielicht geraten, seit man sich auf seine biologischen und rassenkundliche Wurzeln besonnen und das Ansinnen zurückgewiesen hat, kulturellen Austausch und die darin begründete Konstitution und Transition einer jeden Kultur metaphorisch der Kreuzung von Lebewesen, pflanzlichen Organismen zumal (wie etwa im Fall des aus der Kreuzung europäischer und amerikanischer Reben erwachsenden Hybridenweins), anzugleichen. Der Begriff trifft dennoch den Kern der Sache, insofern er alle Vorstellungen einer abgeschotteten, vereinzelten und allein aus sich heraus existierenden Kultur strikt ablehnt. Zu einem metaphorisch erweiterten Übersetzungsbegriff, der neben „Translationen“ von einer Ausgangs- in eine Zielsprache auch Übertragungen praktisch-kultureller Sinn- und Bedeutungszusammenhänge umfasst, vgl. etwa Bachmann-Medick 1993 oder Renn/ Straub/Shimada 2002.

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standsbereich der Geschichtswissenschaften unzählige Male. All das tat er zweifellos auch, um die Größe des europäischen Hellas’ zu rühmen. Griechenland ging aus den Kämpfen – unter anderem – gegen die erdrückende Übermacht des „übermütigen“ Persien als Sieger hervor und bewahrte dadurch seine Freiheit. Dieser durchgängige politische Bezugspunkt wird gleich in Herodots erster großer Erzählung von Lydien und seinem König Krösus, der die an der Westküste Kleinasiens lebenden Griechen unterwarf, deutlich. Und er bleibt im Zentrum sobald es darum geht, wie Cyrus und die Perser Krösus überwältigten, wie Darius und Xerxes die Kriege fortsetzten und die persische Macht ausbauten, usw. usf. In der normativen Perspektive des Geschichtsschreibers ging es stets auch um den Kampf zwischen europäischer und asiatischer Welt, Okzident und Orient. Herodots Historiographie war, der Mythen von Io und Europa eingedenk, an ein geopolitisches und geostrategisches Denken gekoppelt, in dem sich ein (in Kriegen und Kämpfen verletztes und unentrinnbar bedrohtes) europäisches Selbstverständnis artikulierte (vgl. z. B. Herodot 2004: 33). Parallelen aus heutiger Zeit liegen, ungeachtet aller unübersehbaren (historischen) Unterschiede, auf der Hand. Die Verteidigung der Freiheit und die Möglichkeit der Selbstbestimmung bildeten den normativen Fluchtpunkt einer der ersten Gestalten der europäischen Wissenschaften. Noch für die heutige Leserschaft ist es von Interesse, dass ein unverkennbar selbstbezügliches Geschichtsbewusstsein zwar das eigene Volk verehrte und zelebrierte, ohne dabei aber die Errungenschaften anderer, mithin die Lebensformen und habitualisierten Handlungsweisen mitunter zutiefst fremder Völker verkannt, pauschal abgelehnt oder gar verachtet zu haben. Ganz im Gegenteil, gibt es doch zahlreiche Stellen in Herodots Büchern, die belegen, wie sehr der Autor der Lebensführung von anderen, oftmals fremden und in ihrer Existenz irritierenden, das eigene, lieb und teuer gewordene Denken, Fühlen, Wollen und Handeln hinterfragenden und herausfordernden Völkern Respekt zollte. Gerade so, wie Herodot nicht davor zurückscheute zu missbilligen und zu kritisieren, was ihm auf seinen Reisen, in Gesprächen und Lektüren begegnete, so artikulierte er Billigung, Anerkennung und nicht selten Bewunderung für dieses Andere oder Fremde, das er naturgemäß erst in einer manchmal implizit, häufig auch explizit vergleichenden Perspektive als solches erkennen und beschreiben konnte. Die (aristotelische) Einsicht, dass Denken Unterscheiden sei, dürfen wir getrost schon Herodot zuschreiben – und ergänzen, dass keine Unterscheidung ohne einen vorgängigen Vergleich auskommt. Herodot verglich und unterschied, wenn ihn seine komparativen Analysen von der empirischen Triftigkeit solcher Differenzierungen überzeugten, Kulturen, kulturelle Lebensformen, Sprachspiele, Praktiken, Handlungen und Orientierungen. Das tat er keineswegs von einem vollkommen „objektiven“ Standpunkt aus; „the view from nowhere“ ist für den Menschen prinzipiell unerreichbar (vgl. Nagel 1992:

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119ff.; Rorty 1992). Kulturanalysen bzw. komparative Analysen kultureller Lebensformen und Handlungsweisen sind, da es einen neutralen Beobachterstandpunkt (auch) in diesem Feld nicht gibt und geben kann, stets auch kulturelle Analysen (vgl. Matthes 1992). Hermeneutische Bemühungen sind auch hier zwangsläufig relational strukturiert. Sie sind an einen Standort und eine Perspektive gebunden, in der das zu Vergleichende auf besondere Art in den Blick gerät und bestimmt werden kann. Herodots „Persien“ ist „seines“. Das gilt prinzipiell und generell, also nicht nur für Herodot und sein wissenschaftliches Interesse an anderen, fremden Kulturen. Herodot ist sich über seinen Ausgangspunkt und die Wirksamkeit eigener „Vorurteilsstrukturen“ (vgl. Gadamer 1986) durchaus im Klaren. Er reflektiert dieses hermeneutische Prinzip. Allerdings geht er dabei wohl weder radikal genug noch völlig konsequent vor. Seine Darstellungen anderer, womöglich zutiefst fremder Lebensformen und Sprachspiele, Praktiken und Habitus, Handlungs- und Orientierungsweisen sind seinem eigenen „Sehepunkt“ (Chladenius) häufiger so sehr verhaftet, dass dieses Andere und Fremde in Herodots symbolischen Repräsentationen nicht nur – was unvermeidlich ist, wo übersetzt werden muss – in verwandelter, angeeigneter Gestalt erscheint.6 Diese Repräsentationen bringen manchmal nämlich vor allem das Eigene zur Sprache und zur Geltung, ohne von Anderem oder Fremdem noch wirklich Zeugnis ablegen zu können. So legt er den Lydiern, den Persern usw. immer wieder „Worte und selbst Reden in den Mund, welche bei aller Wahrheit der Grundlage doch in der Ausführung eine griechische Färbung erkennen lassen“ (Bähr 2004: 23). Das ist, wie die unten angeführten Beispiele zeigen, zurückhaltend formuliert. Die hier ausgebreiteten Erinnerungen an Europas aufblühendes wissenschaftliches Interesse können mithin auch als Annäherung an theoretische und methodische Fortschritte des kulturvergleichenden Denkens und Forschens gelesen werden, die sich erst Herodots Nachfolger auf die Fahnen schreiben konnten – und um die sie noch heute ringen. Wenn Herodot die Welt der Anderen und Fremden zu sehr mit den eigenen Augen sieht (und sich dies nicht hinreichend bewusst macht), wenn er sich mit seinen Beschreibungen und Erklärungen allzu sehr in seiner eigenen Sprache

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Der Ausdruck „Aneignung“ gehört zu einer langen Reihe von – sich in ihrer Bedeutung in variabler Weise überlappenden – Begriffen, mit denen kulturelle Austauschprozesse sowie die damit möglicherweise verwobenen Ergebnisse und Konsequenzen erfasst werden sollen. Burke diskutiert gängige Alternativen, teilweise auch sich ergänzende Konzepte, namentlich etwa die Begriffe Tradition, Akkulturation, Transkulturation, Enkulturation, Inkulturation, Interkulturation, Appropriation, Aneignung eben, Domestikation, Rezeption, Aushandlung, Transfer, Translation/Übersetzung, Widerstand, Indigenisierung, Synkretismus, Hybridisierung, Kreolisation/Kreolisierung (vgl. Burke 2000). Ich gehe hier davon aus, dass von „Aneignung“ die Rede sein kann, ohne die von Burke zu Recht kritisierte Vorstellung der einseitigen Assimilation zu wecken. Aneignungen des Anderen oder Fremden können auch so verlaufen, dass sowohl das Andere oder Fremde als auch das Eigene nicht unberührt bleiben.

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bewegt und sich auf sein offenkundig verzeichnendes Vokabular verlässt, mag er fehlgehen und in seinen Übersetzungsbemühungen scheitern. Genau dabei verweist er uns jedoch auf theoretische, methodologische und methodische Probleme, von denen auch heute keine Praxis der Übersetzung zwischen Sprachen und kulturellen Lebensformen frei ist. Herodots Probleme als Übersetzer, der Zeitenabstände ebenso zu überbrücken versucht wie Differenzen zwischen synchronen Kulturen bzw. kulturellen Lebensformen, sind unvermindert aktuell. Die im Kontext von kulturvergleichenden Analysen beliebiger Art notwendige Suche nach einer „Sprache des durchsichtigen Kontrastes“ (vgl. Taylor 1981), einer Sprache, die ein „Drittes“ bildet zwischen Eigenem und Fremdem, dem eigenen Vokabular und dem der Anderen, den eigenen Sprachspielen und Lebensformen und den untersuchten, beschäftigt die Nachfahren Herodots bis heute – in allen Sozial- und Kulturwissenschaften. Dabei geht es sowohl um ein hermeneutisches Problem, also um die Frage nach der Angemessenheit und Produktivität epistemisch-kognitiver, hermeneutischer Operationen, als auch um die prekäre Behandlung des allseits unterstellten normativen Anspruchs auf Anerkennung (vgl. Taylor 1993; Todorov 1996). Ich konkretisiere meine unsystematischen Anmerkungen zu Herodots kulturellen Analysen von Kulturen durch zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele. Herodot beschreibt und bedenkt in den ausgewählten Textpassagen Erfahrungen der Differenz, Alterität und Alienität. Zumindest manche der oben notierten Stärken und Schwächen seiner relationalen und komparativen Hermeneutik sind dabei leicht identifizierbar. Von den Persern, ihren kulturellen Lebensformen, Sitten und Gebräuchen, weiß Herodot unter anderem Folgendes zu berichten: „Götterbilder, Tempel und Altäre aufzurichten, ist bei ihnen nicht Sitte, sondern denen, welche dies tun, werfen sie sogar Torheit vor, weil sie nämlich, wie es mich bedünkt, nicht glauben, dass die Götter eine menschliche Gestalt haben, wie es die Hellenen glauben. Sie pflegen auf die höchsten Berge zu gehen und daselbst dem Zeus Opfer zu bringen, indem sie den gesamten Kreis des Himmels mit dem Namen Zeus bezeichnen: Dann bringen sie Opfer der Sonne, dem Mond, der Erde, dem Feuer, dem Wasser und den Winden: Diesen Göttern allein opfern sie von Anfang an: Sie haben aber noch dazu gelernt, und zwar von den Assyrern und Arabern, der Urania [das ist Aphrodite, die Göttin des Mondes und des Natursegens insgesamt; J.S.] zu opfern; es nennen die Assyrer die Aphrodite Mylitta, die Araber Alitta, die Perser Mitra.“ (Herodot 2004: 100)

Die zitierte Passage zeigt, wie Herodot seine Beschreibungen des Anderen oder Fremden an vergleichende Betrachtungen koppelt, in denen sowohl die Welt und Sprache der Hellenen als auch diejenige weiterer Völker als Kontrasthorizont fungiert. Gleich zu Beginn des Zitats verweist der Autor auf die fundamental andersartige, dem Beobachter fremde Vorstellung der Götter, die

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von den Persern, im Unterschied zu den vertrauten Griechen, eben nicht anthropomorph, anthropophatisch und zugleich wie idealisierte, überhöhte Menschen modelliert werden, die sich dem wirklichen Menschen auch entziehen. Sie werden vielmehr, wie Bähr (2004: 777 f., Fußnote 148) in seinem Ende des 19. Jahrhunderts verfassten Kommentar anmerkt, als „reines Licht des Feuers“ und des Äthers symbolisiert. 7 Leicht zu erkennen ist, dass Herodot mit einem seines Erachtens neutralen Tertium comparationis operiert – Götter, den Glauben an sie und deren rituelle Verehrung gibt es hier wie dort in den Welten der Menschen, wenngleich in kulturellen Varianten. Allerdings stellen sich bereits an dieser Stelle Fragen nach der Angemessenheit der Übersetzung zwischen kulturellen Lebensformen, hier: zwischen Glaubenssystemen und -praktiken. Herodot fasst die in verschiedenen Sprachen vorhandenen Namen der Götter nämlich kurzerhand als äquivalent, ja sogar als „dasselbe“ bezeichnend auf. Auf diese Weise macht er z.B. auch einen „persischen Zeus“ ausfindig (obwohl die Perser den hellenischen „Zeus“ seinerzeit nicht kannten). All das sind wohl Schritte eines assimilierenden Verstehens, die den Autor und seine Leserschaft in die Irre führen dürften. Sie bewegen ihn jedenfalls vom Anderen und Fremden weg, hin zum Vertrauten und Eigenen, das auf diese Weise unberührt und unhinterfragt bleiben kann, ja sogar bekräftigt und stabilisiert wird. Von Fremdverstehen in einem anspruchsvollen Sinn kann in diesem Fall also kaum die Rede sein. Auf den oben angeführten Absatz 131 aus dem „ersten Buch“ Herodots folgen genaue Beschreibungen, wie die Perser den genannten Gottheiten ihre Opfer darbringen, welche Handlungen die Opfernden ausführen und welche Sinn- und Bedeutungsgehalte man diesen Aktivitäten zuschreiben kann. Dabei charakterisiert er die Perser, die ein Opfer darbringen, unter anderem als Personen, die, wie heute wohl manche sagen würden, an einer „kollektivistischen“ Kultur und Lebensform teilhaben: 8 7

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Über die Bevölkerung des Olymps mit Göttern, die den Menschen gleichen und im Prinzip deren Gedanken, Gefühle und Bestrebungen teilen, spotten schon die Vorsokratiker, z. B. Xenophanes, heftig, etwa wenn sie Homers und Hesiods Mythen als Relikte einer untergegangenen Welt brandmarken. Der Gegenbegriff zu „Kollektivismus“ lautet „Individualismus“. Das Paar findet sich z.B. in den ebenso berühmten wie umstrittenen Arbeiten Geert Hofstedes (1993; 2001), wo es zwei (von insgesamt zunächst vier, schließlich fünf faktorenanalytisch identifizierten) „Kulturdimensionen“ darstellt. Auf diesen Dimensionen sollen sich alle (National-)Kulturen bzw. Gesellschaften verorten und graduell unterscheiden lassen, wie Hofstede zu zeigen bestrebt war. Die kulturvergleichende Psychologie ist seit Jahrzehnten geradezu besessen von der Möglichkeit, Kulturen und das Verhalten ihrer Angehörigen auf der o.g. Dimension zu sortieren und in „Rangreihen“ zu bringen. Dabei sind sog. ökologische Fehlschlüsse (die von statistischen Vergleichsdaten auf der Ebene von „Nationen“ auf das Verhalten von Individuen schließen; Hofstede selbst hatte dereinst davor gewarnt), simplifizierende Kontrastierungen und Unterscheidungen von in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht kurzerhand homogenisierten (National-)„Kulturen“ üblich (wie üblich meistens durch Studenten „repräsentiert“). An methodischen Schwächen ist kein Mangel, und so verwundert es niemanden, dass die Befunde höchst uneinheitlich

ANDERE FREMDE „Sie errichten, wenn sie ein Opfer zu bringen gedenken, [wiederum im Kontrast zu den Griechen, J. S.] weder Altäre, noch zünden sie Feuer an; sie haben auch keine Trankopfer noch Flötenspiel, noch Binden, noch geröstete Gerste dabei. Will einer sein Opfer darbringen, so führt er das Vieh an eine reine Stätte, ruft die Gottheit an, meist bekränzt mit Myrtenzweigen um seine Tiara. Dem, welcher opfert, ist es nicht verstattet, für sich allein Gutes zu erflehen: Er betet vielmehr, dass es allen Persern und dem Könige wohlergehe: denn in der Gesamtheit der Perser ist er selbst einbegriffen. Wenn er dann das Opfertier in Stücke zerschnitten und das Fleisch gekocht hat, so streut er das weichste Gras, meistenteils Klee, unter und legt darauf all das (gekochte) Fleisch. Ist dies geschehen, so tritt ein Magier herzu und singt dann das Lied von der Göttererzeugung, wie sie es nennen: denn ohne einen Magier ist es nicht üblich, ein Opfer zu veranstalten. Nach einer nicht langen Zeit trägt der, welcher das Opfer dargebracht hat, das Fleisch weg und verwendet es zu beliebigem Gebrauch“ (Herodot 2004: 100).

Erneut wird hier deutlich, wie Herodot mit seiner Aufgabe ringt, nämlich fremde Gebräuche im Zuge des teils expliziten, teils impliziten Vergleich mit der Praxis, die Hellenen vertraut ist, zu beschreiben und auszulegen. Sein Vorgehen illustriert erneut eine Schwierigkeit, an dem auch heute noch Vergleiche kultureller Lebensformen, Praktiken und Handlungsweisen scheitern, wenn sie mitunter nicht tragfähige Analogien in Anspruch nehmen und ihre Übersetzungen vorschnell als Angleichungen und Gleichsetzungen von Verschiedenem präsentieren: Herodot schreibt vom „Lied der Göttererzeugung, wie sie es nennen“, und legt dabei die Assoziation an einen hellenischen Brauch nahe, nämlich an die Theogonie und „das heilige Lied zu denken, das von der Götter Zeugung handelt und bei den Opfern der Hellenen abgesungen ward“ (Bähr 2004: 778, Fußnote 153). Die Bezeichnung des persischen rituellen Brauchs mit dem griechischen Ausdruck „Theogonie“, der offenkundig auf eine andere Praxis und religiöse Mythologie und Weltanschauung gemünzt ist, bringt semantische Verschiebungen mit sich, die die Übersetzung nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen kulturellen Lebensformen fragwürdig machen. Das Lied der persischen Magier ist nicht dasselbe wie das der Griechen, sind. Längst wird grundsätzlich hinterfragt, dass es sich bei „Individualismus“ und „Kollektivismus“ überhaupt um kontrastive Dimensionen handelt, die gleichermaßen hohe (oder niedrige) Ausprägungen in beiden Dimensionen ausschließen. An nuancierten Abhandlungen mangelt es mittlerweile nicht mehr. Zum Zweck der Beschreibung (Interpretation, Erklärung, Vorhersage) des Verhaltens von Individuen wurden analoge Begriffe geprägt. So sprach Triandis (1994) von „Idiozentrismus“ und „Allozentrismus“, und seit dem einflussreichen Aufsatz von Markus und Kitayama (1991) sind zahllose Arbeiten erschienen, in denen mit der Unterscheidung zwischen einem „independenten“ und einem „interdependenten“ Selbst oder ähnlichen Konstrukten operiert wird und darauf zugeschnittene Messverfahren vorgestellt werden (s. etwa Gudykunst/Matsumoto/ Ting-Toomey/Nishida 1996; Markus/Kitayama 1998; Matsumoto/Weissmann/Preston/ Brown/Kupperbusch 1997; vgl. auch die informative Metaanalyse von Oyserman/Kemmelmeier/Coon 2002 sowie die darauf bezogenen Kommentare im selben Heft des Psychological Bulletin, z. B. von Fiske oder Miller; weiterhin die Einführungen in Themenschwerpunkte zweier Fachzeitschriften, wo sich weitere einschlägige Abhandlungen und Literaturhinweise finden: Bathia/Stam 2005; Straub/Zielke 2006).

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sein Inhalt ist grundverschieden, nicht einmal funktional kann Äquivalenz unterstellt werden, und auch der Magier ist eine Figur, die Herodot bei seiner Beschreibung religiöser Praktiken zu Recht als Eigentümlichkeit charakterisiert. Ähnlich verfährt er mit vielem, was aus seiner Perspektive auffällig ist.

Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden: erste Hinweise auf ein ethisches Motiv und den empirischen Anspruch eines Forschungsprogramms Wir mögen heute vielleicht leichter als Herodot und seine Zeitgenossen als Irrtümer und Holzwege erkennen, was uns der Grieche manchmal etwas unbefangen als wissenschaftliche Methode und Erkenntnis präsentierte. Das ändert nichts an seinem ebenso offenkundigen wie eindrucksvollen Interesse an „Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden“ – wie Rainer Kokemohr (in diesem Band) sein Thema formuliert. Daran war bereits den alten Griechen gelegen. Sie betonten nicht zuletzt die Notwendigkeit kulturvergleichenden Denkens für die Bearbeitung dieses Themas. Das Lexem „Kultur“ sucht man bei ihnen zwar vergeblich. In der uns vertrauten, komplexen Bedeutung wurde es erst in der modernen Welt geschaffen. Dennoch lassen sich schon in Herodots Büchern zahlreiche Passagen entdecken, in denen der Autor Kulturen, kulturelle Lebensformen, Sprachspiele, Praktiken, Weisen des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns vergleicht. Seine Ausführungen imponieren nicht nur durch ihre theoretische und methodische Versiertheit, sondern führen uns auch Missgriffe komparativer Analysen vor Augen, die das angestrebte Verstehen von Anderen oder Fremden als einseitig assimilierende Aneignung erscheinen lässt und zu Recht Vorbehalte weckt. Dieser nostrifizierende Zugriff lebt bekanntlich bis heute fort und prägt den Umgang mit Anderen und Fremden. Das zweifellos gesteigerte Differenzbewusstsein und die nach wie vor wachsende Differenzsensibilität haben daran selbst in den avancierten empirischen Wissenschaften nur teilweise etwas geändert. Zu den Ausnahmen zählt der im vorliegenden Band zur Diskussion stehende programmatische theoretische Vorschlag, der im Zeichen einer „Bildung als Selbst- und Weltentwurf im Anspruch des Fremden“ und einer auf diesen Vorgang gerichteten, empirischen Bildungsforschung steht. Ich will mich diesem Vorschlag nähern, indem ich zunächst sein meines Erachtens zugrunde liegendes ethisches Motiv herausstelle. Dieses ethische Fundament übernimmt Kokemohr, indem er an die Philosophie von Bernhard Waldenfels anknüpft, speziell an seinen in einer Topographie ausgearbeiteten Begriff des radikal Fremden (z. B. Waldenfels 1997; 1998; 2006). Kokemohr greift diesen Begriff auf und sucht ihn für die empirische Erforschung sog. in118

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terkultureller Kommunikation – nach Kokemohr besser: transkultureller Bezugnahme – fruchtbar zu machen. Die exemplarische Umsetzung dieses Anliegens (vgl. Kokemohr in diesem Band) lässt das philosophische Konzept des radikal Fremden nicht unberührt, sondern verleiht ihm neue Bedeutungsaspekte, an denen sich die methodisch kontrollierte Erfahrungsbildung in empirischen Disziplinen wie der Pädagogik, Psychologie oder Soziologie abzuarbeiten hat. Waldenfels schreibt auf dem Boden einer phänomenologischen Tradition, in der die deskriptive Analyse von Erfahrungen nicht strikt von der philosophischen Artikulation und Legitimation normativer Ansprüche abgekoppelt ist. Deutlicher noch als bei Waldenfels wird dies bei Emanuel Lévinas und all jenen Autorinnen und Autoren, die dessen „Denken des Anderen“ zumindest in den hier interessierenden Punkten besonders stark verpflichtet sind. Nach meiner Lesart verbindet eine ganze Reihe zeitgenössischer Autorinnen und Autoren, sobald sie von Differenz, Alterität und Alienität sprechen und dabei einige an Lévinas’ Philosophie orientierte Unterscheidungen zur Geltung bringen, ein ethisches Motiv. Dieses Motiv lebt in Kokemohrs theoretisch und empirisch anspruchsvollen Untersuchungen fort, wenngleich es dort nicht mehr die zentrale Stellung innehat und hinter die methodischen Anliegen einer Bildungsforschung, die nach Alternativen zur assimilierenden Bezugnahme auf Fremdes Ausschau hält und sich selbst nicht unreflektiert in fragwürdige Aneignungen verstricken will, zurücktritt. Kreative, die Grenzen des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses überschreitende Bezugnahmen auf Fremdes, Bezugnahmen im Modus der Selbsttranszendenz, wie ich abkürzend sagen möchte, 9 sind vom ethischen Motiv einer Anerkennung der Anderheit oder Fremdheit des Anderen nicht zu lösen. Sie sind allerdings auch nicht darauf reduzierbar. Es geht in und mit ihnen vielmehr um Bildung im Sinne einer „durch Fremdes herausgeforderte[n] Veränderung von Grundfiguren meines Welt- und Selbstverhältnisses“ (Kokemohr in diesem Band: 14). Selbst wenn man solche Bildungsprozesse nicht auf eine epistemisch-kognitive Infragestellung und Umstrukturierung des vertrauten Welt- und Selbstverhältnisses beschränken möchte – was Kokemohr gewiss nicht tut –, sondern auch motivationale, volitionale und emotionale Dimensionen des Selbst berührt sieht, erweitert eine als Selbsttranszendenz begriffene Bildung der Person doch stets auch deren nicht zuletzt durch epistemische und kognitive, hermeneutische Schemata abgesteckten Verstehenshorizont. Die empirische Bildungsforschung untersucht Vorgänge der Selbsttranszendenz, indem sie analysiert, dass und wie Menschen Fremdheitserlebnissen 9

Zum Begriff der Selbsttranszendenz vgl. wiederum Joas (1997). Die als Selbsttranszendenz bezeichnete Überschreitung und Erweiterung von Selbst-Grenzen wird hier handlungstheoretisch konzeptualisiert, wobei die Kreativität menschlichen Handelns ebenso Beachtung findet wie die Tatsache, dass Handlungen häufig nicht ohne (theoretische und empirische) Bezugnahme auf Widerfahrnisse und schließlich auf die widerfahrnisartigen Momente im Handeln selbst bestimmt und analysiert werden können.

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ausgesetzt sein können, kontingenten Widerfahrnissen, die einer Deutung in den Grundfiguren des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses widerstehen. Auch wenn es wegen einer anthropologischen Tendenz zur Beharrung auf dem eigenen Selbst eher unwahrscheinlich ist, dass die von solchen Widerfahrnissen Betroffenen in Bildungsprozesse involviert werden, die die Überschreitung und Verschiebung von Selbst-Grenzen mit sich bringen, kann dies der Fall sein. (Die empirischen, kulturellen, sozialen und personalen Bedingungen, die diese Möglichkeit eröffnen und fördern, sind noch nicht hinreichend erforscht.) In solchen Vorgängen waltet dann, wie gesagt, auch ein epistemischer oder kognitiver Anspruch, der gegenüber einem bloß assimilierenden Vergleichen und Verstehen kultureller Unterschiede Überlegenheit vindiziert – selbst wenn sich diese Überlegenheit, wie Kokemohr zu bedenken gibt, immer erst im Nachhinein erweisen lassen sollte und niemals alle „Verschattungen“ aus der Welt zu schaffen vermag. Das Konzept einer im Fremden wurzelnden Bildung verspricht produktive Einsichten, die, nach getaner empirischer Forschung, unser wissenschaftliches Wissen mehren, also nicht bloß unsere ethisch-moralischen Ansprüche befriedigen und unser Selbstgefühl steigern. Unklar ist mir jedoch, in welchem Verhältnis die normativen Grundlagen oder Implikationen dieses Konzepts und seine wissenschaftlichen Ambitionen, nämlich Bildungsprozesse theoretisch und methodologisch anspruchsvoll zu erfassen und der methodisch kontrollierten Forschung den Weg zu bahnen, eigentlich zu einander stehen, ja, welche Funktion ein normativ grundierter, phänomenologischer Begriff des Anderen und Fremden in den empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften überhaupt erfüllt und erfüllen kann. Diese Frage stellt sich meines Erachtens mit einiger Dringlichkeit, weil das sowohl praktische wie wissenschaftliche Ziel einer produktiven Bezugnahme auf Fremdes – nach der theoretisch-normativen Vorgabe – gerade nicht bedeutet, bedeuten kann und darf, dieses Fremden habhaft zu werden, es zu identifizieren und dadurch als Fremdes zu tilgen. Es ist ja nicht allein so, dass uns, wie es heißt, „das Fremde, das uns anspricht, nicht einfach zugänglich sei“ (Kokemohr in diesem Band: 28, wo er direkt an Waldenfels anknüpft). Das Fremde sei vielmehr stets in der paradoxen Weise präsent, dass es das Eigene durchziehe und sich zeige, indem es sich entziehe. Nicht zuletzt die traditionelle phänomenologische Rede von „der bewährbaren Zugänglichkeit des Fremden in der Form des original Unzugänglichen“ (Kokemohr in diesem Band: 28) zeigt an, dass diese Einsicht, die selbst schon einer Reflexion auf Fremdheitserlebnisse entspringt, allen Erfahrungswissenschaften eine harte Nuss zu knacken gibt. Denn wie sollen diese in ihren empirischen Forschungen, die ganz ohne „Positivierung“ ihres Forschungsgegenstandes, ohne identifizierendes Denken und bestimmende Vernunft nicht auskommen, wohl jenen erst im Nachhinein bewährbaren – aber wie bewährbaren? – Zugang zum Fremden suchen und finden, wenn dieses doch als originär 120

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unzugänglich gilt? Auch Kokemohrs Sorge gilt einem Fremden, das vor den selbstherrlichen Übergriffen identifizierenden Begreifens und bestimmenden Urteilens geschützt und verwahrt werden soll. Der phänomenologische Begriff des Fremden entzieht das Phänomen jedem Zugriff einer jeden vorstellbaren Vernunft – und dennoch sollen uns die Erfahrungswissenschaften, die sich an diesem Begriff orientieren und mit ihm operieren, etwas mitteilen über konkretes Fremdes und bestimmte Fremde – oder einander fremde Personen oder Gruppen – sowie deren Lebensformen und Sprachspiele, Praktiken und Handlungsweisen. Wie aber passt dieser meines Erachtens unverzichtbare Anspruch zum Konzept des radikal Fremden und seiner normativen Stoßrichtung, die sich, im Grunde genommen, einem (einleuchtenden) Rezept gegen die Hybris abendländischer Vernunft verdankt? Der hier zur Debatte stehende Entwurf einer Bildungstheorie und empirischen Bildungsforschung verspricht Wissen über kulturelle Differenz sowie deren mögliche Bedeutung für die soziale Praxis und das veränderliche Selbst einer Person. Was aber heißt hier „kulturelle Differenz“? Und was bedeutet es, dass sich diese Frage nach der im Folgenden vorgetragenen Auffassung nicht einheitlich beantworten lässt, sondern nur in der Form eines Ausweises zu unterscheidender Unterschiede? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Dies heißt, dass sich die empirische Forschung verschiedener Gegenstandsentwürfe annehmen muss und ihre Methoden darauf abzustellen hat. Und es bedeutet, dass wenn schon nicht „Bildung“, so doch das Lernen (vgl. Weidemann 2004: 33ff.) in Kontexten interkultureller Kommunikation oder transkultureller Bezugnahme ebenfalls vielgestaltig modelliert und multimethodal erforscht werden muss.

Differenzierung kultureller Unterschiede: Differenz, Ander(s)heit, verschiedene Begriffe des Fremden Wer von kultureller Differenz spricht, kommt um eine zumindest grobe Verständigung über diesen Begriff nicht herum. Burkhard Liebsch etwa reflektiert dessen philosophische, ethische und politische Konturen, wobei er – im Anschluss an Schriften von Lévinas 10 – vor allem auf die Bedeutung sog. radikaler Differenz abhebt. Diese wird von einer bloß relativen Differenz von Kulturen (oder Ethnien oder Lebensformen) abgegrenzt, durch die sich Menschen 10 Wichtig sind im vorliegenden Zusammenhang z.B. Lévinas 1987a; 1987b; 1988; 1992; 1995. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur erwähne ich lediglich Liebsch (1999; 2001) und Gehring (1997). Im Folgenden geht es mir natürlich nicht um eine ausführliche Darstellung von Lévinas’ Philosophie, sondern lediglich um Liebschs Interpretation und einige Schlussfolgerungen, die sich speziell auf die aktuelle, multi- und interdisziplinäre Debatte über „Differenz“ beziehen.

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gleichsam äußerlich voneinander unterscheiden, kategorisieren, sortieren, klassifizieren und in Gruppen einteilen lassen (vgl. Liebsch 2001: 155 ff.). Genau dies verbiete das Denken radikaler Differenz, welches es mit einer „eigentlichen Anderheit“ von Anderen zu tun habe, also nicht in jener relativen „Andersheit“ aufgehe, wie sie auch vergleichbaren Dingen zugeschrieben werden kann. Die vor jedem Vergleich von Menschen (leiblich) erfahrbare radikale Differenz ist prinzipieller und unaufhebbarer Art. Als alle Individuen unterscheidende Anderheit ist sie von deren mit Dingen und anderen Lebewesen geteilten, komparativen Andersheit verschieden. Der philosophische Begriff der Anderheit bewahrt die Bedeutung bleibender Differenz und Fremdheit. Radikale Differenz, Anderheit oder Fremdheit verdankt sich „nicht einem Vergleich, sondern einem Widerfahrnis […], in das wir verwickelt sind, ohne bereits den Standpunkt eines Vergleichs von Verschiedenem einnehmen zu können“ (ebd.: 158). Diese radikale Verschiedenheit hängt nicht von bestimmten oder bestimmbaren Qualitäten und Eigenschaften der einzelnen ab, durch die sie sich im Zug vergleichender Betrachtungen womöglich unterscheiden lassen. Radikale Differenz, Alterität und Alienität sind nicht wahrnehmbar, erinnerbar, beschreibbar, sagbar, symbolisierbar. Wer jemand im Sinne einer qualitativen Identität ist (in seinen oder anderer Leute Augen), ist er gerade nicht als Anderer oder Fremder. Den Anderen und Fremden kennt niemand als ein bestimmtes oder bestimmbares Wesen. Dies gilt für die Mitmenschen, die einem am nächsten stehen und auf trügerische Weise vertraut sind, ebenso wie für jene anonymen Nebenmenschen, die wir, sobald wir ihnen begegnen, spontan als fremd erleben mögen. Der Andere und Fremde entzieht sich stets, sei es im Zusammenleben mit Nahestehenden und Zughörigen, sei es im Aufeinandertreffen von einander fern stehenden, sich asymmetrisch oder wechselweise als Unzugehörige behandelnde Menschen. Er begegnet uns in der Erfahrung, wie gesagt, ausschließlich in der paradoxen Gestalt einer absenten Präsenz oder präsenten Absenz. Es gibt hier keine Anwesenheit ohne Abwesenheit. Just dieser Entzug, der phänomenologisch als Erfahrung ausgewiesen wird, ist ethisch von höchster Bedeutung. Es ist dieser Entzug, der uns etwas angeht, anspricht, herausfordert und zur Aufgabe wird, die uns verantwortlich zu übernehmen „anbefohlen“ sei, wie Lévinas sagt. Es ist der „Anspruch“, der zu unserer Erfahrung als Widerfahrnis gehört und Antwort erheischt. 11 Er konfrontiert uns mit radikaler Differenz bzw. Alterität und Alienität, und nicht der epistemisch-kognitive Vergleich, der ja stets ein Tertium comparationis voraussetzt, einen jede radikale Differenz nivellierenden gemeinsamen Bezugspunkt also, an dem die in den Vergleich eingehenden „Comparanda“ gemessen und als gleich oder verschieden bestimmt werden können. 11 Auch Hans-Georg Gadamer (1986) zeichnete die „eigentliche“ Erfahrung bekanntlich als ein Widerfahrnis aus.

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Jedes Tertium comparationis birgt eine Gemeinsamkeit und Gleichheit, die radikale Differenz, Anderheit und Fremdheit zwangsläufig „vernichtet“ (vgl. Lévinas). Liebsch (2001: 161) folgt Lévinas, wenn er von einem in jeder menschlichen Begegnung unhintergehbaren Entzug des Anderen spricht oder (in einer Auslegung von Theodor Adornos Begriff des „Nicht-Identischen“) im Anderen einen Anspruch walten sieht, der „immer schon an uns ergangen sein [wird], bevor wir daran denken können, ihn unter einen ihn identifizierenden Vergleichspunkt zu bringen. Ein solcher Entzug des Anderen im Bezug zu ihm muß der Fall sein, wenn es denn die Möglichkeit eines ‚nicht-identifizierenden Erfahrens‘ soll geben können. Dieses Erfahren ist, wenn es denn möglich ist, mit einer Anderheit des Anderen konfrontiert, die nicht in seiner empirischen Verschiedenheit von mir aufgeht und als ‚Verlangen‘ nach Achtung für die ins Nicht-Identische und Nicht-Identifizierbare ausscherende ‚Differenz‘ des Anderen mir zugleich meine Nicht-Indifferenz angesichts dieser Differenz aufgibt.“ Nach meiner Lesart gründet Kokemohrs Konzept der Bildung als Weltund Selbstentwurf im Fremden nicht nur, aber auch in dieser ethisch-moralisch imprägnierten Erfahrung einer in radikaler Differenz begründeten Nicht-Indifferenz des Anderen und Fremden. Es stellt theoretisch, methodologisch-methodisch und praktisch-pädagogisch in keinesfalls bloß marginaler Weise auf sie ab. Der skizzierte phänomenologische Befund ist eng mit Lévinas’ Gedanken der „Ansprechbarkeit“ verknüpft. Ansprechbar seien Menschen, alle Menschen, durch das Gesicht des Anderen. Das Antlitz des Anderen sei das Gebot, ihn als sich entziehenden Anderen zu achten, ein Gebot, das, so Lévinas, alle angehe und über das man sich – angeblich – allenfalls nachträglich hinwegsetzen könne. Aus der Welt zu schaffen sei es nicht. Anderheit und Fremdheit widersetzen sich dem, was Menschen ihresgleichen antun können. Sie sind der nicht lokalisierbare Ort, den keine Gewalt treffen kann, betont Lévinas. Die Ethik der Anderheit und Fremdheit erinnert uns an „unsere Bestimmung zur verantwortlichen Nicht-In-Differenz seinem Tod und seiner Sterblichkeit gegenüber […]. Nicht einmal dem kalten Liquidierer, der sich hinter einer rassistischen Binnenethik verschanzt, wo Recht und Gesetz versagen, soll demnach eine Ausflucht aus dieser Bestimmung als der ‚Gabe der Verantwortung‘ für den Anderen erlaubt sein“ (Liebsch 2001: 163). 12 Nichts sei wirklicher als diese nicht lokalisierbare, nicht diskursivierbare, nicht identifizierbare, mit keinem Begriff fassbare Anderheit und Fremdheit des Anderen, die noch das je eigene Selbst als einen Anderen umfasst (vgl. Ricœur 1996). Radikale Differenz, Alterität und Alienität sind „wirklich“ im 12 Die Menschen sind demnach noch als Feinde durch eine „Brüderlichkeit“ und eine weder biologisch noch ethnisch zu verstehende „Verwandtschaft“ miteinander verbunden, und dieses Band, das einen Anspruch des Anderen und eine Ansprechbarkeit durch ihn „symbolisiert“, ist nach Lévinas unzertrennbar, nicht einmal durch extreme Gewalt zu zerschlagen.

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Entzug des Anderen, der im Bezug zu seinesgleichen diesen „absolut fremd“ (vgl. Lévinas) bleibt und sie dennoch „anruft“ und beansprucht. Der Andere wird just dadurch, dass er sich entzieht, als „nicht-in-differenter“ Anderer erfahrbar, der Gleichgültigkeit prinzipiell zu etwas Nachträglichem macht. Nicht-In-Differenz heißt, wie auch Liebsch nicht müde wird zu betonen, „dass uns der Andere anbefohlen ist als einer, angesichts dessen Fremdheit man noch die Verantwortung für ihn trägt. In der Nicht-In-Differenz der Verantwortung für den Anderen schlägt nicht nur das ‚schlechte Gewissen‘, ihn womöglich als Mittel zu behandeln; sie ‚bedeutet‘ auch, ihn nicht nur als nur ‚vergleichsweise‘ anders, sondern als ‚radikal‘ anders gelten zu lassen. Daher die im ‚Angesichts-des-Anderen‘ selbst wurzelnde Weigerung, der Lévinas philosophisch Geltung zu schaffen versucht, den Anderen dem ihn ‚identifizierenden‘ Begriff, dem Genus, der Gattung zu subsumieren“ (Liebsch 2001: 175 f.). Eine Zwischenbemerkung ist angebracht: Lévinas’ Schriften sind nach meiner Lesart keine bloß „philosophischen“ Texte, die darauf abzielen, einem in der Erfahrung jedes Menschen wurzelnden Gedanken zur Geltung zu verhelfen. Es erscheint mir stimmig, dass Lévinas hervorhebt, die von ihm ins Zentrum seines Denkens gerückte ethische Verwandtschaft der Menschen leuchte von „außerhalb des Kontextes der Welt“ ein (Lévinas 1995: 205). Man wird diesen Hinweis auf die transzendente Herkunft der Einsichten, über die Lévinas spricht, wohl auch als Nähe zur religiösen Erfahrung und zur Theologie lesen müssen. Lévinas’ Phänomenologie wird nicht allen etwas nahe bringen und nahe legen können. Sie bereitet keineswegs nur den Boden für „allgemeine“, zumindest von vielen nachvollziehbare Erkenntnisse über die Struktur jener Erfahrungen, in die ein sich entziehender Anderer und Fremder einbricht und einen allenfalls nachträglich abweisbaren ethischen Anspruch erhebt. Diese Phänomenologie ebnet an einigen Stellen vielmehr den Weg für einen Glauben, zu dem wohl kaum alle bereit sein werden – schon allein deshalb, weil er mit einer bestimmten „qualitativen“, kulturellen und speziell eben religiösen „Identität“, die in der Tradition des Judentums wurzelt, verwoben ist. Liebsch weist Lévinas’ Ansinnen, die besagte Verwandtschaft leuchte von „außerhalb des Kontextes der Welt“ her ein, zurück und will dessen Denken ganz und gar in diesseitigen Erfahrungen verwurzelt und jedenfalls auf diese bezogen wissen. Letzteres – der geforderte Bezug – ist gewiss in Lévinas’ Sinn und nicht allein für eine Politik der Differenz bzw. Differenzsensibilität, die sich vom Denken radikaler Differenz, Alterität und Alienität hat belehren und inspirieren lassen, ganz entscheidend, sondern für jegliche praktische Bedeutung dieses Denkens. Zweifellos muss eine Philosophie, will sie praktisch etwas besagen und ausrichten, „in den konkreten sozialen und politischen Verhältnissen der Menschen als diese inspirierend zur Geltung kommen“ (Liebsch 2001: 182). Analoges gilt im Hinblick auf das Selbstverhältnis, das jedes Indi124

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viduum zu sich unterhält. Andernfalls bliebe diese Prima philosophia in der Tat weltfremd, eine noble und emphatische, aber gleichsam leere Ethik, die in einer religiös grundierten Selbstbesinnung aufginge und ansonsten in praktischer Folgenlosigkeit versandete. Das ist wahrlich nicht Lévinas’ Anliegen, dessen Ethik bekanntlich auch als Erinnerung an „Auschwitz“ angelegt ist und diese wach hält, an die Gewalt einer exzessiven Vernichtung, die beinahe alles am Menschen zerstört und dennoch dasjenige, was „anders als sein geschieht“ und den Menschen als Anderen auszeichnet, so Lévinas, nicht treffen konnte und kann. Der Andere sensu Lévinas ist ein eminent praktisches Anliegen und kein bloßes Gedankenspiel. Das ist unzweifelhaft. Das Anliegen jedoch, seinem Denken die religiöse Dimension, mithin den Glauben abzustreifen und es als eine durch und durch irdische Phänomenologie der Erfahrung auszulegen, die aus ihren Beschreibungen am Ende eine alle Menschen umfassende, gleichsam anthropologische Ethik hervorgehen lässt, der sich niemand wirklich entziehen kann, halte ich für ein fragwürdiges und mühseliges Unterfangen. Normative Forderungen lassen sich aus keinem Geschehen, selbst wenn dieses keinem Seienden und Sein gleichen sollte, ableiten. Die für den Menschen konstitutive „Gabe der Verantwortung“ und die Gebote, die dem Anderen ins Gesicht geschrieben sind und sein Antlitz in einen Anspruch verwandeln, sind (in einem hier nicht einmal ansatzweise zu erörternden Sinne) „religiös“ konnotiert. Die Skepsis gegen eine phänomenologische Auslegung der Anderheit, die diesem Begriff jede Bindung an durchaus spezifische Sprachspiele und Lebensformen, insbesondere auch jede religiöse Dimension, nimmt und ihn von aller Notwendigkeit zu glauben abkoppelt, bedeutet nun allerdings nicht, die Herausforderung zu verkennen, die Lévinas’ Philosophie der Anderheit des Anderen für jedes praktische und wissenschaftliche Interesse an Differenz darstellt. 13 13 Mit gutem Grund prüft Liebsch die Relevanz des Gedankens radikaler Differenz, Alterität und Alienität für die Politik. Auf der Grundlage der skizzierten Unterscheidung zwischen Andersheit und Anderheit liegt es nahe, einem großen Teil des aktuellen Diskurses über Differenz vorzuwerfen, er sei in reduktionistischer Weise einem komparativen Begriff relativer Differenz verhaftet und vernachlässige das ethisch tiefgründigste Problem. Gerade dieses Problem, an dem kein Plädoyer für (kulturelle, ethnische) Differenz, Pluralität, Anerkennung und Toleranz vorbeikomme, markiere jedoch einen überaus wichtigen Prüfstein der Politik. Da die gängigen Apologien der Differenz aber just den von Lévinas markierten ethischen Sinn der Anderheit verfehlen, müsse von einem eigentümlich differenzvergessenen Denken gesprochen werden, das die Politik zwangsläufig in Mitleidenschaft ziehe. Liebsch entnimmt Lévinas’ Schriften die Lehre, das heute so modische Differenzdenken und die kursierenden Plädoyers für eine Politik der Differenz (Achtung, Anerkennung, Toleranz des Anderen als Anderer) enthielten eine „unausgesprochene Gleichmacherei“ und verwandelten die angebliche kulturelle und ethnische Pluralität in eine Eintönigkeit, in der Menschen nur noch relativ verschieden seien, meist gemessen an der inkludierenden und exkludierenden Scheidelinie, die Zugehörige von Unzugehörigen trennt. Dagegen bilde Lévinas’ Denken einen Stachel und Widerstand. Zwar gehe die Ethik nie in Politik auf (vice versa), doch könne gerade Lévinas’ Ethik der

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Es ist evident, dass nicht jedes Differenzdenken terminologisch so differenziert ist wie die Philosophie von Lévinas, die Andersheit ausdrücklich von Anderheit und Fremdheit unterscheidet. Das ist gewiss eine Stärke, die nicht als terminologische Spielerei abgetan werden darf, sondern in ihrer praktischen, mithin auch politischen Relevanz gewürdigt werden kann. Ich lasse es einmal dahingestellt, ob alle Apologien der Differenz, die von Liebsch der Differenzvergessenheit im Sinne einer mangelnden Sensibilität für die Anderheit des Anderen bezichtigt werden, tatsächlich so trivialisierend und so unachtsam gegenüber den Problemen der Alterität und Alienität sind, wie die beißende Kritik und der Ruf nach einem „neuen“ Denken von Differenzsensibilität unterstellt. Zu einem guten Teil scheinen die pauschal kritisierten Autoren einfach andere Anliegen zu haben als Lévinas. Sie vergessen die radikale Differenz vielleicht nicht so sehr, sondern berücksichtigen sie ganz bewusst nicht eingehend. Demzufolge betreiben sie diesbezüglich keinen terminologischen Aufwand. Für die Politik und andere praktische Aufgaben ist das Denken radikaler Differenz vielleicht einfach nicht so wichtig, ergiebig oder gar entscheidend, wie es manchen scheinen mag. Dies gilt erst recht dann, wenn dieses Denken bisweilen in eine emphatische Andacht umkippt, die den Anderen mit einer ethisch-moralischen und religiösen Aura umgibt und zelebriert. Liebsch hebt hervor, dass einer Ethik der Brüderlichkeit Grenzen gesetzt sind, wenn es um Politik geht. Wenngleich er das Denken radikaler Differenz als eine Art conditio sine qua non einer jeden Politik begreift, die Begriffe wie Differenz, Alterität, Alienität, Pluralität und Toleranz nicht zu nichts sagenden Oberflächlichkeiten und hohlen Lippenbekenntnissen verkommen lassen will, traut er ihm im Feld der Politik keineswegs alles zu. Im Gegenteil: Der paraBrüderlichkeit die Politik inspirieren und daran erinnern, dass mit Differenz auch dort gerechnet werden müsse, wo diese nicht in Unterschiede verrechnet werden können, die sich im Vergleich ausfindig machen lassen. Liebsch mobilisiert Lévinas’ Ethik der Brüderlichkeit regelrecht gegen ein nicht zuletzt eben politisches Denken und Handeln, dem er wiederholt ein Vergessen der Anderheit des Anderen vorhält. Liebsch wirft einem Großteil der aktuellen Debatte einen indifferenten Umgang mit Differenz und im Grunde genommen eben Differenzvergessenheit im skizzierten Sinn vor. Die gängige Apologie der Differenz, die Kulturen im Sinne einer meist nur ethnographischen Unterscheidung sortiert – weit entfernt vom aufklärerischen, von Hegel weiter entwickelten „Begriff der Erziehung zur Vernunft und Freiheit“ –, schlägt nach dieser Diagnose um in ein Vergessen der angeblich wichtigsten Differenz, und das sogar noch in programmatischen ethischen und politischen Direktiven, die die Achtung einer unaufhebbaren Verschiedenheit von unweigerlich differenten Anderen, mithin radikal Fremden, proklamieren und fordern. Der Mangel an terminologischen Unterscheidungen, der Lévinas’ Differenzierung zwischen relativer, bloß komparativer Andersheit und radikaler Anderheit außer Acht lässt, verwandelt die gängigen Apologien der Differenz demnach in Willensbekundungen und Absichtserklärungen, die die ethisch grundlegende Differenz unterdrücken. Damit werde nicht allein die Komplexität eines anspruchsvollen Begriffs des radikal Anderen oder Fremden verspielt, sondern etwas (tendenziell) Gewaltsames gedacht und getan, zumindest im Denken gleichsam vorbereitet und gefördert. Diese Überlegung lässt sich, mutatis mutandis, leicht vom praktischen Feld der Politik in das der Wissenschaften übertragen.

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dox anmutenden Differenzvergessenheit zeitgenössischer Apologien der Differenz korrespondiere eine tendenzielle Politikvergessenheit bzw. „politische Differenzblindheit“ der Ethik radikaler Differenz und Brüderlichkeit. Zwischen Politik und Ethik herrscht auch nach dieser Auffassung ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis, ein Widerstreit. Ich gehe der bei Liebsch mit im Zentrum stehenden Frage, wie man im markierten Feld zwischen Skylla und Charybdis hindurchschiffen könne, wie man also Lévinas’ Begriff radikaler Differenz würdigen und beherzigen könne, ohne sich der Weltfremdheit und Politikvergessenheit schuldig zu machen, nicht genauer nach, sondern begnüge mich mit wenigen, im hier interessierenden Zusammenhang relevanten Hinweisen. Dabei geraten auch die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften wieder stärker ins Blickfeld. Liest man Liebschs Überlegungen zur Frage, wie „eine konkrete politische Differenzsensibilität, die auf den ersten Blick nur ontische und komparative Verschiedenheiten kennt, einerseits und eine Ethik radikaler Differenz andererseits“ zusammengedacht werden können (Liebsch 2001: 165), wird schnell deutlich, dass es abwegig wäre, den praktisch-politisch unmittelbar bedeutsamen Begriff relativer und identifizierbarer Differenzen gegen den ethischen Begriff radikaler Differenz auszuspielen (vice versa). Genau das gilt nun erst recht für die Wissenschaften. Auch in diesem Feld ist man nämlich intensiv mit einer sattsam bekannten Erfahrung befasst: Die lediglich ontischen und komparativen Verschiedenheiten stellen häufig genug eminente Herausforderungen menschlichen Zusammenlebens dar. Ihre Wahrnehmung und Achtung im Zeichen einer nicht abfälligen, im Grunde gleichgültigen Duldung, sondern einer anspruchs- und mühevollen Toleranz sind alles andere als Kleinigkeiten. Keine wie auch immer geartete Philosophie radikaler Differenz, Alterität und Alienität macht das, wodurch sich Menschen in bestimmter bzw. bestimmbarer Weise als verschieden erleben, zu nebensächlichen Angelegenheiten, mit denen sich wirklich tiefgründige Denker nicht lange aufhalten sollten. Das Denken radikaler Differenz sollte nicht den Anschein einer unbemerkten Ausflucht machen, einer mit dem Gestus moralischer Überlegenheit eingeschlagenen Ausflucht vor den oft ganz manifesten und konkreten Unterschieden, die Menschen bisweilen schwer ertragen, geschweige denn anzuerkennen und als Infragestellung des Eigenen anzunehmen vermögen – umso weniger, je näher sie sich dabei kommen, miteinander abgeben und aufeinander einstellen müssen. Es ist im Übrigen ein Allgemeinplatz, dass auch solche nur ontischen und komparativen Unterschiede nicht „an sich“ bestehen und nur darauf warten, vom bloßen Auge des Betrachters wahrgenommen zu werden. Das zeigt Kokemohrs empirische Analyse der textuellen Objektivation eines Streits über Rassismus in Deutschland mehrfach. Unterschiede wie diejenigen zwischen Menschen, die rassistische Diskriminierungen erleiden und solchen, die nichts

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Derartiges erleben und zu erwarten haben, werden zugeschrieben – mit allen Implikationen und Konsequenzen, die solche Zuschreibungen haben mögen. Identifizierte Unterschiede sind stets Ergebnisse aktiver Unterscheidungen, mithin praktische und diskursive, symbolische Konstruktionen, die ihre Anlässe und (oft instrumentellen) Zielsetzungen haben. Solche Konstruktionen sind perspektivisch und relational strukturiert (vgl. Straub/Shimada 1999; Straub 2006b), eingebettet in meistens asymmetrische Beziehungen, Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es sind keine schlichten Gegebenheiten, die von jedem Standpunkt aus gleich aussehen, sich reifizieren und objektiv bestimmen ließen. Kaum einmal sind sie unumstritten. Die einen unterscheiden sich und ihr Gegenüber häufig anders als die anderen. Wichtig ist, dass diese (diskursiv bestimmten) Differenzen, an denen sich philosophische und wissenschaftliche Überlegungen zur Politik und ganz allgemein zur Praxis des Zusammenlebens in den multikulturellen Gesellschaften der glokalisierten Welt heute abarbeiten, den Stoff für vielfältige Konflikte abgeben, deren friedliche Lösung häufig genug scheitert(e). Solche Konflikte stellen für die ambitionierten Konzeptionen einer differenzsensiblen Politik, rechtlichen und moralischen Regelung interkultureller Koexistenz nach wie vor große Herausforderungen dar. Es ist und bleibt wichtig, Differenzen als „lediglich“ ontische, relative oder komparative und positiv bestimmbare aufzufassen und (unter variablen Gesichtspunkten) zu erforschen, wobei es nicht zuletzt darauf ankommt, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit darauf zu richten, wer in bestimmten – alltagsweltlichen, institutionellen, speziell wissenschaftlichen – Kontexten welche Differenzen wie bestimmt, namhaft und geltend macht. Diese Aufmerksamkeit richtet sich gegen die stets drohende Gefahr der ideologischen Reifizierung und Naturalisierung kultureller oder ethnischer Unterschiede. Es mag sein, dass diejenigen, deren Denken sich (vorrangig) um solche relativen Differenzen dreht, der radikalen Alterität und Fremdheit von Anderen nicht gerecht werden (wollen, können). So mag man es dann auch als wichtige Aufgabe betrachten, dieses Defizit als ein Desiderat auszulegen und zukünftige Anstrengungen darauf zu verwenden, Differenzsensibilität im Geiste Lévinas’ zu fördern – im Feld der Politik und des Rechts, wobei niemand die Illusion hegen wird, Ethik ließe sich mit Politik und Recht „versöhnen“, und nicht zuletzt in der Wissenschaft. Bei all dem muss man fragen, was der Begriff radikaler Differenz für die epistemischen, kognitiven, hermeneutischen und schließlich die praktischen Anliegen, die auch viele („angewandte“) Wissenschaften übernehmen, wirklich bringt. Es liegen bisweilen eine Emphase und ein Gestus intellektueller und moralischer Überlegenheit im Begriff radikaler Differenz, die das Potential des Denkens der Anderheit und Fremdheit dann doch etwas überschätzen. Nicht überall, wo auf terminologische Unterscheidungen, die ja stets ihre speziellen Zwecke und Funktionen haben, verzichtet wird oder wo man sich mit der „fak128

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tischen“ oder „vulgären“ Unterschiedenheit von Angehörigen verschiedener Kulturen oder Ethnien begnügt, muss man gleich eine „bedenkliche Trivialisierung des Differenzbegriffs“ (Liebsch 2001: 173, 182) wittern oder gar ein Denken walten sehen, das sich in moralisch verwerflicher Weise am Anderen schuldig macht und sich im schlimmsten Fall geradewegs an ihm vergeht. Und nicht überall, wo radikale Differenz emphatisch gedacht und „rückhaltlos“ jener Politik eingeschrieben werden soll, „die man mit der realen oder eingebildeten, vorgefundenen oder propagierten Verschiedenheit der Menschen macht“ (ebd.: 182), ist schon klar, wie man diese rückhaltlose Einschreibung denn vornimmt, ohne bei bloß moralisierenden Forderungen stehen zu bleiben. Es ist bislang nicht klar zu sehen, was es denn praktisch und speziell politisch heißt, sich „‚im Geiste‘ jener radikalen Ethik“ als von einer Differenz „inspiriert“ zu erweisen, „der ‚positiv‘, im Blick auf komparative Verschiedenheit von Anderen unter Anderen, niemals Rechnung zu tragen ist“, was es mithin konkret bedeutet, dass man Andere so erfährt und behandelt, dass man „der eigentlichen Radikalität ihrer Anderheit eingedenk bleibt“ (ebd.: 183). Alles in allem besitzt der Begriff radikaler Differenz, so scheint mir, im wesentlichen ein heuristisches Potential und eine Sensibilisierungsfunktion, die Akteure in Feldern wie der Politik, des Rechts und auch der Wissenschaft vor professionellen Deformationen, Hybris und dem illusionären Ansinnen bewahren kann, man würde allen Unterschieden zwischen Menschen schon gerecht. Er erinnert daran, dass sich Differenz nie darin erschöpft, die positiv bestimmbaren und als faktisch geltenden Unterschiede zu berücksichtigen. Der Begriff fungiert als Antrieb eines Skrupels, der um die Unvollkommenheit allen Handelns angesichts der sich entziehenden Differenz des Anderen weiß: „Wenigstens daran kann uns jene Ethik radikaler Differenz erinnern: dass es einen Unterschied macht, ob uns dieser Skrupel bewegt oder ob wir die Anderheit des Anderen vergleichgültigen, weil wir kein Rezept auszudenken vermögen, mit dem wir ihr Rechnung tragen könnten“ (Liebsch 2001: 183). Auch das wird am Beispiel der im Folgenden erörterten empirischen Bildungsforschung deutlich.

Relative und radikale Differenz im Kontext empirischer Forschung Wenn Kokemohr (in diesem Band) analysiert, wie sich ein Bildungsprozess vollzieht bzw. wie dieser Vollzug (vorläufig) be- oder verhindert wird (ohne damit definitiv zum Scheitern verurteilt sein zu müssen), operiert er auch mit Begriffen und Schemata identifizierenden Denkens bzw. bestimmenden Ur-

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teilens. 14 Daran ändert die Tatsache nichts, dass er eine von der „cartesianischneuzeitlichen […] Präsupposition des selbstreferenziellen Subjektes“ abweichende Alternative ins Spiel bringt (Kokemohr in diesem Band: 21), die das Subjekt nicht mehr als sich selbst bewusste und über sich verfügende Instanz, sondern als Moment eines symbolisch-imaginativen Prozesses begreift, der – im Anschluss an Ricœur und Lacan – sprach- und texttheoretisch konzeptualisiert und sodann mit methodischen Mitteln der interpretativen Forschung analysiert wird. Das ist zweifellos ein aussichtsreicher Weg, das wissenschaftliche Verstehen des Fremden (und auch noch die Rekonstruktion dieses Verstehens auf der alltagsweltlichen Ebene) nicht „im Rahmen von Figuren [zu denken], die dem eigenen Bewusstsein zugänglich sind“ (Kokemohr in diesem Band: 28). Auf diese Weise mag sich auch die wissenschaftliche Analyse gegen den rationalistischen Glauben verwahren, des Fremden kraft eigener Vernunft habhaft werden und es schließlich bändigen und beherrschen zu können. 15 Zurück zum Argument, dass in der empirischen Forschung jede interpretative Analyse wechselseitiger Bezugnahmen auf Fremde(s) unweigerlich mit identifizierenden, bestimmenden Operationen arbeitet! Das ist bereits dann der Fall, wenn die Tatsache eines Streits konstatiert wird, der als „Verfestigung gegensätzlicher Interpretationen“ der Streitpartner aufgefasst und dann in seiner textuellen Gestalt en detail unter genetischen und strukturellen Gesichtspunkten rekonstruiert wird. Dabei wird – ich erinnere kurz an Kokemohrs em14 Vgl. zur Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft meine an Kants „dritte Kritik“ anschließenden Ausführungen (Straub 2006b). Dort wird versucht, Kants Differenzierung zwischen gleichermaßen notwendigen, „dialektisch“ aufeinander bezogenen Denkformen für eine Theorie und Methodologie interpretativer Forschung in der Handlungs- und Kulturpsychologie fruchtbar zu machen. 15 An dieser Stelle könnte man sich allerdings fragen, ob Kokemohrs dezidierte Ablehnung des „Autonomie-Topos“ nicht an einer zu einfachen Konzeption von Autonomie krankt, die allzu sehr auf den Cartesius zurückgeht und alle späteren Revisionen und semantischen Transformationen dieser normativen Idee hin zur Vorstellung einer partiellen, von Heteronomie durchkreuzten und sogar in (z.B. pädagogischer, erzieherischer) Fremdbestimmung gründenden Autonomie außer Acht lässt (vgl. hierzu etwa Meyer-Drawe 1990; Straub 2002 sowie Straub/Zielke 2005, wo sich weitere Literaturhinweise finden). Damit hängt zusammen, dass die kontrastive, alternative Gegenüberstellung zwischen einem selbstreferenziellen und einem sozialreferenziellen Subjekt ebenfalls simplifizierend und ähnlich problematisch ist wie die Unterscheidung zwischen Kollektivismus und Individualismus, Allozentrismus und Individuozentrismus bzw. interdependentem und independentem Selbst (s.o., Fußnote 8). Hier wie dort werden die Idee primärer Sozialität und die damit verwobene Vorstellung einer unweigerlich sozialen Konstitution des Selbst verspielt. Die Tatsache, dass manche Sprachen Möglichkeiten offerieren, unabhängig von konkreten sozialen Bezugnahmen vom Ich (I [engl.], je [franz.], io [ital.] etc.) zu sprechen, besagt ja noch nicht, dass dieses grammatische Subjekt als sozial unabhängige Monade gedacht werden muss. Umgekehrt wurde mehrfach dargelegt, dass das Japanische zwar als Sprache im Hinblick auf das Personalpronomen erste Person Singular notwendigerweise sozialreferenziell fungiert, gleichwohl aber Raum lässt für die Idee der Autonomie (vgl. Doi 1996). Erst wenn man an dieser Einsicht festhält, lassen sich akzentuierend selbst- und sozialreferenzielle Redeweisen unterscheiden und auch in kulturvergleichender Perspektive analysieren.

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pirisches Material bzw. seinen Text, auf den ich mehrfach Bezug nehme – von einer Partei (den deutschen Gesprächsteilnehmern, pars pro toto von Proponent D) das angeblich rassistische Verhalten generalisiert, normalisiert und entmoralisiert, also der „anti-rassistischen“ Kritik entzogen und als üblicher Bestandteil alltäglicher Situationen an Kassen in Schnellrestaurants kategorisiert und schematisiert. Dafür gibt es ein allgemeines Skript, in dem besondere Rollen z.B. für „Schwarze“ nicht vorgesehen sind. Diese Generalisierung, Normalisierung und Entmoralisierung des angeblich „rassistischen“ Verhaltens eines Kassierers ist offenkundig prekär. Sie kommt einer Aberkennung der spezifischen Erlebnisse Anderer – hier: einem sich aus „rassistischen“ Gründen diskriminiert und benachteiligt fühlenden Schwarzafrikaners – sehr nahe. Sie stellt einen Angriff auf deren Selbstverhältnis, Selbstverständnis und Selbstgefühl, auf ihre in sozialen Erfahrungen begründete psychisch-existenzielle Verfassung dar. Um diesen wichtigen Punkt dreht sich natürlich auch Kokemohrs Analyse (Kokemohr in diesem Band: 50). Auch ihm geht es unter anderem um die heikle Reduktion des Erlebnis- und Vorstellungsraums „der Afrikaner“ auf ein allgemeines und allgemein zugängliches Repertoire „normaler“ Erfahrungen von Jedermann und Jederfrau. Diese Reduktion entzündet, wie dargelegt, Widerspruch und Widerstand. Die gleichmacherische Subsumption eines besonderen Erlebnisses, das an eine historisch tradierte Position in einer hierarchischen sozialen Konstellation gebunden ist, unter eine allgemeine Erfahrung, ein allseits bekanntes „Ärgernis“, wird zum Stachel eines Diskurses über „Rassismus“. Das Argument gegen den „Rassismus-Verdacht“ liegt auf der Hand: Wo keine bösen Absichten walten, sondern ein bloßes Versehen zum Übersehen z.B. eines Schwarzafrikaners in der Warteschlange im Schnellrestaurant führt, hat der versehentlich Benachteiligte keine Berechtigung zur Klage über rassistisch motivierte Diskriminierungen oder Beschädigungen seines Rechts auf Anerkennung und Gleichbehandlung. Kokemohr sieht den entscheidenden Punkt nun allerdings nicht einfach in der jeder Prädikation eigenen Subsumtion eines Individuellen unter ein Allgemeines, sondern in einer sog. „Verschattung“, die sich dadurch vollzieht, „dass der Vorstellungsraum von einem ich aus entworfen wird, das zugleich als aussagendes ich und als ausgesagtes Ich, als allgemeine Instanz konfiguriert wird. Die unentschiedene Referenz des Personalpronomens verdeckt die Differenz von aussagendem ich und ausgesagtem Ich“ (Kokemohr in diesem Band: 50). 16 Die afrikanischen Opponenten C1 und C2 halten an ihrer Deutung 16 Kokemohrs hier nur sehr selektiv zitierte Analyse der operativen Verschattung der Doppeldeutigkeit des Personalpronomens und der in dieser Verschattung begründeten Selbstgewissheit des Aussagenden/der Aussagen über die Erkennbarkeit der Welt deckt sich im Ergebnis mit der sozialpsychologischen Diagnose, dass hier Mechanismen der Formierung und Positionierung sozialer Identität am Werk sind, die einen Dialog ebenso behindern wie die (dialogisch strukturierte) Bildung der Kommunikationspartner.

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fest und stellen das fragliche Verhalten unter die Beschreibung einer rassistischen Handlung, deren Identifikation sie an der Geschichte eigenen Erlebens und Erleidens festmachen, an einer Differenz im Leben. Sie ziehen die Unterscheidung zwischen aushandlungsbedürftiger Repräsentation und der Realität, auf die eine Repräsentation Bezug nimmt, ein. Damit werde, so Kokemohr, Ricœurs „Einsicht abgedunkelt, dass ein Text stets mehrere Lektüren erlaubt“ (Kokemohr in diesem Band: 45). Diese „Abdunkelung“ bewerkstelligen die Akteure, indem sie den Realitätscharakter bestimmter Ereignisse am leidvollen Erleben der von Rassismus betroffenen Subjekte festmachen. Dabei verleihen sie rassistischen Handlungen gewissermaßen unabhängig von den bewussten Intentionen der kritisierten Akteure auch eine historische Tiefendimension, die in der Geschichte von Gewalt-, Herrschafts- und Machtbeziehungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten begründet ist. Diese von den anderen am Diskurs beteiligten Diskutanten nicht thematisierte Geschichte ist in ihren Repräsentationen des fraglichen Geschehens sehr präsent. Kokemohr verknüpft, wie ausgeführt, die widersprüchlichen, kontrastiven Propositionen der Opponenten mit kulturspezifischen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, Welt- und Selbstverhältnissen, die er nicht zuletzt mit dem unterschiedlichen Gebrauch von Personalpronomina – in Deutschland, in Kamerun – in Zusammenhang bringt (Kokemohr in diesem Band: 45). Dabei werden relative kulturelle Unterschiede identifiziert. Alles in allem lässt sich festhalten, dass im Zuge der Übernahme von Perspektiven der am Streit beteiligten Sprecher Gegensätze zwischen D und C1/C2 rekonstruiert werden, die von der Attribution von Differenz abhängig sind. Diese Gegensätze werden vom Interpreten auch – mit einer Vorsicht und Zurückhaltung, die einen statischen und essentialistischen Kulturbegriff abwehren soll – mit Differenzen zwischen kulturellen Lebensformen, Sprachspielen und Praktiken verbunden, die tief in die konträren Welt- und Selbstverhältnisse der Opponenten „eingelagert“ sind. Diesen Differenzen korrespondiert eine „reziproke Blockade“. Sie verhindert Bildungsprozesse im Sinne eines wechselseitig „erregenden Eingriffs“ 17 in die je eigene Ordnung des Ich durch das ansprechende Andere und 17 Die Frage liegt nahe: was heißt hier eigentlich „erregend“? Was besagt dieser metaphorische Ausdruck genau? Wer lässt sich unter welchen Umständen „erregen“, wie geschieht das, wieso also ändern sich Menschen mitunter im Sinne des interessierenden Bildungsgeschehens und sind dazu womöglich „bereit“, vielleicht sogar aktiv auf der Suche nach Bildung? Solche Fragen stellen sich mit besonderem Nachdruck dann, wenn Bildung – wie Kokemohrs Theorie unterstellt – damit einhergeht, dass ich „mich selbst“, meine „Selbst-Ordnung“ – die als Abwehr von Angst sich konstituierte und sich zu diesem Zweck ständig zu reproduzieren trachtet! – „durch das Oszillieren eines Grauens, einer Angst aufstören lasse, der auch jener Anspruch [des Fremden/auf Bildung; J.S.] abgewonnen ist, und eine Ordnung erfinde, in der sich der Anspruch des Fremden auslegen lässt“ (Kokemohr in diesem Band: 32). Die gestellten Fragen sind schwer zu beantworten. Wichtige Hinweise liefern nicht nur psychologische Theorien, die sich direkt auf persönliche Dispositionen wie Ängstlichkeit beziehen, sondern auch solche, die lediglich verwandte Persönlichkeitsmerkmale im Blick haben, etwa (sog. feldabhängige versus

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Fremde. (An dieser Stelle der Analyse wird man, ganz in Übereinstimmung mit Kokemohrs komplexer Auslegung des polyvalenten „Fremden“, offen lassen müssen, ob es sich um Anderes oder Fremdes lediglich im relativen oder auch im radikalen Sinne handelt. Auch Letzteres ist möglich.) Es kommt auf beiden Seiten nicht zu einer Überschreitung dieser Ordnung, ihrer partiellen Umgestaltung und zum Entwurf einer neuen Ordnung. Nachdem der Autor die konträren Propositionen, ihre kulturellen Hintergründe und die Attributionen der Streitenden noch einmal zusammenfassend reformuliert hat (Kokemohr in diesem Band: 62), hält er eines der zentralen Ergebnisse seiner Analyse fest: „So verbürgen beide Seiten ihre Welt- und Selbstentwürfe, indem sie die je andere Seite besser zu kennen behaupten als diese sich selbst und ihr die Einsicht in den sie je verbürgenden Kontext zu bestreiten suchen. Der nicht artikulierte Negationseffekt wird zum Objekt »a«, als das der je eigene Weltentwurf stumm evoziert wird. […] Die zurückgewiesene Deutung der jeweils anderen Seite wird per negationem zum Projektionsschirm, auf dem in der Form eines Objekt »a« der eigene Welt- und Selbstentwurf inszeniert und verbürgt wird“ 18 (Kokemohr in diesem Band: 62 f.; vgl. hierzu auch die zusammenfassend-schematische Darstellung der Negationseffekte im Modus stummer Objekte »a« auf S. 64). feldunabhängige) Wahrnehmungs- oder Lernstile. Indes hängen die Bereitschaft und das Potential zur Selbst-Bildung im angegebenen Sinn nicht allein von personalen Strukturen und Kompetenzen ab. Sie verlangen ebenso soziale Kontexte, vor allem unterstützende Beziehungen, die es einer Person erlauben, jene leicht als Schwäche erlebten (und von Anderen ebenso wahrgenommenen und vielleicht strategisch „ausgenutzten“) Verunsicherungen zuzulassen. An diese Möglichkeit ist jede Form der Selbsttranszendenz und Identitätstransformation gebunden. Bildung hat eine Chance und ereignet sich, so könnte man, ein Wort Adornos variierend, sagen, vor allem dort, wo man Schwäche zulassen und zeigen kann, ohne Stärke zu provozieren. Bildung setzt Verletzlichkeit voraus und bringt in aller Regel Verletzungen mit sich. Sie vollzieht sich „leichter“, wenn solche Verletzungen erlitten werden können, ohne vom Subjekt als bloß destruktiv erlebt werden zu müssen. Das gelingt eher, wenn Andere für diese Möglichkeit Sorge tragen, also Unterstützung gewähren. (Solche wohlwollend begleiteten und unterstützten, partiellen und temporären Selbst-Entgrenzungen gehören zweifellos ins Zentrum von Psychotherapien und markieren wesentliche Ziele dieser am Wohl des Klienten oder Analysanden „außeralltäglichen“ Praxis.) Selbsttranszendenz und die damit verwobene Erweiterung des Vorstellungs-, Gefühls- und Handlungsraums einer Person können freilich auch an besonders beglückende, ergreifende oder berauschende, ekstatische und exzentrische Erlebnisse gebunden sein, die Dezentrierungen personaler Identität und deren Restrukturierung im Zuge der Entstehung neuer Wertbindungen leicht und mühelos erscheinen lassen. 18 Lacans Unterscheidung zwischen (unerkennbarem) Realem, Symbolischem und Imaginärem bleibt hier ebenso wie Kokemohrs Verwendung von anderen Theoremen des Psychoanalytikers – wie seine Rede vom Objekt »a« unberücksichtigt. Interessant wäre im vorliegenden Zusammenhang nicht zuletzt eine genauere Betrachtung von Lacans psychodynamischem Ansatz, insofern dieser das Sprechen und Handeln sowie das damit verwobene Streben nach Ordnung prinzipiell in „Angst“ begründet bzw. motiviert sieht. Das macht klar, warum Erlebnisse relativer und vor allem radikaler Differenz, Alterität und Alienität, ja schon deren bloße Ahnung und spürende Vorwegnahme, Ängste wecken und Mechanismen der Angstabwehr mobilisieren.

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In der Struktur des analysierten Konflikts sieht Kokemohr am Ende „die Grundfigur eines Kulturstreits […], der transkultureller Diskursivität entzogen ist, weil die Objekte »a« und die ihnen zugehörenden Welt- und Selbstverhältnisse kraft der Negation des Anderen kon- und refiguriert werden“ (Kokemohr in diesem Band: 64). Kokemohr belässt es nun nicht allein bei diesem Befund. Er spürt vielmehr der Frage nach, wie Bildung sich vollziehen könnte als „Entwurf einer Welt jenseits wechselseitiger Ausschließung“ (Kokemohr in diesem Band: 46). Dabei ist klar, dass ein solcher Bildungsprozess „nicht das Fremde in seiner originalen Unzugänglichkeit zugänglich machen“ oder „den Streit aufheben“ kann (ebd.): „Er kann nur einen refigurierenden Entwurf ermöglichen, der eingedenk der originalen Unzugänglichkeit des in den Diskursen nicht Gesagten eben diesem Ungesagten Sagbares abzugewinnen, Sagbares gleichsam in Unsagbares hinein zu entwerfen versucht“ (Kokemohr in diesem Band: 47).

Kokemohr liefert weitere metaphorische Umschreibungen gelingender Bildungsprozesse, durchweg auf hoher theoretischer Abstraktionsebene – von Umstrukturierung, Umgestaltung, von der Verschiebung von (Welt- und Selbst-)Grenzen, von einem Neuentwurf des Welt- und Selbstverhältnisses etwa ist die Rede. Es ist zu sehen, dass trotz des metaphorischen Gewandes, in die solche phänomenologischen und theoretischen Beschreibungen gekleidet sind, identifizierendes, bestimmendes Denken zum Zuge kommt und kommen soll. Dem Reich des Ungesagten soll Sagbares abgerungen werden. Das allerdings geschieht und kann nur geschehen unter der unabänderlichen Voraussetzung, dass das Ungesagte qualitativ verändert wird und dadurch zugleich bestehen bleibt, ohne dass diesbezüglich ein exakt quantifizierbares „mehr“ oder „weniger“ ausgemacht werden könnte. Mit anderen Worten: Kokemohr operiert in seinen empirischen Analysen verhinderter oder gelingender Bildungsprozesse mit Begriffen sowohl der relativen als auch der radikalen Differenz, Alterität und Alienität. Dabei wird deutlich, dass Identifikationen und Artikulationen relativer Unterschiede nicht schon alle Differenzerlebnisse erfassen, die in interkultureller Kommunikation bzw. in transkulturellen Bezugnahmen im Spiel sind. Von einer vollkommenen Überbrückung erlebter Differenzen, die zu ihrer „Aussöhnung“ und zur Beruhigung der Akteure führen würde, kann erst recht keine Rede sein. Das ist schon deswegen so, weil relative Differenzen zwar akzentuierend und typisierend von radikalen abgegrenzt werden können, praktisch aber wohl nie fein säuberlich von diesen getrennt sind. Relative können vielmehr radikale anzeigen, repräsentieren wie Statthalter und Stellvertreter von „etwas“, das sich als

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Nicht-Identisches dem Zugriff bestimmender Vernunft sowie jedem Versuch der instrumentellen Kontrolle und Beherrschung entzieht. Der Begriff radikaler Differenz, Anderheit oder Fremdheit verweist auf eine „Tiefendimension“ in praktischen Begegnungen, in denen sich Menschen – einseitig oder wechselseitig – als verschieden, anders oder fremd wahrnehmen und behandeln. Er macht darauf aufmerksam, dass es nicht damit getan ist, relative Unterschiede zu erkennen und anzuerkennen – ohne die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Aufgabe sowohl in der Alltagspraxis als auch in der Wissenschaft zu übersehen. Kokemohrs Analysen liefern Beispiele dafür, wie diese Aufgabe in der empirischen Erforschung textuell objektivierter transkultureller Bezugnahmen erfüllt werden kann. Sie legen dar, wie Personen ihre Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte als kulturspezifische Angelegenheiten typisieren und von Alternativen abgrenzen. Neben solchen Rekonstruktionen alltagsweltlicher Unterscheidungen konstruiert Kokemohr aus einer distanzierten Beobachterperspektive auch selbst, wechselnde Tertia comparationis in Anspruch nehmend, kulturelle Unterschiede gradueller Art (z.B. zwischen selbst- und sozialreferenziellen sprachlichen Ausdrücken und Sprachspielen). Seine Analysen zeigen darüber hinaus, wie jeder Versuch, die besagte Aufgabe, nämlich relative (kulturelle) Differenzen zu (re-)konstruieren, zu erfüllen, an prinzipielle Grenzen stößt und über sich hinausweist. Auf diese Weise ist die empirische Bildungsforschung nicht allein mit der Analyse relativer kultureller Unterschiede und daran gekoppelter Selbst-Grenzen (sowie verwandten Phänomenen) befasst. Sie ist stets auch mit radikaler Differenz, Anderheit und Fremdheit als einem Movens von Bildung beschäftigt – ohne dieses Angst auslösende Erlebnis vollkommen erfassen oder gar pädagogische Anweisungen zu seiner alle Spuren tilgenden, nachträglichen Bewältigung geben zu können, von vorbeugenden und die stets drohende Angst verhindernden Maßnahmen ganz zu schweigen. Die in transkulturellen Bezugnahmen ausgehandelten und artikulierten Differenzen sind, das legt die erörterte Theorie und Empirie einer erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung nahe, niemals nur relativer Natur. Das gilt für die alltagsweltliche Praxis und ebenso für die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, die sich auf die rekonstruktive Analyse alltagsweltlicher Praktiken stützt. Begegnungen mit Anderem und Fremdem, anderen und fremden Personen zumal, sind Erlebnisse, die einen radikalen Kern besitzen und gerade deswegen von unbewusster Angst durchzogen sind. Ahnungen und Erlebnisse radikaler Anderheit und Fremdheit untergraben die eigene Ordnung in einer nicht zu bändigenden Weise. Solche Ahnungen und Erlebnisse lassen das eigene Selbst- und Weltverständnis als ebenso kontingent und fragil erscheinen wie das praktische Selbst- und Weltverhältnis, auf dessen Boden man sich gemeinhin bewegt, ohne viel nachzudenken und zu planen. Sie vermitteln dabei allerdings keine Hoffnung, dies könne jemals überwunden wer-

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den. Auch die Wissenschaft ist diesbezüglich machtlos. Als empirische Bildungsforschung mag sie dank ihrer qualitativen Methoden in der Lage sein, Texte, in denen sich gescheiterte, blockierte oder gelungene Bildungsprozesse manifestieren, zu erschließen. Anstatt ihre Leserschaft jedoch zu beruhigen, indem sie die Grenzen des Ungesagten ein klein wenig in Richtung des Sagbaren verschiebt (und dabei neues Ungesagtes schafft), macht sie lediglich darauf aufmerksam, dass jede dieser Grenzverschiebungen nicht nur als Bildungsgeschehen bilanziert werden mag, sondern die unabschließbare Aufgabe der Bildung fortschreibt, vielleicht auf neue Weise formuliert.

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MODI

KOMPLEXER UND

LERNPROZESSE. BEOBACHTUNGEN UND ÜBERLEGUNGEN ZU THEORIE DES LERNENS UND DER BILDUNG

LÄNGERFRISTIGER

EINER

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Einleitung Grundlage der folgenden Beobachtungen und Überlegungen sind zwei Protokolle von Gesprächen zwischen Wissenschaftlern aus Kamerun und deutschen Wissenschaftlern (in diesem Band: 239 ff.). Rainer Kokemohr hat diese Gesprächsprotokolle dazu benutzt, an ihnen einige Probleme und Aspekte von Bildungsprozessen zu erörtern (in diesem Band: 13 ff.). Ich nehme diese Intention auf. Aber ich werde die Protokolle nicht im Rahmen einer Bildungstheorie, sondern im Rahmen einer umfassenderen Lerntheorie interpretieren und auch unter einem anderen Gesichtspunkt. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Besonderheit unterschiedlicher Lernmodi und den Spielraum für Lernbewegungen, den sie möglicherweise eröffnen. In einem ersten Abschnitt werde ich erläutern, warum ich den Rahmen einer Bildungstheorie verlasse und meine Beobachtungen und Überlegungen im Rahmen einer Theorie komplexer und längerfristiger Lernprozesse ansiedele und was der genauere Gegenstand meiner Untersuchungen sein soll. Im zweiten Abschnitt wende ich mich dem Text der Protokolle zu und versuche herauszuarbeiten, wie sich die einzelnen Teilnehmer in dem Gespräch verhalten, welche Inhalte sie thematisieren und welche kognitiven Verhaltensweisen ihren Vorstellungen und Argumenten zugrunde liegen. In einem dritten Abschnitt untersuche ich diese kognitiven Verhaltensweisen unter dem Gesichtspunkt des Lernens. Ich zeige ihre Bedeutung als potentielle Lernmodi auf und deute an, welche Lernmöglichkeiten sich aus ihrem Potential entfalten lassen und auf welche Weise. Im letzten Abschnitt kehre ich zum Begriff der Bildung zurück und versuche, ihm im Rahmen einer umfassenderen Lerntheorie einen Ort und eine bestimmte Kontur zuzuweisen.

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Gegenwärtige Probleme einer Bildungstheorie Der Gebrauch des Wortes „Bildung“ ist außerordentlich vieldeutig und widersprüchlich, und auch dann, wenn man es nicht nur als Formel oder Floskel verwendet, sondern im Sinne eines wissenschaftlichen Begriffs, verweist es nicht ohne weitere Erläuterungen auf einen einigermaßen klar umrissenen Gegenstandsbereich. Dieter Lenzen nennt „Bildung“ ein deutsches „ContainerWort“ (Lenzen 2001: 949). Es habe in seiner mehr als 200-jährigen Geschichte so viele verschiedene semantische Konnotationen aus ganz verschiedenen Kontexten in sich aufgenommen, dass man in Diskussionen oder Veröffentlichungen nie genau wisse, was für einen Inhalt es gerade transportiere (siehe auch Schwenk 1989). Das Wort „Bildung“ ließe sich im Gebrauch auch als ein „Joker-Begriff“ charakterisieren: Man ist berechtigt, diesen Begriff in einer wissenschaftlichen Diskussion für ganz verschiedene Sachverhalte einzusetzen, wenn man jeweils zuvor angesagt hat, für welchen Sachverhalt er an dieser Stelle gelten soll (vgl. Schulze 2006a: 29). – Ich sehe zur Zeit auch keine Bildungstheorie, nicht einmal im Ansatz, die in der Lage wäre, die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs – die kulturelle und die soziologische, die curriculare und die methodische, die schulorganisatorische, die politische und die ökonomische und die individuell biographische Bedeutung – aufeinander zu beziehen und dadurch die gemeinten Sachverhalte lokalisierbar zu machen, etwa wie das seinerzeit Otto Willmann in seiner „Didaktik als Bildungslehre“ gelungen ist (vgl. Willmann 1882-1889, Neuauflage 1957). Man kann diese Problematik dadurch unterlaufen, dass man ansagt, was man selbst unter Bildung verstanden wissen will und welche empirischen Sachverhalte man dabei im Blick hat. So verfährt Rainer Kokemohr in seiner Vorlage für dieses Symposion (in diesem Band: 21 ff.). Statt von „Bildungstheorie“ spricht er einschränkend von „Bildungsprozesstheorie“. Und er definiert Bildung in diesem Rahmen als „Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen [...], die der Interpretation eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen“ (ebd.: 21) oder noch spezieller als „Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung [...], in deren Denk- und Redefiguren mir meine ‚Welt‘ je gegeben ist“ (ebd.). Dabei hat er offensichtlich die Begegnung mit einer anderen Kultur im Sinn. Diese Definitionen ordnen den Begriff der Bildung einem Vorgang zu, der auch von anderen Autoren unter diesem Begriff untersucht und diskutiert wird (z.B. Marotzki 1990). Das ist der Vorgang einer tiefgreifenden Wandlung und Veränderung der Einstellungen, Orientierungen und Verhaltensweisen in einem individuellen biographischen Prozess. Doch auch diese Lösung befriedigt mich nicht. Die angeführten Definitionen lassen nicht nur offen, wie sie sich zu den anderen Bedeutungen des Begriffs verhalten, was beispielsweise der bezeichnete biographische Wandlungs142

MODI KOMPLEXER UND LÄNGERFRISTIGER LERNPROZESSE

prozess mit solchen Angelegenheiten wie Bildungsorganisation und Bildungspolitik oder den Bemühungen um einen Kanon der Allgemeinbildung (vgl. Klafki; Schwanitz; von Hentig) oder mit der sozialen Bewertung von Bildungsleistungen zu tun hat. Sie lassen auch offen, wie und wo dieser Wandlungsprozess im biographischen Prozess insgesamt platziert ist. Gilt er für jede Biographie oder nur für einige? Oder: Auf welche Weise ist der Welt- und Selbstentwurf „gegeben“, der durch den „Bildungsprozess“ irritiert und überwunden werden soll? Die Definitionen enthalten keine Hinweise auf andere vergleichbare Phänomene oder auf den umfassenderen Wirklichkeitsbereich, dem diese Phänomene zuzuordnen wären. Auch diese Defizite wären noch hintergehbar, wenn die Texte, auf die sich die Analyse bezieht, genügend empirische Anhaltspunkte für eine genauere Untersuchung des gemeinten Vorgangs enthielten. Dann könnten sich aus ihnen konkrete Hinweise auf andere Vorgänge und Sachverhalte ergeben. Doch Rainer Kokemohr gibt selbst zu verstehen, dass sich an den Texten kein „Bildungsprozess“ ablesen lasse; lediglich zur Rekonstruktion von Momenten der Blockierung könnten sie beitragen (Kokemohr in diesem Band: 21). Das ist mir zu wenig an empirischer Basis. Daher wechsle ich den theoretischen Rahmen und damit auch die Fragestellung. Den „Bildungsprozess“, wie ihn Rainer Kokemohr umreißt, verstehe ich als einen Lernprozess. Als solcher ist er unterscheidbar von anderen Lernprozessen auf derselben Komplexitätsebene und zugleich auch beziehbar auf sie. Nun gibt es bis heute, so weit ich sehe, keine umfassendere Theorie der komplexen und längerfristigen Lernprozesse, keine Theorie der Meso-Ebene menschlichen Lernens, die so etwas wie zusammenhängende individuelle biographische und kollektive kulturelle oder soziale Lernprozesse zu erfassen sucht. Aber ich sehe nicht nur gute Gründe für die Notwendigkeit einer solchen Theorie, sondern auch Ansatzpunkte und Konturen für die Möglichkeit, sie auszuarbeiten (vgl. Schulze 2006b). Die intensive Beschäftigung mit biographischen Lernprozessen hat mich zu dieser Erwartung geführt. Ohne hier auf Einzelheiten einer Begründung aus meinen bisherigen Untersuchungen und Überlegungen einzugehen, nur so viel: Im Hinblick auf komplexe und längerfristige Lernprozesse erscheint es mir sinnvoll zwischen Lernformationen und Lernmodi zu unterscheiden. Unter einer Lernformation verstehe ich einen Typus von längerfristigen Lernprozessen, die aus ähnlichen Bedingungen und Zusammenhängen hervorgehen, die durch ähnliche Inhalte, Strukturen und Organisationsformen bestimmt sind und die sich an ähnlichen empirischen Gegebenheiten nachweisen lassen. Eine solche Formation ist für mich das biographische Lernen oder auch das schulische Lernen (vgl. Schulze 1980: 116 ff.; 2006c). Innerhalb solcher Formationen vollzieht sich der Lernprozess in unterschiedlichen Lernmodi. Darunter verstehe ich aktuelle Lernvorgänge, die weniger umfassend sind und die in Verbindung mit bestimmten

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Verhaltensweisen und Aktivitäten, Situationstypen und Formen der sprachlichen Artikulation in Erscheinung treten (vgl. Schulze 2003: 52 f. – dort noch als „Modalitäten“ bezeichnet). Vier solcher Lernmodi versuche ich im Folgenden anhand der mir vorliegenden Protokolle genauer zu bestimmen. Das sind: der Modus der Lebenserfahrung, der Modus der Interpretation, der Modus der reflexiven Konstruktion und der Modus der diskursiven Verständigung.

Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer Ich beginne meine Untersuchung damit, dass ich die Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer dem Text folgend beschreibe und aus der Beschreibung heraus deute. Der erste Text ist ein Ausschnitt aus einem biographischen Interview mit dem afrikanischen Studenten „Bernard“. In diesem Ausschnitt thematisiert er, wie er das, was er den „alltäglichen Rassismus“ nennt, erlebt. Im Verlauf des Ausschnitts berichtet er von vier beispielhaften Erfahrungen. Das sind Erfahrungen, die er selbst oder sein Bruder in Frankreich und Deutschland gemacht haben. Erfahrungen – genauer biographische Erfahrungen oder Lebenserfahrungen – sind Lernprozesse besonderer Art. Sie sind u.a. durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Sie sind an die Person des Erzählers gebunden. Sie sind auch gebunden an besondere Situationen und Umstände, die in der Vergegenwärtigung des Erfahrungsinhalts mit vergegenwärtigt werden. An Erfahrungen ist die ganze Person beteiligt und sie sind stärker als andere Lernprozesse affektiv besetzt, mit der Erregung von Gefühlen verbunden. Sie werden „erlebt“. Sie sind daher auch schwerer zu beeinflussen und zu verändern als die Ergebnisse anderer Lernprozesse. Die Ergebnisse biographischer Erfahrungen werden, wie uns die Hirnforscher mitteilen, im autobiographischen Gedächtnis „gespeichert“ (vgl. Markowitsch 2002), und sie werden in Form narrativer Erzählungen mitgeteilt. In autobiographischen Texten erscheinen sie häufig eingestreut als „dichte Beschreibungen“ (vgl. Geertz 1995) in Form von Szenen, kleinen Geschichten oder sinnlichen Eindrücken, aber auch in emotional gefärbten oder wertenden Ausdrücken. Sie haben einen bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung einer Biographie (vgl. Schulze 2006d). Die Erfahrungen, von denen Bernard berichtet, sind unterschiedlicher Art. In der ersten geht es um eine offene, brutale, rassistische Handlung. Er selbst wird wegen seiner Hautfarbe aus einer Imbissstube hinausgeworfen. – Bei der zweiten Erfahrung geht es um eine Erfahrung seines Bruders am Arbeitsplatz in Frankreich. Der unmittelbare Umgang mit den weißen Arbeitskollegen ist offenbar normal. Aber bei der Verteilung der Aufgaben werden ihm eher min144

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derwertige Arbeiten zugewiesen, und wenn er auf anspruchsvollere Arbeiten Anspruch erhebt, wird das mit Argwohn betrachtet und mehr von ihm gefordert als von den weißhäutigen Kollegen. „Ja, […] du mußt noch diesen Anspruch haben, ich bin doch gut, ich bin doch besser“ (in diesem Band: 252). Hier erscheint Rassismus subtiler, keine feindseligen Handlungen, aber Benachteiligung in der Konkurrenz. – Bei der dritten Erfahrung handelt es sich um Vermeidungshandlungen. Bernard hat festgestellt, dass, wenn in einem vollbesetzten Zug neben ihm noch ein Platz frei ist, sich niemand auf diesen Platz setzt – es sei denn, er wäre selber Ausländer. – Die vierte Erfahrung schließlich beruht auf einer komplizierteren Situation, die ich - zumindest nach dem Erzähltext – nicht ganz zu durchschauen vermag. Offenbar steht Bernard mit seinem Tablett in einer McDonald-Cafeteria an einer von mehreren Kassen an. Direkt vor ihm wird seine Kasse geschlossen, während ein Deutscher, der noch hinter ihm steht, ausdrücklich an eine andere Kasse gewinkt – „Komm zu mir“ – und dort bedient wird. Bernard versteht das nicht nur als Benachteiligung, sondern als absichtliche Verweigerung und beschwert sich beim Geschäftsführer. Der entschuldigt sich, es sei nicht mit Absicht geschehen. Darauf Bernard: „aber das ist das Schlimmste, wenn man das nicht merkt.“ (in diesem Band: 253). Absicht oder nicht? Schwer zu sagen. Bernard unterstellt zumindest einen unbewussten oder heimlichen Rassismus. Die erste, dritte und vierte Erfahrung beziehen sich auf Deutschland, nur die zweite auf Frankreich. Bernard wertet sie aus zu einem Vergleich zwischen den beiden Ländern. In Deutschland ist der Rassismus entweder offener und brutaler (1. Erfahrung) oder heimlicher und unbewusst (3. und 4. Erfahrung): „ich denke, dass einige Menschen machen das nicht bewusst. Das heißt, das ist irgendwie drin, irgendwie das System als Allgemeinheit“ (in diesem Band: 252). In Frankreich zeigt sich der Rassismus erst im Konkurrenzkampf, und es gibt sogar die Hoffnung, ihn zu gewinnen. Aber hier, in Deutschland, „diesen Traum verlierst du schon, also bevor du überhaupt in dem Job angefangen hast“ (ebd.). In Deutschland, ist ein schwarzer Afrikaner „einer, wo man das Gefühl hat, der uns nur Ärger macht“ (ebd.). Das sind weit reichende Folgerungen. Der zweite Text ist ein Ausschnitt aus dem Protokoll einer Diskussion zum biographischen Interview mit Bernard und zwar zu dem Ausschnitt, der die Erfahrungen mit dem „alltäglichen Rassismus“ thematisiert. Er enthält vornehmlich drei längere Diskussionsbeiträge – die Beiträge der Sprecher D, C1 und C2. Ich wende mich zunächst dem Beitrag von D zu. D ist ein Sprecher deutscher Herkunft. Er reagiert mit seinem Beitrag auf die Beispiele Bernards, insbesondere auf sein viertes, auf die Situation an der Kasse bei McDonalds. Ich verstehe seinen Beitrag zunächst als einen Interpretationsversuch. Interpretation ist Auslegung und Deutung eines komplexeren Sachverhalts. Das kann eine Situation, ein Verhalten, eine Rede, ein Text

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oder ein Bild sein. Ich deute, indem ich dem Sachverhalt eine Bedeutung verleihe. Ich deute ihn, indem ich ihn zuordne oder einordne, indem ich das mir auf den ersten Blick Unverständliche oder Unbestimmte oder Irritierende einem bestimmten, mir in irgendeiner Weise schon bekannten Zusammenhang zuordne. Ich deute, indem ich etwas als ein bestimmtes Etwas oder in einer bestimmten Hinsicht ansehe. So hatte Bernard das ihn irritierende Verhalten der beiden Kassierer bei der unerwarteten Eröffnung einer zweiten Kasse als ein rassistisches Verhalten gedeutet. So etwas passiert ihm nicht zum ersten Mal. D tut nun meines Erachtens das, was viele Diskussionsteilnehmer tun würden, die in einer im groben Sinne rassisch homogenen sozialen Umwelt aufgewachsen sind und leben, und die selber über keine rassistischen Leidenserfahrungen verfügen und sich auch kaum an vorherrschend rassistisch geprägte Situationen oder Gefühle erinnern können. Sie suchen zunächst nach Anknüpfungspunkten für ihre eigenen Erfahrungen. D erinnert sich an Situationen in einem Kaufhaus, die viele von uns kennen: Da steht man schon lange in einer Schlange vor der Kasse, und unerwartet wird nebenan eine andere Kasse eröffnet. Viele, die hinter einem stehen, erkennen das schneller, eilen dort hin und sind dann eher fertig als man selbst. Das erscheint „ungerecht“, ist aber keine absichtliche Benachteiligung. „Pech gehabt“ (Diskussionstranskript: Zeile 26 f.). Könnte Bernard diese Situation missverstanden haben? Warum nimmt er die Entschuldigung des Geschäftsführers nicht an? D zieht den Schluss: „es könnte sich möglicherweise nicht um einen Bildungsprozess handeln, wenn ich mich da reinsteigere, sondern um einen Einbildungsprozess“ (Diskussionstranskript: Zeile 49 ff.). Doch bei dieser Vermutung bleibt er nicht stehen: “… mein Problem ist, dass ich das nicht entscheiden kann.“ (Diskussionstranskript: Zeile 66 ff.). Um zu einer Entscheidung zu kommen, verlässt er jetzt die Ebene der Erfahrung und Interpretation und beginnt das, was ich hier eine „reflexive Konstruktion“ nenne. Ich bezeichne damit den Versuch, eine Vielfalt widersprüchlicher Eindrücke, Erfahrungen und Informationen zu ordnen und auf allgemeinere Gesichtspunkte zurückzuführen. Während das Lernen im Modus der lebensgeschichtlichen Erfahrung primär im Erleben wurzelt, wurzelt der Lernmodus der reflexiven Konstruktion primär im Denken, in der versuchsweisen Zuordnung von Vorstellungen zu Begriffen und ihren Verknüpfungen, in gedanklichen Experimenten. Die erfolgreiche Konstruktion erlaubt es andere Standpunkte einzunehmen und die Perspektive zu wechseln, ermöglicht Einsicht. Es war für mich nicht leicht, Ds Konstruktion nachzuvollziehen, weil sie an vorgängige theoretische Erörterungen anschließt, die mir nicht bekannt sind, und sich auf Begriffe oder Behauptungen stützt, die ich nicht verstehe. So verweist er auf einen Vorschlag, den er „am ersten Tag schon einmal“ eingebracht habe (Diskussionstranskript: Zeile 69 f.). Er bezieht sich auf die Terminologie von Rudi Visker (ebd.: Zeile 163). Und er spricht von „inclusion als

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symbolischer Verortung“ (ebd.: Zeile 131) oder von „Auseinandersetzungen [...], für die es keinen ontologischen Referenzpunkt gibt“ (ebd.: Zeile 96 ff.). Das sind Ausdrücke, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Immerhin, soviel glaube ich verstanden zu haben: Weil D nicht auf unmittelbare Erfahrungen zurückgehen kann, versucht er einen Punkt zu konstruieren jenseits aller persönlichen Erfahrungen, von dem aus das strittige Phänomen in seinen grundlegenden Bedingungen zu erklären ist. Dieser Angelpunkt ist für die Beziehung zwischen den Rassen, wie es scheint, die angeborene körperliche Gegebenheit der Hautfarbe, so wie man die körperliche Gegebenheit des Penis bzw. des Penismangels als körperlichen Angelpunkt für die Geschlechterbeziehung ansehen kann. Das Faktum der angeborenen körperlichen Gegebenheit bedeutet, dass man sich, so lange man unter Seinesgleichen lebt, ihrer nicht als eines besonderen Merkmals bewusst ist, Die Hautfarbe ist eine so allgemeine Gegebenheit wie, dass man Hände, Augen und Ohren hat. Doch in dem Augenblick, wo man sich eines Tages als ein Einzelner mit einer dunklen Hautfarbe unter Weißen befindet, verliert die körperliche Gegebenheit ihren allgemeinen Charakter und wird zu einem singulären, auszeichnenden Merkmal. Damit bekommt das Selbstbewusstsein einen Riss. Der eigene Körper ist nicht mehr unbewusst und selbstverständlich gegeben; er wird bewusst und erscheint in Frage gestellt: Wieso ich? Warum nicht die anderen? Das Gefühl der Unsicherheit nistet sich ein. Doch auch auf der anderen Seite, in der Mehrheit der Andershäutigen vollzieht sich ein ähnlicher Prozess. Auch für sie wird die selbstverständliche körperliche Gegebenheit ihrer Hautfarbe in Frage gestellt: Wenn es nicht nur einen, sondern viele Schwarze gibt, dann wäre auch die umgekehrte Situation möglich, dass ich mich eines Tages als Weißer allein unter lauter Schwarzen befinde. Doch diese Situation ist für die Mehrheit der Weißen in Europa nur virtuell gegeben. Sie kann daher unbewusst bleiben. Für den einzelnen Afrikaner in Europa aber ist sie reale Erfahrung, die immer wieder bewusst vor Augen tritt und die er als leidvoll erlebt. So wären sowohl das „Nicht-Wissen“, das „Nicht-so-gemeint-haben“, die Unbewusstheit („unknowingly“) in der weißen Bevölkerung wie auch die hohe Sensibilität und der empfindliche Argwohn unter den Schwarzen in Europa generell verständlich. Diese Konstruktion erlaubt es D – zumindest in Gedanken – auf die andere Seite zu gehen und doch bei sich selbst zu bleiben. Sie ermöglicht es ihm, Bernards Erfahrungen aufzunehmen und einzuschätzen, ohne an ihnen teilzuhaben. Doch sie ist auch missverständlich. So kann die differente Wahrnehmung in der Situation missverstanden werden als ein angeborenes, biologisch begründetes Vorurteil. Solch eine Zuschreibung – D nennt das „Naturalisierung von Differenzen“ – ist möglich (Diskussionstranskript: Zeile 258). Aber das wäre eine zusätzliche Auslegung. D ging es um die Konstruktion eines Rahmens. Es ging ihm darum, die Bedingungen für die Möglichkeit von Rassis-

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mus aufzuzeigen, noch nicht darum, wie es innerhalb dieses Rahmens zu rassistischen Handlungen und Leidenserfahrungen kommt. So geraten Ds Ausführungen in Gefahr als intellektuelles Spiel mit Worten, als Verharmlosung, Ablenkung oder als arrogante Belehrung missverstanden zu werden. Und das geschieht auch. Damit komme ich zu den Beiträgen von C1 und C2. Sie sind Sprecher kamerunischer Herkunft. Ihre Beiträge beziehen sich in erster Linie nicht auf das biographische Interview, sondern auf die Ausführungen von D. Damit verändert sich auch der Lernmodus ihrer Beiträge. Sie lassen sich nicht mehr nur als Interpretation und Konstruktion verstehen – was sie natürlich auch sind –, sondern in erster Linie als Diskussionsbeitrag, d.h. als Bestandteil eines umfassenderen Zusammenhanges. Sie vertreten eine Position in einem Diskurs. Sie vertreten eine Gegenposition zu den Ausführungen von D und damit verwandeln sie auch den Beitrag von D, den wir hier zunächst als einen relativ selbständigen Gedankengang betrachtet haben, in einen Diskussionsbeitrag. Im Diskurs überschreitet der Lernprozess die Bindung an ein einzelnes Individuum. Ein Diskurs ist ein kollektiver Lernprozess. Er setzt Ergebnisse individueller Lernprozesse voraus – beispielsweise wie hier die Mitteilung von Erfahrungen oder Explikation eines Gedankenganges. Sie werden im Diskurs zu Bestandteilen in einem kollektiven Lernprozess. Als solcher ist der Diskurs auf Verständigung ausgerichtet. Der Lernmodus der diskursiven Verständigung beruht im Wesentlichen auf der Vertretung und Unterscheidung von Positionen und ihrer differenzierenden Zuordnung in einem thematischen Feld, das sich im Verlauf des Diskurses entfaltet. Doch zunächst setzt dieser Prozess mit einer eher die Unterschiede verschärfenden Entgegensetzung der Positionen ein. C1 greift das Problem des „unknowingly“, der „Unbewusstheit“ auf, der Tatsache also, dass Deutsche rassistisch handeln, indem sie andere diskriminieren, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben. Doch im Unterschied zu D erklärt er diese Unbewusstheit nicht als ein wirkliches Nicht-Wissen aus dem Umstand, dass sie als Weiße unter Weißen gar nicht wahrnehmen und wissen können, wie einem Andershäutigen unter ihnen zumute ist. Er erklärt sie vielmehr als eine ideologisch und gesellschaftlich bedingte Voreingenommenheit. „la société allemande est une société qui institutionnalise le racisme.“ (ebd.: Zeile 306 f.). Und er wirft D vor, dass er diesen Rassismus „deontologisiere“, ihm seine verletzende Wirklichkeit abspreche, dass er behaupte, das rassistische Verhalten der Deutschen würde nur in der „Einbildung“ schwarzer Afrikaner existieren. In ähnlicher Richtung argumentiert auch C2: Er stellt Ds Beitrag als eine rhetorische Anstrengung dar, die realen und erlebten Erfahrungen, von denen Bernard berichtet hat, in eine Spekulation über Rassismus zu verwandeln. Zunächst setzt er auseinander, dass D in seiner Interpretation den Text des biographischen Interviews deformiert und dass er die Situation an der Kasse bei

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McDonalds völlig falsch sieht. Dann kommt C2 zu seinem Hauptpunkt: „le racisme n’est pas une spéculation, ce n’est pas du symbolique uniquement, c’est une réalité.“ (Diskussionstranskript: Zeile 334 f.) („der Rassismus ist keine Spekulation, er ist nicht nur symbolisch, er ist Realität.“) Die Abstraktion von Erfahrung, sagt C2, sei letztlich in einem doppelten Sinne gewaltsam oder gewalttätig. Sie sieht zum einen ab von dem historischen Kontext, in dem der reale Rassismus entstanden ist und entsteht. Er verdankt sich den Mechanismen der Herrschaft über andere Völker und ihrer Ausbeutung. Die Weißen sind nicht als Gastarbeiter oder Studenten nach Douala gekommen, sondern als Missionare, Kolonialoffiziere und Verwaltungsbeamte. – Und zum anderen vergewaltige die Abstraktion von der Erfahrung die Erfahrung. Sie eigne sich an, was die Opfer erzählen, okkupiere ihre Leidenserfahrungen, mache sich zum Richter über das, was die Betroffenen zu fühlen oder nicht zu fühlen haben. Das sind massive Einwände. Nicht unberechtigt, aber auch nicht ganz zutreffend. Die diskursive Verständigung scheint zunächst einmal blockiert. „Wenn man“, entgegnet D , „auf der Ebene argumentiert, dass etwas Realität ist, mit vier Ausrufezeichen, kann man nicht mehr miteinander reden. Dann ist es vorbei …“ (ebd.: Zeile 373 ff.). Doch scheinen sich zwei Öffnungen aufzutun, die eine Fortsetzung des Prozesses ermöglichen könnten. D sagt: „Erfahrung gibt es nicht jenseits der Interpretation.“ (ebd.: Zeile 380) Und C2 stimmt dem zu: „Okay“ (ebd.: Zeile 381). Zum anderen stellt der Übersetzer ausdrücklich fest, dass D mit seinen Einlassungen nicht den wirklichen Rassismus, die rassistischen Praktiken im politischen Leben gemeint habe, sondern nur einen Rahmen erstellen und so ein Feld eröffnen wollte, in dem die Frage des Rassismus besser diskutiert werden könne (ebd.: Zeile 413 ff.).

Vom Verhalten zum Lernen Die beschriebenen Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer sind an sich noch keine Lernmodi. Man kann Erfahrungen machen, Handlungen oder Aussagen interpretieren, begriffliche Rahmen konstruieren oder mit anderen diskutieren, ohne dabei wesentlich hinzuzulernen. Man wiederholt und verwendet Verhaltensweisen, die man beherrscht. Man setzt sie ein, um seine Arbeit zu tun, um in einer gegebenen Situation anstehende Aufgaben zu bewältigen, um wiederkehrende Probleme zu lösen und um sich selbst zu behaupten. Wohl ist jede kognitive Verhaltensweise, jeder Erkenntnisprozess, im Ansatz eine Lernbewegung. Nicht nur in dem Sinne, dass sie irgendwann einmal lernend entwickelt werden musste, sondern auch in dem Sinne, dass in ihr jeweils ein Impuls gesetzt ist, der zu einem weiterführenden Lernprozess auffordert. Jede intensivere Erfahrung weist auf einen irritierenden Zusammenstoß mit der 149

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Umwelt hin, jede Interpretation auf den Versuch, eine unverständliche Erscheinung, Handlung oder Textstelle zu deuten, jede reflexive Konstruktion auf das Bemühen, einen umfassenderen Begriff oder begrifflichen Zusammenhang zu klären, jede begonnene Diskussion auf einen Austausch von Gedanken und Vorstellungen. Doch der angestoßene Lernprozess stößt mehr oder weniger rasch an eine Grenze und kommt damit wieder zum Stillstand. Die momentane Herausforderung ist bewältigt, eine neue synaptische Verknüpfung im Gehirn etabliert. Das neu gelernte Verhalten wird in das verfügbare Repertoire von Verhaltensweisen aufgenommen. Der Lernende verharrt bei dem Gelernten und verteidigt jetzt die wieder hergestellte Sicherheit seines Selbst- und Weltverständnisses mit Hilfe der neu erworbenen Einsichten. Der angestoßene Lernprozess erlahmt. Er tritt gleichsam auf der Stelle. Zu einem Modus des Lernens wird eine kognitive Verhaltensweise erst, wenn sich in ihr ein längerfristiger Lernprozess anbahnt und vollzieht, der das jeweils gegebene Vermögen der Situationsbewältigung und Daseinsorientierung überschreitet und das Repertoire der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und Einsichten fortgesetzt und nachhaltig verändert und erweitert. Normalerweise und zunächst dienen kognitive Verhaltensweisen der Situationsbewältigung. Ihre Aktivität beschränkt sich auf die unmittelbar in der Situation gestellte Aufgabe. Den Charakter eines Lernmodus nimmt die Verhaltensweise in dem Maße an, wie deren jeweilige Beschränktheit erkannt und die im Verhalten angelegte Lernbewegung aufrechterhalten und über die bestehende Situation weiter vorangetrieben wird. Es gibt Bedingungen und Modifikationen des Verhaltens, die dies unterstützen. Man kann sie bewusst herbeiführen oder einsetzen, um die Lernbewegung aufrechtzuerhalten und voranzutreiben. Wenn man weiß, welche Lernmöglichkeiten in einer Verhaltensweise angelegt sind, kann man sie freisetzen und in einem instrumentellen Sinne nutzen. Im Folgenden geht es mir darum, sowohl die Beschränkungen wie auch die weiterführenden Lernmöglichkeiten in den beschriebenen Verhaltensweisen aufzuzeigen. Biographische Erfahrung ist sowohl ein gewichtiger wie auch ein besonderer Erkenntnisprozess, kaum bewusst und schwer zu steuern. Das liegt unter anderem daran, dass die Wirklichkeit, auf die er sich einlässt, die Lebenswirklichkeit ist und dass das, was er verändert, unsere gesamte Person betrifft. Er wurzelt im Erleben und bleibt zum wesentlichen Teil unbewusst. Das macht seine Stärke, aber auch seine Unbeweglichkeit aus. Lebenserfahrungen nehmen leicht den Charakter der Fixierung an, und wir neigen dazu, individuelle Erfahrungen mit sehr weit reichenden Generalisierungen zu verknüpfen, ohne dass wir sie überprüfen. Weil mein Eierverkäufer in der russischen Gefangenschaft Schlimmes erlebt hat, beginnt er an der Tür immer wieder von den Russen zu reden: „So sind sie“.

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Wie kann man Lebenserfahrungen aus ihren subjektbezogenen Fixierungen lösen und wieder beweglich machen? Und wie kann man die überzogenen Generalisierungen für eine differenziertere Sichtweise öffnen? Erfahrungen kann man nicht durch rationale Argumente widerlegen. Sie lassen sich nicht wegdiskutieren, wie D in seinem Disput mit C1 und C2 feststellen muss. Der bewusste Versuch, den Bedeutungsgehalt und die Auslegungen der Erfahrungen zu verändern, kann nicht von außen kommen. Er muss unmittelbar an der Erfahrung selbst ansetzen. Das ist eine anstrengende und mühsame Arbeit. Es ist vor allem Erinnerungsarbeit – so anstrengend und langwierig wie die Traumarbeit in der Psychoanalyse. Es geht unter anderem darum, den unbewussten Gehalt der Erfahrung zu erschließen, ihn bewusst zu machen und mit anderen Bewusstseinsinhalten in Beziehung zu setzen. Das erste ist vielleicht, die Erinnerungen aufzuschreiben, autobiographisches Schreiben. Der Text fixiert die Erinnerung. Aber er ermöglicht es auch, sie neu zu durchdenken und zu hinterfragen: Wie war das genau? Wie kam es dazu? War das die einzige Erfahrung dieser Art? Gibt es auch andersartige Erfahrungen? Besonders wichtig ist es wahrscheinlich, dass einseitig fixierte Erfahrungen auf GegenErfahrungen stoßen. Nun kann man Erfahrungen nicht einfach machen, auch nicht Gegen-Erfahrungen. Aber ich kann versuchen, den Raum meiner Lebenserfahrungen zu erweitern, insbesondere in Bereiche hinein, die mir bisher fremd und verschlossen waren oder feindlich entgegenstanden. Ich kann nach Afrika reisen oder mich bemühen, einen Afrikaner kennen zu lernen, und mich mit ihm befreunden. Interpretation ist ein Erkenntnisprozess, der schon in der Bewältigung des alltäglichen Lebens eine große Rolle spielt. Es geht in ihm zunächst darum, etwas als etwas zu erkennen. Es geht vor allem darum, etwas, das auf den ersten Blick unverständlich erscheint – „Was ist denn das?“, „Wer kommt denn da?“, „Was geschieht denn da?“ –, sich dadurch verständlich zu machen, dass man es in einen bekannten Zusammenhang einordnet – „Ah ja, das ist …!“ – oder einem Bekannten zuordnet – „Ja, das sieht aus wie …!“. Der Spielraum für Interpretationen ist abhängig von Vorerfahrungen und Vorkenntnissen, über die man bereits verfügt, und von den vorherrschenden Interessen und Affekten, die das eigene Verhalten zurzeit bestimmen. Die Zuordnung kann zutreffend sein oder auch nicht. Bei Erscheinungen der äußeren Umwelt, die man mit anderen Menschen teilt, klären sich Irrtümer in der Regel rasch auf: „Nein, das ist kein … , sondern … .“ Doch das ist anders, wenn es sich um Erscheinungen, Sachverhalte oder Vorgänge handelt, die man nicht ohne weiteres wahrnehmen kann oder die ihrem Wesen nach vieldeutig sind. Das gilt vornehmlich auch für die Interpretation überraschender, ungewohnter und unangenehmer, das eigene Selbstwertgefühl schmeichelnder oder verletzender Verhaltensweisen. Da unterstellt man Absichten und Motive, die zutreffen, aber auch falsch oder kurzschlüssig und zu einfach sein können. So steht für Ber-

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nard fest, dass der Kassierer der neu eröffneten Kasse ihn absichtlich und aus rassistischen Motiven übergangen hat, und so lässt er auch die Entschuldigung des Geschäftsführers nicht gelten. In den hermeneutischen Wissenschaften sind eine Fülle von Verfahren und Grundsätzen entwickelt worden, wie man den Spielraum für Interpretationen erweitern, Deutungen überprüfen und sichern, Widersprüche in den Deutungen auflösen und Fehldeutungen vermeiden oder aufklären kann. Manche dieser Verfahren und Grundsätze lassen sich auch bei alltäglichen Interpretationen in Lebenszusammenhängen nutzen. Einer dieser Grundsätze fordert dazu auf, sich nicht mit einer einzigen, scheinbar nahe liegenden oder als selbstverständlich angenommenen Deutung zu begnügen, sondern zunächst alle möglichen Lesarten zuzulassen, zu erproben und zu vergleichen und dann diejenige auszuwählen, die alle bekannten Momente der Situation am stimmigsten berücksichtigt und die mit den wenigsten zusätzlichen ungeprüften Unterstellungen auskommt. Man kann den Spielraum der Interpretation öffnen und erweitern, indem man ähnliche oder auch entgegen gesetzte oder entlegene Situationen zum Vergleich heranzieht. Und es ist wichtig, wertende Urteile, zumindest bis zu einer hinreichenden Klärung, zurückzuhalten. Reflexive Konstruktion ist eine anspruchsvolle kognitive Leistung, die wir bewusst eher selten vollziehen. Eine wichtige Aufgabe der Konstruktion ist es, einen Bezugsrahmen und Denkraum zu schaffen, in dem sich die verwirrend vielfältigen und widersprüchlichen Eindrücke, Vorstellungen, Erfahrungen und Behauptungen ordnen lassen. Man muss in Gedanken viele Daten und Dateien überfliegen und übersehen, um die richtigen Haltepunkte zu finden, auf denen die Konstruktion aufbauen kann. Falsche Eckpunkte führen zu Fehlkonstruktionen. Ein anderes Problem besteht darin, dass solche Konstruktionen die Tendenz haben, sich zu verselbständigen. Sie verlieren ihre Bodenhaftung in der Erfahrungswelt. Die relevanten Sachverhalte, um die es eigentlich geht, geraten aus dem Blick. So setzt Ds Konstruktion des Rassismus zwar richtig bei dem Merkmal der Hautfarbe in der äußeren Erscheinung an, aber er übersieht, dass mit ihm nicht nur Probleme der sozialen Selbstwahrnehmung verbunden sind, sondern auch Zuschreibungen und Bewertungen, ein kulturelles Selbstverständnis und die historischen Erfahrungen von Herrschaft und Unterdrückung. Dabei ließe sich der gewählte Ausgangspunkt der Konstruktion durchaus zu einer Erweiterung und Ausfüllung des begrifflichen Rahmens einer Diskussion über Rassismus nutzen. Die in Gedanken konstruierte Situation, sich als Einer unter Seinesgleichen eines Tages unter andersartigen Fremden zu befinden – als Schwarzer unter Weißen oder als Weißer unter Schwarzen – könnte dazu führen, diese Konstruktion in der Realität an geeigneten Beispielen zu prüfen. So lese ich von Hans J. Massaquoi „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ (1999) – die Autobiographie eines dunkelhäutigen Jungen, der in den dreißiger

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und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter Deutschen in Hamburg heranwächst. Die Begriffskonstruktion füllt sich mit Anschauung und interessanten Details. Zusatzkonstruktionen werden erforderlich. Ansätze zu einer Theorie können sich herausbilden. Einen autobiographischen Bericht zur gegensätzlichen Situation, in der ein hellhäutiges Kind unter Schwarzen heranwächst, habe ich noch nicht gefunden. Diskursive Verständigung ist ein anspruchsvoller Erkenntnisprozess, in dem mehrere Individuen zusammenwirken und mehrere Lernmodi ineinander greifen müssen. Er basiert auf dem Austausch von unterschiedlichen Erfahrungen, Kenntnissen, Einsichten, Meinungen und Urteilen zu einem bestimmten Themenkomplex in einer Folge von Gesprächen und Diskussionen in der Intention, die unterschiedlichen Auffassungen zu klären, zueinander in Beziehung zu setzten und zu einem gemeinsamen Ergebnis zu führen. So kann sich die Reichweite individueller Lernprozesse erweitern und zu gemeinsamen, von allen Beteiligten getragenen Vorstellungen und Verhaltensweisen führen. Ein komplexer Denk- und Theoriezusammenhang kann sich entwickeln. Doch diskursive Verständigung ist nicht das alleinige Ziel. Es gibt viele Anlässe und Gründe. Diskussionen können geführt werden, um Differenzen zu schlichten oder Missverständnisse aufzuklären, um gemeinsame Entscheidungen und Handlungen vorzubereiten oder um generelle Verhaltensregeln einzuführen, aber auch um den eigenen Standpunkt zu behaupten und sich für diesen Standpunkt eine mehrheitliche Zustimmung zu verschaffen, um den eigenen Standpunkt gegen Anfechtungen von außen zu immunisieren oder auch um andere über die eigenen Absichten zu täuschen. Ein Diskurs beginnt in der Regel mit der Darstellung verschiedener Standpunkte und ihrer Abgrenzung gegeneinander, gefolgt möglicherweise von einer Verschärfung der Gegensätze bis zur gegenseitigen Ausschließung, und erst dann ist so etwas wie Zuordnung und Integration an der Reihe. An diesem Übergang gerät der diskursive Lernprozess häufig ins Stocken. Die unterschiedlichen Standpunkte blockieren sich gegenseitig wie hier im Diskurs zwischen D und C1 bzw. C2. Wie lässt sich die Blockierung lösen, der Lernprozess weiter voranbringen? Das ist ein Problem, das man aus vielen Streitgesprächen kennt. Häufig sind die aktiven Vertreter eines Standpunktes selber nicht in der Lage, die Blockade aufzuheben. Meist sind es Dritte, ein Diskussionsleiter oder einzelne Zuhörer bzw. Leser, die in der Lage sind, das Problemfeld zu erweitern und eine Integration anzubahnen. Auf längere Sicht kann eine Unterbrechung hilfreich sein, die man dazu nutzt, ein Stück zurückzutreten und eine kognitive Landkarte zu entwerfen, auf der man die Lage der Standpunkte und ihren Abstand voneinander genauer bestimmen kann, wie beispielsweise in der Figur 3 von Rainer Kokemohr zur Diskussion zwischen D und C1 bzw. C2. In dieser Phase können Vorschläge aus reflexiven Konstruktionen hilfreich sein, wenn man sie flexibel und produktiv handhabt.

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Zusammenfassend lässt sich vielleicht so viel sagen: Alle die hier besprochenen Modifikationen von kognitiven Verhaltensweisen können zu einer Fortführung und Erweiterung von einmal begonnenen Lernprozessen beitragen. Aber sie sind dabei selber nur Hilfsmittel, nicht die vorantreibende und organisierende Kraft. Ihre Lernbewegung ist kurzfristig. Ihre Qualität als Lernmodi entfalten sie erst im Kontext eines längerfristigen Lernprozesses. Aber was ist ein längerfristiger Lernprozess? Ein längerfristiger Lernprozess ist ein Lernprozess, der sich über eine längere Zeit hinzieht, über Monate, Jahre, Jahrzehnte, der eine Vielzahl von einzelnen, kurzfristigen Lernschritten umfasst und der in sich einen umfassenden inhaltlichen Zusammenhang bildet. Zu einem längerfristigen Lernprozess kann es nur kommen, wo ein nachhaltiges Lernfeld entsteht, das heißt: wo es einen andauernden Lernreiz oder eine beständige Energiequelle gibt, die den Lernprozess immer wieder vorantreiben, ein System, das ihn trägt, und eine Organisationsstruktur, in der er sich entfalten kann (siehe Schulze 2006b). Aber wo gibt es solche Lernfelder und Lernprozesse? Ist vielleicht „Bildung“ so etwas?

Bildung im Horizont des Lernens Mit dieser Frage kehre ich zum Anfang zurück: Was ist Bildung? Vor dem Hintergrund der vorauf gegangenen Analysen und Überlegungen will ich versuchen, die verschwommenen Konturen des Bildungsbegriffs zu präzisieren und ihm im Horizont einer Theorie umfassender und längerfristiger Lernprozesse einen Ort zuzuweisen. Der Bildungsprozess ist ein Lernprozess. Eine besondere Leistung des Bildungsbegriffs in der deutschsprachigen Pädagogik besteht zweifellos darin, dass er im Unterschied zu den elementaren und kurzfristigen Lernprozessen, deren Untersuchung die Erziehungswissenschaft weitgehend an die Lernpsychologie abgetreten hat, die Eigenart und den Anspruch komplexer und längerfristiger Lernprozesse, mit denen es Erziehung vornehmlich zu tun hat, repräsentiert und aufrecht erhält. Zugleich aber hat die semantische Eigenständigkeit und terminologische Absonderung des Bildungsbegriffs zu einer Isolierung gegenüber dem Begriffsfeld und Gegenstandsbereich des Lernens geführt und eine differenzierende Ausarbeitung der Lernprozesse, für die er eigentlich einsteht, verhindert. Da ist die Herkunft des Bildungsbegriffs aus der Mystik, seine Sonderentwicklung in der deutschen Sprache, seine Entgegensetzung zu den pragmatischen Intentionen der Aufklärungspädagogik, sein normativer Anspruch auf ein höheres Niveau humanen Daseins, seine soziale Bindung an das gehobene Bürgertum und schließlich seine sinnentstellende Übernahme in die Konstruktion und Expansion der öffentlichen Erziehungseinrichtungen. Das alles hat zu einer begrifflichen Überdeterminierung und Verschwommen154

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heit geführt, die es schwer macht, den Begriff ohne Erläuterungen zur Bezeichnung und Aufklärung eines Gegenstandsbereichs oder Sachverhalts zu nutzen (vgl. u.a. Naumann 2006). Die Herkunft und die Geschicke, die dem Begriff unübersehbar anhaften, werden in seiner Verwendung zumeist verleugnet oder selektiv verwendet. Die folgenden Kennzeichnungen mögen dazu dienen, dem Begriff der Bildung eine festere, seiner historischen Bedeutung angemessene Kontur zu verleihen. Eine erste Kennzeichnung lässt sich im Anschluss an die vorangegangene Analyse unterschiedlicher Lernmodi gewinnen. Bildung ist kein Lernmodus. Was ich als Lernmodi bezeichne sind relativ kurzfristige individuelle Lernprozesse, die an eine konkrete Aktivität gebunden sind und die sich willkürlich steuern lassen, die bewusst einsetzen und auch wieder aufhören. Bildung ist ein längerfristiger, ja in seinem Wesen unbegrenzter individueller Lernprozess, der nie zu einem Ende kommt. Er umfasst eine Vielzahl von begrenzten Lernaktivitäten, die aber immer wieder neu erregt werden. Darüber hinaus ist Bildung besonders durch eine Kombination bestimmter Lernmodi gekennzeichnet. Das ist zum einen die Verbindung von Lektüre und Erfahrung. Bildung ist ohne die Fähigkeit zu lesen und die Nutzung dieser Fähigkeit nicht denkbar. Dabei ist der Terminus „Lesen“ sowohl wörtlich als auch in einem übertragenen Sinne zu verstehen – beispielsweise als die Fähigkeit, Bildwerke oder Naturerscheinungen zu lesen. Eine Geschichte der Bildung setzt ein mit der Geschichte der Literalisierung. Aber Lesen ist noch nicht alles. Lesen bedeutet zunächst Informationsentnahme und damit Zuwachs an Wissen. Bildung aber meint mehr als die Ansammlung von Wissen. Für den Prozess der Bildung ist entscheidend – darauf wird immer wieder hingewiesen –, dass das angelesene Wissen nicht nur abrufbar gespeichert, also behalten, sondern auch angeeignet und umgesetzt wird. „Aneignen“ bedeutet hier vor allem die Integration in die eigenen Lebenserfahrungen und „Umsetzen“ die Übersetzung in eine eigene, Welt erschließende Aktivität und damit in neue Erfahrungen. Goethe reist nach Italien, um das, was er über das Altertum und die Kunst in Italien gelesen hat, selbst vor Ort zu erfahren. Da ist zum anderen die Verbindung von Diskussion und Konstruktion. Bildung ist nicht denkbar, ohne dass man sich auf Diskussionen einlässt, d.h. auf die Wahrnehmung unterschiedlicher Ansichten, entgegen gesetzter Standpunkte und andersartiger Denk- und Sehweisen im dialogischen mündlichen Gespräch, aber vor allem auch im inneren monologischen Gespräch mit Schriften und Zeugnissen aller Art. Bildung erzeugt und fordert zugleich die Bereitschaft, Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit auszuhalten; sie zielt auf Pluralität und Toleranz. Zugleich aber belässt es der Bildungsprozess nicht bei dem Nebeneinander der Auffassungen und der Relativität der Gesichtspunkte. Er versucht die Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit in

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Richtung auf eine umfassendere Konstruktion zu übersteigen. Das kann eine systematische, historische, anthropologische oder evolutionäre Konstruktion sein – die Idee der Menschheit, der Vernunft, des Universums oder einer Universalgeschichte. Man sieht, Bildung meint einen sehr anspruchsvollen Lernprozess. Aber wo ist er angesiedelt? In welche umfassendere Zusammenhänge ist er eingebettet? Vorerst sehe ich drei umfassendere Zusammenhänge, in denen Bildung einen bestimmbaren Stellenwert besitzt: Der erste Zusammenhang ist der der Biographie. Schon von Anfang an schien es für die Erfinder des Bildungsbegriffs klar zu sein, dass Bildung eine wesentliche Rolle in der bewussten Gestaltung einer individuellen Biographie spielen sollte. „Von den verschiedenen Aspekten, unter denen ein Lebenslauf dargestellt werden kann, kommt dem der ‚Bildung‘ eine Vorzugsstellung zu: Lebenslauf ist Bildungsschicksal“, resümiert Jürgen Henningsen 1962 (Henningsen 1981: 11). Inzwischen ist die Bedeutung von Bildung für den Verlauf einer Lebensgeschichte in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung präzisiert worden. Als Bildungsprozess betrachtet man nicht mehr den gesamten biographischen Prozess, sondern eine bestimmte Prozessstruktur, die nicht zwangsläufig in jedem Lebenslauf in Erscheinung treten muss, die aber da, wo sie auftritt, eine tief greifende Veränderung im Selbst- und Weltverständnis anzeigt – eine Wandlung (vgl. Schütze 1984: 92; Marotzki 1990: 55 ff.). Verunsichernde oder herausfordernde Erlebnisse, Begegnungen, Konfrontationen oder Konflikte führen zu einer Umorientierung und Umstrukturierung der bisher gewohnten Seh-, Denk- und Verhaltensweisen. Das meint Bildung im Kontext biographischen Lernens. Ein anderer Zusammenhang ist der der Kultur. Das ist das Arsenal an Techniken, Sprachformen, Verhaltensregeln, Gesetzen, Symbolen und Mythen, mit denen wir umgehen; das ist das Gehäuse menschlicher Erfindungen, mit denen wir leben. Dieser das individuelle menschliche Leben überformende Kulturzusammenhang entsteht in kollektiven Lernprozessen und muss in jeder Generation erneut individuell angeeignet werden. Das geschieht weitgehend ohne bewusstes Bemühen. Jede kleinere oder größere Gemeinschaft von Menschen entwickelt zunächst ihre eigene Kultur, und ihre Mitglieder bleiben in dieser Kultur befangen. Doch mit Beginn der Neuzeit öffnet sich für die christlich abendländische Kultur ihr Horizont. Dies ist der historische Augenblick für den Einsatz von Bildung. Im Bildungsprozess überschreiten einzelne Individuen den Horizont der Kultur, in der sie aufgewachsen sind – sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht. Sie finden einen Zugang zu anderen Kulturen in fremden Ländern und fernen Zeiten. Der kulturelle Horizont erweitert sich für sie zum Horizont der die Erde und das Universum umspannenden Welt und der alle Menschen umfassenden Menschheit und ihrer Geschichte. Bildung erscheint als eine gezielte Erweiterung kulturellen Lernens.

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Ein dritter Zusammenhang ergibt sich im Zusammenhang von Schule. Die Ende des 18. Jahrhunderts neu auftretende Bildungsidee wird sofort übernommen und vereinnahmt in die Konstruktion eines öffentlichen Schul- und Hochschulwesens. Das geht so weit, dass der Begriff der „Bildung“ zum Inbegriff aller schulisch organisierten Lernprozesse avanciert. Wenn in der Öffentlichkeit über die Belange von Schulen und Hochschulen diskutiert wird, stellen sich sofort Wortzusammensetzungen wie „Bildungswesen“, „Bildungsorganisation“, „Bildungspolitik“ und „Bildungsökonomie“, ja sogar „Bildungsstandard“ ein. Offenbar sind die Gesellschaft und ihre Institutionen daran interessiert, die Erweiterung des kulturellen Horizontes nicht allein den einzelnen Individuen zu überlassen. Die Gesellschaft ist in immer neu einsetzenden Anstrengungen bemüht, die Bildung ihrer Mitglieder in verpflichtenden und verbindlichen Veranstaltungen des Lehrens und Lernens auf ein bestimmtes, möglichst hohes Niveau zu heben und auf bestimmte Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung hin auszurichten. Mit der Ausrichtung am Begriff der Bildung gerät das Schulwesen unter einen Überforderungsdruck und in das Dilemma der Stofffülle. Und zugleich wird der Bildungsprozess im Zuge seiner Verschulung seines ursprünglichen Wesens entfremdet. Bildung ist nicht mehr ein selbst bestimmter und sich selbst organisierender Lernprozess. Die Umsetzung von angelesenem Wissen in persönliche Erfahrung kann im Unterricht einer Klasse nicht gewährleistet werden. Mögliche biographische Wandlungsprozesse liegen außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildungseinrichtungen. Bildung geht über in schulisches Lernen. So gesehen erscheint Bildung als eine historisch bedingte, folgenreiche Modifikation in der biographischen, der kulturellen und der schulischen Lernformation. Ob Bildung darüber hinaus auch als umfassender Strukturzusammenhang im Sinne einer selbständigen Lernformation angesehen werden kann, wird sich erst feststellen lassen, wenn wir über eine differenziertere Theorie kollektiver Lernprozesse verfügen und wenn wir die Bedeutung der Bildung für den Prozess des evolutionären Lernens der Gattung genauer bestimmen können. (Zum Begriff der Lernformation vgl. Schulze 1980: 116 ff., siehe auch 2006b und 2006c).

Schlussbemerkung Um in meiner großen Unerfahrenheit und Unkenntnis, was Afrika betrifft, zum Abschluss doch noch an etwas Afrikanisches anzuschließen, möchte ich sechs Sprichwörter aus dem Land der schwarzen Königin Aura Poku, dem Land der Baule (vgl. Himmelheber 1951), zitieren, die sich, wie ich finde, als kurze Kommentare zu den von mir beschriebenen Verhaltensweisen und Lernmodi lesen lassen. 157

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Das erste: „Von der Last, die du nicht trägst, weißt du nicht, wie schwer sie ist!“ (Himmelheber 1951: 175). Das meint Lernen aus Erfahrung. Das zweite beleuchtet vielleicht ganz gut das Dilemma der Interpretation: „Man schaut nicht mit beiden Augen gleichzeitig in eine Kürbisflasche.“ Ein drittes Sprichwort: „Wenn dein Kopf nicht da wäre, würde dein Knie deinen Hut tragen.“ (ebd.: 175) Das könnte eine gewagte reflexive Konstruktion sein. Zwei weitere Sprichworte kommentieren Probleme der diskursiven Verständigung: „Fortgehen und wiederkommen, das ist kein richtiges Palaver!“ (ebd.: 177). Und: „Wenn man neun dumme Leute ausschickt, eine Sache für einen zu regeln, so muss man aufpassen, dass man nicht selbst der zehnte ist.“ (ebd.: 176).

Literatur Geertz, Clifford (1995): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Henningsen, Jürgen (1981): Autobiographie und Erziehungswissenschaft, Essen: Neue Deutsche Schule. Himmelheber, Hans (Hg.) (1951): Aura Poku. Volksdichtung aus Westafrika, Eisenach: Röth. Lenzen, Dieter (2001): »Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?«. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4, S. 949-967. Markowitsch, Hans J. (2002): Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Marotzki, Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften, Weinheim: Deutscher Studienverlag. Massaquoi, Hans J. (1999): „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ Meine Kindheit in Deutschland, München: Knaur. Naumann, Michael (2006): »‚Bildung‘ – eine deutsche Utopie«. In: Reinhard Fatke/Hans Merkens (Hg.), Bildung über die Lebenszeit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15-28. Schulze, Theodor (1980): Schule im Widerspruch. Erfahrungen, Theorien, Perspektiven, München: Kösel. Schulze, Theodor (2003): »Strukturen und Modalitäten biographischen Lernens. Eine Untersuchung am Beispiel der Autobiographie von Marc Chagall«. Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 6, S. 43-64. Schulze, Theodor (2006a): »Bildung, Bewusstheit und biographischer Prozess. Reflexionen im lebensgeschichtlichen Lernen«. In: Volker Fröhlich/Rolf Göppel (Hg.), Bildung als Reflexion über die Lebenszeit, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 28-49. 158

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Schulze, Theodor (2006b): Annäherungen an eine Theorie komplexer und längerfristiger Lernprozesse, Manuskript (erscheint vermutlich 2006). Schulze, Theodor (2006c): Im Horizont des Lernens, Manuskript (erscheint voraussichtlich 2006). Schulze, Theodor (2006 d): Ereignis und Erfahrung. Vorschläge zur Analyse biographischer Topoi, unveröffentlichtes Manuskript. Schütze, Fritz (1984): »Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens«. In: Martin Kohli/Günther Robert (Hg.), Biographie und soziale Wirklichkeit, Stuttgart: Metzler, S. 78-117. Schwenk, Bernhard (1989): »Bildung«. In: Dieter Lenzen (Hg.), Pädagogische Grundbegriffe, Band 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 208-221. Willmann, Otto (19577): Didaktik als Bildungslehre, Freiburg: Herder.

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LEHREN

ALS

MOMENT

IM

BILDUNGSPROZESS

KARL-JOSEF PAZZINI

Rainer Kokemohr hat dem Symposium einen Text zugrunde gelegt. Ich habe Einsatzpunkte als Lehrer und Didaktiker gesucht. Im Vorspann schreibt er: „Ich erprobe die Annahme, dass Bezugnahme auf Fremdes eine bildungstheoretisch paradigmatische Situation in dem Sinne ist, dass ein Bildungsprozess durch die Erfahrung von Fremdem herausgefordert werden kann, das, in das mir vertraute Welt- und Selbstverhältnis einbrechend, einer Deutung in dessen Grundfiguren widersteht“. (Kokemohr in diesem Band: 14)

Das Fremde bricht auch durch Lehrer und Lehre ein. Noch anders: Weil Fremdes einbricht, beängstigend und herausfordernd einbricht oder in Zukunft einbrechen könnte, gibt es Lehre. Sie versucht zumindest, diesen Einbruch zu mildern, kann aber nicht umhin, dabei selber Fremdheit zu produzieren, prophylaktisch vielleicht, aber auch provozierend, vielleicht wie eine Impfung. Jedenfalls ist diese Irritation nicht unbekannt, die man auch als Effekt einer Aggressivität auffassen kann. Lehren gibt es, damit Fremdheit uns nicht ganz und gar im Ernstfall unvorbereitet trifft. Sie kommt nicht umhin, aber genau daran Anteil zu nehmen, sonst wirkt sie nicht. In der Art des Umgangs mit diesem unlösbaren Problem unterscheiden sich didaktische Konzeptionen. Sie reichen vom Versuch, die Effekte des Lehrens und dessen Intention unwirksam zu machen durch Ein- und Anpassung an die Vorstellung vom Adressaten der Lehre und vom Selbstbild des Lehrenden als Beglücker und Belustiger bis zur Rücksichtslosigkeit, einnehmender Fremdheit und Vorführung der paradoxalen Anstrengungen des Lehrens. Letztere Form steht in der Gefahr Abhängigkeiten zu produzieren in der Weise, dass sie suggeriert, da stehe jemand, dem nichts fremd ist. Beide haben die Tendenz, in der Nachfolge die Anwendung von Rezepten, Regeln, dogmatischen Sichtweisen zu produzieren, die das Fremde eliminieren.

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Und weiter schreibt Rainer Kokemohr: „Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- und Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Selbstentwurfs einschließt“ (Kokemohr in diesem Band: 21).

Auch das möchten Lehrer erreichen. Vielleicht noch weit reichender: Lehrende wollen zuweilen einen Selbstentwurf erst konturieren helfen und ihn zu verändern anregen. Rainer Kokemohr schreibt, dass „Bildungsprozesse ihre Potenziale möglicherweise erst nachträglich erweisen“ (ebd.: 24). Wenn dem so ist, wovon ich überzeugt bin, passt dies nicht in die Evaluationsmanie, spricht gegen die Möglichkeit zielführenden Lehrens und zeitnah überprüfbarer Effekte des Lehrens. Ein nicht in Kokemohrs Sinn als bildend gedachtes Lehren, ein Fremdheit illusionär beherrschbar machendes Lehren kann nur mit dem Einsatz von Gleitmitteln zum Transport von Wissen an Unwillige, an Adressaten, die keineswegs oder noch nicht begeistert wurden, befördert werden. Die Bildsprache Rosenstock-Huessys mag das verdeutlichen: „Die Körper von Männern und Weibern sind durch die Haut voneinander getrennt. Der Geist sieht die Menschen ohne Haut. Er läßt sie einander durchdringen. Dazu müssen sie aus der Haut fahren. Und der Akt, kraft dessen wir aus der Haut fahren, ist die Begeisterung ... Wir sollten uns nicht zieren, von den Tieren zu lernen. Die Brunstzeit führt sie zusammen. Die Tiere öffnen sich einander. Und sie fahren aus ihrer Haut, die Liebe entwaffnet sie. Hierzu aber muß der schwere Harnisch der individuellen Natur aufgeschmolzen werden. Die Brunstlaute entwaffnen. Die Liebesrufe der Tiere verändern sie also physiologisch. Der Auerhahn balzt, damit er sich begatten kann. Die Töne sind Überschwang in dem ganz gemeinen leiblichen Sinne, daß ohne sie der Same nicht aus dem Körper austreten könnte. Denn das singende, zwitschernde, wiehernde, miauende Tier kann aus dem Individuum nur dadurch zum Gattungswesen werden, daß es zum Schwingen und Tönen gebracht wird. Man tut der Natur Gewalt an, wo immer man den Geschlechtsakt vom Singen trennt. Der Mensch, der ja allem Gewalt antut, kann auch dies, den eigenen Körper ohne Girren und Singen zum Geschlechtsakt zwingen. “ (Rosenstock-Huessy 1956: 144)

Rainer Kokemohr schreibt weiter, „dass eine jede Analyse den blinden Fleck verdeckt, den ihr Grundbegriff besetzt“ (Kokemohr in diesem Band: 25). Lehren mit bildendem Effekt kann man nur, wenn man den blinden Fleck zumindest augenzwinkernd in Kauf nimmt. Der blinde Fleck erst ermöglicht durch die ihn unmerklich machenden Mikrobewegungen des Auges den Eindruck eines vollständigen Sehens; die Bewegung vermeidet das Einbrennen des Bildes in die Netzhaut, seine Fixierung als Vorurteil, das ja gerade dazu dient, Fremdheit nicht merklich werden zu lassen.

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Die Grenze von intendierten Bildungsprozessen besteht wohl darin, dass sie Fremdes nie direkt angehen können, wiewohl sie es intendieren. Bildung mit dem Individuum als seinem Subjekt (Rainer Kokemohr spricht von „Träger“) trifft am Fremden auf seine potentielle Wirklichkeit und Wirksamkeit. Das Treffen und seine Effekte lassen sich methodisch nicht beherrschen. Der bildende Umschlag der Herausforderung durch das Fremde kann methodisch nicht hergestellt werden. Das liegt nicht nur in der Sache begründet, sondern auch im treibenden Moment des Lehrens für den, der es tut. Denn die Möglichkeit und Notwendigkeit von Bildung ergibt sich als ein unanalysierbares Symptom, ein zufälliges Zusammentreffen, wie die wörtliche Übersetzung von Symptom nahe legt. Diejenigen, die im bildenden Sinne lehren, können wohl kaum die präzisen Gründe beibringen, warum sie so etwas tun. Sie sind auch Getriebene, die immer wieder nach anderen Bildungen dessen suchen, interindividuell, was unbewusst sich aufdrängt, eben etwas Fremdes, das nach einer Darstellungsform sucht, etwas, das man alleine nicht erträgt, eine aushaltbare Teilhabe am Fremden, die zur Produktion bringt. So wird ein blinder Fleck weitergegeben, die Möglichkeit der Produktivität. Die Anerkenntnis des blinden Flecks treibt in die Produktion einer Ursache, die dann als Wirkung erscheint, nachträglich. Dieser blinde Fleck trennt und öffnet, hält in Bewegung, lässt nicht zur Ruhe kommen, ist nicht greifbar. Könnte man sagen, dass der blinde Fleck, selber Metapher, eine mögliche Metapher für die Vaterfunktion ist? Meine Schlussfolgerung: Didaktik schreibt Epigramme, die als Programme daher kommen. Gelesen habe ich den folgenden Satz Rainer Kokemohrs in diesem Sinne: „Die Analyse des Diskussionsdokumentes im neuen Theorierahmen […] hebt in der kommunikativen Bezugnahme auf den Diskussionspartner ein Begehren hervor, das in der Negation des A/anderen entwirft, was sich mit Lacan Objekt »a« nennen lässt und als blendendes Substitut die Unmöglichkeit autonomer Selbstverbürgung verschattet“ (Kokemohr in diesem Band: 25).

Er schreibt weiter, dass ein Bildungsprozess möglich werde, wo widerständige Erfahrung nicht als abstraktes Diskussions-, sondern als Handlungsproblem aufgenommen werde. Eines der Handlungsprobleme von Bildungsprozessen ist das Lehren, im Lehren ist man mitten im Gemenge des zeitweiligen Herstellens von Realität, als eines Zusammenhalts von Symbolischem, Imaginärem und Realem. Der Lehrende spricht, er wird gehört, vielleicht auch verstanden, er produziert dabei unsichtbare Bilder bei sich und anderen (die kann man auch mit Powerpoint nicht an die Wand werfen), alle Beteiligten werden älter, verbrauchen sich.

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Bezug genommen wird im Text auf Augustinus’ Zeitaporie (Kokemohr in diesem Band: 33). Später stellt Rainer Kokemohr die Frage: „Was treibt die Bewegung vom unsagbar Realen über das imaginäre Vorstellen zum symbolischen Sagen an?“ (Kokemohr in diesem Band: 52). Als Antwort, die nur ein Orientierungsgeländer ist, könnte man geben: Es ist das Symptom, das treibt, das Reales, Imaginäres und Symbolisches notdürftig zusammenhält, und sich günstigenfalls immer wieder neu konstruiert. Will man das fassen, dessen habhaft werden, es manipulieren, geht das nur zwanghaft in der Annahme, damit endlich zu wissen, wie man es macht. Ohne eine Spur davon, ohne zumindest anzunehmen, dass es so ginge, kann man natürlich nicht lehren, überhaupt nicht leben. „Die Zwangsvorstellung schützt gegen das Unvorhergesehene, gegen das Eindringen von etwas Namenlosem, das Angst macht. Die Zwangsvorstellung schützt vor der Angst und der Bedrohung durch Leidenschaft oder Wahn, den sie signalisiert. Sie ist ein Schutzgeländer. Ein Schutz, wie man etwa von einem Fliegengitter spricht [Heute könnte man statt Fliegengitter auch Excel-Tabellen sagen, KJP]. Das bedeutet, dass die Zwangsvorstellung gleichzeitig vor dem Wahn schützt und ihn in einem gewissen Sinne aufbewahrt“, schreibt Lucien Israel (1984: 103).

Der Umbau des Symptoms ist eine hohe Anforderung. Dem blinden Fleck ähnlich fällt es erst auf, wenn man methodische Tricks anwendet oder pathologische Einschränkungen sich ereignen, wenn es festgefahren ist und Leiden verursacht, also dann, wenn man bemerkt, wie sehr man es liebt oder braucht. Deshalb bleibt es nur im Fluss in der Auseinandersetzung mit Fremdem, das heißt einer Mangelerfahrung, die in Bewegung versetzt; sei es der Mangel an Schutz, an Verarbeitungskapazität, an Wissen, an Geschick, an Orientierung, an Übersetzung … Rainer Kokemohr schreibt das so: „Das im Horizont des Mangels operierende Objekt »a« legt der Zugänglichkeit des original Unzugänglichen Spuren. Sein Flimmern in und zwischen den Ordnungen entwirft einen vom Anspruch eines Anderen markierten Vorstellungsraum, den zu erobern und auszubauen wir uns auf mögliche Bildungswege machen können“ (Kokemohr in diesem Band: 61).

Eine der Handlungsformen, dies zu tun, Rainer Kokemohr hat dies getan, und in meinem Text wird es schon symptomatisch, ist das Lehren. Man bemerkt dabei in der Regel, dass man nicht weiß, wie man treffend darstellen kann, was man weiß, das Wissen wird fremd und zwängt sich in eine Darstellungsform meist angesichts dieser Schüler und Studierenden, dieser Individuen, die einem Wissen unterstellen, einen zum Subjekt machen, das heißt Unbewusstes evozieren.

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Rainer Kokemohr bezieht sich auf ein Beispiel aus dem Bereich, den „man interkulturelle Kommunikation zu nennen sich angewöhnt hat“ (in diesem Band: 23). Versuchen möchte ich nun eine Art Parallelproduktion mit einem Beispiel aus dem Bereich, den man so selbstverständlich Lehren zu nennen pflegt, tatsächlich aber eine ganz vielfältige Interaktionsbeziehung ist. Dabei behaupte ich, wie schon erwähnt, dass Lehren ein Moment im Bildungsprozess sein kann. Ferner gehe ich davon aus, dass Lehren ein verändertes Selbst- und Weltverhältnis zu generieren beabsichtigt. Widerstände beim Lernen treten dabei am Fremden auf, sei es inhaltlich fremd, sei es in der methodischen Aufbereitung fremd oder in der Art und Weise, wie der konkrete Lehrende vorträgt oder wie zu hören die Adressaten in der Lage sind. Fremd kann das Gelehrte auch werden, wenn es an etwas rührt, das zu dem gehört, was Freud das „innere Ausland“ oder das Unheimliche nennt, an das also, was zu wissen man sich nicht traut. Neben den Widerständen, die schwer zu fassen und unberechenbar sind, gibt es allerdings auch Hindernisse. Ich komme darauf am Beispiel zurück. Für das Beispiel, das ich zum Ende meines Vortrages anführen werde, wähle ich die Psychoanalyse als sujet. Die Psychoanalyse ist aus mehreren Gründen eine permanente Bildungskrise. Sie hat es mit Menschen zu tun, die in einer Bildungskrise stecken. Sie leiden an Reminiszenzen, sie erleben etwas an sich, das wiewohl vertraut, ihnen fremd geworden ist, sie möchten etwas an sich nicht mehr so haben, werden es aber nicht los, weil sie es zu lieben und zu hassen gelernt haben. Diese Hassliebe ist der Kitt, der als Übertragung in Erscheinung tritt. Lehren ohne Übertragung ist nicht möglich. Die Psychoanalyse entwickelt sich als eine Antwort auf ein Verfehlen von Normen als inszenierte Bildungskrise. Nicht nur einzelne Individuen, die in der psychiatrischen Praxis Hilfe suchten, verfehlen eine Norm, sondern damit gleichzeitig wird das damals neue Verfahren selber, indem es als ein Hören auf das bisher Unerhörte entsteht, etwas, das der Norm bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten nicht mehr entspricht. Psychoanalyse verabschiedet sich aber keineswegs aus dem wissenschaftlichen Diskurs – jedenfalls nicht alle Psychoanalytiker – , sondern versucht, sich immer wieder an ihm neu zu formulieren und arbeitet mit Rücksicht auf Darstellbarkeit, d.h. sie beginnt eine Reflexion auf die medialen wie die institutionellen Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens in praxi. Idealerweise hält sie dabei eine Krise aus, die Krise ihrer eigenen Bildung als Wissenschaft, auf Wissenschaft hin. Wissenschaft oder wissenschaftlich anerkannt wird sie dabei bestenfalls nachträglich. Indem sie am Projekt der Aufklärung teilhat, leistet sie die Beachtung des je Unerhörten, auf der Grenze zum Singulären. Das bleibt nicht ohne Konse-

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quenzen für ihre Organisationsform, für ihren institutionellen Rahmen, der immer prekär bleibt. In Bezug auf den modischen Zwang zur Evaluation kann sie nicht mithalten, da sie in anderen qualitativen Zeithorizonten operiert, versucht aus dem Zirkel von Anspruch und Anspruchbefriedigung auszubrechen, weil es dabei um eine Anpassung und Einpassung, um Anschlussfähigkeit ginge, um Normierung. Sie erzielt Heilung, eine Darstellung von Bildung, nur in einer Art intentio obliqua, also nur dann, wenn sie sie vergisst und dennoch heilende Effekte erzielt, sozusagen als Dreingabe, als nicht kalkulierbaren Mehrwert. Überdeutlich wird das Problem, in das sie sich selber manövriert hat, wenn es um Fragen der Ausbildung geht, damit der Lehre, der Weitergabe, der Transmission. Alle bekannten Kontrollmechanismen, Auswahlmöglichkeiten von sogenannten geeigneten Kandidaten, alle Evaluationsinstrumente greifen erwiesenermaßen daneben (vgl. Cremerius 1987, Ortega 1991, Pommier 1997, Millot 1997). So bleibt ihr nichts anderes, denn als Bildungskrise sich zu etablieren. Also handelnd sich an die Überwindung der Fremdheit zu begeben, „subsumtionsresistente Erfahrung“ (Kokemohr) in einen Bildungsprozess einmünden zu lassen. In Bezug auf das Lehren formuliert Lacan die dabei auf der Tagesordnung stehende Frage so: „Wie lehren, was die Psychoanalyse uns lehrt?“ („Ce que la psychanalyse nous enseigne, comment l’enseigner?“ Lacan 1966: 439). Die Frage bringt in Anschlag, dass Lehren wohl möglich sein kann, dass man aber nicht weiß wie. Sie unterstellt eine Art Kollektiv, eine vorgestellte Gesellung, ein „uns“. Das (grammatische) Subjekt des Lehrens ist einmal der Fragesteller selber, dann die Psychoanalyse. Die unterstellte Gesellung ist schon belehrt. Ergänzen könnte man: Sie weiß aber nicht wie und zudem nicht, wie das noch einmal – wahrscheinlich anders – lehrbar sei. Dieses Bündel an Ungewissheiten könnte man jetzt auf verschiedenen Ebenen angehen und entfalten. Ich entscheide mich hier für einen fast konkretistisch zu nennenden Zugang, einen der von einer Handlung ausgeht, dem Lehren selber. Lacan, der die obige Frage formuliert hat, eine Frage, die man auch einen Seufzer nennen könnte, hat selber gelehrt. Von einer Vorlesung gibt es ein Filmdokument. Dieser Bezug auf Lacan ist motiviert durch die Rezeption von Lacans Theoremen bei Rainer Kokemohr, gerade im vorliegenden Artikel. Ich möchte mich mit einem Filmbeispiel den Grenzen des in Bildungstheorie propositional Denkbaren (vgl. Kokemohr in diesem Band: 64) nähern. Nämlich mit der Frage: Gibt das Filmdokument einer Vorlesung von Lacan Aufschluss darüber, wie Lacan lehrt? Hätte man damit dann Anhaltspunkte gewonnen, wie man das, was die Psychoanalyse uns lehrt, lehren könnte? Nun ist das Beispiel keines, wovon ich sagen könnte: „Ja genau so sollte man lehren!“ Meine Vermutung geht dahin, dass Rainer Kokemohr mir darin

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zustimmen würde. Dennoch ist es – ich bekenne (je professe) – für mich vorbildlich, passagenweise macht es mir Vergnügen, dieser Art zuzuhören und zuzusehen, gerade auch weil ich so nicht verfahren würde oder könnte. An manchen Stellen wirkt der Vortrag peinlich und peinigend, geht an die Grenze des Ekels. – „Man wird hier auf ein Moment des Ekels aufmerksam, welches der libidinösen Überschätzung des Sexualobjekts in den Weg tritt, seinerseits aber durch die Libido überwunden werden kann“ (Freud 1914: 51). – Wichtigtuerische Betonungen, milde lächelnde Zustimmung heischende Blicke ins Publikum, extreme Verlangsamungen und Pausen, propositional relativ dürftige Sätze. Und ich bin ergriffen, fasziniert, bewundere den Mut des Auftritts, es kommt Zuneigung auf, unbeschadet der Überzeugung, dass ich es nie so machen würde, auch weil ich es nicht könnte. Ich bedauere oft, dass ich zu viele Skrupel habe, ähnlich zu agieren. D.h. ich bin ambivalent. So komme ich zu der für mich irritierenden Feststellung: Wenn Lacan nicht so oder in anderen Situationen ähnlich gelehrt hätte, dann gäbe es die Texte nicht oder sie wären uns kaum bekannt geworden, die Texte, auf die wir, z.B. Rainer Kokemohr und auch ich, uns beziehen und durch sie angeregt und anregend weiterarbeiten. Und weiter: Eben dies im Film zu sehende Gehabe Lacans hat über Leute, die damals dabei waren oder davon vom Hörensagen wissen, auch genau die gegenteilige Wirkung getan: sie sind entsetzt und bekämpfen Lacans Theoreme und durch ihn angeregte Handlungsweisen genau wegen des Stils und suchen Halt für ihre Gegnerschaft bis Feindschaft in pointiert rezipierten Aussagen. 1 Und dann gibt es noch die unseligen Geschöpfe, die in eine Identifikation mit Lacan geraten sind und es bis an ihr Lebensende wohl kaum schaffen, den verschlungenen Lacan zu verdauen und teilweise auszuscheiden. Sie haben ihre Einzigartigkeit mit ihm verschluckt und müssen jetzt als Zombies leben. Ich setze noch einmal anders ein: Mit einem fernen Reflex auf Augustinus’ De magistro beginnt Lacan in Television zu sprechen: „Ich sage immer die Wahrheit: nicht die ganze, denn die ganze zu sagen, erreicht man nicht. Sie ganz zu sagen, das ist unmöglich, materiell: da fehlen die Worte. Gerade durch dieses Unmögliche hängt die Wahrheit am Realen. Ich will also gestehen, daß ich versucht habe auf diese Komödie hier einzugehen, und daß das in den Papierkorb gehörte“ (Lacan 1970: 61).

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Siehe nur das Titelbild zu Borch-Jacobsen 1999. Die Kritik und das dort abgebildete Zitat hat er jetzt noch einmal im Livre Noir de la psychanalyse ausgewalzt.

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Lacan hat seine transkribierten Ausführungen nicht in den Papierkorb geworfen. Sie wären lange entsorgt worden, wir könnten sie nicht lesen. Wir können sie nun lesen als Seiten, die eigentlich in den Papierkorb gehören. Freud hat viel weggeschmissen. Die Äußerung Lacans scheint mir eine gute Lese- und Lernanweisung zu sein: „daß ich versucht habe auf diese Komödie hier einzugehen, und daß das in den Papierkorb gehörte“. Etwas, das beinahe zerstört worden wäre, was beinahe nicht zu lesen gewesen wäre, etwas, womit der Autor unzufrieden war, etwas, was er so gerade eben nicht zerstört hat, vielleicht weil doch zu viel Mühe darin steckte, weil er es nicht besser sagen konnte, weil er zu faul war, es besser zu schreiben, weil andere ihm gesagt haben: „Das war ganz gut. Schmeiß es nicht weg“, weil er kokettiert. Man weiß es nicht. Lacan bezeichnet das als eine Komödie. Überhaupt wohl seine ganze Performance im Fernsehen. Dem kann man auch zustimmen. Der Name țȦȝȦįȓĮ (kǀmǀdía) wurde von Aristoteles von țȦȝȐȗİȚȞ (kǀmázein) abgeleitet: „ausgelassen schwärmen“. Ausgelassen, also sich selbst überschreitend, nicht mehr unter Kontrolle. Die Komödie kann als ein Maskenspiel gelten. Aristoteles leitet die Komödie ab aus den Chorgesängen. Der Chor trat auf als unmaskierte Phallophoren und Ichtyphallen und singt Phalloslieder (vgl. Aristoteles 1982: 1448a 9 ff.). „Charakteristisch für die Alte Komödie ist die zentrale Bedeutung der Rüge an Personen und Institutionen, privaten und öffentlichen, die ganz der Bindung an den Demos des Gemeindestaates Athen entspricht“ (Gelzer 1969: 334).

Entscheidend für die zur Aufführung zugelassenen Komödien sei – so Gelzer weiter – der Mut der Dichter zur Anprangerung des Schlechten und Verkehrten gewesen. Der Spott verstehe sich als Dienst am Nomos, dem Gesetz. Das könnte eine Umschreibung für ein „Dennoch“ sein. Wie wir wissen und lesen können, hat Lacan dennoch gelehrt, dennoch das publiziert und publizieren lassen, was er lehrend gesagt hat, obwohl es in den Papierkorb gehört. Anstelle einer als scholastisch zu bezeichnenden Überzeugung von der Unmöglichkeit des zutreffenden Sprechens – man könnte das mit Stücken aus Lacan durchaus argumentativ belegen – entwickelt Lacan beispielsweise im Seminar VII eine Ethik und weist auf die sexuelle Identifikation im Sprechen hin (vgl. Glejzer 1999: 47), die struktural gesehen sich als Differenz auswirkt, und zwar als eine je besondere Differenz. So bleiben zwei Körper in der Sprache und beim Sprechen, die sich oft sehnen eins zu werden und es scheint manchmal so, dass sie es werden. (Die theologische Lösung des Problems endet so auch bei einem symbolischen Kannibalismus.)

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Vielleicht wirft das ein Licht auf die Abneigung gegen dogmatische Imitatoren und Vereinfacher: Sie erinnern mich daran, dass man sich nicht verschmelzen darf, dass ich es vielleicht hier und da tat, mit der Absicht etwas zu Meinem zu machen, in der guten Meinung, Doxa. Sie weisen auf das, was ich mir ersparen wollte. Also: Wie lehren? Wie lehren, um Bildungsprozesse anzuschieben, wahrscheinlich zu machen, Bildungsprozesse, die in Figuren propositionalen Denkens beschrieben und begründet, ihrer Performanz im Wege stehen. Sie stehen vielleicht auch der Wahrnehmung einer Performanz von Bildung entgegen. Lacan selber fordert seine Zuhörer im Vortrag „Die Psychoanalyse und ihre Lehre“ dazu auf, den Interferenzen der Stimme des Diskurses mehr Aufmerksamkeit zu widmen (Lacan 1966: 443), dadurch würde vielleicht hörbar, „was einen jeden von uns an ein Diskursstück klebt, das lebendiger als selbst sein Leben ist“ (ebd.: 446). Da es niemanden, auch Goethe nicht, gelungen sei, sich „das aus der Gurgel“ zu würgen, wie dieser Zusammenhang zu denken sei, „ist ein jeder von uns verdammt, […] sich zum lebendigen Alphabet des Diskursbruchstückes zu machen. Das heißt, dass er auf allen Ebenen des Spiels seiner Marionette ein Element entlehnt, damit deren Abfolge ausreicht, einen Text zu bezeugen, ohne den das Begehren, das dort eskortiert wird, nicht unzerstörbar wäre“ (ebd). In meinen Worten, die natürlich auch nicht aus meinem Besitz kommen: Die Freiheit wissenschaftlicher Argumentation von der Bindung an den, der ihr eine Stimme verleiht, ist nur scheinbar eine. In der Stimme werden die Interferenzen hörbar, vernehmbar. Deutbar wird, was daran für den Lehrenden der treibende Konflikt ist, der ihn beim Lehren hält. Reinigt man den Vortrag des Lehrenden davon, schneidet das effektiv von bildenden Wirkungen ab, und produziert zwanghaft auswegloses Wissen. Der Lehrende und der Forscher gleichermaßen sind das Alphabet, also ein Set von Artikulationselementen für den Diskurs und seine Wahrnehmbarkeit, gerade mit den Anteilen, wo ihnen etwas fehlt oder etwas zuviel da ist (also zwanghaft oder hysterisch). Weil konfliktuös, kann das nie konsistent sein, sondern produziert Interferenzen. Vorgebliche Konsistenz macht entweder taub oder wird wahrnehmbar als zwanghafter Versuch der Bemeisterung. Um dennoch ein Spiel vorzuführen, müssen die Elemente gebunden werden oder zur Bindung beim Hören fähig werden. Das geschieht auf der Basis der Offenheit des Hörers für die Erfahrung von treibenden Konflikten und die Offenheit für den Hörer und das Sujet von Seiten des Lehrenden. Darüber hat der Lehrer keine Macht, bestenfalls davon eine Ahnung. Ein Lehren (professer), das so vorgeht, erfordert und fördert Zeugenschaft. Der Zeuge erzählt davon, was der andere nicht wissen kann, von etwas, das nicht da, nicht präsent ist in aller Klarheit. Bezeugt wird ein Konflikt. Der Lehrende wird von einem Symptom getrieben, will es vielleicht dabei loswerden,

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er bezeugt, dass er redend lehren und schreiben muss, er zeugt von Zufälligkeiten (d.h. Symptomen), die er aufnimmt und nicht rationalisiert, was zu weiteren Konstruktionen führen, neue Gestalten annehmen kann, zum Beispiel im Dialog oder als die Fähigkeit zur Intelligenz, d.h. Fähigkeit dazwischen zu lesen und zu hören. Eine solche Produktion wäre die Eskorte, der Begleitschutz des Begehrens. Ist der Film „Jacques Lacan parle“ 2 schon ein abstract dessen, was er aufzeichnet, so ist die schriftliche Fassung des Symposiumvortrages, in den Filmausschnitte eingespielt wurden, eine weitere Abstraktion. Hilfsweise verbinde ich hier nun einige Videostills mit deutschen Untertiteln und Kommentaren zu den Ausschnitten. 00:30–01:30

Lacan betritt den Saal und lässt sich für die Rede fertig machen. Rauchend. Damals weniger schockierend, als dies heute wäre. Er sieht noch verhalten in den Saal. Lässt sich erblicken. Grüßt hier und da. Ist bei der Konstruktion des „uns“, indem er einzelne wieder erkennend grüsst und das Publikum lobt. 04:10–04:30 Der Gastgeber, Jacques Schotte, Psychiater und Psychoanalytiker an der Universität Louvain, betont in der Einleitung, dass alle nun die Möglichkeit hätten, „ihn hören zu können, anstatt ihn lesen zu müssen“. Das Publikum klatscht leicht auflachend Beifall. Die unterschiedlichen Präsentationsformen der Lehre werden angesprochen. Das Publikum verspricht sich etwas vom mündlichen Vortrag, eine Erleichterung gegenüber dem Lesen, ein Ausschalten von Hindernissen und Widerständen. Und jetzt komme ich zu dem Hindernis. Im folgenden Ausschnitt inszeniert Lacan eine Unmöglichkeit des Lehrens, nämlich die Frage danach, ob 2

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Jacques Lacan parle / un film réalisé par Françoise Wolff. – Belgique: Radio Télévision belge francophone, 1982. Conférence de Louvain 56 min. Extraits d’une conférence donnée par Jacques Lacan le 13 octobre 1972 à l'Université catholique de Louvain, suivis d'un entretien avec Françoise Wolff.

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man ihn, den Lehrenden hören könne. Wenn man ihn nicht hört, dann kann man streng genommen auf Fragen nicht antworten. Es folgen aber bejahende und verneinende Zurufe. Lacan zupft daraufhin am unter einer Krawatte befestigten Mikrophon.

05:00–06:04 „Ich wäre den Leuten, die an der Peripherie sind, dankbar, mir zu signalisieren, auf eine Art, die ihnen entgegenkommt, ob man mich hört oder nicht; da ich diese Sorte von Utensil nicht über die Maßen liebe, habe ich es unter die Krawatte gesteckt. Aber, wenn durch Zufall, das zum Hindernis wird, haben sie bitte die Freundlichkeit, mir das zu sagen. Hört man? Man hört nicht? (Lachen). Und so, hört man mich? Geht es? Also, die Krawatte war demnach ein Hindernis.“ 3

Er unterscheidet zwischen Vortrag und Unterricht. Er gibt den Zuhörern einen Platz, bestimmt die Grenzen des Raumes topographisch und in der Folge topologisch. Er spricht die Zuhörer an, die an der Peripherie sitzen. Er erklärt die Zuhörer zu einer unbekannten Menge, aus der vorher schon einige, mit denen man reden konnte, extrahiert wurden. Das produziert Rivalität um Nähe und Auserwähltsein.

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Notiert nach dem Video. Außerdem existiert eine Mitschrift des gesamten Vortrags, die ich zur Hilfe nahm (Quarto. Supplement belge à La lettre mensuelle de l’Ècole de la cause freudienne, 1981, n° 3, pp. 5–20). Übersetzung von mir (KJP).

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Dann wiederum lobt er, wenn auch ironisch, das hier massenhafte anwesende Publikum, attestiert ihm eine Gemeinsamkeit auf dem Weg. Er versteht sich als Lehrer, wohl auch als Meister, der etwas so aus der Erfahrung heraus sagen will, dass es Wirkungen zeigt. 07:00–07:35 „ Ich habe nie die mindeste Absicht gehabt, Ihnen einen Vortrag zu halten, aber ich habe eine Lehre (enseignement); ich mache das seit, ja seit sehr langer Zeit, schlussendlich, ich mache das seit 17 Jahren, [und bitte glauben Sie mir, ich bereite es vor; aber um prinzipiell dahin zu kommen, zu Leuten zu sprechen, die zwangsläufig nichts haben als dieses Neugierding, endlich, nicht wahr, dieses Ding, dass sich weitertreibt auf nicht an Personen gebundenen, nicht wahrnehmbaren Wegen, und sicherlich mir unbekannt, auf diesen Wegen, die mich veranlassen, immer eher denen glauben zu müssen, die man mein Publikum nennt/ nicht in den Film aufgenommen]“.

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Die Pausen beim Vortragen evozieren den Eindruck, dass Lacan ungerichtet die Aufmerksamkeit für sein Reden sicherstellen will, gerade durch Schweigen. Er lässt der Arbeit an der Füllung der Zwischenräume zwischen den Signifikanten Platz, erhöht die Spannung und die Spekulation. Der Fortgang wirkt erleichternd, mit dem Meister hatte man gebangt, ob der Satz ein Ende fände. Mit den Pausen und Verzögerungen lädt Lacan den Raum auf, der zwischen ihm und dem Publikum zunächst wahrscheinlich nur von vagen, jedenfalls nicht in gemeinsamer Raumzeit artikulierten oder imaginierten Erwartungen erfüllt war. Er produziert so etwas wie stillstehende Zeit. (Das hat auch etwas mit Hypnose zu tun.) Im gesprochenen Wort, beim Sprechen weiten sich die Grenzen des in seine Haut eingeschlossen gedachten Individuums als abgrenzbarer Körper. Ohne die Öffnung durch die Einrichtung eines Sprachraumes scheinen die Individuen klar abgegrenzt und distanziert. In dieser Betrachtungsweise nehmen sich Individuen Platz weg, sie besetzen Orte, an denen nie gleichzeitig zwei sein können. Auf dieser Ebene bleibt es letztlich ein quantitatives Problem, wie viele Individuen in einen Raum passen. Bei ganz dichter Packung können sie ein Stückchen näher rücken, um in Verbindung zu kommen. Bei großer Nähe können sich Individuen noch durch geeignete Körperöffnungen miteinander verkoppeln, also an den Stellen, wo jenseits der äußeren Gestalt innerlich noch Hohlräume füllbar sind. Und Flüssigkeit kommt noch ein Stückchen weiter. Deshalb lehrten die Griechen mit Einflößung, eine gewitzte Möglichkeit, Platz im anderen einzunehmen und gleichzeitig etwas von sich loszulassen. Die andere radikale Lösung um Platz zu schaffen, wäre Totschlag und Verspeisen. Das Faktum, dass Individuen physisch Raum verbrauchen, wird auch beim Sprechen erhalten, aber Sprechen ist von anderer Konsistenz und strukturiert den Raum nicht durch Körper. Sprechen nimmt physisch keinen Raum ein, schließt nicht per se aus dem erweiterten Raum aus. Es erlaubt gleichzeitigen Aufenthalt von zwei und mehr Individuen auf demselben Feld, weil die Plätze nur symbolisch sind. Sprech- und Hörraum sind nicht genuiner Besitz, es ist immer ein Raum und eine Zeit der Mitteilung, Zeit und Raum, den man sich teilen kann. Er muss symbolisch abgegrenzt werden durch die Zuteilung und die Einnahme symbolischer, mit Imaginationen aufgeladener Plätze. Symbolisch und mit Macht. Der Raum wird topologisch. Der „Körper“ bleibt außerhalb der Sprache, nur bei der Artikulation und beim Hören selber, wird er an den Grenzen affiziert und zwar so, dass etwas erregt wird, beispielsweise an den in nicht genau bestimmbarer Weise innen liegenden Organen, den Stimmbändern, dem Zäpfchen, der Zunge, den Zähnen und den Lippen, den Ohren, dem Trommelfell. Die genannten Organe werden dabei zu Differenzflächen, zur Voraussetzung des Symbolisierens ausgehend von real agierenden Körpern.

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Lehren – nicht nur in der Psychoanalyse, aber in dieser im Besonderen – handelt vom und im Unbewussten (vgl. Glejzer 1999). Auf dieses kann man weder zeigen noch kann man es sehen oder hören oder sonstwie den Sinnen zugänglich machen, es so herrichten, gestalten, dass es als eindeutig Repräsentierbares erschiene. Die Sprache bringt die Individuen in einer Lehr-Lern-Beziehung in je partikulare Positionen. Die Signifikanten, die sie sprechen, sind nicht das, was sie lehren wollen. Erst mit der Intonation zusammen, der Färbung durchs Hören, der möglichen Aufmerksamkeit können sie vernommen werden. Es kann also passieren, dass ein und dieselben Signifikanten einen Lernprozess initiieren oder auch nicht. Im günstigen Fall veranlassen Worte ein Subjekt, nach Bedeutungen zu suchen, sich zu erinnern. Dann macht er das zum Thema, was vielleicht dort erwartet wird, Kommunikation und lobt ironisch das Publikum. 08:15–10:20 „Man stellt sich Fragen, wie immer da, wo man schon eine Antwort hat, das schafft den Eindruck, die Tragweite der Fragen sehr zu begrenzen; nichtsdestotrotz, das war für mich eine Gelegenheit abzuschätzen, was für jeden eine Antwort war. Offenbar unterscheiden sich die Antworten für jeden. Das selbst ist es, was für das ein Hindernis darstellt, was man so nett die Kommunikation nennt. Nun, ich sehe, dass ich ein Auditorium habe. Die Kommunikation, aha sympathische Leute, die Kommunikation, das lässt lachen; gut, das ist für mich eine sehr lebhafte Ermutigung; wenn Sie schon so weit sind, dann kann man etwas weiter gehen, ein wenig; verlangen Sie nicht mehr von mir“.

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10:20–11:53 Er führt aus, was er unter Diskurs versteht. Dabei sieht der Zuschauer des Films, wie einige Hörer im Saal mitschreiben. Mitschreiben als Versicherung des Gesagten, Festlegung des gesprochenen Wortes.

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10:22–12:13 „Ich nenne Diskurs …“ Er fängt an, Worte regelrecht auszustoßen, sie wirken wie Boliden mit nur einem kleinen Sym daran. „[Das Ding, wovon ich heute Abend wünschte, dass Sie ein bisschen ein Gefühl bekämen, weil ich doch annehme, dass es nicht alle haben, abgesehen von denjenigen, die mich hier willkommen heißen, – nämlich davon, was die Psychoanalyse ist. Da, wo ich jetzt bin, wo Sie noch nicht sind, selbstverständlich, das habe ich einen Diskurs genannt.] Natürlich, muss man wissen, was ich damit, mit einem Diskurs, meine; was ich damit meine, ist Folgendes: ein Diskurs, das ist diese Art soziales Band, das ist das sprechende Wesen, wie wir es einvernehmlich nennen, wenn Sie auch so wollen, was ein Pleonasmus ist, nicht wahr? Das ist so, weil es sprechend ist, dass es Sein ist, da es nur in der Sprache Sein gibt. Also der Sprechende – Sprechende sind sie alle, zumindest unterstelle ich das – der Sprechende, wie Sie alle sind, glaubt von sich in einem gut Teil der Fälle zu sein, jedenfalls in diesem; es reicht es von sich zu glauben, um dieses sprechende Sein zu sein in irgendeiner Weise“.

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LEHREN ALS MOMENT IM BILDUNGSPROZESS

14:50–16:51 Der Tod ist die Domäne des Glaubens (jetzt wird das Einhämmern noch stärker. Er schlägt stellvertretend auf den Tisch). „Der Tod ist die Domäne des Glaubens. Sie haben vollkommen Recht zu glauben, dass sie sterben werden, ganz sicher; das hält sie aufrecht. Wenn Sie daran nicht glauben, könnten sie dann das Leben ertragen, das sie haben? Wenn man nicht verlässlich auf diese Sicherheit gestützt wäre, dass das zu Ende geht, könnten Sie diese Geschichte ertragen? Nichtsdestotrotz, das ist nichts als ein Akt des Glaubens; die Krönung von allem ist, dass Sie nicht sicher sind. Warum? Gibt es nicht den einen oder die andere, die nicht 150 Jahre lebten? Aber schlussendlich genau das ist es, woher der Glaube seine Kraft nimmt. “.

18:42–19:42 Einzig das Leben ist etwas Solides, es ist gewiss (Lacan klopft auf den Tisch, an dem er steht.) 18:05–18:42 „Nur das, das Leben, ist etwas Tragfähiges, das woraus wir gerade leben. Im Leben, von da an, von wo man von ihm als solchem redet, selbstverständlich das Leben leben wir, das ist nicht zweifelhaft, das merkt man sogar in jedem Moment; oft geht es darum es zu denken, das Leben als Konzept zu nehmen“.

20:00–21:24 „[Freud war dennoch ein wenig seriöser, er hat dennoch gesagt,] dass die Übertragung die Liebe pur und einfach ist. Warum liebt man ein solches Sein? Ich lasse für den Moment die Frage offen. Ich habe dafür eine Formel, und die ist in Bezug auf die Übertragung, von der ich in Termen voller Fallen gesprochen habe, wie gewohnt, wie bei allem, wovon ich spreche. Warum würde ich etwas anderes sagen, als das worum es gerade geht, wenn es sich um das Unbewusste dreht, zu wissen, dass die Sprache das nicht hat, das nie hergibt, das nie erlaubt, etwas anderes zu formulieren als Dinge, die 3, 4, 25 Bedeutungen haben, das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird“.

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21:30–22:10 Zwischenfall

Aufgezeichnet ist hier eine Reaktion jenseits des Sprechens durch direkte, wenn auch immer noch fast durchwegs symbolische Aktion. Diese mag vorbereitet gewesen sein. Wahrnehmbar ist die Aktion aber auch als ein spontaner Rückschlag auf das invasive Sprechen hin. Gezeigt wird die prekäre Reaktion des Lehrers, der mühsam wieder ins Sprechen kommt. Er hat die Spuren der Intervention am Leib (Wasser mit Papierklümpchen?). Pflückt sie sprechend ab, die Verunreinigung. Nun könnte man sich fragen, welchem Diskurs das zuzurechnen ist, wie Lacan hier verfährt. Nahe läge, den Diskurs der Universität hier am Werk zu sehen. Lacan redet als Wissender, als einer, der etwas weiß. Das Wissen findet sich an den Platz des Agenten gestellt. Aber es ist nicht nur dort. Das sprechende Subjekt verliert nicht jegliche Besonderheit, es ist sogar singulär. Ebenso sieht man am Platz des Agenten jenes Objekt a, das immer schon nie erreichte, den Mangel. Warum sonst sollte Lacan so beschwörend reden, in den Pausen etwas einfangen wollen. Er redet wie ein Analysant und macht Pausen wie ein Analytiker. Die Pausen wären als Schweigen, auch als Versuch zu hören, was im Publikum sich tut, aufzunehmen. Das wäre ein Kennzeichen des Diskurses des Analytikers. Auch wendet sich das Subjekt, das vom Symbolischen durchkreuzte, hier an den Meister. Das Publikum bringt Lacan zur Produktion, sogar handfest

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durch einen Vertreter. Und umgekehrt. Demnach befänden wir uns im Diskurs der Hysterie. Lacan gibt aber auch den Meister, er definiert, setzt, diktiert (zum Mitschreiben). Nun sind das nur Andeutungen. Aber vielleicht kann man daraus schon vorläufig eine untersuchenswerte Hypothese aufstellen: Zur Anregung von Bildungsprozessen, die dem Fremdem nicht ratlos ausweichen müssen oder es verdrängen, gar verwerfen, gehört das Wagnis der Mischung der vier Diskurse, insbesondere gilt das für das Lehren als Moment von Bildungsprozessen. Personen, die dieses Wagnis eingehen, sind in der Gefahr, der Häme ausgesetzt zu sein, denn sie verunglücken oft bei solchen Balanceakten, manchmal für kurze Zeit, manchmal auch für längere. Die andere Seite der Häme ist die Verehrung, eben weil es so selten gelingt. Als Problem bleibt, dass man die Mischung nicht wirklich intentional erreichen kann. Besonders die Strukturmerkmale des Diskurses des Analytikers sind schwer in eine Institution wie die Universität einzubringen und in Performance zu setzen. Dazu muss man allerdings auch nicht Analytiker sein – von der Ausbildung her. Rainer Kokemohr, so hieß es im Einladungsschreiben zu dieser Veranstaltung, liebt die Formalitäten nicht. Ich bezweifele das. Er möchte nur manchmal nicht gesehen werden. Wie sonst käme man auf die Idee, in Buchholz zu wohnen. Er möchte verschwinden, ablenken von sich. Ein wirksames Symptom. Er wurde besprochen.

Literatur Aristoteles (1982): Poetik. Stuttgart: Reclam. Borch-Jacobsen, Mikkel (1999): Lacan. Der absolute Herr und Meister. München: Fink. Cremerius, Johannes (1987): »Für eine psychoanalyse-gerechte Ausbildung!«. Psyche 41, S. 1067–1096. Freud, Sigmund (1914): »Die sexuellen Abirrungen«. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. V, Frankfurt/M. 1969: Fischer, S. 47–80. Gelzer, Thomas (1969): Die Komödie. Lexikon der Alten Welt. Auswahl als: dtv-Lexikon der Antike, Bd. 2, München. Glejzer, Richard R. (1999): »Lacan with Scholaticism: Agencies of the Letter«. In: Ellie Ragland (Hg.), Critical Essays on Jacques Lacan, New York: Hall, S. 36–48. Israël, Lucien (1984): Initiation à la psychiatrie, Paris: Masson. Lacan, Jacques (1966): »La Psychoanalyse et son Enseignement«. In: Ders.: Ecrits, Paris: du Seuil, S. 437–458. Lacan, Jacques (1970): Radiophonie, Television. Paris: du Seuil (1988). 179

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Millot, Catherine (1997): »Lehre und passe. Aktuelle Probleme der Analytikerausbildung«. Brief der psychoanalytischen Assoziation Die Zeit zum Begreifen, Nr. 19/20, S. 5–24. Ortega, Raúl Páramo (1991): »Die Verarmung der Psychoanalyse. Über den Verfall der psychoanalytischen Ausbildung«. Psyche 45, S. 61–83. Pommier, Gérard (1997): »Die Bildungen des Unbewußten und die Ausbildung des Analytikers«. Brief der Psychoanalytischen Assoziation Die Zeit zum Begreifen, Nr. 18, S. 5–16. Rosenstock-Huessy, Eugen (1956): Soziologie in zwei Bänden, Bd. 1, Stuttgart: Kohlhammer.

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ÜBER

FINDEN ZEIT.

DAS SCHWIERIGE

DER VERLORENEN

BIOGRAPHISIERUNGSPROZESSE IM FILM AUS BILDUNGSTHEORETISCHER PERSPEKTIVE WINFRIED MAROTZKI

Der von mir gewählten Haupttitel stellt eine Anspielung auf den Roman von Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ dar, der zwischen 1913 und 1927 erschienen ist. Diese Anspielung soll lediglich anzeigen, dass es in meinem Beitrag grundsätzlich um die Figuren des „Suchens“ und des „Findens“ im Rahmen biographischer Arbeit gehen soll. Klar ist dabei, dass der Begriff des „Findens“ schwierig ist. Man weiß nicht genau, was mit dem, was gefunden werden soll, gemeint ist: Ist es Wahrheit oder nur Gewissheit oder gar nur Beruhigung? Ist es eine Konstruktion? Ist es eine perspektivische Inszenierung? etc. Trotzdem ist es sinnvoll, sich den Figuren des Suchens und des Findens im Rahmen biographischer Arbeit anzunähern. In der vorliegenden Arbeit möchte ich dies anhand des filmischen Schaffens von Andrej Tarkowskij machen, insbesondere anhand seines 1975 erschienenen Films „Der Spiegel“. Theoretisch werde ich mich dabei durch die Überlegungen von Paul Ricœur leiten lassen, genauer durch sein Spätwerk, nämlich durch Schriften, die im Umkreis seines Hauptwerkes „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ (2004a) erschienen sind. Dass biographische Arbeit mit Erinnerungsarbeit zu großen Teilen identisch ist, bedarf an dieser Stelle nicht der näheren Erklärung. Der erste grundlegende Gedanke, den ich in Anlehnung an Ricœur herausheben möchte und der kurz erörtert werden soll, heißt: Erinnerungsarbeit ist zugleich Trauerarbeit. Ricœur bezieht sich bei der Exposition dieses Gedankens auf die dafür einschlägigen Schriften von Sigmund Freud, nämlich zum einen auf „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (Freud 1914) und zum anderen auf „Trauer und Melancholie“ (1917). Er sieht eine grundlegende Verwandtschaft zwischen Erinnerungsarbeit und Trauerarbeit. Trauer ist gemäß der bekannten Definition von Sigmund Freud die Reaktion auf einen Verlust. Vergangenheit stellt demzufolge einen Verlust dar, denn sie ist nicht mehr. Insofern ist nach 181

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Ricœur Erinnern immer auch die Bearbeitung eines Verlustes. In diesem Sinne sagt er: „Die Trauerarbeit ist der Preis der Erinnerungsarbeit, und die Erinnerungsarbeit ist der Gewinn der Trauerarbeit.“ (Ricœur 2004b: 106) Der Übergang von der Trauer zur Melancholie ist fließend. Freud nimmt eine klare analytische Unterscheidung vor, indem er sagt, dass bei der Trauer die Welt verarmt und leer, bei der Melancholie dagegen das Ich niedergeschlagen sei. Dabei ist auch ihm klar, dass es fließende Übergänge in beide Richtungen gibt. Ricœur zielt auf den gleichen Sachverhalt, argumentiert aber etwas anders. Unter den Spuren der Identität, die in der Erinnerungsarbeit freigelegt werden, würden sich auch Verletzungen und Kränkungen finden. Sie sind nach Freud die Ursachen dafür, dass Erinnerungsarbeit im Verdrängen oder im Agieren gefangen gehalten werden kann. Verlust, Verletzungen und Kränkungen müssen in irgendeiner Form bearbeitet werden. Aber in welcher Form werden sie im Rahmen biographischer Arbeit bearbeitet? Biographische Arbeit kann sich in verschiedenen Medien vollziehen: Sprache (Alltagsgespräche, Literatur), Malerei, Musik, Tanz etc. Unabhängig von der Medialität wird es aber immer darum gehen, die eigenen Selbst- und Weltreferenzen in ein einigermaßen bilanzierendes Verhältnis zu bringen. Eigentlich ist es von der Grundlogik her das, was Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) als „Manifestation“ beschrieben hat. Die Spuren der Subjekt-Objekt-Dialektik sind dort auch als kulturelle Artikulationen interpretierbar. Ich halte den Begriff der „Artikulation“ für grundlegend geeignet um biographische Arbeit in verschiedenen Medien beschreiben zu können. Schlette und Jung haben in ihrem Sammelband „Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven“ (2005) aus anthropologischer Perspektive das Konzept eines umfassenden Artikulationsbegriffs entwickelt. Dieser bezieht sich auf menschliche Selbst- und Weltverhältnisse und beansprucht, verschiedene Weisen der Erfahrungsverarbeitung zur Geltung bringen zu können. „Es geht [...] darum, Handlung und Erfahrung aus der inneren Differenziertheit der ErstePerson-Perspektive zu denken, in der das qualitative Erleben der Ersten Person Singular über Artikulationsprozesse mit dem kulturellen Wert- und Sinnhorizont der Ersten Person Plural verbunden ist.“ (Jung, zit. nach Schlette/Jung 2005: 13)

Der Vorteil eines kulturanthropologisch gefassten Artikulationsbegriffs ist es, dass er nicht an ein bestimmtes Artikulationsmedium gebunden ist, sondern auf ein multimediales Ausdruckskontinuum verweist: „wer sich artikuliert, deutet seine qualitative Erfahrung, indem er sie im Licht eines normativen Selbstbildes zur Sprache, zum Bild, zur Musik oder wozu auch immer bringt (bspw. Tanz, Installation, Kurzfilm etc. W.M.).“ (Jung 2005: 126). Die nichttextförmigen Medien lassen sich nicht in Text überführen, denn die „Artikula182

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tion qualitativer Erfahrung (ist, W.M.) intrinsisch auf das jeweilige Symbolmedium bezogen.“ (Jung 2005: 128). Der Sinn jener Artikulationsweisen wird wesentlich durch das jeweilige Medium bestimmt. Trotzdem sei der Sprache im expressiven Kontinuum von Ausdrucksbewegungen über lebensweltliche Artikulationen (wie etwa Körperhaltungen) bis hin zur expliziten begrifflichen – meta-reflexiven – Artikulation ein Sonderstatus zuzuweisen, da sie das einzige meta-expressive Medium sei (vgl. Jung 2005: 130 f.). In der vorliegenden Arbeit nutze ich den so gefassten Artikulationsbegriff, um mich der verschiedenen Ebenen biographischer Arbeit in einem Film zu nähern.

Biographische Arbeit in Andrej Tarkowskijs „Der Spiegel“ (1975) Der Film „Der Spiegel“ (1975) ist Andrej Tarkowskijs vierter großer Film. Sein erster Film, „Iwans Kindheit“ (1962), erzählt die Geschichte eines zwölfjährigen Waisenjungen, der im Zweiten Weltkrieg Kundschafter der Rotarmisten an der Ukrainefront wird und dabei den Tod findet. „Andrej Rubljow“ (1969) schildert den Lebensweg des legendären gleichnamigen Ikonenmalers (etwa 1360-1430) in acht Kapiteln. „Solaris“ (1972) ist eine filmische Interpretation des Science-Fiction-Romans von Stanislaw Lem. Sein vierter Film, „Der Spiegel“, ist in hohem Maße autobiographisch angelegt. Er stellt – bildungstheoretisch gesehen – den Prozess einer multimedialen und multimodalen Artikulation im Medium Film dar. Bereits 1964 äußerte Tarkowskij in einem Aufsatz die Idee zu einem Film, der die Gedanken, Erinnerungen und Träume, die innere Welt des Helden sichtbar werden lässt, ohne dass der Held, wie es in konventionellen narrativen Spielfilmen üblich ist, auftritt. Im selben Aufsatz spricht er von Kindheitserinnerungen, die im Film die Grundlage einer künstlerischen Rekonstruktion bilden könnten, jedoch nur unter der Bedingung, dass dabei nicht die spezifische emotionale Atmosphäre der Erinnerung verloren gehe. Wie erwähnt, ist der Film bis in die kleinsten Verästelungen hinein autobiographisch: Tarkowskij wurde am 4. April 1932 in Jurevec in der Nähe von Moskau geboren, zwei Jahre später seine Schwester. Der Vater war Schriftsteller. Er verließ die Familie 1937, so dass Andreij mit seiner Schwester allein mit der Mutter aufwuchs. Bekannte der Familie beschreiben den Weggang des Vaters und seine ständige Abwesenheit in der frühen Kindheit seines Sohnes als das Haupttrauma des jungen Andrej. Das ganze Leben der Mutter ist nun auf das Wohl der Kinder ausgerichtet. Weder wird sie ein zweites Mal heiraten noch mit einem Mann zusammenleben. 1954 beginnt Andrej sein Studium an der Filmhochschule in Moskau. 1960 macht er sein Regisseur-Diplom. Bereits sein erster Film „Iwans Kindheit“ wurde bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 183

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1962 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. In der Folge hatte er große Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur, weil seine Filme als subjektivistisch verschrien waren. In diesen Jahren haben Mutter und Sohn sich immer mehr entfremdet (vgl. Tarkowskij, L. 1998). Während der Krankheit der Mutter pflegt seine Schwester sie. Er selbst besucht seine Mutter kaum. Dennoch oder gerade weil die schwierigen Beziehungen zur Mutter bis zu ihrem Ende unausgesprochen blieben, ist der Tod der Mutter im Jahre 1979 für Tarkowskij ein äußerst schwerer Verlust, wie aus einem Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1979 ersichtlich wird. Das Gefühl, sein Leben ändern zu müssen wird nicht erst durch den Tod der Mutter ausgelöst. Das ganze Tagebuch ist seit Beginn der 70er Jahre von einem Grundton zunehmenden Selbstzweifels, Frustration und Enttäuschung gekennzeichnet. Das Gefühl, dass sein Leben in eine Sackgasse geraten sei, intensivierte sich jedoch durch den Tod der Mutter. Der Film „Der Spiegel“ wurde vier Jahre vor dem Tod der Mutter veröffentlicht. Tarkowskij bearbeitet das Verhältnis zu seinen Eltern in diesem Film auf verschiedenen Artikulationsebenen. Es ist der Verlust des Vaters, der in seiner Kindheit permanent abwesend ist; es ist der Verlust des Elternhauses und in gewisser Weise – durch die Entfremdung von der Mutter – auch der Verlust der Mutter. Der Tod ratifiziert gleichsam nur diesen schon vorher eingetretenen Verlust. Diese kurzen Andeutungen mögen den Zusammenhang der Biographie Tarkowskijs mit dem Film „Der Spiegel“ illustrieren. Im Folgenden wende ich mich nun dem Film selbst zu.

Die Rahmenhandlung „Der Spiegel“ gilt als der Film von Tarkowskij, der am schwersten zugänglich ist. Das liegt sicherlich daran, dass auf eine Narrationsstruktur vollständig verzichtet und ein Gebilde aus Assoziationen und Erinnerungsfragmenten präsentiert wird. Trotzdem lässt sich das Knäuel aus audiovisuellen Artikulationen etwas entwirren. Erst zum Schluss des Films erfahren wir, dass der Erzähler, der im Film nie gezeigt wird, krank im Bett liegt und seinen Erinnerungen nachhängt. Schauen wir uns diese Szene (1:34:40 – 1:36:30) etwas genauer an: Eine der Wände des Zimmers hängt voll mit Spiegeln unterschiedlichster Formen und Größen. Ein Arzt und zwei Frauen unterhalten sich über die Krankheit des Erzählers. Eine der Frauen wundert sich darüber, dass „eine Angina solche Folgen“ haben kann. Der Arzt gibt zu bedenken, dass der Zustand des Erzählers eher etwas mit seinem Gewissen und seiner Erinnerung zu tun habe: „Das ist das Gewissen, das Gedächtnis.“ Und eine Frau, die am Bett sitzt, fragt: „Was hat das damit zu tun? Meinen Sie, er trägt irgendeine Schuld“. Daraufhin sagt eine zweite Frau: „Nein, nein, aber er ist der Ansicht“. Der Protagonist des Films, der (scheinbar) krank im Bett liegt, sagt, dass sie ihn in 184

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Ruhe lassen solle. Die Kamera präsentiert nun das erste Mal den Erzähler (im Bett liegend), allerdings spart sie dabei das Gesicht aus und bewegt sich langsam über seinen Oberkörper von der Schulter bis zur Hand, die neben einem Vogel liegt. Der Erzähler wiederholt nochmals, dass sie ihn in Ruhe lassen sollen und dass er letzten Endes einfach nur glücklich sein wollte. Daraufhin fragt ihn die Frau, was denn aus seiner Mutter werden solle, wenn er nicht wieder aufsteht. Mit ruhiger Stimme erwidert er, dass schon alles gut gehen wird. Dann nimmt er den Vogel in die Hand, der neben ihm liegt und wirft ihn schließlich mit einem Seufzer in die Luft. Der Film stellt gleichsam die Erinnerungen und Träume des Erzählers dar. Sie erzählen die Geschichte zweier Generationen, die Aleksejs, so heißt der kleine Junge im Film, der wahrscheinlich für Andrej Tarkowskij steht, und die seiner Eltern innerhalb eines weitreichenden Kontexts der russischen Geschichte und der Weltgeschichte. Der Erzähler hat sich zurückgezogen, die Hast und Eile des Alltags hinter sich gelassen und er ist froh, nicht von banalen Dingen sprechen zu müssen. Er überdenkt sein Leben, seine Vergangenheit und gibt sich seinen Erinnerungen hin. Was und die Art und Weise, wie er erinnert, offenbart, dass er eine biographische Krise durchlebt. In seinen Erinnerungen, die „Der Spiegel“ zeigt, klingt permanent das Motiv der Wiederholung, des Illusorischen des Lebens wider. Die Gegenwart scheint fortwährend die Vergangenheit zu wiederholen. Die Schicksale, ja sogar das Äußere der Personen wiederholen sich. Der Erzähler schaut entfremdet und unbeteiligt auf sein Leben, als ob es unwillentlich an ihm vorüberzieht. Die Erinnerungen des Erzählers, denen der Zuschauer ja gewissermaßen hinterher eilt, vermitteln durch die ständigen Wiederholungen ein Gefühl der Apathie, Abgestumpftheit, Starre, Trägheit und Sinnlosigkeit. Eben dieses Gefühl macht die biographische Krise des Erzählers aus (die der Zuschauer mit ihm zusammen durchlebt). Er quält sich durch seine Erinnerungen, seine Vergangenheit, sein Leben und sieht sich mit unausweichlichen Seinsfragen konfrontiert. Dennoch bemüht er sich angestrengt, seiner Vergangenheit, seinem Leben einen Sinn zu geben, die Erinnerungsfragmente zu einer Einheit zusammenzufügen. Die biographische Krise des Erzählers erweist sich, wie das Finale des Films zeigt, letztendlich als Chance, als Chance der Hast und Eile des Alltags zu entfliehen, nachzudenken, eine neue und veränderte Einstellung zu seiner Vergangenheit und zu seinem Leben zu erlangen. Diese Deutung wird gestützt durch eine Äußerung Tarkowskijs zum Thema „geistige Krise“ in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“: „Für mich ist eine ‚geistige Krise‘ immer ein Zeichen von Gesundheit. Denn meiner Meinung nach bedeutet sie einen Versuch, zu sich selbst zu finden, einen neuen Glauben zu erlangen. In den Zustand einer geistigen Krise gerät jeder, der sich geistigen Problemen stellt. Und wie sollte das auch anders sein? Schließlich dürstet die Seele nach Harmonie, während das Leben

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WINFRIED MAROTZKI voller Disharmonien ist. In diesem Widerspruch liegt das Stimulans für Bewegung, zugleich aber auch die Quelle unseres Schmerzes und unserer Hoffnung“ (Tarkowskij 2000: 199).

Der abwesende/anwesende Vater Obwohl Tarkowskij während der Planungen des Films betonte, einen Film ausschließlich über seine Mutter machen zu wollen, ist „Zerkalo (Der Spiegel)“ gleichermaßen ein Film über seinen Vater. Während Tarkowskijs Mutter in „Zerkalo“ immer wieder auftritt, also anwesend ist, liest der Vater seine Gedichte im Off. Er ist überwiegend abwesend. Im Wesentlichen wirkt er durch seine Gedichte, so wie zu vermuten ist, dass der Vater in der Jugend Andrej Tarkowskijs weniger durch seine Anwesenheit, als durch sein künstlerisches Schaffen auf den Sohn wirkte. Schauen wir uns eine dafür bezeichnende Szene zu Beginn des Films (0:05:30 – 0:14:00) an. Wir sehen eine Landschaft und eine Frau, die ihre seidig glänzenden blonden Haare zu einem Knoten hochgesteckt hat. Alles in diesen auf den Vorspann folgenden Einstellungen ist in goldenes Sonnenlicht der Abenddämmerung getaucht, was dieser Szene eine nostalgische Stimmung und Sehnsucht nach der Vergangenheit verleiht. Einen Schatten auf diese Idylle werfen jedoch die Worte des Erzählers über die Abwesenheit des Vaters und das Warten auf ihn, das mit der Frage verbunden ist, ob er jemals zurückkehren wird. Zu den Worten des Erzählers nähert sich aus der Ferne ein Mann in schwarzer Kleidung, der sich jedoch entgegen der im Zuschauer geweckten Erwartung nicht als der Vater, sondern als Unbekannter entpuppt, der sich lediglich bei der Frau nach dem Weg erkundigt. Während das Rezitieren des Gedichts im Off fortgesetzt wird, sieht man noch einmal den kleinen Jungen und das kleine Mädchen erst außerhalb, dann innerhalb eines dunklen, doch gemütlichen Hauses. Die Kamera fängt immer wieder die Mutter ein und zeichnet sie als einsame und verletzte Person. Im Gedicht zelebrieren die Liebenden derweil ihr Treffen und die Frau führt das lyrische Ich in ihr „Reich auf der anderen Seite des Spiegels“. Der ganze Film ist mit Spiegeln, sich spiegelnden Flächen, Spiegelungen aller Art überfrachtet, die die Welt, Dinge und menschlichen Beziehungen verdoppeln, verzerren, brechen und in einem neuen, veränderten und verfremdeten Licht erscheinen lassen. Doch für jeden, der in den Spiegel schaut, hält er etwas anderes bereit. Der Blick in das verheißungsvolle „Reich auf der anderen Seite des Spiegels“ endete für die Mutter in offensichtlicher Einsamkeit, Verletzung und Traurigkeit. Das Gedicht erhält durch das Schicksal der Mutter eine bittere Note und seine oben aufgezeigte Thematik verschiebt sich in Richtung der Thematik von Sehnsucht und Trauer über die verlorene Liebe. Doch die Bilder des Gedichts und des Films kontrastieren nicht nur, sondern das po186

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etische Bild wird auch manchmal durch das filmische Bild visualisiert. So schwenkt die Kamera an Maria vorbei zum offenen Fenster und zeigt „einfache Dinge“, wie Regen, einen Holztisch, auf dem ein Glas mit Wasser, ein altes Bügeleisen und eine Decke liegen, die sich durch den langsamen Rhythmus der Kamerafahrt „verwandeln“. Diese Einstellung stellt eine Visualisierung einer Zeile aus dem Gedicht dar, die im selben Augenblick im Off zu hören ist. So wie im Gedicht die Liebe die Alltagsgegenstände verwandelt, erscheinen im Film Vasen, Krüge, Schüsseln, Tische, Vorhänge, Regen usw. im Spiegel der Kindheitserinnerungen in geheimnisvoller, verfremdeter, eben verwandelter Form. Die letzten Zeilen des Gedichts, die vor dem Hintergrund des Gesichts der weinenden Mutter in Großaufnahme zu vernehmen sind, machen noch einmal den Vergangenheitscharakter der „Ersten Begegnungen“ deutlich. Die Trauerarbeit erfolgt auf der Ebene der Konfiguration durch das Arrangieren verschiedener Ebenen. In der eben beschriebenen Szene ist es die Konfiguration von Gedicht und Bild, von visueller und akustischer Erinnerung, die die Artikulationsleistung erbringt. Der Vater wird in dem Film drei Mal nur kurz gezeigt, zwei Mal in Traumsequenzen und einmal als Kriegsheimkehrer. Im Traum kann der Vater als die Mutter liebend vorgestellt werden. Aber auch hier gibt es Boten der Erosion der Beziehung. Ein dafür beispielhafter Traum in der ersten Hälfte des Films (0:16:10 – 0:18:40) zeigt den kleinen Jungen Aleksej, im Bett liegend. Er richtet sich auf und sagt leise „Papa“. Der Junge steht auf und geht zur offenen Tür, die ins Nachbarzimmer führt, und blickt hinein. Darauf folgt eine Einstellung, die einen Mann mit nacktem Oberkörper zeigt, der liebevoll Wasser aus einem Topf über die Haare der Mutter gießt, die sich über eine Schüssel gebeugt hat. Der Zuschauer wird den Mann aufgrund der vorhergehenden Episoden und des Ausrufs des Kindes als den Vater des Jungen und Ehemann der Mutter identifizieren, was durch eine spätere Episode bestätigt wird. Die Mutter hebt langsam den Kopf aus der Schüssel und lässt die schulterlangen Haare, die ihr nach vorne über das Gesicht hängen, abtropfen. Putz fällt von der stuckverzierten Decke. Dann schaut die junge Marija in den Spiegel und ihr blickt das eigene Antlitz als alte Frau entgegen. Sie begegnet ihrem zukünftigen Selbst. Auf die Einstellung mit der jungen Mutter, über deren Schultern ein Tuch hängt, folgt eine Einstellung mit einer alten Frau, die sich im Spiegel betrachtet und über deren Schultern ebenfalls ein Tuch hängt. Der Film liefert dem Zuschauer erst später die Information, die ihn entschlüsseln lässt, dass es sich bei der alten Frau, um die Mutter in fortgeschrittenem Alter (ca. 40 Jahre später) handelt. Die zweite Traumsequenz (1:29:00 – 1:30:00) ist eingebettet in eine Erinnerung an Kriegszeiten. Marija und Aleksej befinden sich auf dem Lande bei Moskau. Wir sehen ein von Wald- und Wiesenlandschaft umgebenes Bauernhaus. Der junge Aleksej und seine Mutter gehen auf das Bauernhaus zu. Im 187

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Eingang des Hauses steht eine Frau, bei der sich Marija vorstellt und erzählt, dass sie eigentlich aus Moskau stammen, letzten Herbst aber evakuiert worden seien. Dadurch wird nochmals expliziert, dass die Episode während des Krieges spielt. Die unsympathisch wirkende Frau begegnet den beiden kühl, bittet sie aber dennoch, nachdem sie eine ganze Weile vor der Tür im Regen gestanden haben, in ihr Haus. Das Interieur des Hauses lässt auf einen gewissen Wohlstand der Besitzerin, der Frau eines Arztes, schließen und steht in starkem Kontrast zu der bescheidenen Kleidung von Marija und dem barfüßigen Aleksej. Marija möchte ihren Schmuck bei der Frau verkaufen, um für sich und ihre Kinder etwas zu essen kaufen zu können. Doch sie will das Geschäft nicht vor Aleksej abwickeln und geht daher mit der Frau in ein Nachbarzimmer. Aleksej bleibt alleine im Zimmer zurück und betrachtet sich lange im Spiegel. Die Frauen kehren zurück und Nadezda Petrovna hat nun Türkisohrringe an und betrachtet sich ständig im Spiegel. Sie führt die Mutter und Aleksej in ein Zimmer, in dessen Mitte ein großes Kinderbett, mit strahlend weißer Bettwäsche steht, in dem ein kleines wohlgenährtes Kind, der Sohn Nadezda Petrovnas, in weißem Nachthemd liegt. Weiße Gardinen und lange Vorhänge vor den Fenstern und ein gedämpftes, goldgelbes Licht geben ein beinahe märchenhaftes Bild von Behaglichkeit, Überfluss und Wohlstand. Die Frau, die ihr Kind verhätschelt, steht in Kontrast zu Marija, die ihrem Sohn kaum Zuneigung zukommen lässt, Aleksej nun aber dennoch schützend mit der Hand über den Kopf fährt, da sie in diesem Moment wohl fühlt, dass sie ihrem Sohn diese Zuwendung nicht bieten kann. Dann greift sich Marija an den Hals, als ob sie sich übergeben müsste und verlässt umgehend das Zimmer. Nadezda Petrovna folgt ihr und Marija sagt, dass sie sich nicht wohl fühle. Die Frau vermutet, dass Marija vom Weg erschöpft ist, und bietet an, Essen zu machen und einen Hahn zu schlachten. Marija lehnt ab und sagt, dass sie kürzlich bevor sie sich auf den Weg gemacht haben, gegessen hätten, was eine offensichtliche Lüge ist. Nadezda Petrovna bittet Marija dennoch die Schlachtung zu übernehmen, da sie schwanger sei. Doch Marija zögert, da sie das noch nie gemacht hat und sich augenscheinlich davor ekelt. Nadezda Petrovna schlägt daher vor, dass Aleksej die Schlachtung übernimmt. Um ihren Sohn davor zu bewahren, schlachtet Marija jedoch schließlich selbst den Hahn. In dieser Szene gibt sich der Charakter der Mutter Aleksejs deutlich zu erkennen. Auch wenn sie unnahbar wirkt und dem Sohn nicht viel Zuneigung schenkt, ihn im ganzen Film nicht einmal umarmt, küsst oder ihm zärtliche Worte sagt, so ist sie dennoch besorgt um ihn und hält ihre schützende Hand über ihn. Eine Großaufnahme zeigt Marijas Gesicht nach der Schlachtung, das nun einen erschöpften Ausdruck angenommen hat und auf dem sich gleichzeitig ein fast spöttisches Lächeln abzeichnet. Darauf folgt die hier interessierende, surreal anmutende Szene in Schwarzweiß (1:29:00 – 1:30:00). Sie wird mit einer Großaufnahme des Gesichts des Vaters eingeleitet. Er dreht sich um und streichelt die Hand Mari188

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jas, die über einem Bett schwebt, und spricht zu ihr, woraus sich folgender Dialog entwickelt: „Schon gut. Beruhige Dich, es ist nichts. Alles wird gut.“ „Schade, dass ich Dich nur sehe, wenn es mir sehr schlecht geht. Hörst Du mich?“ „Ja.“ „Jetzt schwebe ich.“ „Was hast Du Marija, ist Dir nicht gut?“ „Wundre Dich nicht. Es ist so einfach. Ich liebe Dich.“ Die nächste Sequenz zeigt, wie Marija und Aleksej fluchtartig das Haus der Arztfrau verlassen, ohne etwas gegessen zu haben und ohne dass Marija Geld für ihre Ohrringe bekommen hätte. Beiden Traumsequenzen ist gemeinsam, dass die Eltern einander liebend imaginiert werden. Der Vater hilft, beschützt und stützt die Mutter. Das ist in der letzten Szene nicht so. Der Vater kehrt wahrscheinlich auf Urlaub von der Front heim (1:03:00 – 1:05:30). Es dominiert eine beklemmende Atmosphäre. Nachdem dem Zuschauer ein kurzer Blick auf den Vater in Uniform gewährt wurde, zeigt die folgende Einstellung Aleksej und seine Schwester Marina im Wald. Sie streiten sich über ein Leonardo-da-Vinci-Buch, das Aleksej nach den Worten Marinas gestohlen hat. Plötzlich ist die Stimme des Vaters im Off zu hören, wie er zweimal hintereinander nach Marina ruft. Daraufhin rennen beide Kinder los. Aleksej ist zunächst schneller als Marina, doch er stolpert und Marina läuft an ihm vorbei. Dann stehen Marina und Aleksej weinend beim Vater, der die Arme um sie gelegt hat. Der Vater hat Tränen in den Augen und versucht seine Emotionen zu beherrschen. Marija reagiert mit einer Mischung von gefasster Freude und Trauer auf den unerwarteten Besuch des Vaters. Die reservierte Begrüßung zwischen dem Vater und der Mutter lässt auf eine angespannte Beziehung zwischen beiden schließen. Die Tatsache, dass der Vater bei seiner Ankunft nur nach seiner Tochter gerufen hat, deutet ebenso auf ein schwieriges Verhältnis zu seinem Sohn hin, auch wenn Aleksej seinen Vater erkennbar vermisst hat. Diese drei Filmstellen korrelieren aufs Innigste mit jenen Passagen, in denen der Vater im abwesenden Modus anwesend ist, z.B. in Form seiner Gedichte. Die Sehnsucht nach dem Vater, das unstillbare Begehren, erfährt im Film auf diese Weise eine eindrucksvolle audiovisuelle Artikulation.

Die anwesende/abwesende Mutter Die Mutter Aleksejs, Marija, scheint in dem Film die Hauptperson zu sein. Um sie kreisen die Hauptassoziationen des im Bett liegenden Haupterzählers. In einem Telefonat mit der Mutter (0:19:00 – 0:21:18) fragt er sie nach Details seiner Biographie („In welchem Jahr ist Vater von uns fortgegangen?“). Es klingt aber auch an, dass der Protagonist eine schwierige Beziehung zu ihr hat: „Hör mal Mama, warum streiten wir uns dauernd?“ Schließlich klingt auch das

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Hauptmotiv in diesem Zusammenhang an, nämlich sein Schuldgefühl gegenüber seiner Mutter: „Verzeih mir, wenn ich schuld bin.“ In der Eingangsszene des Films wird die Mutter, wie oben bereits beschrieben, im Modus des Wartens dargestellt. Es gibt eine Reihe von Homologien, die kurz zum besseren Verständnis erwähnt werden müssen. Die Mutter hat sich von dem Vater getrennt (zerrüttete Ehe). Der Vater hat ein entfremdetes Verhältnis zu seinem Sohn Aleksej, wie bereits oben schon erwähnt. Alexej selbst hat als erwachsener Mann Natal’ja geheiratet und sich später von ihr ebenfalls getrennt. Alexejs Frau Natal’ja, sieht seiner eigenen Mutter zum Verwechseln ähnlich. Sie wird in dem Film durch die gleiche Schauspielerin, nämlich durch Margarita Terechova, dargestellt. Eine Dialogsequenz zeigt diese Problemlage: „Ich hab immer gesagt, du siehst meiner Mutter ähnlich.“ „Offenbar haben wir uns deshalb auch getrennt. Ich stelle mit Entsetzen fest, dass Ignat dir zunehmend ähnlicher wird.“ „Ja, und warum mit Entsetzen?“ „Du weißt Aleksej, dass wir nie menschlich miteinander reden konnten.“ „Selbst wenn ich mich einfach nur an meine Kindheit erinnere und an Mutter, hat Mutter... Sie hatte immer dein Gesicht. Ach ja, übrigens, jetzt weiß ich es, warum ihr beide gleichermaßen zu bedauern seid, du und sie.“ Warum zu bedauern? (...) Du kannst mit niemandem normal leben.“ „Durchaus möglich.“ „Sei nicht beleidigt. Du lebst immer in der Überzeugung, es würde allein die Tatsache deiner Existenz genügen, dass alle in deiner Nähe glücklich sind. Du stellst nur Forderungen.“ „Das kommt wahrscheinlich daher, dass mich nur Frauen erzogen haben. Ich meine, wenn du nicht willst, dass Ignat genau so wird wie ich, heirate möglichst schnell.“ „Und wen?“ „Wen? Das weiß ich doch nicht oder gib Ignat mir.“ (3 Sek. Pause) „Warum ist zwischen dir und deiner Mutter immer noch kein Friede? Du bist doch schuld.“ „Ich? Schuld? Woran? Etwa, dass sie sich eingeredet hat, dass sie besser weiß als ich, wie ich leben soll? Oder dass letztlich nur sie mich glücklich machen kann?“ „Dich glücklich?“ „Weil jedenfalls, was Mutter und mich anbetrifft, das empfinde ich stärker als eine Außenstehende wie du.“ „Was sagst du? Was empfindest du stärker?“ „Dass wir uns voneinander entfernen und dass ich nichts dagegen tun kann.“ (0:33:00 – 0:35:15)

In psychoanalytischer Perspektive ist deutlich, dass eine klare Übertragung vorliegt: die Probleme, die der Erzähler mit seiner Mutter hat, sind auf die Beziehung mit seiner eigenen Frau übertragen worden. Seine Mutter hat ihm, bedingt durch die Trennung von ihrem Mann und durch die Kriegsumstände nicht die Zuwendung zukommen lassen können, die er sich gewünscht hätte. Diese schwierigen Umstände und die schwierigen Beziehungskonstellationen mit seiner Mutter hat er nicht aufarbeiten können, so dass einer Übertragung gleichsam Tür und Tor geöffnet sind und er – nun in anderer Beziehungsposition – das gleiche Schicksal erleidet. Seine Erinnerungen und seine Reflexionen kreisen immer wieder um diesen Punkt und regen immer wieder zu neuen Artikulationen an, die teilweise eine äußerst dichte metaphorische Qualität an190

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nehmen. Es gibt einen weiteren Traum (1:12:44 – 1:17:03), der für den Protagonisten sehr wichtig ist und den er immer wieder träumt: Durch eine Schwarzweiß-Einstellung von Büschen und Sträuchern, die sich leicht im Wind bewegen und vor einem dunklen, dichten Wald stehen, wird er stets eingeleitet. Der erste Teil des eigentlichen Traumes wird dann in Farbe präsentiert. Während die Kamera uns in das sonnendurchflutete Haus der Kindheit Aleksejs führt, kommentiert der Erzähler aus dem Off, dass ihm ständig ein und derselbe Traum vom Haus seines Großvaters erscheint, in dem er vor 40 Jahren geboren wurde. Gerade als die Kamera Aleksejs junge Mutter in den Blick nimmt und ihr durch das Haus folgt, bedauert der Erzähler, dass ihn immer irgendetwas störe, wenn er in das Haus eintreten will. Darauf gibt der Erzähler seiner Sehnsucht nach diesem Traum Ausdruck, in dem er sich noch einmal als Kind sehen und sich glücklich fühlen kann, weil „noch alles möglich ist“. Schließlich gehen die farbigen Traumbilder in schwarzweiße über. Der junge Aleksej läuft vor dem Haus entlang, er steigt die Treppe zum Eingang des Hauses hinan, will hineingehen, doch die Tür bleibt verschlossen. Er dreht sich um und geht weg. Wenige Augenblicke später öffnet sich dann die Tür wie von selbst und Marija kommt zum Vorschein. Sie hockt und legt die auf dem Boden verstreuten Kartoffeln in ein Gefäß. Im zweiten Teil des Traums ist nichts mehr von der Nostalgie der farbigen Traumsequenz zu spüren. Sie weicht einem Gefühl der Trauer, Einsamkeit und Ausgeschlossenheit. Die verschlossene Tür, hinter der seine Mutter unerreichbar für ihn ihren Hausarbeiten nachgeht, trennt Mutter und Kind. Die Mutter muss gehört haben, dass Aleksej in das Haus und damit zu ihr wollte. Sie öffnet ihm aber nicht. Die Stimmung dieser Szene ist bleiern und metaphorisiert das Mutter-Sohn-Verhältnis sehr stark.

Erinnerungskompositionen und Zeitverschiebungen In die Erinnerungen des Erzählers gehen nicht nur Träume ein, sondern auch Erinnerungen anderer Menschen, die er vermutlich über Erzählungen kennen gelernt hat. Der Biographisierungsprozess folgt also auch Erzählungen und Erinnerungen anderer Menschen und integriert sie in die eigenen. Eine spanische Familie wohnt in der Nachbarschaft. Die Frau wird immer wieder durch Erinnerungen an die Flucht aus Spanien überwältigt. Ihre Erinnerungen der Flucht im Krieg werden durch dokumentarische Wochenschaubilder in den Film integriert: Vor dem Hintergrund emotional aufreibender Flamencomusik folgen Wochenschaubilder von weinenden spanischen Kindern, die sich von ihren Eltern verabschieden müssen, um vor den Auswirkungen des Krieges zu fliehen. Das Hupen eines Dampfers steht am Ende der Szene und verdeutlicht sowohl 191

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die lange Reise, die den Kindern nun bevorsteht, als auch die nostalgischen Sehnsüchte der Spanier nach ihrer alten, jedoch bereits fremden Heimat. Das Schicksal der Spanier, das sich in dieser Sequenz offenbart und die Geschichte zerbrochener Familien erzählt, spiegelt sich im persönlichen Schicksal Aleksejs und wird in seinen Biographisierungsprozess als Medienarchitekturen integriert. Auch an anderen Stellen finden wir Erinnerungen durch verschiedene Medien artikuliert: durch Bücher (Leonardo-da-Vinci-Buch, Texte von Rousseau und Puschkin), szenische Erinnerungen, Musik, Bilder, Dokumentarfilmsequenzen, Wochenschauen etc. Zusammenfassend kann man sagen, dass „Der Spiegel“ für die Erkenntnis des komplexen Lebens steht. Der Spiegel produziert und erfindet, so die zentrale These von Sagert (2004), Vergangenheit durch Zeitverschiebungen. Und in der Tat finden wir für diese filmische Technik der Zeitverschiebung bzw. der Zeitverschränkung auch zentrale Szenen. Im Anschluss an die oben beschriebene Traumsequenz (0:16:10 – 0:18:40) schaut die junge Marija in den Spiegel, und ihr blickt das eigene Antlitz als alte Frau entgegen. Sie begegnet ihrem zukünftigen Selbst. Immer wieder spielt Tarkowskij mit solchen Verschiebungen. Besonders deutlich wird dies am Schluss des Films (1:36:00 – 1:42:00). Die Kamera fängt noch einmal das Bauernhaus ein und schwenkt dann auf die junge Mutter und den Vater des Erzählers, die im Gras liegen. Der Vater fragt die junge Mutter, ob sie lieber ein Mädchen oder einen Jungen wolle. Sie antwortet nicht, lächelt stattdessen, seufzt und schaut in die Ferne. Nach einem Schnitt zeigt die Kamera nun die alte Mutter und den kleinen Aleksej und fährt dann über das übrig gebliebene Fundament eines Bauernhauses und die Reste eines alten Brunnens. Die alte Mutter führt Marina an der Hand und Aleksej folgt ihnen. Die nächste Einstellung zeigt die junge Marija, wie Tränen ihr Gesicht herunter laufen und sie sich umdreht, als ob sie die Kinder und sich selbst als alte Frau in der Ferne sieht. Nach einem Schnitt sieht man die alte Frau und die Kinder zügig über ein Feld laufen. Die alte Mutter schaut sich um. In weiter Entfernung inmitten des Feldes steht die junge Mutter und schaut den Kindern und ihrem zukünftigen Selbst hinterher. Als die Choralmusik endet, die die ganze Sequenz begleitet hat, fängt die Kamera Aleksej ein, der die Hände wie einen Trichter vor den Mund gelegt hat, laut aufjodelt und dann der alten Mutter und Marina hinterher eilt. Die Kamera löst sich von ihnen, fährt hinter Bäume zurück und beobachtet, wie sie über das Feld gehen und sich in der Ferne verlieren.

Die geschichtliche Logik biographischer Arbeit Wie der kursorische Durchgang durch den Film gezeigt hat, gibt es verschiedene Verlusterfahrungen, die der Erzähler versucht erinnernd zu bearbeiten. 192

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Erinnerung wird hier als Bild ins Werk gesetzt, genauer: als Film. Nach Ricœur wird im Erinnern die Vergangenheit auf Distanz gebracht. Er spricht deshalb auch davon, dass es in der Erinnerungsarbeit um die Eroberung der zeitlichen Distanz gehe. Gelinge es nicht, Vergangenheit in diesem Sinne zu distanzieren, beeinträchtige sie das Vermögen, Zukunft zu entwerfen. Freud würde davon sprechen, dass agiert (also wiederholt) und dadurch die Lebenskraft des Menschen eingeschränkt werde, weil ein Teil der Energie für das Agieren benötigt werde und insofern nicht anderweitig zur Verfügung stehe. Die Vergangenheit werde zur Last für die Gegenwart und Zukunft. Ricœur thematisiert diese Sachverhalt mit den Kategorien Schuld und Verzeihung: „Die Schuld ist die Last, welche die Vergangenheit der Zukunft aufbürdet. Das Verzeihen möchte diese Last leichter machen.“ (Ricœur 2004b: 56) Wie Aussagen und Tagebucheinträge von Andrej Tarkowskij zeigen, ist ihm das Opfer der Mutter, das sie gebracht hat, indem sie sich für die beiden Kinder mit all ihren Kräften eingesetzt hat, allzu bewusst, was zu lebenslangen Schuldgefühlen ihr gegenüber führt. Ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihr als Erwachsener, in dem er spürt, dass er ihr kaum etwas zurückgeben kann, nährt sein Schuldgefühl noch zusätzlich. Aus diesem Grund benennt Tarkowskij das Thema der Schuld auch als eines der Hauptthemen im autobiographischsten seiner Filme: „Im Spiegel wollte ich nicht von mir selbst erzählen, sondern vielmehr von den Gefühlen, die ich mir nahe stehenden Menschen gegenüber empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinem ewigen Mitgefühl für sie, aber auch von meinem Versagen und meinem Gefühl unaufhebbarer Schuld ihnen gegenüber.“ (Tarkowskij 2000: 143)

Die Schuld bindet einerseits die Vergangenheit an die Zukunft, stellt andererseits aber auch einen „Bestand an Möglichkeiten“ (Ricœur 2004b: 60) dar, der zur Geltung gebracht werden kann: „Man könnte [...] sagen, daß die Vergangenheit, die nicht mehr ist, aber gewesen ist, gerade aus dem Grunde ihrer Abwesenheit das Sagen der Erzählung fordert.“ (ebd.) Durcharbeiten bedeutet also: die Geschichten neu und anders zu erzählen. Die gewesene Vergangenheit wird somit „zu einer Forderung nach einem Sagen“ (ebd.) „Die Schuld verpflichtet. Der Anspruch, den die Gewesenheit der verstrichenen Vergangenheit stellt, richtet sich an die Zukunft eines Diskurses. Und das Unerschöpfliche verlangt, es wieder und wieder zu sagen, zu schreiben, wieder und wieder das Schreiben der Geschichte in Angriff zu nehmen.“ (ebd.: 61) Die Bearbeitung der Schuld, das Verzeihen, eröffnet die Aussicht auf eine Erlösung von der Schuld; indem sie eine Verwandlung des Sinns der Ereignisse bewirkt. Wir können, sagt Ricœur, nicht die Fakten verändern, wohl aber deren Bedeutung. Eben deshalb soll man lernen, „anders zu erzählen und die Erzählung der anderen miteinzubeziehen“ (Ricœur 2004b: 65). Es geht um den 193

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Austausch von Erinnerungen und um den Austausch von (historischen) Erzählungen. Indem Geschichten anders erzählt werden, wird die Fähigkeit, sich auf die Zukunft zu entwerfen, entwickelt. In diesem Sinne wird der historische Determinismus durchbrochen, „indem man in der Rückschau Kontingenz in die Geschichte einführt“ (ebd.: 63) In Bezug auf Raymond Aron, der die „retrospektive Fatalitätsillusion“ bekämpft habe, definiert Ricœur: „Unter Kontingenz verstehen wir hier sowohl die Möglichkeit, das Ereignis anders aufzufassen, als auch die Unmöglichkeit, das Ereignis aus dem Gesamtzusammenhang der vorherigen Situation abzuleiten.“ (ebd.: 63) Erzeugt Tarkowskij also so etwas, was Ricœur retrospektive Fatalitätsillusion nennt? Der Film „Der Spiegel“ fügt zunächst einmal vorhandene Erinnerungsfragmente zu einem Ganzen, das ist die entscheidende Leistung. Die Reflexion, dass es auch anders hätte sein können, wird nicht thematisch. Grundsätzlich geht es aber Tarkowskij schon um die „Refiguration des Vergangenen durch die Erzählung“ (Ricœur 2004b: 35). Dabei fließen für ihn die Ordnung des Symbolischen und die des Imaginären ineinander. Erinnerung und Vorstellungswelt lassen sich nicht immer trennen: „Es ist nicht einfach, auseinanderzuhalten, was man selbst erlebt hat, was erfunden, und was man in Büchern gelesen hat“ (Tarkowskij 1993: 71). Er konstatiert einen Unterschied zwischen der eigenen Vorstellung des Geburtshauses und der unmittelbaren Wahrnehmung dieses Hauses nach einer langen Zwischenzeit und bemerkt, dass gewöhnlich die Konfrontation mit der konkreten Quelle der Erinnerungen deren Charakter zerstöre (vgl. Tarkowskij 2000: 33). Nach einem Besuch der Stadt Jure’vec, mit der Tarkowskij viele Kindheitserlebnisse verband, notierte er in sein Tagebuch am 8. Dezember 1973 Folgendes: „Wir hätten nicht nach Jure’vec fahren sollen. Es hätte in meiner Erinnerung ein wunderbares, glückliches Land, das Land meiner Kindheit bleiben sollen. Ich habe ganz richtig in meinem Drehbuch zu dem Film [„Der Spiegel“; W.M.] den ich jetzt gerade mache, geschrieben, daß man nicht zu den Orten seiner Kindheit zurückkehren soll. Welche Leere empfinde ich in meiner Seele, wie traurig ist mir zumute. Und so habe ich noch eine Illusion verloren, vielleicht die wichtigste, um in meiner Seele Ruhe und Frieden zu bewahren. Unser Haus auf dem Dorf habe ich ja schon in meinem Film begraben (Tarkowskij 1989: 122).“

Biographische Arbeit als Bildungsprozess Was ist das Ergebnis meiner Ausführungen? Ist es Tarkowskij bzw. Alexej gelungen, durch die Bearbeitung seiner Biographie zu erreichen, dass die Vergangenheit nicht mehr die Gegenwart verfolgt, so dass Zukunftsentwürfe nicht behindert werden? Eine Form des Auf-Distanzbringens ist die Akzeptanz. Ricœur sagt dazu: „die ungetilgte Schuld akzeptieren; akzeptieren, daß man 194

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ein zahlungsunfähiger Schuldner ist und bleibt, daß es Verlust gibt; an der Schuld selbst Trauerarbeit leisten, zugeben, daß das eskapistische Vergessen und die endlose Verfolgung der Schuldigen ihren Grund in derselben Problematik haben; eine feine Linie zwischen Amnesie und unendlicher Schuld ziehen.“ (Ricœur 2004b: 155) Einen guten Hinweis darauf, ob die in die Erinnerungsarbeit eingelagerte Trauerarbeit gewirkt hat, gibt der Prolog zum Film, den ich bisher noch nicht erwähnt habe. Der Prolog des Films, eine Fernsehdokumentation, in der gezeigt wird, wie eine Logopädin einen Stotterer durch Hypnose heilt, hat keine narrative Bedeutung für den Film, denn weder der Stotterer noch die Logopädin werden im Film noch einmal erscheinen. Der kleine Aleksej schaltet den Fernseher ein und sieht dort eine Logopädin in einer therapeutischen Sitzung mit einem Stotterer. Der Stotterer nennt seinen Namen und antwortet auf die Fragen der Therapeutin. Sie fordert ihn auf, seine Aufmerksamkeit auf verschiedene Haltungen und Gesten zu konzentrieren. In diesem hypnotischen Prozess sagt die Therapeutin: „Wenn ich jetzt diese Spannung löse, wirst Du sprechen, und zwar laut und deutlich, frei und offen, ohne Dich vor der Stimme Deiner Sprache zu fürchten. Wenn Du jetzt sprichst, dann wirst Du Dein ganzes Leben lang laut und deutlich sprechen. Und jetzt laut und deutlich: ‚Ich kann sprechen'.“ Der junge Mann kommt dieser Aufforderung nach und spricht ohne jegliche Stimmstörung: „Ich kann sprechen“. Tarkowskij hat sich immer vehement geweigert, der Forderung nachzukommen, den Prolog aus dem Film herauszunehmen. In einem Brief an den Vorsitzenden hat er auf die Bedeutung des Prologs für den Film aufmerksam gemacht: „Was die Anmerkungen zum Prolog des Films [...] angeht, so kann ich sie auch bei noch so ernsthafter Überlegung nicht akzeptieren, denn mit der Herausnahme dieser Szenen würde die künstlerische Gestalt des Films zerstört. Der Prolog bildet in seiner Art den Schlüssel zum Film und bereitet den Zuschauer von Anfang an auf den künstlerischen Gedanken des Films und die Stilistik des Films vor. Ohne den Prolog ist der Film schlicht unverständlich. Er stimmt den Zuschauer auf die dramaturgische Besonderheit dieses Werks ein, in dem sich die Handlung eher nach der assoziativen Gesetzmäßigkeit der Musik und Lyrik entwickelt als nach dem landläufigen Kanon der ‚Kinobelletristik‘. Gar nicht davon zu reden, daß diese Episode auch an sich auf sehr bedeutende Weise symbolisch befrachtet ist. Sie gibt die Mühsal wieder, die der Held und Erzähler auf sich nimmt, weil er gedrängt ist, von sehr persönlichen und schwierigen Dingen zu erzählen, und zugleich aber auch das Gefühl der inneren Befreiung, der strahlenden Klarheit und Hinwendung zum Leben und zu den Menschen, das er im Finale erreicht“ (Tarkowskij 1993: 317).

Am Dialog fällt die Häufung der Wörter „sich konzentrieren“ und „sich anstrengen“, „sich Mühe geben“ auf. Hier wird jemand gezeigt, der durch unge195

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heure innere Anstrengung, Mühe und Konzentration, mit seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Willen versucht, eine „Krankheit“, die offenbar psychischen Ursprungs ist, zu besiegen. Um die Krankheit zu überwinden, muss er seine Angst vor seiner Stimme und vor seiner Rede überwinden, er muss also seine Gehemmtheit und Angst bezwingen, Vertrauen in sich selbst entwickeln, zu sich selbst finden, um ein für allemal „laut und deutlich, frei und unbeschwert“ zu sprechen, zu denken und zu handeln. Am Ende schafft es der Stotterer tatsächlich, sein Stottern zu überwinden. Die fragmentarische, holprige und disharmonische Rede hat sich nun in eine flüssige, gleichmäßige und harmonisch fließende Rede verwandelt. Die im Prolog gezeigte Heilung des Stotterers lässt den Film optimistisch und hoffnungsvoll beginnen und deutet die Möglichkeit an, durch Konzentration, innere Anstrengung und Mühe sich Entwicklungsräume zu erarbeiten, eine neue und eine veränderte Einstellung zu seiner Vergangenheit und zu seinem Leben zu erlangen. Diese Veränderung von Selbst- und Weltreferenzen ist der Kern einer Bildungstheorie, die für mich in großen Teilen biographietheoretisch verzahnt ist. Im diskutierten Film wird der Bildungsprozess initiiert durch verschiedene Entfremdungsprozesse und durch das Gefühl der Belastung der Gegenwart durch die (biographische) Vergangenheit. Grundfiguren des Selbst- und Weltverhältnisses werden verändert, weil die Schuld anerkannt und Zukunftshorizonte frei werden. Die Erinnerungen können eingeordnet werden, sie haben sich zu einer Ordnung arrangiert, so dass sich ein Zusammenhang ergeben hat, der die eigene Biographie darstellt. Erinnern ist also aus dieser Sicht eine Arbeit an der kategorialen Struktur der Selbst- und Weltentwürfe. Wenn Fremdheit Nichtzugehörigkeit zu einem „Wir“ bedeutet, wie Rainer Kokemohr in seinem Beitrag dieses Bandes in Anlehnung an Waldenfels betont, dann ist es im vorliegenden Fall die Nichtzugehörigkeit zu (s)einer Familie, die Abweisung durch den Vater und die Notwendigkeit zu akzeptieren, dass er sich von seiner Mutter entfremdet hat und dass er ihr nichts zurückgeben kann. Die Spannung zwischen Entfremdung (Entfernung) und dem Wunsch, ihr etwas zurückgeben zu können, sich erkenntlich zu zeigen, was eigentlich auf Zuneigung hinausläuft, muss ausgehalten werden. Sie ist als spezifischer Fremdheitsstil Teil seiner Identität. Das Agens dieses Bildungsprozesses ist Leiden in der beschriebenen Art. Deren Artikulation führt zu einem Bildungsprozess, dessen Resultat das Akzeptieren des Nichtveränderbaren ist. Mit einer bloßen Fixierung auf die Vergangenheit gehe jedoch ein „Wiederkäuen verlorener Ehren und erlittener Demütigungen“ (Ricœur 2004b: 66) einher. Das Akzeptieren des Nichtveränderbaren enthält dagegen die Möglichkeit der Flexibilisierung narrativer Horizonte: spezifische Fremdheitsstile werden Teil der eigenen Identität und damit erhält Zukunft wieder eine Chance. Oder in den Worten Ricœurs:

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ÜBER DAS SCHWIERIGE FINDEN DER VERLORENEN ZEIT „Das Paradox ist dieses: Die Vergangenheit, so sagt man, kann nicht mehr geändert werden; in diesem Sinn scheint sie bestimmt zu sein. Im Gegensatz dazu wird die Zukunft für unsicher, offen und in diesem Sinne für unbestimmt gehalten. Das Paradox ist offenkundig. Wenn Tatsachen auch wirklich unauslöschlich sind, wenn man auch weder das Geschehene ungeschehen manchen noch bewirken kann, daß das, was sich zutrug, sich nicht zugetragen hat, so steht andererseits der Sinn dessen, was sich zutrug, nicht ein für alle Mal fest; abgesehen davon, daß Ereignisse der Vergangenheit anders interpretiert werden können, kann die moralische Last, die mit dem Verhältnis der Schuld zur Vergangenheit zusammenhängt, schwerer oder leichter werden – je nachdem, ob der Vorwurf des Schuldigen in das schmerzliche Gefühl des Unwiderruflichen bannt oder ob das Verzeihen die Aussicht auf eine Erlösung eröffnet, was einer Verwandlung des Ereignisses selbst gleichkommt. Dieses Phänomen der Umdeutung auf der moralischen Ebene ebenso wie auf der des bloßen Erzählens läßt sich als ein Fall der Rückwirkung der Zukunftsorientierung auf die Auffassung des Vergangenen verstehen.“ (Ricœur 2004b: 125 f.)

Ich habe diese Arbeit mit einem Verweis auf Marcel Prousts Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ begonnen und will diesen Verweis am Schluss wieder aufnehmen. Wenn Proust seine Parole „beleben wir das Riesengebäude der Erinnerungen“ mit literarischen Mitteln einlöst oder mindestens einzulösen versucht, so macht Tarkowskij es mit filmischen Mitteln. Zeit als Mittel des Films ist für ihn der zentrale Weg, Selbst- und Weltbezüge des Menschen zu artikulieren. Der Film „Der Spiegel“ ist in diesem Sinne eine multimediale und multimodale Artikulation, die uns Aufschluss darüber gibt, wie Menschen auf der Suche nach einer Balancierung ihrer Selbst- und Weltbezüge sind; eine Suche, bei der es kein endgültiges Finden gibt, vielleicht nur Stadien relativer Beruhigung. Insofern bringt dieser Film das bildungstheoretische Projekt der Moderne zum Ausdruck wie kein anderer. Das Akzeptieren des Nichtveränderbaren, der Wunden und Verletzungen, das Leben in verschiedenen Fremdheitsstilen ohne Aussicht auf Versöhnung ist die existentielle Signatur menschlicher Existenz, nicht nur in der Perspektive Andrej Tarkowskijs. Vielleicht können uns ja Filme die verlorene oder vergessene Zeit in modalisierter Form zurückgeben; Tarkowskij jedenfalls ging davon aus.

Literatur Freud, Sigmund (1914): »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«. In: Sigmund Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt/M.: Fischer, S. 205-215. Freud, Sigmund (1917): »Trauer und Melancholie«. In: Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewussten, Frankfurt/M.: Fischer, S. 193-212. 197

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807): Phänomenologie des Geistes. Hamburg: F. Meiner 1952. Jung, Matthias (2005): »‚Making us explicit‘. Artikulation als Organisationsprinzip von Erfahrung.« In: Magnus Schlette/Matthias Jung (Hg.), Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 103-142. Ricœur, Paul (1991): Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit, München: Fink. Ricœur, Paul (2004a): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Fink. Ricœur, Paul (2004b): Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, 4. Aufl., Göttingen: Wallstein. Sagert, Dietrich (2004): Der Spiegel als Kinematograph nach Andrej Tarkowskij, Dissertation, Philosophische Fakultät III, Humboldt-Universität zu Berlin. Schlette, Magnus/Jung, Matthias (Hg.) (2005): Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann. Tarkowskij, Andrej (1989): Martyrolog. Tagebücher 1970-1986, Berlin: Limes. Tarkowskij, Andrej (1993): Der Spiegel. Filmnovelle, Arbeitstagebücher und Materialien zur Entstehung des Films, Berlin: Limes. Tarkowskij, Andrej (2000): Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München: Ullstein. Tarkowskij, Larissa (1998): Andrej Tarkowskij, Paris: Calmann-Lévy.

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FILMBILDUNG. ZUR FILMISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN AM BEISPIEL VON BROKEN FLOWERS UND DON’T COME KNOCKING OLAF SANDERS

Im Spätsommer 2005 legt das Kino den Fokus auf Bildungsprozesse älterer Männer. Sowohl in Jim Jarmuschs Film Broken Flowers (USA 2005) als auch in Wim Wenders Don’t Come Knocking (D/F/E/USA 2005) erfahren die Hauptfiguren von Vaterschaften, die schon länger andauern, von denen sie aber bisher nicht einmal etwas geahnt zu haben scheinen. Die beiden Männer machen eine Erfahrung. 1 Diese Erfahrung könnte „der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen“ und einen Veränderungsprozess in Gang setzen, der grundlegende Figuren einschließt. Das ist die Bestimmung, die Rainer Kokemohr dem Bildungsbegriff gibt. Weil es nicht unwahrscheinlich ist, das dies geschieht, liegt die Rede von Bildungsprozessen älterer Männer nah wie die Suche nach ihnen in den beiden Filmen. Ich gehe dabei mit Norman Denzin (2000: 420) davon aus, dass sich auch Spielfilme aufgrund der „fließenden Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen“ als Dokumente lesen lassen, die gesellschaftliche Erfahrung in verdichteter Form zur Darstellung bringen. Mit Gilles Deleuze bestreite ich allerdings, dass „visuelle Dokumente“ immer „optische Texte“ sind. Denzin vernachlässigt den Unterschied zwischen Fotos und Filmen, und mithin die irreduzible Zeitlichkeit des Films. Bezüglich der Zeitlichkeit ähneln Filme Bildungsprozessen stärker als Fotos. Die Probleme, die bei der Untersuchung von Filmen anhand von Filmstills auftreten, dass man nämlich eine Fotoserie untersucht und keinen Film, betreffen auch die Untersuchung von Bildungsprozessen. Die Verräumlichung der Zeit verstellt leicht den Blick auf den Prozess. 2 Filme – Deleuze (2005: 271) nennt das Kino (cinema) eine Wissenschaft, die mit Hilfe 1 2

Unter „Erfahrung, die wir machen“, verstehe ich mit Martin Seel (1985: 79) „Veränderungen, die uns geschehen, indem wir sie vollziehen.“ Zur Dominanz von Raum-Metaphern in der Pädagogik und den daraus resultierenden Problemen vgl. Herzog 2002.

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bewegter Bilder Raum- und vor allem Zeitverhältnisse untersucht – können helfen, Bildungsprozesse zu erforschen, besser zu verstehen und anders wahrzunehmen. 3 Wie und warum? Darauf werde ich im dritten Abschnitt unter der Überschrift „Metacinema“ zurückkommen. Dass Filme Bildungsprozesse darstellen können, wirkt selbstverständlicher als die Behauptung, Kino sei eine Wissenschaft. Ich beginne also, wenn schon nicht beim Selbstverständlichen, so doch beim Selbstverständlicheren, also mit dem Kino, mit den beiden Filmen: Broken Flowers und Don’t Come Knocking. 4

Broken Flowers Broken Flowers beginnt mit Geräuschen einer mechanischen Schreibmaschine. Jemand tippt, eine Frau, sie faltet den Brief, steckt ihn in einen rosa Umschlag, bringt ihn zur Post. Die Briefträgerin stellt erst Winston und Mona Post zu, dann wirft sie Don seine durch den Briefschlitz. Don Johnston (Bill Murray) sitzt vor seinem großen Flatscreen-Fernseher und sieht einen alten Don JuanFilm, wahrscheinlich The Private Life of Don Juan (UK 1934) mit Douglas Fairbanks in der Titelrolle. Sherry (Julie Delpy) ist im Begriff Don zu verlassen. Sie nennt ihn einen Don Juan, verweist auf Winston als alternatives Rollenmodell. Sherry ist viel jünger als Don. Sie könnte seine Tochter sein oder einen Vater suchen. Sie scheint auf alle Fälle eine stärkere Bindung zu vermissen, denn sie begründet ihren Auszug mit dem Hinweis auf ein Missverhältnis: „I’m like your mistress, except you’re not even married.“ Im Gehen reicht sie Don die Tagespost. Darunter befindet sich der rosa Brief, der ihn wissen lässt, dass sein 19-jähriger Sohn sich auf die Suche nach seinem Vater begeben habe. Der Name des Vaters klingt wie Don Johnson. Deshalb lachen Fremde bisweilen, wenn Don sich ihnen vorstellt. Sie scheinen das T zu überhören. Don ergänzt seinen Nachnamen daraufhin: „Johnston with a ‚t‘“. Diese Wie3

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Weil das Wort „Kino“ im deutschen Alltagssprachgebrauch stark auf Rezeptionsbedingungen verweist, die an Platos Höhle erinnern, spreche ich weiterhin von Film. Ich gebrauche Film in der Regel nicht in der Bedeutung einer Trägerschicht für Einzelbilder, sondern im Sinne von movie, das – zunächst als Slangwort – in amerikanischem Englisch moving picture abkürzt, was inzwischen häufig durch moving image ersetzt wird. Die deutsche Sprache sieht die Differenz zwischen Bildern, die wir ansehen, und Bildern, die wir uns machen, nicht vor (vgl. Belting 2001). Wenders und Jarmusch kennen sich seit 1978. Jarmusch war damals an der N.Y.U. Graduate Film School Teaching Assistent bei Nicolas Ray, dessen Empfehlung ihn zu Wenders Produktionsassistenten machte. Auf Filmmaterial, das bei der Produktion von Der Stand der Dinge (BRD/P/USA 1981) übrig blieb, drehte Jarmusch Stranger Than Paradise (USA 1982), einen Kurzfilm, den er zwei Jahre später zu seinem zweiten Langfilm ausbauen sollte, für den er 1984 in Cannes mit der Caméra d’Or ausgezeichnet wurde. Wenders gewann im selben Jahr mit Paris, Texas (F/BRD 1984) die Palme d’Or (vgl. Wenders 2001). 2005 waren Jarmusch und Wenders für die Goldene Palme nominiert. Jarmusch gewann den Großen Preis der Jury. Jüngst erschien eine erweiterte Dissertation über die Filme von Jim Jarmusch (vgl. Mauerer 2006).

FILMBILDUNG

derholung lenkt weitere Aufmerksamkeit auf seinen Namen. Namen bedeuten viel in Jarmuschs Film. Deshalb wiegt es schwer, dass der Brief nicht signiert ist und keinen Absender hat. Die Ergänzung „with a ‚t‘“ zeigt, dass Don das Lachen der fremden, meist jungen Frauen versteht. Nein, er sei nicht Don Johnson. Nur zur Erinnerung: Don Johnson spielt den Detective Sonny Crockett in der Fernsehserie Miami Vice (1984–1989). Miami Vice bereicherte das Krimi-Genre um Elemente der frühen MTV-Ästhetik und stärkte so die Bedeutung zeitgenössischer Popmusik als eigenständiges Ausdrucksmedium. 5 Darin liegt die bleibende Bedeutung der Serie. Johnson wurde durch seine Rolle als Crockett Mitte der 1980er Jahre zu einem Urbild des attraktiven Mannes. Die Differenz von Johnson und Johnston scheint für die jungen Frauen größer als das kleine T. Die Unangemessenheit lässt sie lachen. Don Johnston wirkt weder wie ein Don Johnson unserer Tage, noch wie ein gealterter Don Johnson, was die Zeitkonstruktion des Films nahe legt. Der Sohn muss in den ersten Ausstrahlungsjahren von Miami Vice gezeugt worden sein. In der Fernsehserie gewinnt Crockett Konturen im Kontrast zu seinem Partner, Detective Richard Tubbs. Tubbs ist schwarz wie Winston (Jeffrey Wright), Don Johnstons Nachbar und Freund. Don hat genug Geld im Computer-Geschäft verdient und sich zur Ruhe gesetzt. Winston bringt seine wachsende Familie mit mehreren Jobs durch und schreibt nebenbei Detektivgeschichten. Don fragt eine seiner kleinen Töchter bei einem Becher äthiopischem Kaffee, ob Winstons wirklicher Name Sam Spade sei, Mike Hammer oder Sherlock Holmes, ob es sich bei ihm um diesen Dolemite-Guy handele. Sie verneint lachend. Serien sind in diesem Film nicht unwichtiger als Namen. Sie eröffnen Verweiszusammenhänge, hier unter anderem zu Klassikern der Detektiv-Literatur, zu Schauspielern wie Humphrey Bogart, Stacey Keach oder Rudy Ray Moore, zu einer weiteren Detektiv-Serie der 1980er Jahre (Mike Hammer) und zu einem Blaxploitation-Film (Dolemite, USA 1975). Blaxploitation-Filme haben sich auf der Quentin Tarantino-Welle, vor allem durch den Film Jackie Brown (USA 1997), im Zitations-Index der globalen Popkultur deutlich nach vorn geschoben und mit ihnen der Funk und das Bild der Sex Machine. 6

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Miami Vice featurte Popmusik von Phil Collins, Sheena Easton u.a.. Pam Grier, die Hauptdarstellerin in Tarantinos Jackie Brown, war bekannt geworden durch ihre Rolle als Foxie Brown (USA 1974), einem frühen Blaxploitation-Film. Blaxploitation zieht black und exploitation (Ausbeutung) zusammen. Blaxploitation-Filme sind B-Movies die vor allem von Sex und Crime handeln. Sie wurden zwar für ein schwarzes Publikum produziert, aber sicher auch wegen der Race- und GenderStereotype von einem weißen Publikum konsumiert. Durch ironische Brechung und gegenintentionale Aneignungen gewannen einige Blaxploitation-Filme Kult-Status. Ein weiteres Beispiel dafür geben die Shaft-Filme mit Richard Roundtree und den starken Bezügen zum Funk. Funk folgt dem Prinzip der endlosen Variation und führt zurück

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Winston gratuliert Don zur Vaterschaft: „Congratiulations, you are a father!” Die Emphase seiner Glückwünsche spricht dafür, dass sie auch Dons neuer Identität gelten. Diese muss gesichert werden – durch gesicherte Erkenntnis. Winston bittet Don um eine Liste möglicher Mütter. Er recherchiert die Adressen von Laura (Sharon Stone), Dora (Frances Conroy), Carmen (Jessica Lange), Penny (Tilda Swinton) und Michelle. Im Hinblick auf diese Liste schrumpft die Differenz zu Don Johnson wieder auf das kaum hörbare T zusammen, belegt sie doch Dons Erfolg bei Frauen. Alle Frauen Dons haben lange Haare und scheinen – mit Ausnahme von Frances Conroy vielleicht – nach anderen Prinzipien gecastet worden zu sein als er selbst. Mit Sharon Stone, Jessica Lange und Tilda Swinton verbindet man ihre Rollen in Basic Instinct (USA/F 1992), The Postman Allways Rings Twice (USA/BRD 1981) und The Beach (USA/UK 2000) und ihre Filmpartner Michael Douglas, Jack Nicholson und Leonardo DiCaprio. Frances Conroy begann ihre Film-Karriere als Nebendarstellerin in Woody Allens Manhattan (USA 1979). 7 Jarmusch ist wie Allen New Yorker Filmemacher. Steht Don Johnston vielleicht in der Tradition von Allen-Figuren wie Isaac Davis? Vieles, der Anfang des Films oder das Lachen der jungen Frauen, spricht dafür, allerdings handelt Don nicht permanent zu viel, sondern sehr, sehr wenig. Dons phlegmatische Haltung, seine minimalistische Mimik und Gestik, sein lakonischer Sprachgebrauch sowie seine Fred Perry-Trainingsanzüge drücken Coolness aus. Allen-Figuren sind nicht cool. Don Johnson war cool. Don Johnston verleiht der Coolness von der ModBewegung bis in die Gegenwart Dauer: Er erscheint als Variation auf den white negro. 8 Winston stellt Don die Reiseroute zusammen, bucht Flüge, Leihwagen und Hotels. Die Serie möglicher Mütter strukturiert Broken Flowers als Episodenfilm. Die Episoden beginnen mit wiederkehrenden Elementen, z.B. privaten Basketball-Körben verschiedener Güte, an denen Väter und Söhne einst Körbe geworfen haben könnten, und einem Stück äthiopischer Musik, das sich auf

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nach Afrika (vgl. Diedrichsen 1999). Als bekanntester und meistgesampelter Funktrack gilt James Browns Sex Machine (live 1970). Sharon Stone debütierte ebenfalls in einem Allen-Film, in Stardust Memories (USA 1981). In der Filmographie von Tilda Swinton, die oft mit Derek Jarman zusammengearbeitet hat, zuerst in Caravaggio (UK 1986), wirkt ihre Rolle in The Beach auch eher außergewöhnlich. Das Tennismodelabel Fred Perry verweist auf die Mod-Bewegung. Die Mods führten das schmal geschnittene Piqué-Shirt in den 1960er Jahren in das popkulturelle Stilvokabular ein. Sie kultivierten aber auch die Haltung des cool Jazz im Ideal des white negro und andauernden Stilwechsel. Der Zwang zum Stilwechsel verbietet als es Mod zu altern wie Terence Stamp in Steven Soderberghs The Limey (USA 1999). Stamp trägt weiterhin schmale Hemden und umgeschlagene Jeans. Er sieht noch immer aus wie ein Mod. Don hingegen trägt Fred Perry-Trainingsanzüge, die als Retro-Mode der Clubkultur die ModBewegung in den 1990er-Jahren zitieren. So kann Don Mod bleiben, weil er kein Mod mehr ist. Zur Geschichte der Coolness vgl. Poschardt 2000.

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der CD befindet, die Winston Don gebrannt hat. 9 Die Musik lässt Don an Winstons Identität teilhaben. Die Episoden fügen sich zu einem Roadmovie, das durch zwei Homemovie-Episoden gerahmt wird. In der Eingangsepisode stellt Winston Don nicht nur seine Reiseroute zusammen, er gibt ihm auch klare Handlungsanweisungen mit auf den Weg: Er solle den Frauen gegenüber seriös auftreten, ordentliche Anzüge tragen, rosa Blumen mitbringen und auf Indizien achten, die die Absenderin des rosa Briefes verraten oder auf die Existenz eines Jungen gesuchten Alters im Haushalt hinweisen. Trotz immer offensichtlicher werdender Indizien von den verwitternden Basketball-Körben bis hin zu einer rosa Schreibmaschine erfährt man nicht, wer die Absenderin des Briefes war. Don spekuliert in der letzten Episode, dass der Brief auch von Winston oder Sherry geschrieben worden sein könne, was nicht unplausibel ist, weil sie während des Films, wenn auch aus verschiedenen Gründen, das größte Interesse an Dons neuer Identität bzw. ihrer Ausbildung äußern. Schließlich begegnet Don in der letzten Episode einem jungen Mann wieder, der unterwegs ist. Sie tragen ähnliche Trainingsjacken und tauschen sich über ihre Philosophien aus. Frauen bedeuten beiden viel. Die Trainingsjacke des jungen Mannes hat eine Kapuze. Don schlägt ihn mit dem Satz, dass er, Don, wisse, dass der junge Mann vermute, dass er sein Vater sei, in die Flucht. Sein Versuch, Winstons Strategie anzuwenden, etwas durch Anrufung zu etwas werden zu lassen, scheitert. Ein anderer junger Mann, der Don offensichtlich ähnlicher sehen soll, passiert ihn als Beifahrer in einem VW Käfer. 10 Man erfährt letztendlich nicht, ob es einen Sohn gibt. Der Sohn bleibt das Objekt »a« dieses Films. Lacan scheint zum impliziten Wissen Jarmuschs zu gehören, wie es Siri Hustvedt in Was ich liebte? (2003) für New Yorker Intellektuelle beschreibt. Das T streicht den Sohn im eigenen Namen durch, blockiert ihn: Aus Johnson, also Johns Sohn, wird Johnston „with a ‚t‘“. Winston nennt Don – wie Sherry eingangs – einen Don Juan, einen Verführer. Don Juan ist die Don unterstellte Ausgangsidentität. Die Namen John und Juan haben dieselbe Wurzel: Johannes. Nicht zufällig heißt auch Kierkegaards Autor von Das Tagebuch des Verführers so. 11 Nicht erst seit Kierkegaard besteht Bildung darin, das ästhetische Leben in einem moralischen aufzuheben oder jenes zugunsten eines moralischen Lebens aufzugeben. Broken Flowers lässt sich als Variation dieser Bildungsphantasie interpretieren. In die9

Die Episoden sind nicht durch Zwischentitel oder ähnliches getrennt. Verglichen mit Night on Earth (D/F/GB/J/USA 1991), einem älteren Jamusch-Film, handelt es sich um eine weichere Form. Eingeleitet werden sie bisweilen durch das Stück Yegelle Tezeta des äthiopischen Musikers Molatu Astatke. 10 Der junge Mann im Käfer heißt Homer Murray. Das erklärt die Ähnlichkeit. 11 Dem Tagebuch stehen als Motto zwei Zeilen aus dem Libretto zu Mozarts Don Giovanni voran: „seine vorherrschende Leidenschaft ist die für das junge frische Mädchen“. Am Beispiel der Mozart-Oper arbeitet sich Kierkegaard im ersten Teil von Entweder-Oder unter dem Titel Das Musikalisch-Erotische an der Figur Don Juans ab, die ihm als Prototyp des sinnlichen Lebemanns gilt.

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ser Interpretationslinie betonte das T, dass Don kein Sohn Don Juans mehr sei, sondern selbst Vater geworden. Die Interpretation, dass Don im Laufe des Films seine Lebensart aufgebe und Familienwerte für sich entdecke, hat dazu geführt, dass der Film in konservativen us-amerikanischen Kreisen trotz einer Nacktszene Lolitas 12 – der Name durfte nicht fehlen, allein als Hinweises auf die sinnliche Qualität von Eigennamen – als pädagogisch wertvoll empfohlen wurde. Das T könnte also für ein dead end stehen, eine Sackgasse, aber ebenso für eine Verzweigung. Don scheint am Anfang des Films von seinem Ledersofa als Symbol ästhetischen Lebens in die Leere zu blicken. Er guckt aber einfach nur auf seinen großen Fernseher, genau wie die Kinobesucherin oder der Kinobesucher auf die Leinwand. Der Screen ist ein Möbiusband, auf dem permanent Verzweigungsprozesse ablaufen. Gilles Deleuze verweist in diesem Zusammenhang gern auf Borges’ Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (1944). Dort verzweigt sich die Zeit „beständig zahllosen Zukünften entgegen“, was die Möglichkeiten vervielfacht, eine begründete Entscheidung zwischen Alternativen im selben Prozess aber verunmöglicht. War Don damals ein skrupelloser Verführer? Pennys Reaktion legt nahe, dass es so gewesen sein könnte. Sie begrüßt ihn mit: „So, what the fuck do you want, Donnie?“ Nachdem Don sie gefragt hat, ob sie ein Kind habe, wird er von einem ihrer Motorradfreunde niedergeschlagen. Er erwacht mit zerschundenem Gesicht auf der Rückbank seines Leihwagens, einem Ford Taurus, auf einem abgeernteten Maisfeld. Lauras Wiedersehensfreude spricht eher dagegen. Zeigt sich Bildung hier also gerade dadurch, wie sich in Anschluss an Hans-Christoph Koller (1999) behaupten ließe, dass der Widerstreit offen gehalten werde – und man das Handeln erstmal aussetzt? Don wehrt sich gegen beide Identitätszuschreibungen. Er bittet Winston mit dem Don Juan-Gerede aufzuhören und äußert auch seine Unzufriedenheit mit dem Identitätsangebot, das Winston ihm performativ unterschiebt. Winstons Vorschlag, sich selbst auf die Suche zu begeben kommentiert er mit: „You’re insane, Winston.“ Dass Winston ihm als Leihwagen immer wieder das Familien-Modell Tauraus von Ford reserviert, statt einen seinem Lebensstil angemessenen Porsche führt zu der lakonischen Selbstbeschreibung „I am a stalker in a Taurus“. Wie jemand, der einen Stier erlegen könnte in den Labyrinthen des Lebens, wirkt Don auf der Rückbank seines Taurus auch tatsächlich nicht mehr. Die beiden vorgeschlagenen Identitäten passen nicht. Weil sich bei Don trotz der Anstrengungen Winstons auch gegen Ende des Films keine Familienwerte entdecken lassen – die liegen nach wie vor alle bei Winston –, scheint es plausibler anzunehmen, dass Don, statt von einem Selbst- und Weltverhältnis in ein 12 Nabokov hat am Beispiel „Lolita“ im gleichnamigen Roman, gleich zu Beginn die sinnliche Qualität von Eigennamen in Erinnerung gerufen: „Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three Steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.“

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anderes überzugehen, zwischen beiden innehält. Für die These einer Identitätsdiffusion spricht auch der Refrain des im Film zentralen Liedes There Is An End von Holly Golightly und The Greenhornes: „Thoughts rearrange | familiar now strange | All my schems drifting now away.“ Selbstverständlich gibt es noch eine weitere Möglichkeit. Vielleicht befindet sich Don gar nicht in einem Zwischenzustand, sondern zieht eine Fluchtlinie. Muss ein neues Selbst- und Weltverhältnis noch erfunden werden? Besteht das Neue nicht gerade darin, dass Don lebt und nicht handelt? Zeigt sich im Nicht-Handeln Bildung? Don fasst seine Philosophie in drei Sätzen zusammen: „Past ist gone. Future isn’t here yet. All there is, is this.“ Don steht zwischen Vergangenheit und Zukunft: Seine Zukunft deutet sich in einer zweiten Serie von Frauen an, einer Serie junger Frauen, die mit Sherry beginnt und schließlich bei Sun Green (Pell James) endet. In der Zwischenzeit erscheinen eine namenlose Flugbegleiterin (Meridith Patterson), Lauras Tochter Lolita (Alexis Dziena), und Carmens Assistentin (Cloë Savigny) als Ziele für Dons Begierde, die einen neuen Wiederkunftszyklus in Gang setzen könnte. Die Serien laufen einander entgegen: Die Serie der älteren Frauen beginnt bei Laura, mit der er, selbst verwundert über sich, noch einmal eine Nacht verbringt, und endet am Grab von Michelle Pepe. Die Serie der jungen Frauen beginnt mit einem Ende, dem Bruch mit Sherry, und endet bei der Blumenverkäuferin Sun Green, die ihm die Blumen für Michelles Grab steckt und die Wunden versorgt, die der Besuch bei Penny hinterlassen hat. Don sagt ihr, dass ihr Name gut zu ihr passe. Sun Green steht für das Leben, das von selbst weitergeht. Sherry verbindet die Serien. Wie viele Frauen dazwischen fehlen, erfährt das Publikum nicht. Es weiß auch nichts über die Reihenfolge, der fünf Frauen aus Dons Vergangenheit, über Parallelitäten, Überschneidungen. Don bewegt sich zwischen den beiden Serien, er bewegt sich in einem nomadischen Raum, irgendwo durch die USA. Die Zeit scheint ihm auszuweichen, sich vor ihm zu teilen in Vergangenheit und Zukunft. Don handelt nicht, er betrachtet das Leben. Insofern steht der Film in der Tradition des italienischen Neorealismus. Das sensumotorische Band ist gerissen. Auf ein Wahrnehmungsbild, eine Situation, folgt keine Aktionsbild mehr, keine Handlung. In Broken Flowers fügt sich auch nichts mehr zu einem Ganzen, weder von vornherein, noch nach und nach. Ein Dies-da tritt an seine Stelle. Sichtbar werden kleine Bewegungen, Affekte, Bildungen. Das ist die Spur, die Fluchtlinie, das, was in den beiden zur Disposition stehenden Identitäten nicht mehr zum Ausdruck kommt. Die Karten und Pläne, die Winston für Don zusammengestellt hat, bilden die Topographie von Vergangenheitsschichten. In den Schichten passt kaum etwas zueinander. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einem Kristallbild, was eine Spielart des Zeit-Bildes ist. Dons Vergangenheit ist Legion, viele, mindestens fünf, sechs, mehr. Weil er – anders als Citizen Kane – noch

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lebt, schlägt seine Geschichte unwuchtige Bögen zurück in die Zukunft. Die Variationen sind endlos. In seiner Bauform ähnelt der Film dem Funk, er ließe sich ewig variieren wie ein Gutteil traditionell-afrikanischer Musik. Weil es sich aber um einen Film handelt, hat er Anfang und Ende. Seine Chronologie verdankt sich nur den Plänen Winstons. Don findet am Ende einen neuen rosa Brief. Diesen hat Sherry geschrieben.

Don’t Come Knocking Don’t Come Knocking funktioniert anders: kein Funk, ein Ritornell. Die Filmmusik wandert hin und wieder aus dem Off ins Bild ein. Die beiden Liedzeilen „He is a lonely man | who lost his only love“ kommentieren das abbrechende Telefonat von Howard Spence mit seiner Mutter. In der nächsten Szene sieht man den Sänger auf einer Bühne. Der Ton zieht manche Einstellungen zusammen und überspringt Schnitte. Der Film beginnt mit diesem Lied. Beim ersten Sehen wirkt der Film, als wolle er nicht mehr sein als ein Film: Gegenwart, die andauert, solange der Film dauert, chronologisch. Zu Beginn blicken zwei Himmelsaugen ins Publikum, die sich nach Ausblendung der schwarzen Maske als Löcher in einer Felsformation erweisen, vor der schon John Ford gedreht hat. Sie liegt bei Moab in Utah. Don’t Come Knocking gehört zum Genre des Post-Western. Ein Mann reitet in auffälliger Westernkleidung durch die Wüste. Es ist der Cowboy-Darsteller Howard Spence, gespielt von Sam Shepard, der auch das Drehbuch schrieb. Am Set suchen Sie ihn schon. In seinem Wohnwagen findet man nur zwei verschlafene junge blonde Frauen in Unterwäsche. Eine entgegnet auf die Frage des Regie-Assistenten, wo Howard sei: „Who is Howard?“. Howard ist davon geritten und reitet nun durch die Wüste von Utah. Das dauert. Wenders Filme dauern. Die Crew versucht die ausstehenden Szenen mit einem Ersatz zu drehen. Howards Filmpartnerin weigert sich aber, jemanden anders als Howard zu küssen. Das sei ihr schließlich vertraglich zugesichert. Sie fragt: „Where ist Howard?“ Wim Wenders ist in dieser Szene kurz zu sehen wie Hitchcock in seinen Filmen. Dabei fehlt ein MacGuffin. Der MacGuffin ist Hitchkocks Name für das Objetk »a«. Ist der MacGuffin das Objekt »a« des Films? Die beiden Fragen – wo ist Howard? Wer ist Howard? – ziehen sich durch den Film – und das, obwohl immer klar scheint, wer Howard ist, und meistens auch, wo er steckt. Auf der offiziellen Homepage des Films fin-

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det sich sogar eine Karte. 13 Was sich der Darstellung entzieht ist, was nicht da ist. 14 Die Versicherung der Filmgesellschaft schickt einen Privatdetektiv, der Howard zum Set zurückbringen soll, damit er seine Vertragspflichten erfüllt und die Versicherung nicht zahlen muss für den Ausfall. Mr. Sutter (Tim Roth) inspiziert den Wohnwagen und findet leere Flaschen und Spuren von KokainLinien. Im Wohnwagen hängt auch das Schild mit der Aufschrift: „Don’t come knocking, if the trailer is rocking.“ Das Titelstück des Films stammt von U2 und wird gesungen von Bono und Andrea Corr. 15 Sutter spricht auf sein Handy, dass Howard sein Leben offenbar bisweilen entgleise, was nicht unüblich sei in der Branche. Er nimmt die Verfolgung auf. Wenders wählt die klassische Parallelmontage, um sie darzustellen. Howards Reise folgt einem nachvollziehbaren Weg durch den Westen der USA. Er tauscht mit einem alten Farmarbeiter Kleidung und fragt nach einer Leihwagenfirma oder einem Bahnhof. Der Farmer verneint. Zu Fuß folgt Howard Gleisen. Hier zitieren Wenders und Shepard sich selbst. Anders als Travis (Harry Dean Stanton) in Paris, Texas (D/F 1984), trägt Howard keine rote Schirmmütze, sondern überquert die Schwellen in roten Socken. 16 Die sich aufdrängende Assoziation „vom Kopf auf die Füße“ führt weiter zu Tragödie und Farce, was zu den beiden Wenders-Filmen passt. Einige Szenen lassen sich zunächst weder der Flucht noch der Verfolgung zuordnen. Man weiß mit dem jungen Sänger so wenig anzufangen wie mit der jungen Frau, die eine blaue Urne abholt, die die Asche ihrer Mutter enthält. Die Frau heißt Sky (Sarah Polley), ah, die Himmelsaugen … Verfolgt auch sie Howard? Irgendwo hat Howard offenbar einen Wagen leihen können, aus dem er seine Mutter anruft. Howard hat sie 30 Jahre nicht gesprochen. Sutter findet den roten Geländewagen am Busbahnhof von Salt Lake City. Er erfährt von seiner Sekretärin, dass Howards Mutter seine einzige Verwandte sei. In Salt Lake City hat Howard Geld von allen seinen Konten abgehoben, seine Kreditkarten zerbrochen, sein Mobiltelefon weggeworfen und den Bus nach Elko, Nevada, bestiegen. Im Bus zieht er sich um, wechselt die Socken und trägt im weiteren Verlauf des Films wieder Westernstiefel, allerdings weniger bunte. Der Bus passiert einen schottischen Golfer (T Bone Burnett), der eine Reihe merkwürdiger Figuren eröffnet. Seine Mutter (Eva Maria Saint) holt ihn vom Bus ab. Mrs. Spence trägt ein blaues Kostüm und einen Strauß Plastikrosen.

13 Karte s. www.dontcomeknocking.com (21. Mai 2006). Im Begleitbuch von Sam Shepard und Wim Wenders (2005) fehlt die Karte. Dafür enthält es Wenders Don’t Come Knocking ABC. 14 Diese Einfachheit kann täuschen. Fleig (2005) zeigt, dass einige Filme Wenders deutliche Bezüge zur antiken und christlichen Mythologie haben. 15 http://www.u2tour.de/discographie/lyrics/Dont_Come_Knocking.html (21. Mai 2006) 16 Sam Shepard ist Ko-Autor des Drehbuchs von Paris, Texas und war zunächst auch für die Hauptrolle vorgesehen.

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Die Schauspielerin Eva Maria Saint spielt auch auf Hitchcock an, auf Hitchcocks Roadmovie North bei Northwest (USA 1959, dt. Der unsichtbare Dritte). Dort steigt sie nicht nur mit Roger Thornhill, der zu Beginn des Films auch mit seiner Mutter telefoniert, durch den Mount Rushmore, sondern stellt sich ihm auch mit dem Satz vor: „I’m Eve Kendall. I’m twenty-six and unmarried. Now you know everything.“ Howard ist 62, der Rest scheint auf ihn auch zuzutreffen. Howards Vater – für sein Grab sind die Rosen – ist vor Jahren gestorben, seine Mutter sei danach von der Ranch in die Stadt gezogen. In einem Diner fährt Howard einen anderen Besucher an, weil der ihn anstarrt, und will gehen. Die Mutter entschuldigt das Verhalten ihres Sohnes. Er sei zu lange fort gewesen von zuhause und habe deshalb seine Manieren verloren. Sie stellt ihn dafür zur Rede. Sein Verhalten sei unentschuldbar. Sie quartiert ihn im Keller ihres Hauses ein. Dort verwahrt sie auch seine Sachen und ein Album mit Zeitungsausschnitten, das Howards Karriere und ihren Verfall dokumentiert. Nach seinem Durchbruch in Just Like Jesse James – einen Film dieses Namens gibt es nicht, aber ein Lied von Cher – ging es bergab: Skandale, Exzesse, ein Gefängnisaufenthalt und schließlich das B-Movie Phantom Of The West. Einen Western dieses Titels gibt es tatsächlich, es handelt sich um einen frühen Tonfilm von Ross Lederman (USA 1931). Der Film, der vor dem Abschluss steht, könnte also ein Remake sein. Howard lässt sein Leben Revue passieren und hält skeptisch inne. Die Mutter wimmelt derweil oben Mr. Sutter ab. Nein, sie habe ihren Sohn seit 30 Jahren nicht gesehen. Howard geht abends ins Casino, trinkt erst Cola und betrinkt sich später. Er trifft den kurze Hosen tragenden älteren Mann aus dem Diner wieder und geht ihm an den Kragen. Dass sie Klassenkameraden gewesen seien, davon will er nichts wissen. Am nächsten Morgen bringt ihn die Polizei nach Hause. Der Polizist rät der Mutter, ein Auge auf ihren Sohn zu haben. Am Frühstückstisch isst sie sein Rührei und fragt, ob er Fotos seiner kleinen Familie dabei habe. Howard fragt irritiert: von welcher Familie? Vor 29 Jahren habe sich eine Frau nach ihm erkundigt und sehr glaubwürdig behauptet, sie sei auf der Suche nach ihm als dem Vater ihres Kindes. Howard glaubt das zunächst nicht, bestreitet, je ein Kind gezeugt zu haben und fragt dann nach dem Namen der Frau. Seine Mutter erinnert sich nicht, irgendwo aus Montana habe sie angerufen. Sie schenkt ihm das Auto seines Vaters, einen mint-farbenen Packard, Baujahr 1954. Howard fährt nach Butte, Montana, wo seine einst viel versprechende Karriere begann. Sky fährt inzwischen auch nach Norden. Sie wird seine Tochter sein, denkt man. Unterwegs übernachtet Howard in einem Hotel. Die Frauen, die außer ihm noch dort wohnen, erkennen ihn als Schauspieler. Das passiert ihm öfter. Die Frauen tragen überwiegend rosa, zwei von ihnen liften ihre Tops und zeigen ihre Brüste, vor der Telefonkabine, aus der Howard noch einmal mit seiner

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Mutter telefoniert, drei der Frauen liegen in seinem Bett, als am nächsten Morgen das Zimmermädchen klopft. Das gesamte Interieur des Hotels ist rot. In Butte checkt er ins farbneutrale Finlen Hotel ein. Doreen kellnert (Jessica Lange) noch immer im M&M Cafe. Die alten Fotos von Doreen und Howard wirken authentisch, weil Sam Shepard und Jessica Lange im wirklichen Leben mit einander verheiratet sind. So stammt auch das Foto von Skys toter Mutter von der Mutter der Schauspielerin. Der Film mischt Fakten ins Fiktive. Sky sitzt auch im M&M. Howard vermutet, dass Doreen seinerzeit bei seiner Mutter angerufen habe. Abends treffen sich Howard und Doreen in der Bar „The Irish Times“, dort steht der junge Mann auf der Bühne. Doreen erklärt Howard, der junge Sänger, Earl (Gabriel Mann), sei sein Sohn. Howard sieht ihn dort zum ersten Mal. Earl (Gabriel Mann) singt: „He is a lonely man who lost his only love“ 17 . Seine Freundin Amber (Fairuza Balk) sitzt ihm zu Füßen. Der Erstkontakt von Vater und Sohn am Hinterausgang missglückt. Howard erwacht in seinem Auto. Zeit vergeht. Wenders nutzt den Zeitraffer. Schatten wandern über den Parkplatz. Die Lichtverhältnisse wechseln. Ein Indianer taucht auf. Howard trifft Doreen auf der Straße. Sie erkundigt sich nach seinem Treffen mit Earl. Er gesteht ihr, dass er sie damals hätte heiraten sollen. Das nicht getan zu haben, sei ein großer Fehler gewesen. Sie schlägt daraufhin vor den Schaufensterscheiben eines Fitness-Studios auf ihn ein und freut sich an ihrem Reim: „You are a coward, Howard!“ Zudem einer ohne Geduld. Ihn erschreckt, dass er sich in Earl wieder erkennt. Earl ist aufgebracht. Er weigert sich mit Sky über seinen Vater zu sprechen. Er verlässt Amber mit der Begründung, sie sei so dumm wie die Grille aus Pinocchio. Amber folgt ihm, entgegnet: Who is Pinocchio?, meint, dass sie gar nicht so schlecht sei, und fragt, warum er es bei keiner Frau aushalte. Earl stellt seine Mutter hinter dem M&M zur Rede. Doreen verbittet sich seinen Ton, ähnlich wie Howards Mutter zuvor. Wieder kommt es zu einer Rangelei. Immer öfter tauchen Affektbilder auf, Großaufnahmen von Gesichtern, manchmal mit Tränen in den Augen. Sky schaut sich auf dem iMac im M&M Bilder von Howard an, die sie auf einem Memorystick transportiert. Sie liest im Netz, dass Howard vom Set verschwunden sei, lacht und geht ein weiteres Mal zu ihm. Die Serie verfehlter Begegnungen setzt sich fort. Howard wirft Sky, die er für ein Groupie hält, aus seinem Hotelzimmer. Sie steckt ihm noch Earls Adresse zu. Earl verwüstet sein Appartement, er wirft die Einrichtung aus dem Fenster. Sutter war inzwischen noch einmal bei Howards Mutter, hat herausgefunden, dass sie ihn zunächst belogen hat und dass ihre Peanutbutter-Cookies großartig sind. Howard geht zu Earl. Earl geht auf ihn los, schließlich improvisiert er ein neues Lied: „Who is Howard? Where is Howard?“ sind die ersten beiden Zeilen des Refrains. Amber ist wieder da. Sky kommt dazu. Sky bittet Howard, 17 Die Songs, die Earl singt, stammen von T Bone Burnett.

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nicht fort zu gehen, und geht dann die Asche ihrer Mutter über Butte verstreuen. Howard hat vor 30 Jahren offenbar zwei Kinder gezeugt. Howard harrt auf Earls Sofa aus, auf der Straße vor seinem Appartement. Das Stoffdessin zeigt Südsee-Schönheiten und tropische Pflanzen. Die Kamera beginnt sich um Howard zu drehen, immer und immer wieder. Sky scheint lange fort zu sein. Trotz ihrer Bitte wartet Howard nicht. Sutter ist inzwischen ebenfalls in Butte angekommen, sitzt im M&M und erkundigt sich bei Doreen nach den Unterschieden zwischen den drei angebotenen Kartoffel-Beilagen. Howard checkt aus dem Finlen aus. Vor dem Hotel begegnet er dem Indianer wieder, der ihn um Geld bittet, sein Almosen ablehnt, seinen Autoreifen zerschießt und schließlich Howards ganzes Geld bekommt. Mit plattem Reifen rollt Howard auf Sutter zu. Sutter legt Howard Handschellen an. Howard bittet Sutter um Aufschub, weil er gerade erst seine Familie gefunden habe. Er will sich verabschieden. Inzwischen hat er verstanden, dass Sky seine Tochter ist. Er stellt sie Sutter mit den Worten: „This is, I guess, my daughter.“ Howard ist inzwischen Vater geworden. Sky nutzt die Chance, ihrem Vater zu erklären, wie sie mit seinen Bildern umgegangen sei, dass sie die Konturen seiner Gesichtsknochen nachgezeichnet habe bei den Versuchen, sich in ihm zu erkennen. Sutter stoppt die Sentimentalitäten und bringt ihn in einem Porsche Cayenne zurück zum Set. Bevor sie einsteigen, dreht sich Howard noch einmal um. Er zieht seinen Autoschlüssel aus der Tasche und wirft ihn Earl zu. Es sei das Auto seines Großvaters. Auch diese Geste deutet daraufhin, dass ein Bildungsprozess stattgefunden hat. Howard erfüllt seine Vertragspflichten. Er küsst ein Mädchen, das auf der Farm zurückbleibt und versichert ihr, dass er immer an sie denken werde. Der Wallach wiehert und steigt. Howard reitet zu kitschiger Westernmusik davon. Der Film könnte wieder beginnen. Das Ritornell schließt sich. Sky, Earl und Amber wechseln den Reifen und machen sich im Packard auf dem Weg zu ihm. Sie singen das improvisierte Lied. Nach Wisdom, verrät ein Straßenschild, seien es noch 52 Meilen, nach Divide nur eine. 18 Der Film ist aus. Don’t Come Knocking ist vorrangig Aktion und somit das genaue Gegenteil von Broken Flowers. Der Film operiert auch mit anderen Raumvorstellungen. Der Raum ist metrisiert, nicht glatt. Unklarheiten klären sich nach und nach. Was sich nicht klärt, scheint nicht so wichtig, z.B. wer Skys Mutter war. Bei Wenders zählen Bilder mehr als Geschichten, die sich erzählen lassen. Bei ihm ordnen sich die Bilder nicht der Geschichte unter, sondern eher andersherum. Seine Bilder sind Bewegungs-Bilder. Gerade die minimalen Bewegungen in den oft langen Einstellungen lenken die Aufmerksamkeit auf die Bewegung im Bild. Die Bilder schließen an an ein Bild-Gedächtnis. 19 Bei Wenders 18 52 Miles to Wisdom wurde auch als möglicher Filmtitel gehandelt. Divide meint Continental Divide, die große Wasserscheide – auch ein Symbol für eine größere Wende. 19 Das Eingangsbild zitiert Magritte, viele Einstellungen erinnern an einen Edward Hopper, den es in den Westen verschlagen hat. Das Breitwandformat hält Bilder aus der Hochzeit

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findet Bildung nicht zwischen Bildern statt, sondern im Bild. Don’t Come Knocking und Broken Flowers zeigen unterschiedliche Bildungsprozesse auf verschiedene Weisen. Im Modus des Funk und als Ritornell. Gilles Deleuze gibt an, dass er gemeinsam mit dem Nicht-Philosophen Félix Guattari in Tausend Plateaus das Ritornell erfunden habe – und zwar als philosophischen Begriff.

Metacinema Nach Tausend Plateaus, seinem dritten gemeinsamen Buch mit Guattari, veröffentlicht Deleuze in den frühen 1980er Jahren sein Buch über den Maler Francis Bacon (1995, frz. 1981) und die beiden Kinobücher: Das BewegungsBild (1997a, frz. 1983) und Das Zeit-Bild (1997b, frz. 1985). Das Bacon-Buch trägt den Nebentitel Logik der Sensation. Dieser Titel bezeichnet das Gesamtprojekt dieser Jahre treffend. 20 Es geht Deleuze (2005: 169), wie er in einem Interview anlässlich des Erscheinens von Tausend Plateaus bemerkt, darum, „eine allgemeine Logik“ zu erarbeiten, die bisher lediglich skizziert sei. Es handelt sich um eine Logik des Materie-Stroms. 21 Dem Materie-Strom als Medium von Bildungsprozessen kann man nur folgen. Darin besteht die Aufgabe „ambulanter Wissenschaften“, zu denen der Film und Deleuzes Film-Philosophie zählen. 22 Nach beiden Versuchen, Bilder-Strömen zu folgen, fehlt noch eine Antwort auf die Frage: Kann Film als Wissenschaft helfen, Bildungsprozesse anders aufzufassen als als Bilder im Sinne von Figurationen, zwischen denen nachträglich Bewegung eingefügt wird? Dieses Vorgehen ist auf andere Art kinematographisch als das Bewegungs-Bild. Unter Bewegungs-Bild versteht Deleuze zunächst ein Bild in Bewegung, so wie man es auf der Leinwand des Western ebenso präsent wie Marlborough-Spots aus Werbeblöcken. Assoziationen liegen auch zu Pippilotti Rists Video I’m a Victim of This Song (1995), in dem sie Chris Isaaks Wicked Game covert, das zur Filmmusik von Lynchs Wild at Heart gehört, schon wegen der vorbeiziehenden Himmel, und zu Horses, Ton-Bildern von Patty Smith. 20 Das Projekt, welches das Spätwerk Deleuzes insgesamt recht gut bezeichnet, kontrastiert die Logik des Sinns (1969, dt. 1993) und markiert einen Perspektivenwechsel im Denken Deleuzes von Schriftzeichen zu Bildzeichen und die stärkere Öffnung der Philosophie für die Nicht-Philosophie. 21 Deleuze und Guattari (1992: 565, Übersetzung von mir) nennen den Materie-Strom maschinelles Phylum, das sie definieren als „Materialität, natürlich oder künstlich und beides zugleich, Materie in Bewegung, im Fluss, in Variation, sowohl als Trägerin von Singularitäten als auch von Ausdrucksmerkmalen.“ Hinsichtlich des Größenwahns erinnert Deleuzes Projekt an Hegel. Dadurch wird aus dem Anti-Hegelianer, als der Deleuze im anglo-amerikanischen Sprachraum gehandelt wird, allerdings noch kein Hegelianer, den Slavoj Zizek (2005) gern in ihm sähe. Mir scheinen beide Positionen unplausibel, denn im Kontext der zu erarbeitenden Logik verlieren Logiken, die auf Identität und Negationen beruhen, an Kraft. Dadurch erschöpfen sich paradigmatische Moden und entspannen sich Widersprüche. 22 Zu Materiestrom und Geschichtswissenschaft vgl. de Landa 1997.

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sieht. Analysen von Bildungsprozessen arbeiten aber analog zu einem Projektor, der Einzelbildern mechanisch abstrakte Bewegung hinzufügt. Leider bleibt der Bildungsprozess als konkrete Bewegung wegen des fehlenden Durchschnittsbildes im off oder hors-champs. Henri Bergson kritisiert derartige Vorgehensweisen im vierten Kapitel von Schöpferische Entwicklung (1930: 309 f.) als kinematographischen Mechanismus des Denkens: Der „Kunstgriff des Kinematographen“ sei auch der „Kunstgriff unseres Erkennens“ – und Grund unseres Verkennens. In seinen beiden Oxforder Vorträgen über die Wahrnehmung der Veränderung (26./27. Mai 1911) äußert Bergson (1948: 161), dass die Metaphysik die Zenon’schen Paradoxa nie überwunden habe. Am bekanntesten sind sicher das Paradox von Achilles, der die Schildkröte nie erreicht, obwohl er viel schneller ist als sie, und vom Pfeil, der zu verschiedenen Zeitpunkten an unterschiedlichen Ort ist, aber niemals in Bewegung. 23 Das Resultat sei eine „Kristallisation der Wahrnehmung“, gegen die es „die Veränderung und die Dauer in ihrer ursprünglichen Beweglichkeit wieder zu erfassen“ gelte. Nun ist es weder Zufall, noch Bequemlichkeit, dass sich Bilder verfestigen und unsere metaphysische Tradition Bewegungslosigkeit bevorzugt. Bergson gibt als Grund an, „dass wir ein für die Praxis geschaffenes Verfahren auf die Spekulation übertragen.“ (Bergson 1930: 277) Um handeln zu können, ist es unabdingbar, Komplexität dadurch zu reduzieren, dass Bilder im Materiestrom isoliert und gebremst werden. Praxis fragmentiert Materie. „Unsere Wahrnehmung der Materie […] ist zerstückelt durch die Vielspältigkeit unserer Bedürfnisse.“ (Bergson 1991: 36) Der Materie-Strom hingegen ist kontinuierlich. Wir leben in einer kontinuierlichen Welt und handeln in einer diskontinuierlichen. Praxis verhindert folglich eine adäquate Erkenntnistheorie: „die Wirklichkeit ist immer die Beweglichkeit selber.“ (Bergson 1948: 170) Die Beweglichkeit ist eine Beweglichkeit von Bildern. „Für uns“, schreibt Bergson (1991: I) im Vorwort zu Materie und Gedächtnis, „ist die Materie eine Gesamtheit von ‚Bildern‘. Und unter ‚Bild‘ verstehen wir eine Art Existenz, die mehr ist als was der Idealist ‚Vorstellung‘ nennt, aber weniger als was der Realist ‚Ding‘ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ‚Ding‘ und der ‚Vorstellung‘ liegt.“ Wenn uns das Kino Bilder in Bewegung zeigt, dann liegt nah, es mit Deleuze als Metacinema zu begreifen. Genau das schreibt Deleuze (1997a: 88) Bergson zu: „Er [Bergson] sieht das Universum als Film an sich, als MetaFilm [metacinema], und das bedeutet für den Film eine ganz andere Betrachtungsweise als jene, die er in seiner expliziten Kritik entwickelte.“ Seine explizite Kritik als Kritik am kinematographischen Mechanismus des Denkens scheint der Feier des Kinos als Erkenntnistheorie zu widersprechen. Weil es sich aber bei der Feier des Kinos als Erkenntnistheorie um Deleuzes Fest han23 Platon hat das Werden im Timaios (28 a ff.) kurzerhand aus der Ontologie ausgeschlossen.

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delt, hat seine Frage, warum Bergson 1907, als Schöpferische Entwicklung erschien, wieder den Erkenntnisvorsprung von 1896, dem Erscheinungsjahr von Materie und Gedächtnis, das gemeinhin als Jahr der Erfindung des Kinos angesehen wird, eingebüßt habe, vor allem didaktischen Wert. Sie aktualisiert Bergsons Unterscheidung von Handeln und Erkennen, die Spaltung der Welt in zwei und das sich anschließende Verkennen. Deleuze schickt uns zurück in Platons Höhle, die sich inzwischen zum Kino weiter entwickelt hat, um zu erkennen und nicht zu handeln. Deshalb ist es auch nicht mehr nötig, das Publikum zu fesseln. Das tut bestenfalls der Film. Bergsons Philosophie hat Deleuze Zeit seines philosophischen Lebens beschäftigt. 24 Deleuze widmet ihr in den Kinobüchern vier Kommentare, die zugleich als strukturierende Kapitel dieser beiden Bücher gelten können. 25 Zwei Bergson-Kommentare finden sich in Das Bewegungs-Bild, zwei in Das Zeit-Bild. Bewegungs- und Zeit-Bild benennen die obersten Bildkategorien. Deleuze schreibt die Begriffe Bergson zu, bei Bergson kommen sie jedoch meines Wissens nicht vor. Sie stammen von Deleuze, sind Produkte seiner Lesarten Bergsons wie auch das Metacinema. „Das Bewegungs-Bild und der Materie-Strom sind“ für Deleuze (1987a: 87) „genau dasselbe.“ Die Leinwand wird zur Immanenzebene. „All there is is this.“ In einem Gespräch mit den Cahiers du Cinéma (Deleuze 2005: 270) fällt der Satz, dass auch das Gehirn die Leinwand sei. „Der Film“, schreibt Deleuze (1997b: 277) in Kino 2, „zeichnet den filmischen Vorgang in der Weise auf, dass er einen zerebralen Vorgang projiziert. Ein Gehirn, das flackert, das neu verkettet oder Schleifen durchläuft, das ist Kino.“ Das ist Bildung. Auf dem Möbiusband wird Bewusstsein etwas. Wenders spielt – zum Teil ironisch – mit den Genre-Regeln des Western. Wie John Ford setzt er den Himmel als Symbol für das Ganze ein. „Das Allesumgreifende ist der Himmel“ (Deleuze 1997a: 199). Die Bewegung vollziehe sich innerhalb des Ganzen. Der vorherrschende Bildtyp des Western ist das Bewegungs-Bild. Ein Bewegungsbild ist ein beweglicher Schnitt und als sol24 Erste Aufsätze zu Bergson veröffentlicht Deleuze bereits in den 1950er Jahren, später sein Buch zum Bergsonismus, dessen deutsche Ausgabe ironischerweise in eine Junius’ Reihe Zur Einführung Eingang gefunden hat. 25 Zum Stellenwert Bergsons in den Kinobüchern vgl. Bogue 2003. Neben Bergson, dessen Arbeiten Deleuze durch sein ganzes Schaffen begleitet haben, bezieht sich Deleuze in den Kinobüchern hauptsächlich auf die Semiotik des amerikanischen Pragmatisten Charles Sanders Peirce. Peirce orientiert sich nicht am Schriftzeichen wie de Saussure, sondern am Bildzeichen. Deleuze lehnt die einflussreichen linguistischen und psychoanalytischen Filmtheorien, für die Namen wie Christian Metz oder Laura Mulvey stehen, ab (vgl. Deleuze 2005: 270). Die Ablehnung erklärt seine Sonderstellung innerhalb der Filmtheorie und die selbst im anglo-amerikanischen Sprachraum schleppend verlaufende Rezeption der Kino-Bücher (vgl. Rodowick 1997). Die Gründe seiner Ablehnung böten im Hinblick auf den zugrunde liegenden Text Rainer Kokemohrs ebenso interessante Anknüpfungspunkte wie Peirces triadisches Zeichenkonzept. Beides lasse ich in diesem Text außer Acht.

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cher unteilbar und von einer gewissen Dauer. Deleuze unterscheidet in seiner gröbsten Gliederung drei Spielarten: das Wahrnehmungsbild, das Affektbild und das Aktionsbild. 26 Das Aktionsbild dominiert den Western. Dabei kann es zwei Gesetzen folgen, dem Gesetz der großen Form und dem der kleinen Form. Das Gesetz der großen Form basiert auf und erzeugt die „organische Repräsentation im ganzen“ (Deleuze 1997a: 206). Es folgt dem Schema S – A – S’, sprich eine Situation (S) führt über Aktion (A) zu einer modifizierten Situation (S’). In diesem Fall rahmen zwei Wahrnehmungsbilder ein Aktionsbild. Die kleine Form A – S – A’ rahmt ein Wahrnehmungsbild durch zwei Aktionsbilder, sie stellt die organische Repräsentation nach und nach her. Wenders folgt zu Beginn seines Filmes beiden Gesetzen. Don’t Come Knocking beginnt mit zwei Wahrnehmungsbildern: den Himmelsaugen und der Felsformation. Wenders schiebt dann ein Aktionsbild ein, ein Cowboy reitet durch die Wüste, und schließt ein weiteres Wahrnehmungsbild an: man sieht eine Wohnwagenburg. In dieser Wohnwagenburg sucht jemand den Cowboy. Dieses Übergangsschema von der großen in die kleine Form, also S – A – S’ – A’ zeichnet Wenders’ Film aus. Aktionsbilder lassen uns Handlungen wahrnehmen. Die Reduktionen des Aktionsbildkinos entsprechen denen eines Handelnden und der dazugehörigen Metaphysik. Im Verlauf des Films wächst die Dichte der Affektbilder. Das sind die Großaufnahmen von Gesichtern, die innehalten, denen Tränen in den Augen stehen. Durch Affektbilder, das sind im Grund selbstreflexive Wahrnehmungsbilder oder im Bergson’schen Sinne Körperbilder, setzt eine Deterritorialisationsbewegung ein. Affektbilder unterbrechen die Handlungszusammenhänge, eröffnen die Möglichkeit einer Abweichung. Wenn ihre Dichte ein bestimmtes Maß übersteigt, reißt das sensumotorische Band. Der Protagonist hört auf zu handeln und wird selbst zum Zuschauer. Dies passiert bei Wenders nicht entgültig. Bei Wenders passiert, was Deleuze für John Ford beschreibt: Der Himmel pulsiert. Genau das ist die Bewegung des Ritornells. Deleuze und Guattari führen das Ritornell in Tausend Plateaus am Beispiel eines Kindes ein, das gegen seine Angst im Dunkeln beginnt, ein Lied zu singen: „es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos“ (Deleuze/Guattari 1992: 424). Es territorialisiert sich – zweitens – innerhalb seiner zerbrechlichen Klangmauer: „Ein Fehler in der Geschwindigkeit, im Rhythmus oder in der Harmonie wäre eine Katastrophe, denn er würde den Schöpfer und die Schöpfung zerstören, indem es die Kräfte des Chaos wieder eindringen ließe.“ Drittens, nachdem das Territorium sicher genug abgesteckt ist, „öffnet man den Kreis ein wenig“, natürlich nicht dort, wo die Kräfte des Chaos am stärksten sind, sondern andernorts. Der Kreis öffnet sich seiner Zukunft. „Man bricht aus, wagt eine Improvisation. Aber improvisieren bedeutet, sich mit der Welt zu verbinden und zu vermischen. Am Leitfaden des Lied26 Als Zwischenformen unterscheidet Deleuze auch noch Trieb- und Transformationsbilder.

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chens“, schließen Deleuze und Guattari, „geht man aus dem Haus.“ Genau diese Bewegung vollzieht Earl durch seine Improvisation des Liedes „Who is Howard? Where is Howard?“ Das Lied überführt Chaos in Rhythmus, schafft innerhalb des Milieus aller Milieus, des Chaos, Übergänge von einem Milieu zum nächsten. Ein Milieu ist ein Gefüge und keine Situation. Die Übergänge unterscheiden sich von denen, die durch vermeintlich geradliniges Handeln hervorgerufen werden. Sie ereignen sich, und es kann sich ebenso gut um „IrrLinien“ handeln. Sie ändern im Übergang auch ihre Codes. Es sind nomadische Bewegungen, wie sie den Bewegungen im metrisierten Raum zu Grunde liegen. Insofern können Deleuze und Guattari anmerken: „Das Maß ist dogmatisch, aber der Rhythmus ist kritisch“ (Deleuze/Guattari 1992: 427), „der Rhythmus [ist] das Ungleiche oder das Inkommensurable“, er schafft Abweichungen und mit der Anomalie beginnt Bildung. Wim Wenders ist Film-Pädagoge, weil er für das Anomale und den Rhythmus in Handlungszusammenhängen sensibilisiert. Don’t Come Knocking zeigt wie Howard – und nicht nur Howard – innerhalb des großen Ganzen aus chronologischer Zeit und vermessenem Raum handelt, darunter werden aber in den Zwischenräumen der Affektbilder auch Lebensschichten sichtbar. Jim Jarmusch hingegen steht in der Tradition von Rosselinis Pädagogik, die Deleuze (1997b: 317) als „eine absolut unerlässliche Grundschule“ charakterisiert. Diese Verbindung mag auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchten, schließlich unterscheiden sich Don Johnston und der Junge Edmund Köhler in Germania Anno Zero (I/D/F 1948) beträchtlich, ebenso das kriegszerstörte Berlin und die Orte, durch die sich Don Johnston bewegt. Deleuze sieht Deutschland im Jahre Null als exemplarisch an für die Folgen der Schrecken des 2. Weltkriegs, die eine Zäsur darstellen: Danach ist das sensumotorische Band ein für alle Mal gerissen, der Raum als ganzer zerbrochen und die Zeit aus den Angeln. Edmund Köhler und Don Johnston betrachten die Situation und handeln immer weniger. Sie bewegen sich beide durch nomadische Räume. Anders als Edmund ist Don allerdings kein Kind, das Deleuze und Guattari als eine konkrete Form des Werdens begreifen. 27 „Kinder sind Spinozisten.“ (Deleuze/Guattari 1992: 348) Don könnte höchstens KindWerden bzw. von einer Spielart des Minoritär-Werdens erfasst werden. Minoritär-Werden hieße die Ebene des Handelns samt ihre von dichotom strukturierten Komplexitätsreduktionsmechanismen zugerichtete Welt zu verlassen hin zu einer Welt, in der sich das Leben auf kaum wahrnehmbare Weise, im Kleinen äußert. Ähnlich wie Deleuze es im Bacon-Buch für die Malerei fordert, muss man „die Figur dem Figurativen entreißen.“ (Deleuze 1995: 13) Das gelingt Bill Murray durch seinen Minimalismus. Dafür sprechen auch in diesem Fall die vielen Affektbilder. 27 Anders als Edmund Köhler bringt Don Johnston sich nicht um, er versucht auch kaum noch zu handeln.

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Obwohl Jarmusch in Broken Flowers auf Rückblenden verzichtet, handelt es sich um einen Zeit-Bild-Film. Die Serie der Frauen schließt die Gegenwart an Vergangenheiten an. Vergangenheit und Gegenwart koexistieren. Ähnlich wie bei Mankiewicz gibt es keine gradlinige Entwicklung mehr; „jede Episode stellt vielmehr eine Richtungsänderung dar, von der aus sich ein neuer Kreislauf bildet, wodurch das Ganze ein Geheimnis bewahrt“ (Deleuze 1997b: 71). Das Geheimnis wirkt über das Filmende hinaus. Die Bewegung ist nicht länger der Zeit untergeordnet, die Zeiten verzweigen sich in der Bewegung. Die sich in den beiden Frauen-Reihen verzweigenden Vergangenheiten und Zukünfte, weichen der Gegenwart des Films aus. Auf der Leinwand, auf der Immanenzebene gibt es ein Leben, Sensationen, die zu übersehen, die Analyse von Bildungsprozessen erschwert. Insofern hat Rainer Kokemohr recht, wenn er seinen analytischen Blick darauf richtet, was Bildungsprozesse blockiert, die im Kleinen permanent ablaufen und – wie uns die Filme lehren – über die Lebensspanne, zukunftsoffen: „If you stop the film at any point and ask the audience what was going to happen next“, vermutet Jarmusch im Hinblick auf Strangers Than Paradise (USA 1984), „they would have no idea.“ (Hertzberg 2001: 18) Das gilt auch für Broken Flowers – und ein Leben.

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FILMBILDUNG

Diederichsen, Diedrich (1999): »Endlos und afrikanisch«. Du, Heft 701, S. 1-4. Fleig, Horst (2005): Wim Wenders. Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie, Bielefeld: transcript. Hertzberg, Ludvig (Hg.) (2001): Jim Jarmusch – Interviews, Jackson: University Press of Mississippi. Herzog, Walter (2002): Zeitgemäße Erziehung. Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Kierkegaard, Sören (1988): Entweder – Oder. Teil I und II. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Koller, Hans-Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. München: Fink. Landa, Manuel de (1997): A Thousand Years of Nonlinear History, New York: Zone Books. Mauerer, Roman (2006): Jim Jarmusch. Filme zum anderen Amerika. Mainz: Bender. Platon (1994): »Timaios«. In: Platon: Sämtliche Werke, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie, S. 11-103. Poschardt, Ulf (2000): Cool, Hamburg: Rogner und Bernhard. Rodowick, David N. (1997): Gilles Deleuze’s Time Machine, Durham/London: Duke University Press. Seel, Martin (1985): Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Shepard, Sam/Wenders, Wim (2005): Don’t Come Knocking, Berlin: Schwartzkopff Buchwerke. Wenders, Wim (2001): »Der Mann an der Moviola«. In: Rolf Aurich/Stefan Reinecke (Hg.), Jim Jarmusch, Berlin: Bertz, S. 7-8. Zizek, Slavoj: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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ANGST – AUGEN – BLICK TIM SCHMIDT / TANJA TREDE-SCHICKER / GEREON WULFTANGE

Einblendung: Bildung, Transformation „Du willst also sehen? Nun gut, dann sieh das – sieh Deinen eigenen Blick!“ (Božoviþ 2002: 163)

„Bildung“ kursiert, kuriert. Kaum jemand kann gar nichts zum Thema „Bildung“ sagen. Wenige sind in der Lage, genauer zu bestimmen, was unter „Bildung“ verstanden werden kann und sollte. Die von Pisa gerissenen Wunden sollen aktuell durch eine so genannte „Bildungsoffensive“ geheilt werden. Die Bandbreite Heil versprechender „Bildungsworte“ reicht dabei – um nur einige Varianten anzudeuten – von Vorstellungen der Identitätsbildung über „Bildung“ als Gut, das man haben, besitzen könne, bis hin zum gebildeten, in Literatur und den antiken Sprachen bewanderten Menschen. Der in diesem Text genutzte Bildungsbegriff weicht deutlich von diesem alltäglichen Verständnis von „Bildung“ ab. Er markiert vielmehr den „disziplinär-kategorialen Horizont“ des bildungstheoretischen Diskurses (Schäfer 2001: 1). Auch in der akademischen Tradition haften dem Begriff „Bildung“ organologisch-teleologische Vorstellungen an. Bereits Aristoteles’ Begriff der Entelechie beschreibt so zunächst, dass dem Menschen eine gewisse als Substanz verstandene Potentialität inhärent sei, die lediglich entfaltet werden müsse. (vgl. Aristoteles 1994: IX 8, 1050 a23 ff.) Eine der nicht-substantialistischen und das Prozessuale fokussierenden Bildungstheorien wurde und wird von Rainer Kokemohr entwickelt. Unter Bildungsprozessen versteht er „Prozesse einer grundlegenden Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen dort, wo auf neue Problemerfahrungen in schon erworbenen Orientierungen nicht mehr angemessen geantwortet werden kann“ (Kokemohr 2000: 421). Kokemohr bezieht den Bildungsbegriff auf Fremderfahrungen, wie sie von Bernhard Waldenfels theoretisiert und inter

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pretiert wurden. Das Fremde 1 lässt sich nach Kokemohr als Erfahrung bestimmen, die sich der „Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs“ (Kokemohr in diesem Band: 21) widersetzt. Entscheidend für die Bestimmung des Fremden ist nach Kokemohr das formale Kriterium, nach dem „etwas“ in die vertrauten Welt- und Selbstverhältnisse einbricht, das sich einer Deutung im Rahmen je gegebener Verhältnisse entzieht. Die Erfahrung des Fremden, das sich „zeigt, indem es sich entzieht“ (Waldenfels 1999: 42), verweist für Kokemohr auf ein Moment einer radikal gedachten „Seinsungewissheit“ (Kokemohr 2005: 2), die problematisiert, dass es im „Projekt der Moderne“ (Kokemohr in diesem Band: 22; vgl. Waldenfels 2000: 11–31) keinen „den Lebenshorizont transzendierenden Maßstab“ (Kokemohr 1973: 91) gibt, der das Sein des Subjekts etwa feststellen und bestimmen könnte. Der Mensch ist das „noch nicht fest gestellte Thier“, wie schon Friedrich Nietzsche betonte (Nietzsche 1999b: 125). Der Einsatzpunkt dieser Arbeit besteht in dem Versuch, das philosophische Konzept einer radikalen „Seinsungewissheit“ um eine Erfahrungsdimension zu erweitern, die unserer Vermutung nach sowohl den prekären Status des Bildungsprozesses anhand möglicher Bildungsresistenzen als auch anhand möglicher produktiver Elemente dieser Seinsungewissheit zuzuschärfen erlaubt. Jacques Lacans strukturaler Begriff der Angst kann unserer Auffassung nach die bildungsprozesstheoretische Diskussion diesbezüglich bereichern. Er betont einerseits die Verunsicherungen und Engpässe, in denen und durch die sich das begehrende Subjekt gründet. Der Strukturbegriff Angst ermöglicht eine Problematisierung der Widerspenstigkeit und Unverfügbarkeit von Bildung und das vielleicht in anderer Weise als die Rede vom Fremden, das all zu schnell an die anderen delegiert werden kann. Andererseits bezieht Lacan die Angst auf das „Fehlen der Konsistenz des großen Anderen“ (Lacan 1986b: 196). Das bedeute, dass es nichts (und niemanden) geben könne, das (der) die Sinnhaftigkeit des symbolischen Universums verbürge. Kurz: der große Andere, Gott und seine Nachfolger existieren nicht, sie seien „durchgestrichen“ (Lacan 1992: 88). Wir gehen davon aus, dass die Figur der Inkonsistenz der symbolischen Ordnung, die Lacan auch als „Elefantentritt eines launischen Anderen“ (Lacan 1986b: 189) beschreibt, das gleiche Problemfeld bearbeitet wie Kokemohrs Rede von der „Seinsungewissheit“. Der Angstbegriff ermöglicht zudem die Anbindung an eine Erfahrungsdimension, die am empirischen Material geprüft werden kann, und das in all der Ambivalenz der Angst als gleichzeitig verhinderndes (hemmendes) und produktives (widerständiges) Strukturmoment von Bildungsprozessen. Dieser Spur, diesen Vermutungen folgt der vorliegende Text. 1

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Der Begriff des Fremden wird von Kokemohr anhand von Bernhard Waldenfels’ „Phänomenologie des Fremden“, als „bewährbare Zugänglichkeit des Fremden in der Form des original Unzugänglichen“ bestimmt (vgl. Kokemohr in diesem Band: 27).

ANGST – AUGEN – BLICK

Gegenstand der Auseinandersetzung ist Alfred Hitchcocks Film „Rear window“ (Das Fenster zum Hof). Warum ein Film? Hat nicht Manfred Spitzer gezeigt, bildgebend, dass zu viel Film, Fernsehen und Videospiele dick, dumm und aggressiv machen (vgl. Spitzer 2005)? Kokemohr betont die Verhältnishaftigkeit transformatorischer Bildungsprozesse, ein Verhältnis, das, als immer schon in sich gespaltenes, der sprachtheoretischen Unterscheidung von Subjekt der Aussage und Subjekt des Aussagens entspricht. Die für das Subjekt notwendige Illusion von Konstanz wird Lacan zufolge durch das Phantasma ermöglicht (vgl. Evans 2002: 230). Das Subjekt ist für Lacan immer schon eingetaucht in den Fluss der Signifikanten, deren mitreißende Strömung vom Phantasma als Illusion eines „Halt gebenden Geländers“, als „Brücke“ über dem Fluss der Signifikanten erträglich gemacht wird. Anders formuliert: das Phantasma stellt die (unmögliche) Klammer zwischen den beiden gespaltenen Dimensionen des Subjekts her. Es ist für Lacan einerseits Vorstellung, Phantasie, Tagtraum, andererseits die formale Dimension, die die Spaltung des Subjekts ertragbar macht, indem sie es klammert, umklammert, Möglichkeiten des Umgangs in und mit der Welt, in und mit dem Selbst eröffnet und verschließt: Phantasmen halten das Subjekt im Griff. Gleichzeitig schreiben sich in das Phantasma gesellschaftliche und mediale Bedingungen ein: das „Es“ schreibt sich. Medial. Filme und andere Formen ästhetischer Produktion bilden unserer Auffassung nach jenen Bereich, der Angebote vorstellt, wie die Spaltung des Subjekts momenthaft zusammengetackert werden kann und trotzdem die Illusion von Konstanz erreicht wird. Eben darin besteht das dauerhaft wirkungsmächtige, fundamentale Phantasma, das so Transformationen potentiell erschwert. Mit der Bestimmung von Filmbildern als Angebot für einen Weltund Selbstbezug wird sowohl die Beziehung zwischen Filmzuschauer und Film als auch die der Figuren innerhalb der Filmwelt angesprochen. Diese Relation wird im vorliegenden Text mit Hilfe des lacanschen Blick-Begriffs gefasst, der unserer Auffassung nach deshalb Potentiale für bildungsprozessuale Überlegungen bietet, weil er den komplexen Bezug zwischen Betrachter und Betrachtetem zu beschreiben ermöglicht. Aber die Bildungen des Subjekts vollziehen sich nicht nur beim Betrachten eines Films, sie werden im Film selbst gezeigt und thematisiert. In aktuellen Filmen scheint sich ein Wissen über die Subjektbildung abgelagert zu haben, das auf diese Art und Weise in „Wissenschaft“ nicht gefunden werden kann. Insofern können Filme als Theorieform verstanden werden, die „etwas“ der Subjektbildung in der modernen Gesellschaft explizieren. Filme sind unter diesem Gesichtspunkt nicht (nur) Gegenstand unserer bildungstheoretischen Untersuchung. Sie sind selbst eine (ästhetische) Form der Bildungstheorie. Schon die Rede von der Theorie und ihrem Gegenstand wird durch diese Auffassung problematisch, erinnert sie doch an die Unterscheidung zwischen dem erkennenden, weil über Theorie verfügenden Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis. Vielmehr geht es in einer 221

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Bildungstheorie des Films um das „Erkennen des bereits Erkannten“ des Films. Neben Theoriefiguren der lacanschen Psychoanalyse wird das empirische Material Film mit Hilfe erzähltheoretischer Überlegungen angegangen. Ohne die Differenzen zwischen Text und Film bestreiten zu wollen, verwenden wir Paul Ricœurs Theoriefigur der dreifachen Mimesis (vgl. Ricœur 1988: 87 ff.) und begreifen Film in erster Annäherung als polysemiotischen Text. Grob vereinfacht ist die erste Phase der Mimesis I für Ricœur dadurch gekennzeichnet, dass ein jedes Erzählen aus einem Reservoir kulturell präfigurierter Elemente schöpft, die in einer Kultur immer schon als Erzählfiguren im Voraus gesetzt sind. In der Phase der Mimesis II konfiguriere ein Erzähler, der im konfigurierten Text nur als implizierter Erzähler (im Film entsprechend als implizierter Regisseur) erscheint, aus diesen vorliegenden Elementen jenen Text, der als eine Art Rahmen die Phase der Mimesis III ermögliche, in der ein Leser (Filmzuschauer) durch die Interpretation des Textes (Films) Welt- und Selbstentwürfe refiguriere, die durch die Konfiguration ermöglicht werden. Diese münden dann wieder in die Phase der Mimesis I, so dass sich der mimetische Zirkel schließt. Die Möglichkeit, die unendliche Wiederholung des immer Gleichen zu durchbrechen, sieht Ricœur in dem Umstand gegeben, dass kulturelle Figuren als differenzielle Zeichensysteme existieren, die eben nicht geschlossen sind und Welt- und Selbstentwürfe etwa im Sinne einer Ein-Deutbarkeit ermöglichten, sondern immer nur in Differenz. Dieses Modell lässt sich für Film dann nutzen, wenn er, wie wir es versuchen, als polysemiotischer Text aufgefasst wird, der sich verschiedener Zeichensysteme bedient, so dass die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Text und Film in Bezug auf kulturelle Präfiguration, Konfiguration und Refiguration genutzt werden können.

Angst als Zerstückelung Zunächst fassen wir den Hitchcock-Film „Das Fenster zum Hof“ aus dem Jahr 1954 zusammen, dessen Drehbuch an eine 1942 erschienene Erzählung von Cornell Woolrich angelehnt ist. Hitchcocks Protagonist, der Photograph Jeff, ist aufgrund eines Unfalls an den Rollstuhl gefesselt. Gelangweilt von seiner Bewegungsunfähigkeit, vertreibt er sich die Zeit damit, die Hinterhof-Nachbarschaft durch das Zoom-Objektiv seiner Kamera oder sein Fernglas aus der distanzierten Position seiner Wohnung zu beobachten. Er kommt zu der Vermutung, dass Lars Thorwald, ein Vertreter, der gegenüber auf der Hinterhofseite wohnt, seine eigene Frau ermordet hat. Danach, so argwöhnt Jeff, hat er sie zerstückelt und in Einzelteilen aus der Wohnung gebracht. Jeff erzählt seiner Freundin Lisa von seinem aufregenden Verdacht. Zunächst skeptisch und Hirngespinste eines gelangweilten Fußkranken vermutend, schließt sie sich nach einiger Zeit als eine Art Komplizin seiner detektivischen Suche an. Jeff, 222

ANGST – AUGEN – BLICK

seine Haushälterin Stella und Lisa versuchen in der Folge gemeinsam Thorwald des Mordes zu überführen. In die Suche nach der „Wahrheit“ – hat Thorwald den Mord begangen und seine Frau zerstückelt aus der Wohnung geschafft oder nicht? – mischt sich die Beziehung zwischen Jeff und Lisa, verweben sich Liebes- und Detektivgeschichte. Sie möchte ihn heiraten und macht entsprechende Andeutungen. Jeff zeigt sich allerdings wenig enthusiastisch. Obwohl die beiden ein Traumpaar abgeben könnten, ist er zunächst nicht an „der perfektesten aller Frauen“ interessiert. Nach einigen dramatischen Verwicklungen bestätigt sich der Mordverdacht: Jeff stürzt schließlich in einem finalen Zweikampf mit Thorwald aus dem Fenster in den Hinterhof und bricht sich auch das zweite Bein, bevor Thorwald als mutmaßlicher Mörder von der Polizei in Gewahrsam genommen wird. Im Folgenden wird anhand einer Filmszene (Einsatz: 0:41:42) ein erster Angstbegriff Lacans thematisiert: die in Jeffs Zimmer positionierte Kamera fährt einige der Wohnungen auf der gegenüber liegenden Hofseite ab. Während die Kamera auf den Hauptstrang der Szene zuläuft, wird die Nachbarin Miss Torso (von der Schulterpartie aufwärts) und die Skulptur „Hunger“ (die um ein Loch in der Mitte des Kunstobjekts aufgebaut ist) gezeigt. Anschließend sind Jeff und Lisa zu sehen. Die Kameraeinstellung wechselt so in die Nahaufnahme, dass Lisas um Jeff gelegter, nicht jedoch Jeffs Arm zu sehen ist. Die beiden werden als eng umschlungenes Liebespaar konfiguriert, deren Körpergrenzen zu verschwimmen scheinen. Wenig später wird erneut Miss Torso, die nun bäuchlings auf ihrem Bett liegt, in den Kamerablick genommen. Ihr Körper erscheint in perspektivischer Verkürzung wie in Einzelteile gegliedert: Waden, Gesäß, Oberkörper und Kopf scheinen überdeutlich modelliert, ein Effekt, der durch die Längsstreben ihres Fensters so sehr verstärkt wird, dass bei wiederholter Betrachtung der Filmszene kaum noch die ganzheitliche Gestalt eines Körpers wahrzunehmen ist. Dieses Filmbild wird auf der Dialogebene von Jeffs Kommentar gerahmt, dass „es doch entsetzlich wäre [Der Dialog bricht ab und die Redepause wird mit einer Einstellung des lächelnden Jeff bebildert] so etwas zu tun“. Beim Filmzuschauer kann dadurch potentiell Jeffs Vorstellung der in Teile geschnittenen Miss Thorwald evoziert werden. Auf der Dialogebene häufen sich derartige Refigurationsangebote. Da ist von beobachteten Fleischermessern, kleinen Sägen und Stricken die Rede, die durch den Kontext, in dem sie gezeigt werden, als Instrumente der Zerstückelung refiguriert werden können. Diese Elemente werden auf beinahe obsessive Art und Weise immer wieder in Ton, Bild und Dialog konfiguriert. Lisa und Jeff führen in dieser Szene ein Gespräch, in dem ständig etwas abgeschnitten zu sein scheint. Während Lisas Redefiguren als verführerisch-erotische refiguriert werden können, lassen sich Jeffs Kommentare als beinahe ausschließlich auf seinen Mordverdacht und die Vorstellung des zerstückelten Körpers bezogene refigurieren. Insofern sprechen die beiden Filmfiguren buchstäblich „an223

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einander vorbei“, zumindest über zwei verschiedene Themen, über etwas anderes. Erst mit Lisas Kommentar: „Und ich fürchte, es hat etwas mit mir zu tun“ schlägt die Ordnung des Gesprächs um. Das es bezieht sich auf die Sache (den möglichen Mord?), die Jeff nicht geheuer ist, dass es etwas ganz Schreckliches sein müsse, was aber in Jeffs Aussage unbestimmt, unaussprechlich bleibt, fehlt. Die Schnittfolge erhöht sich. Lisa öffnet die Augen, setzt sich jetzt buchstäblich mit Jeff auseinander, schaltet das Licht an und bringt so Licht in die Angelegenheit. An der Figur des Komponisten, der auf der Bildebene (ebenso wie Miss Torso) durch die Längsstreben seines Fensters zerstückelt konfiguriert wird, lässt sich auch auf der tonalen Ebene zeigen, dass „ganze“ Gestalten fehlen. Er spielt einhändig einen Klavierakkord, bricht ab, hält kurz inne und wischt den Boden. Eine Modulation des Akkords ist zu hören, die unvollständig wirkt. Es kommt zu keiner harmonischen Melodie. Ein Pfeifen setzt ein, das bruchstückhaft den Hintergrund der Bilder musikalisch untermalt, bis es unvermittelt in genau dem Moment abbricht, in dem Lisa ihre Furcht ausspricht, dass „es [das zu Schreckliche, also Jeffs aus ihrer Sicht kranke Zerstückelungs-Phantasie, so kann gelesen werden] etwas mit ihr zu tun hat“. In dieser Szene werden Bilder, Dialoge und Töne (als kulturell präfigurierte Elemente) so montiert, dass sich in der Refiguration die „Zerstückelung“ als ein Grundmotiv des Films zeigt. Die Frage nach „Zerstückelung oder Nicht-Zerstückelung“ muss durch die (hier nur beispielhaft erwähnten) Konfigurationen vom Filmzuschauer gestellt werden. Sie provoziert dazu, einen „Film hinter dem Film“ (ab)laufen zu lassen, in dem die Zerstückelung einer Frau phantasiert wird. Hier könnte ein erster Motor des Begehrens der Filmzuschauer vermutet werden, wobei fraglich bleibt, warum diese Phantasie ein Begehren antreibt, das den Film mit der „Wollust des Entsetzens“ zu schauen ermöglicht. Diese am Filmmaterial entwickelten Fragen lassen sich unserer Auffassung nach mit der „Zerstückelungsangst“, wie sie Lacan im Spiegelstadium andeutet, verknüpfen und erlauben darüber hinaus eine Zuspitzung der Rede von der „Veränderung von Grundfiguren eines Welt- und Selbstverhältnisses“ (Kokemohr) in Bezug auf einen ersten Angstbegriff. „Dieses Ereignis kann – wir wissen es seit Baldwin – vom sechsten Monat an ausgelöst werden; seine Wiederholung hat – als ein ergreifendes Schauspiel – unser Nachdenken oft festgehalten: vor dem Spiegel ein Säugling, der noch nicht gehen, ja nicht einmal aufrecht stehen kann, der aber, von einem Menschen oder einem Apparat umfangen […], in einer Art jubilatorischer Geschäftigkeit aus den Fesseln eben dieser Stütze aussteigen, [...] und einen momentanen Aspekt des Bildes noch einmal erhaschen will, um ihn zu fixieren“ (Lacan 1986a: 63).

Anhand dieser, unter dem Stichwort Spiegelstadium bekannt gewordenen Ausgangssituation, unternimmt Lacan den Versuch, die Bildungen des in „Moi“ und „Je“ gespaltenen „Ich“ zu verdeutlichen. Die ganzheitliche, voll-

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ständige Gestalt, das Bild im Spiegel, das jubilatorisch und identifikatorisch als eigener Körper aufgenommen wird, beschreibt die Matrix einer komplexen Reihung von Verkennungen, die eine bedrohliche Differenz zwischen Innenwelt und Umwelt zur Folge haben und ermöglichen. Angst fällt dort ein, überfällt das Subjekt, wo es feststellen muss, dass seine Gestalt nicht so vollständig ist, wie sie es sich wünscht und vorstellt, wie sie ihm im Spiegel vorgestellt wird. „Im Spiegelstadium sieht das Kleinkind sein Spiegelbild als ein Ganzes/eine Synthese und diese Wahrnehmung verursacht als Gegenstück die Wahrnehmung seines eigenen Körpers als geteilt und zerstückelt [Anm. d.Verf: Lacan benutzt den Begriff corps morcelé/zerstückelter Körper], da ihm in diesem Stadium die motorische Koordinationsfähigkeit fehlt. Die Angst, die durch dieses Gefühl der Zerstückelung verursacht wird, fördert die Identifizierung mit dem Spiegelbild, durch das sich das Ich formt. Doch die Vorwegnahme eines synthetischen Ichs ist nun kontinuierlich von der Erinnerung an diesen Eindruck der Zerstückelung bedroht.“ (Evans 2002: 355–356).

Das Subjekt ist nach Lacan vom Rückfall in den zerstückelten Körper bedroht und versucht an der „lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation“ festzuhalten (Lacan 1986a: 63), die das Spiegelbild ermöglicht. „So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen (récolements 2 du moi) hervor“ (Lacan 1986a: 67). Diese Konstruktion erfährt erst in der nachträglichen Rede vom zerstückelten Körper ihre Brisanz. Lacan führt weiter aus: „Dieser zerstückelte Körper […] zeigt sich regelmäßig in den Träumen [...]. Er erscheint dann in Form losgelöster Glieder und exoskopisch dargestellter, geflügelter und bewaffneter Organe“ (Lacan 1986a: 67). In Hitchcocks Filmszene wird der zerstückelte Körper als solcher nicht ein einziges Mal in den Kamerablick genommen, wohl aber evoziert. Er zeigt sich, indem er sich entzieht. Die Filmfigur Lisa wird in mehrfacher Weise in ihrer „Ganzheit“ bedroht. Einerseits verweigert Jeff ihr – der „perfektesten aller Frauen“ – seine Anerkennung. Er antwortet ihrem Anspruch auf Liebe nicht. Andererseits wird Lisa auf einer sehr konkreten Ebene in ihrer Körperlichkeit bedroht. Sein Phantasma des zerstückelten Körpers, das als beinahe krankhaftobsessiv konfiguriert wird (er spricht von nichts anderem mehr) beginnt sie zu „ängstigen“, scheint es doch nicht in Deutungsmöglichkeiten ihrer Welt- und Selbstverhältnisse aufzugehen, sondern „außerordentlich“, „fremd“ zu sein. Ihre imaginäre Frage könnte folgendermaßen refiguriert werden: „Was mag das für ein Mann sein, dessen Begehren und Wünschen in dem Phantasma be2

Récolement kann auch mit Nachprüfung übersetzt werden und ist ein ursprünglich juristischer Begriff aus dem 14.Jahrhundert, also etymologisch eine amtliche Nachprüfung, eine nachträgliche Prüfung (z.B. einer Institution) (vgl. Dubois/Mitterand/Dauzat 2002: 652).

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steht, jemand könne seine Frau ermordet und dann in kleine Stückchen zerhackt haben? Ein solcher Mann verunsichert, ist unheimlich, macht Angst, könnte er doch auch fähig sein, sich vorzustellen, sie selbst in kleine Stücke zu hacken“. Schnitt. Angst fällt ein und überfällt. Eine neue Identifikationsbewegung setzt ein. Lisa beginnt, sich mit Jeffs Phantasma zu identifizieren: „Fangen wir wieder ganz von vorn an, Jeff!“ Die Kamera fährt in Nahaufnahme auf Lisas Gesicht zu, ihre erschreckt geöffneten blauen Augen und den roten, leicht staunend geöffneten Mund deutlich zeigend. Der Blick ist auf Thorwalds Wohnung gerichtet: „Sag mir alles, was Du gesehen hast und meinst, was es bedeutet.“ Abblende. Die Refiguration der Zerstückelungsangst und ihr Übergang zu etwas anderem wird durch die oben beschriebenen Konfigurationen des polysemiotischen Textes Film vorbereitet, angedeutet und für den Filmzuschauer damit nachvollziehbar, so dass er potentiell durch seine Identifikation mit dem neutralen Betrachtersubjekt Jeff und seinem Begehren in den Film verstrickt wird. So kann die Frage nach „Zerstückelung-Nichtzerstückelung“ auch vom und für den Filmzuschauer aufgeworfen werden. Fraglich bleibt, ob das Verhalten der Filmfigur Lisa in Bezug auf eine mögliche Angst nachvollziehbar werden kann, ohne die aktive Dynamik ihres Begehrens zu berücksichtigen, die anhand des Filmmaterials ebenso zu refigurieren wäre. Dies ist eine Spur, die weiter verfolgt werden könnte, um andere, konkurrierende Lesarten zu entwickeln.

Angst in den Augen der Gottesanbeterin In Lacans Seminar X (L’angoisse; Die Angst) wird unserer Auffassung nach ein im Spiegelstadium nicht repräsentierbares Moment der Angst entwickelt. 3 Während die Leinwand im Rahmen filmtheoretischer Auseinandersetzungen häufig als Spiegel aufgefasst wird, argumentiert beispielsweise Joan Copjec umgekehrt, dass der Spiegel als Leinwand und Schirm verstanden werden müsse, eine Lesart, die sie anhand von Lacan-Seminaren aus den 1960er Jahren vorschlägt (vgl. Copjec 2004: 30–51). Ebenso akzentuieren wir in der nun folgenden Auseinandersetzung mit dem Apolog der Gottesanbeterin die Schnitte, Verschiebungen und Abbrüche in Abgrenzung zur Angst im Spiegelstadium: der Spiegel weist Risse auf, ist bereits „gesprungen“, von „Angst durchzogen“. Lacan betont, dass in diesem Apolog das Verhältnis zwischen der Angst des Subjekts und dem Begehren des großen Anderen im Vordergrund stehe,

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Lacan unterscheidet im Seminar X Objekte, die sich spiegeln lassen, wie den Handschuh, der, zieht man ihn von rechts auf links, sein Spiegelbild ergebe. Ein Möbiusband besitzt in dieser Hinsicht kein Spiegelbild, da man es zerschneiden müsste, um die Orientierung von links und rechts zu ändern. Ein solches Objekt ist das Objekt klein a.

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das im Bild der Gottesanbeterin fassbar werde. Er stellt sich vor, einem übergroßen Insekt – der Gottesanbeterin – gegenüberzustehen, mit der der große Andere evoziert wird (vgl. Widmer 2004: 55). „Während ich selbst die Tiermaske anlege, mit der sich der Zauberer der Drei-Brüder-Höhle bedeckt, hatte ich mir, vor Ihnen, vorgestellt, ich stünde einem anderen Tier gegenüber, einem wirklichen und für diesen Fall als riesengroß angenommenen Tier: der Gottesanbeterin. Und da ich nicht wußte, was für eine Maske das war, die ich da trug, können Sie sich auch leicht vorstellen, daß ich einigen Grund hatte, mich nicht besonders sicher zu fühlen für den Fall, daß diese Maske zufälligerweise nicht ungeeignet sein sollte, meine Partnerin in einen gewissen Irrtum über meine Identität zu ziehen. Verstärkt wurde die Sache noch durch meine Hinzufügung, daß ich, in jenem rätselhaften Spiegel der Augenkugel des Insekts, mein eigenes Bild nicht sah.“ (Lacan 2004: 15)

Im nachfolgenden Kommentar argumentiert Lacan, dass die Metapher der Gottesanbeterin das Scharnier der zwei Stufen des Graphen des Begehrens bildet, das den Signifikantenprozess mit dem Phantasma verbindet und die Frage nach dem „Che vuoi?“ aufwirft, also etwa: „Was willst Du mir, dass ich Dir bin?“ Verschiedene, miteinander verknüpfte Blickrichtungen werden in dieser Frage angedeutet. Die Frage Was willst du? ist an das Subjekt gerichtet und fragt nach dem Anspruch, den es an den anderen richtet. Was will er mir? befragt den anderen nach seiner Sicht des Subjekts, ob er es begehrt und anerkennt, wie und was das Subjekt für ihn sein soll. Aus „phänomenologischer“ Perspektive (vgl. dazu: Baas 1996: 19–68) lässt sich der „monströse“ Blick der Gottesanbeterin zunächst als Unmöglichkeit deuten, sich in den anderen hineinversetzen, ihn einschätzen, sich in ihn „einfühlen“ zu können (vgl. zur „Einfühlung“ Schmidtgen 1997: 25–41). Der andere bleibt in dieser Einsicht konstitutiv fremd. Es erscheint uns wichtig, die fundamentale Dimension dieser These nachzuvollziehen: Das Subjekt gründet sich für Lacan über den fremden Blick des anderen als selbstfremdes (vgl. Lacan 1986c: 101–122). Aber diese Interpretation des Apologs trägt noch nicht Lacans Unterscheidung zwischen großem und kleinem (A)anderen Rechnung. Daher setzen wir erneut mit einer Auslegung an, die sich vor allem an Lacans „Subversion des Wissens und Dialektik des Begehrens bei Freud“ orientiert (Lacan 1986b: 165–204).

Angst als Zerbrechen Die Frage Che vuoi? ist nach Lacan deshalb der Moment, in dem Angst auftaucht, weil das Subjekt sich nicht sicher sein kann, ob es für den eigenen Anspruch des kleinen anderen ein Gegenüber (den großen Anderen) gibt, der aufgrund seines Begehrens sich darum bemüht, auf diesen Anspruch zu antwor227

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ten. Der große Andere verweist auf das System der Sprache, das Symbolische und meint eben keinen personalen anderen. Che vuoi? ist die Frage nach der Existenz des „Garant[en] des Guten Glaubens“ (Cremonini 2003: 126), der „etwas“ verbürgt, dass „ich“ so nicht herstellen kann: im Symbolischen die Konsistenz und Sinnhaftigkeit der symbolischen Ordnung, algebraisch geschrieben als s(A) (deren Verlust von Lacan mit S gebarrtem A als der „Signifikant des Mangels im Anderen“ geschrieben wird). Eben dieser Mangel sei die Voraussetzung dafür, dass überhaupt in Sprache formuliert und gehört werden könne, was gleichzeitig aber entscheidend am Verstehen hindere. In der Struktur „Sprache“ ist für Lacan immer schon etwas abgeschnitten, etwas nicht da, abwesend. Konsequenterweise entwickelt er keine Kastration des symbolischen Phallus, da diese konstitutiv für die symbolische Ordnung ist. Symbolische Kastration bedeutet für ihn, dass in der Sprache immer das Objekt oder Ding fehlt, an dessen Stelle sich die Worte gesetzt haben. Das Wort ist insofern der „Mord an der Sache“, am Objekt oder Ding (vgl. Hegel 1986: 248). Die symbolische Kastration, der Verlust des unmittelbaren Zugangs zu den Dingen, zum Genießen des Dings, ist somit eine unhintergehbare Eigenschaft von Sprache. Dies führt zu der Frage, wieso dann überhaupt gesprochen wird? Um dieses Problem seiner Theoriebildung anzugehen, das sich Lacan spätestens Ende der 1950er Jahre stellt, führt er im Seminar VII eine Denkfigur ein, die in der Hochphase der Ausarbeitung des Symbolischen noch nicht zu finden ist (vgl. Schindler 2006: 84; Waltz 2001: 97–129). Chiffren hierfür sind das Ding und später das Objekt klein a. Um das Neue dieses lacanschen Theorieversuchs zu verdeutlichen, kann zunächst auf die Differenz zwischen Begehren und Genießen verwiesen werden. Nach Recalcati ist das Begehren auf den Anderen gerichtet, also im Symbolischen zu verorten, das Genießen jedoch auf das Ding und im Realen angesiedelt (vgl. Recalcati 2000: 33). Die Dimension des Dings wird in Recalcatis Rekonstruktion lacanscher Überlegungen als Vorstellung eines unmittelbaren Genießens verstanden, das nicht durch die Signifikanten durchgestrichen ist. Den not-wendig illusionären Status dieser Vorstellung betont darüber hinaus Cremonini in seiner Lacan-Interpretation. Wieso not-wendig? Cremonini geht davon aus, dass das Begehrte als solches gar nicht begehrenswert sei (vgl. Cremonini 2003: 126). Reine Signifikanten sind an sich nicht attraktiv, 4 so ließe sich Cremoninis These zuspitzen. Erst die Vorstellung, das Phantasma des Genießens magnetisiere, wie Recalcati formuliert, die symbolische Ordnung und diene so als „eine Stütze des Begehrens im Sein“ (ebd.: 144). Dieses unmögliche Genießen, die Vorstellung eines direkten Zugangs zu den Dingen verbinde die rein negativen Verweisungen im Signifikantennetz mit einem dahinter liegenden „etwas“. Dadurch entspringe das an den Signifikanten geheftete Begehren in seiner fundamentalen Unmöglichkeit, als Effekt des Genießens, das insofern das Begehren verur4

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Lacan selbst schreibt von der „Blödheit der Signifikanten“ (Lacan 1992: 25).

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sacht und die Not des Nicht-Begehrens wendet (vgl. Boehme 2005: 76). Fehle hingegen die Illusion eines im Phantasma auf das Objekt klein a gerichteten Genießens, bricht nach Lacan auch die vermeinte Konsistenz des Signifikantennetzes zusammen. Der große Andere zerfällt und es kommt zu einem ungerichteten Gleiten der Signifikanten. Alles ist dann im Flusse (vgl. Nietzsche 1999a: 252). Kurz, die Antizipation eines unmöglichen Genießens bindet die Sprache an ein Objekt des Begehrens insofern, als durch das Phantasma der Bezug zwischen den Wörtern und den zu genießenden Objekten hergestellt wird. Bezogen auf Jeff heißt das, dass er erst durch die (ihm zugesprochene) Eröffnung des phantasmatisch besetzten Raumes, nämlich Thorwalds Wohnung zu einem begehrenden Subjekt wird. Das Phantasma ist in der lacanschen Theorie darüber hinaus entsubjektiviert (vgl. Lacan 2003: 129 ff.). Es wird als neutral, unbeteiligt erlebt und kann nicht in das Selbstbild aufgenommen werden. Eben dies entspricht unserer Lesart nach der Konfiguration der Filmfigur Jeff, die ebenso wenig wie der Filmzuschauer nicht sieht oder nicht sehen will, dass die Vorstellung des Mordes an einer Frau seinem eigenen, im Außen liegenden Begehren entspricht und entspringt. Lacan hat theoretisch beschrieben, dass die Konsistenz des Signifikantennetzes durch das phantasmatische Genießen erzeugt wird. Für den Film könnte das bedeuten, dass ein symbolisches Universum, wie das der Detektiv- und Liebesgeschichte, in seiner Konsistenz erst durch Jeffs Phantasma des gestückelten Körpers herstellbar wird. Durch diese Vorstellung bekommt der Film sein Zentrum, das ihn „lesbar“ und allererst „ersichtlich“ macht. Wir kommen zu einer weiteren Dimension der Angst im Seminar X, die nun nicht mehr nur als „Zerbrechen“ (der libidinösen Stütze des Begehrens im Sein und Inkonsistenz der symbolischen Ordnung) gedacht wird, sondern als „Erscheinen von etwas“. Diese Umkehrung markiert unserer Auffassung nach einen entscheidenden Wendepunkt des lacanschen Denkens: Die Angst ist nicht ohne Objekt (vgl. Lacan 2004: 133). Mit dieser These werden potentiell auch jene philosophischen Interpretationen der Angst unterminiert, die eine klare Unterscheidung zwischen Furcht und Angst anhand des Objektbezugs behaupten. Lacans Subversion des Angstbegriffs hat so auch für Philosophen potentiell unheimlichen, herausfordernden Charakter, „erscheint doch etwas“ im Moment der Angst: das seltsame Objekt klein a im Modus anwesender Abwesenheit.

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Angst als Erscheinen Nach Lacan ist die libidinöse Besetzung des Spiegelbildes niemals vollständig. Es gebe immer einen Rest, eben jenes Objekt klein a (vgl. Lacan 2004: 47 ff.), das nicht ins Spiegelbild integriert werden könne (vgl. Lacan 2004: 53).5 „Was die Angst konstituiert, das ist, wenn etwas, ein Mechanismus, hier, an seinem Platz, den ich, um mich verständlich zu machen, einfach den natürlichen nennen werde, an dem Platz, der dem entspricht, den das a des Objekts des Begehrens besetzt, etwas erscheinen lässt“ (ebd.: 49).

An dem Platz des Objekts klein a kann demnach „etwas“ erscheinen. 6 Eben dies, so unsere Vermutung, ist ein „etwas“, das den Mangel der imaginären Kastration, das von Lacan so genannte -phi (phi hier klein geschrieben, gelesen minus phi), das sich am Platz des Objektes klein a zeige, „verstopft“. Jérome Taillandier hat darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen dem Objekt a und dem -phi als doppelte Inversion beschrieben werden kann. Das Objekt a werde nicht in das Körperbild des Anderen (das Ich-Ideal) aufgenommen (vgl. Taillandier 1998: 14). Es fehle dort. Nur im Hohlspiegel (im Ideal-Ich) erscheine dieses Fehlen als Mangel. Eben dieser Mangel sei es aber, der das Begehren vorantreibt, es verursacht. Im Seminar II wird die Kastration im Symbolischen verortet. Die symbolische Kastration ist dort Effekt der Signifikantenkette, die ein „Eigenleben“ (vgl. Lacan 2003: 277; ders. 1991: 246) führt, in dem das Objekt oder Ding immer schon fehlt. Durch die Einführung des fehlenden Objekts a und seine Manifestation (in der doppelten Inversion) als -phi wird unserer Lesart nach gezeigt, wie sich die imaginäre Kastration an die Stelle der fundamentalen symbolischen Kastration setzt (vgl. Nasio 1999: 28). Auf diese Art und Weise wird das klassisch-psychoanalytische Konzept vom ödipalen Komplex anhand sprachtheoretischer Überlegungen interpretierbar. Dass in der Sprache und im Symbolischen immer etwas abgeschnitten ist, fehlt, manifestiert sich in der imaginären Konstruktion als Vorstellung abgeschnittener Körperteile. Diese Bewegung ist auch umgekehrt für den Begriff

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Von hier aus lässt sich die Frage stellen, in welchen filmischen Konfigurationen eine Person oder ein Gegenstand (plausibel) die Funktion oder den Agens der Gottesanbeterin einnimmt. Wichtig ist hierbei auch, ob das Objekt klein a überhaupt positiviert werden kann, wie z.B. Dolar (2002: 139–146) oder Božoviþ (2002: 147–163) das implizit behaupten. Dazu kann bemerkt werden, dass das Objekt klein a grundsätzlich nicht mit einem phänomenalen Objekt gleichzusetzen ist. (Dies hätte fundamentale Auswirkungen auf bereits geleistete Interpretationen). Die Rede vom Objekt klein a eröffnet eine Dimension, die im Spiegelstadium nicht zu verorten ist. Lacan verdeutlicht dies im Angstseminar durch das Schema, in dem das Objekt klein a nur auf der imaginären Seite (im gespiegelten Krug) zu sehen ist. Andererseits besteht im -phi, der (imaginären) Kastration ein Konzept, das sowohl auf der imaginären als auch auf der symbolischen Ebene zu verorten ist.

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der Angst von entscheidender Bedeutung. Erscheint „etwas“, ein Element zu viel auf der Bühne und positiviert dabei den kleinen Mangel der imaginären Kastration, der „Es“ dann nicht mehr mangelt, kann dies auf den fundamentalen Mangel der symbolischen Kastration „überspringen“, die Voraussetzung für jedes begehrende Sprechen ist. In Sprache fehlt dann nichts mehr und auch das dem Mangel entspringende Begehren wird still gestellt. Aus dieser Perspektive lässt sich die Synthese der beiden Angstbegriffe nachvollziehen, die Lacan in der 6. Sitzung des Angst-Seminars ankündigt, aber (selbstverständlich) nicht durchführt. Erscheint etwas an der Stelle des Objekts a, auf dieser Bühne und negiert das –phi, dann mangelt es dem Mangel am Mangel und zwar durch ein „Zu viel“ und nicht durch ein „Zu wenig“, so dass die libidinöse Stütze des Begehrens im Sein zerbricht. Wie lässt sich dieses Zuviel der Angst denken? Lacan betont in seiner Interpretation des freudschen „Unheimlichen“ (Freud 1999b: 227–268), dass nicht der Verlust des Objekts (so könnte Freuds „Hemmung, Symptom und Angst“ gelesen werden) zur und durch die Angst führt, sondern gerade dessen zu Nahe kommen, das so die notwendige Mangelstruktur verstopft. Der „Fleck“ (als Metapher des Mangels), der einerseits das gebarrte Subjekt zeichnet und andererseits den durchgestrichenen großen Anderen, „schwindet“, und es kommt zur Angst, da es keinen Ort mehr für die Subjektivierung des eigenen Begehrens gibt. Von hier ausgehend lässt sich das „Erscheinen von etwas“ mit der Angst als Zusammenbrechen der libidinösen Stütze des Begehrens im Sein verbinden. Diese unheimliche Dimension der Angst lässt sich sowohl auf die Konfiguration der Filmfiguren als auch auf den Filmzuschauer beziehen. Über das verborgen bleibende Phantasma konstituiert sich nach Lacan das Subjekt als ein begehrendes. Der phantasmatische Raum liegt für Lacan gleichsam neutral im Außen. Jeffs Konfiguration als scheinbar autonomes, cartesianisches Subjekt, das die Dinge aus sicherer Distanz beobachtet, legt dem Zuschauer nahe, Jeffs Phantasma als den Bezug auf das zu refigurieren, was hinter Thorwalds Fenster auf der anderen Seite des Hofs liegt. Dieser Bezug strukturiert die Filmwelt erst als Detektivfilm und konstituiert Jeff als beobachtenden Detektiv. Das Unheimliche in der Filmwelt besteht in Jeffs Erfahrung, dass er in dieses im Außen liegende Innen begehrend „verstrickt“ ist, ebenso wie der Filmzuschauer, dessen Begehren scheinbar neutral auf der Leinwand liegt, ein „Verstrickt-Sein“, das (normalerweise) nicht bemerkt wird.

Angst – Augen – Blick Nachdem in den letzten Abschnitten drei konkurrierende Lesarten des lacanschen Angstbegriffs vorgeschlagen wurden, thematisieren wir im Folgenden eine weitere Grundfigur des Films, die eine Verknüpfung mit der Angst als 231

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Produktionselement von Bildungsprozessen anhand des empirischen Materials ermöglicht. Es ist Lisas masochistisches Begehren. Mit der Veränderung der Konfiguration der Filmfigur Lisa von der Skeptikerin zur Komplizin setzt eine Dynamisierung der allgemeinen Filmhandlung ein. Die Schnittfolge wird erhöht, die Dramatik nimmt zu und die bis dahin statischen Positionen der Beobachter und des Beobachteten (Jeff, Lisa und Stella versus Thorwald) werden zunehmend brüchig. Eine Bezugnahme der Handlungsträger auf Jeffs phantasmatisch besetzten Raum wird nicht mehr hauptsächlich mit Hilfe optischer Apparaturen (Kameras, Teleobjektive, Ferngläser) konfiguriert, sondern vermittels anderer Medien, die eine neue Qualität der Bezugnahme im Sinne einer Annäherung, einer „Vernähung“ der beiden filmischen „Räume“ zu refigurieren erlauben. Ein Brief wird an Thorwald geschrieben, er wird angerufen, und schließlich quert Lisa den „Vorhof des Phantasmas“, bis sie zu Thorwalds Wohnungstür gelangt, unter der sie den inhaltlich unbestimmten Brief durchschiebt: „What have you done with her?“ steht da geschrieben. Wer aber damit gemeint ist, bleibt für Thorwald ebenso sehr Andeutung wie das Was seines Tuns. Jeff sieht Lisa, er sieht ihr dabei zu, wie sie sich (für ihn und für sich) seinem phantasmatisch besetzten Raum nähert. Lisa scheint sich des bühnenhaften Charakters ihres Auftritts durchaus bewusst zu sein und versucht, so kann refiguriert werden, sich zum Objekt seines Begehrens am Ort seines Phantasmas zu machen. Lacan schreibt: „Sich zu erkennen als Objekt seines Begehrens, […] ist stets masochistisch“ (Lacan 2004: 108). Er unterscheidet das begehrte Objekt von dem das Begehren verursachenden Objekt. Seine Auseinandersetzung mit der masochistischen Struktur thematisiert eine grundlegende Struktur der Subjektkonstitution (vgl. Lerude 2001: 144). Die Filmfigur Lisa befindet sich zunächst „außerhalb“ des Kreises der jeffschen Begehrensstruktur, ein „Ausgeschlossen-Sein“, das die Matrix ihrer Perversion zu refigurieren anbietet (vgl. Benvenuto 2003: 113). Um das Ziel des masochistischen Begehrens zu erreichen, das darin besteht, sich als Tauschobjekt für das begehrte Objekt desjenigen anderen anzubieten, der nicht anerkennt (vgl. Lacan 2004: 108), bemüht sich Lisa, Thorwalds Wohnung mit sich selbst neu zu besetzen. Denn die masochistische Struktur verlangt nach dem authentifizierenden Blick des anderen, sie verlangt danach, sich als vom anderen gesehen zu sehen. Lisas Inszenierung wirkt. Jeff spricht in der Folge erstmalig von „seiner Lisa“, beginnt den Thorwaldschen Raum besitzanzeigend neu zu besetzen, so dass sein Junggesellenstatus ins Wanken gerät. Aber damit nicht genug: nachdem Lisa erneut den „Vorhof des Phantasmas“ durchquert hat, bricht sie schließlich in Thorwalds Wohnung ein, in der sie sich das Tauschobjekt par excellence aneignet und so identifikatorisch zu verkörpern sucht, nämlich Miss Thorwalds Ehering, den sie sich auf den Finger setzt und Jeff zu sehen gibt, kurz nachdem sie von Thorwald in der Wohnung ertappt worden war, vor dem sie nun vergeblich ihre Zeigegeste zu verbergen versucht. In der

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Konfiguration des Rings fallen zwei der Grundfiguren des Films zusammen, werden „zusammengeworfen“ (symbollein). Unter dem bis dahin abwesend konfigurierten Blick des konkreten Dritten, als anderem des Anderen (Thorwald), schießt Lisas Inszenierung für den Blick und das Begehren des anderen (Jeff) mit Jeffs phantasmatischer Besetzung des thorwaldschen Raumes im Ring zusammen. Die beiden Begehrensstrukturen manifestieren sich (symbolisiert) in diesem Ring. Direkt anschließend erkennt Thorwald Lisas Zeigegeste auf den Ring an ihrem Finger. An wen richtet sie sich? Es folgt Thorwalds erster und einziger direkter Blick von seiner Wohnung, gerichtet auf die in Jeffs Zimmer positionierte Kamera. Blick. Schnitt. Die „Angst des Unheimlichen“ fällt ein und überfällt potentiell sowohl Jeff als auch den Filmzuschauer dadurch, dass die jeweiligen Betrachterpositionen verunsichert werden. Sie werden unsicher, weil der „Blick“ die Struktur der Angst des Unheimlichen im Feld des Sichtbaren aufweist, wie wir zu zeigen versucht haben. Dieser um das Fehlen des Mangels strukturierte Angstbegriff wird über die Figur der doppelten Inversion an und in empirischem Material produktiv. Strukturgleich kann der „Blick“ als Objekt a an empirischem Material untersucht werden. Was aber macht die besondere Qualität dieses Thorwald-Blicks aus? Worin besteht die besondere Qualität, die ihn anderen Blicken gegenüber auszeichnet, worin die Differenz? „Sehen“ und „Blick“ werden zumeist als zwei zeitlich voneinander getrennte Phasen erfasst (vgl. Sartre 1993: 457 ff.; Božoviþ 2002: 147–163; Cremonini 2001: 164–188). Dem „Sehen“ des autonomen, cartesianischen Subjekts wird das „vom anderen in den Blick genommene“, das objektivierte Subjekt gegenüberstellt. Demgegenüber wagt Lacan eine andere Interpretation. Für ihn beschreibt der „Blick“ eine fundamentale Struktur des Subjekts, die nicht in einer zeitlichen Opposition zum „Sehen“ erfasst werden kann. Lacans Blick ist aus dem Feld des Sichtbaren elidiert (vgl. Lacan 1996: 81), er gründet und verursacht objekthaft das begehrende Subjekt (vgl. ebd.: 91). Ein Problem wird hier deutlich. Diese Lesart der lacanschen Blick-Theorie widerspricht unserer ersten Annäherung an eine Interpretation des thorwaldschen Blicks als des für Jeff und den Zuschauer wahrnehmbaren, sichtbaren und so positivierten Blicks (vgl. Gondek 1997: 195). Aber die Angst des Unheimlichen als potentielle Erfahrung der Filmfigur Jeff und des Filmzuschauers, die sich in der beschriebenen Einstellung als festgestellte, in die Filmbilder mit ihrem Begehren verwobene (v)erkennen, verbleibt als Widerfahrnis. Überdenken wir also die Interpretation. Thorwalds statisch abrupt inszeniertes Starren in die Kamera verdeckt, verschleiert und verstopft unserer Lesart nach die fundamentale Blickstruktur durch das „zu viel“ dieses starrenden Augenblicks. Die bis dahin im gesamten Film fehlende Kameraeinstellung auf Jeffs Wohnung verliert in Thorwalds Blick, der die Kamera direkt anstarrt, ihre das Begehren antreibende Mangelhaftigkeit. Gleichzeitig wird in dieser Szene unserer Auffassung nach zum ersten Mal die Frage nach dem „Che vuoi?“ aufgeworfen. Was willst 233

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du (Thorwald, Filmbild) mir, dass ich dir bin? Denn Hitchcock konfiguriert kein einziges Mal während des gesamten Films die (unter diesem Aspekt unmögliche) Kameraposition in Thorwalds Wohnung, die in Lacans Logik dem Ort des großen Anderen entspräche. Dieser Ort bleibt als „Blickpunkt“ fremd, ein fremder, streng genommen ein Nicht-Ort, ein A-Topos. Die filmische Konfiguration ermöglicht dadurch die potentiell produktiven Verunsicherungen der Blickstruktur, so dass die Angst des Unheimlichen (auch beim Filmzuschauer, dessen scheinbar sichere, distanzierte Betrachterposition vor der Leinwand prekär wird) ein- und überfallen kann. Jeff und der Filmzuschauer sind bereits (mit ihrem Begehren) im Film. Die Subjekt-Objekt-Relationen flimmern. Hitchcock stößt hier an eine Grenze, die im weiteren Verlauf des Films als Thematisierung der Rücksicht auf Grenzen der Darstellbarkeit refiguriert werden kann (vgl. Freud 1999a: 344). Hitchcock geht dieses Problem an, ohne es zu lösen: Während des finalen Zweikampfs zwischen Jeff und Thorwald verteidigt sich Jeff, bewegungsunfähig, mit Hilfe seines Kamerablitzes, der Thorwald blendet, ihm „die Augen aussticht“. Nichts als ein orange-roter Fleck ist für Thorwald und den Filmzuschauer in diesem Moment zu sehen, der etwas zeigt, indem es sich entzieht. Langsam erholen sich Thorwalds schmerzverzerrte Augen vom Schock des Blitzes. Erneuter Blitz. Fleck. Das Filmbild gerät ins Flimmern. So wird in diesen Artikulationsfiguren gleichzeitig die Medialität des Kinos als Lichtspiel inszeniert, die als entstellte, abgedunkelte und verschattete Darstellung erhellend und erhellt refiguriert werden kann.

Abblende: Bildungstheoretische Reflexion Ausgehend von Kokemohrs Begriff des Bildungsprozesses als einer grundlegenden Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen bestand der Einsatzpunkt dieser Arbeit darin, das Widerfahrnis des Fremden als potentielle Herausforderung transformatorischer Bildungsprozesse in Bezug auf seinen prekären Status zu problematisieren. Erfahrungen des Fremden sind durchzumachende Erfahrungen und verweisen auf „Seinsungewissheit“. Diese philosophische Figur wurde anhand der drei lacanschen Angstbegriffe der Zerstückelungsangst, des Zerbrechens der libidinösen Stütze im Sein und der Inkonsistenz der symbolischen Ordnung sowie der Angst als des Erscheinens von etwas auf eine Erfahrungsdimension hin zugespitzt, die auf eine fundamentale Struktur des Subjekts verweist. Die Angst, nicht als Emotion, sondern als Affekt, als „‚das, was nicht täuschtǥ, das außer Zweifel stehende“ (Lacan 2004: 83) wurde anhand filmischen Materials in einer zuletzt triangulären Struktur argumentiert: Das Movens und die Dynamik des Bildungsprozesses wurde im Verhältnis von Jeffs phantasmatischem und Lisas masochistischem Begehren 234

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unter Thorwalds Angst-Augen-Blick des Dritten, als Element „zu viel“ verortet, das zur und in die Angst des Unheimlichen führte. Was bedeutet das für bildungstheoretische Überlegungen? „Klassische“ Bildungsbegriffe setzen implizit zumeist ein monadisches und selbstreferentielles Subjekt ein und voraus, auf das der Bildungsprozess hin gerichtet bleibt und von dem ausgehend er gedacht wird (vgl. Buck 1984: 13–16). Die lacansche Theoriefigur der Angst als (zumindest nachträgliches) Strukturmoment von Bildungsprozessen im kokemohrschen Sinne kann dieses Subjektverständnis unserer Auffassung nach anreichern. Während Angst aus philosophischer Perspektive zwar als „[d]ie Grundbefindlichkeit […] des Daseins“ (Heidegger 1993: 184 ff.) erkannt wird, das als ängstendes Dasein auf sich selbst zurückgeworfen und in der Angst ohne innerweltlichen Bewandtniszusammenhang bleibt (vgl. Heidegger 1993: 189 ff., dazu auch: Gondek 2002: 191–192 sowie 234–235), betont Lacan unserer Auffassung nach die intersubjektive Relation zwischen gespalten werdendem Subjekt und großem Anderen, in die das begehrende Subjekt immer schon eingeschrieben ist und in der reichhaltige Welt- und Selbstbezüge möglich werden. Mit Hilfe der theoretischen Verknüpfung von Angst und Blick, der aus dem Feld des Sichtbaren elidiert und also nicht phänomenologisch positivierbar ist, werden Artikulationsfiguren sagbar, (wie z.B. das Objekt a als extimer Kern des Subjekts), die ein Subjekt-Welt-Verhältnis zu denken erlauben, das klassische bildungstheoretische Konzepte subvertiert. Platonismus, die christlich-theologische Gott-Mensch-Ebenbildlichkeit, oder das moderne Projekt des selbstreflexiven Subjekts, die Kokemohr in seiner Bildungsprozesstheorie kritisiert (vgl. Klass/Kokemohr 1998: 302), können so mit Hilfe des lacanschen Angstbegriffs kritisch kommentiert werden. Darin besteht die Produktivität und Herausforderung in Hinblick auf bildungsprozessuale Überlegungen nach Kokemohr. Den Angstbegriff als Brennpunkt des Bildungsprozesses zu akzentuieren, eröffnet gleichzeitig neue Problemfelder, von denen abschließend zumindest eines angedeutet sei: Welche Strukturmomente der Angst fordern als Produktionselement potentiell Bildungsprozesse heraus, führen zu Angst-Lust oder „Lust-Angst“? Welche haben potentiell eher verhindernden Charakter, so dass Angst zur Phobie hin abrutscht und Lust zu Leid wird? Eine Spur könnte hierbei das Verhaftet-Bleiben im (niemals tatsächlich existent gewesenen) dualen, imaginären Spiegel-Modus der „Angst vor Zerstückelung“ markieren. Schon im scheinbar dualen Spiegelmodus wirkt der Blick des Dritten als Bedingung seiner Möglichkeit. Die Nicht-Anerkennung der triadischen Figur, z.B. als Angstabwehr des Kastrationskomplexes könnte so die Illusion des ausschließlich Dualen zementieren und so Bildungsprozesse potentiell verhindern. Diese Spur wäre empirisch detaillierter auszuarbeiten: an den Protagonisten des Films, für den und vom Filmzuschauer; von uns, als angeblickte eines eigenen, fremd gewordenen und unheimlichen Textes. Schwarzbild. 235

SCHMIDT/TREDE-SCHICKER/WULFTANGE „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Nietzsche 1999c: 98).

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SCHMIDT/TREDE-SCHICKER/WULFTANGE

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ANHANG TRANSKRIPTION

DISKUSSION ÜBER RASSISMUS, BEITRÄGE DES BANDES BEZIEHEN

DER

AUF DIE SICH DIE

(A U S Z U G ) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

D : Ich versuche eigentlich darauf zu antworten, auf diesen Streit über die Plausibilität der Interpretation von Situationen als rassistisch oder nicht rassistisch. ÜD: Il essaye de répondre à la question de la plausibilité des interprétations des situations comme racistes ou non racistes. D: Ich fange mit der Situation bei MacDonald an ÜD: Il commence par la situation de MacDonald und deren vermeintlicher Eindeutigkeit. ÜD: et la question si cette situation s‘interprète de manière claire. D: Ich kenne die Situation. ÜD: Lui, il connaît la situation. D: Ich ärgere mich mindestens einmal die Woche darüber. ÜD: Il y va régulièrement, mais il se fâche au moins une fois par semaine. D: Das ist die Erfahrung, die man in jedem normalen Kaufhaus macht. ÜD: C’est l’expérience qu’on fait dans tous les grands magasins. D: Man steht in einer Schlange, man hat sich mühsam durchgewartet bis auf den zweiten Platz, man ist also gleich dran. Und dann macht die andere Kasse auf. Und die wird nie die Leute aufrufen, die direkt als nächste dran sind, sondern immer die, die dahinter stehen. ÜD: C’est la situation dans tous les grands magasins. Ici il y a une queue, peut-être une queue un peu plus longue et à un moment donné un autre guichet, une autre caisse sera ouvert. C’est tout à fait normal que le servant appelle les gens d’ici, pas les premiers, jamais les premiers, mais toujours les gens qui sont là. D: Ich betrachte das auch als ungerecht, aber im Sinne von „Pech gehabt“, also im Sinne von „verdammt noch mal, hätte die nicht fünf Minuten früher aufmachen können, diese Kasse.“

239

ANHANG

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

240

ÜD: Mais il considère comme une injustice, « bon, je n’ai pas eu la chance, pourquoi, n’a-t-elle pas ouvert la caisse 5 minutes plus tôt ». D: „Wenn ich auf dem dritten oder vierten Platz in der Schlange gewesen wäre, dann wäre das für mich die Chance gewesen.“ ÜD: S’il avait été à la cinquième quatrième place dans la queue, il aurait profité. D: Ich will mich daran nicht aufhalten. Mich hat: nur eines gewundert in der Interpretation – jetzt komme ich zum eher Systematischen. Warum dieses – in Zeile 1048 „they do things unknowingly“, „he doesn’t want to believe it“ – also wenn man es ihm sagt, warum das in der Interpretation keine Rolle gespielt hat. Das finde ich eine interessante Frage. ÜD: Bon, maintenant il se réfère à la question systématique et se réfère à la ligne 1048. Il s’étonne pourquoi des énoncés comme « they do things unknowingly » et l’autre … pourquoi ces énoncés ne jouent aucun rôle dans l’interprétation. D: Ich frage das deshalb, weil die Einschätzung, dass es sich um einen Bildungsprozess gehandelt habe, man könnte ja dann auch sagen, wenn ich auf Leute referiere, die etwas tun, ohne es zu wissen, das heißt, die mit dem, was sie tun, eigentlich einen anderen Sinn verfolgen als denjenigen, den ich ihnen unterstelle, es könnte sich dabei möglicherweise nicht um einen Bildungsprozess handeln, wenn ich mich da reinsteigere, sondern um einen Einbildungsprozess. ÜD: Il pose cette question… alors c’est un jeu de mots maintenant en allemand … il pose cette question à travers de ces énoncés en fait des interprétations concernant le Bildungsprozess. Mais, c’est-à-dire, on fait des interprétations à partir de l’extérieur, en tant que les personnes sont concernées, mais si on exagère un petit peu on peut dire peut-être ce n’est pas un alors … D: Bildungs- sondern Einbildungsprozess ÜD: De qui ? D: Desjenigen, der das so wahrnimmt, von Bernard. ÜD: Il se peut, que ce n’est pas un processus de Bildung, mais c’est un processus d’imagination. « Einbildung » peut être traduit par imagination. D: Peut-être de « projection ». ÜD: « Imagination » – « Einbildung ». D: Ich bin nicht fertig, ich möchte das weiterführen. Mein Problem ist, dass ich das nicht entscheiden kann. ÜD: Son problème, c’est qu’il ne sait pas, comment décider là-dessus.

TRANSKRIPTION DER DISKUSSION

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110

D: Ich möchte jetzt einen Vorschlag machen. Ich habe am ersten Tag schon einmal darauf hingewiesen, möchte es jetzt aber in [diesem Kontext] von appartenance und inclusion versuchen. ÜD: Maintenant il va faire une proposition en se referant a ce qu’il a dit avant-hier, mais maintenant dans le contexte de cette distinction de l’apparence et de l’inclusion. D: Was mich fasziniert hat eben, war die Anmerkung, dass die inclusion auf der Ebene des Symbolischen liegt. ÜD: Il a été fasciné par la remarque que l’inclusion se trouve au niveau du symbolique. D: Das heißt, dass die appartenance und das heißt auch die Hautfarbe auf der Ebene des Präsymbolischen liegt, des nicht symbolisch wirklich Konnotierbaren liegt. ÜD: C’est-à-dire que l’appartenance et aussi la question de la couleur de la peau se trouve sur le niveau présymbolique, c’est-à-dire ce n’est pas bien connoté. D: Und das tut sie sowohl für denjenigen, der diese Hautfarbe hat, wie auch für den, der sich ihm gegenüber verhält. ÜD: Et ça joue par rapport à celui-ci qui a cette couleur de peau et autant pour celui-ci qui se réfère à celui-ci. D: Das aber heißt, dass die Zurechnung zwischen inclusion, symbolischer Verortung, Selbstverortung sowie Verortung durch Fremde, sich auf einen Gegenstand bezieht – die Haut in dem Fall, die Hautfarbe – der sich beiden Seiten letztlich, bezogen auf symbolische Repräsentierbarkeit, entzieht. ÜD: C’est-à-dire que nous trouvons une attribution, qui échappe au calcul, à l’interprétation de ce qui essaye de faire cette interprétation. D: Und das bedeutet, dass es eigentlich ein Thema einer Auseinandersetzung ist, für die es keinen – ich würde einfach mal so platt sagen – ontologischen Referenzpunkt gibt. ÜD: Et comme ça il s’agit d’un sujet, d’une discussion, d’un appui d’une discussion pour lequel il n’y a pas un point ontologique de référence. Il n’y a pas une donnée ontologique de référence. D: Aber dieser Referenzpunkt ist immer mehr als nur symbolisch. ÜD: Mais ce point de référence est toujours plus que seulement symbolique. D: Und ich glaube, wenn man das so versteht, ist für mich plausibel, warum es jetzt eine Diskussion gegeben hat über das Vorliegen von Rassismus in diesen Situationen oder nicht, also dass da ein Problem ist, was ich als Problem ansprechen kann, ich kann darauf referieren – also was für mich dann auch wirklich eins ist – ohne dass ich wirklich definieren kann, ob es sich wirklich um ein solches handelt. 241

ANHANG

111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

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ÜD: Si on suit cette interprétation, pour lui il est plausible que nous avons eu ce débat sur la question du racisme, parce que c’est un problème auquel, d’après cette interprétation, on peut se référer et vraiment c’est un problème pratique ça, il ne le nie pas, pas du tout, mais on ne peut pas décider sur la nature du problème, et on ne peut même pas décider s’il s’agit d’un problème ou non. D: Doch, es ist ein Problem. C1: Ça j’ai pas bien compris. D: Also, der Status der appartenance, der ist präsymbolisch. ÜD: Es ist die Frage, welches Problem es ist oder … D: Das der Hautfarbe. Die Hautfarbe schillert. Sie ist einerseits eine präsymbolische Relevanz, auf die ich referieren kann, aber sie entzieht sich der vollständigen Symbolisierung. Ich kann darauf nur referieren symbolisch. Sie ist ein Wert, sie ist da, also sie ist ein Referenzpunkt, aber sie geht in der symbolischen Referenz nicht auf. Das bedeutet sowohl die Permanenz eines Konflikts für mich selber, der ich immer schon unter dem Aspekt wahrgenommen werden kann und damit singularisiert ausgeschlossen werden kann, aber es gibt keinen objektiven Referenzpunkt im Symbolischen, wann das wirklich der Fall ist. Es gibt einen Bruch zwischen der appartenance und der inclusion als symbolischer Verortung sowohl für mich selbst wie für die anderen. Das heißt aber nicht, dass diese appartenance beliebig wird, dass ich das nur als symbolisches Spiel begreifen könnte. Es steckt mehr dahinter. ÜD: Bon, je vais essayer de traduire maintenant, c’est difficile, alors, il est revenu a cette distinction ou cette remarque, il s’agit de quelque chose de symbolique mais quelque chose qui n’est pas seulement … qui échappe d’une part à la symbolisation d’accord ne peut pas symboliser complètement, si c’est comme ça alors le problème est là comme un problème pratique. Je suis toujours concerné par ce problème, mais je ne peux pas thématiser le problème totalement parce qu’il y a seulement la possibilité de le thématiser sur le plan symbolique, mais il y a toujours le reste qui échappe à cette symbolisation. C’est un peu ça. ED: Appartenance! ÜD: Il y a une rupture systématique entre l’appartenance et l’inclusion à cause – autant que j’ai compris – à cause de ce fait qu’il y a toujours un reste qui échappe à la symbolisation. C’est ça. ED: On ne sait jamais si c’est dû à l’apparence ou au symbolique. FC: Le problème dont on parle là, c’est le racisme? ÜD: Oui, oui, oui, pour les deux cotés. ED: Oui, mais quand je serais en Afrique, ça serait la même chose.

TRANSKRIPTION DER DISKUSSION

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FC: Non, non, on va revenir à ça, on va revenir. ÜD: D’abord il faut compléter. D: Ich bin eigentlich fertig. Ich könnte es an der Hautfarbe jetzt wirklich als Beispiel durchführen. ÜD: Kriegst du das mit der Bezeichnung hin? Nicht hier, aber das macht nichts. D: Ne, ne, das will ich hier nicht bewerten. ÜD: Du hast ja Bilder im Kopf. Ich muss auch in Bilder übersetzen können. FC: Laissez exemplifier ça à la couleur … à la peau. D: Die Hautfarbe ist – also ich mache es mal in der Terminologie von Rudi Visker, ich könnte es aber auch an dieser machen, ich glaube, das ist übersetzbarer, an der Terminologie appartenance und inclusion. Die Hautfarbe ist ein Das(s), etwas, das ich bin, ohne dass es mir auffällt, das vorrangig zum Auffallen, zur Repräsentation ist. Etwas, zu dem ich mich immer eigentlich nicht bewusst verhalte, erst wenn ich in einen Kontext komme, nicht in Douala, sondern in Deutschland, in einen Kontext komme, wo das Verhältnis der symbolischen Inszenierung oder der symbolischen Repräsentation dieses Das(s), das nennt der Visker ein Was, als solches problematisch wird, indem die anderen mich bezogen auf das Das(s), was ich bin, nageln, festzunageln versuchen, singularisieren sie mich in meinem Das(s). Und ich weiß nicht genau, wie die es machen, aber ich merke diese Differenz, die eingezogen wird. Ich merke diese Differenz. Diese Differenz invoziert in mir, als demjenigen, der dieses Das(s) hat, um darüber verfügen zu können – das kann auch eine Behinderung oder sonst irgend etwas sein – wer dieses Das(s) hat, es bringt in mir hervor, das Problem des Verhältnisses von Das(s) und Was, von dem, was ich als Hautfarbe bin und wie ich normalerweise umgehe, was vollkommen unproblematisch ist, wenn der symbolische Horizont das bestätigt. Also ich kriege dann ein Problem, der Singularität an der Stelle, die sich nicht mehr in ein Allgemeines einfach übersetzen lässt, nämlich ein symbolisch konnotiertes Allgemeines. ÜD: Bon, je vais essayer, ce n’est pas facile. Alors, il fait la différence entre le Ce et le Quoi. Peut-être je peux traduire le Ce en terme de Ce prédicatif. Je traduis maintenant très librement. Si je suis ici comme blanc, la couleur de la peau ne joue aucun rôle parmi les blancs. Mais dès que j’arrive à Douala, c’est différent. Et pour vous à l’envers, ça c’est clair. C’est à dire, dès que j’entre dans un autre contexte, ce qui est très naturel, très impliqué comme le Ce devient un Quoi, alors, devient quelque chose qui peut être thématisé. Mais ce n’est pas facile à thématiser, ce n’est pas possible à thématiser 243

ANHANG

195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

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complètement, il y a quelque chose qui me dérange. Il y a toujours quelque chose qui échappe, d’après ce que tu as dit avant. D: Ich weiß nicht, was es heißt, weiß sein, ich weiß auch nicht, was es heißt, schwarz sein. Als Schwarzer weiß ich nicht, was es heißt, als Weißer weiß ich nicht, was das heißt. ÜD: J’arrive dans une situation où quelque chose qui dans mon propre contexte est tout à fait naturelle se dégage comme quelque chose à thématiser, mais je ne comprends pas ce que cela veut dire. D: Ich merke, dass ich keine Sicherheit habe im Weiß-Sein. Genau wie man merkt, dass man keine Sicherheit hat im Schwarz-Sein. Was heißt das eigentlich? ÜD: Être blanc dans une autre contexte ne va plus tout seul. De là la question que je me pose, être noir ou être blanc dans un autre contexte, ça veut dire quoi? D: Aber ich komme in dieser Situation aus dieser Geschichte nicht heraus. Ich werde gleichsam darauf fixiert: ein Weißer, ein Behinderter, ein Schwarzer oder sonst irgendwas zu sein. ÜD: Dans une telle situation, je ne peux pas échapper à cette attribution par les autres. Et je ne peux [pas?] échapper à être blanc dans un contexte noir, et à être noir dans un contexte blanc, et handicapé dans un contexte de non-handicapé etc. D: Das heißt, was man hat, ist ein generalisiertes Spiel von Unsicherheit. ÜD: Alors, on rentre dans un jeu généralisé des incertitudes. D: In diesem Spiel kann man mehr oder weniger bewusst, beispielsweise die biologische Referenz einsetzen. Dies Spiel, was dann aufgemacht wird, nachdem man auf etwas fixiert ist, das kann bewusst kontra eingestellt sein, dann hätte man das, was Sie gestern als Rassismus auf der Basis von biologischer Zurechnung … Es kann auch ein einfaches Spiel von Unsicherheiten sein, was dann auf so auf diese Basis hin konnotiert wird, weil, es handelt sich ja um ein reelles Problem, was die Leute haben, aber vor allem eines mit sich selbst. ÜD: Alors dans ce jeu, on peut essayer de trouver des points fixes ou essayer de fixer la discussion et là il fait la distinction entre deux possibilités – ce sont des extrêmes, ça c’est sûr – peut-être qu’on se réfère à des points biologiques et dans ce cas D: Man wählt eine biologische Terminologie. ÜD: On choisit une terminologie biologique, ce n’est pas … [Wechseln der Tonbandkassette] ÜD: Il se peut aussi que des documents comme ça sont deux jeux d’incertitude, mais qui peuvent être interprété de l’un ou de l’autre,

TRANSKRIPTION DER DISKUSSION

237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278

D:

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D: ÜD:

GD: C1 :

alors de la personne elle-même ou des autres comme un jeu d’attribution de racisme. Alors … Ein letzter Satz: Wenn ich diesen Rahmen stecke, dann macht für mich auch diese Geschichte mit unknowingly, wenn man die Leute darauf befragt, was sie da gerade gemacht haben, dass sie’s möglicherweise wirklich nicht wissen. Dass es Unsicherheiten sind. Also da macht diese Unterscheidung Sinn, die häufig dann aus verschiedenen Perspektiven… Also er hat ein Interesse dran, das so naturalistisch zu interpretieren. Also gleichzeitig, es muss eine Unsicherheit in der Situation bleiben, wenn er sagt, die machen es unbewusst, kann ich denen das doch nicht unterstellen, dass sie naturalistisch vorgehen. Ich kann es, wenn ich diese Differenz mache, also dieses … Dans ce cadre, qu’il a ouvert, cet énoncé de Bernard « they do things unknowingly » apporte du sens du sorte que vraiment, il se peut que les gens vraiment ne savent pas ce qu’ils font, mais que quelqu’un comme Bernard leur attribue un certain comportement raciste pour échapper à cette incertitude mais il ne sait jamais s’il s’agit d’un racisme ou il s’agit de quelque chose qui se passe d’une manière sousjacente et non explicitée et même pas explicitable. Noch ein Satz. Es kann natürlich Situationen geben, in denen wirklich Rassismus im Sinne der Attribuierung, also eine Naturalisierung von Differenzen erfolgt. Aber es gibt viele Situationen, wo es verdammt schwierig ist, zu entscheiden. Il est tout à fait d’accord qu’il y a vraiment des situations racistes, alors un racisme qui s’explique à travers une attribution naturalisant c’est à dire où les gens disent, c’est la nature de quelqu’un. Mais c’est une manière de parler et par ça le fait pratique du racisme. Praktische Konsequenzen. Mais ce sont des conséquences pratiques, mais en principe il y a des situations où on ne peut pas décider. C’est ça. Il accepte qu’il y en a. Ça, ce n’est pas la question. Maintenant il y a une annonciation de C2 et C1. Je voudrais répondre très brièvement sur un point qu’il a évoqué parce que c’est un point que je n’ai pas évoqué dans ma présentation, quand il parle de « unknowingly ». Il dit sur cette base, il est impossible de parler de Bildungsprozess et tout. Ce point, on l’a aussi évoqué dans la logique de l’argumentation de Bernard quand il dit, les gens le font sans … ils agissent sans se rendre compte de ce qu’ils font. Pour lui, nous avons compris cela comme une argumentation qui systématise la généralisation que Bernard fait du racisme en Allemagne. Il dit, les gens sont tellement racistes qu’ils posent 245

ANHANG

279 des actes racistes sans se rendre compte qu’ils posent des actes ra280 cistes. Partir de ça maintenant pour dire, que si les gens le font sans 281 se rendre compte, on peut dire que quand Bernard réalise, constate 282 cela, il n’y a pas d’évolution dans son comportement. C’est peut-être 283 une façon de dire que cela, mais la réalité étant qu’il s’agissait pour 284 Bernard d’abord premièrement de dire que l’Allemagne dans tout 285 son système est raciste, il est tellement raciste que les gens dans leur 286 comportement quotidien posent des actes sans se rendre compte que 287 ce sont des actes racistes. Et c’est en cela même que le racisme de288 vient très dangereux parce que les gens posent des actes raciste sans 289 se rendre compte qu’ils sont en train de discriminer les autres. Donc, 290 c’est pour répondre à cela, peut-être que je peux ajouter très briève291 ment pour répondre au long exposé que vous avez fait. Je suis con292 tent qu’à la fin vous soyez revenus là où vous avez commencé quand 293 vous parler de certitude et d’incertitude. J’ai eu comme l’impression 294 que vous voulez poser la question de l’ontologie du racisme. Comme 295 pour dire que c’est quelque chose qui n’existe pas où qu’on parle des 296 choses qui n’existent pas. La réalité est tant que par rapport quand 297 vous dites que le noir qui se trouve ici c’est un peu comme si le ra298 cisme était quelque chose inventé par le noir du fait de sa présence 299 ici, comme le blanc inventerait le racisme du fait de sa présence à 300 Douala. J’ai dit peut-être qu’il faudra encore que … essayer de 301 s’entendre sur ce que l’on peut entendre comme racisme quand on a 302 parlé du biologique, du naturalisme ou naturalisation. Je ne sais pas, 303 je voudrais que C2 dise un peu ce qu’il nous a dit hier, comment le 304 racisme est fondé et peut-être je pourrais revenir aussi pour com305 ment… nous comprenons le racisme en Allemagne quand nous di306 sons que la société allemande est une société qui institutionnalise le 307 racisme. Ça se lit dans les lois allemandes, ça était une question phi308 losophique pendant des siècles et nous vivons aujourd’hui les consé309 quences. 310 GD: C’est C2 mais après je voudrais bien demander à HF, parce qu’il a 311 annoncé déjà hier de dire quelques mots sur le problème général du 312 racisme. Peut-être tu peux le faire après. 313 C2: J’apprécie, les contentions de rhétorique de D m’impressionnent 314 beaucoup. Pour faire des spéculations sur des choses qui apparem315 ment il spécule sur du vécu, et ça, moi, je me compte parce que de316 puis nous sommes en train de discuter sur des questions, de mé317 thodes et je me rends. Je ne sais pas ou est-ce que Monsieur D est 318 déjà dans le texte qu’on se rend compte quand il peut contredire par 319 exemple je vais dans les cas pratiques. Il veut contredire le schéma 320 de MacDonald pour dire c’est une injustice, il a eu la malchance.

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TRANSKRIPTION DER DISKUSSION

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voudrais bien, je vous rappelle un schéma dans lequel il y a un guichet. Le guichet est plein, occupé par quelqu’un, avec un servant, et un guichet est vide. Et un servant arrive sur le guichet vide et demande aux gens de passer à ce guichet-là. Je vous rappelle que dans le cas de Bernard le guichet vide était celui devant lequel il se trouvait et l’autre était occupé. Il a même servit quelqu’un qui s’en est allé. Il se dit dans le texte. L’exemple que vous donnez est un exemple que vous transposez sur ce texte. Nous sommes allés dans ce qu’il raconte pour faire ce schéma. Ça, c’est la première chose. La deuxième chose lorsque vous me parlez, votre reflexion sur le racisme comme n’existant pas, comme étant peut-être une représentation de celui qui est en train de … de la personne qui peut-être en posant comme noir, en interprétant dans cette catégorie, il invente de ce mot racisme. Je vous dis, le racisme n’est pas une spéculation, ce n’est pas du symbolique uniquement, c’est une réalité. Et la personne, vous pourrez donc pas à partir de votre position en parler. Que vous ne pourrez que vous le ferez à partir de la position qui la vit. Vous ne pourrez partir que du point de vue de l’expérience et c’est ça le danger justement. Parce que quand on essaye d’abstraire l’expérience, on essaye de s’occuper de ce que la victime raconte. Cette dénégation du vécu de la victime est une double violence à ce dernier. Vous allez me demander pourquoi ce sujet soulève tant d’émotions. C’est justement à cause de cette tendance à vouloir faire des abstractions sur du vécu. Quand quelqu’un vous dit, je vis ceci comme cela, et c’est comme cela que je sens ça. Il donne des exemples. Vous me racontez des trucs. Il y a un autre point de vue. Quand vous faites, lorsque vous parlez du racisme comme étant un fait de différence, mais le racisme n’est pas que la différence. Quand vous dites que je suis dans ce contexte lorsque vous êtes ici, vous ne savez pas ce qu’être blanc veut dire. Et lorsque vous êtes en Afrique, vous savez, vous saurez ce qu’être blanc veut dire. Mais il y a un composant, le concept du racisme, on le situe dans un contexte historique. Pour se rendre compte que ce n’est pas les distinctions qui ont été biologiques, ont été matérialisés par des … une domination historique, qui s’est caractérisé à travers les mécanismes historiques de domination sur d’autres peuples, de répression d’autres peuples. Et c’est ça le problème. Le phénomène est quand les gens font [?] ils vivent cela aujourd’hui. Les représentations qui, associées à ma personne aujourd’ hui comme moi que je le veuille ou non, moi, quand j’arrive ici, je ne viens pas en tant que noir dans la société blanche, mais que je le veuille ou non, je suis situé. Et cette présentation, je ne peux pas m’en débarrasser. Donc moi je suis un peu vraiment 247

ANHANG

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D:

ID: C2 : D: C2 : D:

ID: D: ÜD:

ID:

surpris que vous soyez en train de faire ces abstractions sur des réalités que les gens vivent comme cela. Et qu’à partir de ce texte nous avons dit que nous partons de l’expérience du sujet qui se sent victime et comment est-ce qu’il exprime cela. Vous avez déjà ici essayé de déformer le texte. Ensuite vous faites des interprétations qui ne rentrent pas justement dans la possibilité, dans ce que le sujet, il dit, mais vous partez, de ce qui vous, vous pensez du racisme et c’est ça le problème. [kurze Unterbrechung der Aufnahme] S’il a déformé le texte ici, il dit, essayer de dire ce que la peine de l’expérience du racisme. C’est comme ça que je perçois … Nur ein Wort. Wenn man auf der Ebene argumentiert, dass etwas Realität ist, mit vier Ausrufezeichen, kann man nicht mehr miteinander reden. Dann ist es vorbei. Dann kann nur jemand, der eine Sache etwas anders versteht, das böswillig anders verstehen. Wir können das Problem nicht auf die Frage von Wahrheit reduzieren. Das ist auch eine politische Dimension. Es ist ein Problem von Erfahrung, nicht von Wahrheit. Erfahrung gibt es nicht jenseits der Interpretation. Es ist nun mal so. Okay. Mein Ausgangspunkt, das bitte ich noch mal zu berücksichtigen, war der Streit an diesem Tisch darüber, was davon eine rassistische Situation ist, und was nicht. Was ich versucht habe, war nichts anderes, als einen Rahmen zu geben, um den Streit als Streit verstehen zu können. Ja, da war es gar nicht so einfach mit der Realitätszuschreibung, der man in diesem Kontext … Ich habe extra darauf hingewiesen, dass appartenance etwas ist, man könnte sagen, wie ein Schicksal, das man nicht einholen kann, was aber trotzdem in bestimmten Situationen einholt, dass das dann emotional besetzt ist. Und Naturalisierung ist eine emotionale Besetzung. Und Leiden an der Naturalisierung durch andere ist eine nachvollziehbare emotionale Besetzung, das ist doch gar nicht das Problem. Für viele Leute ist es ein alltägliches Problem. Man darf es nicht so banalisieren. Wir sind hier nicht im Alltag, aber wir gucken doch drauf, denke ich mal. Maintenant, c’est difficile, parce qu’il y avait plusieurs voix dans ce discours. La thèse principale est qu’on ne peut pas parler seulement de la réalité qui a fait la distinction entre le symbolique et la réalité. Je pense qu’il contredit à cette distinction parce que la réalité en tant que je comprends ta remarque, la réalité est toujours formulée d’une manière plus symbolique. De là il a essayé de … Il y a une chose qui échappe…

TRANSKRIPTION DER DISKUSSION

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ÜD: Il y a toujours une chose qui échappe au symbolique, mais quand même on ne peut pas se référer à une réalité directe, ou ça, ce n’est pas objectif. ID: Cette chose est très importante et on discute exactement ça. La chose qui échappe … ÜD: Je voudrais bien demander à HF. JC: Il n’a pas traduit. Je souhaite bien, parce que je n’ai pas compris la remarque de D et ce que ID a dit. ÜD: Il n’a pas voulu contredire le fait qu’il y a le racisme comme un fait pratique dans la vie politique. Il a seulement voulu ouvrir un cadre, un champs, dans lequel on peut mieux discuter de la question du racisme. C’est tout.

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TRANSKRIPTION DES BIOGRAPHISCHEN INTERVIEWS 1 M I T „B E R N A R D “ (A U S Z U G )

B: Auf was ich jetzt erleb‘, diesen alltäglichen Rassismus zum Beispiel. I: Ja (.), ja, was erlebst du? B: Rassismus, denke ich, das meine ich doch. Ich wäre vielleicht besser vorbereitet. Vielleicht würde es mich nicht so (.)/ nicht so (.) eh eh / nicht mehr so sehr beschäftigen, wie es das jetzt so macht vielleicht. I: Kannst du Beispiele geben? B: a, ich kann’s. Ich wurde von einem Restaurant einmal auch rausgeschmissen wegen meiner Hautfarbe so/ nicht von einem Restaurant, von einem kleinen Imbiß. Also (.) das ist das Allerschlimmste, was ich je erlebt hab‘ (I: mmh). Das war ziemlich/ das ist ziemlich, ich denke grausam so, daß das tatsächlich passiert ist (...)/ das war eine Sache zum Beispiel also. (...) Mit der Zeit also/ das heißt/ es gibt brutale Rassismus, ne. Hier ich/ ich denke, die Leute, sie/ fast alle Rassisten gehen auch sehr auf Politik (I: mmh). (.) Ja, ich vergleiche zu Frankreich, das ist immer so mein Maßstab. In Frankreich ich habe gelebt. Wenn du wirklich in diese Gesellschaft lebst, kannst du denken, daß es keine Rassisten in Frankreich gibt (I: mmh). Ja, es gibt 15% von Leuten, die Le Pen wählen. (I: mmh) Das sind genau die Zahlen. Und hier gibt es vielleicht vier Prozent (I: mmh), die schaffen nicht mal den allgemeinen Anspruch. Und hier empfindet man das schlimmer als da (I: mmh). Also das auch. I: mmh. Ja, an was empfindest du das? B: Ja, zum Beispiel ist/ muß man an andere Klasse gehen, um das zu sehen. Das ist sehr subtil in Frankreich (.), sehr sehr subtil (.), ne. Du würdest zum Beispiel (..) eh an deinem Arbeitsplatz nicht so sehr direkt finden, daß man (.)/ eh ich habe noch nicht gearbeitet, aber ich kann mir vorstellen/ oder was auch mein Bruder erzählt/ sie würden dir sofort/ du mußt nur ein

1

Es handelt sich um die Passage des Interviews, auf die sich die Diskussion bezieht, die in den Beiträgen des Bandes thematisiert wird. Das Interview ist auf Deutsch geführt worden, hat aber den Teilnehmern der Diskussion auch in englischer Übersetzung vorgelegen.

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ANHANG

andere eh Funktion haben als du möchtest, du mußt Anspruch haben zum Beispiel/ (Wechsel der Kassette) Ja, ich meinte, du mußt noch diesen Anspruch haben, ich bin doch gut, ich bin doch besser (.), ne (I: mmh), in Frankreich zu haben (I: mmh), diesen Anspruch zu haben, um zu merken, daß es vielleicht doch Rassismus gibt, daß man (.) dir den Platz nicht gönnen kann, weil du vielleicht eh nicht Franzose bist (I: mmh) oder daß du nicht weißer Franzose bist (I: mmh), ja, das ist/ ja. Aber hier schon (.)/ diesen Traum verlierst du schon, also bevor du überhaupt in dem Job angefangen hast, da ist dir schon klar: Ich werde das nicht mehr schaffen! Und das finde ich schon wirklich sehr schade (I: mmh). Denn wenn man sich schon/ na (.) das hat/ ist (.) schon am Anfang so anspruchslos, ne (I: mmh), daß man sich so sagt: O.k., ich werde das nicht schaffen, nur weil die Gesellschaft so und so und so ist eh, das finde ich wirklich schlimm. Ich werde ein komisches Beispiel nennen. Wir werden (.)/ wir können auch machen. Also ich will nicht sagen, ich will das (??). Wir fahren mit der Bahn, du sitzt in deiner Ecke, ich sitze in meiner Ecke so. Ganz schön Abteil frei. (..) Auch wenn bei dir schon drei Personen sitzen, wenn der vierte Platz nicht besetzt ist, kommt keiner bei mir so rein, (.) wenn das nicht ein Ausländer ist (I: mmh). Ich habe das nicht nur einmal festgestellt oder zweimal oder dreimal, ich habe sehr oft festgestellt. O. k., es gibt Menschen/ ich denke, daß einige Menschen machen das nicht bewußt. Das heißt, das ist irgendwie drin, irgendwie das als System der Allgemeinheit, das ist hier so und so nicht, oder das ist einer, wo man das Gefühl hat, der uns nur Ärger macht oder ne (I: mmh), das kriegt man schon mit, wirklich (.), das kriegt man schon ziemlich gut mit (.), das ist (..)/. I: Tja, und wie geht man damit um? B: Wie man damit umgeht? Wenn man (...)/ ein Kern von Leuten so, mit denen man sich verstehen kann, und versucht man, so/ so einfach zu leben, so fast seine ganze Pers/ seine ganzen Freunde so abzuschneiden von der ganzen Welt so. Aber trotzdem das ist hart, also man schafft das nicht so (I: mmh). Weil da, wo du dich befindest, auch schon in dem Kern von Leuten, es gibt Menschen, die machen etwas unbewußt, wo du doch merkst, eh irgendwie steckt was in ihnen drin, aber der weiß nicht so (I: mmh), ne (I: mmh). Wenn du ihm das sagst, entweder reagiert der sauer, ne, oder reagiert der so, daß eh (..)/ nee, der möchte das nicht wahrnehmen, daß er doch so was gemacht hat. Der wird dir sagen, daß er hat das nicht so gemeint, vielleicht auch nicht (I: mmh), aber das ist Tatsache, daß das (.) so nicht geht (I: mmh). Ich erzähl dir ein Beispiel, ich gehe zum Beispiel da in McDonald (..), eh das/ das ist sehr/ noch nicht sehr eh lang gewesen, vielleicht vor drei oder vor vier Wochen. (.) Es gibt vielleicht drei Personen, davon eine ist zu, ein Kunde steht da, wird schon bedient, steht vor einer Kasse, die offen ist und wo keiner ist (I: mmh). Es kommt einer, ein

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TRANSKRIPTION DES BIOGRAPHISCHEN INTERVIEWS

I: B: I: B:

I: B:

Deutscher stellt sich automatisch hinter mir (.) und wartet. (.) Ist der Typ vorne an der Kasse fertig (..), guckt er den Deutschen an und sagt: Komm zu mir. (.) Aber ich steh vor der leeren Kasse immer! (I: mmh) Bevor ich das eh kapiert habe/ also ich habe erstmal nicht wahrnehmen wollen, aber bevor ich das kapiert habe, was eigentlich passiert ist (I: mmh), hab ich gedacht: Verdammt noch, ich bin ganz alleine! Der Typ hat sich nicht geniert, hinzugehen und sich bedienen zu lassen (I: mmh). Der Typ hat das/ ne? (.) Und (.) was/ wie kann/ wie soll ich das verstehen? Und (.)/ also bei deiner Kasse war aber auch einer, der (.)? War keiner, war keiner! Ach, war keiner. Nja, das macht den Hammer aus, mmh. Ja, war keiner. (.) (I: mmh ja) (..) Das war so. (...) (I: mmh) Also ich eh so/ o.k., der Leiter hat sich entschuldigt irgendwie, aber ich war schon genervt, ich konnte nicht mehr essen. Du hast das dann angesprochen? Ja, sicher/ sicher, ich lass das nicht, ich mach das. Und (.) er ist gekommen und hat sich entschuldigt, aber/ (gedehnt bis*) Ja, nein, das war kein*. Und ich sag: Vielleicht weißt du nicht, aber das ist das Schlimmste, wenn man das nicht merkt (I: mmh). Ich hab ihm so gesagt, das ist wirklich schlimm! (I: mmh) (..) Das kann man nicht machen, das ist nicht, wie sich so gehört, das geht nicht (.), daß du einfach so (..). Naja, ich konnte nicht mehr essen, ich konnte nicht mal mehr bestellen, ich bin einfach weggegangen und so. Ja, das ist passiert. …

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AUTORENVERZEICHNIS Kokemohr, Rainer (*1940), nach Lehrertätigkeit Promotionsstudium mit einer Dissertation zur Bildungsphilosophie Nietzsches (1970); Habilitation zur Konstitution von Intersubjektivität in Lehr-Lern-Prozessen (1973); seit 1974 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer linguistischen Aspekte an der Universität Hamburg, emeritiert seit Oktober 2005. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Struktur und Dynamik von Lehr-Lern-Prozessen, zu historisch-systematischer Erziehungswissenschaft, zu kulturellen Praktiken und interkultureller Kooperation, zu Bildungsund Bildungsprozesstheorie und zu erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Seit 1986 erziehungswissenschaftliche Feldforschung in Kamerun, seit 1991 Mitinitiator und Wissenschaftlicher Berater zunächst im Aufbau einer Reformschule und seit 1999 im Aufbau des Institut Supérieur de Pédagogie ‚Institut pour Sociétés en Mutation‘ – IPSOM), beides in Bandjoun, Kamerun (Lehr- und Studienbetrieb seit Oktober 2005). Seit 2001 Kooperation im Bereich erziehungswissenschaftlicher Biographie- und Professionsforschung mit Kolleginnen und Kollegen des College of Education der National Chengchi-University in Taipeh sowie mit Kolleginnen und Kollegen weiterer Universitäten in Taiwan – in der Form von Vorträgen, workshops, Symposien und der Teilnahme an internationalen Konferenzen. Koller, Hans-Christoph (*1956), Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Qualitative Bildungsforschung, insbesondere zu biographischen Bildungsprozessen im Kontext von radikaler Pluralität und Interkulturalität. Marotzki, Winfried, Dr., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Arbeitsgebiete: Bildungstheorie, Qualitative Sozialforschung, audio-visuelle Kommunikation, OnlineForschung. Meyer-Drawe, Käte, Dr. päd., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum; ausgewählte Bücher: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-

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BILDUNGSPROZESSE UND FREMDHEITSERFAHRUNG

Subjektivität. München 20013; Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 20002; Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 20072. Pazzini, Karl-Josef, Prof. für Bildende Kunst & Erziehungswissenschaft (Universität Hamburg), Psychoanalytiker in eigener Praxis, Arbeit an: Bildung vor Bildern, Psychoanalyse & Lehren, Wahn – Wissen – Institution, psychoanalytisches Setting. Siehe auch http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de und http://freudlacan.de. Sanders, Olaf (*1967), Dr. phil., war wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg im Arbeitsbereich von Rainer Kokemohr und unterrichtet gegenwärtig Erziehungswissenschaft an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und der Musikhochschule Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Theorie und Philosophie der Bildung, der Medien, v.a. des Films, und der populären Kultur. Schäfer, Alfred (*1951) ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Konstitutionsproblemen der Erziehungswissenschaft, zur Bildungsphilosophie sowie zur Bildungsethnologie. Zuletzt: Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi. Berlin: Reimer 1999; Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim: Beltz 2002; Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim: Beltz 2004; Kierkegaard. Eine Grenzbestimmung des Pädagogischen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004; Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund. Münster: Waxmann 2004; Einführung in die Erziehungsphilosophie. Weinheim: Beltz 2005. Schmidt, Tim (*1973), Dipl. Päd., Studium der Erziehungswissenschaft, Kunst, Soziologie und Psychologie in Hamburg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Bildungstheorie, Medientheorie und Psychoanalyse. Schulze, Theodor, Dr. (*1926), Prof. em., Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, Theorie komplexer und längerfristiger Lernprozesse, Lehrkunst-Didaktik. Straub, Jürgen, (*1958), Prof. Dr. phil., Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Handlungstheorie, Kulturpsychologie und kulturvergleichende Psychologie; Probleme und Potentiale inter-

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AUTORENVERZEICHNIS

kultureller Kommunikation und Koexistenz; interkulturelle Kompetenz; Konflikte, Gewalt und Verständigung in modernen Gesellschaften; Gedächtnistheorie, Geschichtsbewusstsein, psychosoziale Folgen der Shoah; Migration und Gesundheit; Theorie, Methodologie und Methodik qualitativer Forschung. Trede-Schicker, Tanja (*1970), Gutachterin des medizinischen Dienstes, Studium der Philosophie, Erziehungswissenschaft und BWL (mit Schwerpunkt Organisation und Führung) in Hamburg. Arbeitet zurzeit an ihrer Magisterarbeit zu Martin Heidegger und Jean Paul Sartre. Wulftange, Gereon (*1975), Studium der Erziehungswissenschaft in Hamburg, Mitarbeiter von Karl-Josef Pazzini und Rainer Kokemohr, arbeitet momentan an seiner Diplomarbeit im Umfeld von Bildungstheorie, Psychoanalyse und interkultureller Bildung.

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Theorie Bilden Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium

Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung

Dezember 2007, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-798-1

Februar 2007, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-656-4

Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs

November 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-588-8

Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit

Januar 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-599-4

Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-469-0

Oktober 2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-791-2

Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband

Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole?

2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-489-8

April 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-688-5

Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung 2006, 244 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-455-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane 2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-286-3

Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-324-2

Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-316-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de