Neurologie (Springer-Lehrbuch) (German Edition) 3540299971, 9783540299974

Die zwolfte Auflage des beliebten Standardwerks bietet den neuesten Stand der klinischen und apparativen Diagnostik, der

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English Pages 815 [833] Year 2006

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Neurologie (Springer-Lehrbuch) (German Edition)
 3540299971, 9783540299974

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Springer-Lehrbuch

Für Monika, Nicola und Stefanie

Klaus Poeck Werner Hacke

Neurologie 12., aktualisierte und erweiterte Auflage

Mit 565, zum Teil farbigen Abbildungen und 85 Tabellen

123

Professor Dr. med. Klaus Poeck, FRCP Nizzaallee 40, 52072 Aachen ehemals: Direktor der Neurologischen Klinik, Medizinische Einrichtungen, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Pauwelsstr. 30. 52057 Aachen

Professor Dr. med. Werner Hacke, FAHA, FESC Direktor der Neurologischen Klinik, Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg

ISBN-10 3-540-29997-1 12. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-29997-4 12. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 1966, 1972, 1974, 1977, 1978, 1982, 1987, 1990, 1992, 1994, 1998, 2001, 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Martina Siedler, Renate Scheddin Projektmanagement: Sigrid Janke Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin SPIN 10854003 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck und Bindearbeiten: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2117/2126SM – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort Vor Ihnen liegt die 12. Auflage des Neurologie-Lehrbuchs Poeck/Hacke. Es wurde in den letzten zwei Jahren gründlich überarbeitet und in großen Bereichen neu konzipiert. Noch deutlicher ist der Anspruch des Buches geworden, nicht nur für Studenten, sondern auch für Assistenten und Fachärzte ein kompetenter Begleiter zu sein. Neue didaktische Inhalte, die beispielsweise Facharztwissen besonders herausheben, sollen diesem Anspruch gerecht werden. Von Seiten des Verlags ist ein neues Layout gewählt worden, das dem didaktischen Ziel gut entspricht. Die Zahl der Abbildungen und Tabellen hat erneut zugenommen, und auch der Umfang des Buches ist, wie der Umfang des Wissens in der Neurologie, gewachsen. Neurologie ist heute so komplex, dass es nahezu unmöglich scheint, dass das ganze Gebiet von zwei Personen komplett und kompetent abgehandelt werden kann. Folgerichtig haben wir die Hilfe und Unterstützung vieler aktueller und früherer Mitarbeiter der Heidelberger Neurologischen Universitätsklinik gerne in Anspruch genommen. Jedes Kapitel ist von einem oder mehrerer unserer Mitarbeiter gegengelesen worden. Vorschläge, Ergänzungen, Korrekturen und neue Abbildungen sind so eingeflossen. Die Mitarbeiter werden mit den Kapiteln, die sie bearbeitet haben, in der Danksagung namentlich erwähnt. Besonders herausstellen möchte ich die Kooperation mit unseren Kollegen aus der Abteilung Neuroradiologie der Neurologischen Klinik Heidelberg, geleitet von Herrn Professor Dr. Sartor. Die Herren Hähnel, Hartmann und Kress haben einen Großteil der neuen neuroradiologischen Abbildungen zur Verfügung gestellt. Auch mit der Neurochirurgischen Klinik Heidelberg, speziell den Professoren Kunze und Unterberg sowie ihren Mitarbeitern, verbindet uns eine enge, immer konstruktive Kooperation, die sich wie ein roter Faden durch viele Kapitel zieht. Der kontinuierliche Dialog zwischen den klinischen Neurofächern hat die Neurologie zu dem diagnostisch und therapeutisch aktiven Fach gemacht, das es heute ist. Die »Aachener Schule«, die diese Kooperation lebt, versuchen wir in Heidelberg weiter zu entwickeln. Frau Martina Siedler vom Springer Verlag hat uns zu jeder Zeit nachdrücklich unterstützt. Erst in der Endphase der Korrektur dieses Buches hat sie ein neues Tätigkeitsfeld im Verlag angetreten, dennoch findet man in diesem Buch auch ihre Handschrift. Die Zusammenarbeit mit ihr und den anderen Mitarbeitern des Springer Verlags, namentlich Frau Renate Scheddin, Frau Sigrid Janke und Frau Meike Seeker war sehr angenehm. Viele Leser haben uns in den letzten Jahren auf Rechtschreibfehler, inhaltliche Inkorrektheiten oder schwer verständliche Abschnitte hingewiesen, und wir haben versucht, diese Anregungen aufzunehmen. Wir danken allen für diese konstruktive Kritik. Aachen und Heidelberg, im April 2006 Klaus Poeck Werner Hacke

VII

Die Herausgeber

Klaus Poeck geboren 1926 in Berlin. Studium in Berlin und Heidelberg, Ausbildung in Heidelberg und Düsseldorf (Neurologie), in Bern (Psychiatrie) und Pisa (experimentelle Neurophysiologie). Habilitation 1961 in Freiburg, 1967-1992 ordentlicher Professor und Direktor der Neurologischen Klinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Aus dieser Klinik sind 10 C4-Professoren für die Fächer Neurologie, Kardiologie, Kinderpsychiatrie, Psychologie, kognitive Psychologie, Pädagogik und 4 C3-Professoren verschiedener Fachgebiete hervorgegangen. Ehrenmitglied von 2 nationalen und 6 internationalen Fachgesellschaften, Fellow of the Royal College of Physicians. Wissenschaftliche Aktivität: Instinktbewegung als neurologische Symptome beim Menschen, Neuropsychologie, Diagnose und Behandlung des akuten ischämischen Schlaganfalls.

Werner Hacke geboren 1948 in Duisburg. Studium der Psychologie und Medizin an der RWTH Aachen. Diplompsychologe 1972, Facharztausbildung in Neurologie an der Universitätsklinik Aachen und Bern, in Psychiatrie am Psychiatrischen Krankenhaus Gangelt. Habilitation 1983, 1986-1987 Forschungsaufenthalt in San Diego, USA. Schwerpunkte im Bereich klinische Neurophysiologie, Schlaganfalldiagnostik und -therapie und neurologischer Intensivmedizin. Seit 1987 Ordinarius für Neurologie und Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. Autor mehrerer Bücher zum Thema Schlaganfall und neurologische Intensivmedizin. Leiter zahlreicher internationaler Studien zu Schlaganfallprävention und -diagnostik. Präsident internationaler Fachgesellschaften wie European Stroke Initiative (EUSI) und European Stroke Council (ESC). Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI). Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Neurologie: das neue Layout Über 550 Abbildungen: veranschaulichen komplizierte und komplexe Sachverhalte

Einleitung: thematischer Einstieg ins Kapitel

122

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

> > Einleitung

Leitsystem: schnelle Orientierung über 36 Kapitel und den Anhang

Inhaltliche Struktur: klare Gliederung durch alle Kapitel

4

Der Nobelpreis für Medizin wurde im Jahr 1978 an den englischen Physiker Hounsfield, Mitarbeiter von EMI, und seinen südafrikanischen Kollegen Cormack verliehen. Sie erhielten ihn für eine richtungsweisende Neuerung: Sie hatten die Computertomographie erfunden, indem sie von Computern eine zweidimensionale Bilddarstellung aus vielen einzelnen, um jeweils wenige Winkelgrade verschobenen Röntgenstrahlabschwächungen errechnen ließen. Die ersten Bilder waren noch sehr grob, trotzdem konnte man Knochen, Hirnsubstanz und Ventrikel in einzelnen transversalen Schichten identifizieren. Dies war ein Quantensprung in der medizinischen Diagnostik. Weitere dramatische Verbesserungen bei der intravitalen Diagnostik von pathologischen Veränderungen in Hirn und Rückenmark ergaben sich durch die Kernspintomographie und die nuklearmedizinischen computertomographischen Methoden (vor allem PET).

4.1

Liquordiagnostik

. Abb. 9.11. Computertomographie einer typischen Subarachnoidalblutung mit Blut in den basalen Zisternen, den Sylvischen Furchen und dem Interhemisphärenspalt

4.1.1 Liquorpunktion Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ist für die Diagnose einer großen Zahl von Krankheiten unerlässlich. Der Liquor wird routinemäßig durch Lumbalpunktion aus dem Subarachnoidalraum entnommen (. Abb. 4.1). Es wird immer gleichzeitig Blut abgenommen für die vollständige Proteindiagnostik, Blutzuckerund Laktatbestimmung. Bei Verdacht auf eine Meningitis wird eine Blutkultur abgenommen.

Verweis auf Abbildungen und Tabellen: deutlich herausgestellt und leicht zu finden

Lumbalpunktion (LP) Die LP wird unter sterilen Bedingungen (Desinfektion, steriles Abdecken der Umgebung, sterile Handschuhe, Einmal-LP-Nadeln) im Sitzen oder Liegen vorgenommen. Eine Lokalanästhesie In Kürze Arteriovenöse Missbildungen (AVM)

In Kürze: die Quintessenz eines jeden Kapitels in Lernübersichten

Inzidenz: 2/100.000 Einwohner/Jahr. Einteilung: Erfolgt nach Lage, Größe, Zahl der versorgenden Arterien und Art der venösen Drainage. Lokalisation: Hirnlappen, Kleinhirn, Insel und Basalganglien. Blutungsrisiko ohne Therapie: 2-3%/Jahr. Symptome: Hirnblutungen, partielle epileptische Anfälle, Kopfschmerzen. Diagnostik: CT: Darstellung erweiterter Blutgefäße als bandoder girlandenförmige hyperdense Strukturen; MRT: Lagebeziehung der Gefäßkonvolute zu Hirnparenchym und umgebenden Liquorräumen, Darstellung vorangegangener Blutung; CTA/MTA: Orientierung über Aufbau der AVM; Dopplersonographie: Darstellung der Zunahme des Blut-

4.2.2 Elektroneurographie (ENG) Elektroneurographie ist die Messung der maximalen motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit. 3Prinzip. Die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit

(NLG, gemessen in m/s) erfolgt mit dem gleichen Gerät, das auch zum EMG eingesetzt wird. Die NLGs sind für verschiedene sensible und motorische Nerven, sogar für einzelne Abschnitte des gleichen Nerven, sehr unterschiedlich und darüber hinaus altersabhängig, so dass ihre Beurteilung nur mit Hilfe von Normalwerttabellen möglich ist. Die Benutzung von Normalwerttabellen setzt eine konsequente Vereinheitlichung der Untersuchungsbedingungen voraus. Die NLGs sind sehr temperaturabhängig (1–2 m/s pro °C). Krankhafte Veränderungen der Markscheiden beeinflussen die NLG besonders stark, und zwar stets in Richtung einer Verlangsamung. Wenn die Markscheiden der am schnellsten leitenden Fasern betroffen sind, kann die NLG-Verzögerung extrem sein. Primär axonale Schädigungen dagegen haben oft zunächst keine oder nur eine geringe Änderung der NLG zur Folge. Die Amplitude des abgeleiteten Potentials wird jedoch sehr niedrig. 3Methoden

4 Motorische Nervenleitgeschwindigkeit: Bei der Messung der motorischen NLG wird ein Nerv an mehreren Stellen supramaximal stimuliert, und die motorische Antwort wird in einem

Klinische Binnengliederung: rascher Überblick von der Diagnose bis zur Therapie

Schlüsselbegriffe: sind fett bzw. kursiv hervorgehoben

Tabelle: klare Übersicht der wichtigsten Fakten

Navigation: Seitenzahl und Kapitelnummer für die schnelle Orientierung

123

4

. Tabelle 4.1. Myopathie vs. Neuropathie

Art der Schädigung

Spontanaktiviät

PmE

Interferenzmuster

Neurogene

Fibrillationen, PSWs, pseudomytone ES

verlängerte Potentialdauer, polyphasisch, großamplitudig

gelichtet, großamplitudig

Myogen

spärlich Fibrillationen, PSWs, Sonderform: myotone ES

kurz bis normale Potentialdauer, polyphasisch, kleinamplitudig

»früh dicht«, kleinamplitudig

Die körperliche Untersuchung wird einzelne Symptome zeigen, die man im Befund dokumentiert. Regelhafte Kombinationen von Einzelsymptomen nennen wir Syndrome. Ihre Kenntnis ermöglicht eine Hypothese über die Lokalisation von Krankheitsherden im peripheren und zentralen Nervensystem. In manchen Fällen lässt sich aus einem Syndrom eine Krankheitsdiagnose ableiten. Schließlich geben die Syndrome einen Einblick in die funktionelle Organisation des Nervensystems. Aus anatomischen Gründen steht in der Neurologie die Lokaldiagnose vor der Krankheitsdiagnose. Kerngebiete und Faserverbindungen des ZNS, periphere motorische Endigungen oder sensible Rezeptoren und zentral-nervöse Strukturen sind zu Funktionssystemen zusammengeschlossen, von denen viele nach dem Prinzip des Regelkreises arbeiten. Unterbrechungen eines solchen Funktionskreises an verschiedenen Orten sind von jeweils sehr ähnlichen Symptomen gefolgt. Andererseits führen viele Krankheitsprozesse zur Läsion mehrerer Systeme. Die Lokaldiagnose kann sich deshalb nicht auf ein einzelnes Symptom stützen, sondern muss aus der Kombination von Symptomen und ihrer topographischen Verteilung erschlossen werden. Bei diesem Vorgehen wird der Ort eines Herdes im ZNS gleichsam als Schnittpunkt mehrerer Kreise definiert.

> Etwa 25% der Patienten mit schwerer SAB hatten »Warnblutungen«, die nicht erkannt wurden. Man muss deshalb bei perakuten Kopfschmerzen (»wie noch nie«) an diese Ursache denken, ein CT anfertigen lassen und den Liquor lieber einmal zu häufig als zu selten untersuchen.

Facharzt

Polyphasie und Potentialdauer Da das Nervenaktionspotential zu diesen Fasern eine weitere Laufstrecke hat als zu den Fasern, die vorher zu der mE gehörten, ist die Potentialdauer verlängert. Teilweise treten kleine Satellitenpotentiale auf (Pfeil in . Abb. 4.4c), die von fern gelegenen motorischen Fasern herrühren. Auch nimmt die Amplitude der PmE zu, da zu der mE jetzt mehr Muskelfasern gehören als vor dem Sprouting. Da die größer gewordene überlebende mE die neuen motorischen Fasern nicht ganz zeitgleich innerviert, wie die bisher zu der mE gehörenden, nimmt die Phasenzahl der Welle zu.

Exkurs Wada-Test Die Sprachdominanz lässt sich mit dem Na-Amytal-Test feststellen. Injiziert man 125 mg der Substanz in die A. carotis der

ä Der Fall Ein 40-jähriger Mann wird bewusstlos, intubiert und beatmet in die Notaufnahme gebracht. Die Ehefrau berichtet, dass ihr Mann noch am Morgen wie immer zur Arbeit gegangen sei. Um 17.00 Uhr sei er zurückgekommen und habe mit leichter Gartenarbeit begonnen. Dabei habe er ganz plötzlich über heftigste Kopfschmerzen geklagt, sei noch bis zum Haus gekommen, dort ohnmächtig geworden und hingestürzt. Der Notarzt habe eine sehr flache Atmung festgestellt und ihn intubiert, Herz und Kreislauf seien aber normal gewesen. Auf Nachfragen berichtet die Frau, dass ihr Mann vor etwa einer Woche über plötzliche, erhebliche Kopfschmerzen geklagt und auch einen Arzt aufgesucht habe. Hinterher hätten die Schmerzen langsam nachgelassen, seien aber nicht ganz verschwunden. Der Patient ist Nichtraucher und hat anamnestisch keinen erhöhten Blutdruck.

Der Fall: der »Aeskulapstab« schärft den Blick für die Klinik

Merke: das Wichtigste auf den Punkt gebracht – zum Repetieren

sprachdominanten Hemisphäre, so tritt ein vorübergehender Verlust des expressiven Sprachvermögens ein.

Leitlinien Behandlung intrazerebraler Blutungen* 4 RR senken bei Werten über 170/90 mm Hg (C). 4 Rascher Transport in die Klinik zum CCT und zur Intensivbzw. Stroke-unit-Behandlung (A). 4 Bei Patienten mit rasch progredienter Bewusstseinstrübung ist eine frühzeitige Intubation indiziert (B). 4 Generell besteht die Indikation zur Intubation. 4 Bei Gerinnungsstörungen ist die schnellstmögliche Korrektur der Gerinnungsstörung mit der Gabe von Frischplasmenkonzentraten oder PPSB sinnvoll (B). 4 Das hämostatische Faktor-VIIa-Konzentrat innerhalb von 3 Stunden nach Blutung (NOVO7) zeigt in einer ersten Studie einen signifikanten Nutzen (B).

Leitlinien oder Empfehlungen: verbindliche Information nach den Leitlinien der DGN

Facharzt-Box: vertieftes Spezialwissen für (angehende) Fachärzte

Exkurs: interessantes Hintergrundwissen zum besseren Verständnis

Klassifikation der Evidenzklassen und Empfehlungsstärken ↑↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studien) bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanalysen oder systematische Reviews. Positive Aussage gut belegt. ↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (z.B. randomisierte klinische Studie). Positive Aussage belegt. ↓↓ Negative Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch eine oder mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studie), durch eine oder mehrere Metaanalysen bzw. systematische Reviews. Negative Aussage gut belegt. ↔ Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder ungünstige Wirkung belegen. Dies kann bedingt sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer, aber widersprüchlicher Studienergebnisse. Empfehlungsstärken A Hohe Empfehlungsstärken aufgrund starker Evidenz oder bei schwächerer Evidenz aufgrund besonders hoher Versorgungsrelevanz B Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker Evidenz und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz C Niedrige Empfehlungsstärke aufgrund schwächerer Evidenz oder bei höherer Evidenz mit Einschränkungen der Versorgungsrelevanz Die Einstufungen der Empfehlungsstärke kann neben der Evidenzstärke die Größe des Effekts, die Abwägung von bekannten und möglichen Risiken, Aufwand, Verhältnismäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder ethische Gesichtspunkte berücksichtigen. Leitlinien der DGN 2005* *Aus Diener H.C. (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie 3. Aufl. 2005, Thieme Siehe auch unter www.dgn.org

XI

Inhaltsverzeichnis 1.8 1.9 1.10 1.10.1

I Neurologische Untersuchung und Diagnostik 1

Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome . . . . . . . . . . .

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2

Anamnese und allgemeine Untersuchung . . . . . Symptome und Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . Neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . Inspektion und die Untersuchung des Kopfes . . . Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . Nervus olfactorius (N. I) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus opticus (N. II) und visuelles System . . . . . Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI) . . . . . . Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blickmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syndrome gestörter Blickmotorik . . . . . . . . . . Nystagmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologischer Nystagmus . . . . . . . . . . . . . . Pathologischer Nystagmus . . . . . . . . . . . . . . . Pupillomotorik und Akkomodation . . . . . . . . . Hirnnerven II: Nervus trigeminus und die kaudalen Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus trigeminus (N. V) . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus facialis (N. VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus statoacusticus (N. VIII; N. vestibulocochlearis) . . . . . . . . . . . . . Nervus glossopharyngicus (N. IX) . . . . . . . . . . . Nervus vagus (N. X) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus accessorius (N. XI) . . . . . . . . . . . . . . . . Nervus hypoglossus (N. XII) . . . . . . . . . . . . . . Schädelbasissyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung der Eigenreflexe . . . . . . . . . . . . Untersuchung von Fremdreflexen . . . . . . . . . . Lähmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periphere Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basalgangliensyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . Parkinson-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Choreatisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . Ballismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dystonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Athetose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.6 1.6.1 1.6.2 1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4 1.7.5

. . . .

2 4 5 5 6

. . .

6 6 7

.

9

. . . . . . .

12 13 15 19 19 19 21

. . .

26 26 28

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 29 29 29 31 31 31 33 34 36 38 39 41 44 46 46 46 46 47

1.11 1.11.1 1.11.2 1.11.3 1.11.4 1.12 1.12.1 1.12.2 1.12.3 1.12.4 1.12.5 1.12.6 1.12.7 1.13 1.13.1 1.13.2 1.13.3 1.13.4 1.13.5

Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myoklonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination Syndrome mit Koordinationsstörungen (Zerebelläre Syndrome) . . . . . . . . . . . . . . . . Sensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomische und psychophysiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung und Anamnese . . . . . . . . . . . . Sensible Reizsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . Sensible Ausfallsymptome . . . . . . . . . . . . . . Vegetative Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des vegetativen Nervensystems . . . . . Vegetative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . Sexualfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Schweißsekretion und Piloarrektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Herzkreislaufregulation und der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Pupillomotorik . . . . . . . . . . . . Rückenmarksyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . Querschnittslähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . Brown-Séquard-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Rückenmarkschädigung . . . . . . . . . Hinterstrangläsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhenlokalisation der Rückenmarkschädigung

. . . . . .

47 48 49

. . . .

52 54

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

54 56 59 61 61 61 64 65 67

. .

69

. . . . . . . .

70 70 70 71 71 72 72 72

. . . . . . . .

2

Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten . . . . . .

2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.3 2.3.1

Einteilung der Bewusstseinsstörungen . . . . . . . Quantitative Bewusstseinsstörung . . . . . . . . . . Störungen der Bewusstheit . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit . . . . . . . Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit . . . . . . Dezerebrationssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . Apallisches Syndrom (persistierender vegetativer Zustand) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere schwere Hirnstammsyndrome ohne Verlust der Wachheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des bewusstlosen Patienten . . . . Neurologische Notfalluntersuchung . . . . . . . . . Anamnese und Inspektion . . . . . . . . . . . . . . . Praktischer Ablauf der Untersuchung eines Bewusstlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfallbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Dissoziierter Hirntod . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.6 2.7

. . . . . .

77 78 78 79 82 82 84

.

85

. . . .

85 86 86 86

. . . .

89 89 90 90

XII

Inhaltsverzeichnis

3

Neuropsychologische Syndrome . . . . . . . . . .

3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 3.5.1 3.5.2 3.6 3.7 3.8 3.9

Psychischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologischer Befund . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Leistungen . . . . . . . . . Neuropsychologische Untersuchung . . . . . . . Aphasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Broca-Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wernicke-Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amnestische Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzierung der vier Aphasietypen . . . . . . Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideomotorische Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . Ideatorische Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumlich perzeptive/konstruktive Störungen . . Konstruktive Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche Orientierungsstörung . . . . . . . . . . Halbseitige Vernachlässigung (Neglect) . . . . . Anosognosie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitungsstörungen (Diskonnektionssyndrome) . Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung der Gedächtnisfunktionen . . . . . . . Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten . . . . . . . . . . Demenzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kortikale und subkortikale Demenz . . . . . . . . Instinktbewegungen als neurologische Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handgreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orales Greifen (Bewegungen der Nahrungsaufnahme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologisches Lachen und Weinen . . . . . . . . Enthemmung des sexuellen und aggressiven Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.9.1 3.9.2 3.10 3.11 3.12 3.12.1 3.13 3.13.1 3.13.2 3.13.3 3.13.4

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94 95 95 95 96 96 97 98 99 100 101 101 103 104 104 105 106 106 107 107 109 109

. . . .

. . . .

109 109 110 111

. . 113 . . 114 . . 114 . . 115 . . 116

Apparative und laborchemische Diagnostik . . 119

4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8

Liquordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Liquorpunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des Liquors . . . . . . . . . . Neurophysiologische Methoden . . . . . . Elektromyographie (EMG) . . . . . . . . . . Elektroneurographie (ENG) . . . . . . . . . . Reflexuntersuchungen . . . . . . . . . . . . Transkranielle Magnetstimulation (TKMS) Evozierte Potentiale (EP) . . . . . . . . . . . Elektroenzephalographie (EEG) . . . . . . . Magnetenzephalogramm (MEG) . . . . . . Elektronystagmographie . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

120 120 121 123 123 127 129 130 131 134 138 139

Neuroradiologische Untersuchungen . . . . . . . . Konventionelle Röntgenaufnahmen . . . . . . . . . Computertomographie (CT) . . . . . . . . . . . . . . Magnetresonanztomographie (MRT) . . . . . . . . Nuklearmedizinische Untersuchungen . . . . . . . Angiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myelographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ventrikulographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ultraschalluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . Extrakranielle Dopplersonographie (ECD) . . . . . Transkranielle Dopplersonographie (TCD) . . . . . Extrakranielle Duplexsonographie . . . . . . . . . . Intrakranielle Duplexsonographie . . . . . . . . . . Ultraschallkontrastmittel . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muskelbiopsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervenbiopsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen . . . . . . . Andere Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . Muskelbelastungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothalamisch-hypophysäre Hormondiagnostik Neuronale Marker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulargenetische Methoden . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 140 141 143 148 149 152 152 153 153 154 154 155 155 156 156 156 157 157 157 157 157 158 . 158 . 158

II Vaskuläre Krankheiten des zentralen Nervensystems

. . 112 . . 112 . . 113

4

. . . . . . . . . . . .

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.7

5

Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

5.1

Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns . . . . . Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie der Ischämie: Energiegewinnung und Durchblutung . . Epidemiologie und Risikofaktoren . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arteriosklerose und Stenosen der hirnversorgenden Arterien . . . . . . . . . . Lokale arterielle Thrombosen . . . . . . . . Embolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intrazerebrale Arteriolosklerose (Mikroangiopathie) . . . . . . . . . . . . . . . Dissektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung der zerebralen Ischämien . . . .

5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4

. . . . . . 166 . . . . . . 166 . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

166 172 172 173

. . . . . . 175 . . . . . . 175 . . . . . . 176 . . . . . . 177 . . . . . . 177 . . . . . . 177 . . . . . . 178

XIII Inhaltsverzeichnis

5.4.1

5.8 5.8.1 5.8.2 5.9

Einteilung nach Schweregrad und zeitlichem Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung nach der Infarktmorphologie . . . . . Klinik und Gefäßsyndrome . . . . . . . . . . . . . . Zerebrale Ischämien in der vorderen Zirkulation Ischämien in der hinteren Zirkulation . . . . . . . Klinische Besonderheiten bei Dissektionen . . . Lakunäre Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiinfarktsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . Vaskulitische Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Computertomographie (CT) . . . . . . . . . . . . . Magnetresonanz-Tomographie (MRT) . . . . . . . Ultraschall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kardiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfall als Notfall . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perfusionsverbessernde Therapie (Thrombolyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen . . Logopädie, Krankengymnastik und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

6

Spontane intrazerebrale Blutungen . . . . . . . . 223

6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4

Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computertomographie . . . . . . . . . . . . . . . Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . Angiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitative Maßnahmen . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Hirnvenen- und -sinusthrombosen . . . . . . . . 235

7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3 7.4 7.4.1

Anatomie und Pathophysiologie . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Septische Sinusthrombosen . . . . . . Aseptische Sinusthrombosen . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinus-sagittalis-superior-Thrombose

5.4.2 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.5.6 5.6 5.6.1 5.6.2. 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6 5.6.7 5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 179 181 181 185 187 187 188 188 188 188 192 192 198 199 199 199 201 201 202

. . 203 . . 206 . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

209 209 210 210 215

225 227 228 228 229 229 230 230 230 232 233 233

236 237 237 237 238 240 240

7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.5 7.5.1 7.5.2 7.6

Sinus-transversus-Thrombose . . . . . . . . . . . Sinus-cavernosus-Thrombose . . . . . . . . . . . Thrombose der inneren Hirnvenen . . . . . . . Thrombose einzelner Brückenvenen . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudotumor cerebri (gutartige intrazerebrale Druckerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

240 240 240 241 241 241 241

. . . 242

8

Gefäßfehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.4.1 8.4.2 8.5 8.5.1 8.5.2

Arteriovenöse Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . Kavernome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung . . . . . . . . . . . . . . . . Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen Asymptomatische arterielle Aneurysmen . . . . Arteriovenöse Fisteln . . . . . . . . . . . . . . . . . Durale, arteriovenöse Fisteln . . . . . . . . . . . . Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel . . . . . . . . . . . Spinale Gefäßfehlbildungen . . . . . . . . . . . . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spinale AVMs und Durafisteln . . . . . . . . . . . .

9

Subarachnoidalblutung . . . . . . . . . . . . . . . . 262

9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6

Warnblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Subarachnoidalblutung (SAB) . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf und Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perimesenzephale und präpontine SAB . . . . . . . Nichtperimesenzephale Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis . . . . . . . . . . . . . . .

10 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4

. . 245 . . 248 . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . .

251 251 252 252 252 252 258 258 258

264 266 266 267 270 272 275

. 276

Spinale Durchblutungsstörungen . . . . . . . . . 280

Klinik der spinalen Gefäßsyndrome . . . . Spinalis-anterior-Syndrom . . . . . . . . . . Sulkokommissuralsyndrom . . . . . . . . . Radicularis-magna-Syndrom . . . . . . . . . Claudicatio spinalis (Syndrom des engen Spinalkanals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.5 Progressive, vaskuläre Myelopathie . . . . 10.2 Spinale Blutungen . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Hämatomyelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Andere spinale Blutungen . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

281 281 283 283

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

284 284 285 285 285

XIV

Inhaltsverzeichnis

III Tumorkrankheiten des Nervensystems 11

Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

11.1 11.1.1 11.1.2 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.5 11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4 11.5.5

Klinik der Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeinsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokale Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung . . . Zeitlicher Ablauf von Hirnödem und Druckanstieg Symptome erhöhten Hirndrucks . . . . . . . . . . . . Einklemmung (Herniation) . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuroradiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Hirnbiopsie und Histologie . . . . . . . . . . . . . . . . Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirndrucktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Astrozytäre Tumoren (Gliome) . . . . . . . . . . . . . . Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I) . . . . . . . Astrozytom (WHO-Grad II) . . . . . . . . . . . . . . . . Ponsgliome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaplastisches Astrozytom (WHO-Grad III) . . . . . Glioblastom (Glioblastoma multiforme, WHO-Grad IV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oligodendrogliale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . Oligodendrogliome (WHO-Grad II) . . . . . . . . . . . Anaplastische Oligodendrogliome (WHO Grad III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primitiv neuroektodermale Tumoren . . . . . . . . . Mesenchymale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Meningeome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anaplastische Meningeome . . . . . . . . . . . . . . . Nervenscheidentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Akustikusneurinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Neurinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypophysentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonproduzierende Tumoren . . . . . . . . . . . . Hormoninaktive Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . Kraniopharyngeome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasen und Meningeosen . . . . . . . . . . . . . Solide Metastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meningeosis blastomatosa . . . . . . . . . . . . . . . . Meningeosis neoplastica (carcinomatosa) . . . . . . Intrakranielle maligne Lymphome . . . . . . . . . . .

11.6 11.6.1 11.6.2 11.7 11.8 11.9 11.9.1 11.9.2 11.10 11.10.1 11.10.2 11.11 11.11.1 11.11.2 11.12 11.13 11.13.1 11.13.2 11.13.3 11.14

294 294 294 295 296 296 297 298 298 300 300 301 301 301 306 306 307 307 307 309 309 310 312 312 312 312 314 318 318 318 320 320 322 322 324 326 326 327 327 330 332 333

12

Spinale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3

Diagnostik spinaler Tumoren . . . . . . . . . . . . . . Neuroradiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Liquordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerztherapie und Palliativmedizin . . . . . . . . Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen Extradurale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Extramedulläre, intradurale Tumoren . . . . . . . . . Intramedulläre Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . .

340 341 342 342 342 342 343 343 343 343 343 343 345

13

Paraneoplastische Syndrome . . . . . . . . . .

348

13.1 13.2 13.3 13.3.1 13.3.2

Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD) Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS) . . . . Paraneoplastische Enzephalomyelitiden . . . . . . . Limbische Enzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus-MyoklonusSyndrom, POM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.3 Paraneoplastische Myelitis . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.4 Paraneoplastische, amyotrophische Lateralsklerose (ALS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.5 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom . . . . . . 13.4 Subakute, sensorische Neuropathie (SSN) . . . . . . 13.5 Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis . . .

349 349 350 351 351 351 351 351 352 352

IV Krankheiten mit anfallsartigen Symptomen 14 Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Elektroenzephalographie . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Computertomographie und Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik . . . . . . . 14.2 Fokale (partielle) Anfälle . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Einfach fokale (partielle) Anfälle . . . . . . . . . . 14.2.2 Komplex partielle (psychomotorische) Anfälle 14.3 Generalisierte Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Altersgebundene kleine Anfälle . . . . . . . . . 14.3.2 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall . . . . . . 14.4 Status epilepticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.1 Grand-mal-Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.2 Absencenstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.3 Status psychomotoricus . . . . . . . . . . . . . . 14.4.4 Status partieller motorischer Anfälle (Epilepsia partialis continua) . . . . . . . . . . . .

. . . 356 . . . 360 . . . 360 . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

360 361 361 361 362 364 364 367 368 368 371 371

. . . 371

XV Inhaltsverzeichnis

14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.5.6 14.6 14.7 14.7.1 14.7.2 14.7.3 14.7.4 14.7.5 14.7.6 14.8 14.8.1 14.8.2

Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfalltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . Antiepileptische Medikamente . . . . . . . . . . . . Antiepileptische Dauerbehandlung . . . . . . . . . Therapieresistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie des Status epilepticus . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte der Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Epileptische Wesensänderung« und Demenz . . Verstimmungszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . Postparoxysmaler Dämmerzustand . . . . . . . . . Epileptische Psychose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychogene Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der psychischen Störungen . . . . . . . . Sozialmedizinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . Berufseignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrtauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

371 371 372 372 374 378 379 382

. . . . . . . . . .

384 384 384 384 385 385 385 385 385 385

15

Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.2.1 15.2.2 15.3

Synkopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vegetative und kardiale Synkopen . . . . . . . . . . . Reflexsynkopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synkopen bei neurologischen Krankheiten . . . . . Andere Ursachen von Synkopen . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narkolepsie und affektiver Tonusverlust . . . . . . . Schlafapnoesyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.3 16.3.1 16.3.2 16.4 16.4.1 16.4.2 16.4.3

390 390 391 392 392 393 393 395

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

408 411 412 412 412 412 412 412 412 413

17 Schwindel und Tetanie . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1 Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.1 Benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungsschwindel (BPPV) . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.2 Neuritis vestibularis (akuter Labyrinthausfall) . . . . 17.1.3 Phobischer Attackenschwankschwindel . . . . . . . 17.1.4 Menière-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.5 Vestibularisparoxysmie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.6 Vestibuläre Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.7 Schwindelformen mit gesteigerter Empfindlichkeit gegenüber physiologischen Wahrnehmungen . . . 17.2 Tetanie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415 416

400 400 400 404 405 405 405 406 406 406 406 407 407 407

. 407 . 407 . 408

Klassische Trigeminusneuralgie . . . . . Symptomatische Trigeminusneuralgie Glossopharyngeusneuralgie . . . . . . . Andere Gesichtsschmerzen . . . . . . . Atypischer Gesichtsschmerz . . . . . . . Zoster ophthalmicus . . . . . . . . . . . . Glossodynie . . . . . . . . . . . . . . . . . Läsion des Nervus lingualis . . . . . . . . Arteriitis cranialis (Arteriitis temporalis) Karotidodynie . . . . . . . . . . . . . . . .

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416 419 420 420 422 422 422 423

V Entzündungen des Nervensystems 18

Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

18.1 18.2 18.2.1 18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.5 18.6 18.6.1 18.6.2 18.7 18.7.1 18.7.2 18.8 18.8.1 18.8.2 18.8.3 18.8.4 18.8.5 18.8.6

Akute, eitrige Meningitis . . . . . . . . . . . . . Tuberkulöse Meningitis . . . . . . . . . . . . . . Andere Infektionen mit Mykobakterien . . . . Andere bakterielle Meningitisformen . . . . . Traumatische Meningitis . . . . . . . . . . . . . Listerienmeningitis . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnabszesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Embolisch-metastatische Herdenzephalitis . Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose Lues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuroborreliose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clostridieninfektionen . . . . . . . . . . . . . . . Tetanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Botulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere bakterielle Infektionen . . . . . . . . . Rickettsiosen: Fleckfieber-Enzephalitis . . . . Leptospirose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobruzellose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktinomykose und Nokardiose . . . . . . . . . Legionellose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerebraler M. Whipple . . . . . . . . . . . . . . .

396

Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien . . . . 399

Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migräne ohne Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migräne mit Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amnestische Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . . Trigeminoautonome Kopfschmerzen . . . . . . . . Cluster-Kopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz) Chronische Paroxysmale Hemikranie . . . . . . . . SUNCT-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungskopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . Episodischer Spannungskopfschmerz . . . . . . . Chronischer Spannungskopfschmerz . . . . . . . . Andere Kopfschmerzformen . . . . . . . . . . . . . . Glaukomanfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zervikoner Kopfschmerz (»Migraine cervicale«) . . Chronischer, medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4.3 Posttraumatischer Kopfschmerz . . . . . . . . . . . 16.5 Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16.5.1 16.5.2 16.5.3 16.6 16.6.1 16.6.2 16.6.3 16.6.4 16.7 16.8

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 434 436 436 436 436 438 441 441 441 444 445 446 448 448 448 448 448 448 449 449

XVI

Inhaltsverzeichnis

19

Virale Entzündungen und Prionkrankheiten . . Virale Meningitis (akute, lymphozytäre Meningitis) Chronische, lymphozytäre Meningitis . . . . . . . . . Morbus Boeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute Virusenzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE) . . . . . . . . . . . Zosterinfektionen (Varizella-Zoster-Virus, VZV) . . . Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) . . . . . . . . . . . Zytomegalie-Virus-Infektion (CMV) . . . . . . . . . . Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) . . . . . . Coxsackie- und Echovirus-Meningitis . . . . . . . . . Poliomyelitis acuta anterior (Polio) . . . . . . . . . . . Myxoviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rabies (Lyssa, Tollwut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . HIV-Infektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Direkte Folgen der HIV-Infektion . . . . . . . . . . . . Opportunistische ZNS-Infektionen bei AIDS . . . . . Parainfektiöse Enzephalomyelitis . . . . . . . . . . . . Impfenzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bickerstaff-Enzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prionkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Creutzfeldt-Jacob-Krankheit (CJK) . . . . . . . . . . . Neue Variante der CJK . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.1 19.2 19.2.1 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5 19.3.6 19.3.7 19.3.8 19.3.9 19.4 19.4.1 19.4.2 19.5 19.5.1 19.5.2 19.6 19.6.1 19.6.2

452 453 455 455 456 457 459 462 462 462 462 463 463 464 464 466 467 469 470 470 471 471 473

20

Entzündungen durch Protozoen, Würmer und Pilze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

20.1 20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.3 20.3.1

Protozoenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . Toxoplasmose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amöbiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wurminfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zystizerkose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trichinose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echinokokkose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hundespulwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilzinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Aspekte einzelner Pilzerkrankungen

21

Spinale Entzündungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

21.1 21.2

Spinale Abszesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Andere, spinale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . 486

22

Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

22.1 22.2 22.3 22.3.1 22.3.2 22.4 22.4.1 22.5 22.5.1 22.5.2

Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Pathogenese . . . . . Verlaufsformen und Prognose . . . . Diagnosekriterien . . . . . . . . . . . Verlaufsformen . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Symptomkombinationen . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Liquor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrophysiologie . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . .

478 478 479 480 480 480 480 481 481 481 483

490 490 492 492 492 494 495 496 496 497

22.5.3 22.6 22.6.1 22.6.2 22.7 22.7.1 22.7.2 22.7.3 22.8 22.9

Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie des akuten Schubs . . . . . . . . . . . . . Prophylaktische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der MS . . . . . . . . . . . . . . . . . Encephalitis pontis et cerebelli . . . . . . . . . . . Devic-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzentrische Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) . Stiff-person-Syndrom (SPS) . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

497 498 498 499 503 503 505 505 505 506

. . . .

510 511 511 522

23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.3 23.4 23.4.1 23.4.2 23.5 23.6 23.6.1 23.6.2 26.6.3 23.6.4 23.7 23.8 23.9 23.9.1

Krankheiten der Basalganglien . . . . . . . . . . Parkinson-Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idiopathische Parkinson-Krankheit . . . . . . . . . . Multisystematrophien mit Parkinson-Symptomen Parkinsonsyndrome bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen . . . . . . . . . Choreatische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorea Huntington . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorea minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwangerschaftschorea . . . . . . . . . . . . . . . . Ballismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dystonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokale und segmentale Dystonien . . . . . . . . . . Generalisierte Dystonien . . . . . . . . . . . . . . . . Athetose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Verstärkter) physiologischer Tremor . . . . . . . . Essentieller Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychogener Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkoholbedingte Tremorformen . . . . . . . . . . . Myoklonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restless-legs-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . Tics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourette-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

524 524 524 526 526 526 527 527 530 531 532 533 533 535 535 535 537 538 538

24

Degenerativ bedingte Ataxien . . . . . . . . . . . 541

VI Bewegungsstörungen und degenerative Krankheiten des Zentralnervensystems 23 23.1 23.1.1 23.1.2 23.1.3

24.1 24.2 24.2.1 24.2.2

Nichterbliche, degenerative Ataxien . . . . . . . . . . Erbliche, degenerative Ataxien . . . . . . . . . . . . . Friedreich-Ataxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere, autosomal-rezessive Krankheiten mit Ataxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA) . . . . . . . . . . . . .

542 543 543 544 544

XVII Inhaltsverzeichnis

25

Demenzkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT) . . . . . . . . . . . 25.2 Vaskuläre Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3 Pick-Komplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.1 Pick-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.2 Frontotemporale Demenz und primär progressive Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.4 Andere Formen degenerativer Demenzkrankheiten 25.4.1 Lewy-Körper-Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.5 Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans) . . . . . . . . . . . . .

546

VIII Metabolische und toxische Schädigungen des Nervensystems

25.1

548 551 553 553 554 554 554 555

26

Schädel- und Hirntraumen . . . . . . . . . . . . . . 560

26.1 26.1.1 26.1.2 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.4 26.3.5 26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5

Schädeltraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädelprellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädelfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirntraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommotionssyndrom (leichtes Schädelhirntrauma) Kontusionssyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Hirnverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische Hämatome . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidurales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akutes Subduralhämatom (SDH) . . . . . . . . . . . . Traumatische Subarachnoidalblutung . . . . . . . . Intrazerebrales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätkomplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronisches, subdurales Hämatom . . . . . . . . . . Spätabszess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinus-cavernosus-Fistel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumatische arterielle Dissektionen . . . . . . . . .

561 561 562 563 563 564 571 571 571 571 572 572 572 572 572 572 573 573

Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen . . . . Funktionelle, traumatische Rückenmarkschädigung Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.3 HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma, sog. Schleudertrauma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4 Elektrotrauma und Strahlenschäden des Rückenmarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.1 Elektrotrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.2 Spätschäden des zentralen und peripheren Nervensystems durch ionisierende Strahlen . . . . .

575 576

27

Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . 584

28.1 28.2 28.3 28.4

Funikuläre Spinalerkrankung . . . . . . . . . . . . . . Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson) . . . . Hepatoportale Enzephalopathie . . . . . . . . . . . . Neurologische Symptome bei akuter und chronischer Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . Urämische Enzephalopathien . . . . . . . . . . . . . . Akute, intermittierende Porphyrie . . . . . . . . . . . Leukodystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metachromatische Leukodystrophie . . . . . . . . . Andere Leukodystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . Mitochondriale Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (Kearns-Sayre-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . . . MELAS-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MERRF-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie . . . . . Reversible (posteriore) Leukenzephalopathie (RLE)

28.4.1 28.5 28.6 28.6.1 28.6.2 28.7 28.7.1

VII Traumatische Schädigungen des Zentralnervensystems und seiner Hüllen

27.1 27.2

28

28.7.2 28.7.3 28.7.4 28.9

29

576 578

30

581

30.1 30.2

589 589 590 591 592 593 593 594 594 594 594 594

Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

Alkoholassoziierte Psychosen . . . . . . . . . . Akute Alkoholintoxikation (Rausch) . . . . . . Pathologischer Rausch . . . . . . . . . . . . . . Alkoholdelir (Entzugsdelir, Delirium tremens) Alkoholhalluzinose . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkoholbedingte Ernährungsstörungen . . . Alkoholbedingte Polyneuropathie . . . . . . . Wernicke-Korsakow-Syndrom . . . . . . . . . . Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) . . . . . . Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.1 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.2 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz . . . 29.3.3 Andere alkoholassoziierte Krankheiten und Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

580 580

29.1 29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.1.4 29.2 29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.3

585 586 588

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

599 599 600 600 603 604 604 604 606

. . . . 607 . . . . 607 . . . . 607 . . . . 607

Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen . . . . . . . . 610

Kopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Zerebrale Allgemeinsymptome (Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung) . . . . . . . . . . 611 30.2.1 Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611

XVIII

Inhaltsverzeichnis

30.2.2 30.3 30.4 30.4.1 30.4.2 30.5 30.6 30.6.1

Chronischer Medikamentenabusus . . . . . . . . Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Entzugssymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somnolenz und narkoleptische Anfälle . . . . . . Psychotische Episoden und Halluzinationen . . . Epileptische Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente mit krampfschwellensenkender Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entzugskrämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Extrapyramidale Syndrome . . . . . . . . . . . . . Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom Hyperkinesen und Dystonien . . . . . . . . . . . . Spätdyskinesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnstamm- und zerebelläre Symptome . . . . . Hirnstammsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerebelläre Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnnervensymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Anosmie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pupillenstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädigung des N. stato-acusticus . . . . . . . . . Ageusie (Geschmacksverlust) . . . . . . . . . . . . Andere Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuromuskuläre Störungen . . . . . . . . . . . . . Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie . . . Läsionen einzelner peripherer Nerven . . . . . . . Störung der neuromuskulären Überleitung . . . Muskuläre Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

30.6.2 30.7 30.7.1 30.7.2 30.7.3 30.7.4 30.8 30.8.1 30.8.2 30.9 30.9.1 30.9.2 30.9.3 30.9.4 30.9.5 30.9.6 30.10 30.10.1 30.10.2 30.10.3 30.10.4

. . . . . . .

. . . . . . .

612 613 613 613 613 613 614

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

614 614 614 614 614 615 615 615 615 615 615 615 615 616 616 617 617 617 617 617 617 617

IX Krankheiten des periphären Nervensystems und der Muskulatur 31

Schädigungen der peripheren Nerven . . . . . . 622

31.1 31.1.1 31.1.2 31.1.3 31.1.4 31.1.5 31.1.6 31.1.7 31.1.8 31.1.9 31.2 31.2.1 31.2.2 31.2.3

Hirnnervenläsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. oculomotorius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. trochlearis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. abducens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. trigeminus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. facialis (Hirnnerv VII): Periphere Fazialislähmung N. statoacusticus (Hirnnerv VIII) . . . . . . . . . . . . . N. glossopharyngeus und N. vagus . . . . . . . . . . N. accessorius (Hirnnerv XI): Akzessoriuslähmung . N. hypoglossus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Läsionen des Plexus cervicobrachialis . . . . . . . . . Traumatische Plexusläsionen . . . . . . . . . . . . . . Neuralgische Schulteramyotrophie . . . . . . . . . . Skalenussyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625 625 626 626 626 627 631 631 631 631 632 633 633 634

31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7 31.3.8 31.3.9 31.4 31.5 31.5.1 31.5.2 31.5.3 31.5.4 31.5.5 31.5.6 31.5.7 31.5.8 31.6 31.6.1 31.6.2 31.7 31.7.1 31.7.2 31.7.3 31.7.4 31.7.5 31.7.6 31.7.7 31.7.8 31.7.9

Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. suprascapularis (C4–C6) . . . . . . . . . . . . . . . . N. thoracicus longus (C5–C7) . . . . . . . . . . . . . . N. thoracodorsalis (C6–C8) . . . . . . . . . . . . . . . . Nn. thoracici anteriores (C5–Th1) . . . . . . . . . . . . N. axillaris (C5–C7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. musculocutaneus (C6–C7) . . . . . . . . . . . . . . N. radialis (C5–Th1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) . . . . . . N. ulnaris (C8–Th1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Läsionen des Plexus lumbosacralis . . . . . . . . . . . Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3) . . . . . . . N. femoralis (L2–L4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. glutaeus superior (L4–S1) . . . . . . . . . . . . . . . N. glutaeus inferior (L5–S2) . . . . . . . . . . . . . . . . N. obturatorius (L2–L4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. ischiadicus (L4–S3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. peronaeus (L4–S2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. tibialis (L4–S3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen der Bandscheiben . . . . . . . . . . . . Zervikaler oder thorakaler, medialer Bandscheibenvorfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall . . . . . . . Zervikale Myelopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lumbosakraler, medialer Bandscheibenvorfall . . . Lumbale, laterale Diskushernie . . . . . . . . . . . . . Arachnopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudicatio des thorakalen Rückenmarks . . . . . . . Claudicatio der Cauda equina . . . . . . . . . . . . . . Differentialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

634 634 636 636 636 637 638 638 639 641 642 644 644 644 644 645 645 645 645 646 647 647 647 647 648 648 650 650 652 654 655 655 655

32

Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

32.1 32.1.1 32.1.2 32.1.3

Metabolische Polyneuropathien . . . . . . . . . . . . Diabetische Polyneuropathie . . . . . . . . . . . . . . Andere, metabolische Polyneuropathien . . . . . . . Polyneuropathie bei Vitaminmangel und Malresorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toxisch ausgelöste Polyneuropathien . . . . . . . . . Medikamenteninduzierte Polyneuropathien . . . . Polyneuropathien bei Lösungsmittelexposition . . Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Panarteriitis nodosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polyneuropathie bei rheumatoider Arthritis . . . . . Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32.2 32.2.1 32.2.2 32.3 32.3.1 32.3.2 32.4

664 664 666 666 667 667 667 669 669 670 670

XIX Inhaltsverzeichnis

32.4.1 HSMN 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.4.2 Andere hereditäre sensomotorische Neuropathien 32.5 Immunologisch bedingte Polyneuroradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten) . . . . . . . 32.5.1 Guillain-Barré-Syndrom (GBS) . . . . . . . . . . . . . . 32.5.2 Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.5.3 Miller-Fisher-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.5.4 Multifokale, motorische Neuropathie . . . . . . . . . 32.6 Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.6.1 Lepra-Neuropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.6.2 HIV-assoziierte Neuropathien . . . . . . . . . . . . . . 32.6.3 Botulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.7 Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.8 Erkrankungen des vegetativen Nervensystems . . . 32.8.1 Sympathische Reflexdystrophie (Sudeck-Syndrom, komplexes regionales Schmerzsyndrom) . . . . . . . 32.8.2 Akute Pandysautonomie und verwandte Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.8.3 Familiäre Dysautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33.1 33.1.1 33.1.2 33.2

33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4 33.3 33.4

34

Motoneuronale Krankheiten . . . . . . . . . . . Degeneration des 1. Motoneurons . . . . . . . . . Spastische Spinalparalyse . . . . . . . . . . . . . . Primäre Lateralsklerose . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann) . . . . . . . . . . . . . . Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander) . . . . . . . . . . . . Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran) . . . . . . . . . . . . . . . . . Postpoliosyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Progressive Bulbärparalyse . . . . . . . . . . . . . Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) . . . . . .

Muskelkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.1 Progressive Muskeldystrophien . . . . . . . . . . . 34.1.1 Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform (Duchenne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.1.2 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform (Becker-Kiener) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.1.2 Gliedergürteldystrophie . . . . . . . . . . . . . . . 34.1.3 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie . . . . 34.2 Myotonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.2.1 Myotonia congenita . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.2.2 Dystrophische Myotonie (Curschmann-SteinertKrankheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.3 Periodische (dyskaliämische) Lähmungen . . . .

. . . .

. . . .

671 672 674 674 677 677 677 678 678 679 679 680 680 680 680 681 683 684 684 684

34.3.1 Hypokaliämische Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . 34.3.2 Normokaliämische, periodische Lähmung . . . . . . 34.3.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung (Gamstorp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.4 Metabolische Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . 34.4.1 Störungen des Glykogenhaushaltes . . . . . . . . . . 34.4.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechselstörung . . . . . . . . . . . . . . . 34.5 Endokrine Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.6 Toxische Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.6.1 Maligne Hyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.6.2 Malignes Neuroleptikasyndrom . . . . . . . . . . . . . 34.7 Myasthenia gravis pseudoparalytica . . . . . . . . . . 34.7.1 Okuläre Myasthenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.7.2 Generalisierte Myasthenie . . . . . . . . . . . . . . . . 34.7.3 Myasthene und cholinerge Krise . . . . . . . . . . . . 34.7.4 Andere myasthene Syndrome . . . . . . . . . . . . . . 34.8 Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden) . . . 34.8.1 Polymyositis und Dermatomyositis . . . . . . . . . . . 34.8.2 Polymyalgia rheumatica . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.8.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen . . . . . . . . 34.9 Okuläre Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.9.1 Okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie . 34.9.2 Okuläre Myositis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34.10 Einschlusskörperchenmyositis . . . . . . . . . . . . . 34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur . . . . . . .

705 706 706 707 707 707 708 709 709 709 709 710 710 713 714 715 715 717 717 717 718 718 718 718

X Andere neurologische Störungen

. . 685 . . 686 . . 687

35

Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724

. . . .

35.1

Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirnschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minimale frühkindliche Hirnschädigung . . . . . . . Hydrozephalus und Arachnoidalzysten . . . . . . . . Hydrozephalus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arachnoidalzysten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syringomyelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen) . . . . Neurofibromatose (NF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube . . . . . . . . . . . . . Basiläre Impression oder Invagination . . . . . . . . . Atlasassimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klippel-Feil-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chiari-Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dandy-Walker-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

687 688 689 689

. . 695 . . 697 . . 698 . . . . .

. . . . .

699 699 700 700 702

. . 702 . . 704

35.1.1 35.1.2 35.2 35.2.1 35.2.2 35.3 35.4 35.4.1 35.5 35.5.1 35.5.2 35.5.3 35.5.4 35.5.5

725 727 728 728 728 731 732 736 736 738 738 740 740 741 742

XX

Inhaltsverzeichnis

35.6 35.6.1 35.6.2 35.6.3

Fehlbildungen der Wirbelsäule . Spina bifida . . . . . . . . . . . . . Spondylolisthesis . . . . . . . . . . Lumbalisation und Sakralisation

36

Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert . . . . . . . . . . . . 747

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

36.1 36.2 36.3 36.4

. . . .

Sick-building-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit Fibromyalgie-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronisches Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS) . . . . . . . . . . . . 36.5 Chronischer, täglicher Kopfschmerz . . . . . . . . . . 36.6 Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion . . . . 36.7 Simulationssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.7.1 Münchhausen-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . .

742 742 743 743

748 749 751 751 753 753 755 756 757

Anhang A1

Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . NIH Stroke Scale – Deutsche Übersetzung . . . . . Barthel-Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisprotokoll der Behinderung bei MS (inkl. Kurtzke/EDSS-Skala) . . . . . . . . . . . . . . . Webster-Skala (Parkinson) . . . . . . . . . . . . . . . UPDRS-Skala (Unified Parkinson’s Disease Rating Scale) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mini Mental Status Test . . . . . . . . . . . . . . . . .

761 762 768 769 776 778 786

A2

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

789

A3

Abbildungsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

791

A4

Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . .

793

A5

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

795

XXI

Abkürzungen A. ACA ACh ACTH ADC ADEM ADHS ADL AEP AFP AICA AIDS ALS AMAN AMPA AMSAN ANA ANCA ANNA Anti-MOG APC APP ARC ARDS ASA ASR ASS AV AVM BA BAEP BB BCM BERA BHR BHS BIT BNS-Krampf BPPV BSG BSR BSV BWS

Arteria Arteria cerebri anterior Acetylcholin adrenokortikotropes Hormon apparent diffusion coefficient akute disseminierte Enzephalomyelitis Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom activities of daily living akustische Reize alpha-Fetoprotein A. cerebelli inferior anterior acquired immune deficiency syndrome amyotrophische Lateralsklerose akute motorische axonale Neuropathie alpha-amino-3-hydroxy-5-methyl-1,4-isoxazoleproprionic acid akute motorische und sensorische axonale Neuropathie antinukleäre Antikörper antineutrophile zytoplasmatische Antikörper antineuronale nukleäre Antikörper Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein aktiviertes Protein C Amyloid-Präkursorprotein AIDS-related complex adult respiratory distress syndrome Vorhofseptumaneurysma Achillessehnenreflex Acetylsalicylsäure Allgemeinveränderungen arteriovenöse Missbildung A. basilaris brainstem acustic evoked potential Blutbild breast cancer mucin brainstem-evoked response audiometry Bauchhautreflex Bluthirnschranke Behavioral Inattention Test Blitz-Nick-Salaam-Krampf benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungsschwindel Blutkörperchen-Senkungs-Geschwindigkeit Bizepssehnenreflex Bandscheibenvorfall Brustwirbelsäule

CA CADASIL

CIP CJK CK CMV CO COMT CPM CPP CRP CT

cancer antigen cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukoencephalopathy kortikobasale Degeneration cerebral blood flow, zerebraler Blutfluss kortikobasale Degeneration Carbamazepin Center for Disease Control and Prevention karzinoembryonales Antigen chronic fatigue syndrome, chronisches Erschöpfungssyndrom calcitonin-gene-related peptide chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie Critical-illness-Polyneuropathie Creutzfeldt-Jacob-Krankheit Kreatinkinase Zytomegalie-Virus Kohlenmonoxid Catechol-o-Mythyltransferase zentrale, pontine Myelinolyse zerebraler Perfusionsdruck C-reaktives Protein Computertomographie

DA DAT DDCI DGN DIC DPA DPH DRG DS DSA DWI DWMR

Dopaminagonist Demenz vom Alzheimertyp Dopa-Decarboxylase-Inhibitor Deutsche Gesellschaft für Neurologie disseminierte intravasale Gerinnung D-Penicillamin Diphenylhydantoin Diagnosis Related Groups (Fallpauschalen) Duplexsonografie digitale Subtraktionsangiographie diffusionsgewichtetes Imaging diffusionsgewichtetes MR (s.a. DWI)

EBV ECD ECT ED EDSS EEG ELISA EMG ENG EP ETX

Epstein-Barr-Virus extrakranielle Dopplersonographie Emissions-Computertomographie Enzephalomyelitis disseminata Encephalomyelitis-disseminata-Symptom-Skala Elektroenzephalogramm enzyme-linked immunadsorbent assay Elektromyographie Elektroneurographie evozierte Potentiale Ethosuximid

CBD CBF CBG CBZ CDC CEA CFS CGRP CIDP

XXII

Abkürzungen

FAHP FBM FDG FISH FNV FS FSH FSME FTA-Abs FTD FTD-MND

frühe akustische Hirnstammpotentiale Felbamat Fluor-Desoxy-Glukose Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung Finger-Nase-Versuch Funktionssystem follikelstimulierendes Hormon Frühsommer-Meningoenzephalomyelitis fluorescent treponemal antibody absorption frontotemporale Demenz Motor Neuron Disease Dementia

GABA GAD GBP GBS GCS GF GFAP Ggl. GICA GLAT GM GPi GRE Gy

Gammaaminobuttersäure Glutamat-Decarboxylase Gabapentin Guillain-Barré-Syndrom Glasgow-Koma-Skala growth factor gliales fibrilläres azidisches Protein Ganglion gastrointestinal cancer antigen Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin Grand-mal Globus pallidus internus Gradientenecho Gray

HAWIE hCG hCT HDL HI HIV HMPAO HMSN

Hamburg-Wechsler-Intelligenztest humanes Choriongonadotropin humanes Calcitonin High-density-Lipoprotein hämorrhagische Infarzierung human immunodeficiency virus Hexamethylpropylenaminoxid hereditäre, motorische und sensible Neuropathien hirnorganisches Psychosyndrom Hoffmann-Reflex hereditäre sensorische autonome Neuropathie Herpes-simplex-Enzephalitis Halswirbelsäule Hertz

HOPS H-Reflex HSAN HsE HWS Hz ICA ICB ICP IFN Ig IHS IKBKAP

INO

Arteria carotis interna intrazerebrale Blutung intrazerebraler Druck Interferon Immunglobuline Internationalen Kopfschmerzgesellschaft inhibitor of kappa light polypeptide gene enhancer in B cells, kinase complex-associated protein internukleäre Ophthalmoplegie

iNPH IPM IPS IQ ISAT IST IVIG

idiopathischer Normaldruckhydrocephalus Impulsiv-Petit-mal idiopathisches Parkinson-Syndrom Intelligenzquotient International Subarachnoid Aneurysm Trial Intelligenzstrukturtest intravenöse Immunglobuline

KG KHV KKS KM KO KTS

Körpergewicht Knie-Hacken-Versuch Koryphäenkiller-Syndrom Kontrastmittel Körperoberfläche Karpaltunnelsyndrom

LAS LDH LDL LEMS LEV LGS LH LLR LP LPS LTG LWS

Lymphadenopathiesyndrom Laktatdehydrogenase Low-density-Lipoproteinen Lambert-Eaton myasthenes Syndrom Levetiracetam Lennox-Gastaut-Syndrom lutenisierendes Hormon Long-loop-Reflex Lumbalpunktion Leistungsprüfsystem Lamotrigin Lendenwirbelsäule

M. MAO maP MCA MCA MCD MCS mE MEG MELAS

Morbus, Musculus Monoaminooxidase mittlerer arterieller Druck Arteria cerebri media mucin-like cancer associated antigen minimale zerebrale Dysfunktion multiple chemical sensitivities motorische Einheit Magnetenzephalogramm mitochondrial myopathy, encephalopathy, lactic acidosis and stroke-like episodes myoclonus epilepsy with ragged red fibers Myasthenia gravis Maximum-Intensity-Projektion medialer longitudinaler Faszikulus moto-neuron disease Magnetresonanz-Angiographie mesenzephale retikuläre Formation modifizierte Rankin-Skala Magnetresonanztomographie Millisekunden multiple Sklerose Multisystematrophien Methotrexat muskelspezifische Rezeptor-Thyrosinkinase

MERRF MG MIP MLF MND MRA MRF mRS MRT ms MS MSA MTX MuSK

XXIII Abkürzungen

N. NAB NAIP-Gen NAP NET NF NK NLG NSAID NSAR NSE Nucl. nvCJK

Nervus neutralisierende Antikörper neuronal-apoptotic-inhibitory-protein gene Nervenaustrittspunkt Neglect-Test Neurofibromatose Negativkontrolle Nervenleitgeschwindigkeit nichtsteroidale antiinflamatorische Arzneimittel nichtsteroidale Antirheumatika neuronenspezifische Enolase Nucleus neue Variante der Creutzfeld-Jakob-Krankheit

OCZ OFO OKB ON

Oxcarbazepin Offenes Foramen ovale oligoklonale Banden Neuritis nervi optici

P.P. PAN PAP PCA PCD Pcom PCR

progressive Paralyse Panarteriitis nodosa Prostata-spezifische saure Phosphatase Arteria cerebri posterior paraneoplastische zerebelläre Degeneration Arteria communicans posterior polymerase chain reaction, Polymerasekettenreaktion Perfusions-CT Positronen-Emissions-Tomographie Pregabalin parenchymatöse Hämorrhagie Phenobarbital Arteria cerebelli inferior posterior Positivkontrolle Phenylketonurie periodic leg movements in sleep proximale myotone Dystonie Potential einer motorischen Einheit progressive multifokale Leukenzephalopathie Perfusions-Magnetresonanz Polymyalgia rheumatica Polyneuropathie peripheres Nervensystem Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom pankreatisches Polypeptid primär progrediente Aphasie parapontine retikuläre Formation Prolaktin proximale myotone Myotonie Pronatorreflex Parkinson-Syndrom Prostata-spezifisches Antigen

PCT PET PGA PH PHB PICA PK PKU PLMS PMD PmE PML PMR PMR PNP PNS POM PP PPA PPRF PRL PROMM PrR PS PSA

PSG PSP PsP PSR PSW PTA PVL

Polysomnographie progressive supranukleäre Blickparese progressive supranukleäre Lähmung Patellarsehnenreflex positiv scharfe Wellen perkutane, transluminale Angioplastie periventrikuläre Leukomalazie

QS

Querschnittsyndrom

R. REM rFVIIa RIND RLE RLS RPR Rr.

Ramus rapid-eye movements rekombinantem Faktor VII reversibles ischämisches neurologisches Defizit reversible Leukenzephalopathie Restless-legs-Syndrom Radiusperiostreflex Rami

SAB SAE

SPG SPS SPTLC1 SQUID SSN SSPE SSR SSRI SSW STN SVT

Subarachnoidalblutung subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie Arteriae cerebellares superiores spinozerebelläre Ataxien squamous cell carcinoma antigen sensitives C-reaktives Protein semantische Demenz spreading depression Subduralhämatom somatosensibel evozierte Potentiale somatosensible Reize Schädel-Hirn-Trauma systemischer Lupus erythematodes spinale Muskelatrophie sensibles Nervenantwortpotential sekundärer Normaldruckhydrocephalus Superoxid-Dismutase Single-Photon-Emissions-Computertomographie Spastin-Gene Stiff-person-Syndrom serine palmytoyltransferase long-chain 1 supraconducting quantum inference device subakute, sensorische Neuropathie subakut-sklerosierende Panenzephalitis sympathische Hautantwort selektiver Serotonin-Re-uptake-Inhibitor Schwangerschaftswoche Nucleus subthalamicus Sinus- und Hirnvenenthrombose

T.d. Tbl.

Tabes dorsalis Tablette

SCA SCA SCC sCRP SD SD SDH SEP SEP SHT SLE SMA SNAP sNPH SOD SPECT

XXIV

Abkürzungen

TCCD TCD TEA TEE TENS TG TGA TGB THAM TIA TKMS TNF TOF TOP TPA TPHA Tr. TSR TTE TTP

transkranieller Farbduplex transkranielle Dopplersonographie (Karotis-)Thrombendarteriektomie transösophagealen Echokardiographie transkutane elektrische Nervenstimulation Thyreoglobulin transient global amnesia Tiagabin Tris-Hydroxy-Methyl-Aminomethan transitorisch-ischämische Attacke transkranielle Magnetstimulation Tumornekrosefaktor Time-of-flight-Angiographie Topiramat tissue polypeptide antigen Treponemen-Hämagglutinationstest Tractus Trizepssehnenreflex transthorakales Echokardiogramm thrombozytopenische Purpura

UBO UPDRS

unidentified bright objects Unified Parkinson’s Disease Rating Scale

VA VDRL VEP VGCC VIM VOR VPA VZV

Arteria vertebralis Venereal Disease Research Laboratory visuell evozierte Potentiale voltage-gated calcium channel ventraler intermediärer Thalamuskern vestibulookulärer Reflex Valproinsäure Varizella-Zoster-Virus

Z.n. ZNS

Zustand nach zentrales Nervensystem

I Neurologische Untersuchung und Diagnostik 1

Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome – 2

2

Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

3

Neuropsychologische Sydrome

4

Apparative und laborchemische Diagnostik

– 77

– 94 – 119

1 Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome 1.1

Anamnese und allgemeine Untersuchung – 4

1.1.1 1.1.2 1.1.3

Symptome und Syndrome – 5 Neurologische Untersuchung – 5 Inspektion und die Untersuchung des Kopfes – 6

1.2

Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven – 6

1.2.1 1.2.2 1.2.3

Nervus olfactorius (N. I) – 6 Nervus opticus (N. II) und visuelles System – 7 Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI) – 9

1.3

Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion – 12

1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6

Blickmotorik – 13 Syndrome gestörter Blickmotorik – 15 Nystagmus – 19 Physiologischer Nystagmus – 19 Pathologischer Nystagmus – 19 Pupillomotorik und Akkomodation – 21

1.4

Hirnnerven II: N. trigeminus und die kaudalen Hirnnerven – 26

1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8

Nervus trigeminus (N. V) – 26 Nervus facialis (N. VII) – 28 Nervus statoacusticus (N. VIII; N. vestibulocochlearis) Nervus glossopharyngeus (N. IX) – 29 Nervus vagus (N. X) – 29 Nervus accessorius (N. XI) – 29 Nervus hypoglossus (N. XII) – 31 Schädelbasissyndrome – 31

1.5

Reflexe

1.5.1 1.5.2 1.5.3

Reflexuntersuchung – 33 Untersuchung der Eigenreflexe – 34 Untersuchung von Fremdreflexen – 36

– 31

1.6

Lähmungen

1.6.1 1.6.2

Periphere Lähmung – 39 Zentrale Lähmung – 41

1.7

Basalgangliensyndrome – 44

1.7.1 1.7.2 1.7.3

Parkinson-Syndrom – 46 Choreatisches Syndrom – 46 Ballismus – 46

– 38

– 28

1 1.7.4 1.7.5

Dystonien – 46 Athetose – 47

1.8

Tremor

1.9

Myoklonien

– 47 – 48

1.10 Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination – 49 1.10.1 Syndrome mit Koordinationsstörungen (Zerebelläre Syndrome)

1.11 Sensibilität – 54 1.11.1 1.11.2 1.11.3 1.11.4

Anatomische und psychophysiologische Grundlagen – 54 Untersuchung und Anamnese – 56 Sensible Reizsymptome – 59 Sensible Ausfallsymptome – 61

1.12 Vegetative Funktionen – 61 1.12.1 1.12.2 1.12.3 1.12.4 1.12.5 1.12.6 1.12.7

Aufbau des vegetativen Nervensystems – 61 Vegetative Diagnostik – 64 Blasenfunktionsstörungen – 65 Sexualfunktionsstörungen – 67 Störungen der Schweißsekretion und Piloarrektion – 69 Störungen der Herzkreislaufregulation und der Atmung – 70 Störungen der Pupillomotorik – 70

1.13 Rückenmarksyndrome – 70 1.13.1 1.13.2 1.13.3 1.13.4 1.13.5

Querschnittslähmung – 71 Brown-Séquard-Syndrom – 71 Zentrale Rückenmarkschädigung – 72 Hinterstrangläsion – 72 Höhenlokalisation der Rückenmarkschädigung – 72

– 52

4

1

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

> > Einleitung Die Neurologie hat sich in den angelsächsischen Ländern aus der Inneren Medizin entwickelt, in Mitteleuropa überwiegend aus der Psychiatrie, sieht man von einigen Schulen in Deutschland und Frankreich ab, in denen Internisten das Gebiet der organischen Krankheiten des Gehirns, des Rückenmarks, der peripheren Nerven und der Muskulatur vertraten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Grundstein zum Verständnis der topographischen Gliederung des Nervensystems gelegt. Die Entwicklung der Symptome, der Verlauf der Krankheiten und schließlich das Ergebnis der Obduktion führten zur Verknüpfung von neurologischen Symptomen und Syndromen mit Läsionen im Gehirn oder im Rückenmark. Bedeutende Neuropsychiater dieser Zeit waren gleichzeitig Pathologen, z.B. Alzheimer, Friedreich, Erb und Binswanger. Viele Zeichen und Befunde, aber auch viele damals beschriebene Krankheiten sind mit den Eigennamen der Erstbeschreiber verknüpft. Eines der bekanntesten Zeichen ist der Babinski-Reflex (auch Babinski-Phänomen oder -Zeichen genannt (. Abb.1.1). Er wurde im Jahre 1896 von dem französischen Neurologen Joseph Babinski beschrieben. Dieser hatte – übrigens nicht als Erster – entdeckt, dass bei Patienten mit einer zentralen Lähmung einer Körperhälfte beim Bestreichen der ipsilateralen Fußsohle die große Zehe dorsal extendiert wurde, während sich die übrigen Zehen leicht spreizten. Auf der gesunden Körperhälfte bewegen sich dagegen alle Zehen plantarwärts. Später beschrieb eine Reihe anderer Neurologen verwandte Zeichen: so der englische Arzt Gordon die gleiche Bewegungssynergie bei kräftigem Kneten der Wadenmuskulatur oder der deutsche Neurologe Oppenheim das gleiche Zeichen bei festem Bestreichen der Tibiakante. Die exakte neurologische Untersuchung birgt heute noch den Schlüssel für die Festlegung des Ortes der Läsion(en): Auf keinem anderen Gebiet der Medizin kommt es so sehr darauf an, dass der Untersucher die topographische Anatomie und die Neurophysiologie beherrscht, um dann aus der Zusammenschau einzelner Symptome auf den Ort der Läsion zu schließen. Im Jahre 1893 beschrieb der deutsche Neurologe Wallenberg bei einem Patienten eine sehr auffällige Symptomatik: Nach einem heftigen Schwindelanfall war der Patient plötzlich heiser geworden, sprach undeutlich, hatte eine Fallneigung zur linken Seite, einen spontanen Nystagmus nach links, und die linke Lidspalte sowie die linke Pupille waren verengt. Bei der Inspektion des Rachens hing das Gaumensegel auf der linken Seite nach unten. Der Patient hatte keine Lähmung, aber eine Ataxie des linken Armes mit Dysmetrie und Zieltremor; seine Oberflächensensibilität war intakt, und auch die Reflexe waren seitengleich. Auf der rechten Körperhälfte, unter Aussparung des Gesichts, hatte er für Temperatur und Schmerz keine Empfindung mehr. Wallenberg schloss aus dieser Symptomkombination auf eine kleine Läsion in der linken dorsolateralen Medulla oblongata. Er veröffentlichte den Fallbericht und postulierte eine Thrombose der 6

. Abb. 1.1. Positiver Babinski-Reflex mit dorsaler Extension der linken Großzehe und angedeuteter Spreizung der kleinen Zehen, besonders deutlich zwischen dem 2. und 3. Strahl

linken A. cerebelli inferior posterior. Der Patient verstarb 5 Jahre später an einem zweiten Schlaganfall, und in der Autopsie konnte Wallenberg nachweisen, dass seine topographische Diagnose korrekt war. In dem betroffenen kleinen Areal in der dorsolateralen Medulla oblongata liegen der untere Kleinhirnstiel (→ Hemiataxie), die zentrale Sympathikusbahn (→ Miose und Ptose), der Vaguskern (→ Heiserkeit und hängendes Gaumensegel) und die spinothalamische Bahn von der Gegenseite (→ dissoziierte Empfindungsstörung) in enger Nachbarschaft. Später fand man heraus, dass dieses Syndrom gar nicht so selten war und dass es neben dem klassischen Syndrom auch noch Varianten gibt, in denen der N. hypoglossus, der N. facialis oder der ipsilaterale Trigeminuskern eingeschlossen sind. Wenn jedoch eine Halbseitenlähmung (der Gegenseite, da die Pyramidenbahn an dieser Stelle noch nicht gekreuzt hat) vorliegt, dann kann das Syndrom nicht allein von der dorsolateralen Medulla oblongata stammen, sondern muss auch weiter ventral gelegene Anteile des verlängerten Marks erfassen.

1.1

Anamnese und allgemeine Untersuchung

Es mag abgedroschen klingen, aber es stimmt wirklich: Die Anamnese ist immer noch der wichtigste Teil der Untersuchung eines Patienten, besonders in der Neurologie. Viele erfahrene Neurologen sagen, dass auch im Zeitalter der modernen bildgebenden Diagnostik bei 70% der Patienten nach der Anamnese die Verdachtsdiagnose eigentlich schon klar ist. Die neurologische Untersuchung addiert dann noch einmal 10% Sicherheit hinzu, die bildgebende und sonstige apparative Diagnostik bestätigt dann die Verdachtsdiagnose und bringt in vielleicht 5% völlig unerwartete Befunde, die ein komplettes Umdenken begründen.

5 1.1 · Anamnese und allgemeine Untersuchung

Schließlich bleiben immer zwischen 5 und 10% der Fälle übrig, bei denen auch mit dem kompletten Einsatz von Anamneseuntersuchung sowie apparativer und laborchemischer Zusatzdiagnostik die Diagnose (zunächst) im Unklaren bleibt. Die Anamnese beruht auf der Schilderung des Erlebens des Patienten und ist damit immer subjektiv. Subjektiv sind auch die Einschätzungen des Schweregrads der Beschwerden und in vielen Fällen auch die persönlichen Ideen zur Kausalität. Diese subjektive Schilderung ist durchaus wichtig. Nachfragen des Untersuchers dienen dazu, objektive Aspekte in die Schilderung zu bringen. Es lohnt sich, die Anamnese mit einer offenen Fragestellung zu beginnen: 4 »Was kann ich für Sie tun?«, 4 »Wie kann ich Ihnen helfen?« oder 4 »Was führt Sie zu mir?«. Danach soll der Patient frei berichten, manchmal unterbrochen von gezielten Fragen oder auch von der hin und wieder notwendigen »Abkürzung« sehr ausführlicher Schilderungen aus der weit zurückliegenden persönlichen Vergangenheit. Nach einer Weile wird es notwendig, einengende Fragen zu stellen, um Präzisierungen zu bitten, Zeiträume genauer zu beschreiben und auch zu fragen, wann und bei wem man mit diesen Symptomen schon gewesen ist. Es ist überraschend, wie viele Patienten nicht daran denken, darauf hinzuweisen, dass sie wegen der gleichen Beschwerden schon mehrere Male ambulant oder gar stationär abgeklärt worden sind. Andere Patienten tun dies ganz bewusst, weil sie sich dadurch erhoffen, dass der neue Untersucher nicht durch frühere Daten voreingenommen ist. Hieraus kann man dann meist schließen, dass sie mit der vorherigen Interpretation nicht besonders glücklich gewesen sind. Kerndaten aus der Anamnese sind: 4 Beginn der Symptome, 4 Dauer der Symptome, 4 Schweregrad der Symptome, 4 tageszeitliche Bindung, 4 auslösende Faktoren. Gerade bei Schmerzen sind Beginn, Frequenz, Intensität und Schmerzcharakteristik (7 Kap. 16) besonders wichtig. Das Auftreten ähnlicher Symptome in der Familie, Risikofaktoren in der Familie, Todesursachen oder Erkrankungen von Eltern und Geschwistern, eigene aktuell oder früher genommene Medikamente, Risikofaktoren und Risikoverhalten müssen erfragt werden. Immer sollte man auch nach dem äußeren Lebensgang, der persönlichen und beruflichen Situation und der Lebensweise des Kranken fragen. Es gibt ganze Lehrbücher, die sich mit der Kunst der Anamnese befassen. Die Anamnese ist auch nicht etwas, was einzigartig für die Neurologie wäre. Allerdings, wie oben ausgeführt, kann sie von besonderer Bedeutung sein, da häufig schon die Richtung des weiteren Prozederes von der Anamnese entscheidend geprägt wird.

1.1.1 Symptome und Syndrome Die körperliche Untersuchung wird einzelne Symptome zeigen, die man im Befund dokumentiert. Regelhafte Kombinationen von Einzelsymptomen nennen wir Syndrome. Ihre Kenntnis ermöglicht eine Hypothese über die Lokalisation von Krankheitsherden im peripheren und zentralen Nervensystem. In manchen Fällen lässt sich aus einem Syndrom eine Krankheitsdiagnose ableiten. Schließlich geben die Syndrome einen Einblick in die funktionelle Organisation des Nervensystems. Aus anatomischen Gründen steht in der Neurologie die Lokaldiagnose vor der Krankheitsdiagnose. Kerngebiete und Faserverbindungen des ZNS, periphere motorische Endigungen oder sensible Rezeptoren und zentral-nervöse Strukturen sind zu Funktionssystemen zusammengeschlossen, von denen viele nach dem Prinzip des Regelkreises arbeiten. Unterbrechungen eines solchen Funktionskreises an verschiedenen Orten sind von jeweils sehr ähnlichen Symptomen gefolgt. Andererseits führen viele Krankheitsprozesse zur Läsion mehrerer Systeme. Die Lokaldiagnose kann sich deshalb nicht auf ein einzelnes Symptom stützen, sondern muss aus der Kombination von Symptomen und ihrer topographischen Verteilung erschlossen werden. Bei diesem Vorgehen wird der Ort eines Herdes im ZNS gleichsam als Schnittpunkt mehrerer Kreise definiert. 1.1.2 Neurologische Untersuchung Die neurologische Untersuchung außerhalb einer Notfallsituation (Kap. 2) muss immer vollständig sein. Es ist sehr zu empfehlen, sich hierbei an eine bestimmte Reihenfolge zu halten, um keine Untersuchungsschritte zu übergehen. Die folgende Sequenz hat sich bewährt: 4 Inspektion des Körpers, 4 Untersuchung des Kopfes, 4 Hirnnerven, 4 Kraftentfaltung, 4 Reflexe, 4 Bewegungskoordination, 4 Sensibilität, 4 vegetative Funktionen, 4 psychischer Befund, 4 orientierende internistische Untersuchung, 4 fakultativ: neuropsychologische Untersuchung. Allerdings ist es manchmal nötig, zunächst die Untersuchung auf den Bereich zu zentrieren, in dem die Beschwerden angegeben werden. Manchem Patienten ist es schwer zu vermitteln, warum der Neurologe mit dem Augenhintergrund beginnt, wenn das Problem in das Bein ausstrahlende Rückenschmerzen sind. Anschließend gehört aber in jedem Fall die vollständige neurologische Untersuchung hinzu. Man kann nicht einzelne Untersuchungsschritte als weniger wichtig abtun oder vielleicht über-

1

6

1

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

springen. Oft sind es die nicht geprüften Funktionen, die zu richtungsweisenden Untersuchungen oder sogar zur richtigen Diagnose geführt hätten. 1.1.3 Inspektion und die Untersuchung

ningen – bei Trigeminusneuralgie und Nebenhöhlen- bzw. Kieferaffektionen. Bei Verdacht auf eine Karotis-Kavernosus-Fistel werden Auge und Temporalregion mit dem Stethoskop auf ein Gefäßgeräusch auskultiert.

des Kopfes 1.2 Inspektion Bei der Inspektion des auf die Unterwäsche entkleideten Patienten achtet man vor allem auf die Körperhaltung, die oft schon eine Lähmung verrät. Man achtet auf Hyperkinesen, aber auch auf Asymmetrien im Körperbau und in der Körperhaltung, auf Muskelatrophien und offensichtliche Fehlbildungen, d.h. Abweichungen vom normalen Bild des Körperbaus. Schließlich gehört, auch wenn dies heute oft als nicht »politisch korrekt« eingeschätzt wird, der Eindruck vom hygienischen Zustand, vom Zustand der Kleidung, von bestimmten Auffälligkeiten wie Narben, Amputationen, Tattoos oder Piercings zum initialen Bild, das natürlich auch fehlleiten kann. Untersuchung des Kopfes Die aktive und passive Beweglichkeit des Kopfes wird durch Neigung nach vorn und rückwärts sowie durch Drehung nach beiden Seiten geprüft. Einschränkung der Beweglichkeit kann viele Ursachen haben: 4 Parese der Hals- und Nackenmuskeln, 4 Rigor der Nackenmuskulatur beim Parkinson-Syndrom, 4 Arthrose der HWS (Schmerzen und reflektorische Muskelverspannungen). Sie ist auch ein häufiges psychogenes Symptom. In diesem Fall führt der Patient die aktiven Bewegungen unvollständig oder gar nicht aus und setzt passiven Bewegungen aktiven muskulären Widerstand entgegen. Dies darf nicht mit Nackensteife verwechselt werden, bei der es sich um eine schmerzreflektorische Muskelanspannung bei Reizung der Meningen oder Tumoren der hinteren Schädelgrube handelt. Die Schonhaltung, die zur Entlastung der gedehnten Nervenwurzeln und Meningen dient, kann nicht überwunden werden. Umschriebener Klopfschmerz der Schädelkalotte deutet einen Knochenprozess oder eine lokale Dehnung der schmerzempfindlichen Meningen durch einen kalottennahen Prozess in einer Großhirnhemisphäre an. Diffuser Klopfschmerz gehört zum Bild der Meningitis. Er wird auch häufig von besonders empfindlichen, seelisch labilen, hypochondrischen Kranken geklagt. Schmerzhaftigkeit der Nervenaustrittspunkte (NAP) des Trigeminus und der Okzipitalnerven (einzeln prüfen!) liegt nur vor, wenn die Nervenaustrittspunkte isoliert empfindlich sind und nicht auch ihre weitere Umgebung. Druckschmerz der NAP findet man bei intrakranieller Drucksteigerung und Meningitis – in beiden Fällen durch Reizung der vom Trigeminus versorgten Me-

Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven (. Abb. 1.2)

1.2.1 Nervus olfactorius (N. I) Untersuchung Man hält ein Fläschchen mit einem aromatischen Geruchsstoff dicht unter eine Nasenöffnung, während man die andere Nasen1 2

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 A 14 15 B 16 17

. Abb. 1.2. Mediale Hirnbasis mit Hirnnerven und wichtigsten Hirnnervensyndromen. 1 Tractus olfactorius; 2 N. opticus; 3 Chiasma opticum; 4 N. oculomotorius; 5 N. ophthalmicus; 6 N. maxillaris; 7 N. trochlearis; 8 N. mandibularis; 9 Ganglion trigeminale (Gasseri); 10 N. abducens; 11 N. facialis; 12 N. intermedius; 13 N. vestibulocochlearis; 14 N. glossopharyngeus ; 15 N. vagus; 16 N. hypoglossus; 17 N. accessorius; A Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom; B Syndrom der hinteren Hirnnervengruppe. (Garcin)

1

7 1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven

Exkurs Geruchswahrnehmung und Trigeminusreizstoffe Ausbleiben der Reaktion auch auf trigeminusreizende Stoffe. Dies ist eine häufig beobachtete psychogene Verhaltensweise. In diesen Fällen fragt man den Patienten, ob er den Geschmack von Speisen oder Getränken wahrnehmen und unterscheiden könne. Diese synästhetische Leistung ist an einen intakten Geruchssinn gebunden. Die Geschmacksrezeptoren

können nur die vier Grundqualitäten sauer, bitter, salzig, süß vermitteln. Nach doppelseitigem Ausfall der Geruchswahrnehmung ist eine differenzierte Geschmackswahrnehmung nicht mehr möglich, und die Patienten geben an, dass alle Speisen gleich indifferent, »pappig« schmeckten. Ist der synästhetische Geschmack erhalten, kann das Geruchsvermögen nicht völlig ausgefallen sein.

öffnung leicht zudrückt. Die Untersuchung erfolgt bei geschlossenen Augen auf jeder Seite gesondert. Der Patient soll die Geruchsprobe identifizieren. Zur Erleichterung kann man ihm eine Auswahl möglichst unterschiedlicher Stoffe nennen, unter denen sich die geprüfte Substanz befindet. Aromatische Stoffe reizen nur den Olfaktorius. Wenn er keine Geruchswahrnehmung angibt, wiederholt man die Prüfung mit einem Stoff, der auch die sensiblen Rezeptoren des N. trigeminus in der Nasenschleimhaut reizt, z.B. Ammoniak, Eisessig, oder eine Geschmackskomponente hat wie z.B. Chloroform (süßlicher Geschmack).

durch Schädigung der Fila olfactoria, des Bulbus oder Tractus olfactorius am Boden der vorderen Schädelgrube, die traumatisch, durch Medikamente oder durch Virusinfekte entstehen (sog. Grippeanosmie) kann. Sie kann erstes oder einziges Symptom eines frontobasalen Hirntumors sein. 1.2.2 Nervus opticus (N. II) und visuelles System Anatomische Grundlagen Sehbahn (. Abb. 1.3). Die dritten Neurone der Retina schließen sich zum N. opticus zusammen. Im Chiasma opticum findet eine teilweise Kreuzung der Fasern statt, in der jeweils die Fasern aus den nasalen Retinahälften zur Gegenseite geleitet werden, die der temporalen Retinahälften aber auf der ursprünglichen Seite verbleiben. Hierdurch werden die Fasern, die Signale aus beiden

Anosmie Einseitige Anosmie beruht meist auf Krankheiten oder abnormen Verhältnissen in der oberen Nasenmuschel. Auch bei doppelseitiger Anosmie muss zunächst eine rhinologische Ursache ausgeschlossen werden. Neurologisch entsteht die Anosmie . Abb. 1.3. a Schema der Sehbahn im Gehirn des Menschen. CGL Corpus geniculatum laterale; H Hypothalamus; PT Prätektum. b Gesichtsfelddefekte bei verschieden lokalisierten Läsionen. 1 Amaurose links; 2 bitemporale Hemianopsie; 3 homonyme Hemianopsie nach rechts; 4 obere homonyme Quadrantenanopsie nach rechts; 5 homonyme Hemianopsie nach rechts; 6 zentrale homonyme Hemianopsie nach links. (Nach Schmidt u. Thews 1995)

1

2

1 3 2 3 CGL

4

H PT

4

5

6

a

5

6

b

8

1

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

linken oder beiden rechten Gesichtsfeldern leiten, retrochiasmal zusammengefasst. Die Fasern der korrespondierenden Netzhauthälften verlaufen dann im Tractus opticus zum Corpus geniculatum laterale. Auf diesem Wege zweigen pupillomotorische Fasern zur Prätektalregion (Mittelhirnhaube) und andere Fasern zur oberen Vierhügelregion ab. Die Bahnen, die vor dem Corpus geniculatum laterale zu der Vierhügelregion abzweigen, vermitteln optische Bewegungsreize, die dort in visuomotorische Reflexe eingebaut werden. Diese Reflexe können bei kortikaler Blindheit (s.u.) erhalten bleiben. Im Corpus geniculatum laterale erfolgt eine monosynaptische Umschaltung auf die genikulären Schaltzellen. Danach verläuft die Sehstrahlung (Radiatio optica) zur Sehrinde, der Area striata (Area 17) des Okzipitallappens. Die Anfangsstrecke der Sehstrahlung zieht unmittelbar hinter dem rückwärtigen Abschnitt der inneren Kapsel vorbei, wo beide Strukturen gemeinsam lädiert werden können. Sehrinde. Die Sehrinde liegt vorwiegend an der Innenfläche des Okzipitalpols, oberhalb und unterhalb der quer verlaufenden Fissura calcarina. Sie dehnt sich beiderseits auch gering zur Konvexität aus. Innerhalb der Sehrinde ist die Makula am Okzipitalpol repräsentiert. Diese Region erhält eine doppelte Blutversorgung aus der A. cerebri posterior und Endästen der A. cerebri media. Der Teil oberhalb der Kalkarina repräsentiert den gegenseitigen unteren Gesichtsfeldquadranten, der Teil unterhalb den oberen. Diese Verteilung kommt durch eine Rotation der Sehstrahlung zustande. Benachbarte Retinaorte werden auch im Corpus geniculatum laterale und im Kortex benachbart abgebildet. Aufgrund der hohen Rezeptorendichte ist die Makula, der Ort des schärfsten Sehens, kortikal vergrößert, die Netzhautperipherie dagegen verkleinert repräsentiert. Um die Area striata liegen optische Assoziationsfelder und das optomotorische Feld (Area 18, 19), das die Folgebewegungen der Bulbi steuert. Die Blutversorgung der Sehbahn erfolgt durch Äste der A. ophthalmica (Retina und Sehnerv), im proximalen Abschnitt des Tr. opticus durch die A. chorioidea anterior aus der A. carotis interna, im mittleren Teil des Traktus durch Äste der A. cerebri media, danach durch Äste aus der proximalen A. cerebri posterior (zum Corpus geniculatum laterale) und durch die A. cerebri posterior (Sehrinde und Assoziationsrinde).

und Verhalten geben wichtige Hinweise. Der Ausfall eines Gesichtsfelds wird als Hemianopsie, der eines Quadranten des Gesichtsfelds als Quadrantenanopsie bezeichnet. Hemianopische Patienten berichten oft, dass sie in der letzten Zeit häufiger gegen einen Türpfosten liefen oder mit der einen Seite des Wagens Hindernisse streiften, die sie nicht bemerkt hatten. Bei der Visite sehen sie nicht, wenn man von der Seite des Gesichtsfeldausfalls an ihr Bett tritt und ihnen die Hand reicht. Fingerperimetrie. Der Patient fixiert den vor ihm stehenden Arzt, der beide Hände seitlich so ausgestreckt hält, dass sie sich in einer Ebene zwischen ihm und dem Kranken befinden. Dieser soll angeben, auf welcher Seite sich die Finger des Untersuchers bewegen. Der Bewegungsreiz wird abwechselnd rechts, links und simultan, bei Bedarf auch getrennt in den oberen und unteren Quadranten gegeben. Feinere Gesichtsfeldstörungen zeigen sich oft erst bei beidseitig-simultaner Stimulation. Das eigene Gesichtsfeld dient dem Arzt zur Kontrolle (. Abb. 1.4). Beim Schreiben benutzen hemianopische Kranke häufig nur eine Hälfte des Bogens, und beim Lesen beachten sie nur die Spalten im gesunden Gesichtsfeld. In schweren Fällen führen sie von einer Zeichnung nur die Hälfte aus, die dem gesunden Gesichtsfeld entspricht. Bei bewusstseinsgetrübten Patienten lösen Drohgebärden im hemianopischen Gesichtsfeld keine Abwehrreaktion aus. Spiegelung des Augenhintergrunds. Man achtet v.a. auf den Zu-

stand der Optikuspapille (Stauungspapille, Optikusatrophie, temporale Abblassung u.Ä.) und der Gefäße. Die wichtigsten Ursachen für Stauungspapille, Optikusneuritis und Optikusatrophie sind in . Tabelle 1.1 zusammengestellt. Symptome Hemianopsie und Quadrantenanopsie. Die klinische Differenzierung zwischen Schädigungen des Tr. opticus, der Sehstrahlung oder der Sehrinde kann sich auf folgende Überlegungen stützen:

Untersuchung Sehkraft. Kursorische Prüfung durch Lesen feiner Druckschrift, bei Bedarf mit Lesebrille. Bei schwerem Visusverfall stellt man fest, ob Fingerzählen noch möglich ist, Lichtschein wahrgenommen wird und dessen Richtung angegeben werden kann (Projektion). Semiobjektive Prüfung der Sehkraft ist möglich durch die ggf. monokuläre Prüfung des optokinetischen Nystagmus oder der Fixationssuppression des vestibulookulären Reflexes (7 dort). Gesichtsfeldprüfung. Gröbere Gesichtsfelddefekte lassen sich

auch ohne apparative Perimetrie feststellen. Bereits Anamnese

. Abb. 1.4. Fingerperimetrie. Einzelheiten 7 Text

9 1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven

. Tabelle 1.1. Ursachen von Stauungspapille, Optikusneuritis und Optikusatrophie

Erkrankung

Ursachen

Stauungspapille

Doppelseitig: intrakranielle Tumoren Andere raumfordernde intrazerebrale Prozesse, z.B. Hämatome Sinusthrombose Pseudotumor cerebri Hydrozephalus Renaler Hochdruck Polyzythämie Urämie Eklampsie Selten: Polyneuritis, Rückenmarkstumor Einseitig: orbitale Krankheitsprozesse

Optikusneuritis

Einseitig: meist multiple Sklerose Doppelseitig: Meningoenzephalitis Nebenhöhlenentzündungen

Optikusatrophie

Einseitig: lokaler Druck (Tumor, Aneurysma) Zustand nach Optikusneuritis Glaukom Schädelbasisbruch Doppelseitig: Diabetes Hereditäre Ataxien Leukodystrophie (meist Kinder) Lebersche juvenile Optikusatrophie (hereditär, männliches Geschlecht) Intoxikation (Methylalkohol, Blei, CO, Chinin) B12-Resorptionsstörung (früher irrtümlich: Tabak-Alkohol-Amblyopie) Glaukom Exzessive Myopie Zustand nach Optikusneuritis Basale Arachnopathie

Im Traktus, im Corpus geniculatum laterale und im Anfangsteil der Sehstrahlung verlaufen die Fasern dicht gebündelt. Schon eine recht umschriebene Läsion führt daher leicht zur kompletten Hemianopsie. Der rindennahe Anteil der Sehstrahlung und die Repräsentation in der Sehrinde sind dagegen weit aufgefächert. Deshalb führen Läsionen in diesen Gebieten häufiger zu umschriebenen Gesichtsfelddefekten: zu Quadrantenanopsien oder, wenn nur der Okzipitalpol betroffen ist, zu homonymen hemianopischen Skotomen. Homonym bedeutet in diesem Zusammenhang, dass gleichnamige Gesichtsfelder (nach links, nach rechts) betroffen sind. Dies bedeuted andererseits, dass bei einer Hemianopsie nach links das temporale Gesichtsfeld des linken Auges und das nasale Gesichtsfeld des rechten Auges betroffen sind. Ein neurophysiologisch interessantes Phänomen sind Halluzinationen im hemianopischen Gesichtsfeld. Sie sind komplexer als einfache Blitze oder Zickzacklinien und treten als Objekte, menschen- oder tierähnliche Figuren auf. Sie werden den Phäno-

menen zugezählt, die man auf sensory deprivation, also Eigentätigkeit von Sinnesfeldern bei Ausfall von Afferenzen zurückführt. Man nimmt an, dass die Zellen des visuellen Assoziationskortex spontan entladen, nachdem sie von dem normalerweise vorhandenen afferenten Zufluss aus der primären Sehrinde abgetrennt sind. Schädigungen der Sehleitung haben Visus- oder Gesichtsfeldausfälle zur Folge, deren Typ lokaldiagnostische Bedeutung hat (. Abb. 1.3b): 4 Sehstörungen, die nur ein Auge betreffen und nicht auf eine Augenkrankheit zurückzuführen sind, zeigen eine prächiasmatische Läsion im gleichseitigen N. opticus an (. Abb. 1.3b, 1). 4 Bitemporale (= heteronyme) Gesichtsfeldausfälle beruhen auf der Schädigung der zentralen Anteile des Chiasmas, wie sie z.B. durch einen Hypophysentumor, aber auch durch gerichteten Hirndruck am Boden des 3. Ventrikels zustande kommt (. Abb. 1.3b, 2). 4 Eine binasale Hemianopsie, die eine doppelseitige Schädigung der lateralen Anteile des Chiasmas anzeigt, kommt extrem selten vor: bei suprasellären Tumoren, die beiderseits den N. opticus gegen die Karotiden drängen, bei arteriosklerotischer Elongation beider Karotiden und bei der Arachnopathia opticochiasmatica. 4 Homonyme Gesichtsfeldausfälle sind für Läsionen hinter dem Chiasma charakteristisch. Sie können sektorenförmig, als Quadrantenanopsie oder als Hemianopsie auftreten (. Abb. 1.3b, 3–6). Die häufigsten Ursachen sind Gefäßinsulte, Blutungen oder Hirntumoren. 1.2.3 Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius

(N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI) Anatomische Grundlagen Der N. oculomotorius (III) versorgt mit somatischen Fasern die Mm. levator palpebrae superiores, rectus superior, rectus inferior, rectus medialis und obliquus inferior. Mit parasympathischen Fasern innerviert er den M. ciliaris, dessen Kontraktion bei Akkomodation die Linse erschlaffen lässt, und den M. sphincter pupillae. Diese Nervenfasern entstammen einem Kerngebiet, das in der Mittelhirnhaube in Höhe der vorderen Vierhügel, ventral vom Aquädukt gelegen ist. . Abbildung 1.5 zeigt die topographische Gliederung des Kerngebiets für den N. oculomotorius. Die beiden Mm. levator palpebrae superiores werden aus einer unpaaren Zellgruppe innerviert. Eine Innervationsstörung in diesem Subnukleus führt also zur bilateralen somatomotorischen Ptose. Die parasympathischen Westphal-Edinger-Kerne sind rostral gelegen. Von hier ziehen autonome Fasern zum M. sphincter pupillae und zum M. ciliaris. Die mit der Akkommodation fest verknüpften Konvergenzbewegungen werden durch bilaterale Innervation der Subnuklei für den M. rectus medialis in Gang gesetzt.

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10

1

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Sehne des M. obliquus sup.

C

Trochlea

M. obliquus inf.

C B

M. obliquus sup.

A

M. rectus lat. M. rectus sup. M. rectus med. Canalis opticus

Ansicht von rechts B

. Abb. 1.6. Schematische Darstellung der äußeren Augenmuskeln. (Nach Rucker 1963)

C

B A A

Ansicht von dorsal

Levator palpebrae

Rectus medialis

Rectus superior

Obliquus inferior

Rectus inferior

Parasympathische Kerne

. Abb. 1.5. Kernkomplex des N. oculomotorius. Der gemeinsame Ursprungskern für beide Mm. levator palpebrae sup. liegt am dorsokaudalen Ende dieses Kernkomplexes. Die Kerngebiete für alle anderen extraokulären Muskeln erstrecken sich von rostral nach kaudal über den größeren Teil der Länge des Kernkomplexes. Eine umschriebene Läsion auf dem Niveau des Schnittes A kann zu einer isolierten doppelseitigen Ptose führen. (Nach Meyenberg 1970)

Der Kern des N. trochlearis (IV) liegt in der Mittelhirnhaube, etwas kaudal vom Okulomotoriuskern, unter den hinteren Vierhügeln. Er verlässt den Hirnstamm dorsal und kreuzt als einziger Hirnnerv dorsal des Adquädukts auf die Gegenseite. Dann zieht er um den Hirnschenkel nach ventral zur Schädelbasis, wo er, wie die Nn. oculomotorius und abducens, in der Wand des Sinus cavernosus zur Fissura orbitalis superior läuft. Er versorgt den M. obliquus superior. Wegen der Kreuzung des Nervenverlaufs gibt es zwei Läsionstypen: bei proximaler Läsion eine kontralaterale Trochlearislähmung, bei Läsion nach der Kreuzung oder im peripheren Verlauf eine ipsilaterale Lähmung. Der Kern des N. abducens (VI) liegt in der Brücke, dicht unter dem Boden des IV. Ventrikels. Der N. abducens innerviert den M. rectus lateralis.

An den Augen setzen jeweils sechs äußere Augenmuskeln an, die zu drei Antagonistenpaaren zusammengefasst sind: zwei Seitwärtswender (Mm. rectus medialis und lateralis), zwei Heber (Mm. rectus superior und obliquus inferior) und zwei Senker (Mm. rectus inferior und obliquus superior) (. Abb. 1.6). Rectus superior und inferior haben gleichzeitig eine leicht adduzierende, d.h. einwärtswendende Wirkung, die sich aus dem Winkel zwischen der Achse der Orbita und der Augenachse erklärt. In Auswärtsstellung sind sie reine Heber und Senker. Die Wirkung der Obliqui wird dadurch verständlich, dass beide Muskeln ihren funktionellen oder anatomischen Ursprung am vorderen Rande der Orbita haben und an der hinteren Fläche der Bulbi ansetzen. Anders als die Rektusmuskeln treten sie von vorn an die Hinterfläche des Bulbus heran. Der Obliquus superior hebt also in Adduktion den hinteren Sektor des Bulbus und senkt dadurch den vorderen um eine transversale Achse, während der Obliquus inferior von der Unterfläche des Bulbus in analoger Weise das Auge hebt. Da beide Muskeln außerdem, von innen kommend, auf der äußeren Hälfte des Bulbus ansetzen, müssen sie in Abduktion bei Kontraktion den hinteren Pol des Auges nach innen ziehen, also die Kornea abduzieren. In Adduktionsstellung sind beide reine Heber und Senker. Schließlich rollen die Obliqui durch ihren schrägen Verlauf den Bulbus um eine sagittale Achse nach nasal (M. obliquus superior) und temporal (M. obliquus inferior). Die Wirkung der Augenmuskeln wird durch das Schema in . Abbildung 1.7 deutlich. Die äußeren Augenmuskeln werden vom III., IV. und VI. Hirnnerven innerviert. Untersuchung Die Nerven für die äußeren und inneren Augenmuskeln werden gemeinsam geprüft. Lidspalten. Die Lidspalten sind normalerweise seitengleich und mittelweit. Die Erweiterung einer Lidspalte findet sich beim Exophthalmus und bei Parese des M. orbicularis oculi (N. facialis). Der einseitige Exophthalmus lässt sich gut erkennen, wenn man beiderseits einen Holzspatel bei geschlossenen Augen auf

11 1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven

Exkurs Strabismus Strabismus concomitans (angeborenes Begleitschielen). Das binokuläre Sehen ist gestört. Oft besteht eine sekundäre Amblyopie auf dem schielenden Auge. Doppelbilder werden unterdrückt. Der Schielwinkel bleibt bei allen Augenbewegungen gleich. Strabismus paralyticus (erworbenes Lähmungsschielen). Es besteht keine Amblyopie, deshalb sieht der Patient Doppelbilder, die beim Blick in die Aktionsrichtung des gelähmten Mus-

Hauptwirk-(»K enn-«)richtungen der äußeren Augenmuskeln M. obliquus inf.

M. rectus sup.

kels stärker auseinander rücken. Gleichzeitig nimmt der Schielwinkel zu. Voraussetzung ist, dass der Patient mit dem gesunden Auge fixiert und dass die Lähmung noch nicht so lange besteht, dass das Doppelbild unterdrückt wird. Latentes Schielen (Heterophorie). Eso- oder Exophorie liegen dann vor, wenn eines der beiden Augen, nachdem man es abgedeckt hat, eine Einstellbewegung macht, sobald es freigegeben wird.

viation vom Patienten nicht bemerkt. Abweichungen aus der Parallelstellung kommen als Strabismus divergens oder convergens vor. Bulbusbewegungen. Patienten mit frischer Augenmuskelläh-

M. rectus lat.

M. rectus med.

M. obliquus sup.

M. rectus inf.

. Abb. 1.7. Schematische Darstellung der Hauptwirk(kenn)richtungen der einzelnen Augenmuskeln des rechten Auges. (Nach Brandt u. Büchele 1983)

den Bulbus legt und die Position der beiden Spatel vergleicht. Eine Verengung der Lidspalte kommt durch Kontraktur des M. orbicularis oculi nach peripherer Fazialisparese oder durch Ptose des Oberlids zustande. Ptose. Sie beruht entweder auf Lähmung des willkürlichen Lidhebers, des M. levator palpebrae superioris (N. oculomotorius) oder des sympathisch innervierten M. tarsalis (beim HornerSyndrom; 7 Kap. 1.3.6). Die isolierte Ptose beim abortiven Horner-Syndrom bildet sich nach lokaler Gabe von PhenylephrinTropfen zurück. Bulbusstellung. Die Bulbi stehen physiologischerweise parallel

und in der Ruhe geradeaus gerichtet. Sind sie aus dieser normalen Ruhelage konjugiert, d.h. parallel stehend abgewichen, ohne dass der Patient die abnorme Stellung korrigieren kann, liegt eine konjugierte Blickwendung (déviation conjuguée) vor (7 Kap. 1.3.2). Die Bulbi können in beide horizontale, in beide vertikale Blickrichtungen und auch schräg gewendet sein. Meist wird die De-

mung kneifen oft ein Auge zu, um die Doppelbilder zu vermeiden. Auch die kompensatorische Schiefhaltung des Kopfes gibt wichtige Aufschlüsse. Man untersucht bei gerade gehaltenem Kopf Folgebewegungen und Blickeinstellbewegungen (sakkadische Bewegungen) beider Augen. Folgebewegungen werden dadurch ausgelöst, dass man den gestreckten Finger oder eine Taschenlampe in den Hauptblickrichtungen (nach oben und unten, rechts und links sowie in die beiden schrägen Richtungen) gleichmäßig langsam hin und her bewegt. Blickeinstellbewegungen werden geprüft, indem der Patient bei unbewegtem Kopf die beiden rechts und links seitlich gehaltenen Zeigefinger des Untersuchers abwechselnd fixieren soll. Man prüft die Blicksprünge mit kleinem und großem Fingerabstand. Symptome bei Lähmungen der okulomotorischen Hirnnerven Die Okulomotoriuslähmung, die Trochlearislähmung und die Abduzensparese sind in Kap. 31 im Detail besprochen. Bei der kompletten (äußeren und inneren) Okulomotoriuslähmung hängt das Augenlid, der Bulbus ist nach außen und etwas nach unten abgewichen, da nur noch die Funktionen des N. abducens (Abduktion) und des N. trochlearis (Senkung und Abduktion) erhalten sind. Die Pupille ist mydriatisch und lichtstarr, die Akkomodation der Linse ist aufgehoben (. Abb. 1.8). Bei Lähmung des N. trochlearis kommt es nur zu einer geringen Fehlstellung. Durch Fortfall der Senkerfunktion des Muskels steht der betroffene Bulbus in Primärposition eine Spur höher als der gesunde. Auffällig ist, dass der Patient den Kopf zur gesunden Seite neigt und dreht, um die ausgefallene einwärtsrollende Funktion des Muskels auszugleichen. Es bestehen schräg stehende Doppelbilder, die beim Blick nach unten zunehmen (z.B. beim Hinabgehen einer Treppe; . Abb. 1.9). Die Lähmung des Abduzens ist leicht zu erkennen. Das Auge ist nach innen abgewichen (. Abb. 1.10). Der Patient klagt über

1

12

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

1

a

b . Abb. 1.10a,b. Rechtsseitige Abduzensparese. a Blickbewegung nach links mit konjugierter Stellung der Bulbi, b Beim Blick nach rechts kann das rechte Auge nicht abduzieren und bleibt nahezu in Mittelstellung

. Abb. 1.8. Subtotale äußere Okulomotoriusparese rechts bei einem 63-jährigen Mann mit retroorbitaler granulomatöser Entzündung (Tolosa-Hunt-Syndrom). Man erkennt die Ptose und das Abweichen des Bulbus nach außen

horizontal nebeneinander stehende, gerade Doppelbilder. Um diese auszuschalten, dreht er den Kopf in Richtung des gelähmten Muskels und wendet den Blick in die Gegenrichtung. Beim Versuch, zur gelähmten Seite zu blicken, bleibt der betroffene Bulbus deutlich erkennbar zurück. In schweren Fällen kann er nicht einmal zur Mittellinie geführt werden. Dabei rücken die Doppelbilder auseinander. . Tabelle 1.2 gibt eine Übersicht über eine Reihe charakteristischer Syndrome, die durch die Beteiligung okulomotorischer Nerven gekennzeichnet sind.

Kompensatorische Kopfhaltung

1.3

Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

Bielschowski Test

A C

B

. Abb. 1.9. Kompensatorische Kopfhaltung mit Drehung und Neigung nach links bei einer Trochlearisparese rechts. Diese Kopfhaltung (B, unten) verhindert die Doppelbilder, während bei normaler aufrechter Kopfhaltung (A) sowie bei Kopfneigung in Richtung des betroffenen Auges (C, Bielschowski-Test) die vertikale Divergenzstellung durch Schwäche des M. obliquus superior zu unangenehmen vertikalen Doppelbildern führt. (Nach Brandt u. Büchele 1983)

Wir unterbrechen hier die Besprechung der Hirnnerven, um die Blickmotorik, den Nystagmus und die Pupillomotorik detailliert zu behandeln. Es bietet sich an, dies im Anschluss an die okulomotorischen Hirnnerven zu tun, da diese mit allen drei Funktionsbereichen eng verbunden sind. Während Augenmuskellähmungen auf Funktionsstörungen der entsprechenden peripheren Nerven oder ihrer Kerne im Hirnstamm beruhen, sind Blickparesen und die internukleäre Ophthalmoplegie supranukleäre Bewegungsstörungen der Bulbi. Für Nystagmen sind die okulomotorischen Hirnnerven die Effektoren, und auch die zentrale Verschaltung für den Nystagmus hat Gemeinsamkeiten mit der Blickmotorik. Schließlich werden wesentliche Teile der für die Pupillomotorik relevanten vegetativen Informationen über den parasympathischen Anteil des Okulomotorius geleitet.

13 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

. Tabelle 1.2. Syndrome mit Beteiligung okulomotorischer Hirnnerven

Syndromname

Symptome

Ätiologie

Syndrom der Orbitaspitze

Paresen N. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, Pupillenstörung, Schmerzen, Optikusatrophie

Orbitaspitzentumoren, selten Infektionen

Fissura-orbitalis-superior-Syndrom (Keilbeinflügelsyndrom)

Paresen N. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, Schmerzen, Exophthalmus

Meningeome, Orbitatumoren

Sinus-cavernosus-Syndrom

Paresen N. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, injizierte Konjunktiven, Exophthalmus

Thrombose (septisch, aseptisch) (7 Kap. 7) Sinuscavernosus-Fistel (7 Kap. 7)

Tolosa-Hunt-Syndrom

Schmerzhafte Paresen aller Augenmuskeln plus V1

Granulomatöse Entzündung des Sinus cavernosus

Wernicke-Enzephalopathie (7 Kap. 29)

Wechselnd ausgeprägte supranukleäre Okulomotorikstörung, psychische Auffälligkeiten, Ataxie

Vitamin-B1-Mangel

Fisher-Syndrom

Nystagmus, unterschiedlich ausgeprägte Augenbewegungsparesen, Ataxie, Arreflexie

Variante des immunologisch bedingten GuillainBarr’-Syndroms (7 Kap. 32)

Gradenigo-Syndrom

Abduzens- und Fazialisparese, Sensibilitätsstörung V1

Mastoid- oder Felsenbeinerkrankung

Moebius-Syndrom

Doppelseit. Abduzens- und Fazialisparese, Zungenatrophie

Anlagestörung von Fazialis- und Abduzenskernen, seltener Hypoglossuskern

1.3.1 Blickmotorik Einteilung der Augenbewegungen Augenbewegungen werden eingeteilt in: 4 Folgebewegungen: konjugierte, langsame Augenbewegungen, die einem bewegten Objekt folgen und die Fixation des Objekts sichern. 4 Sakkaden: Dies sind schnelle, konjugierte Augenbewegungen (Blicksprünge), die automatisch ablaufen, wenn ein neues Objekt fixiert werden soll. Im Gegensatz zur Blickfolgebewegung kann die Sakkade nicht unterbrochen werden. 4 Konvergenzbewegungen: Hierbei bewegen sich beide Bulbi langsam aufeinander zu, um die Fixation eines naheliegenden Objektes zu ermöglichen. 4 Drehbewegungen der Bulbi sind physiologisch zwar möglich, willkürlich aber von den meisten Menschen aktiv nicht durchführbar. > Optisch ausgelöste Blickfolgebewegungen werden von

Sakkaden (Blicksprüngen) unterschieden.

Optokinetische Reflexe Optokinetische Reflexe sind langsame Augenfolgebewegungen und Rückstellsakkaden zur Stabilisierung der visuellen Information bei sich bewegenden Objekten. Sie werden durch optische und vestibuläre Reize ausgelöst. Optokinetischer Nystagmus. Der optokinetische Nystagmus ist

durch eine rhythmische Abfolge von gleitenden Augenfolgebewegungen und Rückstellsakkaden gekennzeichnet. Er ist horizontal und vertikal auslösbar. Die Augenfolgebewegungen wer-

den durch die sich bewegenden Sehobjekte ausgelöst. Die Sakkade erfolgt, wenn das Sehobjekt droht, das Gesichtsfeld zu verlassen. Je nach Geschwindigkeit der Bewegung des Objekts kann der optokinetische Nystagmus willkürlich unterdrückt werden. Sind die zu fixierenden Objekte zu schnell, kann er nur noch dadurch unterdrückt werden, dass man versucht, nicht mehr zu fixieren. Vestibulookulärer Reflex (VOR). Der VOR verknüpft Afferenzen

aus dem Vestibularorgan über die Stellung und die Bewegungen des Kopfes im Raum mit dem okulomotorischen System im Hirnstamm. Der VOR ermöglicht die kompensatorische Augenbewegung in Gegenrichtung einer Kopfbewegung, um das Fixationsobjekt halten zu können. Störungen des VOR behindern die Abstimmung von Augenmit Kopfbewegungen. Dann kann es bei schnellen Kopfbewegungen zu Schwindel, Doppelbildern, Unscharfsehen und Unsicherheit beim Stehen kommen. Geprüft wird die Intaktheit des VOR durch schnelle passive Kopfdrehungen, bei denen auf der Seite des gestörten VOR mehrere Einstellsakkaden benötigt werden, um die Fixation wieder zu ermöglichen. Der Reflex kann auch dadurch unterdrückt werden, dass bei passiver oder aktiver Kopfbewegung ein Punkt fixiert wird (Fixationssuppression des okulozephalen Reflexes). Eine Störung der Fixationssuppression macht sich dann durch mehrere Korrekturrucke bemerkbar, wenn der VOR trotz Fixation zu einer kurzen Auslenkung der Bulbi geführt hat. Der VOR wird durch Läsionen im Kleinhirn oder im Vestibularapparat bzw. im Verlauf des Vestibularisanteils des VIII. Hirnnerven gestört. Einzelne Medikamente (Tranquilizer, Antiepileptika) und toxische Substanzen unterdrücken den VOR.

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Exkurs Verschaltung der Blickmotorik: Anatomische und funktionelle Grundlagen Die Kerne beider Seiten sind durch das mittlere Längsbündel (medial longitudinal fascicle, MLF) miteinander verbunden und zu einer funktionellen Einheit zusammengeschlossen, die nach Blickrichtungen organisiert ist. Wenn die Augen auf ein Objekt fixiert sind, bewegen sie sich kaum. Dies garantiert eine einwandfreie, scharfe Aufnahme der visuellen Information über den Retinaanteil mit der höchsten Rezeptordichte, die Makula. Bei Fixationswechsel kommt es zu kurzen schnellen Augenrucken, durch die die Augen auf das neue Objekt eingestellt werden. Ein sich langsam bewegendes Objekt wird dagegen durch gleitende Augenbewegungen, die vom okzipitalen Augenfeld gesteuert werden, verfolgt, wobei das Zentrum des Objekts im fovealen Blickfeld, also im Bereich des schärfsten Sehens gehalten wird. Wird die Bewegung des Fixationsobjekts schneller, werden Korrektursakkaden (und Kopfbewegungen) eingesetzt, um das Objekt verfolgen zu können.

Koordinierte Bewegungen beider Augen in den drei Hauptrichtungen (horizontal, vertikal, rotatorisch) werden durch mindestens drei Blickzentren des Hirnstamms gesteuert. Diese sind untereinander und mit den Augenmuskelkernen verbunden. Die Blickzentren werden willkürlich, durch visuelle Reize reflektorisch und auch durch vestibuläre, auditive, somatosensible und zerebelläre Afferenzen aktiviert (. Abb. 1.11). Die Blickstabilisierung bei Fixation und gleichzeitiger Eigenbewegung des Kopfes wird durch reflektorische Augenbewegungen (vestibulookulärer Reflex, s.u.) gewährleistet. Die Bewegungen der Augen sind nur in einer gleichsinnigen, konjugierten Blickmotorik physiologisch sinnvoll. Diese garantiert die Konstanz des binokularen Sehens. Entsprechend erhalten die Augenmuskelkerne, anders als die übrigen Hirnnervenkerne und die motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks, keine direkten kortikofugalen Projektionen. Die Organisation der Generierung von schnellen Augenbewegungen in der horizontalen und vertikalen Ebene ist in . Abbildung 1.12 schematisch dargestellt.

Thalamus

Colliculus sup. Kleinhirn PT

Retina

Lobulus VI VII

N III D ri

N IV C

MLF N VI

MRF

N.F. PPRF

NOT

N.V. PPH

Pons III.

IV.

VI.

Augenmuskelnerven . Abb. 1.11. Schema der blickmotorischen Zentren des Hirnstamms und der Augenmuskelkerne nebst ihren wichtigsten neuronalen Verbindungen. Bewegungsspezifische Ganglienzellen der Retina senden Axone zum Kern des optischen Trakts (NOT), dessen Zellen einerseits Axone zur unteren Olive (IO, von dort Kletterfasern ins Kleinhirn), andererseits zum N. praepositus hypoglossi (PPH) und den Vestibulariskernen (N. V) schicken. Letztere sind überwiegend durch Axone im Fasciculus medialis lateralis (MLF) direkt mit den Augenmuskelkernen (N III, N IV, N VI) und mit den Blickzentren der mesenzephalen (MRF, vertikale und torsionale Blicksteuerung) und der präpontinen retikulären Formation

Uvula

IO VIII. vest

(PPRF, horizontale Blicksteuerung) verbunden. Die Neurone der Blickzentren koordinieren für die verschiedenen Blickprogramme die Aktivität der Motoneurone in den Augenmuskelkernen. Die Blickzentren erhalten retinale Signale über das Prätektum (PT, Steuerung von Vergenzbewegungen) und die Colliculi superiores (vertikale und horizontale Sakkadensteuerung). MRF und PRF integrieren (über nicht eingezeichnete Verbindungen) Signale aus den kortikalen visuellen Regionen und dem frontalen Augenfeld sowie aus den Kleinhirnkernen (z.B. N. F., Ncl. fastigii). Der rostrale interstitielle Kern (ri) der MRF kontrolliert torsionale Blickbewegungen. (Nach Schmidt u. Thews 1995)

15 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

bildern kommt. Bei der rechten INO bleibt also das rechte Auge beim Blick nach links zurück und umgekehrt. Gleichzeitig tritt für die Dauer der Seitwärtsbewegung ein dissoziierter Nystagmus auf, der oft nur auf dem abduzierten Auge zu beobachten ist. Die Konvergenzbewegung beider Bulbi ist dagegen erhalten. Daraus und aus dem Fehlen einer Divergenzstellung beim Geradeausblick folgt, dass der periphere Nerv zum M. rectus medialis intakt ist, also keine partielle Okulomotoriuslähmung vorliegt (. Abb. 1.13).

Blickein stellung MRF 6-9

3Untersuchung. Bei der internukleären Ophthalmoplegie beIII

17 -19 Blickfolge

IV

MLF

PPRF

2 VI

wegen sich beide Bulbi beim Seitwärtsblick nicht konjugiert. Für diese Dysjunktion der horizontalen Sakkaden gibt es eine einfache Untersuchungsmethode. Der Untersucher steht vor dem Patienten, hebt dann beide Zeigefinger auf Augenhöhe in einem Abstand von etwa 1 m und fordert den Patienten auf, abwechselnd den rechten oder linken Zeigefinger zu fixieren. Der Patient soll seinen Kopf mit beiden Händen festhalten, um Interferenzen zwischen Augen- und Kopfbewegungen zu vermeiden. In diesem Sakkadentest kann man abortive Formen der internukleären Ophthalmoplegie mit Verlangsamung der Adduktion als einzigem klinischen Symptom erkennen. Auch bei der normalen Untersuchung der Folgebewegungen der Augen lässt sich die INO meist gut identifizieren. Die INO ist nicht selten. Sie kommt wegen der paramedianen Lage der MLF häufig doppelseitig vor und kann auch von Störun-

1 . Abb. 1.12. Schematische Darstellung der wichtigsten supranukleären und nukleären Strukturen für die Steuerung willkürlicher Blickbewegungen über die paramediane pontine Formatio reticularis (PPRF). Der kortikale Willkürimpuls gelangt nach Kreuzung im Mittelhirn zur PPRF, von wo die Weiterleitung über den Abduzenskern einerseits zum ipsilateralen M. rectus lateralis, andererseits nach Kreuzung über den Fasciculus longitudinalis medialis und den kontralateralen N. oculomotorius zum M. rectus medialis erfolgt. Eine Läsion der PPRF oder des Abduzenskerns führt deshalb zu einer ipsiversiven Blickparese (1). Die internukleäre Ophthalmoplegie wird durch eine Läsion des Fasciculus longitudinalis medialis (MLF, 2) ausgelöst, wobei die klinisch feststellbare Adduktionshemmung der Seite der Läsion entspricht. (Nach Brandt u. Büchele 1983)

1.3.2 Syndrome gestörter Blickmotorik

a

b

c

Internukleäre Ophthalmoplegie Die internukleäre Ophthalmoplegie ist die häufigste supranukleäre Blickstörung. d

3Ursachen und Symptome. Die internukleäre Ophthalmople-

gie (INO) kommt durch ein- oder doppelseitige Läsion des medialen Längsbündels (medialer longitudinaler Faszikulus, MLF) zustande. Bei der INO kann das Auge auf der befallenen Seite beim Seitwärtsblick nicht adduziert werden, so dass es zu Doppel-

. Abb. 1.13a–d. Doppelseitige internukleäre Ophthalmoplegie. a Beim Geradeausblick achsgerechte Stellung beider Augen, b Beim Blick nach rechts fehlende Adduktion des linken Auges, c Beim Blick nach links fehlende Adduktion des rechten Auges, d Erhaltene Konvergenzreaktion. (Nach Kaufmann 1988)

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Facharzt

Organisation der Augenbewegungen Die Sakkaden stellen die Fovea willkürlich auf die Sehobjekte ein. Sie erfolgen diskontinuierlich, mit einer Latenz von 200 ms und als ballistischer Vorgang mit einer so hohen Winkelgeschwindigkeit, dass sie nicht fortlaufend geregelt und nicht unterbrochen oder korrigiert werden können. Vielmehr werden sie bei Abweichen vom Ziel mit einer Latenz von 80–250 ms durch kurze Korrekturrucke nachgerichtet. Für diese präzisen Bewegungen sind sehr kleine motorische Einheiten mit hoher Entladungsfrequenz notwendig. Das Ausmaß der Sakkaden wird, nach dem Ausmaß der Verlagerung des Bildes auf der Retina, als Feed-forward-Effekt in einem Regelkreis zwischen Retina, Augenmuskelrezeptoren, Kleinhirnrinde und zerebellofugalen Projektionen zu den Augenmuskelkernen vorausberechnet. Die Bedeutung dieser Regelung ergibt sich daraus, dass die Augenmuskelkerne die einzigen motorischen Kerne sind, die direkte zerebellofugale Projektionen empfangen. Grobe Störungen in diesem Regelkreis kommen bei zerebellären Läsionen als Blickdysmetrie vor, die der zerebellären Dysmetrie der Extremitäten entspricht. Die raschen Augenbewegungen werden vom frontalen Augenfeld (Area 6–9), in dem die willkürliche Steuerung der Augenbewegungen vorgenommen wird, initiiert und in einem neuronalen Apparat im Hirnstamm generiert, der in der paramedianen Formatio reticularis (PPRF, parapontine retikuläre Formation) und in bestimmten Kernen der Mittelhirnhaube, in der Nähe der hinteren Kommissur lokalisiert ist (. Abb. 1.12). Folgebewegungen werden durch bewegte Sehobjekte ausgelöst. Sie laufen kontinuierlich ab, durch optokinetische Mechanismen geregelt mit einer Latenz von 125 ms, aber mit sehr viel geringerer Winkelgeschwindigkeit als die Sakkaden. Der Begriff sakkadierte Folgebewegungen bezeichnet eine Störung der langsamen Folgebewegungen, die durch kurze interponierte Aufholsakkaden, manchmal auf den beiden Augen asynchron, ausgeglichen wird. Die Störung liegt also in den zu langsamen Folgebewegungen und nicht in den Blicksakkaden. Eine Sakkadenstörung liegt dagegen vor, wenn die automatisierten schnellen Zielbewegungen nicht mehr durchgeführt werden können und stattdessen die Einstellung der Augen auf ein neues Sehobjekt durch langsame Folgebewegung und Kopfbewegung geregelt wird (z.B. bei der progressiven supranukleären Lähmung, 7 Kap. 23). Drehende Bewegungen finden wir bei verschiedenen pathologischen Konstellationen, wie z.B. der skew deviation (Teil der ocular tilt reaction, s.u.), beim Nystagmus retractorius und auch bei der Ausgleichbewegung der Obliquus-superior-Parese (Trochlearislähmung), dem Bielschowsky-Zeichen. . Tabelle 1.3 stellt einige Syndrome zusammen, bei denen eine Zyklorotation eines Bulbus oder beider Bulbi vorkommt.

Horizontale Blickbewegungen, die beim Menschen die größte funktionelle Bedeutung haben, werden von der PPRF in der Brückenhaube generiert. Die PPRF liegt ventral vom Abduzenskern sowie ventral und lateral vom MLF in der Brückenhaube. Von der PPRF werden Impulse für horizontale Blickbewegungen zu Interneuronen und Motoneuronen im Gebiet des Abduzenskerns auf der gleichen Seite vermittelt. Die Interneurone innerhalb des Abduzenskerns projizieren zu dem Teil des Okulomotoriuskerns, der für den kontralateralen M. rectus medialis zuständig ist, und zwar über den MLF. Ein Kommando für schnelle, seitliche Augenbewegungen führt also zu einer horizontalen Sakkade mit Aktivierung eines M. rectus lateralis und eines M. rectus medialis. Vertikale Blickbewegungen werden vom oralen (mesenzephalen) Anteil der PPRF und von Kernen der Mittelhirnhaube generiert (MRF, mesenzephale retikuläre Formation). Die Impulse für Rotationsbewegungen der Bulbi, die meist reflektorisch entstehen, stammen aus der PPRF des Rautenhirns. Dieses subkortikale Koordinationssystem erhält Impulse aus vier Einzugsbereichen. Quantitativ am wichtigsten sind die Projektionen vom Vestibulariskerngebiet. Sie enden in der kontralateralen PPRF. Vestibuläre Gegendrehungen der Augen dienen der Blickstabilisierung bei Bewegungen des Kopfes, so dass die Wahrnehmung der Außenwelt und die subjektiven Raumkoordinaten stabil bleiben. Der adäquate Reiz sind Kopfbewegungen. Die vestibulären Gegendrehungen erfolgen kontinuierlich, sie haben eine geringe Latenz und geringe Winkelgeschwindigkeit. Daneben üben Halsafferenzen eine blickstabilisierende Funktion aus. Diese Afferenzen verlaufen ebenfalls über die Vestibulariskerne und die Formatio reticularis bzw. das mediale Längsbündel zu den Augenmuskelkernen. Aus den paravisuellen Feldern 18 und 19 des Okzipitallappens verlaufen optomotorische Bahnen in der Sehstrahlung kortikofugal, d.h. entgegengerichtet zum Verlauf der visuellen Afferenzen, teils durch das Pulvinar thalami zur Prätektalregion, teils durch den hinteren Schenkel der inneren Kapsel zum Hirnstamm. Eine Läsion dieser Bahnen führt zum Ausfall der visuellen Folgebewegungen zur Gegenseite und damit auch des optokinetischen Nystagmus (s.u.). Der größere Anteil aller kortikoretikulären optomotorischen Bahnen kreuzt auf dem Niveau der Hirnnervenkerne. Daneben gibt es aber auch ungekreuzte Faserzüge. Auf der Aktivität dieser ipsilateralen Projektionen beruht die gute Rückbildung von Blickparesen nach kortikalen und subkortikalen Läsionen, im Gegensatz zur pontinen Blicklähmung.

17 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

. Tabelle 1.3. Okulomotorische Syndrome mit Achsabweichung und Zyklorotation

Bezeichnung

Läsionsort

Symptome

Skew Deviation

Peripher (Otolithen, N. VIII) Zentral (kaudaler Hirnstamm)

Kontralaterales Auge oberhalb, ipsilaterales Auge unterhalb der Horizontale, ipsilaterales Auge ggf. lateral rotiert

Zentral (mes-, dienzephal)

Ipsilaterales Auge oberhalb, kontralateral unterhalb der Horizontale

Ocular-tilt-Reaktion

Kaudaler Hirnstamm

Wie Skew, dazu Neigung des Kopfes zur Herdseite

Schaukelnystagmus

Dienzephal-mesenzephal (Zona incerta)

Innenrotation bei Aufwärts-, Außenrotation bei Abwärtsbewegung

Nystagmus retractorius

Dienzephal-mesenzephal

Innenrotation beider Augen bei Konvergenz und Retraktion

Obliquus-superior-Myoklonien

Kerngebiet und proximaler Teil des N. trochlearis

Unilaterale Salven von Innenrotationen

Vestibulärer Nystagmus

Labyrinth, Vestibulariskern

Inkonstant rotatorische Komponente

gen der vertikalen Augenmotorik und anderen komplexen okulomotorischen Störungen begleitet sein, die eine Schädigung der umgebenden parapontinen Formatio reticularis (PPRF) anzeigen. Die INO tritt am häufigsten bei multipler Sklerose (7 Kap. 22), bei Hirnstamminfarkten (7 Kap. 5) und bei Wernicke-Enzephalopathie (7 Kap. 29) auf. Horizontale Blickparesen Diese zeigen eine Schädigung im System der willkürlichen und optisch ausgelösten seitwärts gerichteten Blickbewegungen (. Abb. 1.14). Die Schädigung kann die Stirnhirnkonvexität, die frontopontine Bahn – meist in der inneren Kapsel –, die optomotorische Bahn aus dem Okzipitallappen oder aber die blickregulierenden Strukturen in der PPRF selbst betreffen. Die kortikale und die subkortikale Läsion unterscheiden sich von der pontinen in ihrer Symptomatik.

Adversivanfällen (7 Kap. 14), gewinnt das betroffene Blickfeld die Überhand . Die Bulbi wenden sich deshalb vom Herd ab (»Der Kranke schaut vom Herd weg«). Pontine Läsion. Die pontinen Zentren der PPRF wenden die Augen physiologischerweise zur gleichen Seite. Bei pontiner Läsion besteht also eine Blicklähmung zur Seite des Herdes. Wenn überhaupt eine Déviation conjuguée vorliegt, ist sie vom Herd wegRechtes frontales u. okzipitales Blickzentrum

Linkes frontales u. okzipitales Blickzentrum

subkortikale Läsion

Kortikale und subkortikale Läsion. Hier kommt es nicht nur zur

Lähmung der phasischen Blickbewegung, sondern das intakte Augenfeld gewinnt in der tonischen Dauerinnervation der Bulbi das Übergewicht. Der Patient hat deshalb nicht nur eine Blicklähmung zur Gegenseite, sondern die Bulbi und meist auch der Kopf sind zur Seite des Herdes »hinübergeschoben« (Déviation conjuguée): »Der Kranke blickt seinen Herd an«. Durch vestibuläre Reize, z.B. Kaltspülung auf der betroffenen Seite, lassen sich die Bulbi übrigens in Richtung der Blicklähmung »hinüberschieben«, da die PPRF intakt ist. Die kortikale oder subkortikale Blickparese und -deviation ist meist von Halbseitensymptomen und halbseitiger Vernachlässigung (Neglect, 7 Kap. 3.6) begleitet, die die Lokaldiagnose erleichtern, während Augenmuskellähmungen und Pupillenstörungen in der Regel nicht bestehen. Sie bildet sich meist innerhalb weniger Tage zurück. Wenn eine Läsion im frontalen Augenfeld zu Reizsymptomen anstatt zu Ausfallserscheinungen führt, z.B. bei epileptischen

Läsion im pontinen Blickzentrum

Brücke

Augen

Blickparese nach links Déviation conjuguée nach rechts . Abb. 1.14. Blickparese und Déviation conjugée. Dargestellt sind zwei Läsionen, eine subkortikale und eine pontine, die eine Blickparese nach links und konjugierte Abweichung der Bulbi nach rechts hervorrufen. (Nach Bing 1953)

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Facharzt

Prätektalsyndrom Symptome: 4 klonische Konvergenzspasmen 4 Nystagmus retractorius 4 vertikale Blickparese mit Aufhebung des vertikalen optikinetischen Nystagmus nach oben

gerichtet. Weitere Charakteristika der pontinen Blickparese sind: 4 die geringere Tendenz zur Rückbildung, weil der Generator für die seitlichen Blickbewegungen gestört oder zerstört ist; 4 häufig begleitende Augenmuskel- und auch Pupillenstörungen, da die Kerngebiete bei den engen anatomischen Verhältnissen oft mitgeschädigt werden, sowie 4 pyramidale und zerebelläre Symptome bei Läsion im Brückenfuß. Eine Lähmung der horizontalen Blickbewegungen nach beiden Richtungen beruht immer auf einen Brückenherd. Über ocular bobbing, das die horizontale Blickparese begleiten kann, 7 Kap. 1.3.5. Eineinhalb-Syndrom Das »Eineinhalb-Syndrom« besteht aus einer konjugierten horizontalen Blickparese in einer Richtung infolge Läsion der PPRF und einer Lähmung der Adduktion eines Auges beim Blick in die andere horizontale Richtung infolge einer zusätzlichen INO (Läsion der MLF). Ein Auge kann also weder zur einen noch zur anderen Seite aus der Mittellinie geführt werden, das andere kann nur abduziert werden. Wie bei der reinen internukleären Ophthalmoplegie treten während dieser Abduktionsbewegung nystaktische Zuckungen auf. Das Syndrom beruht auf einer einseitigen Läsion in der dorsalen unteren Brückenhaube. Vertikale Blickparese Die vertikale Blickparese betrifft hauptsächlich die Hebung, seltener allein (Steele-Richardson-Syndrom) oder zusätzlich die Senkung der Bulbi. Das Symptom zeigt eine bilaterale Läsion in der Mittelhirnhaube an. Hier gibt es für beide vertikalen Blickrichtungen zwei getrennte Regulationszentren, von denen das für die Aufwärtsbewegung weiter kaudal liegt. Die Parese betrifft in der Regel die spontanen und die Führungsbewegungen. Oft ist initial die aus den Bogengängen ausgelöste Hebung der Bulbi erhalten, wenn der Patient ein feststehendes Objekt fixiert und der Untersucher dabei seinen Kopf passiv nach vorn neigt. Dies wird als Puppenkopfphänomen bezeichnet. Auch die Hebung der Bulbi bei Augenschluss ist nicht paretisch. Leichtere Grade von Blickparese stellt man oft erst dann fest, wenn man den Patienten etwa 1 min in die geforderte Richtung blicken lässt. Die Bulbi weichen dann langsam in die Mittelstellung zurück.

4 weite, oft anisokore, schlecht auf Licht reagierende Pupillen 4 Lidretraktion und Lidzittern Die praktische Bedeutung des Syndroms liegt in seiner Ortsspezifität. Ätiologisch haben die Patienten oft einen Mittelhirntumor, einen Hydrozephalus oder einen Hirnstamminfarkt.

Konvergenzparese Wenn eine Mittelhirnläsion den unpaaren Medialkern des Okulomotorius schädigt, tritt eine Konvergenzparese auf. Diese ist ein geläufiges Frühsymptom beim Parkinson-Syndrom. Im Frühstadium zeigt sie sich als Konvergenzschwäche. Bei Annäherung eines Objekts weicht das nichtdominante Auge nach kurzem Konvergenzimpuls ab und fixiert nicht mehr. Dabei tritt eine Verengung beider Pupillen ein. Der Konvergenzspasmus tritt willkürlich beim Konvergieren oder als Mitbewegung bei vertikaler Blickparese auf, wenn die Patienten versuchen, nach oben zu schauen. Parinaud-Syndrom Die vertikale Blickparese nach oben ist nicht selten mit einer Konvergenzlähmung (s.u.) kombiniert. Nur dann sprechen wir vom Parinaud-Syndrom. Wegen der Nähe des Okulomotoriuskerngebiets findet man dabei oft auch eine einseitige Mydriasis, eine abgeschwächte oder aufgehobene Lichtreaktion der Pupille und einen Nystagmus. Ocular-tilt-Syndrom Dies ist eine Trias aus gleichseitiger Neigung des Kopfes, konjugierter Wendung der Augen und einer Einwärtsrotation des ipsilateralen Auges und Abweichung des kontralateralen Auges nach oben. Das Syndrom zeigt eine ipsilateral zum abweichenden Auge gelegene Hirnstammläsion auf dem Niveau der Mittelhirnhaube an. In seltenen Fällen wird diese Abweichung auch nach einer Läsion im ipsilateralen Vestibularorgan (Labyrinth), das in der Regulierung der Körperhaltung eine führende Rolle spielt, gefunden. Supranukleäre Blicklähmung Die supranukleäre Blicklähmung ist ein Leitsymptom des in Kap. 23 besprochenen Steele-Richardson-Syndroms, einer Multisystematrophie. Die supranukleäre Blicklähmung beginnt mit einer Verlangsamung, später dem Verlust der Blicksakkaden. Dann tritt auch eine Verzögerung der Folgebewegungen, zunächst nach vertikal, später auch horizontal hinzu. Insgesamt wirken die Augenbewegungen sehr langsam und verzögert, in Spätstadien sind die Bulbi unbeweglich und folgen passiv der Bewegung des Kopfes. Neben den Veränderungen der Blickmotorik treten Rigor der Muskulatur, Dysarthrie, unsicherer, kleinschrittiger Gang und Fallneigung nach hinten hinzu.

19 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

1.3.3 Nystagmus Als Nystagmus bezeichnet man unwillkürliche, rhythmische Hin- und Herbewegungen der Bulbi. Der Nystagmus wird durch drei Kriterien charakterisiert: 4 die langsame und die rasche Phase, 4 die horizontale, vertikale oder rotierende Schlagrichtung, die nach der raschen Phase bezeichnet wird, und die 4 Schlagrichtung (rechts, links, oben, unten, schräg) in Bezug auf die Primärposition des Auges. Dass man die Richtung des Nystagmus nach der raschen Phase bezeichnet, ist paradox, weil eigentlich die langsame Phase die erzwungene Auslenkung aus der Normallage darstellt, die rasche Phase dagegen die (sakkadische) Rückkehr in die Ausgangsstellung. Untersuchung Die Untersuchung auf pathologischen Nystagmus wird, möglichst auch unter der Frenzel-Brille, im abgedunkelten Zimmer vorgenommen. Die Untersuchungsschritte sind: 4 Beobachtung desSpontannystagmus bei Blick in die Ferne und Fixation in der Nähe. 4 Beobachtung und leichte Palpation der Bulbi mit den Fingerspitzen bei geschlossenen Augen. Dabei ist die Fixation ausgeschaltet, was den erworbenen Nystagmus verstärkt. 4 Beobachtung auf Blickrichtungsnystagmus während spontaner Blickbewegungen oder Folgebewegungen in die Hauptrichtungen. 4 Beobachtung auf Lagerungsnystagmus nach raschem Hinlegen oder Aufrichten, in gerader sowie in Rechts- und Linksseitenlage, in Kopfhängelage sowie Provokation des Nystagmus durch Kopfschütteln. 4 Auch beim Augenspiegeln achtet man auf Nystagmus, der am Fundus durch ruckweise Bewegungen des eingestellten Fundus besonders leicht zu erkennen ist. 4 Bei Verdacht auf einen intrakraniellen Prozess wird mit einfachen Mitteln auch der optokinetische Nystagmus, die erzwungenen ruckartigen Rückstellbewegungen der Bulbi beim Vorbeiziehen einer Reihe von Sehobjekten, untersucht. Man verwendet eine gemusterte Drehtrommel mit schwarzen und weißen Streifen. Die Versuchsperson soll ihre Aufmerksamkeit auf die Muster richten. Man sieht dann, dass die Bulbi mit der langsamen Phase des optokinetischen Nystagmus dem jeweils vorbeiziehenden Sehobjekt folgen und danach mit der raschen Phase zum nächsten Objekt zurückspringen. Provokationsverfahren Zur Nystagmusprüfung durch den HNO-Arzt gehören Provokationsverfahren, von denen die kalorische (Warm- und Kaltluft) wichtiger ist als die Drehstuhluntersuchung, weil nur die kalorische Prüfung die Labyrinthe seitengetrennt testet. Bei den meisten erworbenen Nystagmusformen kommt es zur Oszillopsie, das ist die unscharfe Wahrnehmung von sich

scheinbar oszillierend bewegenden, jedoch stillstehenden Objekten. Diese können zwei Ursachen haben: Durch die nystaktischen Augenbewegungen wird die Fovea fortgesetzt vom Fixierpunkt verschoben, so dass der Eindruck des verschwommenen Sehens entsteht. Bei sehr grobem Nystagmus werden manchmal sogar Doppelbilder in bestimmten Blickrichtungen gesehen. Außerdem kommen Sehstörungen über einen Verlust der stabilisierenden Funktion zustande, die das Labyrinth normalerweise auf den physiologischen Nystagmus während der optischen Fixation hat. Deshalb klagen die Patienten über Doppelbilder bei Kopfbewegungen. Bei manchen angeborenen Nystagmusformen haben die Patienten, selbst wenn die Augenbewegungen sehr ausgeprägt sind, keine Oszillopsien. Man berücksichtigt die Stärke der Ausschläge, die als fein-, mittel- oder grobschlägig bezeichnet wird, und beschreibt, ob die Bewegungen auf beiden Augen konjugiert, d.h. synchron und in gleichem Ausmaß, oder dissoziiert, das heisst unterschiedlich in Amplitude und Geschwindigkeit, sind. 1.3.4 Physiologischer Nystagmus Optokinetischer Nystagmus Der optokinetische Nystagmus ist physiologisch. Hierbei handelt es sich um einen optischen Orientierungsvorgang. Er macht es möglich, dass bei Veränderungen der Körperlage oder bei Bewegungen von Umweltobjekten die Fixation erhalten bleibt, z.B. beim Blick aus einem fahrenden Zug. Pathologisch ist seine Abschwächung oder sein Fehlen. Ist der optokinetische Nystagmus zur Gegenseite des Herdes (auf die Schlagrichtung bezogen) vermindert oder aufgehoben, so beruht dies auf einer Schädigung der optomotorischen Fasern, die aus der Area 18 des Okzipitallappens zum Hirnstamm ziehen. Auch der physiologische Nystagmus kann manchmal zu Schwindel, Oszillopsien (s.u.) und Übelkeit führen. Willkürnystagmus Er kann nur von wenigen Personen bewusst hervorgerufen werden. Er ist ein hochfrequenter (15–25 Hz) Pendelnystagmus und wird gewöhnlich nur einige Sekunden lang durchgehalten: Er ist mit Lidzittern und einer leichten Konvergenz der Augen verbunden (Übergang zum psychogenen Konvergenzspasmus). 1.3.5 Pathologischer Nystagmus Man unterscheidet den angeborenen und den erworbenen Nystagmus. Die Unterscheidung hat praktische Bedeutung, weil der angeborene Nystagmus zwar nicht normal ist, aber nicht unbedingt auf einem Krankheitsprozess beruht, den man mit diagnostischen Hilfsmethoden aufklären muss, wie z.B. beim Pendelnystagmus, bei dem man keine rasche oder langsame Phase unter-

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Exkurs Weitere pathologische Nystagmusformen Rotierender Spontannystagmus. Die Drehrichtung wird am oberen Meridian des Auges in der raschen Nystagmusphase beurteilt. Dieser Spontannystagmus ist charakteristisch für Läsion der Medulla oblongata, z.B. bei Syringobulbie oder beim Wallenberg-Syndrom. Fixationspendelnystagmus. Dies ist ein sehr unregelmäßiger, in alle Richtungen schlagender, oft dissoziierter, hochfrequenter Nystagmus. Er kommt bei multipler Sklerose, selten bei Hirnstammtumoren und Durchblutungsstörungen des Hirnstamms vor. Die Patienten klagen über unscharfe Oszillopsien. Begleitsymptome sind meist durch die Grundkrankheit bedingt und umfassen Ataxie, Dysmetrie und supranukleäre, okulomotorische Störungen. Die zugrunde liegende Läsion wird in der Prätektalregion des Mittelhirns vermutet. Nystagmus retractorius. Sehr selten ist der Nystagmus retractorius: ruckartige Rückwärtsbewegungen beider Bulbi in der Orbita. Er zeigt eine Mittelhirnschädigung an (7 a. Kap. 1.3.2, Parinaud-Syndrom).

Der Down-beat-Nystagmus schlägt mit der schnellen Komponente nach unten. Er wird durch Fixation nicht beeinflusst und hat eine starke lokalisatorische Bedeutung: Die meisten Kranken haben eine Läsion in der Nähe des Übergangs der Medulla oblongata zum Halsmark oder im Unterwurm des Kleinhirns. Ein Drittel der Patienten hat eine Arnold-Chiari-Missbildung (s. Kap. 35). Der Down-beat-Nystagmus führt, wie jeder andere erworbene, grobe Nystagmus, zur Oszillopsie. Der Up-beat-Nystagmus schlägt mit der schnellen Komponente nach oben. Er ist meist durch Läsionen der Brückenhaube am pontomesenzephalen Übergang bedingt. Bei Down-beatund Up-beat-Nystagmus ist ein Therapieversuch mit Rivotril® oder Lioresal® angezeigt. Beim Schaukelnystagmus schlägt gleichzeitig das eine Auge aufwärts, das andere abwärts. Dabei tritt auch eine rotierende Bulbusbewegung auf: im Uhrzeigersinn beim Heben des rechten und gegen den Uhrzeigersinn beim Heben des linken Auges. Oszillopsien sind relativ selten. Meist liegt keine Blickparese vor. Kalorisch, bei der Drehprüfung und optokinetisch ist der Befund normal. Ursache ist eine Läsion im Mesenzephalon oder im Dienzephalon.

Vertikale Nystagmusformen. Down-beat- und Up-beat-Nystagmus sind Zeichen eines gestörten vertikalen VOR, der durch die vertikalen Bogengänge ausgelöst wird.

scheiden kann, z.B. Bergarbeiternystagmus und angeborener Fixationsnystagmus. Pathologischer Nystagmus ist oft, wenn auch nicht immer, von Schwindel begleitet. Die Schädigungen sind entweder im vestibulären Anteil (Labyrinth, N. vestibularis, Kerngebiet) oder in den zentralen blickregulierenden Strukturen (Pons, Formatio reticularis, Mittelhirnkerne) lokalisiert. Schwindel entsteht dann, wenn ein Widerspruch (mismatch) zwischen vestibulären, visuellen und somatosensiblen Afferenzen vorliegt (7 Kap. 17). Für die Lokalisation der Schädigung muss das Verhältnis von Schwindel und Nystagmus berücksichtigt werden. Stärkerer Schwindel spricht für eine periphere Funktionsstörung, besonders wenn er als gerichteter, systematischer Schwindel auftritt. Ungerichteter, diffuser Schwindel entspricht einer Funktionsstörung im zentralen vestibulären Apparat, in dem die Meldungen aus den Richtungsrezeptoren bereits verschaltet sind. Intensiver Nystagmus ohne Schwindel ist charakteristisch für zentrale Läsionen. Angeborener, kongenitaler Fixationsnystagmus Dies ist eine familiär, ohne einheitlichen Vererbungsmodus auftretende kontinuierliche Bewegungsunruhe der Augen, die blickrichtungsabhängig an Ausmaß zunehmen kann. Er ist auf beiden Augen synchron nachweisbar und führt nicht zu Oszillopsien. Der angeborene Nystagmus wird auf eine Störung des Fixationsmechanismus zurückgeführt. Er kann die verschiedensten Schlag-

formen und -richtungen haben. Die Augenbewegungen erfüllen oft nicht die Kriterien eines Nystagmus mit langsamer und schneller Komponente, beide Bewegungsteile sind etwa gleich schnell. Sein wichtigstes Kriterium ist, dass er sich bei Fixation verstärkt oder dabei erst manifest wird, während alle anderen Nystagmen durch Fixation gehemmt werden. Nicht selten hat er den Charakter des latenten Fixationsnystagmus. Dieser tritt nur beim einäugigem Sehen auf und schlägt jeweils zur Seite des fixierenden Auges: Beim Abdecken des linken Auges und Fixieren mit dem rechten schlägt er nach rechts und umgekehrt. Vestibulärer, richtungsbestimmter Nystagmus Er schlägt in jeder Stellung der Bulbi nach derselben Seite. Die Schlagrichtung ist meist gemischt, vorwiegend horizontal, mit rotierender oder vertikaler Komponente. Man unterscheidet drei Schweregrade: 1. Nystagmus nur beim Blick in Richtung der raschen Phase, 2. Nystagmus auch beim Blick geradeaus, 3. gerichteter Nystagmus auch beim Blick in Richtung der langsamen Phase. Dieser Nystagmus ist meist mit Schwindel und Übelkeit, bei gleichzeitiger kochleärer Funktionsstörung auch mit Ohrensausen oder Hörminderung verbunden. Ätiologisch beruht dieser Nystagmus auf einer akuten, einseitigen Funktionsstörung im

21 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

Exkurs Okuläre Hyperkinesen Vom Nystagmus können okuläre Hyperkinesen abgegrenzt werden, von denen wir hier die Blickdysmetrie, Blickmyoklonien (Opsoklonus), die epileptischen okulären Adversivanfälle, die M.-obliquus-sup.-Myoklonien und das ocular bobbing besprechen. Blickdysmetrie. Bei der Blickdysmetrie werden die Augen nicht glatt und zielsicher auf das Sehziel geführt, sondern überschießend daran vorbei, so dass eine Korrektur durch einige rasche Hin- und Herbewegungen notwendig ist, bevor die korrekte Fixation erreicht wird. Die Dysmetrie kommt auch als Hypometrie vor und erfordert dann Korrekturrucke in der ursprünglichen Sakkadenrichtung. Blickmyoklonien. Für dieses Symptom hat sich der Name Opsoklonus eingebürgert, obwohl okulärer Myoklonus deskriptiv sicher besser ist. Die Blickmyoklonien sind spontane, meist in Salven auftretende, unregelmäßige, wechselnd rasche (etwa 3–13/s) konjugierte Hin- und Herbewegungen der Bulbi in alle Blickrichtungen. Pathophysiologisch scheint eine Enthemmung von Sakkadenbewegungen zugrunde zu liegen; man vermutet die Läsion im Bereich des pontinen Blickzentrums. Eng verwandt hiermit ist der okulopalatine Myoklonus, bei dem neben einem (meist vertikalen) Nystagmus synchrone, schnelle Myoklonien des weichen Gaumens auftreten, die den Patienten durch unangenehme, knackende Geräusche

Labyrinth, im N. oder Nucl. vestibularis. Er findet sich z.B. beim peripheren paroxysmalen Lagerungsschwindel (7 Kap. 17). Durch zentrale Kompensationsvorgänge wird er meist innerhalb einiger Wochen ausgeglichen. Diese Kompensationsmechanismen erzeugen eine Nystagmusbereitschaft nach einer Seite, die von Ohrenärzten als »zentrale Tonusdifferenz« bezeichnet wird, weil in diesem Stadium die kalorische Erregbarkeit der Labyrinthe normal ist. Blickrichtungsnystagmus Der Blickrichtungsnystagmus (BRN) tritt erst bei Abweichung der Augen von der Mittellinie auf. Seine rasche Phase schlägt stets in die jeweilige Blickrichtung. Er ist, wenn überhaupt, nur von leichtem, unsystematischem Schwindel begleitet. Der BRN ist nicht in jedem Falle pathologisch. Bei etwa 60% aller Menschen tritt sie als seitengleicher, erschöpflicher Endstellnystagmus auf, wenn die Bulbi länger als 30 s in extremer Seitwärtsstellung gehalten werden. Ist er unerschöpflich, seitendifferent oder schlägt er bereits im Beginn der Blickbewegung, zeigt er eine läsionelle oder toxische Funktionsstörung in der Formatio reticularis des Hirnstamms an. Die häufigsten Ursachen sind multiple Sklerose, Medikamentenintoxikationen und ein Tumor in der hinteren Schädelgrube.

stören. Auch der M. stapedius soll in manchen Fällen mitbeteiligt sein. Adversivanfälle (7 Kap. 14), ausgelöst im frontalen Augenfeld, viel seltener okzipital, die nur auf die Augen beschränkt sind, sind kein Nystagmus im engeren Sinne. Sie können aber phänomenologisch verwechselt werden (»epileptischer Nystagmus«). Sie sind nach der Klassifikation der Epilepsien (7 Kap. 14) fokale epileptische Anfälle mit okulomotorischer Symptomatik. Der pathologische Teil der Bewegung ist die paroxysmale, manchmal schnelle und ruckartige synchrone Bewegung beider Bulbi aus der Primärposition. Diese wird danach durch eine langsame Rückbewegung ausgeglichen, bis die nächste epileptische Auslenkung erfolgt. Die Frequenz ist meist deutlich langsamer als beim vestibulären, richtungsbestimmten Nystagmus. Beim ocular bobbing bewegen sich die Augen rasch und ruckartig abwärts (to bob, auf- und abbewegen), bleiben in dieser exzentrischen Position bis zu 10 s und gleiten danach langsam zur Mittelstellung zurück. Es tritt oft zusammen mit horizontaler Blickparese auf. Man findet es bei schweren Schädigungen der Brücke und des pontomedullären Übergangs, meist bei Ponsblutungen, Tumoren, ausgedehnten Infarkten (Basilaristhrombose), bei Kompression der Brücke durch raumfordernde Prozesse, besonders Kleinhirnblutungen, und auch bei der zentralen pontinen Myelinolyse (7 Kap. 28). Entsprechend zeigt es eine sehr schlechte Prognose an.

Dissoziierter Nystagmus Dieser schlägt beim Blick zur Seite jeweils auf dem abduzierten Auge stärker als auf dem adduzierten und beruht auf einer Funktionsstörung im hinteren Längsbündel des Hirnstamms. Blickparetischer Nystagmus Wenn bei einer inkompletten Blickparese oder einer partiellen Augenmuskellähmung der Patient die Bulbi in Richtung der Lähmung zu führen sucht, weichen sie immer wieder langsam zur Mittellinie zurück und werden durch den Bewegungsimpuls in raschen Phasen erneut von der Mittellinie weggeführt. Dieser Nystagmus ist meist grobschlägig und langsam. 1.3.6 Pupillomotorik und Akkommodation Pupillenweite und -reaktion Die Pupillen sind normalerweise bei mittlerer Beleuchtung etwa seitengleich, mittelweit und rund. Eine doppelseitige leichte Erweiterung wird bei allen Formen des gesteigerten Sympathikotonus beobachtet. Im Alter sind die Pupillen durch Rigidität der Iris enger. Seitendifferenzen im Durchmesser der Pupillen werden als

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Anisokorie bezeichnet. Sie ist nicht immer pathologisch, sondern kommt auch bei Gesunden vor. Untersuchung. Die Pupillen sollen sich auf Lichteinfall und während einer Konvergenzbewegung mit Naheinstellung (Synergie zwischen den beiden parasympathisch innervierten Muskeln M. sphincter pupillae und M. ciliaris) prompt und ausgiebig verengen. Man prüft 4 die direkte Lichtreaktion jeder Pupille durch plötzliche Belichtung mit einer von seitwärts angenäherten Taschenlampe (. Abb. 1.15), 4 die konsensuelle Lichtreaktion bei Belichtung der gegenseitigen Pupille, 4 die Verengung beider Pupillen bei Konvergenzbewegung: Der Patient soll den Zeigefinger des Untersuchers fixieren, der sich in der Mittellinie des Kopfes aus etwa 1 m Abstand rasch auf etwa 10 cm nähert. Dabei muss es auch zur Naheinstellung der Linse (Akkommodation) kommen.

Einseitige Erweiterung (Mydriasis) kann folgende Ursachen haben: 4 Lähmung der parasympathischen Innervation des M. sphincter pupillae (N. oculomotorius), dabei ist die Pupille nicht maximal erweitert; 4 Reizung der sympathischen Fasern für den M. dilatator pupillae, hierbei maximale Erweiterung, auch Lichtstarre (Ursache: einseitige Anwendung von Mydriatika); 4 Einklemmung bei hemisphärischer Raumforderung (7 Kap. 2); 4 krankhafte Veränderung im Ganglion ciliare, z.B. bei Pupillotonie. Verengung der Pupille (Miosis) findet sich ein- oder doppelseitig bei: 4 Sympathikuslähmung (Horner-Syndrom), 4 Pilocarpin-Therapie des Glaukoms,

4 Drogen (Opiate, Heroin) und Einwirkung anderer Medikamente (7 Kap. 30), 4 Iritis, 4 Robertson-Phänomen bei Lues des Nervensystems (7 Kap. 18)

Entrundung der Pupillen zeigt eine krankhafte Veränderung an der Iris oder eine rostrale Mittelhirnläsion an. Sie beruht dann auf einer unterschiedlichen Innervation der einzelnen Sektoren des M. sphincter pupillae durch die autonomen Fasern des III. Hirnnerven. Syndrome mit Störung des Pupillenreflexes Amaurotische Pupillenstarre. Die pupillosensorischen Fasern in einem Sehnerven sind unterbrochen: Belichtung des amaurotischen Auges (griech. amaurein, verdunkeln) löst weder die direkte (gleichseitige) noch die konsensuelle (gegenseitige) Lichtreaktion aus. Dagegen ist die konsensuelle Verengung der Pupille auf dem amaurotischen Auge durch Belichtung des gesunden Auges auslösbar, da der zentrale Anteil, die Faserkreuzung und der efferente Schenkel des Reflexbogens intakt sind. Auch die Konvergenzreaktion bleibt erhalten. Die amaurotische Pupille ist bei gleichmäßiger Beleuchtung nicht weiter als die gesunde, weil die konsensuelle Lichtreaktion eine Mittelstellung der Pupille herbeiführt. Bei bilateralen Läsionen ist der Patient blind, und direkte und konsensuelle Pupillenreflexe sind erloschen. Absolute Pupillenstarre. Die parasympathische Efferenz zu einem Auge ist gestört. Die ipsilaterale Pupille reagiert weder direkt noch indirekt auf Lichteinfall oder bei Konvergenz. Dagegen ist der konsensuelle Reflex auf dem anderen Auge erhalten. Mögliche Ursachen: traumatische Schädigung des Auges, innere oder gemischte Okulomotoriuslähmung oder eine Mittelhirnläsion, die den efferenten Schenkel des Reflexbogens unterbricht. Eine beidseitige absolute Starre der weiten Pupillen kommt auch toxisch zustande, durch Parasympathikuslähmung (BelladonnaAlkaloide, 7 Kap. 30, Botulismus, 7 Kap. 32) oder Sympathikusreizung (Kokain und Weckamine). Reflektorische Pupillenstarre. Direkte und konsensuelle Lichtre-

. Abb. 1.15. Direkter Pupillenreflex bei Beleuchtung des linken Auges. Die konsensuelle Antwort der rechten Pupille kann durch die Belichtungsverhältnisse nicht erkannt werden

aktion sind, meist auf beiden Augen, erloschen. Im frühen Stadium sind sie zunächst unergiebig und träge. Die Konvergenzreaktion ist intakt, oft sogar besonders ausgiebig. Häufig sind die Pupillen anisokor und entrundet. Die Ursache ist eine Unterbrechung des pupillomotorischen Reflexbogens zwischen der prätektalen Region und dem Westphal-Edinger-Kern, vergleichbar der Unterbrechung des Muskeleigenreflexes bei der Tabes dorsalis. Eine solche Läsion würde verständlich machen, dass die Konvergenzreaktion, die auf anderen Bahnen verläuft, nicht gestört ist. Die Entrundung der Pupillen, die oft mit Atrophie der Iris verbunden ist, wird auf eine unterschiedlich schwere Störung in der Innervation der einzelnen Segmente des M. sphincter pupillae zurückgeführt.

23 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

Exkurs Anatomie der Pupilleninnervation (. Abb. 1.16) Die Pupille wird vom vegetativen Nervensystem innerviert. Die parasympathische Innervation erfolgt über den N. oculomotorius, dessen präganglionäre vegetative Fasern im Ggl. ciliare auf die postganglionären umschalten. Diese innervieren den M. sphincter pupillae und den M. ciliaris. Überwiegen des Parasympathikotonus führt zur Pupillenverengung (Miosis). Die sympathische Innervation ist komplizierter: Der Sympathikus innerviert den M. dilatator pupillae. Überwiegen des Sympathikotonus dilatiert die Pupille (Mydriasis), sein Ausfall führt zur Miosis. Die zentrale Sympathikusbahn erstreckt sich vom Hypothalamus über den Hirnstamm bis zum sympathischen Centrum ciliospinale (Segmente C8–Th2) im Rückenmark. Dort wird auf die präganglionären cholinergen Fasern des R. communicans albus umgeschaltet, der bis zum Grenzstrang reicht. Im Grenzstrang erfolgt die Umschaltung auf die postganglionären adrenergen Fasern, die mit der A. carotis interna nach intrakraniell laufen, durch das Ggl. ciliare ziehen, ohne dort umzuschalten, und schließlich ihre Zielmuskeln, den M. dilatator pupillae und den M. tarsalis, einen vegetativ innervierten Lidheber (Lähmung führt zur Ptose), innervieren. Pupillenreflex. Der Reflexbogen für den Lichtreflex der Pupillen nimmt folgenden Verlauf: Nach Beleuchten eines Auges werden die Impulse von der Retina auf den N. opticus geleitet. Dort verlaufen außer den Fasern, die visuelle Informationen vermitteln, spezielle pupillosensorische Fasern, die im Chiasma zur Hälfte auf die andere Seite kreuzen. Sie ziehen dann mit beiden Tr. optici weiter, zweigen aber vor dem Corpus geniculatum laterale zur prätektalen Region des Mittelhirns ab. Nach synaptischer Umschaltung ziehen sie zu beiden parasympathi-

Robertson-Pupille. (Syn: Argyll-Robertson Pupille; semantisch

nicht sinnvoll, da Argyll der Vorname von Dr. Robertson war und Vornamen üblicherweise nicht eponym verwendet werden). Sie ist charakterisiert durch reflektorische Pupillenstarre mit Miosis. Sie ist für die Neurolues pathognomonisch. Die Ursache der Miosis ist nicht bekannt. Manche Autoren führen sie auf eine Läsion sympathischer Fasern zurück. Die Robertson-Pupille erweitert sich nur unvollständig und verzögert auf Mydriatika und verengt sich auch auf Miotika nur langsam. Sie reagiert nicht auf 0,5%ige Carbachol-Lösung, da – im Gegensatz zur Pupillotonie (s.u.) – keine Denervierungsüberempfindlichkeit des M. sphincter pupillae vorliegt (. Tabelle 1.4). Pupillenstörung bei erhöhtem Hirndruck. Pupillenstörungen sind frühe Zeichen einer drohenden Einklemmung (7 Kap. 11 und . Tabelle 1.5) bei raumfordernden hemisphärischen Läsionen. Wenn die raumfordernde Läsion in einer Hemisphäre liegt, kommt es zunächst zur Verzögerung und Verlangsamung, später zum Verlust des Reflexes und zur Erweiterung der ipsilateralen

schen Westphal-Edinger-Kernen des Okulomotorius. Über die nichtgekreuzten Fasern kommt der direkte Reflex der belichteten, über die gekreuzten Anteile der konsensuelle Reflex der nichtbelichteten Pupille zustande. Vom Westphal-Edinger-Kern verläuft ein weiteres Neuron beiderseits zum parasympathischen Ganglion ciliare, das hinter dem Augapfel zwischen M. rectus lateralis und Sehnerv im Fettgewebe der Orbita liegt. Die postganglionären Fasern innervieren als kurze Ziliarnerven den M. sphincter pupillae der Iris, der aus 70–80 Segmenten besteht, die einzeln durch Endaufzweigungen des Nerven versorgt werden. Konvergenzreaktion der Pupillen. Diese kommt nicht reflektorisch zustande, sondern ist Teil einer Synergie, die den optischen Apparat auf scharfes Nahsehen einstellt. Die Verengung der Pupille wird unter physiologischen Verhältnissen durch den Impuls zur Konvergenz ausgelöst. Dieser zentripetale Impuls aktiviert ein »Konvergenzzentrum« im Mittelhirn, zu dem der kleinzellige Medialkern (Perlia) des Okulomotorius gehört. Von diesem aus wird folgende Synergie gesteuert: Innervation der beiden Mm. rectus medialis konvergiert die Bulbi, Innervation beider Mm. sphincter pupillae verkleinert die Blende des optischen Apparats, wodurch das Bild schärfer wird; Innervation der Mm. ciliares lässt die Linsen erschlaffen, was ihre optische Brechkraft erhöht. Die Fasern für die parasympathische Innervation der Mm. ciliares entstammen vermutlich ebenfalls dem WestphalEdinger-Kern und schalten, wie die pupillomotorischen Fasern, im Ganglion ciliare synaptisch um. Auf der Grundlage dieser Modellvorstellung lassen sich die wichtigsten Störungen der Pupillenreaktionen leicht verstehen.

Pupille (. Abb. 1.17), bedingt durch Zug und Dehnung des N. oculomotorius über den Klivus. Die Dehnung entsteht dadurch, dass der Hirnstamm horizontal zur Gegenseite verschoben wird. Erst danach kommt es auch zur Erweiterung der kontralateralen Pupille durch direkte Kompression des kontralateralen peripheren N. oculomotorius, später auch durch Druckschädigung der okulomotorischen Kerngebiete. Pupillotonie. Die Klinik der Pupillotonie und des AdieSyndroms sind in Kap. 18 besprochen. Die Pupillotonie beginnt fast immer einseitig, später wird auch das zweite Auge ergriffen. Die befallene Pupille ist etwas weiter als normal, aber nicht stark mydriatisch. Sie reagiert so träge, »tonisch«, dass man erst nach längerem Aufenthalt in der Dunkelkammer eine Erweiterung und nach langer Dauerbelichtung eine Verengung feststellen kann. Die Naheinstellungsreaktion ist ebenfalls tonisch verzögert, aber dann ausgiebig. Allerdings ist die Untersuchung unangenehm, da schon das Beibehalten der Konvergenz über mehrere Sekunden Kopfschmerzen auslöst. Auch die

1

24

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

1 1

Ganglion ciliare

2

W. - E. - Kern III 2 Corpus genic. lat. . Abb. 1.17. Maximal weite, nicht auf Licht reagierende linke Pupille bei mittelweiter, noch auf Licht reagierender rechter Pupille. Ursache: große, intrazerebrale raumfordernde Massenblutung in der linken Hemisphäre

3

großzelliger Lateralkern III kleinzelliger Medialkern III . Abb. 1.16. Bahnen für Pupillenreaktionen und Akkommodation. Die sympathische Pupilleninnervation und die Bahnen, auf denen der kleinzellige Medialkern III Impulse vom Frontalhirn und Okzipitalhirn erhält, sind nicht dargestellt. Die somatotopische Gliederung im großzelligen Lateralkern III ist nur angedeutet. Läsion in 1 amaurotische Pupillenstarre; Läsion in 2 absolute Pupillenstarre; Läsion in 3 reflektorische Pupillenstarre

Akkommodation ist oft erschwert und verzögert (Akkomodotonie). Die Unterscheidung von der absoluten Pupillenstarre ist durch eine pharmakologische Prüfung leicht möglich: Bei Pupillotonie führt Einträufeln der cholinergischen Substanz Carbachol (0,5%) in den Bindehautsack zur maximalen Verengung, Atropin zur Erweiterung der Pupille. Beim Gesunden bleibt Carbachol in dieser Konzentration ohne Wirkung (. Abb. 1.18). Mydriatika,

. Tabelle 1.4. Differenzierung der drei wichtigsten Pupillenstörungen

Robertson-Pupille

Tonische Pupille

Paralytische Pupille (HN III)

Miotisch, gewöhnlich doppelseitig

Gewöhnlich mäßige Mydriasis, zunächst einseitig

Mydriatisch, oft einseitig

Keine direkte oder konsensuelle Reaktion auf Lichteinfall, prompte Verengung bei Konvergenz

Sehr verzögerte Reaktion auf Licht, die auch fehlen kann, verzögerte Reaktion bei Konvergenz

Keine Reaktion auf Lichteinfall oder Konvergenz

Keine Erweiterung im Dunkeln

Verzögerte Erweiterung im Dunkeln

Keine Erweiterung im Dunkeln

Unvollständige Erweiterung auf Atropin, Kokain und Adrenalin, Carbachol 0,5% ohne Wirkung

Prompte Erweiterung auf Mydriatika, prompte Verengerung auf Miotika. Verengung schon auf 0,5% Carbachol infolge Denervierungsüberempfindlichkeit

Prompte Verengung auf Miotika, Reaktion auf Carbachol variabel

. Tabelle 1.5. Pupillenstörungen bei Bewusstseinstrübung

Ort der Läsion

Art der Pupillenstörung

Ursache

Bilaterale dienzephale Läsion

Meist enge Pupillen mit erhaltener Lichtreaktion

Relative Minderung des Sympathikotonus

Einklemmung bei globalem Hirnödem

Bilateral weite, areaktive Pupil!len

Bilaterale N.-III-Läsion

Einklemmung bei unilateraler raumfordernder hemisphärischer Läsion

Zuerst Mydriasis ipsilateral, später auch kontralateral

Ipsilaterale N.-III-Dehnung, später kontralateraler Druck

Primäre mesenzephale Läsion

Bilateral weite areaktive Pupillen

Bilaterale N.-III-Kern-Läsion

Primäre pontine Schädigung

Bilateral enge, reaktive Pupillen

Läsion zentraler Sympathikus

Hirntod

Mittelweite, areaktive Pupillen

25 1.3 · Einschub: Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion

. Abb. 1.18a,b. Pupillotonie. a Mittelgradige Erweiterung der rechten Pupille, b Eine Stunde nach Applikation von Carbachol deutliche Miosis. (A. Ferbert, Kassel)

wie Kokainhydrochlorid (2–4%), Atropin (1–3%) und Adrenalin (1:1000) dilatieren die Pupille prompt. Zur raschen Orientierung ist das Verhalten der Robertson-Pupille, der tonischen und der paralytischen Pupille in . Tabelle 1.4 zusammengestellt. Horner-Syndrom 3Symptomatik. Das Horner-Syndrom ist durch Verengung

der Pupille (Miosis) und Verengung der Lidspalte (Ptosis) gekennzeichnet. Die Pupillenreaktionen sind erhalten, die Dunkelerweiterung auf der betroffenen Seite jedoch verzögert. Entgegen der ursprünglichen Definition gehört der Enophthalmus nicht zum Horner-Syndrom. Das Horner-Syndrom beruht auf einer Funktionsstörung in der sympathischen Innervation der Pupille und des symphatisch innervierten Lidhebers (M. tarsalis superior, . Abb. 1.19). Je nach Lokalisation der ursächlichen Läsion kann eine Schweißstörung hinzutreten. Man unterscheidet ein zentrales, ein präganglionäres und ein postganglionäres Horner-Syndrom: 4 Das zentrale Horner-Syndrom kommt durch Schädigung der zentralen sympathischen Bahnen auf ihrem Verlauf vom Hypothalamus durch Mittelhirn, Formatio reticularis pontis und Medulla oblongata bis zum Centrum ciliospinale im Seitenhorn des Rückenmarks auf der Höhe C8 bis Th2 zustande. Ein zentrales Horner-Syndrom ist immer von gleichseitiger Schweißstörung an Kopf, Hals und oberem Rumpf begleitet. 4 Das präganglionäre Horner-Syndrom entsteht bei Läsion der Fasern zwischen Centrum ciliospinale des Rückenmarks und Ggl. cervicale superius des Grenzstrangs. Wurzelläsionen C8 bis Th2 proximal vom Ggl. stellatum des Grenzstrangs führen zum Horner-Syndrom ohne Anhidrose, weil die sudorisekretorischen Fasern das Rückenmark erst ab Th3 verlassen. 4 Das postganglionäre Horner-Syndrom beruht auf einer Läsion des Ggl. cervicale superius oder der postganglionären sym-

. Abb. 1.19. Horner-Syndrom rechts. Verengung der rechten Pupille und Ptose. Ursache: Karotisdissektion.

pathischen Fasern. Dabei besteht ebenfalls eine ipsilaterale Schweißstörung im Gesicht und am Hals. 3Diagnostik. Pharmakologische Tests (. Tabelle 1.6) können

eine aufwendige Diagnostik mit bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren ersparen. Die Differenzierung zwischen physiologischer Anisokorie und Horner-Syndrom erfolgt im Kokain-Test: Die physiologische Anisokorie hat keine Lidzeichen (s.o.) und bleibt nach Kokain gleich. Eine Zuordnung des Lokalisationsortes bei Horner-Syndrom ist mit Kokain nicht möglich. Die Differenzierung zwischen dem zentralen oder präganglionären und dem postganglionären Horner-Syndrom kann mit Tyraminoder Hydroxyamphetamin-Augentropfen getroffen werden. Bei postganglionärer Läsion wird kein Noradrenalin freigesetzt. Daher bleibt die Mydriasis nach Einträufeln indirekter Sympathomimetika in den Bindehautsack aus.

. Tabelle 1.6. Pharmakologische Prüfung bei Horner-Syndrom (nach Alexandridis, Heidelberg)

Normal

Horner, zentral oder präganglionär

Horner postganglionär

Kokain

Mydriasis (ca. 2 mm)

Keine Mydriasis ( Für eine Halsmarkläsion ist die hohe Querschnittslähmung mit Tetraparese (Lähmung der Arme und der Beine) charakteristisch. Je nach der Lokalisation im Querschnitt (zentrale Lähmung) kann allerdings auch nur eine zentrale Beinlähmung bestehen.

Brustmarkläsion Charakteristisch ist die zentrale Paraparese der Beine, während die Arme nicht gelähmt sind. In leichteren Fällen sind nur die Eigenreflexe der Beine gegenüber denen an den Armen gesteigert. Je nach dem Sitz des Prozesses im oberen, mittleren oder unteren Brustmark werden auch die Thorax-, Rücken- und Bauchmuskeln gelähmt. Dies ist daran zu erkennen, dass die thorakalen Atmungsexkursionen und der Hustenstoß schwach sind und die Bauchdecken seitlich ausladen. Wenn auch der M. iliopsoas betroffen ist, kann der Patient sich nicht mehr aus dem Liepunktiert Endigungen:

Tractus corticospinalis (präzentral)

laterale Hirnstamm- ventromediale Hirnstammbahnen bahnen

distal

Flexoren Extensoren Schultergürtelmuskeln Stammuskeln

proximal

1

74

1

Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

gen aufrichten. Bei Läsion in den Segmenten Th7–Th12 sind oft die Bauchhautreflexe in der oberen Etage noch auslösbar, während sie in der mittleren und unteren oder in der unteren allein fehlen. Die Sensibilitätsstörung hat eine strumpfhosenförmige Anordnung. > Für Brustmarkläsionen ist die zentrale Paraparese (Lähmung der Beine) charakteristisch.

Lumbalmark-, Kauda- und Konusläsion Schwere Schädigungen des Rückenmarks unterhalb von LWK1 führen zu einer peripheren Lähmung der Beine. Zentrale Paraparesen zeigen fast immer Brustmarkläsionen an. Die Unterscheidung zwischen einer Schädigung der unteren Cauda equina und des Conus medullaris sowie die exakte Höhenlokalisation können sehr schwierig sein, da die Kaudafasern dicht gebündelt entlang dem Konus verlaufen und beide Strukturen häufig zusammen lädiert werden. Kaudasyndrom Das vollständige Kaudasyndrom ist durch folgende Symptomkombination charakterisiert: 4 periphere Lähmung beider Beine, die etwas asymmetrisch sein kann,

4 »reithosenartige« Gefühlsstörung für alle Qualitäten in den Lumbal- und Sakralsegmenten mit Schmerzen in diesem Bereich, 4 Unmöglichkeit der spontanen Blasen- und Mastdarmentleerung sowie 4 Impotentia coeundi. Die Höhendiagnose wird durch MRT, CT und/oder Myelographie gestellt. Läsion des Conus medullaris Bei den sehr seltenen isolierten Läsionen des Conus medullaris kommt es zu einem sehr charakteristischen Syndrom. Da die sakralen Regulationsstellen für die Blasen- und Darmentleerung unterbrochen sind, bestehen Stuhl- und Urininkontinenz. Der Analreflex fehlt immer. Der M. sphincter ani klafft und kontrahiert sich nicht reflektorisch bei der rektalen Untersuchung. Lähmungen und Reflexstörungen an den Beinen sind bei Lokalisation der Schädigung unterhalb von S2 nicht zu erwarten. Die Sensibilität ist in den perianalen Segmenten S3–5 beeinträchtigt.

In Kürze Inspektion des Körpers und Untersuchung des Kopfes Kerndaten der Anamnese. Beginn, Dauer, Schweregrad der Symptome, Tageszeit, Auslöser. Untersuchung. Hyperkinesien, Asymmetrien im Körperbau, Muskelatrophien, Kopfschmerzen, Bewegungseinschränkungen, psychogene Symptome, Druckschmerz der Nervenaustrittspunkte.

Untersuchung auf Störungen der 12 Hirnnerven N. olfactorius (N. I). Symptome: Ein- oder doppelseitige Anosmie als erstes oder einziges Symptom eines frontobasalen Hirntumors. Untersuchung: Geruchsproben. N. opticus (N. II). Symptome: Visus- oder Gesichtsfeldausfälle. Untersuchung: Fingerzählen, Lesen, Wahrnehmung des Lichtes; Spiegelung des Augenhintergrundes. N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI). Symptome: Nach außen gerichteter Bulbus, herabhängendes Augenlid (N. III); schräg stehende Doppelbilder, Kopfneigung zur gesunden Seite (N. IV); Augenabweichen nach 6

innen, horizontal nebeneinanderstehende, gerade Doppelbilder (N. VI). Untersuchung: U.a. Verfolgen des Zeigefingers mit Blicken. N. trigeminus (N. V). Symptome: Ein- oder doppelseitige Kaumuskulaturlähmung. Untersuchung: Anspannen der Kiefermuskulatur, Reizung des Masseterreflexes, Initiieren des Kornealreflexes. N. facialis (N. VII). Symptome: Unterschiedliche Lidspaltenweite, Asymmetrien der Stirnfurchung und Nasolabialfalten, Schiefstehen des Mundes. Untersuchung: Stirnrunzeln, Zukneifen der Augen, Naserümpfen, Herausstrecken der Zunge, Lippenspitzen. N. statoacusticus (N. VIII). Symptome: Hörminderung, Ohrgeräusche, systematischer Schwindel mit Übelkeit, Otitis media, Trommelfelldefekte. Untersuchung: Spiegeluntersuchung, binaurale oder monaurale Prüfung des Hörvermögens für Umgangsund Flüstersprache. N. glossopharyngeus (N. IX). Symptome: Fehlen des Gaumensegel- und Würgereflexes. Untersuchung: Berührungsempfindung am Gaumen und Rachen mit Tupfer oder Spatel. N. vagus (N. X). Symptome: Ein- oder doppelseitiges Hängen des Gaumensegels, fehlender oder mangelhafter Rachenreflex.

75 1.13 · Störungen der Herzkreislaufregulation und der Atmung

Untersuchung: Willkürliches Schlucke, Beobachten des Kehlkopfes. Röntgendurchleuchtung mit Breischluck,Video-Schluckuntersuchung. N. accessorius (N. XI). Symptome: Atrophie des M. sternocleidomastoideus, Absinken der Schulter nach vorn. Untersuchung: Kopf- oder Nackensenken gegen Widerstand. N. hypoglossus (N. XII). Symptome: Periphere Lähmung, faszikuläre Zuckungen der Zunge. Untersuchung: Herausstrecken, rasches Hin- und Herbewegen der Zunge.

Funktionen der Augenmuskelnerven N. III, N. IV und N. VI Blickmotorik. Symptome: u.a. Internukleäre Ophthalmoplegie (INO): ein- oder doppelseitige Läsion des medialen Längsbündels; horizontale Blickparese: kortikale, subkortikale oder pontine Läsion; Eineinhalb-Syndrom: Lähmung parapontiner retikulärer Formation; vertikale Blickparese: bilaterale Läsion in Mittelhirnhaube. Untersuchung: Abwechselndes Fixieren des Zeigefingers bei Festhalten des Kopfes zur Interferenzvermeidung zwischen Augen- und Kopfbewegung. Nystagmus. Symptome: Sehstörungen, unscharfe Wahrnehmung von sich scheinbar oszillierend bewegenden, jedoch stillstehenden Objekten. Untersuchung: u.a. Augenspiegeln, Beobachtung auf Spontannystagmus bei offenen Augen, Lagerungsnystagmus nach raschem Hinlegen oder Aufrichten, Blickrichtungsnystagmus bei spontaner Blickbewegung. Formen: Physiologischer Nystagmus: Fixation bleibt trotz Veränderungen der Körperlage oder Objektbewegung bestehen. Pathologischer Nystagmus: Angeborener N. mit kontinuierlicher Bewegungsunruhe; akuter, vestibulärer, richtungsbestimmter N. mit Schwindel, Übelkeit, Ohrensausen, Hörminderung; Blickrichtungs-N. mit unsystematischem Schwindel. Pupillomotorik. Symptome: Amaurotische Pupillenstarre ohne Lichtreaktion; absolute P. ohne direkte oder indirekte Reaktion auf Lichteinfall; reflektorische P. ohne direkte und konsensuelle Lichtreaktion. Untersuchung: Direkte Lichtreaktion durch plötzliche Belichtung, konsensuelle durch Belichtung der gegenseitigen Pupille, Pupillenverengung bei Konvergenzbewegung.

Trizepssehnen-, Pronator-, Knips-, Fingerflexorenreflex; Bauchdeckenreflex; Beineigenreflex wie Partellasehenreflex. Fremdreflexe. Muskelzuckung, durch Stimulation taktiler Rezeptoren in der Haut ausgelöst, Ermüden durch Habituation. Formen: Keine diagnostisch zuverlässigen Fremdreflexe an oberer Extremität Bauchhaut-, Cremaster-, Analreflex, pathologische Reflexe der unteren Extremität (BabinskiGruppe)

Untersuchung auf motorische Störungen Lähmungen. Ausfall in der Steuerung der Bewegungen. Periphere Lähmung: Durch Läsion im peripheren motorischen Neuron oder im Muskel selbst. Symptome: Parese oder Paralyse, atrophisch werdende Muskelfasern, Hypotonie, abgeschwächte oder erloschene Eigenreflexe, keine pathologischen Reflexe. Zentrale Lähmung: Betroffen sind ganze Muskelgruppen. Symptome: Beeinträchtigung der Feinmotorik, Massenbewegungen, keine Atrophie, spastische Tonuserhöhung, Reflexsteigerung, Kloni, pathologische Reflexe.

Basalganglien-Syndrome Parkinson-Syndrom. Hypokinese, Hypomimie, kleinschrittiger schlurfender Gang, Rigor, »Zahnradphänomen«, Tremor. Choreatisches Syndrom. Hyperkinesen mit raschen, flüchtigen Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen mit ausgeprägtem Bewegungseffekt. Ballismus. Unwillkürliche Bewegungen meist im Schulter- und Beckengürtel. Dystonien. Kontraktionswellen im Gesicht, Drehbewegung von Rumpf und proximalen Extremitätenabschnitten bei generalisierter Dystonie. Blepharospasmus, laryngeale oder spasmodische Dysphonie (angestrengtes Sprechen, Versiegen der Phonation), oromandibuläre Dystonie (tonische Hyperkinesen von Kiefer, Zunge und Mimik des Untergesichts), segmentale zervikale Dystonie (Drehung des Kopfes in unregelmäßiger Folge) bei fokaler Dystonie.

Reflexuntersuchungen

Athetose. Unwillkürliche Hyperkinesen distaler Extremitätenabschnitte und des Gesichts, mangelhafte Artikulation, fehlende Koordination der Sprech- und Atemmuskeln.

Eigenreflexe. Muskelzuckung, durch Muskeldehnung mit Aktivierung der Muskelspindeln ausgelöst, kein Ermüden bei Wiederholung. Formen: Armeigenreflexe wie Bizeps- und 6

Tremor. Symptome: Unwillkürliche, rhythmische, periodische Kontraktion eines Körperteils.

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76

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Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Myoklonien. Symptome: Blitzartige Kontraktionen von Muskeln, Muskelfasern oder -gruppen oder des ganzen Körpers mit oder ohne Bewegungseffekt.

Untersuchung auf Störungen in der Bewegungskoordination Informationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichteten Bewegungen (Fein-, Ziel- und Rumpfmotorik) gelangen nicht mehr ins Gehirn, dadurch nicht mehr steuerbar. Symptome: Zerebelläre Ataxie, Dysmetrie, Zieltremor, skandierendes Sprechen, Dysdiadochokinese, reduzierter Muskeltonus, okulomotorische Symptome. Untersuchung: u.a. Versuch zur Feinbeweglichkeit, Finger-Nase-, Finger-Finger-, Knie-Hacken-, Imitationsversuch.

Untersuchung auf Störungen der Sensibilität Dient der Wahrnehmung von Sinnesreizen und Regulierung der Motorik. Symptome: Neuralgie, Parästhesien, Dysästhesie, Hyperpathie, Kausalgie, Stumpf-, Phantomschmerz bei Amputationen. Untersuchung: Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindung, Lokalisationsvermögen.

Untersuchung auf vegetative Fehlfunktionen Symptome: Störungen der Blasenentleerung, Herzkreislaufregulation, Atmung, Schweißsekretion, Sexualfunktion.

Untersuchung auf Rückenmarksyndrome Querschnittslähmung. Doppelseitige zentrale Lähmung mit Sensibilitätsstörung für alle Qualitäten und vegetativen Störungen. Brown-Séquard-Syndrom. Symptome: Halbseitige Rückenmarkschädigung mit Herabsetzung der dissoziierter Sensibilitätsstörung und zentraler halbseitiger Parese. Zentrale Rückenmarkschädigung. Periphere Lähmung in Höhe der Läsion, in der Folge zentrale Lähmung unterhalb der Läsion. Höhenlokalisation einer Rückenmarkschädigung. Halsmarkläsion; Brustmarkläsion, Lumbalmark-, Kaudo- und Konusläsion; Kaudasyndrom, Läsion des Conus medullaris.

2 2 Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten 2.1

Einteilung der Bewusstseinsstörungen – 78

2.1.1 2.1.2

Quantitative Bewusstseinsstörung – 78 Störungen der Bewusstheit – 79

2.2

Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit – 82

2.2.1

Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit – 82

2.3

Dezerebrationssyndrome – 84

2.3.1 2.3.2

Apallisches Syndrom (persistierender vegetativer Zustand) – 85 Andere schwere Hirnstammsyndrome ohne Verlust der Wachheit – 85

2.4

Untersuchung des bewusstlosen Patienten – 86

2.4.1 2.4.2 2.4.3

Neurologische Notfalluntersuchung – 86 Anamnese und Inspektion – 86 Praktischer Ablauf der Untersuchung eines Bewusstlosen – 89

2.5

Notfallbehandlung

2.6

Weiterführende Diagnostik – 90

2.7

Dissoziierter Hirntod

– 89

– 90

78

2

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

> > Einleitung

2.1

Der Begriff »Bewusstlosigkeit« wird oft falsch benutzt und viele Ärzte sind sich über die Definitionen der verschiedenen Arten der Bewusstseinstörungen nicht im Klaren. Dies soll im vorliegenden Kapitel besprochen werden. In Fernsehen und Presse werden medizinische Begriffe ausufernd und nur ganz selten einigermaßen adäquat benutzt. Ein Beispiel hierfür ist das »künstliche Koma«. Es gibt keinen Bericht mehr über einen mehr oder weniger schwer verletzten Patienten, der auf eine Intensivstation gebracht wurde und dann nicht ins künstliche Koma versetzt worden sein soll. Was versteht man eigentlich hierunter? Der ursprüngliche Begriff stammt aus einer Zeit, in der man tatsächlich versucht hat, Schwerverletzte, die noch bei Bewusstsein waren, in Narkose zu versetzen. Neben der Überlegung, den Patienten durch die Analgosedierung Schmerz und Stress zu nehmen, war hiermit auch die Hoffnung verbunden, dass mit bestimmten Maßnahmen ein Schutz des Gehirns oder der Kreislauffunktion erreicht werden könnte. Man versucht beispielsweise, diese Patienten in ein Barbituratkoma zu bringen oder in Hypothermie neuroprotektiv zu behandeln. Im Übrigen hat die Hypothermie tatsächlich eine nachweislich positive Wirkung auf Patienten, die nach kardiopulmonaler Reanimation bewusstlos sind! In Traumatologie und Intensivmedizin werden oft – schon bei mittelschweren Schädeltraumen – die Patienten intubiert, so dass sie, obwohl gar keine Bewusstlosigkeit vorlag, auf die Intensivstation gebracht werden müssen. Euphemistisch bezeichnete man diese medizinisch falsche Verhaltensweise dann als therapeutische Maßnahme. Im künstlichen Koma können Patienten Tage und Wochen gehalten werden, doch ist ein solches Vorgehen nicht immer harmlos: Komplikationen wie Infektionen, Druckgeschwüre, Organversagen, Kreislaufdysregulation oder Gerinnungsstörungen kommen häufig vor. Dennoch, künstliches Koma ist eine Art falscher »Qualitätsmarker« geworden. Richtig gut kann eine Intensivstation nicht sein, wenn man nicht Patienten im künstlichen Koma hat, und so wird jede Sedierung zur besseren Beatmung als solches bezeichnet. Künstliches Koma ist eine »Auszeichnung« geworden, ein Maß dafür, wie schwer denn eine Verletzung wohl gewesen mag, wenn die Behandlung ein künstliches Koma verlangte: Er war im künstlichen Koma, und schau an, was die Ärzte geleistet haben. Ich erinnere sehr gut den Fall eines recht bekannten Autorennfahrers, der nach einem schweren Crash, aber mit wenig schwerwiegenden Verletzungen noch auf der Piste intubiert und sediert und anschließend mit dem Hubschrauber in eine bekannte Universitätsklinik verbracht wurde, wo die Intensivärzte dann eine Woche lang mit den Komplikationen der offensichtlich schwer gefallenen Intubation zu kämpfen hatten. Auch dieser Patient blieb im »künstlichen Koma«, aber hier war es wegen der iatrogenen Schäden nicht zu vermeiden.

Qualitative Bewusstseinsstörungen sind Störungen des inhaltlichen Bewusstseins oder der Bewusstheit. Quantitative Bewusstseinsstörungen beschreiben Einschränkungen des Wachbewusstseins und der Reaktionsfähigkeit.

Einteilung der Bewusstseinsstörungen

2.1.1 Quantitative Bewusstseinsstörung Wir unterscheiden die Bewusstseinstrübung von der Bewusstlosigkeit. Entscheidend für die Klassifikation der Bewusstseinsstörung ist die beste Reaktionsmöglichkeit auf Außenreize. Diese Reize können akustisch, visuell und somatosensibel sein. Öffnet der Patient, auf welchen Reiz auch immer, die Augen, so ist er nicht komatös, sondern bewusstseinsgetrübt, auch wenn er dann nicht kooperativ ist bzw. nicht gezielt reagiert. Im Koma werden die Reaktionen auf Schmerzreize zum entscheidenden Untersuchungsbefund. Begriffe wie Somnolenz, Sopor, Koma, Verwirrtheit oder apallisches Syndrom werden vielerorts sehr unterschiedlich verstanden und benutzt. Dabei ist die Unterscheidung, ob ein Patient nur erheblich bewusstseinsgetrübt oder schon komatös ist, gerade für den Informationsaustausch zwischen den überweisenden Ärzten und den konsiliarisch zugezogenen Neurologen sehr wichtig, da sie wertvolle Informationen über den Verlauf der Krankheit nach der Erstuntersuchung beinhaltet. Bewusstseinstrübung Somnolenz. Der bewusstseinsgetrübte Patient ist zwar schläfrig oder kann in einem schlafähnlichen Zustand sein, auf Anrufen oder kräftiges Berühren öffnet er jedoch die Augen. Man kann kurzfristig Kontakt mit ihm aufnehmen, und wenn neurologische Herdsymptome dies nicht verhindern, kann der Patient einfache Aufforderungen befolgen. Er kann dann auch kurze Angaben zur Vorgeschichte machen. Häufig dämmert der Patient danach wieder ein und muss durch neue Außenreize wieder geweckt werden. Dieser Zustand wird Somnolenz genannt. Sopor. Wenn der Patient nur mit ganz erheblichen, schon schmerz-

haften Reizen kurz geweckt werden kann und dann immer wieder, auch bei Fortbestehen oder Wiederholung dieser Reize hinwegdämmert, so bezeichnet man diesen Zustand als Sopor. Im Sopor wird also immer wieder ein neues, höheres Reizniveau verlangt, um den Patienten noch zur Zuwendung oder Reaktion zu veranlassen. Der Begriff Sopor ist nur im deutschen Sprachraum verbreitet. Den Begriff Stupor, der im angelsächsischen Schrifttum diesen Grad der Bewusstseinsstörung bezeichnet, wollen wir wegen der Verwechslungsmöglichkeit mit dem psychiatrischen Stuporbegriff vermeiden.

2

79 2.1 · Einteilung der Bewusstseinsstörungen

. Tabelle 2.1. Klassifikation und Leitsymptome der Störungen des Wachbewusstseins (Mod. nach Hacke 1988) 1. Bewusstseinstrübung

2. Bewusstlosigkeit (Koma)

5 Schläfriger bis schlafähnlicher Zustand 5 Augen werden spontan oder auf Anruf und/

5 Patient ist nicht erweckbar, die Augen sind meist geschlossen 5 Reaktionsmöglichkeit auf Schmerzreize, Schutzreflexe, Tonus und Spontanatmung definieren die

oder leichte Schmerzreize geöffnet 5 Einfache Aufforderungen können befolgt werden (Somnolenz)

Komatiefe:

Leichtes Koma

Tiefes Koma

5 Tiefschlafähnlicher Zustand, der nur mit erheblichen Außenreizen, die zu kurzem Erwachen führen, unterbrochen werden kann (Sopor)

5 Koma I: auf Schmerzreize gezielte Abwehrbewegungen in nichtparetischen Extremitäten, keine Pupillenstörungen, Bulbi konjugiert, okulozephaler Reflex deutlich positiv 5 Koma II: auf Schmerzreize konstant ungezielte Abwehrbewegungen, Anisokorie möglich, Lichtreaktion erhalten

5 Koma III:

Bewusstlosigkeit (Koma) Im Koma ist der Patient nicht mehr erweckbar. Die Augen sind fast immer geschlossen. Die Tiefe des Komas wird durch 4 Variablen definiert: 1. die beste motorische Reaktion auf Anrufen oder Schmerzreize, 2. den Muskeltonus, 3. die Funktion von Hirnstammreflexen einschließlich der Okulomotorik und der Beurteilung von Pupillenform und Pupillenreaktion, 4. die Beurteilung der Spontanatmung. Das Koma wird in 4 Stadien eingeteilt. Die Komastadien I und II werden als leichtes, die Stadien III und IV als schweres Koma bezeichnet (. Tabelle 2.1).

auf Schmerzreize inkonstante, ungezielte Bewegungen, evtl. Streck- und Beugesynergien, erhöhter Muskeltonus, zephale Reflexe +/– erhalten, okulozephaler Reflex pathologisch, vestibulookuläre Reflexe pathologisch, Pupillen variabel, eher eng, Anisokorie möglich, Lichtreaktion +/– 5 Koma IV: keine Schmerzreaktion, evtl. seltenes spontanes Strecken, Pupillen weit und reaktionslos, zephale Reflexe fallen kraniokaudal aus

2.1.2 Störungen der Bewusstheit Patienten mit Störungen der Bewusstheit, des qualitativen Bewusstseins, sind nicht bewusstlos. Ihr Bewusstsein ist jedoch verändert. Daneben können Wahrnehmung, Reizverarbeitung und Orientierung gestört sein. Manchmal treten Störungen der Merkfähigkeit und des Antriebs hinzu. Verwirrtheit Der Begriff Verwirrtheit beschreibt eine akute, subakute oder chronisch-progredient auftretende Denkstörung, die von einer Bewusstheitsstörung begleitet sein kann. Die Patienten sind wach oder leicht erweckbar. Charakteristisch ist spontan oder reaktiv inadäquates Verhalten bei verschiedenen Gelegenheiten. Die Umgebung und die Personen, die sich mit dem Patienten be-

Glasgow-Koma-Skala (GSC). International hat sich die Glasgow-

Koma-Skala zur Klassifizierung der Tiefe einer Bewusstseinsstörung durchgesetzt. Sie wurde für die Beurteilung von Patienten mit Schädelhirntrauma entwickelt und wird in 15 Punkte unterteilt. Sie berücksichtigt Wachheit, Motorik und Sprache und ist auch für Komata anderer Ursache anwendbar. Auch wenn es methodische Mängel der Skala gibt (z.B. ist ein Mensch mit einem Skalenwert von 15 nicht komatös, ein Verletzter mit Wert 3 praktisch Hirntod und nicht mehr komatös, und die Sprache ist bei einem Intubierten schwer beurteilbar), ist der breite Einsatz der Skala empfehlenswert und auch Teil des Notarztprotokolls sowie verschiedener intensivmedizinischer Scores. Wir geben in . Tabelle 2.2 die Skala in der von der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizinmedizin) autorisierten Übersetzung wieder.

. Tabelle 2.2. Glasgow-Koma-Skala Augenöffnen

Motorische Reaktionen

Sprachliche Reaktion

Spontan

4

Befolgt Aufforderungen

6

Orientiert

5

Akustische Stimuli

3

Lokalisiert einen Stimulus

5

Verwirrt

4

Schmerzreize

2

Zieht die Extremitäten zurück

4

Einzelne Wörter 3

Fehlen

1

Flexionshaltung

3

Unartikulierte Laute

2

Extensionshaltung

2

Keine

1

Keine Bewegung

1

80

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

Facharzt

Detaillierte Einteilung der Bewusstlosigkeit

2

Leichtes Koma. Im Komastadium I reagiert der Patient auf Schmerzreize mit gezielten Abwehrbewegungen in nichtparetischen Extremitäten. Bei Patienten, deren Koma nicht durch supratentoriell raumfordernde Läsionen mit beginnender Einklemmung, sondern durch primäre Hirnstammerkrankungen ausgelöst wurde, kann durch den Ort der strukturellen Läsion schon früh eine schwere Störung der Okulomotorik oder auch der Atmung eintreten, ohne dass ein tiefer zu klassifizierendes Koma vorliegen würde. Diese Patienten können sogar noch wach oder nur bewusstseinsgetrübt sein. Erst wenn die übergeordnete Reaktion auf Außenreize, vornehmlich Schmerzreize, ausgefallen ist, gewinnt die Beurteilung der zephalen Reflexe, des Muskeltonus und der Spontanatmung für die Klassifikation des Komas an Bedeutung. Asymmetrische Paresen oder andere neurologische Herdsymptome sollten nicht für die Klassifikation der Komatiefe herangezogen werden. Ihr Einfluss auf die Reaktionsmöglichkeiten des Patienten muss jedoch bedacht werden: Wenn ein bewusstloser Patient auf Schmerzreize einen Arm nicht bewegt, den anderen jedoch zielgerecht zur Schmerzabwehr einsetzt, so wird die bessere Reaktionsmöglichkeit für die Klassifikation der Komatiefe genutzt. Gleichzeitig kann die fehlende Schmerzreaktion als Zeichen einer zentralen Parese interpretiert werden.

Im Komastadium II sind die Abwehrbewegungen ungerichtet oder zeigen sich als grobe Massenbewegung auf der Seite des Schmerzreizes, selten auch auf der Gegenseite. Die Bulbi divergieren in diesem Stadium meist, und es zeigen sich erste Pupillenstörungen. Tiefes Koma. Der Übergang von ungerichteten Abwehrbewegungen zu einseitigen oder bilateralen Beuge- und Strecksynergien leitet über zum Komastadium III. Beuge- oder Streckkrämpfe sind bei den kraniokaudal fortschreitenden traumatischen Komaformen lokalisatorisch zu verwerten. Streck-/Beugesynergien werden in höheren Hirnstammstrukturen ausgelöst als die generalisierten Streckbewegungen, die oft mit Krampfanfällen verwechselt werden. Der Muskeltonus ist in diesem Komastadium meist erhöht, und man kann spontane Pyramidenbahnzeichen beobachten. Im Komastadium IV finden sich auf Schmerzreize nur noch inkonstante Streckbewegungen, die schließlich völlig fehlen. Der Muskeltonus wird schlaff, die zephalen Reflexe fallen in kraniokaudaler Reihenfolge aus. Die Spontanatmung ist noch erhalten, das Atemmuster aber fast immer pathologisch. Die Pupillen werden weit und reaktionslos. Das Koma Grad IV zeigt einen so schweren Grad der Hirnschädigung an, dass es trotz tagelanger Intensivtherapie gewöhnlich nicht überlebt wird. Diese tiefe Komaform leitet über zum dissoziierten Hirntod (7 Kap. 2.7).

Facharzt

Mittelhirn- und Bulbärhirnsyndrom Nach den beschriebenen Kriterien Wachheitsgrad, Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, Okulomotorik und Körperhaltung lassen sich verschiedene Syndrome abgrenzen, die es erlauben, mit einfacher klinischer Untersuchung das Niveau der Funktionsstörung im Hirnstamm auf Mittelhirn- und Bulbärhirnebene zu bestimmen. Diese Syndrome kommen besonders häufig bei schweren Traumen des Gehirns, seltener auch bei Blutungen und Sinusthrombosen vor. Sie reflektieren zum Teil die Mechanismen der transtentoriellen Einklemmung, wie sie in Kap. 11 beschrieben werden. Entwicklung der Bewusstseinsstörung. Zu Beginn der Veränderung des Bewusstseins ist der Patient benommen, er reagiert auf äußere Reize nur verzögert. Man beobachtet spontane und durch äußere Reize ausgelöste orale Automatismen. Die Körperhaltung ist noch normal. Spontane Massen- und Wälzbewegungen werden häufig als allgemeine psychomotorische Unruhe verkannt. Auf Schmerzreize führt der Patient gerichtete 6

Abwehrbewegungen aus. Der Muskeltonus ist normal, die Eigenreflexe sind lebhaft, keine pathologischen Reflexe. Die Pupillen sind seitengleich und mittelweit, die Lichtreaktion ist normal. Die Bulbi stehen orthograd und führen konjugierte, schwimmende Seitwärtsbewegungen aus. Der vestibulookuläre Reflex ist nicht auslösbar, da der Patient noch fixiert. Mit fortschreitender Schwere der Hirnstammschädigung wird der Patient somnolent. Er reagiert nur noch schwach auf äußere Reize. Der Blinzelreflex ist noch erhalten. Die Arme führen noch spontane Massenbewegungen aus, während die Beine bereits in Streckstellung liegen. Auf Schmerzreize nimmt die Streckstellung zu, während die Arme ungerichtete Abwehrbewegungen ausführen. Spontan und/oder nach sensiblen Reizen werden Myoklonien am Rumpf und an den Extremitäten beobachtet. Der Muskeltonus ist jetzt leicht erhöht, besonders in den Beinen. Die Eigenreflexe sind lebhaft gesteigert, pathologische Reflexe werden auslösbar. Die Pupillen sind untermittelweit, seitengleich und reagieren nur verzögert auf Licht. Der ziliospina-

81 2.1 · Einteilung der Bewusstseinsstörungen

le Reflex ist deutlich positiv. Die Stellung der Bulbi wechselt zwischen Divergenz und Konvergenz, die Bulbusbewegungen sind nicht mehr konjugiert. Der vestibulookuläre Reflex ist jetzt nachweisbar. Atmung und Puls sind beschleunigt, die Temperatur ist erhöht, während der Blutdruck normal ist. Danach wird der Patient bewusstlos und reagiert nicht mehr auf äußere Reize. Die Körperhaltung zeigt jetzt das Beuge-/Streckmuster, das sich auf Schmerzreize noch verstärkt. Der Muskeltonus ist erhöht. Die Reflexe sind sehr lebhaft, pathologische Reflexe sind deutlich auslösbar. Die Pupillen sind eng, die Lichtreaktion ist nur träge. Der Kornealreflex ist noch erhalten. Die Bulbi divergieren, sie führen keine spontane Zuwendung mehr aus. Der okulozephale Reflex ist sehr deutlich. Die Atmung hat sich beschleunigt, rhythmisiert und kann den Cheyne-Stokes-Atemtyp aufweisen (. Tabelle 2.3, . Abb. 2.1). Der Puls ist hochfrequent, der Blutdruck erhöht, die Körpertemperatur angestiegen. Akutes Mittelhirnsyndrom. Im Vollbild ist der Patient komatös mit Streckstellung der Beine und der Arme, oft mit Opisthotonus (opisthen, griech. rückwärts) des Rumpfes. Der Muskeltonus ist sehr stark erhöht. Die Pupillen sind mittelweit bis weit, die Lichtreaktion ist vermindert. Jetzt fehlt der ziliospinale Reflex. Der Kornealreflex ist kaum noch auslösbar. Die Bulbi stehen divergent, es gibt keine spontanen Bulbusbewegungen mehr. Der okulozephale Reflex zeigt nur noch eine verzögerte Seitabweichung, aber keine Rückstellung mehr. Vegetativ bestehen Maschinenatmung, Tachykardie, Blutdruckerhöhung und gesteigerte Schweißsekretion, d.h., die vegetativen Funktionen reagieren übermäßig.

Beim Übergang auf das Bulbärhirnsyndrom lässt die Streckstellung der Arme wieder nach, der Muskeltonus nimmt ab. Die Atmung ist oberflächlich, Tachykardie, Hyperthermie und Blutdruckerhöhung nehmen wieder ab. Wenn in diesem Stadium die Streckkrämpfe nachlassen, darf man daraus nicht auf eine Besserung schließen. Akutes Bulbärhirnsyndrom. Das Vollbild ist durch tiefe Bewusstlosigkeit ohne Spontan- oder reaktive Motorik, schlaffen Muskeltonus ohne Dezerebrationshaltung, maximal weite und reaktionslose Pupillen, fehlenden Kornealreflex und okulozephalen Reflex gekennzeichnet. Die Bulbi stehen in Divergenz und bewegen sich nicht mehr spontan. Es tritt Atemstillstand ein, die Pulsfrequenz verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt ab bei leicht erhöhter oder normaler Körpertemperatur. Die beschriebenen Syndrome zeigen nur die Lokalisation der Funktionsstörung an, sie kommen bei jeder Ätiologie vor, die zur Hirnstammschädigung führt. Die Funktionsstörung des Hirnstamms ist grundsätzlich auf jedem Niveau reversibel, jedoch sind, mit Ausnahme von Intoxikation und Enzephalitis, die Aussichten auf Rückbildung im Stadium des Bulbärhirnsyndroms äußerst gering. Es geht meist in das Syndrom des dissoziierten Hirntods über (7 Kap. 2.7). In der Rückbildung treten die beschriebenen Phasen gewöhnlich in umgekehrter Reihenfolge auf, bis die Großhirnfunktionen wieder in Tätigkeit sind und die Kranken wieder eine Beziehung zur Umwelt aufnehmen. Jetzt kann als Übergangsstadium eine exogene Psychose manifest werden.

. Tabelle 2.3. Zentrale Atemstörungen Cheyne-Stokes-Atmung

Dieser Atemtyp ist durch wellenförmige Ab- und Zunahme von Atemfrequenz und Atemtiefe gekennzeichnet. Man findet ihn bei metabolischen Komaformen und bei raumfordernden supratentoriellen Läsionen (. Abb. 2.1a).

Ataktische Atmung

Atemrhythmus und -frequenz sind sehr unregelmäßig, In- und Expirationsphasen sind schlecht koordiniert. Die Rezeptorfunktionen sind ungestört. Dieser Atemtyp kommt bei primären infratentoriellen Läsionen und Intoxikationen vor (. Abb. 2.1b).

Maschinenatmung

Sie ist durch eine regelmäßige, tiefe Hyperventilation gekennzeichnet. Ursache ist die Entkoppelung des medullären Atemzentrums von den dienzephalen Reglern. Diesen Atmungstyp findet man bei akuter, transtentorieller Einklemmung und primären mesenzephalen Läsionen (. Abb. 2.1c).

Posthyperventilatorische Apnoe (Gruppenatmung)

Bei manchen Patienten mit zentralen Atemstörungen kommt es zu längeren Pausen nach einer spontanen Hyperventilation. Diese Pausen können bis zu 30 Sekunden anhalten. Sie sind durch eine abnorme Empfindlichkeit der CO2-Rezeptoren auf ein erniedrigtes paCO2 bedingt.

Zentrale Rezeptorenstörung

Atemstörungen mit normalem Atemrhythmus und normaler Atemtiefe, jedoch gestörten zentralen CO2-Rezeptoren führen zu Hyper- und Hypokapnie. Sie werden nur durch regelmäßige Blutgasanalysen festgestellt.

2

82

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

Exkurs Atmungsstörungen im Koma (. Abb. 2.1) Die Maschinenatmung ist eine neurogene Hyperventilation, die bei Schädigungen des pontomesenzephalen Übergangs auftritt und durch die funktionelle Abkopplung des Atemzentrums von allen modifizierenden höheren Zentren gekennzeichnet ist. Die ataktische Atmung ist eine Funktionsstörung des medullären Schrittmacherzentrums mit irregulären, unterschiedlich langen und tiefen Atemzügen, zum Teil mit längeren Atempausen.

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schäftigen, werden verkannt. Die Orientierung zu Ort, Zeit und selten auch zur eigenen Person (Lebensalter) kann gestört sein. Bei subakuten und chronischen Verwirrtheitszuständen erkennt man den Übergang zur Demenz mit langsam fortschreitender Desorganisation verschiedener Funktionen wie Affektivität, Antrieb und Gedächtnis. Delir Das Delir ist gekennzeichnet durch ängstliche psychomotorische Unruhe, Übererregbarkeit, Desorientiertheit, Halluzinationen und Suggestibilität.

Die Cheyne-Stokes-Atmung tritt häufig bei metabolischen Schädigungen des Hirnstamms, aber auch bei primären Hirnstammläsionen auf. Sie ist durch die rhythmische Ab- und Zunahme der Atemexkursion, verbunden mit unterschiedlich langen Atempausen, gekennzeichnet. Die Atempausen sind wahrscheinlich durch einen verminderten Atemantrieb bedingt. Hierdurch kommt es zur CO2-Erhöhung, die dann wieder eine Enthemmung der inspiratorischen Neurone bewirkt, die zu der Hyperventilation in der Crescendo-Phase der Cheyne-Stokes-Atmung führt.

2.2

Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit

Als anatomisches Substrat für die verschiedenen Formen der Bewusstheitsstörungen gilt das limbische System, das Teile des Zwischenhirns mit entwicklungsgeschichtlich alten Großhirnanteilen (Hippocampus, Inselrinde, Gyrus cinguli) verknüpft. Jede Bewusstseinsstörung ist durch eine funktionelle oder morphologische Läsion des aufsteigenden, aktivierenden Teils der mesenzephalen Formatio reticularis des Hirnstamms oder der Thalami bedingt. Die Ursachen für diese Läsionen sind vielfältig und können direkt (primär) oder indirekt (sekundär) wirken. 2.2.1 Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit

a

10 s

b 1s

c 10 s

. Abb. 2.1a–c. Schematische Darstellung verschiedener Atemregulationsstörungen. Die einzelnen Atemtypen sind in Tabelle 2.3 besprochen. (Mod. nach Brandt; in Kunze 1992)

Zur primären Bewusstlosigkeit kommt es bei einer lokalen Läsion von Hirnstamm und Zwischenhirn, z.B. durch eine Hirnstammblutung, eine Basilaristhrombose oder eine Hirnstammkontusion. Die sekundäre Bewusstlosigkeit kann durch neurologische und nichtneurologische Auslöser verursacht werden. Neurologische Ursachen sind hemisphärische, supratentorielle Läsionen (Trauma, Blutung, Insult, Tumor, Abszess, Enzephalitis), die, wenn sie raumfordernd sind, durch die Einklemmung bei intrakranieller Druckerhöhung eine sekundäre Schädigung des Hirnstamms verursachen können. Nichtneurologische Ursachen des Komas sind alle Erkrankungen, die über eine Minderperfusion, eine Hypoxie oder eine metabolisch-toxische Störung zur Hirnstammfunktionsstörung führen. In . Tabelle 2.4 sind die häufigsten Ursachen, die zu einer akuten Bewusstlosigkeit führen können, zusammengestellt. Jede dieser Gruppen zeigt eine Reihe charakteristischer Symptome, die eine Zuordnung ermöglichen. Hiermit können Hinweise auf die sinnvolle weitere Diagnostik gefunden werden. Hat man die Gelegenheit, Patienten im Koma längere Zeit zu beobachten, so geben zusätzlich auch die Veränderungen der Einzelsymptome Hinweise auf Läsionstyp und Läsionsort. Fallen z.B. die Hirnnervenreflexe kraniokaudal, das heisst die oberen Hirnnerven zuerst und die kaudalen Hirnnerven zuletzt aus, so spricht dies für eine raumfordernde supratentorielle Läsion mit Einklemmung.

83 2.2 · Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit

Exkurs Vegetative Regulationsstörungen im Koma Temperaturregulationsstörungen. Bei hypothalamusnahen Läsionen, bei Ventrikeltamponade, bei akuter transtentorieller Einklemmung und beim Hydrocephalus communicans oder occlusus finden sich Störungen der Temperaturregulation, die als zentrale Hyperthermie bezeichnet werden. Beim Fortschreiten der Komatiefe und beim Übergang in den Hirntod kommt es zur stufenweisen, manchmal abrupten Temperaturabnahme. Die Diagnose der zentralen Hyperthermie wird wahrscheinlich zu häufig gestellt. Meist ist sie assoziiert mit einer gleichzeitigen arteriellen Hypertonie und Tachykardie. Die Hypertonie ist als wichtiges Differentialkriterium gegen eine Sepsis aufzufassen.

Psychogene Bewusstseinsstörungen Hierbei handelt es sich nicht um eine echte Bewusstlosigkeit, sondern um eine psychogen bedingte Reaktionslosigkeit. Die Augenlider und der Mund sind oft aktiv geschlossen, beim Berühren

Kreislaufstörungen. Auch Pulsfrequenz und Blutdruck können in verschiedenen Komastadien unterschiedlich fehlgesteuert sein. Bei erhöhtem Hirndruck können die Pulsfrequenz und auch der Blutdruck erhöht sein (Cushing-Reflex). Hierdurch kommt es zu den befürchteten, das Hirnödem noch verstärkenden Hirndruckspitzen. Tachyarrhythmien und Extrasystolen sind nicht ungewöhnlich. Erst im tiefen Koma kommt es zur reflektorischen Bradykardie, viel früher kann der Blutdruck abfallen.

der Wimpern bzw. beim Öffnen der Augen wird aktiver Widerstand entgegengesetzt. Der okulozephale Reflex ist unterdrückt, vestibulookuläre Reflexe sind erhalten. Trotz wechselndem Muskeltonus finden sich keine pathologischen Reflexe. Die Atmung

. Tabelle 2.4. Charakteristische Symptome bei verschiedenen Ursachen der Bewusstlosigkeit (Nach Hacke 1988) 1. Primär infratentorielle Läsionen

5 5 5 5 5 5

meist akuter Komabeginn mit fokalen Hirnstammfunktionsstörungen überwiegend bilaterale Ausfälle, nur geringe Asymmetrie primäre Hirnnervenläsionen spontane Strecksynergismen, bilaterale Myoklonien keine klassischen Stadien der Komaklassifikation ungewöhnliche Atemtypen und frühe Kreislaufregulationsstörungen

2. Supratentorielle raumfordernde Läsionen mit beginnender transtentorieller Einklemmung

5 5 5 5 5 5

Beginn mit halbseitigen neurologischen Ausfällen subakuter bis akuter Komabeginn relativ klare Zuordnung der Syndrome zu definierten Hirnstammstrukturen (vgl. Mittelhirn- und Bulbärhirnsyndrom) kraniokaudale Veränderung der Funktionsstörung fokale oder sekundär generalisierte Anfälle im Vorfeld »klassische« Atemtypen

3. Metabolisches Koma

5 5 5 5

vorangehende Verwirrtheit oder Verlangsamung langsame Entwicklung des Komas häufige bilaterale motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen (Tremor, Myoklonien, generalisierte und fokale Anfälle) keine Hirnnervensymptome

4. Koma nach Kreislaufversagen oder Hypoxämie

5 5 5 5 5

akuter Beginn.- Symmetrische, meist schlaffe motorische Störungen Zuordnung der Syndrome zu definierten Hirnstammebenen kraniokaudale Verschlechterung, die sich bei Stabilisierung des Zustands wieder nach kranial hin verbessern kann »klassische« Atemtypen Einnässen und Einkoten

5. Postparoxysmale Bewusstseinsstörung

5 5 5 5

blutiger Speichel, Einnässen, Zungenbiss tiefe, forcierte Atmung, motorische Unruhe postparoxysmale Parese, die sich zurückbildet fortbestehende fokale Anfälle

6. Psychogene »Bewusstseinsstörung« (besser Reaktionslosigkeit)

5 5 5 5 5 5

Augenlider und Mund oft aktiv geschlossen Augenschluss nach leichtem Berühren der Wimpern okulozephaler Reflex unterdrückt vestibulookuläre Reflexe erhalten keine pathologischen Reflexe bei wechselndem Muskeltonus oft vollständig unterdrückte Schmerzreizreaktionen

2

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Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

Exkurs Bewusstlosigkeit bei nicht-neurologischen Ursachen Bei Patienten, die nach Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation bewusstlos bleiben, ist die Bewusstlosigkeit also durch die sekundäre Funktionsstörung des Hirnstamms begründet und muss nicht durch eine neurologische Grunderkrankung erklärt werden. Dies gilt auch für Patienten, die im hypovolämischen Schock bewusstlos werden oder die metabolisch entgleisen und komatös werden. Eine zusätzliche zerebrale Ursache der Bewusstlosigkeit muss in solchen Fällen nicht postuliert werden.

2

wechselt zwischen Hyperventilation und Apnoe. Überstreckte Kopf- und Körperhaltung erinnern an einen Meningismus. Kombiniert mit der typischen Pfötchenstellung der Hände findet sich diese Haltung bei psychogener Hyperventilation. Schmerzreaktionen können selbst für starke Schmerzreize reaktionslos unterdrückt werden. 2.3

Dezerebrationssyndrome

3Definition und Ursachen. Unter Dezerebration versteht man eine funktionelle Abkopplung des Hirnstamms vom gesamten Hirnmantel. Als Grundlage können entweder ausgedehnte bilaterale Schädigungen im Marklager der Großhirnhemisphären oder Läsionen im Hirnstamm selbst vorliegen. Die häufigsten Ursachen sind schweres Hirntrauma (7 Kap. 26), Enzephalitis (7 Kap. 18 und 19), Blutungen (7 Kap. 6), Intoxikationen, Sauerstoffmangelschädigung, z. B. bei vorübergehendem Herzstillstand oder Narkosezwischenfall, Thrombose der A. basilaris (7 Kap. 5), Einklemmung des Hirnstamms bei raumfordernden Prozessen (7 Kap. 11) und Leukodystrophie. Aus der Anatomie des Hirnstamms ist leicht abzuleiten, dass sich diese Syndrome aus motorischen, okulomotorischen, vegetativen Symptomen und Verminderung der Wachheit zusammensetzen.

Sicher gibt es aber auch Ausnahmen: Leukämiepatienten mit Gerinnungsstörungen, die komatös werden, können eine diffuse Purpura cerebri, lokale oder multiple intrazerebrale Blutungen erlitten haben. Auch bei Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten haben, kann aufgrund lokaler Thrombenbildung ein embolischer Hirninfarkt auftreten. In diesen Fällen findet man bei der Notfalluntersuchung fokale neurologische Störungen.

Regelmäßig haben die Patienten Störungen der Pupillenoder Augenmotorik: Fakultativ beobachtet man Miosis oder einseitige bzw. doppelseitige Mydriasis mit eingeschränkter oder aufgehobener Lichtreaktion, Divergenz- oder Konvergenzstellung der Bulbi, konjugierte oder unkoordinierte horizontale, seltener vertikale oder gar diagonale Pendelbewegungen der Augen. Eine Störung des Wachbewusstseins fehlt selten. Sie beruht auf Beeinträchtigung des retikulären Aktivierungssystems im Hirnstamm. Je nach der Lokalisation und dem Verlaufsstadium besteht ein tiefes Koma mit geschlossenen Augen, schwerer Sopor mit schwacher Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize oder ein apallisches Syndrom (s.u.).

3Symptome. Die motorischen Symptome treten als Tetrapa-

rese ohne zentrale faziale Parese auf: Beide Arme sind entweder in einer Beugehaltung fixiert oder innenrotiert und gestreckt, die Beine sind immer in Streckstellung (. Abb. 2.2). Bei beiden Haltungen besteht eine Erhöhung des Muskeltonus. Die Auslösbarkeit der Eigenreflexe hängt vom Grad der Tonuserhöhung ab: Manchmal sind die Extremitäten so fixiert, dass es nicht gelingt, eine klinisch erkennbare Reflexzuckung auszulösen. Fast immer ist ein Babinski-Reflex zu erhalten, oft sind die Großzehen als Spontan-Babinski dauernd nach dorsal überstreckt. Spontan oder nach sensiblen oder sensorischen Reizen können sich die Beuge- und Streckmuster als tonischer Anfall für Sekunden bis Minuten verstärken (Beuge- oder Streckkrämpfe). In diesem Stadium besteht manchmal ein Trismus aufgrund maximaler reflektorischer Dauerkontraktion in beiden Masseteren.

. Abb. 2.2. Dezerebrationshaltung. 51-jährige Patientin mit Zustand nach alter Basalganglienblutung rechts und frischer Basalganglienblutung links. Spontane Atmung, apallisches Syndrom

85 2.3 · Dezerebrationssyndrome

2.3.1 Apallisches Syndrom (persistierender

vegetativer Zustand) 3Definition. Bei irreparablen Läsionen kann das Mittelhirnsyndrom in eine chronische Dezerebration, das apallische Syndrom, übergehen, das wochen- oder monatelang und in Ausnahmefällen selbst über Jahre stationär bestehen bleiben kann. Als apallisches Syndrom bezeichnet man einen Zustand, in dem Patienten wach zu sein scheinen, jedoch nicht fähig sind, mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen. Im angloamerikanischen Schrifttum nennt man das Syndrom persistent vegetative state (persistierender vegetativer Zustand). Diese Bezeichnung betont die Diskrepanz zwischen erhaltenen vegetativen Funktionen und verlorenen kognitiven Möglichkeiten. Ein apallisches Syndrom (apallisches Syndrom von a-pallium = ohne Hirnmantel) kann entstehen, wenn eine sehr schwere Hirnschädigung überlebt wird. Bei Laien und in der Presse hat sich leider der widersprüchliche Begriff »Wachkoma« eingebürgert. Er suggeriert Wachheit im Sinne von Bewusstheit, die aber nicht besteht. Neuropathologisch findet man sehr unterschiedliche Befunde. Normale Kortexstrukturen können ebenso gefunden werden wie laminare Nekrosen, Gliose, Nervenzellverluste, kleine Blutungen und ausgedehnte bilaterale Schädigungen des Marklagers, des Hypothalamus und der Basalganglien. 3Symptomatik. Die Patienten werden nach längerer Bewusstlosigkeit wieder »wach«, die Augen öffnen sich, und der SchlafWach-Rhythmus stellt sich wieder ein. Der Blick geht ins Leere. Auf sensorische Reize wird der Blick nicht zugewendet. Die Patienten fixieren nicht und nehmen keinen Blick- oder anderen Kontakt auf. Der optokinetische Nystagmus kann erhalten sein. Die Extremitäten sind in generalisierter Beugestellung fixiert oder die Arme gebeugt und die Beine überstreckt, so dass sich Kontrakturen einstellen. Der Muskeltonus ist erhöht, Pyramidenbahnzeichen können vorhanden sein. Atmung und Kreislauf sind ungestört. Die Nahrungsaufnahme ist meist nur über eine Sonde möglich. 3Diagnostik. Die EEG-Befunde im apallischen Syndrom sind

unspezifisch, auch Nulllinien-EEGs werden beschrieben. rCBFMessungen sollen eine mäßige Minderung der gesamten Hirndurchblutung zeigen. Nach Hypoxie findet man in CT und MRT charakteristische Befunde: In den Hemisphären sind Rinden- und Markgrenze aufgehoben und die Stammganglien strukturell nicht mehr abgrenzbar, manchmal im CT deutlich hypodens. Dagegen wirken die Anatomie und das Signalverhalten in Hirnstamm und Kleinhirn normal. Leider ist die Prognose des apallischen Syndroms, wenn es wie oben beschrieben definiert wird, trotz gegenteiliger Behauptungen, sehr schlecht, was das Wiedererlangen des Bewusstseins oder gar eine völlige Wiederherstellung angeht. Die Berichte von Erwachen aus monatelangem Koma oder aus dem

apallischen Syndrom, die immer wieder die Presse erreichen, betreffen in aller Regel Patienten, die nicht apallisch waren. Hiermit werden aber falsche Hoffnungen bei den Angehörigen solcher Patienten geweckt, die sich natürlich an jede Hoffnung klammern. Patienten mit apallischem Syndrom können bei entsprechender Pflege und Versorgung viele Jahre überleben, was einen immensen persönlichen und finanziellen Aufwand bedeutet. Es liegt in der Verantwortung des Intensivmediziners, frühzeitig die Prognose des Patienten mit schwerster Hirnschädigung zu erfassen und seine intensivmedizinischen Bemühungen bei aussichtsloser Situation zu reduzieren. So wird das apallische Syndrom, das eigentlich, wie auch der dissoziierte Hirntod ein intensivmedizinisches Artefakt ist, seltener entstehen. Ganz vermieden werden kann es nicht. 2.3.2 Andere schwere Hirnstammsyndrome

ohne Verlust der Wachheit Akinetischer Mutismus Diese Patienten zeigen keine spontane Motorik und geben auch keine verbalen Äußerungen von sich. Sie wirken wach. Nur selten findet sich eine Tonuserhöhung oder die Beugehaltung des apallischen Syndroms. Die Pyramidenbahnen scheinen daher intakt. Auch diese Patienten haben einen Schlaf-Wach-Rhythmus. 3Ursachen. Ursachen des akinetischen Mutismus sind dienzephale, von dorsal her wirkende raumfordernde Läsionen in Höhe des 3. Ventrikels. Das Syndrom wurde jedoch auch bei bilateralen subkortikalen hemisphärischen Läsionen (Grenzzoneninfarkte, ausgedehnte Demyelinisierung (SSEP 7 Kap. 19; (COVergiftung)), beim Hydrocephalus communicans und bei großen bilateralen Läsionen in den Basalganglien beschrieben. Das Syndrom beschreibt einen vegetativen Zustand mit nur geringerer Schädigung der Pyramidenbahn und unterscheidet sich durch die andere Körperhaltung vom apallischen Syndrom, mit dem es eng verwandt ist.

Locked-in-Syndrom (de-efferentierter Zustand) Bei diesem Syndrom liegt eine ausgedehnte supranukleäre, also oberhalb der Hirnnervenkernen gelegene Schädigung der Pyramidenbahn und der extrapyramidalen Bahnen vor. Es resultiert eine vollständige Lähmung aller Extremitäten (Tetraparalyse) und nahezu aller motorischer Hirnnerven. Die Patienten müssen immer beatmet werden. Das Bewusstsein ist erhalten. Die Patienten sind wach und nehmen ihre Umgebung wahr. In manchen Fällen bleibt die Möglichkeit willkürlicher vertikaler Augenbewegungen und des Lidschlusses erhalten. Diese Restmotorik wird zur letzten kodierbaren Kommunikationsform, wenn die vertikalen Augenbewegungen und der Lidschluss mit »Ja« und »Nein« belegt werden. So kann der Kontakt mit dem Patienten aufrechterhalten werden.

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Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

3Ursachen. Dem Locked-in-Syndrom liegen primäre Hirnstammerkrankungen wie Basilaristhrombose, Hirnstammblutungen oder Hirnstammkontusionen zugrunde. Manchmal können auch Erkrankungen der peripheren Nerven, z.B. beim Guillain-Barré-Syndrom mit vollständiger Beteiligung der motorischen Hirnnerven, ein Locked-in-Syndrom vortäuschen (Panparalyse). Beim Locked-in-Syndrom ist die Formatio reticularis mit ihrem aktivierenden aufsteigenden Anteil intakt. Sie liegt dorsal von den zerstörten efferenten motorischen Bahnen. Dorsal verlaufende Teile des hinteren Längsbündels, das die Okulomotorik regelt, können ebenfalls funktionsfähig bleiben und die vertikalen Augenbewegungen steuern. 3Diagnostik. Elektrophysiologische Methoden können die erhaltene Perzeption objektivieren: Sowohl die kortikale Verarbeitung somatosensibler Reize (SEP, 7 Kap. 4.2.5) als auch die Verarbeitung akustischer Reize (AEP, mittlerer Latenz) können nachgewiesen werden. Die Patienten können sich nicht sprachlich oder motorisch äußern (daher die Bezeichnung »de-efferentierter Zustand«). 3Prognose. Die Unterscheidung dieses Syndroms vom apal-

lischen Syndrom und vom akinetischen Mutismus ist aus 2 Gründen wichtig: Auch ein Patient, der sich nicht mehr bewegen kann und bewusstlos wirkt, kann, wenn ein Locked-in-Syndrom vorliegt, seine Umgebung und Schmerzen wahrnehmen und auch Kommentare und Bemerkungen, die achtlos gemacht werden, verstehen. Die oben beschriebene Möglichkeit der Kommunikation muss ebenfalls bekannt sein. Ob man sie wahrnimmt, ist weniger eine medizinische als eine menschliche Frage. In der Literatur wird über einige Überlebende berichtet. Nach unserer eigenen Erfahrung hat noch kein Patient ein Locked-in-Syndrom überlebt und ist rehabilitiert worden. Wir sedieren daher Patienten mit einem Locked-in-Syndrom mit deren Zustimmung immer tief, um sie die sicherlich quälende Eingeschlossenheit in ihre irreversible Paralyse nicht erleben zu lassen. 2.4

Untersuchung des bewusstlosen Patienten

4 fokale oder generalisierte epileptische Anfälle und 4 akute Bewusstseinsstörung.

Solange ein Patient wach und kooperativ ist, unterscheidet sich die neurologische Notfalluntersuchung kaum von der üblichen neurologischen Untersuchung. Wenn es sich beispielsweise um einen Patienten mit akuter Hemiparese handelt und die Möglichkeit einer frühen Thrombolyse besteht, wird man keine Zeit damit verlieren, das Vibrationsempfinden an den Beinen zu testen. Trotzdem kann man nicht einzelne Untersuchungsschritte als weniger wichtig abtun. Die fehlenden Teile der Untersuchung müssen dann nach Einleitung der Therapie nachgeholt werden. Oft sind es die nicht geprüften Reaktionen, die gefehlt haben, um die richtige Diagnose zu stellen und die notwendigen weiterführenden Untersuchungen zu veranlassen. Untersuchung eines bewusstlosen Patienten Die neurologische Untersuchung eines bewusstlosen Patienten ist in vielen Punkten von der eines bewusstseinsklaren und kooperativen Patienten zu unterscheiden. Ziel der Notfalluntersuchung ist nicht ein kompletter neurologischer Status. Manche Untersuchungen, z.B. die ausführliche Prüfung verschiedener Modalitäten der Sensibilität, können bei bewusstlosen Patienten nicht durchgeführt werden, andere sind in der Akutsituation belanglos und halten nur auf: 4 Die Vibrationsgabel und das Nadelrad bleiben in der Tasche. 4 Es interessiert nicht, ob die Bauchhautreflexe langsam oder schnell erlöschen. 4 Man kann wertvolle Zeit mit dem Versuch der Spiegelung des Augenhintergrunds vergeuden. Der Augenhintergrund sollte nur von sehr erfahrenen Neurologen gespiegelt werden, die die Papille ohne Pupillenerweiterung einstellen und beurteilen können, was bei unruhigen, bewusstseinsgetrübten Patienten gar nicht so einfach ist. 4 Unter keinen Umständen dürfen die Pupillen weitgetropft werden, denn Weite und Reaktion der Pupillen müssen ohne pharmakologische Einwirkung dokumentiert werden und haben beim Bewusstlosen eine viel größere diagnostische Aussagekraft als der Augenhintergrund.

2.4.1 Neurologische Notfalluntersuchung 2.4.2 Anamnese und Inspektion Bei Notfallpatienten wird oft nach nur kurzer Beobachtung und orientierender körperlicher Untersuchung die Behandlung lebensbedrohender Funktionsstörungen von Atmung und Kreislauf erforderlich. Zuverlässige Kenntnisse in Diagnostik und Therapie der Vitalstörungen sind daher eine Voraussetzung für die Behandlung neurologischer Notfälle. Leitsymptome neurologischer Notfälle sind 4 akute oder intermittierende Lähmungen, 4 Nackensteifigkeit und perakute Kopfschmerzen, 4 akute oder subakute Querschnittslähmung,

3Anamnese. Falls Angehörige anwesend sind, fragt man nach

den Umständen des Notfalls, ob 4 die Bewusstlosigkeit abrupt oder langsam progredient aufge-

treten ist, 4 vorher eine Lähmung aufgefallen ist, 4 der Patient über Kopfschmerzen geklagt hat oder 4 schon vorher andere Krankheitszeichen wie Fieber gehabt

hat, 4 er kürzlich operiert wurde,

87 2.4 · Untersuchung des bewusstlosen Patienten

. Tabelle 2.5. Neurologische Notfalluntersuchung bei bewusstlosen Patienten (Mod. nach Hacke 1988) Anamnestische Daten 5 abrupter oder langsamer Beginn des Komas 5 Kopftrauma in der jüngeren Vorgeschichte 5 progrediente oder intermittierende Lähmung 5 Fieber, Kopfschmerz 5 Diabetes, Hypertonie, Herzinfarkte 5 frühere Insulte 5 bekannte Epilepsie 5 psychiatrische Anamnese, Alkohol, Drogen, Tabletten Körperliche Inspektion 5 Spontanatmung, Atemmuster 5 Kopfhaltung: Überstrecken, Kopfwendung 5 spontane Bewegungen, symmetrisch oder asymmetrisch 5 fokale Anfälle oder Myoklonien 5 spontane Streck- oder Beugesynergien 5 Verletzungen 5 Erbrochenes, Urinabgang 5 allgemeine Hautveränderungen, Exsikkose, Kachexie 5 Umgebung: Tablettendosen, Injektionsnadeln, Alkoholflaschen, Unordnung Untersuchungsschritte 5 beste Reaktion auf lautes Anrufen – Sprachäußerung: orientiert – verwirrt – aphasisch – fehlend – Augenöffnen: Zuwendung – ohne Zuwendung 5 beste Reaktion auf Schmerzreize – Abwehrbewegungen: gerichtet – ungerichtet – fehlend – Streck- und Beugesynergien, Myoklonien, Wälzen – keine Reaktion 5 Nackensteifigkeit und Kopfwendung 5 Pupillen – Weite: Isokorie – Anisokorie – Reaktion direkt und konsensuell: vorhanden – verzögert – ausgefallen 5 Augenstellung – Bulbusstellung spontan: konjugiert – mittelständig – Fixation – ohne Fixation divergierend – schwimmende Bewegungen – konjugierte Deviation – spontaner Nystagmus 5 okulozephaler Reflex – durch Fixation aufgehoben – ausgedehnt positiv: konjugiert – diskonjugiert – gering positiv: konjugiert – diskonjugiert – dissoziierte, tonische Restreaktion – fehlend 5 Schutzreflexe – Korneal- und Blinkreflex: vorhanden – einseitig gestört – fehlend – reflektorisches Augenschließen bei Drohbewegungen in beiden Gesichtsfeldhälften – Würgreflex 5 Muskeltonus – schlaff – normal – gesteigert, wechselnd – asymmetrisch (Sehnenreflexe – Pyramidenbahnzeichen) 5 Auskultation der Halsgefäße, evtl. Orbita 5 zentrale Atemstörungen und vegetative Regulationsstörungen

. Tabelle 2.6. Sofortmaßnahmen beim bewusstlosen Notfallpatienten 5 Reanimation, wenn erforderlich 5 Intubation, falls sinnvoll 5 Venöser Zugang (Braunüle, ggf. Armvenenkatheter) und Blutabnahmea, ggf. Blutkulturen – Behandlung vor Kenntnis der Laborwerte: isotone Kochsalzlösung Glukose 5%, nicht bei Schlaganfall Thiamin 100 mg – Ausgleich nach Eingang der Laborwerte: Hypoglykämie: 20% Glukose Hyperglykämie: Altinsulin Elektrolytkontrolle – Volumensubstitution bei Volumenmangel – Antiarrhythmika – Antihypertensiva (s. Kap. 5 und 6) 5 Neurologische Untersuchung und CT 5 – – –

Hirndrucktherapie Lagerung Osmotherapie Dexamethason (bei Tumorödem)

5 Anfälle behandeln (7 Kap. 14) 5 Weitere Maßnahmen – Fieber senken – Infektionsbehandlung, ggf. Antibiotika auch ohne Erregernachweis (schwerste Meningitis, V.a. Endokarditis) – Bei Vergiftung Antidot, falls bekannt – V.a. Drogen oder Medikamente – Intoxikation: Narcanti‚, Anticholium®, Anexate® – Sedierung nur bei extremer Unruhe und nach neurologischer Untersuchung

4 ein Kopftrauma hatte, 4 unter Anfällen, hohem Blutdruck oder Diabetes mellitus

leidet, 4 Alkohol- oder Drogenprobleme hat, 4 regelmäßig Medikamente einnehmen muss oder 4 in psychiatrischer Behandlung war. In der Frühphase kann man die genauesten Angaben über die Vorgeschichte erhalten – je größer die zeitliche Distanz wird, desto unpräziser werden die Berichte. Manchmal haben die Patienten, noch bevor sie bewusstlos wurden, erste Symptome ihrer Erkrankung mitteilen können (z.B. vernichtenden Kopfschmerz bei der schwer verlaufenden aneurysmatischen Subarachnoidalblutung, beginnende Lähmung bei Hirnblutung oder Infarkt, aufsteigende Übelkeit vor einem sekundär generalisierten epileptischen Anfall). 3Inspektion. Die Beobachtung des Patienten gibt sehr viele wertvolle Hinweise. Man schaut nach Wunden, Abschürfungen

2

88

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

Facharzt

Detaillierter Ablauf der Untersuchung eines Bewusstlosen

2

Reaktivität. Nähert man sich dem Patienten, wird man ihn zunächst laut ansprechen und beobachten, ob er daraufhin die Augen öffnet und sich zuwendet. Geschieht dies nicht, appliziert man taktile Reize und danach schmerzhafte Reize im Gesicht und am Rumpf, z.B. in der vorderen Achselfalte. Die Reaktion des Patienten auf die Schmerzreize wird registriert: Öffnet er die Augen? Wendet er das Gesicht zu oder ab? Grimassiert er? Macht er eine verbale Unmutsäußerung? Kommt es zu gezielten oder ungezielten Abwehrbewegungen, Beuge- oder Strecksynergismen? Selbst starke Schmerzreize, z.B. Nadelstiche, rufen beim tief Bewusstlosen höchstens ungerichtete Abwehrbewegungen hervor oder bleiben ohne Reaktion. Falls er die Augen öffnet und sich zuwendet, versucht man, verbalen Kontakt aufzunehmen: Antwortet er adäquat oder unzusammenhängend? Okulomotorik, Pupillen und okulozephaler Reflex. Danach werden mit Daumen und Zeigefinger beide Oberlider hochgezogen. Manchmal wehrt sich der Patient dagegen und hält die Augen aktiv geschlossen. Bei Bewusstlosigkeit wird dem Augenöffnen kein Widerstand entgegengesetzt. Von großer diagnostischer Bedeutung ist die Stellung der Bulbi bei bewusstlosen Patienten. Divergenz und spontane Pendelbewegungen zeigen eine funktionelle oder anatomische Hirnstammschädigung in der Brückenmittelhirnregion an. Konjugierte Abweichung der Bulbi zur Seite lässt auf einen Herd im Stirnhirn (Abweichung zur Seite des Herdes) oder in der Brücke (Abweichung zur Gegenseite) schließen (Erklärung 7 Kap. 1.3). Spontane Vertikalbewegungen sind ein ungünstiges Zeichen, ocular bobbing, 7 Kap. 1.3.5. Bei Tageslicht ist das Öffnen der Lider der adäquate Reiz für den Pupillenreflex. Abwechselndes einseitiges Abdecken der geöffneten Bulbi ermöglicht die Beurteilung der konsensuellen Reaktion. Wichtige Hinweise auf die Lokalisation einer Schädigung gibt die Pupillenweite: Läsionen im Subthalamus verursachen ipsilateral eine mäßige Miosis von etwa 2–3 mm Pupillendurchmesser. Subtotale Mittelhirnschädigungen führen ipsilateral zu einer sehr starken Mydriasis (etwa 7–10 mm Durchmesser), schwere Mittelhirnschädigungen sind an einer mäßigen Mydriasis (4–6 mm) und schlechten Lichtreaktionen zu erkennen. Läsionen in der Brückenhaube führen durch Unterbrechung der absteigenden sympathischen Fasern zu einer bilateralen maximalen Miosis (1 mm). Anisokorie kommt daneben bei Läsionen des N. oculomotorius vor. Enge, seitengleiche und noch etwas auf Licht reagierende Pupillen sind prognostisch günstiger als weite, lichtstarre. Schnelles und brüskes Nach-vorne-Bewegen des Kopfes dient zur Beurteilung des vertikalen okulozephalen Reflexes. 6

Beim horizontalen okulozephalen Reflex wird der Kopf des Patienten horizontal rasch und ausgiebig in eine Richtung bewegt und die reflektorischen Bewegungen der Bulbi beobachtet. Danach folgt die Bewegung in die andere horizontale Richtung. Bei leichter Bewusstseinsstörung ist der okulozephale Reflex sehr ausgeprägt, er nimmt bei zunehmendem Koma ab und kann im tiefen Koma ganz fehlen. Nackensteifigkeit. Man prüft das Vorliegen von Nackensteifigkeit durch passives Bewegen des Kopfes nach vorn, bis das Kinn an das Sternum geneigt ist, und nach seitwärts. Bei Nackensteifigkeit findet man einen erhöhten muskulären Widerstand gegen diese passiven Bewegungen, der manchmal nicht überwunden werden kann. Dann sind der Kopf und Rumpf oft primär überstreckt. Im tiefen Koma dagegen kann die Nackensteifigkeit bei generalisiertem Tonusverlust wegfallen! Die wichtigsten Ursachen für Nackensteifigkeit sind Subarachnoidalblutung, Meningitis oder Tumor der hinteren Schädelgrube. Andere Hirnnervenfunktionen und Hirnstammreflexe. Den Kornealreflex überprüft man durch Berühren der Kornea mit einem kleinen Mulltupfer von lateral. Je nach der Schwere des Zustands kann der Kornealreflex erloschen sein. Leichtes, nach oben geführtes Berühren der Wimpern führt bei psychogener Bewusstseinstrübung zu einem verstärkten Lidschluss. Bewusstlose Patienten mit einer zentralen Gesichtslähmung atmen auf der Seite der Lähmung »blasend« aus. Auf der betroffenen Seite sinkt das passiv gehobene Oberlid langsamer ab, die Lidspalte bleibt durch die Orbikularislähmung oft etwas geöffnet. Der Mundwinkel hängt herab, die Wange ist schlaffer, bei der Ausatmung werden Speichelbläschen durch den leicht geöffneten Mundwinkel geblasen. Manchmal ist die Kaumuskulatur aber so stark angespannt (Trismus), dass der Mund nicht oder nur mit vorsichtig eingeführten Hilfsmitteln geöffnet werden kann. Wenn der Mund sanft und ohne Widerstand geöffnet werden kann, beurteilt man die Lage der Zunge im Mund und führt die Inspektion des Rachens aus. Wir verzichten meist auf die Auslösung des Würgereflexes, da bei erhöhtem Hirndruck dieser Reflex enthemmt sein kann und es zum Erbrechen mit Gefahr der Aspiration kommen kann. Bei der Inspektion von Mund und Rachen achtet man auch auf alte, narbige Veränderungen der Zunge. Je nach der Schwere des Zustandes können im Koma Fremdreflexe, wie z.B. der Kornealreflex oder der Würgereflex erloschen sein. Motorik. Am Ende der Untersuchung wendet man sich den Extremitäten zu. Die Sensibilitätsprüfung muss sich darauf beschränken, die Reaktion auf Schmerzreize zu beobachten. Eine

89 2.5 · Notfallbehandlung

Koordinationsprüfung ist nicht möglich. Der Tonus von Armen und Beinen wird durch bilaterale, abwechselnde, nichtrhythmische Bewegungen überprüft. Die Muskeldehnungsreflexe können untersucht werden, um Ausgangswerte für den weiteren Verlauf zu haben. Im Koma kann sich der Reflexstatus sehr schnell ändern, dies gilt auch für Reflexe der Babinski-Gruppe. Im tiefen Koma fehlen die Eigenreflexe, und der Muskeltonus wird schlaff.

und anderen Verletzungszeichen. Ist der Patient kachektisch? Wirkt er gepflegt oder ist er verwahrlost? Finden sich Einstichstellen an den Armen, den Beinen, unter der Zunge? Auch die Umgebung und die Erscheinung der Angehörigen kann Hinweise bieten. Alkoholflaschen, Fixerutensilien, eine heruntergekommene Wohnung, ein alkoholisierter Angehöriger lenken den Verdacht in Richtung auf eine Intoxikation oder eine traumatische Ursache. Man achtet darauf, ob der Patient blutigen Speichel im Mundwinkel hat, auf Bissverletzungen der Zunge oder der Wangenschleimhaut, ob er eingenässt hat – beides kommt nach generalisierten epileptischen Anfällen häufig vor. Riecht der Atem des Patienten hepatisch, urämisch, ketotisch, nach Alkohol? Wie ist die Hautfarbe: ikterisch-gelb, aschfahl wie im Schock, zyanotisch, rosig wie bei CO-Intoxikation? Findet man kleine Hauthämorrhagien wie bei Sepsis oder Endokarditis, haben sich Hautblasen gebildet, die man bei Barbituratintoxikationen häufig sieht? Die Lage des Körpers gibt wichtige Hinweise. Wenn der Patient »wie im Schlaf« liegt, ist die Bewusstlosigkeit oft nicht sehr tief. Dies gilt auch, wenn er gähnt oder schluckt. Bei den meisten Bewusstlosen sind die Augen und der Mund geschlossen; offene, unbewegte Augen und ein offener Mund mit geringem Massetertonus deuten auf eine tiefe Bewusstlosigkeit hin. Findet sich eine kontinuierliche Kopfwendung, vielleicht mit Blickwendung? Wendung des Kopfes und der Augen, asymmetrische Beugung und Streckung der Arme und Beine zeigen meist eine Hemisphärenschädigung an. Werden die Extremitäten seitengleich bewegt? Schon bei der Inspektion kann man eine Hemiparese erkennen. Die Extremitäten der gelähmten Körperhälfte liegen schlaff und breit auf der Unterlage, das Bein ist nach außen rotiert, keine aktive Bewegung ist sichtbar, während auf der gesunden Körperhälfte Arme und Beine ungezielt bewegt werden. Rhythmische Bewegungen einer Extremität, einer Körperhälfte oder des ganzen Körpers sind Hinweise auf fortbestehende epileptische Anfälle. Die charakteristische Dezerebrationshaltung ist leicht zu erkennen: Die Arme sind adduziert und gebeugt oder proniert und überstreckt, die Beine symmetrisch überstreckt. Opisthotonus (Rückwärtsneigung des Kopfes) und Überstreckung von Rumpf und Extremitäten sowie spontane oder durch sensible Reize ausgelöste Streckkrämpfe kommen bei akuter Mittelhirnschädigung vor. Als Ursache kommen infrage: Einbruch einer Hemisphärenblutung in das Ventrikelsystem, Einklemmung des Hirnstamms

Zeichen akuter Halbseitenlähmung, die man auch ohne Mitarbeit des Patienten feststellen kann, sind: 4 Die gelähmten Gliedmaßen liegen durch Tonusverlust breiter, wie ausgeflossen auf der Unterlage (»breites Bein«), sie sind schwerer und fallen rascher und schlaffer auf die Unterlage zurück, nachdem man sie angehoben hat. 4 Spontane und schmerzreflektorisch ausgelöste Bewegungen sind auf der gelähmten Seite schwächer.

im Tentoriumschlitz bei raumfordernden intrakraniellen Prozessen oder direkte Schädigung des Mittelhirns (z.B. Trauma, Enzephalitis, Intoxikation). 2.4.3 Praktischer Ablauf der Untersuchung

eines Bewusstlosen Die Notfalluntersuchung eines Bewusstlosen kann in 2–3 min durchgeführt werden, ist einfach zu dokumentieren und muss im weiteren Verlauf mehrfach wiederholt werden, wobei man sich dann auf Symptome konzentriert, die sich mit Wahrscheinlichkeit verändern werden, wenn sich der Zustand des Patienten ändert. Ein Beispiel: Wenn der rechte Arm vollständig gelähmt ist und das rechte Bein noch Restaktivität zeigt, so wird bei einer weiteren Verschlechterung des Zustands des Patienten die Funktion des Beins weiter schlechter werden, die des Arms kann sich nicht mehr verschlechtern. Bei der neurologischen Notfalluntersuchung konzentriert man sich auf die folgenden Funktionen und Symptome: 4 Beurteilung der Bewusstseinslage und Einschätzung der Bewusstseinsstörung, 4 Atmung und Atemtyp, 4 spontane und reflektorische Augenbewegungen, 4 Pupillenweite und -reaktion, 4 Nackensteifigkeit, 4 Vorhandensein von Schutzreflexen 4 Muskeltonus und spontane Bewegungen. Die einzelnen Schritte der Untersuchung sind in . Tabelle 2.5 aufgeführt. 2.5

Notfallbehandlung

Bei der Erstversorgung eines bewusstlosen Patienten arbeitet man unter Zeitdruck. Oft gehen Befunderhebung und erste therapeutische Reaktionen Hand in Hand. . Tabelle 2.6 gibt eine Übersicht über einige wichtige Aspekte der Notfallbehandlung, zu denen die Stabilisierung von Atmung und Kreislauf, die Volumensubstitution und der Säure-Basen-Ausgleich zählen, weiterhin Gabe von Antiarrhythmika, Bilanzierung von Elektrolyten

2

90

2

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

und frühzeitige Sicherung eines zentralen Venenzugangs, Hypoglykämiebehandlung, Senkung des Hirndrucks und die Behandlung von Krampfanfällen. Problematisch ist manchmal die Blutdrucksenkung (7 Kap. 5). 2.6

Weiterführende Diagnostik

Die apparative Notfalldiagnostik zielt darauf ab, die häufigsten Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit aus neurologischer Sicht, also Blutungen, Traumen, metabolische Störungen, hypoxische Störungen oder Krampfanfälle, wahrscheinlich zu machen oder auszuschließen. Es muss sichergestellt sein, dass die geplante diagnostische Maßnahme auch beim Notfallpatienten suffizient ausgeführt werden kann, ohne dass wertvolle Zeit dadurch vergeht, und ohne dass man mit apparativen Unzulänglichkeiten kämpfen muss. Insgesamt muss eine diagnostische Ökonomie angestrebt werden, bei der mit möglichst wenigen, aber aussagekräftigen diagnostischen Methoden und einem geringen zeitlichen Aufwand eine große diagnostische Sicherheit erreicht wird. Überlegungen der finanziellen Ökonomie müssen hier hintanstehen. Jede Diagnostik muss unterbrochen werden, wenn aktuelle Störungen von Vitalfunktionen vorliegen. Zwar kann schon die klinische Symptomatik zuverlässige Hinweise auf die Ursache einer akuten Bewusstlosigkeit geben, und einige Befundkonstellationen sind geradezu typisch für eine bestimmte Ätiologie, dennoch muss bei Patienten mit unklarer Bewusstlosigkeit neben den üblichen internistischen und laborchemischen Untersuchungen eine Reihe von neurologischapparativen Zusatzuntersuchungen vorgenommen werden (7 Kap. 4): 4 Computertomographie mit CT-Angiographie. Heute können auch MR-Untersuchungen (MRT, MRA) bei Notfallpatienten durchgeführt werden, da die Untersuchungszeiten immer kürzer werden und Beatmung sowie Kreislaufmonitoring möglich sind; 4 Dopplersonographie (Frage: Gefäßverschluss oder -stenose als Quelle einer Embolie?); 4 EEG (Schwere der Allgemeinveränderung? Zeichen einer Intoxikation? Herdbefund? Ein normales EEG schließt ein Koma nicht aus: sog. Alpha-Koma, vor allem bei Läsionen der Brückenund Mittelhirnhaube, das EEG ist dann aber »areaktiv«); 4 eine Lumbalpunktion bei einem Bewusstlosen wird nur nach vorheriger CT vorgenommen, die vorherige Spiegelung des Augenhintergrunds reicht hier nicht. 2.7

Dissoziierter Hirntod

3Definition und Problematik. Das Syndrom des dissoziierten Hirntods wird nach schwersten primären Hirnschäden wie Traumen, Hirn- oder Subarachnoidalblutungen, Enzephalitis, aber auch nach vorübergehendem Herzstillstand oder bei anderen schweren sekundären, metabolischen zerebralen Krankheitspro-

zessen beobachtet. Es ist definiert als vollständiger, irreversibler Funktionsausfall des Gehirns, im Unterschied zum irreversiblen Herzstillstand, dem Herz-Kreislauf-Tod. Der Hirntod ist ein intensivmedizinisches Artefakt: Vor Einführung der assistierten Beatmung konnte er nicht entstehen, da die Schädigung des Atemzentrums zum zentralen Atemstillstand führt und, vor dem Hirntod, der Herz-Kreislauf-Tod als vermeintlich natürlicherer Tod eintritt. Andererseits war aber schon immer auch der Tod des Gehirns, auch wenn er nicht spezifisch geprüft wurde, zentraler Teil des Todes des Menschen, da das Gehirn nur wenige Minuten des Kreislaufstillstands überlebt. Mit Hilfe der Intensivmedizin ist es jetzt möglich, den Restorganismus nach dem Hirntod in Funktion zu halten. Bei der Diagnose des dissoziierten Hirntodes geht es nicht um eine prognostische Stellungnahme, sondern um die Feststellung des Ist-Zustands, also um die Frage, ob ein irreversibler totaler Funktionsverlust jetzt bereits vorliegt. Bei vielen Patienten kann die Prognose absolut infaust sein, und man weiß, dass sie die nächsten Stunden nicht überleben werden, trotzdem liegen noch nicht die Zeichen des Hirntods vor. Die sehr emotional geführte öffentliche Diskussion hat bei Patienten und Angehörigen zu Verunsicherung, Angst und Misstrauen geführt. Die Angst, für tot erklärt zu werden, obwohl der Körper noch lebt, reflektiert eine atavistische Furcht des Menschen und wird durch diese Diskussion, nur auf anderer Ebene, erneut verbalisiert. Bei keiner anderen Feststellung des Todes sind so klare Richtlinien und Untersuchungsvorschriften vorhanden wie bei der Diagnose des Hirntods. Die Angst vor der zu frühen Feststellung des Hirntods, möglicherweise sogar motiviert durch den Wunsch nach der Gewinnung von Organen für eine Transplantation, ist bei korrekter Einhaltung der verbindlichen Regeln völlig unbegründet. Die den Hirntod feststellenden Ärzte müssen vom Transplantationsteam unabhängig sein. Im Übrigen stellt sich das Problem der Diagnose des dissoziierten Hirntods viel häufiger ohne die Frage nach einer Organspende, es wird aber in der Öffentlichkeit nur in diesem Zusammenhang diskutiert. 3Klinische diagnostische Kriterien. Voraussetzung für die Diagnose des zerebralen Todes sind folgende klinische Kriterien: 4 Koma, 4 Lichtstarre beider Pupillen, die wenigstens mittelweit, meist maximal weit sind, 4 Fehlen des Kornealreflexes, 4 Fehlen von Reaktionen auf Schmerzreize im Versorgungsgebiet des N. trigeminus, 4 Fehlen des pharyngealen Trachealreflexes, 4 Fehlen des vestibulookulären Reflexes und 4 Ausfall der Spontanatmung.

Diese Kriterien müssen von zwei unabhängigen Untersuchern festgestellt werden. Bestehen beim Erwachsenen mit schwerer, primärer Hirnschädigung diese klinischen Kriterien länger als

91 2.7 · Dissoziierter Hirntod

Exkurs Apnoeprüfung Die Apnoeprüfung erfolgt beim intubierten und beatmeteten Patienten nach 20-minütiger Hypoventilation mit 100% O2 und unter intratrachealer Insufflation mit 6 l O2/min und Blutgasmoitoring bis ein pCO2 von über 60 mmHg erreicht ist. Dann wird die Beatmung unterbrochen, durch die Insufflation von 100% O2 wird die Oxygenierung des Blutes aufrecht erhalten. Wenn dieser pCO2-Reiz keine auch noch so geringe Atemexkur-

12 Stunden, so kann die Diagnose des Hirntods gestellt werden. Bei sekundärer Hirnschädigung (z.B. nach Herzstillstand und später Reanimation, metabolischem oder endokrinem Koma) erhöht sich die Beobachtungsdauer auf 72 Stunden. Die klinische Diagnose des Hirntods darf bei fortbestehender Intoxikation oder neuromuskulärer Blockade, bei fortbestehender Hypothermie und Behandlung mit sedierenden Medikamenten, z.B. Barbituraten, auch nach 72 Stunden nicht gestellt werden. Bei Kindern bis zum 2. Lebensjahr wird eine Beobachtungszeit von 24 Stunden verlangt.

sion, die man am Monitor beobachten kann, bewirkt, ist die Apnoe, das heisst der Ausfall des Atemantriebs und der Spontanatmung als Funktion des kaudalen Hirnstamms, bewiesen und ein weiteres Element des Hirntodsyndroms bewiesen. Wir führen die Apnoeprüfung nur durch, wenn die anderen Kriterien bereits erfüllt sind.

nosestellung des dissoziierten Hirntods selbst, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die Angiographie ein zusätzlicher, wenn auch nur minimaler Schaden entstehen könnte. Da heute eine Angiographie zur Diagnose der Grundkrankheit praktisch nicht mehr notwendig ist – CT und MRT, Labor und Liquor beweisen praktisch immer die zugrunde liegende Diagnose – ist die Angiographie in der Hirntoddiagnostik nicht mehr von Bedeutung.

3Technische Zusatzuntersuchungen. Diese haben den Sinn, die Beobachtungszeit zu verkürzen. Sie beweisen den Hirntod nicht alleine, sondern sind nur ein weiteres Glied in der diagnostischen Kette. EEG. Die Diagnose des Hirntods darf bei Erwachsenen mit primärer Hirnschädigung schneller gestellt werden, wenn nach der ersten Feststellung der oben genannten Kriterien ein mindestens 30 min langes artefaktfreies EEG nach den Richtlinien der Deutschen EEG-Gesellschaft abgeleitet wird und wenn dieses EEG keine aus dem Gehirn generierte bioelektrische Aktivität mehr zeigt (sog. Nulllinien-EEG (. Abb. 2.3)). Diese Aussage gilt wieder nur für Patienten mit primärer Hirnschädigung oder schwerer sekundärer Hirnschädigung mit den oben angeführten Einschränkungen. Das EEG allein beweist den zerebralen Tod nicht, da es z.B. bei schweren Vergiftungen oder Erfrierungen über längere Zeit isoelektrisch sein kann, ohne dass die Funktionsstörung des Gehirns irreversibel ist. Das EEG muss durchgeführt werden, wenn eine primär infratentorielle Hirnläsion, z.B. Basilaristhrombose oder Hirnstammblutung, vorliegt. In diesen Fällen können die klinischen Zeichen des Hirntods sämtlich durch die lokale Läsion bedingt sein (»Hirnstammtod«). Mit dem EEG wird dann der Funktionsverlust des Großhirns bewiesen. Angiographie. Der zuverlässigste Nachweis für die Feststellung des Hirntods wäre die Dokumentation des intrazerebralen Perfusionsstillstands, wie er am besten mit Hilfe der Angiographie nachgewiesen werden könnte. Diese Untersuchung darf aber nur dann ausgeführt werden, wenn sie der Suche nach der Ursache der zerebralen Funktionsstörung dient, nicht aber für die Diag-

. Abb. 2.3. Nulllinien-EEG bei Hirntod nach schwerer Hirnstammkontusion. Im oberen Bildanteil sind Artefakte bei Bewegung der Ableitekabel registriert. Im untersten Kanal ist das EKG registriert. (H. Buchner, Aachen)

2

92

Kapitel 2 · Störungen des Bewusstseins und die Untersuchung bewusstloser Patienten

. Abb. 2.4. Frühe akustisch evozierte Potentiale

2

und subkortikale somatosensibel evozierte Potentiale vor und nach Eintritt des Hirntods. Normale akustisch evozierte Potentiale 33 h vor der erstmaligen klinischen Feststellung des Hirntods. Zum Zeitpunkt des Hirntods nur noch Wellen I und II erhalten. 15 h nach Eintritt des Hirntods komplett ausgefallene FAHP. Vor Eintritt des Hirntods normale subkortikale somatosensibel evozierte Potentiale mit normalen Potentialen P9, P11 und P14. 3 h nach Eintritt des klinischen Hirntods deutlich amplitudenreduziertes, dann ausgefallenes Potential P14. (H. Buchner, Aachen)

SEP

FAHP Zeit

A1 - Cz

Zeit

Fz - Sh

– 33 – 10

P9 P11

– 10

P14 –3

–7 Hirntod –4 +1 –2 +3

Hirntod

+5 +1 + 15

µV / div 0.16

Evozierte Potentiale. Dagegen gehören inzwischen der Ausfall

der Wellen II–V der frühen akustischen Hirnstammpotentiale (. Abb. 2.4) – nur bei primärer supratentorieller Läsion – und der Verlust der kortikalen somatosensibel evozierten Potentiale bei erhaltenen spinalen Potentialen zu den offiziell anerkannten, die Beobachtungszeit verkürzenden Methoden für die Diagnose des Hirntods.

ms / div 1.000

µV / div 1.27

ms / div 5.000

Andere, aussagekräftige apparative Zusatzuntersuchungen zur Überprüfung der zerebralen Perfusion, wie die transkranielle Dopplersonographie oder fehlender zerebraler Perfusionsdrucks bei Hirndruckmessung, sind in Deutschland noch nicht als Methoden anerkannt, die die Beobachtungszeit verkürzen. Die Dokumentation des Hirntods erfolgt von zwei unabhängigen Untersuchern auf einem Formblatt, das auf jeder Intensivstation vorhanden sein sollte.

In Kürze Bewusstseinsstörungen Qualitative Bewusstseinsstörung. Störungen der Wahrnehmung, Reizverarbeitung und Orientierung oder der Bewusstheit ohne Bewusstlosigkeit. Formen: Verwirrtheit: akute, subakute oder chronisch-progredient auftretende Denkstörung, fehlende Orientierung zu Ort, Zeit und Person; Delir: Übererregbarkeit, Desorientiertheit, ängstliche psychosomatische Unruhe, Halluzination und Suggestibilität. 6

Quantitative Bewusstseinsstörung. Einschränkung des Wachbewusstseins oder der Reaktionsfähigkeit auf Außenreize. Formen: Bewusstseinstrübung: Patient ist schläfrig, öffnet kaum die Augen, kann einfache Aufforderungen nicht befolgen (Somnolenz) oder benötigt höheres Reizniveau, um zu reagieren (Sopor); Bewusstlosigkeit geht mit Koma einher, Patient ist nicht mehr erweckbar. Ursache: Akute Bewusstlosigkeit durch funktionelle oder morphologische Läsionen des aufsteigenden, aktivierenden Teils der mesenzephalen Formatio reticularis des Hirnstamms oder der Thalami. Primäre Bewusstlosigkeit durch Hirnstammblutung, sekundäre Bewusstlosigkeit durch neurologische (Trauma,

93 2.7 · Dissoziierter Hirntod

Blutung, Insult, Tumor, Abszess, Enzephalitis) oder nicht-neurologische Auslöser (Minderperfusion, Hypoxie oder metabolischtoxische Störung führen zur Hirnstammfunktionsstörung). Psychogene Bewusstseinsstörung als nicht echte Bewusstlosigkeit durch psychogen bedingte Reaktionslosigkeit (Hyperventilation).

Dezerebrationssyndrome Funktionelle Abkoppelung des Hirnstamms vom gesamten Hirnmantel ohne Verlust der Wachheit, u.a. durch schweres Hirntrauma, Enzephalitis, Blutung, Sauerstoffmangelschädigung. Symptome: Erhöhung des Muskeltonus und Wachbewusstseins, Störungen der Pupillen- und Augenmotorik. Appallisches Syndrom. Patient scheint wach, kann aber mit Umwelt keinen Kontakt aufnehmen (persistierender vegetativer Zustand), wacht selten wieder auf. Ursache: Überleben einer schweren Hirnschädigung. Akinetischer Mutismus. Spontane Motorik und verbale Äußerungen fehlen. Ursache: Dienzephale, von dorsal her wirkende raumfordernde Läsionen in Höhe des 3. Ventrikels. Locked-in-Syndrom. Vollständige Lähmung aller Extremitäten (Tetraparalyse) und nahezu aller motorischer Hirnnerven, Beatmung notwendig, Bewusstsein ist erhalten. Ursache: Primäre

Hirnstammerkrankungen wie Basilaristhrombose, Hirnstammblutungen oder -kontusionen.

Untersuchung des Bewusstlosen Neurologische Notfalluntersuchung: Behandlung lebensbedrohender Funktionsstörungen von Atmung und Kreislauf. Symptome: Akute oder intermittierende Lähmungen, Nackensteifigkeit, perakute Kopfschmerzen, akute oder subakute Querschnittslähmung, fokale oder generalisierte epileptische Anfälle, akute Bewusstseinsstörung. Notfallbehandlung: Stabilisierung von Atmung und Kreislauf, Volumensubstitution, Säure-BasenAusgleich. Weiterführende Diagnostik: CT mit CTA, MRT/MRA, Dopplersonographie, EEG, Lumbalpunktion.

Dissoziierter Hirntod Vollständiger, irreversibler Funktionsausfall des Gehirns. Ursache: Schwerste primäre Hirnschäden, vorübergehender Herzstillstand oder schwere, sekundäre, metabolische zerebrale Krankheitsprozesse. Klinische diagnostische Kriterien: Koma, Lichtstarre beider Pupillen, Fehlen von Reaktionen auf Schmerzreize im Versorgungsgebiet des N. trigeminus, Fehlen des paraphyngealen Trachealreflexes, des vestibulo-okulären Reflexes und des Kornealreflex, Ausfall der Spontanatmung. Kriterien müssen > 12 h bei schwerer, primärer Hirnschädigung, 72 h bei sekundärer Hirnschädigung, 24 h bei Kindern erfüllt sein.

2

3 Neuropsychologische Syndrome 3.1

Psychischer Befund

– 95

3.2

Neuropsychologischer Befund

3.2.1 3.2.2

Neuropsychologische Leistungen – 95 Neuropsychologische Untersuchung – 96

– 95

3.3

Aphasien

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7

Broca-Aphasie – 97 Wernicke-Aphasie – 98 Globale Aphasie – 99 Amnestische Aphasie – 100 Differenzierung der vier Aphasietypen Lokalisation – 101 Therapie – 103

3.4

Apraxie

3.4.1 3.4.2

Ideomotorische Apraxie – 104 Ideatorische Apraxie – 105

– 96

– 101

– 104

3.5

Räumlich perzeptive/konstruktive Störungen

3.5.1 3.5.2

Konstruktive Apraxie – 106 Perzeptive Störung (Räumliche Orientierungsstörung) – 107

– 106

3.6

Halbseitige Vernachlässigung (Neglect)

3.7

Anosognosie – 109

3.8

Leitungsstörungen (Diskonnektionssyndrome) – 109

– 107

3.9

Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie – 109

3.9.1 3.9.2

Einteilung der Gedächtnisfunktionen Amnesie – 110

– 109

3.10 Störungen der Aufmerksamkeit – 111 3.11 Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten – 112 3.12 Demenzsyndrome – 112 3.12.1 Kortikale und subkortikale Demenz – 113

3.13 Instinktbewegungen als neurologische Symptome – 113 3.13.1 3.13.2 3.13.3 3.13.4

Handgreifen – 114 Orales Greifen (Bewegungen der Nahrungsaufnahme) – 114 Pathologisches Lachen und Weinen – 115 Enthemmung des sexuellen und aggressiven Verhaltens – 116

95 3.2 · Neuropsychologischer Befund

> > Einleitung

3.1

Im Jahr 1848 erlitt der Bauarbeiter Phineas Gage im Alter von 25 Jahren einen schweren Arbeitsunfall. Bei Sprengarbeiten bohrte sich der Eisenstab, mit dem das Sprengpulver in die Bohrung gestopft wird, quer durch seinen Kopf. Er trat an seiner linken Wange ein, durchbohrte die Schädelbasis und den rechten Frontallappen und trat rechts frontal wieder aus. Phineas Gage verlor nicht einmal das Bewusstsein und wurde sitzend in einer Kutsche wegtransportiert. Der Eisenstab wurde entfernt, der Patient erholte sich erstaunlich gut und wurde nach zwei Monaten als geheilt entlassen. Er konnte sprechen, hören, hatte keine Lähmungen und keine Störungen der Feinmotorik, nicht einmal Koordinationsstörungen. Aber er war nicht mehr Phineas Gage: Aus einem freundlichen, unterhaltsamen, selbstbewussten und immer rücksichtsvollen jungen Mann war eine unkontrollierte, aggressive und überall aneckende Person geworden. Seine verbalen Äußerungen waren einsilbig, unfreundlich, vulgär, obszön und beleidigend. Seine gesamte Persönlichkeit kontrastierte scharf mit seinem ehemaligen Wesen. Was war geschehen? Die Verletzung hatte Bereiche des Gehirns zerstört, in denen offensichtlich Verhaltensweisen repräsentiert sind, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Hirnschädigungen führen nicht nur zu Lähmungen oder Gesichtsfelddefekten, sondern können auch psychologische Beeinträchtigungen zur Folge haben. Im Gehirn werden auch Funktionen wie Sprachvermögen, Gedächtnis, die Ausführung zweckmäßiger Handlungen, visuelle und akustische Wahrnehmungen sowie räumliche Orientierung organisiert, um nur die wichtigsten zu nennen. Neuropsychologische Syndrome, also die Störungen dieser Funktionen, werden empirisch mit Läsionen in umschriebenen Regionen des Assoziationskortex und seiner Verbindungsbahnen in Beziehung gebracht. Die Prinzipien der Netzwerkorganisation und der multiplen Repräsentation erlauben jedoch keine festen lokalisatorischen Zuordnungen. Der psychische Befund gehört zur neurologischen Untersuchung, auch wenn sich viele Patienten dagegen wehren und vehement ablehnen, dass eine Beschreibung des psychischen Befunds in den neurologischen Befund eingeht. Sie fühlen sich hierdurch diskriminiert und psychiatrisiert, und verlangen, dass sowohl der Befund aus dem Arztbericht als auch die Untersuchungsleistung aus der Rechnung entfernt wird. Nicht selten ist dieses Phänomen bei Akademikern und auch bei Ärzten zu finden – ein Zeichen dafür, dass der Weg zum unbefangenen Umgehen mit der Psyche noch weit ist. Das Gehirn ist unzweifelhaft der Ort, in dem psychische Leistungen generiert werden, auch wenn es Fehlleistungen sind. Dass bei organischen Krankheiten des Gehirns auch psychische und neuropsychologische Funktionen gestört sein können, ja müssen, ist logisch und trivial. Dazu kommt, dass neurologische Symptome wie Schmerzen, Lähmungen, Anfälle, Gangstörungen und viele andere mehr auch Gegenstand einer psychogenen Syndrombildung sein können. Umso wichtiger ist die unvoreingenommene Beschreibung des psychischen Befunds.

Der psychische Befund wird oft vernachlässigt. Viele Untersucher geben nur eine farblose Reihe von Kriterien an, nach denen alle Patienten gleich erscheinen: Sie konstatieren, dass der Patient bewusstseinsklar und voll orientiert ist, keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen aufweist (die bei neurologischen Krankheiten ohnehin kaum zu erwarten sind) und dass keine »Werkzeugstörungen« vorgelegen haben. Stattdessen sollte man zuerst versuchen, das Verhalten des Patienten (spontan, im Gespräch und während der Untersuchung) so anschaulich zu beschreiben, dass sich jeder, der die Krankengeschichte liest, einen eigenen Eindruck bilden kann. Danach geht man auf die wichtigsten geistig-seelischen Kategorien ein, auf die man in der Exploration und während der neurologischen Untersuchung geachtet hat: Bewusstsein, Orientiertheit, spontaner Antrieb, Anregbarkeit, Stimmung, affektive Resonanz, den mimischen, gestischen und sprachlichen Ausdruck sowie schließlich Aufmerksamkeit, Konzentration, begriffliche Schärfe des Denkens und Merkfähigkeit. Leider hat es sich eingebürgert, anstelle anschaulicher Beschreibungen des Verhaltens schablonenhafte Begriffe wie »Durchgangssyndrom« oder »hirnorganisches Psychosyndrom« (kurioserweise abgekürzt zu HOPS) zu verwenden, und zwar ohne weitere Charakterisierung. Wir halten nichts von solchen blassen Kategorien, die den falschen Eindruck erwecken, dass organische Hirnschädigungen jeder Art und Lokalisation ein einheitliches Syndrom von psychiatrisch-neuropsychologischen Veränderungen zur Folge haben. Nur am Rande sei bemerkt, dass mit dem Terminus »Durchgangssyndrom« oft auch psychische und psychologische Veränderungen belegt werden, die bleibende Defektzustände sind. Bei vielen Krankheitszuständen wird dieser Begriff vorschnell und oberflächlich angewendet, und eine Beschreibung im oben skizzierten Sinne wäre vorzuziehen. Wer dennoch den Begriff des Durchgangssyndroms verwendet, sollte dieses durch ein beschreibendes Eigenschaftswort, etwa »aspontan« oder »delirant«, charakterisieren. 3.2

Psychischer Befund

Neuropsychologischer Befund

3.2.1 Neuropsychologische Leistungen Jeder kennt ältere Menschen, deren Gedächtnisfunktionen gelitten haben. Sie suchen »ständig« Gegenstände des täglichen Gebrauchs, behalten nicht, was man ihnen sagt und reden immer wieder von längst vergangenen Ereignissen. Andere finden sich in der gewohnten Umgebung nicht mehr zurecht, wieder andere können ihren Tagesablauf nicht mehr organisieren. Etwa 30% der Menschen, die einen Schlaganfall überleben, können nicht mehr korrekt und manchmal überhaupt nicht mehr verständlich sprechen und auch gesprochene oder geschriebene Sprache nicht mehr verstehen. Solche Menschen werden leicht

3

96

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Exkurs Intelligenz- und Persönlichkeitstests

3

Bei der Berechnung des Intelligenzquotienten in der Durchschnittsbevölkerung liegen 50% aller Untersuchten zwischen 90 und 110 sog. IQ-Punkten, je 25% darunter und darüber. Diese werden als unterdurchschnittlich bzw. überdurchschnittlich bezeichnet. Unterdurchschnittlich heißt nicht abnorm. Personen ohne Hauptschulabschluss haben oft einen IQ von unter 100, Volksschüler um 100, Oberschüler liegen oberhalb von 110. Bei einem IQ unter 70 spricht man von Debilität. Die Frage, ob jemand hirngeschädigt oder infolge einer Hirnschädigung intellektuell beeinträchtigt ist, lässt sich nur ganz grob beantworten, zumal der prämorbide IQ aufgrund von Schulbildung und Berufsposition geschätzt wird. Es ist nicht richtig, dass eine Hirnschädigung verbale Leistungen fast unberührt lässt, praktische Leistungen dagegen stärker beeinträchtigt. Die alte Behauptung: Verbal-IQ wesentlich höher als Handlungs-IQ = Hirnschädigung trifft nicht zu. Extreme Gipfel und Täler im Testprofil sind aber äußerst selten, und im Allgemeinen korre-

für verwirrt oder »abgebaut« gehalten, selbst wenn ihre Fähigkeit zum Erfassen sozialer Situationen und zum logischen Denken, d.h. zum Schlussfolgern, erhalten ist. Die Bezeichnung neuropsychologische Syndrome zeigt, dass hier Leistungen gestört sind, die normalerweise in den Bereich der Psychologie gehören. Sie müssen deshalb auch beim neurologischen Patienten mit psychodiagnostischen Tests oder mit den Methoden der experimentellen Psychologie untersucht werden. An geeignete, neuropsychologische Untersuchungsmethoden sind folgende Anforderungen zu stellen: 4 Sie sollen die zu untersuchende Leistung auch tatsächlich prüfen (Validität). 4 Sie müssen unter standardisierten Bedingungen angewandt und ausgewertet werden. 4 Die Ergebnisse sollen verlässlich (Reliabilität) und, wo immer möglich, quantifizierbar sein. 3.2.2 Neuropsychologische Untersuchung

lieren die Leistungen unter den oben referierten recht verschiedenen Beanspruchungen erstaunlich gut miteinander. Trotz gewisser Unterschiede in den Begabungskonstellationen leisten bestimmte Menschen in den verschiedenen Situationen ziemlich gleichmäßig mehr und andere ziemlich gleichmäßig weniger. Deshalb hat der empirisch gewonnene Begriff des Intelligenzquotienten doch seine Berechtigung. Was man Intelligenz nennt, ist das Produkt aus Leistungsverhalten in verschiedensten Situationen. Intelligenz setzt sich also aus Partialfertigkeiten zusammen und ist insofern eine Abstraktion. Diese Partialfertigkeiten korrelieren aber sehr hoch miteinander. Persönlichkeit. Persönlichkeitsfragebogen, wie MMPI (= Minnesota Multiphasic Personality Inventory) oder FPI (= Freiburger Persönlichkeitsinventar) geben wertvolle Aufschlüsse über die affektive Seite der Persönlichkeit und ihre Charakterstruktur, gehören aber seltener zur neuropsychologischen Untersuchung.

dem Intelligenzstrukturtest (IST) gewinnen. In diesen, wie auch in anderen Intelligenztests, wird eine Reihe von Partialleistungen untersucht: 4 das reine Erfahrungs- und Bildungswissen, 4 das Verständnis für soziale Situationen, 4 das abstrahierende Denken, geprüft an der Bildung von Oberbegriffen, 4 das logische Denken und Schlussfolgern, geprüft über das Herstellen der richtigen Reihenfolge von Bildern, die bestimmte Szenen anschaulich darstellen, 4 das Analysieren und Umstrukturieren visueller Muster (Mosaiktest, Figuren nach Art eines Puzzle zusammenlegen), 4 die verbale Ausdrucksfähigkeit und die Gewandtheit im Umgang mit sprachlichen Begriffen, geprüft über den Wortschatz, 4 die Rechenfertigkeit, 4 die unmittelbare Merkspanne und 4 das psychomotorische Tempo, geprüft z.B. in einem Untertest, in dem unter Zeitbegrenzung festgelegte Symbole für Zahlen eingesetzt werden müssen.

Bei jedem Verdacht auf eine Hirnschädigung sollte wenigstens eine orientierende neuropsychologische Untersuchung vorgenommen werden. Hierzu gehört eine kurze Intelligenzprüfung, eine Aphasieprüfung, die Untersuchung von Lesen und Schreiben sowie die Prüfung der Praxie, der optisch-räumlichen Vorstellung, der konstruktiven Leistungen und des optischen Erkennens.

Die Leistungen der Versuchspersonen in den verschiedenen Untertests werden zwar einzeln berechnet, dann aber zu einem Gesamtergebnis zusammengefasst, das man den Intelligenzquotienten nennt. Seine Punktzahl ist ein globales Maß für die intellektuelle Allgemeinbefähigung eines Menschen.

Intelligenz Zuverlässige Befunde über die intellektuelle Leistungsfähigkeit kann man nur in einer neuropsychologischen Untersuchung mit standardisierten Testverfahren, wie dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIE), dem Leistungsprüfsystem (LPS) oder

3.3

Aphasien

3Definition. Aphasie ist eine Störung im kommunikativen

Gebrauch der Sprache, die in verschiedenen Formen auftreten kann. Sie muss von den Funktionsstörungen der Sprechmotorik

97 3.3 · Aphasien

Exkurs Dysarthrophonie Sprechstörungen werden durch Funktionsstörungen auf allen Ebenen verursacht, auf denen Motorik organisiert wird. Dass die Sprechmotorik ein so feiner Indikator motorischer Störungen ist, wird durch die folgenden Überlegungen verständlich: Am Sprechen sind etwa 100 Muskeln beteiligt. Jeder Muskel enthält wenigstens 100 motorische Einheiten, von denen in einem gegebenen Augenblick schätzungsweise 10 aktiv sind. Beim Sprechen werden im Durchschnitt 14 Laute pro Sekunde geäußert. Daraus folgt, dass pro Sekunde 14.000 verschiedene neuromuskuläre Ereignisse oder Ereigniskombinationen im korrekten Zeitablauf der Innervation zur sprechmotorischen Leistung koordiniert werden müssen. Wir unterscheiden in der Neurologie folgende Sprechstörungen:

unterschieden werden, die man als Dysarthrophonie bezeichnet. Dieser Terminus sollte die alte Bezeichnung Dysarthrie (griech. árthros, Gelenk) ablösen, weil nicht nur die Artikulationsmotorik, sondern auch Stimmgebung und Sprechatmung gestört sind. 3Diagnostik. Spontansprache: Die Diagnose einer Aphasie verlangt eine eingehende neuropsychologische Untersuchung. Der wichtigste Teil der Untersuchung ist die genaue Beobachtung des spontanen Sprachverhaltens. Man lässt den Patienten möglichst frei und ohne störende Unterbrechung über Themen berichten, die ihm emotional nahe liegen und denen er intellektuell gewachsen ist: Entwicklung der Krankheit und gegenwärtige Beschwerden, berufliche Tätigkeit, Lebensgeschichte. Der Untersucher soll sich dabei so weit wie möglich zurückhalten und nur so viele Fragen stellen oder kurze Bemerkungen machen, wie nötig sind, um den Patienten am Reden zu halten. Man achtet dabei auf 4 Sprachanstrengung, 4 Flüssigkeit des Sprechens, 4 Sprachmelodie, 4 Artikulation, 4 Entstellung von Wörtern, 4 falsche Wortwahl, 4 Wortneubildungen (Paraphasien), 4 Umschreibungen anstelle eines gesuchten Wortes, 4 die syntaktische Struktur der Sätze, 4 das Sprachverständnis und 4 die Reaktion des Patienten auf seine eventuellen sprachlichen Minderleistungen.

Aus dem spontanen Sprechen ergeben sich oft schon wichtige Aufschlüsse für die Beurteilung der einzelnen sprachlichen Minderleistungen, die später durch spezielle Tests gezielt untersucht werden. Sprachtests: Für die genauere Diagnostik wird die Spontansprache wie auch die Sprachproduktion in der Testsituation (s.u.) auf Tonband oder Kassette aufgenommen. Für die Klassifizie-

4 die kortikale, pseudobulbäre oder bulbäre Dysarthrophonie, die auf zentraler Bewegungsstörung oder peripherer Lähmung der Sprechmuskulatur beruht, 4 die zerebelläre Koordinationsstörung der Sprechbewegungen, die sich als skandierendes oder verwaschenes Sprechen äußert, 4 die Artikulationsstörungen bei Krankheiten der Basalganglien (7 Kap. 23). Die Dysarthrophonie kann isoliert als reine Sprechstörung auftreten. In der Form der sog. kortikalen oder Hemisphärendysarthrophonie kann sie auch eine aphasische Sprachstörung begleiten.

rung und die Feststellung des Schweregrads der Aphasie verwendet man verschiedene Aufgabentypen, die unterschiedliche Sprachleistungen prüfen: 4 Nachsprechen von Lauten, Wörtern und kurzen Sätzen, 4 Benennen und Beschreiben von gezeigten Abbildungen, 4 Verständnis für Namen von Objekten und für Sätze, geprüft mit Auswahlaufgaben, 4 Schriftsprache. Ein linguistisch aufgebauter, psychometrisch zuverlässiger Test ist der Aachener Aphasie-Test (AAT), dessen Ergebnisse auch als Grundlage der logopädischen Therapie von Aphasien dienen. Die übliche Klassifikation der Aphasien bezieht sich auf Sprachstörungen bei Schlaganfallpatienten in der chronischen Erkrankungsphase (ab ca. 6 Wochen nach dem Ereignis). Bei anderen Krankheiten oder in der Akutphase trifft diese Einteilung oft nicht zu. Hier beschränkt man sich auf die Beschreibung der Symptome und – in Abhängigkeit von der Spontansprache – auf eine Einteilung in »flüssige« oder »nichtflüssige« Formen. 3.3.1 Broca-Aphasie Patienten mit Broca-Aphasie zeigen eine starke Sprachanstrengung und Agrammatismus bei relativ gutem Sprachverständnis und meist erhaltenem Störungsbewusstsein, d.h. die Patienten bemerken ihre Defizite und leiden sehr darunter. Spontansprache. Die Kranken sprechen spontan fast gar nicht. Nach Aufforderung bringen sie zögernd, mühsam nach Worten ringend, in abgehackter Betonung und undeutlicher Artikulation sehr kurze Sätze hervor. Die Struktur dieser Sätze ist auf einzelne, kommunikativ wichtige Substantive, Verben und Adjektive reduziert, während Artikel, Konjunktionen, Präpositionen und Pronomina sowie auch die Deklinations- und Konjugationsformen fortfallen (Agrammatismus oder Telegrammstil).

3

98

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Exkurs Transskript bei Broca-Aphasie

3

Untersucher: Wie hat das denn angefangen mit Ihrer Krankheit? Patient: Meine Frau und ich … schwimmen … und war Bade … un … eh … eh … eh … Ba … de … un … ah … nein. Untersucher: Doch, stimmt … Bade … un … Patient: Nein. Untersucher: Badeunfall.

Die Wörter sind durch phonematische Paraphasien verändert, bei denen einzelne Laute oder Silben ausgelassen, umgestellt oder entstellt werden: z.B. Meksel statt Messer, Zezember statt Dezember, Geschwindkeit, Beilstift, Tatschentuch. Die Broca-Aphasie ist meist mit einer artikulatorischen Sprechstörung (Dysarthrophonie) verbunden. Läsionen in der Operkularregion der nichtdominanten Hemisphäre führen zu einer rasch vorübergehenden dysarthrophonischen Sprechstörung ohne Aphasie. Viele Patienten mit Broca-Aphasie und rechtsseitiger Halbseitenlähmung haben eine sympathische Dyspraxie der linken Hand (s.u.). > Broca-Aphasie: Sprachanstrengung, Telegrammstil,

Agrammatismus, phonematische Paraphasien, aber oft relativ gut erhaltenes Sprachverständnis Sprachverständnis. Regelmäßig findet man auch Störungen im Sprachverständnis in unterschiedlicher Ausprägung. Diese beeinträchtigen die Kommunikation aber nicht erheblich. Gelegentlich deckt erst die standardisierte Aphasieprüfung Sprachverständnisstörungen auf, die in der Exploration nicht zu erkennen waren. Schreiben und Lesen. Das Schreiben kann bei rechtsseitiger Läh-

mung manchmal mit der linken Hand geprüft werden und ist in ähnlicher Weise wie das Sprechen durch Agrammatismus und Paragraphien gestört. Eine aphasische Agraphie lässt sich gut nachweisen, wenn die Patienten aus Buchstabentäfelchen Wörter und/oder aus Satzteilen Sätze nur fehlerhaft zusammenlegen. Das Lesen ist in dem Maße beeinträchtigt wie das Sprechen, das Lesesinnverständnis ist dagegen verhältnismäßig gut erhalten. Es sind also alle expressiven sprachlichen Leistungen betroffen, aber auch die rezeptiven Sprachleistungen sind nicht intakt. 3.3.2 Wernicke-Aphasie Patienten mit Wernicke-Aphasie zeigen einen gut erhaltenen Sprachfluss, meist eine überschießende Sprachproduktion mit reichlich phonematischen oder semantischen Paraphasien und Neologismen. Das Sprachverständnis ist stark gestört, so dass die Kommunikation erheblich eingeschränkt ist. Patienten mit Wer-

Patient: Unfall ja … nicht … und zwar … meine … Frau und ich eh … eh … eh … Badeanstalt … und dann schwimmen … einmalig … nicht … eh … eh … eh … prima … eh … eh … Wasser … nicht … und dann eh … eh … eh … dann … eh … Beterbrett … und zwar runtergesprungen … untata … getaucht … und dann eh … eh … Wasser auch … eh … eh … eh … und dann eh … eh … ich auf einmal weg … weg … also … belwusstlos.

nicke-Aphasie werden häufig als verwirrt ins Krankenhaus eingewiesen, weil die schwer verständliche Rede als Ausdruck einer Denkstörung aufgefasst wird. Spontansprache. Die Spontansprache der Patienten ist gut artikuliert und von normaler Prosodie (Sprachmelodie und -rhythmus). Phrasenlänge und Sprechgeschwindigkeit entsprechen der Normalsprache. Die Rede ist durch reichliche Paraphasien entstellt, die die Patienten meist nicht zu verbessern suchen. Bei manchen Kranken überwiegen phonematische (die Lautstruktur betreffend), bei anderen semantische (den Bedeutungsgehalt betreffend) Paraphasien. Dies sind Fehlbenennungen, die meist aus dem Bedeutungsfeld des Zielworts stammen, aber auch grob davon abweichen können. Die paraphasischen Entstellungen können zu Neologismen führen, d.h. zu Wörtern, die wegen ihrer phonematischen oder semantischen Struktur nicht zum Wortschatz der jeweiligen Sprache gehören. Wenn die Rede durch Paraphasien und Neologismen so entstellt ist, dass sie über weite Strecken für den Gesprächspartner nicht mehr verständlich ist, nennt man das Jargon-Aphasie. Der Satzbau ist aufgrund von fehlerhafter Kombination und Stellung von Wörtern, von Satzabbrüchen, Verschränkungen von Sätzen und aufgrund falscher Endungsformen gestört. Diese Veränderungen des Satzbaus werden unter dem Begriff Paragrammatismus zusammengefasst. > Wernicke-Aphasie: Reichliche, unkontrollierte Sprach-

produktion, semantische Paraphasien, Paragrammatismus und die schwere Störung im Sprachverständnis. Sprachverständnis. Dieses ist erheblich beeinträchtigt: Die Patienten erfassen die Rede ihres Gesprächspartners nur ganz ungefähr und können beim Benennen von Objekten, das ihnen grob misslingt, aus einer angebotenen Auswahl von Bezeichnungen nicht die zutreffende erkennen. Formal bleibt dabei der dialogische Austausch von Rede und Gegenrede (sog. Sprecherwechsel) erhalten. Weitere Symptome. Nachsprechen, Lesen, spontanes Schrei-

ben und nach Diktat schreiben sind durch Paraphasien, Paralexien und Paragraphien entstellt, mündliches und schriftliches Rechnen sind schwer gestört. Mechanisches Kopieren ohne Verstehen des Geschriebenen und Aufsagen automatisierter Rei-

99 3.3 · Aphasien

Exkurs Transkripte von Patienten mit Wernicke-Aphasie 1. Wernicke-Aphasie mit vorwiegend semantischen Paraphasien: Untersucher: Sie waren doch Polizist, haben Sie mal einen festgenommen? Patient: Na ja … das ist so … wenn Sie einen treffen draußen abends … das ist ja … und der Mann wird jetzt versucht … als wenn er irgend was festgestellen hat ungefähr … ehe sich macht ich … ich kann aber noch nicht amtlich … jetzt muss er sein Beweis nachweisen … den hat er nicht … also ist er fest … und wird erst sicher gestellt festgemacht … der wird erst festgestellt werden und dann wird festgestellt was sich dort vorgetragen hat … nicht … erst dann … ist ein Beweis mit seinen

Papier dass er nachweisen kann … ich kann ihm aber nicht nachweisen … wird aber bloß festgestellt vorläufig … aber er kann laufen. 2. Wernicke-Aphasie mit überwiegend phonematischen Paraphasien: Untersucher: Können Sie mich eigentlich verstehen? Patient: Ich brauch unbedingt die Helfen des Seren … ah … das mir die Möglichkeit gibt der Intolationen zu verarbeitnen und anzuweitnen … die ich ohne … z.B. mit geschlognen Augnen gar nich mehr benutzen könnte. Da wird also das gleich … das gleich … äh … exkult … verschiedn.

Exkurs Transkripte von Patienten mit Jargon-Aphasie 1. Wernicke-Aphasie mit phonematischem Jargon: Untersucher: Was haben Sie denn an diesem Wochenende gemacht, Herr P.? Patient: Jeden Tag … Kegenabende … fringe … der Menschen reden … nicht … dann fringe … in … in Tage in Menschen … und immer Papa immer wergen. Untersucher: Gehen Sie manchmal auch schwimmen? Patient: Ja ich … als einschmal war ich geh ich aber die kommersch wegen … kommt es langsam … kommer … da bin ich … no als Menschen kommer jetzt menscher mensch … und ich werde dann wieder komm …

hen gelingt oft gut, jedenfalls besser als die übrigen Sprachleistungen. Ein Störungsbewusstsein fehlt häufig, d.h. die Patienten bemerken nicht, dass sie keine sinnvolle Sprachproduktion mehr haben. Jargon-Aphasie Von Jargon-Aphasie spricht man, wenn die Rede durch Paraphasien und Neologismen so entstellt ist, dass sie über weite Strecken nicht mehr verständlich ist. Dabei können wiederum phonematische Entstellungen oder semantische Paraphasien überwiegen. Zwei Beispiele erläutern diese beiden Formen der Jargon-Aphasie. 3.3.3 Globale Aphasie Bei der globalen Aphasie sind alle expressiven und rezeptiven sprachlichen Funktionen erheblich und etwa gleich schwer beeinträchtigt. Spontansprache. Im akuten Stadium machen globale Aphasiker kaum einen Versuch, spontansprachlich oder mimisch und gestisch mit der Umgebung kommunikativen Kontakt aufzuneh-

2. Wernicke-Aphasie mit semantischem Jargon: Der Patient soll eine Kneifzange benennen: »Kann man halt zurechtlegen irgendwie, wie man will, irgendwie drehen, Sie meinen doch, wenn da ein Steck dran ist, das Besteck, halt, halt die Uhr kann man da vielleicht abmachen, könnte man auch, weiß nich, was da noch dabei dran, muss abschalten, nich, kann es aber auch so machen und irgendwie als was anderes dazu, vielleicht irgendwie was anbringen muss, irgendwie vielleicht was Innenverbindung und dann wieder dick machen, oder so was.«

men. Auf Ansprache wenden sie sich zu, verstehen aber nur einfachste Aufforderungen und Fragen, die man zudem so stellen muss, dass die Reaktion trotz Apraxie und Hemiparese noch zu beurteilen ist. Ihre sprachlichen Reaktionen sind, wenn die Patienten überhaupt sprechen, kaum verständlich. Sie bestehen aus schlecht artikulierten und mit großer Sprachanstrengung und mangelhafter Prosodie hervorgebrachten, stereotyp wiederholten Wortfragmenten. In diesem Stadium ist eine umfassende Aphasieprüfung nicht möglich. Man muss die Untersuchung auf Nachsprechen oder Mitsprechen beschränken, was häufig die einzige Möglichkeit ist, den Patienten zu sprachlichen Äußerungen zu bringen. Fortlaufende Sprachautomatismen: Eine Untergruppe von Kranken mit globaler Aphasie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne Sprechanstrengung, mit gewisser Prosodie und Artikulation immer wieder dieselben sprachlichen Äußerungen produzieren, die entweder aus aneinandergereihten sinnlosen Lautfolgen bestehen (»tatatatata«) oder aus floskelhaften Wendungen und Stereotypien wie »Liebesleibesleben Amen« oder »ja Lilli, nein Lilli«. Sie werden als fortlaufende Sprachautomatismen oder recurring utterances bezeichnet. Das Sprachverständnis ist sehr schwer gestört.

3

100

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Exkurs Transkript bei globaler Aphasie

3

Die Form der Kommunikation mit einem schwer gestörten globalen Aphasiker illustriert folgendes Beispiel: Untersucher: Seit wann sind Sie denn schon bei uns hier? Patient: … wa … pa Untersucher: Sind Sie heute erst gekommen? Patient: ja … ja … ja Untersucher: Wohnen Sie in Aachen? Patient: wa … wa Untersucher: Wo wohnen Sie denn da in Aachen? Patient: … ich … wa … pompe Untersucher: mhm Patient: ja … ja

Untersucher: Jetzt erzählen Sie mir mal, was Sie für Beschwerden haben. Patient: ja … wa … pompe Untersucher: Sprechen Sie mal schön deutlich … schön laut und deutlich. Patient: schön … schön … schön Untersucher: Haben Sie eine Familie? Patient: Familie … ja Untersucher: Wie viele Kinder haben Sie? Patient: zwei … zwei … zw Untersucher: Und wie alt sind Ihre Kinder? Patient: zwei Mädchen und ein … ein Männchen.

Exkurs Transkript bei amnestischer Aphasie Untersucher: Frau J., können Sie mir mal sagen, wo Sie geboren sind, wie Sie aufgewachsen sind, was der Vater von Beruf gemacht hat. Patientin: Mein Vater ist … eh … vermisst … 1942 … und meine Mutter ist … wir sind im Dorf aufgewachsen … ja sonst … was soll man machen … groß … gr … drei Kinder … sind wir … und an und für sich … ganz gut aufgewachsen … sehr gut … trotz meinem Vater … dass der … mein Großmutter war … wir sind alle zusammengelebt. Untersucher: Hatten Sie noch Geschwister? Patientin: Ja … hatt ich … zwei … hatt ich doch gesagt. Untersucher: Und was für eine Schule haben Sie dann besucht? Patientin: Ich bin nur die … Volksschule be … eh … wie soll man sagen … normale Volksschule … und dann bin ich … eh

> Globale Aphasie: Störung von Sprachproduktion und

Sprachverständnis, Sprachanstrengung, semantische und phonematische Paraphasien, Stereotypien, manchmal gar keine Sprachäußerung oder Kommunikation möglich.

3.3.4 Amnestische Aphasie Patienten mit amnestischer Aphasie zeigen in erster Linie Wortfindungsstörungen, die den ansonsten gut erhaltenen Sprachfluss ins Stocken bringen können. Sie werden meist durch Ersatzstrategien kompensiert. Das Sprachverständnis und der Satzaufbau sind nur gering gestört, die Kommunikationsfähigkeit ist recht gut erhalten. Spontansprache. Bei leichteren Formen können die Patienten

eine Unterhaltung flüssig, sinnvoll und in syntaktisch korrekten Sätzen führen. Man bemerkt aber bald, dass sie sich auffällig un-

… (hustet) … auf gute Leistung wie man das drüben sagt bei d‹ … eh … bei der DDR drüben … ja bin ich noch auf … (stöhnt) … Institut für Lehrerbildung … so jetzt weiß ich das … Lehrerbildung und nun hab ich … nachher Kinder … eh Kindergarten gemacht … das heißt … Kindergarten nicht … bis jetzt in … diesem Jahr … hab ich jetzt … Volksschule … Kindergarten hätt ich beinah gesagt (flüstert) nee nicht … (laut) nein Kindergarten … nicht … Kinderheim … Kinderheim hab ich gemacht … Ja … Kinderheim hab ich gemacht. Untersucher: Was haben Sie denn da gemacht in dem Kinderheim? Patient: Nur … Kinder … garten … eh … Kinder … Kindergarten … wie soll ich sagen … Kindergarten geleitet … also wie man sagt … Kindergarten nicht … also Kinder … Kindergruppen geleitet.

präzise ausdrücken und die genaue Bezeichnung für Objekte und Tatbestände durch Umschreibungen und allgemeine, schablonenhafte Redensarten ersetzen. Auf die Frage nach seinem Beruf erwiderte ein Schäfer z.B.: »Ich bin so durch die Gegend gelaufen«, auf die Frage nach dem Wohnort sagte eine Patientin: »Wo die Großstadt ist, da wohne ich noch immer«, eine andere: »Da, wo ich eben immer arbeiten tu«. Auf die Frage nach den Beschwerden hört man oft die vage Antwort: »Ach, es geht eben doch nicht so ganz«. In schweren Fällen haben die Kranken eine zögernde Sprechweise. Sie ergreifen kaum spontan das Wort, antworten auf Fragen nur in kurzen Sätzen und führen das Gespräch nicht aktiv weiter. Häufig werden die Sätze auf halbem Wege abgebrochen, und die Patienten nehmen auch gestische Darstellungen zu Hilfe. Paraphasien kommen in geringer Häufigkeit vor. Insgesamt wirkt die Rede der Patienten in ihrer sprachlichen Form verhältnismäßig intakt, sie fällt jedoch durch ihren geringen Informationsgehalt auf, wie das nachfolgende Beispiel aus der Spontansprache einer 34-jährigen Heilpädagogin zeigt.

101 3.3 · Aphasien

Wortfindungsstörung. Bei näherer Prüfung findet man eine Stö-

rung des Benennens, die sich auf Hauptwörter, Eigenschaftswörter und Tätigkeitswörter erstreckt (Wortfindungsstörung). Die gesuchten Wörter werden entweder gar nicht gefunden, durch ein Füllwort ersetzt (»das Dings da«) oder durch charakterisierende Umschreibungen ersetzt. Manche Patienten nennen nur die übergeordnete Kategorie: Buch statt Notizbuch, Tier statt Hund, andere beschreiben den Gebrauch oder die besondere Eigenschaft des Gegenstandes: Gürtel = zum die Hose zu halten; Bleistift = zum Schreiben; Taschenlampe = da macht man Licht mit; Kalender = schöne Bilder, bis 30. Das heißt: Der Patient ist im Wortfeld, tastet sich aber mühevoll und oft erfolglos an das gesuchte Wort heran. In der spontanen Beschreibung kann ein Wort, das in der Untersuchungssituation nicht reproduziert wurde, plötzlich zur Verfügung stehen: Ein Patient, der seine Brille nicht zu benennen wusste, kann einige Minuten später, bei der Prüfung des Lesens, erklären, jetzt müsse er erst seine Brille aufsetzen. Bietet man den Patienten bei der Prüfung eine Auswahl von Benennungen an, sind sie in der Lage, prompt die zutreffende herauszufinden, allerdings mit einer gewissen subjektiven Unsicherheit: Kugelschreiber, oder …? Sprachverständnis. Im Hinblick auf das Sprachverständnis sind

Patienten mit amnestischer Aphasie im Gespräch unauffällig. Die Schriftsprache ist ähnlich beeinträchtigt wie das Sprechen, das Lesesinnverständnis meist erhalten.

3.3.5 Differenzierung der vier Aphasietypen Die verschiedenen Formen von Aphasie werden in . Tabelle 3.1 differenziert. Alle diese klinisch unterschiedenen Formen der Aphasie haben eine Reihe von Eigenschaften gemeinsam: Immer ist die Aussagesprache, z.B. die Fähigkeit, einen Bericht zu geben, ein Objekt oder einen Tatbestand zu benennen, stärker betroffen als die emotionale Sprache und die präformierten automatisierten Sprachäußerungen und sozialen Floskeln. Die Ausprägung der aphasischen Sprachstörungen ist sehr von der affektiven Verfassung, von der Antriebs- und Bewusstseinslage abhängig, daher kann beim selben Patienten die Schwere der sprachlichen Minderleistungen in wechselnden Situationen ganz unterschiedlich sein. Über die Differenzierung nach Aphasietypen hinweg ist eine Einteilung nach Schweregraden für Verlaufsuntersuchungen, für die Planung der Sprachtherapie und für die Beurteilung der Rehabilitation nützlich (. Tabelle 3.2). 3.3.6 Lokalisation Lateralisierung Beim erwachsenen Rechtshänder sind Läsionen in der linken Fronto-Temporo-Parietalregion regelmäßig von aphasischen Störungen gefolgt. Die Sprachfähigkeit ist bei ihm also an die Intaktheit der Hemisphäre gebunden, die die Bewegungen der

. Tabelle 3.1. Klassifikation und Leitsymptome der aphasischen Syndrome Amnestische Aphasie

Wernicke-Aphasie

Broca-Aphasie

Globale Aphasie

Sprachproduktion

Meist flüssig

Flüssig

Erheblich verlangsamt

Spärlich bis 0, auch Sprachautomatismen

Artikulation

Meist nicht gestört

Meist nicht gestört

Oft dysarthrisch

Meist dysarthrisch

Prosodie (Sprachmelodie, -rhythmus)

Meist gut erhalten

Meist gut erhalten

Oft nivelliert, auch skandierend

Oft nivelliert, bei Automatismen meist gut erhalten

Satzbau

Kaum gestört

Paragrammatismus (Verdoppelungen und Verschränkungen von Sätzen und Satzteilen)

Agrammatismus (nur einfache Satzstrukturen, Fehlen von Funktionswörtern)

Nur Einzelwörter, Floskeln, Sprachautomatismen

Wortwahl

Ersatzstrategien bei Wortfindungsstörungen, einige semantische Paraphasien

Viele semantische Paraphasien, oft grob vom Zielwort abweichend, semantische Neologismen; in der stärksten Form semantischer Jargon

Relativ eng begrenztes Vokabular, kaum semantische Paraphasien

Äußerst begrenztes Vokabular, grob abweichende semantische Paraphasien

Lautstruktur

Einige phonematische Paraphasien

Viele phonematische Paraphasien bis zu Neologismen, auch phonematischer Jargon

Viele phonematische Paraphasien

Sehr viele phonematische Paraphasien und Neologismen

Verstehen

Leicht gestört

Stark gestört

Leicht gestört

Stark gestört

3

102

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Facharzt

Aphasie bei Kindern Aphasien bei Kindern unterscheiden sich im Erscheinungsbild, im Verlauf und in den pathogenetischen Bedingungen erheblich von denen bei Erwachsenen. Die typische Sprachstörung im Kindesalter ist eine globale Aphasie mit Sprachlosigkeit und beeinträchtigtem Sprachverständnis. Dieser pauschale Ausfall der sprachlichen Fähigkeiten ist sicher nicht nur durch den organischen Krankheitsprozess, sondern auch durch die emotionale Reaktion auf die Kommunikationsstörung bedingt, die jede Aphasie mit sich bringt. Die oben beschriebenen differenzierten Aphasieformen werden im Kindesalter noch nicht beobachtet. Im Vorschulalter kommen nur die Broca- und die Wernicke-Aphasie vor. Die zweite Form bleibt aber stets ohne die

3

logorrhoische Enthemmung des Sprechens, und auch das produktive Symptom der semantischen Paraphasien ist seltener als beim Erwachsenen. Die Kinder sind in ihrem Verhalten ängstlichverstimmt und neigen bei Beanspruchung ihrer sprachlichen Fähigkeiten zum reaktiven Mutismus. Das Bild der amnestischen Aphasie tritt erst jenseits der Pubertät auf. Prognose. Anders als bei Erwachsenen treten Aphasien bei Kindern nach Läsionen der linken oder der rechten Großhirnhemisphäre auf. Sie sind meist gut rückbildungsfähig. Beides führt man darauf zurück, dass im Kindesalter die Dominanz einer Hemisphäre für die sprachlichen Fähigkeiten noch nicht voll ausgebildet ist, so dass jede Hirnhälfte Sprachfunktionen übernehmen kann.

Exkurs Aphasie bei Polyglotten Mehrsprachige Patienten sind meist nach Art und Ausmaß der Aphasie in jeder Sprache gleich betroffen. Bei manchen Patienten wird die früher erlernte Sprache geringer als eine später erlernte von der Aphasie beeinträchtigt, und zwar auch dann, wenn sie schon lange nicht mehr die Umgangssprache war. Bei Auswanderern kann man beobachten, dass die kaum

noch benutzte Muttersprache relativ gut erhalten bleibt, während die längst gewohnte Landessprache durch die Aphasie erheblich gestört ist. Von dieser Regel gibt es aber Ausnahmen. So kann beispielsweise eine Sprache besser verfügbar bleiben, die für den Patienten eine größere lebensgeschichtliche Bedeutung hat.

Tabelle 3.2. Kommunikationsskala nach Goodglass und Kaplan zur Feststellung des Schweregrades bei Aphasie Grad

Aphasie

0

Keine verständliche Sprachäußerung und kein Sprachverständnis

1

Kommunikation nur durch fragmentarische Äußerungen; der Hörer muss den Sinn des Gesagten erschließen, erfragen und erraten. Der Umfang an Informationen, die ausgetauscht werden können, ist begrenzt, und der Gesprächspartner trägt die Hauptlast der Kommunikation

2

Eine Unterhaltung über vertraute Themen ist mit Hilfe des Gesprächspartners möglich. Häufig gelingt es nicht, den jeweiligen Gedanken zu übermitteln, jedoch tragen Patienten und Gesprächspartner etwa gleich viel zur Kommunikation bei

3

Der Patient kann sich fast über alle Alltagsprobleme ohne oder mit nur geringer Unterstützung unterhalten, jedoch erschweren Beeinträchtigungen des Sprechens oder des Verstehens ein Gespräch über bestimmte Themen oder machen es unmöglich

4

Die Flüssigkeit der Sprachproduktion ist deutlich vermindert oder das Verständnis ist deutlich eingeschränkt. Jedoch liegt keine nennenswerte inhaltliche oder formale Beeinträchtigung des Sprechens vor

5

Kaum wahrnehmbare Schwierigkeiten beim Sprechen. Der Patient kann subjektive Schwierigkeiten haben, die der Gesprächspartner nicht bemerkt

bevorzugten Hand steuert. Diese wird als sprachdominant bezeichnet. Die linksseitige Sprachdominanz ist zwar angeboren, sie wird aber erst in den ersten Lebensjahren manifest. Zunächst sind beide Hemisphären zur Übernahme der Fähigkeiten, die dem Gebrauch der Sprache zugrunde liegen, gleichermaßen befähigt. Deshalb kann ein Kind nach linksseitiger, schwerer Hirnschädigung in den ersten Lebensjahren eine normale Sprachentwicklung nehmen. Diese Möglichkeit zur Verlagerung der Sprachdo-

minanz vermindert sich aber rasch in den frühen Kindheitsjahren und ist mit Erreichen der Pubertät nicht mehr gegeben. Bei 5–6% der Menschen entwickelt sich eine Bevorzugung der linken Hand. Linkshändigkeit ist aber nicht das Spiegelbild von Rechtshändigkeit. Viele Linkshänder führen eine Reihe von Kraft- und Geschicklichkeitsleistungen doch mit der rechten Hand aus, so dass wir sie als Beidhänder (Ambidexter) bezeichnen. Zudem ist die Seitenbevorzugung nicht auf die Hand beschränkt: Jeder Mensch bevorzugt auch ein Bein, ein Auge und

103 3.3 · Aphasien

Exkurs Wada-Test Die Sprachdominanz lässt sich mit dem Na-Amytal-Test feststellen. Injiziert man 125 mg der Substanz in die A. carotis der

sprachdominanten Hemisphäre, so tritt ein vorübergehender Verlust des expressiven Sprachvermögens ein.

ein Ohr. Diese Seitenbevorzugung ist nicht konsistent, oft sind z.B. Hand, Fuß und Auge der einen und das Ohr der anderen Seite bevorzugt. Linkshänder haben meist keine durchgängig ausgebildete Lateralisierung. Dieser unvollständig ausgeprägten Seitenbevorzugung in der Händigkeit entspricht eine unvollständige Ausbildung der Sprachdominanz. Bei mehr als der Hälfte der Linkshänder ist nicht etwa die kontralaterale rechte, sondern ebenfalls die linke Hemisphäre für die sprachlichen Leistungen führend. Bei den übrigen hat sich keine eindeutige Dominanz entwickelt, und die Sprachfähigkeiten, aber auch andere Leistungen, die sonst von der dominanten Hemisphäre bestimmt werden, sind bilateral repräsentiert. Dies hat klinisch zur Folge, dass sich beim Linkshänder eine Aphasie nach linksseitiger Hirnschädigung gewöhnlich rascher und besser zurückbildet als beim Rechtshänder, da bei ihm die gesunde Hemisphäre bis zu einem gewissen Grade die gestörten Funktionen übernehmen kann. Nur bei einem sehr kleinen Prozentsatz der Linkshänder sind die Sprachfunktionen nur rechtsseitig lokalisiert.

rungen führt und die man deshalb als Sprachregion (»Sprachzentrum«) bezeichnet. Sie erstreckt sich von der Gegend des frontalen Operkulum über die obere Konvexität des Schläfenlappens bis zur temporoparietalen Übergangszone (. Abb. 3.1). Nach pathologisch-anatomischen Untersuchungen, Befunden aus bildgebenden Verfahren sowie aus Stoffwechseluntersuchungen und Messungen der regionalen Hirndurchblutung sind folgende klinisch-lokalisatorische Zuordnungen möglich: 4 Broca-Aphasie tritt bei prärolandischen Läsionen, d.h. bei Herden im frontalen Anteil der Sprachregion auf (Versorgungsgebiet der A. praecentralis). 4 Wernicke-Aphasie wird bei retrorolandischen Läsionen im Versorgungsgebiet der A. temporalis posterior beobachtet. 4 Amnestische Aphasie kommt durch temporoparietale Läsionen zustande. Sie ist bei Hirntumoren und Schläfenlappenabszessen sowie bei zerebralen Abbauprozessen besonders häufig. 4 Globale Aphasie zeigt eine Funktionsstörung im gesamten Versorgungsgebiet der A. cerebri media an.

Lokalisation der Sprachregion Innerhalb der sprachdominanten Hemisphäre lässt sich eine Region abgrenzen, deren Läsion mit Regelmäßigkeit zu Sprachstö-

3.3.7 Therapie

Zentralfurche

6 3 2 1

4

7

5 8

Sylvische Furche Hirnstamm

Kleinhirn

. Abb. 3.1. Sprachrelevante Regionen im menschlichen Gehirn. 1 Broca-Area; 2 motorische Gesichtsregion; 3 somatosensorische Gesichtsregion; 4 Hörfelder; 5 Wernicke-Area; 6 Gyrus supramarginalis; 7 Gyrus angularis; 8 visuelle Assoziationsregion; blau Äste der A. cerebri media. (W. Huber, Aachen)

Aphasien sind behandlungsbedürftige Krankheitszustände. In der logopädischen Aphasietherapie werden verschiedene Behandlungsphasen unterschieden: 4 In einem ersten Stadium werden stimulierende und deblockierende Methoden verwendet, bei denen relativ intakte Fähigkeiten zur Reaktivierung von gestörten Sprachleistungen herangezogen werden. 4 Wenn sich der allgemeine Krankheitszustand des Patienten stabilisiert hat und das aphasische Syndrom klassifizierbar ist, werden störungsspezifische Therapieformen eingesetzt. Die Modalitäten, auf die der Schwerpunkt der Behandlung gelegt wird, ergeben sich aus den Testleistungen. Die Periode der störungsspezifischen Therapie dauert zwischen 6 Monaten und etwa einem Jahr. Je häufiger die Behandlungen ausgeführt werden, desto besser für den Patienten. 4 Es gibt auch die Möglichkeit einer stationären Intensivtherapie, bei der die Patienten zweimal am Tag behandelt werden. Durch eine solche Intensivtherapie lassen sich signifikante Verbesserungen in den Sprachleistungen erreichen, die über dem Verlauf liegen, der nach der Spontanremission zu erwarten wäre. 4 In einer Konsolidierungsphase werden die erreichten Besserungen mehr und mehr in soziale Situationen eingebaut. Therapieziel ist, dass die Besserung in den behandelten Modalitäten stabil ist, dass die zurückgewonnenen Sprachleistungen

3

104

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

auch auf nicht geübtes Material generalisiert werden können und dass auch diese Generalisierung stabil bleibt. 3.4

3

Apraxien

3Definition. Apraxie ist eine Störung in der sequentiellen An-

ordnung von Einzelbewegungen zu Bewegungsfolgen oder von Bewegungen zu Handlungsfolgen, während die elementare Beweglichkeit erhalten ist. Wie bei allen umschriebenen neuropsychologischen Syndromen gilt, dass diese Störung nur dann diagnostiziert wird, wenn nicht eine andere spezifische oder allgemeine Funktionsstörung, wie schwere Beeinträchtigung der Tiefensensibilität, Bewusstseinstrübung oder schwere Demenz, vorliegt, die das Symptom erklären kann. Apraxie ist eine Störung der motorischen Exekutive. Die Patienten sind meist imstande, die Bewegungen, die sie selbst nicht vollführen können, beim Untersucher als richtig oder falsch zu erkennen. 3.4.1 Ideomotorische Apraxie Leitsymptom der ideomotorischen Apraxie sind Parapraxien, d.h. Entstellungen im Ablauf von Bewegungselementen, die oft durch Perseveration zustande kommen. Parapraxien treten nur bei gezielter Prüfung auf. Bei der ideomotorischen Apraxie ist die Ausführung einfacher Bewegungsfolgen in der Untersuchungssituation, nicht dagegen im spontanen Verhalten, wie Winken, Hand auf die Stirn legen, Mund spitzen oder Nase rümpfen, möglich. Man prüft die ideomotorische Apraxie nicht nur nach verbaler Aufforderung, sondern auch imitatorisch, um den Einfluss von Sprachverständnisstörungen auszuschließen. Wenn vor allem die Gesichtsmuskulatur betroffen ist, spricht man von der bukkofazialen Apraxie. Apraxie ist eine Funktionsstörung der sprachdominanten Hemisphäre. 3Untersuchung. In der Prüfung auf ideomotorische Apraxie

wird die Ausführung der Aufgaben grundsätzlich nicht nur nach verbaler Aufforderung, sondern auch imitatorisch verlangt. Wenn man nur verbal prüft, läuft man Gefahr, Fehler aufgrund einer Sprachverständnisstörung irrtümlich für apraktisch zu halten. Man prüft beide Hände getrennt, bei rechtsseitiger Lähmung die linke Hand allein. Bimanuelle Bewegungen wie klatschen, die in der Literatur gelegentlich vorgeschlagen werden, bringen keine zusätzliche diagnostische Information. Die Untersuchung erstreckt sich auf folgende Bewegungskategorien: 4 Ausdrucksbewegungen, z.B. drohen, winken, militärisch grüßen, lange Nase machen, die Hand wie zum Schwure heben, 4 Gebrauch von imaginären Objekten, z.B. hämmern, sägen, rauchen, Schnaps kippen, Zähneputzen, sich kämmen, 4 bedeutungslose Bewegungen, z.B. Handrücken an die Stirn legen, Handfläche auf die Schulter legen, mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis formen, ausgestreckte Hand diagonal durch

die Luft führen. Bedeutungslose Bewegungen werden nur imitatorisch ausgeführt, weil das Verstehen der Anweisung für die meist aphasischen Patienten zu schwierig ist. Für die klinische Diagnostik ist die Prüfung mit realen Objekten entbehrlich. 3Symptomatik. Patienten mit Gliedmaßenapraxie (= ideomotorischer Apraxie) machen bei diesen Bewegungen folgende Arten von Fehlern: 4 Auslassung bzw. fragmentarische Ausführung: Wesentliche Elemente der Bewegung werden ausgelassen bzw. die Bewegung wird vorzeitig abgebrochen. 4 Substitution: komplette, aber falsche motorische Reaktion, d.h., die Anlage der Bewegung ist im Groben erhalten, die Ausführung ist aber nicht voll ausdifferenziert. Zum Beispiel wird ein Patient, der militärisch grüßen soll, die Hand zum Kopf führen, aber sie dann vage tastend an die Schläfe legen. 4 Überschussbewegungen: zusätzliche motorische Aktionen oder Geräusche. 4 Perseveration: Sehr häufig entstehen Fehler dadurch, dass Elemente vorangegangener Bewegungen in den motorischen Ablauf eingehen. Dadurch kann z.B. eine richtige Bewegung mit falscher Haltung ausgeführt werden: Ein Patient, der eben eine drohende Bewegung ausgeführt hat, legt beim militärischen Gruß die zur Faust geschlossene Hand an die Schläfe. Oder es wird eine falsche Bewegung bei richtiger Stellung ausgeführt: Ein Patient, der gerade »den Vogel« gezeigt hat, führt beim »lange Nase machen« die gespreizte Hand wiederholt rhythmisch zur Nasenspitze.

Wenn die perseveratorische Tendenz so stark ist, dass der Patient auf wechselnde Stimuli stets mit der gleichen, in sich korrekten Bewegung antwortet, kann man die Diagnose einer Apraxie nicht stellen. Gliedmaßenapraxie wird üblicherweise nur für Arme und Hände geprüft. Man findet sie aber auch bei entsprechenden Bewegungen an den Beinen bzw. Füßen (Beinapraxie), z.B. kicken, ein Kreuz in die Luft zeichnen. Um einen Patienten als apraktisch zu charakterisieren, genügt es nicht, dass er die Bewegungsfolgen lediglich ungeschickt oder unvollständig ausführt. Entscheidend ist vielmehr das Auftreten von Parapraxien, d.h. das Auftreten von fehlerhaften Elementen in einer Bewegungsfolge. Fehlerhafte Elemente können entweder Bewegungen sein, die nicht zu der geforderten Bewegungssequenz gehören, oder solche, die durch falsche sequentielle Anordnung an sich passender Elemente zustande kommen. Schließlich kann der Patient eine andere, in sich richtige, aber nicht geforderte Bewegungsfolge ausführen. Die ideomotorische Apraxie beeinträchtigt das spontane motorische Verhalten nicht, sondern wird erst durch gezielte Prüfung aufgedeckt. 3Lokalisation. Ideomotorische Apraxie entsteht bei Läsionen der sprachdominanten Hemisphäre (. Abb. 3.2.a und b): der Wernicke-Region, subkortikaler Bezirke unter dem Operkulum, des parietalen Fasciculus arcuatus, des motorischen Assozia-

105 3.4 · Apraxien

Exkurs Funktionelle Grundlagen der Apraxien Die richtige sequentielle Anordnung motorischer Elemente zu einer Bewegung hängt von der Intaktheit des linken motorischen Assoziationskortex ab. Die linke Hemisphäre ist also dominant nicht nur für die Sprache, sondern auch für das Handeln. Bei rechtsseitiger Sprachdominanz führt rechtsseitige Hirnschädigung zur Apraxie. Der linke motorische Assoziationskortex empfängt über den Fasciculus arcuatus (. Abb. 3.2a,b) Zuflüsse aus der Sprachregion und dem linken visuellen Assoziationskortex. Vom linken motorischen Assoziationscortex

werden Informationen für die auszuführende Bewegung einmal zum linken primären motorischen Cortex und außerdem über die Kommissurenfasern des vorderen Balkens zum motorischen Assoziationscortex der rechten Hemisphäre und von dort zum rechten primären motorischen Cortex geleitet. Diese schematische Vorstellung erlaubt es, die Manifestationen der ideomotorischen Apraxie zu einer anatomischen Läsion in Beziehung zu setzen und so zu erklären.

MC (area 4) MAC (area 6)

LMAC FA

W

LMC VAC

W

3 2 1

RMAC 4

RMC

1a

VC a

b

VC + VAC

. Abb. 3.2. a Hirnrindenbezirke und subkortikale Bahnen, die für das Verständnis der ideomotorischen Apraxie von Bedeutung sind. Seitliche Ansicht. MC primärer motorischer Kortex; MAC motorischer Assoziationskortex; W-Wernicke-Zentrum; FA Fasciculus arcuatus; VC primärer visueller Kortex; VAC visueller Assoziationskortex. Nähere Erläuterungen 7 Text. (Schematische Darstellung nach Geschwind 1967), b Anatomisches Funktionsschema zur ideomotorischen Apraxie. LMC linker primärer motorischer Kortex; LMAC linker motorischer Asso-

ziationskortex; RMC rechter primärer motorischer Kortex; RMAC rechter motorischer Assoziationskortex; W-Wernicke-Zentrum; VC primärer visueller Kortex; VAC visueller Assoziationskortex; 1 verbal-motorische Assoziationsfasern im Fasciculus arcuatus; 1a visuell-motorische Assoziationsfasern im Fasciculus arcuatus; 2 Assoziationsfasern von LMAC nach LMC; 3 Kommissurenfasern zwischen LMAC und RMAC; 4 Assoziationsfasern zwischen RMAC und RMC. (Mod. nach Geschwind 1967)

tionskortex und der Kommissurenfasern, die den linken mit dem rechten motorischen Assoziationskortex verbinden. Gesichtsapraxie (bukkofaziale Apraxie): Diese tritt dann ein, wenn eine Läsion den motorischen Assoziationskortex der Gesichtsmuskulatur oder die dorthin führenden Assoziationsfasern betrifft. Auch hier stützt sich die Diagnose auf das Auftreten von Parapraxien. Diese Form der Apraxie wird bei 80% aller Patienten mit Aphasie beobachtet, und zwar besonders dann, wenn die Sprachproduktion durch häufige phonematische Paraphasien ausgezeichnet ist.

Das seltene Syndrom tritt ebenfalls nach Läsion in der temporoparietalen Region der sprachdominanten Hemisphäre auf. Es ist keine besonders schwere Ausprägung der ideomotorischen Apraxie. Der ideatorischen Apraxie liegt, anders als der ideomotorischen, keine rein motorische Störung, sondern eine Beeinträchtigung in der konzeptuellen Organisation von Handlungsfolgen zugrunde, die nötig sind, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen. Sie ist nicht an die aktuelle Manipulation von Objekten gebunden.

3.4.2 Ideatorische Apraxie 3Definition. Die ideatorische Apraxie ist eine konzeptuelle Störung des Objektgebrauchs. Nicht nur die Ebene der motorischen Ausführung ist betroffen, die Patienten machen auch Fehler, wenn man sie bittet, Serien von Fotos, die komplexe motorische Handlungssequenzen darstellen, in die richtige Reihenfolge zu bringen.

3Symptome. Die ideatorische Apraxie besteht darin, dass der Patient im spontanen Verhalten gewohnte Handlungsfolgen, wie Kaffeekochen oder eine Büchse öffnen und entleeren, nicht mehr ausführen kann, obwohl ihm die hierfür notwendigen einzelnen Bewegungsabläufe möglich sind. Der Patient weiß, was er tun soll. Er hat ein vages Gefühl, dass er die Handlungen falsch ausführt und unterbricht sie immer wieder. Er kann sich aber selbst nicht korrigieren und auch dann die Handlung nicht korrekt ausführen, wenn ihm dies vom Untersucher demonstriert wird. Eine häufige Fehler-

3

106

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Facharzt

Einzelne seltene Apraxieformen Bilaterale Apraxie. Sie ist die Folge einer Läsion im linken motorischen Assoziationscortex. Die Tatsache, dass der Fasciculus arcuatus zwei Komponenten hat, die aus der Sprachregion und aus dem visuellen Assoziationscortex stammen, erklärt, dass gelegentlich die beiden Modalitäten – Ausführung nach verbaler Anweisung und imitatorisch – differentiell betroffen sind. Sie erklärt auch die hohe Korrelation mit phonematischen Paraphasien, denn diese gehören zu den sprachlichen Symptomen, die bei Läsionen des Fasciculus arcuatus auftreten.

3

Sympathische Dyspraxie. Wenn eine linksseitige Hemisphärenläsion sich nach oberhalb der inneren Kapsel erstreckt, liegt neben der rechtsseitigen zentralen Hemiparese oder Hemiple-

art ist die Perseveration, also die unangebrachte Wiederholung von Bewegungen oder Handlungsschritten. Die elementare Motorik, die Sensibilität und die Bewegungskoordination sind erhalten. Anders als die ideomotorische Apraxie, die erst in der Untersuchungssituation aufgedeckt wird, zeigt sich die ideatorische Apraxie im spontanen Verhalten, und die Patienten werden oft irrtümlich für verwirrt oder dement gehalten (»… kann noch nicht einmal mit Messer und Gabel essen«). Alle Betroffenen sind aphasisch. Die Schwere der Aphasie steht nicht in Beziehung zur Schwere der Apraxie. Die Patienten können Bilderfolgen, auf denen Abschnitte von Handlungssequenzen abgebildet sind, nicht in der richtigen Reihenfolge ordnen. 3.5

Räumlich perzeptive/konstruktive Störungen

Zur räumlichen Wahrnehmung sind so grundlegende Fähigkeiten wie das Schätzen von Winkeln und Linien, Abständen, die Anordnung von Objekten zueinander sowie die Perspektive von entscheidender Bedeutung. Störungen können einzelne oder mehrere dieser Fähigkeiten betreffen. Dementsprechend gibt es eine Reihe unterschiedlicher Störungsbilder. Eine mögliche Zusammenfassung dieser Störungsbilder zu zwei Gruppen ist die Unterscheidung in konstruktive (das eigenhändige Schaffen, die Synthese betreffend) und perzeptive (das Wahrnehmen, die Analyse betreffend) Störungen. Konstruktive und räumliche Störungen treten vorwiegend nach parietalen Läsionen der nicht sprachdominanten Hemisphäre auf. 3.5.1 Konstruktive Apraxie 3Definition. Die konstruktive Apraxie besteht in einer Störung gestaltender Handlungen, die unter visueller Kontrolle aus-

gie eine sympathische Dyspraxie der linken Hand vor, weil die Kommissurenfasern zum rechten motorischen Assoziationskortex im Anfang ihres Verlaufs unterbrochen sind. Dies ist die häufigste Form der Apraxie. Der Patient kann dann mit der nicht gelähmten linken Hand Folgebewegungen oder Bewegungssequenzen nicht ausführen, ist also in doppeltem Maße behindert. Linksseitige ideomotorische Apraxie. Eine Läsion der Kommissurenfasern allein, namentlich im vorderen Drittel des Balkens, hat lediglich eine linksseitige ideomotorische Apraxie zur Folge. Die rechtsseitigen Gliedmaßen bleiben in ihrer elementaren Beweglichkeit und Praxie unbeeinträchtigt, weil ihre motorischen Projektions- und Assoziationssysteme intakt sind.

geführt werden, ohne dass eine Parese oder eine Apraxie der Einzelbewegungen vorliegt. 3Symptomatik. Als konstruktiv-apraktisch wird ein Patient dann bezeichnet, wenn er bei Aufgaben versagt, die das Zusammenfügen von einzelnen Elementen zu einem räumlichen Gebilde verlangen. Diese Patienten haben Schwierigkeiten bei zeichnerischen und konstruierenden Tätigkeiten, also beim freien Zeichnen oder Abzeichnen sowie beim Zusammenbauen einzelner Teile zu zwei- oder dreidimensionalen Figuren. Sie können z.B. auch Probleme beim Ankleiden haben und dadurch im klinischen Alltag auffallen. Bei der täglichen Arbeit fällt beispielsweise ein Techniker dadurch auf, dass er schon bei einfachen Planzeichnungen oder beim Zusammensetzen von Maschinenteilen versagt. In schweren Fällen kommt es auch zu Störungen beim Schreiben. Diese sind nicht sprachabhängig, sondern durch die Unfähigkeit bedingt, die einzelnen graphischen Elemente räumlich zu kombinieren. 3Untersuchung. Bei Verdacht auf derartige Störungen fordert man den Patienten auf, zeichnerisch frei geläufige Gegenstände wie Haus, Mensch oder Fahrrad darzustellen. Wegen der schon prämorbid sehr unterschiedlichen Zeichenfertigkeit ist der Wert dieser Prüfung begrenzt, und es kommt deshalb auch bei der Beurteilung nicht auf die Eleganz der Ausführung an, sondern vielmehr auf die korrekte räumliche Zuordnung der einzelnen Teile zueinander. Besser eignen sich das zeichnerische Kopieren einfacher geometrischer Figuren und Aufgaben, die nach Vorlage das Zusammenfügen von Stäbchen oder Bauklötzen zu bestimmten Mustern wie Stern, Raute oder Pyramide verlangen. Derartige Leistungen können auch von gänzlich ungeübten Patienten erwartet werden. Eine objektivere Leistungsbewertung ist möglich, wenn standardisierte Testverfahren angewandt werden, die eine klar definierte Auswertetechnik vorschreiben und einen Normvergleich

107 3.6 · Halbseitige Vernachlässigung (Neglect)

. Abb. 3.3. Zeichnungen eines Patienten mit konstruktiver Apraxie

Fahrrad

Flugzeug

der Ergebnisse erlauben. Solche Tests sind z.B. der Complex-Figure-Test nach Rey, der Mosaik-Test aus dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest oder der Visual-Orientation-Test nach Hooper. . Abbildung 3.3 zeigt einige Beispiele von einem 58-jährigen Bankangestellten mit Alzheimer-Krankheit. Man sieht, dass die Bauelemente der Gegenstände in der Zeichnung vorhanden sind, aber ihre Zusammenfügung grob misslungen ist. 3.5.2 Perzeptive Störung

(Räumliche Orientierungsstörung) 3Definition. Auf der rezeptiven Seite entspricht der räumlichkonstruktiven Apraxie ein Syndrom, das als Störung der optischräumlichen Orientierung bezeichnet wird. Diese Patienten haben Probleme mit dem Einschätzen der Vertikalen und Horizontalen, wenn sie einen Raum unterteilen (beispielsweise die Hälfte eines Ganges markieren) oder die Position von Gegenständen im Verhältnis zueinander angeben sollen. 3Symptomatik. Die Patienten finden sich im Raum nicht mehr zurecht, auch wenn ihnen die Umgebung vertraut ist: Sie verlaufen sich in ihrem Dorf oder Stadtviertel, weil sie nicht wissen, welche Richtung sie einschlagen und welchen Weg sie verfolgen sollen. Sie finden ihr Haus, ihr Zimmer und im Krankenhaus ihr Bett nicht wieder. Häufig haben sie Schwierigkeiten beim Ankleiden, offenbar, weil sie die räumliche Struktur der Kleidungsstücke nicht erfassen und diese nicht zu ihrem Körper in Beziehung setzen können. (Dies wird, in einer nicht korrekten Ausweitung des Begriffs Apraxie, als »Ankleideapraxie« bezeichnet.) Die Störung betrifft nicht nur die visuelle Orientierung in einer konkreten Situation, sondern auch die optisch-räumliche Vorstellung: Die Patienten können räumliche Zusammenhänge, etwa den Verlauf einer ihnen bekannten Straße, nicht beschreiben, und sie sind auch nicht zu den oben besprochenen konstruktiven Leistungen fähig, die eine Gestaltung nach einem vorgestellten optischen Plan verlangen. Die Kranken können keine

Haus

Entfernungen schätzen und sich nicht an einer einfachen Planskizze orientieren. Oft sind sie nicht in der Lage, die Uhrzeit nach der Stellung der Zeiger abzulesen. Häufig bereitet es ihnen Schwierigkeiten, sich am eigenen Körper zu orientieren, besonders wenn die Unterscheidung zwischen rechten und linken Körperteilen verlangt wird. 3Weitere Symptome. Lesen und Schreiben sind dadurch erschwert, dass die Patienten die Zeile verlieren und die Ordnung von Buchstaben und Wörtern nicht verfolgen oder nicht einhalten können. Bei den Kranken ist die Fähigkeit gestört, die räumliche Ordnung von Objekten wahrzunehmen und selbst praktisch oder in der Vorstellung räumliche Beziehungen herzustellen. Sie versagen deshalb bei psychologischen Tests, die solche Leistungen fordern. Die Gesichtsfelder sind nur wenig oder gar nicht eingeschränkt. Dagegen bestehen regelmäßig Störungen in der Regulation der Blickbewegungen. Diese Störungen treten zwar zusammen mit der Orientierungsstörung auf, können sie aber nicht erklären. 3Lokalisation. Die beiden Syndrome treten nach Läsionen

der Inferior-parietalen-Region (Gyrus supramarginalis, Teile des Gyrus angularis, hintere superiore Temporalwindung) auf, in der die Integration von optischen und sensomotorischen Prozessen stattfindet. Die Herde sind häufiger in der rechten als in der linken Hemisphäre lokalisiert. 3.6

Halbseitige Vernachlässigung (Neglect)

3Definition. Neglect ist der englische Terminus für halbseitige

Vernachlässigung. Ohne dass eine Beeinträchtigung des Wachbewusstseins oder der Orientiertheit vorliegt, können bei diesen Kranken isoliert oder in Kombination (supramodaler Neglect) motorische, sensible, akustische und visuelle Reize vernachlässigt werden. Ein Erklärungsmodell für die Entstehung des Neglect erklärt ihn als Folge einer Störung der Aufmerksamkeit. Die halb-

3

108

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

seitig gerichtete Aufmerksamkeit ist in einem Funktionskreis organisiert, dessen wichtigste Relaisstation der rechte Parietallappen ist. 3Untersuchung. Bei doppelt simultaner Stimulation (sensi-

3

bel, akustisch oder visuell) wird der Stimulus in der linken Körperhälfte nicht wahrgenommen, er wird vom Reiz in der rechten Körperhälfte »gelöscht«. Dieses Phänomen bezeichnet man als Extinktion. Zuvor muss allerdings sicher gestellt worden sein, dass der entsprechende Reiz bei einseitiger Vorgabe in der linken Körperhälfte wahrgenommen wird. Darüber hinaus existieren ausführliche neuropsychologische Testbatterien wie z.B. der Neglect-Test (NET) oder der Behavioral Inattention Test (BIT).

Vorlage

freie Zeichnungen

3Lokalisation. Die klassische Region, deren Läsion halbseitige Vernachlässigung hervorruft, ist der Lobulus parietalis inferior der nicht sprachdominanten, also gewöhnlich der rechten Hemisphäre. Andere Läsionsorte können in den Basalganglien (Putamen und (seltener) Nucleus caudatus), im Thalamus (Pulvinar, Intralaminarkerne), im anterioren Gyrus cinguli oder im dorsolateralen Frontalhirn und im frontalen Augenfeld jeweils in der rechten Hemisphäre liegen.

Motorischer Neglect Hier werden die Extremitäten einer Körperhälfte nur auf spezielle Anforderung voll bewegt, nicht dagegen spontan. Die Patienten, die fast immer bettlägerig sind, erwecken den Eindruck einer schweren Hemiparese oder Hemiplegie, weil sie die betroffenen, meist die linken, Gliedmaßen bei spontanen Verrichtungen nicht benutzen. Auch nach Aufforderung zu einseitigen oder bilateralen Bewegungen setzen sie die Extremitäten einer Körperhälfte nicht oder nur äußerst zögernd ein. Erst wenn sie ihre Aufmerksamkeit speziell darauf richten, sind sie zu besserer Beweglichkeit imstande. Es ist wichtig, das Phänomen zu kennen, weil man sonst den neurologischen Status des Patienten zu schlecht einschätzt. Sensibler Neglect Die Kranken nehmen bei bilateraler taktiler Stimulation korrespondierender Körperareale einen der beiden Stimuli, gewöhnlich den linken, nicht wahr, obwohl sie ihn bei einseitiger Stimulierung registrieren. Die Patienten fallen dadurch auf, dass sie z.B. nicht spüren, dass sie auf einer Hand sitzen oder die Finger in den Speichen des Rollstuhls haben. Wie beim motorischen Neglect müssen sie gezielt ihre Aufmerksamkeit auf die Körperhälfte richten, um sensible Reize wahrzunehmen. Visueller Neglect Spricht man im klinischen Alltag von Neglect, ist meist die visuelle Vernachlässigung gemeint. Auf visuelle Stimuli im linken Außenraum reagiert der Patient aktiv nicht. Das kann dazu führen, dass er z.B. seinen Teller nur halb leer isst oder die Klingel

Kopie

. Abb. 3.4. Vernachlässigung einer (hier der linken) Raumhälfte beim Abzeichnen oder freien Zeichnen einer Blume. (Aus Poeck 1989)

am linken Bettrand nicht findet. In so genannten Such- oder Durchstreichaufgaben bearbeiten diese Patienten nur die rechte Hälfte des Blattes. Beim Lesen lassen sie oft den Anfang der Zeile oder des Wortes weg. Bei doppelt simultaner Stimulation beider Gesichtsfeldhälften wird der Stimulus im linken Gesichtsfeld nicht wahrgenommen, obwohl jedes Gesichtsfeld, wenn es getrennt geprüft wird, funktionstüchtig ist. Auf visuelle Stimuli im linken Außenraum reagiert der Patient aktiv nicht. Selbst die Reaktion auf linksseitige akustische Stimuli kann ausbleiben. Untersuchungsverfahren schließen, wie geschildert, die bilateral simultane taktile oder visuelle Stimulation ein. Lässt man den Patienten Striche markieren, die auf ein großes Blatt Papier gezeichnet sind, so markiert er die Striche auf der linken Seite des Blattes nicht oder weniger. . Abbildung 3.4 zeigt typische Zeichnungen. Supramodaler Neglect Liegt ein supramodaler Neglect für mehrere Modalitäten vor, nehmen die Patienten alle Arten von Ereignissen in der linken Hälfte ihrer Umwelt nicht wahr und wenden sich auch dorthin nicht zu, selbst wenn man sie mit lebhafter Gestik anspricht und gleichzeitig berührt.

109 3.9 · Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie

Facharzt

Reine Alexie Eine sehr interessante Symptomkombination ist das Syndrom reine Alexie mit Farbbenennungsstörungen und Hemianopsie nach rechts. Die Patienten haben nur eine leichte oder gar keine Aphasie. Sie können spontan schreiben, aber das selbst Geschriebene nicht lesen. Sie können auch nicht abschreiben. Während sie Farben nicht benennen können, sind sie in der Lage, Farbmuster richtig zu sortieren. Das Syndrom kommt bei Infarkten im Versorgungsgebiet der linken A. cerebri posterior zustande. Dabei ist die linke Sehregion lädiert, gleichzeitig gewöhnlich auch das Splenium des Balkens. Die linksseitige

3.7

Anosognosie

Als Anosognosie (griech. a-noso-gnosie, Nichterkennen eines krankhaften Zustands) bezeichnet man das neuropsychologische Phänomen, dass ein Kranker die Minderung oder Aufhebung einer Funktion oder Leistung nicht beachtet oder nicht wahrhaben will. Die Anosognosie kann sich auf Blindheit, homonyme Hemianopsie, Taubheit, Halbseitenlähmung, auf eine durchgemachte Operation oder die Tatsache der Krankheit überhaupt erstrecken. Anosognosie tritt vor allem nach Läsionen im rückwärtigen Anteil der nicht sprachdominanten Hirnhälfte auf. 3Symptomatik. Die Patienten verhalten sich so, als sei die krankhafte Störung nicht vorhanden. Versucht man, sie damit zu konfrontieren, so geben sie ausweichende oder rationalisierende Antworten: Sie können den (objektiv gelähmten) Arm bewegen (dabei bewegen sie den anderen, gesunden); sie könnten schon aufstehen, aber der Doktor hat es nicht erlaubt oder sie haben die Pantoffeln nicht am Bett bzw. sind gerade nach einem Spaziergang etwas abgespannt; sie sehen schon gut, aber es ist im Zimmer so dunkel, sie haben die Brille nicht zur Hand, man sieht im Alter eben nicht mehr so gut. Manchmal verschieben sie auch den Defekt auf einen anderen Körperbereich oder auf andere Personen: Gelähmte Kranke klagen über Verdauungsbeschwerden, am Kopf Operierte über Rückenschmerzen, andere erkundigen sich nach der Gesundheit des Arztes. In schweren Fällen leugnen (daher die englische Bezeichnung denial) die Patienten die vorliegende oder überhaupt jegliche krankhafte Störung und schreiben selbst ihre gelähmten Körperglieder einer anderen, imaginären Person zu, die krank neben ihnen liege.

3.8

Leitungsstörungen (Diskonnektionssyndrome)

Unter diesem Namen wird eine Reihe von neuropsychologischen Syndromen beschrieben, die nicht auf Funktionsstörungen in kor-

Okzipitallappenschädigung hat eine homonyme Hemianopsie nach rechts zur Folge. Die Patienten sind also für ihr Sehen auf die linke Gesichtsfeldhälfte, d.h. auf die rechte Sehrinde angewiesen. Wenn optische Eindrücke mit sprachlichen Begriffen zusammengebracht werden sollen, müssen Signale aus der rechten Sehregion über die paravisuellen Assoziationsfelder und über das Splenium des Balkens zur Sprachregion geleitet werden. Das ist aber nicht mehr möglich, da das Splenium selbst oder seine Verbindungen mit den angrenzenden Teilen der linken Hemisphäre unterbrochen sind.

tikalen Projektions- oder Assoziationsfeldern (»Zentren«) selbst beruhen, sondern auf Unterbrechung der Verbindungen zwischen solchen Zentren. Derartige Verbindungen sind entweder Assoziationsfasern, d.h., sie verbinden zwei Rindenfelder einer Hemisphäre miteinander, oder Kommissurenfasern, d.h., sie verbinden zwei homotope Rindenareale in den beiden Hemisphären. Agnosie Nicht nur die oben besprochene ideomotorische Apraxie, sondern auch die visuellen Agnosien werden als Leitungsstörungen erklärt. Agnosien sollten Störungen des Erkennens in einem bestimmten Sinnesgebiet sein, die nicht durch Beeinträchtigung der elementaren Wahrnehmung, Demenz oder Aphasie erklärbar sind. Tatsächlich erfüllen die früher als Agnosie beschriebenen Fälle diese Kriterien nicht. In den meisten Fällen lagen Störungen im Benennen und nicht im Erkennen vor. Bei der klassischen visuellen Objektagnosie z.B. ist gewöhnlich die nichtverbale optische Identifizierung von Objekten erhalten und nur die verbale gestört. Die Patienten haben außerhalb der Prüfungssituation kaum oder gar keine Schwierigkeiten im Umgang mit den Objekten. Sie können z.B. ein Glas Wasser nicht sprachlich identifizieren, sind aber in der Lage, wenn sie durstig sind, aus einem Glas Wasser zu trinken. 3.9

Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie

3.9.1 Einteilung der Gedächtnisfunktionen Man kann Gedächtnis als Prozess und als Struktur auffassen. Im Prozessmodell der Informationsverarbeitung unterscheiden wir Aufnahme (Enkodierung), 4 Konsolidierung (Speicherung) und 4 Abruf von Informationen. Im Strukturmodell des Gedächtnisses kennen wir 4 das Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis) und 4 das Langzeitgedächtnis.

3

110

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Exkurs Leitungsstörungen

3

Nach der Flechsig-Regel sind nur Assoziationsfelder, nicht dagegen primäre Rindenfelder durch Kommissurenfasern miteinander verbunden. Die neokortikalen Kommissurenfasern, die hier interessieren, verlaufen über den Balken. Den vorderen und mittleren Anteil des Balkens bilden vor allem die Verbindungen zwischen beiden sensomotorischen Rindenfeldern sowie zwischen der rechten Temporoparietalregion und der Sprachregion. Im hinteren Balkenanteil verlaufen vor allem Fasern, die die visuellen Assoziationsfelder miteinander verbinden. Leitungsstörungen durch Unterbrechung des Kommissurensystems kommen nicht nur bei Läsion des Balkens selbst zustande, sondern auch bei subkortikaler Schädigung der benachbarten Marksubstanz. Das sehr spezielle Gebiet der Leitungsstörungen wird hier nicht im Detail erörtert, sondern es werden einige charakteristische Beispiele gegeben, um das Prinzip zu erläutern. Ausgangspunkt sind zwei Beobachtungen aus Tierexperimenten und am Menschen. Tierexperiment. Unterbricht man beim Versuchstier alle neokortikalen Kommissurensysteme und zusätzlich die Sehnervenkreuzung im Chiasma opticum, so sind die beiden Hemisphären anatomisch voneinander isoliert (»Split-Brain«-Präparation). Die absteigenden und aufsteigenden Verbindungen zum Hirnstamm und über die Projektionsbahnen zum und vom Rückenmark bleiben dagegen erhalten. Da die Projektionsbahnen fast ausschließlich gekreuzt verlaufen, bleiben die afferenten sensiblen und sensorischen Meldungen praktisch auf die kontralaterale Hirnhemisphäre beschränkt. Das Gleiche gilt für die efferenten Impulse aus den motorischen Rindengebieten, die nur den gegenseitigen Extremitäten zufließen. Wenn man mit einem solchen Versuchstier bedingte Reflexe, z.B. auf der Grundlage optischer Reize, trainiert und dabei ein Auge ab-

Im Langzeitgedächtnis wird deklaratives und nondeklaratives unterschieden. Das episodische Gedächtnis und das semantische Gedächtnis sind Teile des deklarativen Gedächtnisses. Die verschiedenen Anteile des Gedächtnisses können einzeln oder kombiniert geschädigt werden (. Abb. 3.5). 3.9.2 Amnesie 3Definition. Amnesie ist definiert als die Unfähigkeit auf

Gedächtnisinhalte zurückzugreifen und neue Gedächtnisinhalte zu speichern. Nicht alle Gedächtnisinhalte sind gleichermaßen betroffen; in der Regel sind jünger zurückliegende Inhalte nicht, ältere hingegen besser abrufbar.

deckt, so ist das Erlernen der bedingten Reflexe an die Hemisphäre gebunden, die dem anderen, freien Auge entspricht. Die Hemisphäre, die infolge einer Abdeckung des Auges beim Lernvorgang keine Informationen erhalten hat (das Chiasma opticum war durchschnitten!), hat an dem Lernvorgang nicht teilgenommen und kann auch später nicht mehr davon profitieren. Mit derartigen Versuchen ist nachgewiesen, dass Informationen, die Lernvorgängen zugrunde liegen, über das Kommissurensystem des Neocortex von einer Hemisphäre zur anderen geleitet werden. »Split-Brain«-Operation beim Menschen. Ähnliche Befunde sind bei Patienten erhoben worden, die wegen therapieresistenter Epilepsie einer »Split-Brain«-Operation unterzogen worden waren. Bei diesem Eingriff wurden der Balken und andere Kommissurenverbindungen durchtrennt, um die Ausbreitung der epileptischen Erregung von einer Hirnhälfte zur anderen zu unterbinden. Die experimentell-psychologische Untersuchung dieser Patienten hat verständlicherweise nicht vollständig kongruente Ergebnisse gebracht, weil die prämorbide Organisation des Gehirns und die Lokalisation und Ausdehnung des Eingriffs am Menschen, zumal am Hirnkranken, nicht so genau bekannt sind wie im Tierversuch. Übereinstimmend fand man aber Folgendes: 4 Die sprachliche Identifizierung von Objekten war nur dann möglich, wenn der sensible oder sensorische Reiz der linken, sprachdominanten Hemisphäre zugeflossen war. 4 Gingen die Meldungen dagegen in die rechte Hemisphäre, war der Patient nicht imstande, ein Reizobjekt zu benennen oder dessen Namen auszuwählen. Manche Patienten konnten noch nicht einmal sprachlich angeben, ob sie etwas wahrgenommen hatten. 4 Im Gegensatz zu diesem Versagen waren innerhalb der rechten Hemisphäre komplexe Auswahl- und Zuordnungsleistungen möglich, sofern das Sprachvermögen dabei nicht beansprucht wurde.

3Lokalisation. Das Arbeitsgedächtnis ist in Anteilen des

Frontal- und Parietallappens lokalisiert. Das Langzeitgedächtnis ist komplexer organisiert: Das limbische System (Enkodierung und Konsolidierung) und die Papez-Schleife (beinhaltet u.a. die Mandelkerne, die Hippocampusformationen, Fornices, anteriore Thalamukerne), der mediale Temporallappen und der Frontallappen (Abruf) sind beteiligt. Anterograde Amnesie Dies ist häufigste Form der Gedächtnisstörung. Eine prospektive Speicherung von neuen Gedächtnisinhalten ist erschwert bzw. unmöglich. Neue Inhalte können nicht enkodiert und gespeichert werden. Somit ist auch der Abruf von Informationen gestört. Speziell betroffen ist das Langzeitgedächtnis: Ein Funktionieren im »Jetzt« ist noch möglich – das Arbeitsgedächtnis arbeitet noch (eingeschränkt).

111 3.10 · Störungen der Aufmerksamkeit

Informationen

Kurzzeitgedächtnis (bis 60 Sek.)

Langzeitgedächtnis

deklaratives Gedächtnis

episodischer Speicher (Erlebtes)

nondeklaratives Gedächtnis

semantischer Speicher (Wissen)

Motorik

Priming

Konditionierung . Abb. 3.5. Strukturmodell Gedächtnis

Retrograde Amnesie Bei der retrograden Amnesie können alle Ereignisse, die der Patient in einer kürzeren oder längeren Zeit vor einer akuten Hirnschädigung registriert hatte, nicht mehr abgerufen werden. Diese Form der Amnesie wird am häufigsten nach Hirntrauma beobachtet. Ihre Dauer kann einige Sekunden oder Minuten, aber auch Stunden, Tage und selbst Wochen betragen. Es besteht keine feste Beziehung zwischen der Zeitdauer der Erinnerungslücke und der Schwere des Hirntraumas. Die retrograde Amnesie kann sich teilweise wieder aufhellen. Eine gewisse Gedächtnislücke bleibt aber auf Dauer bestehen. Episodische Informationen werden umso eher vergessen, je näher sie dem Zeitpunkt der Schädigung sind. Deshalb erinnern selbst demente Patienten häufig Kindheits- oder Jugenderlebnisse noch recht gut. Retrograde Amnesien kommen eigentlich nie ohne einen Anteil von anterograder Amnesie vor; bei isolierten retrograden Amnesien besteht der Verdacht einer psychischen Genese.

versibel. Behandlungsversuche mit sog. Gedächtnistraining haben keinen Erfolg gebracht. Die transiente globale Amnesie (amnestische Episode) ist in Kap. 25 besprochen.

Globale Amnesie Bei dieser schwersten Form der Amnesie sind Gedächtniseindrücke nicht mehr verfügbar, die sich vor dem Krankheitsfall bis zu einer Zeit von Jahren oder Jahrzehnten ereignet haben. Gleichzeitig besteht eine Unfähigkeit, neue Inhalte abzuspeichern, also eine Unfähigkeit zu lernen. Im Gegensatz zum deklarativen ist das prozedurale Gedächtnis erhalten. Die Patienten finden sich also auf ihrer Straße nicht mehr zurecht, weil sie die Physiognomie der Häuser nicht mehr erkennen, können aber einen Pkw rein technisch fahren. Die Gedächtnis- und Lernstörung ist irre-

3Funktionen der Aufmerksamkeit. Charakteristische Funk-

3.10

Störungen der Aufmerksamkeit

Störungen der Aufmerksamkeit gehören zu den häufigsten Symptomen nach Hirnschädigungen. Da Aufmerksamkeitsfunktionen grundlegend für Handeln und Verhalten sind, führen Defizite der Aufmerksamkeit meist auch zu Einbußen in anderen Teilleistungsbereichen (z.B. Sprache oder Gedächtnis). Umgekehrt können Einschränkungen in anderen kognitiven Leistungen teilweise durch eine vermehrte Aufmerksamkeitszuwendung kompensiert werden, was jedoch zum häufig geklagten Symptom einer vorzeitigen Ermüdung führen kann. Konzentration ist eine Komponente der Aufmerksamkeitsfunktionen.

tionen von Aufmerksamkeit und Konzentration sind 4 die allgemeine Reaktionsbereitschaft (Aktivierung nach einem Warnreiz). Die allgemeine Reaktionsbereitschaft wird als Alertness bezeichnet, wobei hier noch zwischen tonischer Alertness (Wachheit) und phasischer Alertness (kurzzeitige Aufmerksamkeitssteigerung) unterschieden wird; 4 die auf relevante Aspekte einer Aufgabe gerichtete Aufmerksamkeit. Gerichtete Aufmerksamkeit wird meist als selektive Aufmerksamkeit bezeichnet (umgangssprachlich »Konzentration«);

3

112

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

4 die geteilte Aufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, gleichzeitig oder in kurzer Folge verschiedenartige Reize zu beachten und zu verarbeiten und 4 die Daueraufmerksamkeit, die auf Entdeckung seltener Ereignisse in monotonen Situationen gerichtet ist.

3

Beide Verhaltensweisen werden als Folge einer fehlenden Hemmung (Kontrolle) von motorischem Verhalten durch frontale Areale verstanden. 3.12

Demenzsyndrome

3Lokalisation. Die verschiedenen Komponenten der Auf-

merksamkeit sind in einem ausgedehnten Netzwerk, das den Hirnstamm (Anteile der Formatio reticularis), den Thalamus (Nucleus reticularis), das Cingulum sowie frontale und parietale Areale umfasst, repräsentiert. PET-Studien zeigen bei Aufgaben zur Alertness eine vorwiegend rechtshemisphärische Aktivierung; bei der selektiven Aufmerksamkeit spielen linkshemisphärisch gelegene Areale eine größere Rolle. 3.11

Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten

3Inhalte

4 Planen und Handeln: Dies erstreckt sich auf die Zielgerichtetheit und den Entwurf einer Handlung, besonders in ihrer zeitlichen Dimension. Pläne müssen anhand von Alternativen veränderbar sein, und es muss eine Rückkopplung vom Handeln auf das Planen stattfinden. 4 Problemlösen: Die Auswahl von Strategien, die Anwendung geeigneter Operationen und die Bewertung von Ergebnissen sind hier eingeschlossen. Hierzu gehört auch das Schlussfolgern aus bekannten oder unterstellten Fakten und Konstellationen. 4 Konzeptbildung: Diese stellt Beziehungen zwischen Objekten im weitesten Sinne und deren Eigenschaften her. 3Symptomatik

4 Dysexekutives Syndrom: Kognitive Defizite, die die Steuerung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten betreffen, werden neuropsychologisch oft unter dem Begriff des »dysexekutiven Syndroms« zusammengefasst. Im klinischen Alltag wird häufig noch der Begriff Frontalhirnsyndrom verwendet, der allerdings irreführend ist, da Störungen exekutiver Funktionen nicht allein bei frontalen Läsionen auftreten können. 4 Störung der Impulskontrolle: Ähnlich wie in der Psychiatrie kann man Verhaltensänderungen grundlegend in Plus- und Minussyndrome unterscheiden. Phineas Gage z.B. hatte wohl eher Ersteres mit Störung der Impulskontrolle und distanzlos-dissozialen Verhaltensweisen. Für das Minussyndrom kennzeichnend ist eine mehr oder weniger ausgeprägte Apathie und eine affektive Indifferenz. Beide Syndrome sind nicht selten gleichzeitig vorhanden, z.B. eine ausgeprägte Apathie mit aggressiven Ausbrüchen. 4 Weitere Symptome: Typische Verhaltensänderungen nach frontalen Läsionen sind das so genannte »Imitation Behavior« und das »Utilization Behavior«. Bei Ersterem imitiert der Patient z.B. Gestik und Mimik des Gesprächspartners. Bei Letzterem hantiert er ohne klare Absicht mit Gegenständen in seiner Nähe.

Im täglichen Sprachgebrauch wird unter Demenz eine globale Minderung der Intelligenzfunktionen verstanden. Demenz wird beschrieben als Einbuße an kognitiven Funktionen, die dazu führt, dass der Betroffene den Anforderungen des täglichen Lebens nicht mehr gewachsen ist. Eine Bewusstseinsstörung liegt nicht vor. Viele Autoren beziehen emotionale Störungen in die Beschreibung ein. Ein fortschreitender Verlauf gehört nicht mehr zur Definition. Bei Demenzen kommt es zur Störung verschiedener neuropsychologischer Funktionen. 3Diagnostische Kriterien und Elemente. Die Diagnose soll

nicht nach einem Eindrucksurteil oder aufgrund von nichtstandardisierten Untersuchungsverfahren gestellt werden, deren Validität nicht nachgewiesen ist. 4 Gedächtnis: An erster Stelle ist das Gedächtnis zu nennen, das keine einheitliche Funktion ist. Es wird nach verschiedenen Dimensionen beschrieben: zeitlich (Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis), nach dem zu merkenden Material (verbal, bei Läsionen der sprachdominanten Hemisphäre beeinträchtigt, oder nichtverbal durch Läsionen der nichtdominanten Hemisphäre) und nach den Kategorien deklarativ (wissen, dass sich etwas ereignet hat) oder prozedural (wissen, wie Handlungsabläufe ausgeführt werden). 4 Sprache: Aphasien sind häufige Symptome bei fortschreitender Demenz. 4 Aufmerksamkeit und Konzentration: Diese wurden bereits oben besprochen. 4 Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten: Diese sind im vorherigen Abschnitt besprochen worden. Auch Apraxien und räumliche Störungen sind charakteristische Frühsymptome mancher Demenzen. 4 Psychomotorische Funktionen: Diese werden als sensomotorische Koordination und als einfache oder komplexe Reaktionen getestet. Einfache sensomotorische Funktionen mit den kontralateralen Extremitäten sind nach rechtshemisphärischen Läsionen, mit kontra- und ipsilateralen Extremitäten nach linkshemisphärischen Läsionen beeinträchtigt. Komplexe sensomotorische Leistungen sind vor allem nach linkshemisphärischen Läsionen gestört. 4 Persönlichkeitsveränderungen: Es handelt sich dabei um eine sehr unscharfe Kategorie. Die ältere Neurologie verstand darunter das Auftreten von Auffälligkeiten im Verhalten, z.B. Verminderung oder Enthemmung des Antriebs, mangelnde Orientierung der Handlungen an sozialen Normen, gehobene Grundstimmung oder Gedrücktheit, affektive Labilität oder Nivellierung der Affekte. Solche Veränderungen des Verhaltens und

113 3.13 · Instinktbewegungen als neurologische Symptome

Exkurs Demenzmodelle Die globale Konzeption von Demenz ist an einem Stadienmodell orientiert. Demenz wird nach diesem Modell als ein homogenes, quantitativ fortschreitendes Nachlassen kognitiver Leistungen verstanden, und beobachtete Unterschiede zwischen Patienten und Patientengruppen werden auf Unterschiede im Zeitablauf des unterstellten »globalen zerebralen Abbauprozesses« zurückgeführt. Die Neuropsychologie zeigt aber, dass psychologische Funktionen, die heute sehr viel differenzierter als früher beschrieben werden (s.u.), eine differentielle Hirnlokalisation haben. Das gilt nicht nur für die Seitenlokalisation (linke oder rechte Hemisphäre) – denn die Hemisphären haben ja keine einheitliche Funktion –, sondern auch für die Lokalisation innerhalb einer der Hirnhemisphären. Degenerative, entzündliche oder metabolische Hirnkrankheiten sind nicht diffus oder global, sondern fokal oder multifokal lokalisiert. Die Neuropsychologie deckt bei unterschiedlichen Patienten oder Patientengruppen unterschiedliche Cluster von Beschwerden und Leistungsstörungen auf. Daraus folgt, dass ein Modell mit Leitsymptomen angemessen ist,

um demente Patienten zu beschreiben. Funktionell unterschiedliche Untergruppen können nicht makroanatomischen Strukturen wie etwa dem Parietallappen zugeordnet werden, weil sich die funktionellen Einheiten nicht mit den Grenzen der Hirnlappen decken und in einem Hirnlappen eine Vielzahl von unterschiedlichen Funktionen organisiert ist. Sie können auch nicht mit umschriebenen kortikalen Zentren in Beziehung gesetzt werden, deren Läsion – und nur diese – bestimmte Symptome und Syndrome zur Folge hat. Auch für psychische Funktionen gilt das Prinzip der multiplen Repräsentation und der Netzwerkorganisation, d.h. eine Funktion ist an mehreren Orten des Cortex repräsentiert, und an einem Ort sind mehrere Funktionen repräsentiert. Diese Repräsentationsorte sind dynamisch miteinander vernetzt. Dynamisch bedeutet, dass die Verschaltung nicht starr ist, sondern nach funktionellen Anforderungen aktiviert wird. Daraus folgt: Eine umschriebene Hirnläsion kann unterschiedliche funktionelle Folgen haben und ein gegebenes Symptom kann die Folge unterschiedlich lokalisierter Läsionen sein. Der alte Zentrenbegriff verliert damit seinen Sinn.

Exkurs Mini Mental Test (7 Anhang) Folgende Elemente werden getestet: 4 Orientierung: Datum und Ort – max. 10 Punkte 4 Kurzzeitgedächtnis: 3 Gegenstände benennen lernen – max. 3 Punkte

Erlebens werden nach Läsionen im limbischen System beobachtet und sind in dem entsprechenden Abschnitt beschrieben. Sie können aber auch psychiatrische oder psychologische Gründe haben. Sie sind schwer zu objektivieren und kein konstitutives Merkmal von Demenz. 3.12.1 Kortikale und subkortikale Demenz Kortikale Demenz Bei Krankheitsprozessen, die die kortikalen Areale oder die Assoziations- und Kommissurenbahnen zwischen diesen Arealen betreffen, werden umschriebene neuropsychologische Syndrome, wie Aphasie oder räumliche Orientierungsstörung, sowie oft auch mehr generelle kognitive Leistungsstörungen, wie Beeinträchtigung von Aufmerksamkeitsfunktionen oder Einschränkung des Arbeitsgedächtnisses in verschiedenen Kombinationen, beobachtet. Die klassischen Paradigmen sind die AlzheimerKrankheit (7 Kap. 25) und die vaskuläre Demenz (bei multiplen kortikalen Infarkten; 7 Kap. 5).

4 Rechnen: 100 minus 7 minus 7 etc. – max. 5 Punkte 4 Erinnerung: Erinnerung der 3 Objekte – max. 3 Punkte 4 Sprache: max. 9 Punkte

Subkortikale Demenz Unter der Bezeichnung subkortikale Demenz wird ein Syndrom beschrieben, das durch folgende Merkmale charakterisiert sein soll: Verlangsamung gedanklicher Abläufe, eingeschränkte Verfügbarkeit erworbenen Wissens sowie emotionale und Stimmungsveränderung in Richtung Apathie oder Depression, auch Reizbarkeit. Das Syndrom ist bei M. Parkinson, Chorea Huntington, M. Wilson, bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie und bei der progressiven supranukleären Lähmung beschrieben worden. Die Zuordnung als eine Form der Demenz ist nicht unwidersprochen geblieben, weil sich die meisten Symptome auch durch eine Antriebsstörung erklären lassen. 3.13

Instinktbewegungen als neurologische Symptome

3Definition. Instinktbewegungen sind angeborene Verhal-

tensweisen, die im Tierreich für Arten, Gattungen oder höhere systematische Einheiten genauso charakteristisch sind wie mor-

3

114

3

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

phologische Merkmale. Auch beim Menschen gehört eine große Zahl von Instinktbewegungen zur angeborenen motorischen Ausstattung. Sie lassen sich beim Neugeborenen und Säugling regelmäßig in reiner Form nachweisen. Mit der Reifung des Zentralnervensystems werden sie in komplexere reflektorische und Willkürbewegungen eingegliedert. Beim Abbau der Leistungen des Gehirns durch Krankheitsprozesse der verschiedensten Art können diese Bewegungen oder Radikale davon als motorische Schablonen wieder freigesetzt werden. Je nach dem Schweregrad des Abbaus, d.h. nach der Senkung des zerebralen Organisationsniveaus, treten sie reflektorisch oder automatisch auf. Die reflektorischen Formen sind unspezifisch auslösbar, laufen formstarr in stets gleicher Weise ab und sind nicht ermüdbar. In schweren Fällen kann der Kranke sie willentlich nicht unterdrücken. Die automatischen Formen bedürfen prinzipiell keiner afferenten Anregung, wenn ihre Abläufe auch zusätzlich durch verschiedenartige Stimuli in Gang gesetzt werden können. 3.13.1 Handgreifen Hand- und Fußgreifreflexe der verschiedensten Art sind beim Neugeborenen und Säugling regelmäßig nachzuweisen. Zusammen mit den Mundgreifreflexen dienen sie der Nahrungsaufnahme und dem Festhalten an der Mutter. Sie sind unspezifisch auslösbar (. Abb. 3.6).

3Symptome. Streckt man die gebeugten Finger des Patienten

ruckartig mit den Fingerspitzen der eigenen Hand, möglichst unter gleichzeitiger Ablenkung im Gespräch, kommt es zu einer reflektorischen Beugebewegung nach Art des Hakelns. In analoger Weise kann die ruckartige passive Streckung des gebeugten Arms ein Gegenhalten oder sogar aktive Beugung im Ellenbogen auslösen. In schweren Fällen ziehen sich die Kranken durch eine kombinierte Bewegung von Hakeln und Beugung des Arms an der festgehaltenen Hand des Untersuchers aus dem Liegen zum Sitzen empor. Dies geschieht reflektorisch und nicht als intendierte Handlung. Berührungsreize der Handfläche können eine Schließbewegung der Hand auslösen. Diese ist oft von einem propriozeptiven Festhalten gefolgt, das dem Bulldog-Reflex (s.u.) analog ist und häufig ebenfalls solche Stärke hat, dass man den Kranken an dem Reizobjekt aus seiner Stellung ziehen kann. Schließlich gibt es auch ein Nachgreifen mit der Hand nach optisch wahrgenommenen Objekten. Es setzt regelmäßig dann ein, wenn der Gegenstand der Hand bis zu einer bestimmten Distanz genähert wird. Weicht man mit dem Reizobjekt aus, so kann sich der Patient, wenn er nicht bettlägerig ist, erheben und, wie von einem Magneten angezogen, dem Objekt durch das ganze Zimmer folgen. 3Ursachen. Diese Handgreifreflexe sind ein Zeichen allgemeiner Hirnschädigung (Hirndruck oder ausgedehnter Abbauprozess). Im Gegensatz zu experimentellen Befunden an Primaten findet sich beim Menschen keine positive Korrelation speziell zwischen Frontalhirnprozessen und Auslösbarkeit dieser Reflexe. Sie sind vielmehr bei beliebig lokalisierter Hirnschädigung auszulösen, sofern diese einen bestimmten Schweregrad erreicht hat. Beim allgemeinen Hirndruck (7 Kap. 11) sind Handgreifreflexe ein Frühsymptom. Nach spastischer Hemiplegie erlischt die optisch und taktil auslösbare Greifreaktion, die propriozeptive bleibt erhalten.

3.13.2 Orales Greifen (Bewegungen der

Nahrungsaufnahme)

. Abb. 3.6. Bei einem Frühgeborenen ist der Greifreflex so stark, dass das Körpergewicht getragen werden kann

Automatische Bewegungen Bei schlafenden Säuglingen kann man eine automatische Saugbewegung mit Öffnung und Schließung des Mundes beobachten. Ähnliche Automatismen mit einer Frequenz von 2–3/s treten in Serien, spontan und reflektorisch im Zustand der Dezerebration auf. Der stärkste auslösende Reiz ist, je nach dem Typ der Dezerebrationshaltung, die Streckung der gebeugten oder die Beugung der gestreckten Arme. Die Serien lassen sich auch durch sensible Stimuli an der perioralen Hautpartie und auf dem Thorax auslösen. Oft kann man am Einsetzen dieser Automatismen die beginnende Dezerebration erkennen, bevor noch die Extremitäten die typische Haltung (7 Kap. 2) zeigen und sich die Bewusstseinslage nennenswert verändert. Dies ist ein wichtiges Symptom zur

115 3.13 · Instinktbewegungen als neurologische Symptome

Frühdiagnose einer drohenden Einklemmung des Hirnstamms bei raumfordernden Prozessen aller Art.

stand, auf dem er sich festgebissen hat, von der Unterlage emporziehen.

Reflektorisches orales Greifen Bei Neugeborenen und Säuglingen löst die Berührung der Mundgegend einen oralen Greifreflex aus. Etwa im 4. Monat tritt auf Bewegung der Lippen eine Art Beißbewegung auf, die sich beim Herausziehen des Objekts verstärkt. Erst mit der Reifung des zusammenhängenden Sehens erfolgt das Mundgreifen auch auf optische Reize.

Diese Reaktionen sind prinzipiell vom Aufforderungscharakter des Objekts unabhängig. Sie erfolgen mit der Zwangsläufigkeit eines Reflexes auch dann, wenn das Reizobjekt ein gefährlicher Gegenstand ist, etwa eine Messerklinge. Dies gilt auch für die oben besprochenen Handgreifreflexe.

3Symptomatik. In gleicher Weise lassen sich Mundgreifreflexe

bei Patienten mit zerebralen Krankheitsprozessen auslösen. 4 Optisch: Annäherung oder Entfernung eines beliebigen Gegenstands im Blickfeld des Kranken wird mit einem Öffnen des Mundes, bei schweren Krankheitsfällen mit einer schnappenden Greifbewegung des Mundes beantwortet. 4 Taktil: Berührung der Lippen, der perioralen Region, aber auch der seitlichen Gesichtshaut löst, je nach der Schwere der Läsion, ein leichtes Öffnen des Mundes, orales Greifen oder gar Ansaugen des Gegenstands aus. 4 Propriozeptiv: Der mit dem Mund erfasste Gegenstand wird beißend zwischen Ober- und Unterkiefer festgehalten. In dem Maße, in dem der Untersucher einen Druck auf den Unterkiefer ausübt oder versucht, das Objekt aus dem Munde herauszuziehen, verstärkt sich der Kieferschluss (Bulldog-Reflex; . Abb. 3.7). In schweren Fällen kann man den Kranken an dem Reizgegen-

3Ursachen. Das orale Greifen ist so gut wie immer dann auslösbar, wenn auch Handgreifreflexe zu erhalten sind. Es zeigt eine schwere Allgemeinschädigung des Gehirns an. Der Palmomentalreflex darf nicht mit oralen Greifreflexen verwechselt werden. Der Stimulus besteht in einem Bestreichen des Daumenballens von proximal nach distal, am besten mit einer Nadelspitze. Der Reflexerfolg ist eine Kontraktion des ipsilateralen M. triangularis. Erscheinungsbildlich sowie ontogenetisch handelt es sich nicht um einen Greifreflex, sondern um einen Teil des generalisierten Beuge- und Schutzreflexes. Lokalisatorische Bedeutung hat der Palmomentalreflex nicht, er zeigt lediglich eine organische Hirnschädigung von fortgeschrittenem Schweregrad an.

3.13.3 Pathologisches Lachen und Weinen Bei zerebralen Krankheitsprozessen tritt gelegentlich ein unaufhaltsames Lachen und Weinen auf, das der Situation nicht angemessen ist und das die Patienten nicht unterdrücken oder unterbrechen können. In der neuropsychiatrischen Literatur spricht man oft von »Zwangslachen«, »Zwangsweinen« oder gar von »Zwangsaffekten«. Diese Bezeichnungen geben ein falsches Bild von der inneren Verfassung der Patienten. Von Zwangsphänomenen sprechen wir heute bei solchen Handlungen, die neurosepsychologisch determiniert sind und bei denen der Versuch, die Handlung zu unterdrücken, Angst hervorruft. Davon kann beim pathologischen Lachen und Weinen keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um neurologisch bedingte Enthemmungsphänomene von angeborenen Ausdrucksbewegungen, die man den motorischen Schablonen, z.B. dem pathologischen Hand- und Mundgreifen, an die Seite stellen muss. 3Symptomatik. Das pathologische Lachen und Weinen lässt

. Abb. 3.7. Taktil ausgelöster oraler Greifreflex bei einer 51-jährigen Patientin mit bilateraler Basalganglienblutung

keine dynamische Beziehung zu einem adäquaten Anlass erkennen. Es läuft vielmehr spontan oder nach Einwirkung variabler, unspezifischer Stimuli (Ansprechen, Essen reichen, die Bettdecke aufschlagen) in der Art eines Automatismus oder einer Stereotypie formstarr und wiederholbar ab. Pathologisches Lachen und Weinen enthält alle Bewegungskomponenten der natürlichen Ausdrucksbewegungen: Mimik, Atmung, Vokalisation und vasomotorisch-sekretorische Innervation. Die Bewegung setzt jeweils ohne Übergang stoßartig, stufenweise und krampfhaft ein, sie ist nach Ausmaß und Dauer überschießend und kann im Ablauf weder gesteuert noch aufge-

3

116

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

Exkurs Klüver-Bucy-Syndrom beim Menschen

3

Definition. Primatenjunge und menschliche Säuglinge durchlaufen ein Entwicklungsstadium, in dem sie beliebige Gegenstände in ihrem Blickfeld ergreifen und in den Mund stecken. Klüver und Bucy haben gezeigt, dass bei Makaken doppelseitige Abtragung des medialen Temporallappens zu einem Syndrom führt, das durch folgende Symptome gekennzeichnet ist: 4 Unfähigkeit, die Bedeutung von belebten und unbelebten Objekten aufgrund optischer Kriterien zu erkennen; 4 die Tiere stecken alle möglichen Gegenstände, die ihnen erreichbar sind, in den Mund. Unmittelbar nach der Operation fressen die Affen, die natürlicherweise Pflanzenfresser sind, alle Arten von Fleisch und Fisch; 4 starke Ablenkbarkeit durch jeden neuen optischen Reiz; 4 Verminderung der affektiven Reaktionen, so dass sich die sonst sehr schwierigen Tiere völlig zahm verhalten; 4 einige Wochen nach dem Eingriff kommt es zu einer deutlichen Steigerung der sexuellen Aktivität. Symptome beim Menschen. Eine ähnliche Symptomkombination wird auch beim Menschen nach doppelseitiger Zerstörung

halten werden. Die mimische Bewegung kann in einem Ablauf vom Lachen zum Weinen oder in umgekehrter Richtung umschlagen (. Abb. 3.8). Die Automatismen des Affektausdrucks werden nicht von einer gleichgerichteten affektiven Bewegung getragen. Im Gegenteil suchen die Kranken sich meist gegen den als fremd und beherrschend erlebten enthemmten Bewegungsablauf zu wehren. Nur manchmal entsteht im Laufe der Bewegung eine gewisse affektive Beteiligung. 3Ursachen. Pathologisches Weinen und Lachen kommt bei zentralen Bewegungsstörungen, die die mimische Muskulatur mit einbeziehen, z.B. Bulbärparalyse, Pseudobulbärparalyse, Chorea, Athetose, vor. Meist finden sich Läsionen in der inneren . Abb. 3.8. Pathologisches Lachen und Weinen. Bei einem 37-jährigen Mann mit gut rückgebildeter traumatischer Hirnstammschädigung trat auf unspezifische Stimulation die mimische Schablone des Lachens auf, die in einem Durchgang zum Weinen umschlug

medialer Temporallappengebiete beobachtet: Diese kann durch ischämische Insulte, hirnatrophische Prozesse (z.B. Pick-Krankheit) und nach überstandener Herpes-simplex-Enzephalitis eintreten. Das führende Symptom ist eine exzessive orale Tendenz, die sich darin äußert, dass die Kranken wahllos beliebige, auch unessbare oder gefährliche Gegenstände mit der Hand ergreifen und in den Mund stecken. Diese Bewegungsfolgen können unermüdbar und so dranghaft ablaufen, dass die Kranken fixiert werden müssen. Neben diesen reflektorischen Essbewegungen bestehen eine erhebliche affektive Indifferenz und eine Antriebsminderung. Manche Patienten sind in ihrem sexuellen Verhalten stark enthemmt (wahllose Partnersuche, Masturbation). Ein sehr wichtiges Symptom ist die Unfähigkeit, neue Gedächtnisinhalte so aufzunehmen und zu verarbeiten (Überführung vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis), dass sie bei Bedarf abgerufen werden können. Sie ist mit rascher Ablenkbarkeit durch jeden neuen Außenreiz kombiniert.

Kapsel und den Basalganglien, seltener im Thalamus. Es wird auch als epileptisches Anfallssymptom beobachtet. 3.13.4 Enthemmung des sexuellen

und aggressiven Verhaltens Tumoren, Blutungen und enzephalitische Herde in basalen Anteilen des Temporallappens, im Mittelhirn und Hypothalamus, d.h. in Strukturen, die man als limbisches System zusammenfasst (lat. limbus, Rand, Saum), können zu pathologischen Veränderungen des sexuellen und aggressiven Verhaltens führen, die denen sehr ähnlich sind, die man nach entsprechenden Läsionen im Tierexperiment hervorrufen kann. Es kommt zu dranghaften se-

117 3.13 · Instinktbewegungen als neurologische Symptome

xuellen Handlungen oder, bei psychomotorischer Epilepsie (7 Kap. 14), zu anfallsweisen sexuellen Empfindungen. Etwas häufiger sind hemmungslose Wutausbrüche, die spontan oder auf geringfügige unspezifische und keineswegs bedrohliche Stimuli einsetzen. Unter Brüllen und Zähnefletschen zerreißen und zerbeißen die Kranken beliebige Gegenstände, die ihnen gerade erreichbar sind, und fallen auch andere Menschen an (s. Rabies, Kap. 19).

> Hand- und Mundgreifreflexe sind die wichtigsten Ins-

tinktbewegungen, die als pathologische Symptome Bedeutung haben. Weiter zählen dazu: pathologisches Lachen und Weinen, Enthemmung des sexuellen und aggressiven Verhaltens und das komplexe Klüver-BucySyndrom.

In Kürze Befunderhebung Psychischer Befund. Beschreibung des Verhaltens des Patienten, der geistig-seelischen Kategorien wie Bewusstsein, Orientiertheit, spontaner Antrieb, Stimmung, Konzentration. Neuropsychologischer Befund. Prüfung von Intelligenz, Aphasie, Lesen und Schreiben, Apraxie, optisch-räumliche Vorstellung, konstruktive Leistung, optisches Erkennen.

Neuropsychologische Syndrome Aphasie. Störung im kommunikativen Sprachgebrauch. Aussagesprache stärker betroffen als emotionale Sprache, Ausprägung abhängig von affektiver Verfassung, Antriebs- und Bewusstseinslage. Therapie: Strukturierende und deblockierende Methoden. Broca-Aphasie. Starke Sprachanstrengung und Agrammatismus, gutes Sprachverständnis und meist erhaltenes Störungsbewusstsein, oft artikulatorische Sprechstörung (Dysarthrophonie). Ursache: Prärolandische Läsion, Versorgungsgebiet der Sprache ist betroffen. Wernicke-Aphasie. Gut erhaltener Sprachfluss, stark gestörtes Sprachverständnis, eingeschränkte Kommunikation, fehlendes Störungsbewusstsein. Ursache: Retrorolandische Läsion. Globale Aphasie. Expressive und rezeptive sprachliche Funktionen beeinträchtigt. Ursache: Funktionsstörung im gesamten Versorgungsgebiet. Amnestische Aphasie: Wortfindungsstörungen, Kommunikationsfähigkeit, Sprachfluss und Sprachverständnis erhalten. Ursache: Temporo-parietale Läsion. Apraxie. Störung in sequenzieller Anordnung von Bewegungen zu Bewegungsfolgen. Ideomotorische Apraxie: Auftreten fehlerhafter Elemente in Bewegungsfolgen. Ursache: u.a. Läsionen der WernickeRegion, subkortikaler Bezirke unter dem Operculum.

6

Ideatorische Apraxie: Beeinträchtigung in der konzeptuellen Organisation von Handlungsfolgen. Elementare Motorik, Sensibilität und Bewegungskoordination sind erhalten. Ursache: Läsion in der temporo-parietalen Region der sprachdominanten Hemisphäre. Räumlich perzeptive/konstruktive Störungen. Bei konstruktiver Apraxie können einzelne Elemente nicht mehr zu einem räumlichen Gebilde zusammengefügt werden. Räumliche Orientierungsstörung betrifft die optisch-räumliche Orientierung. Ursache: Läsionen der inferior-parietalen Region. Neglect. Halbseitige Vernachlässigung motorischer, sensibler, akustischer und visueller Reize. Ursache: u.a. Läsion des Lobulus parietalis inferior, der nicht sprachdominanten Hemisphäre. Anosognosie. Funktionsminderung oder -aufhebung, Leistung wird nicht wahrgenommen oder beachtet. Ursache: Läsionen im rückwärtigen Anteil der nicht sprachdominanten Hirnhälfte. Leitungsstörungen. Störungen des Erkennens in einem bestimmten Sinnesgebiet. Ursache: Unterbrechung der Verbindungen zwischen kortikalen Projektions- oder Assoziationsfeldern. Amnesie. Unfähigkeit auf Gedächtnisinhalte zurückzugreifen und neue zu speichern, vor allem Langzeitgedächtnis betroffen. Störungen der Aufmerksamkeit. Einbußen auch in anderen Teilleistungsbereichen wie Sprache. Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten. Fehlende Hemmung von motorischen Verhalten durch frontale Areale wie »imitation behavior« oder »utilization behavior«. Demenzsyndrom. Störung neuropsychologischer Funktionen (Gedächtnis, Sprache, Planung von Handlung und Verhalten), psychomotorische Störungen, Persönlichkeitsveränderungen, keine Bewusstseinsstörung. Kortikale Demenz wie M. Alzheimer

3

118

3

Kapitel 3 · Neuropsychologische Syndrome

oder vaskuläre Demenz: Kortikale Areale oder Assoziationsund Kommissurenbahnen zwischen den Arealen sind betroffen. Subkortikale Demenz wie M. Parkinson, Chorea Huntington: Verlangsamung gedanklicher Abläufe, eingeschränkte Verfügbarkeit erworbenen Wissens, Stimmungsveränderung.

Instinktbewegungen als neurologische Symptome. Abbau der Gehirnleistungen durch unterschiedliche Krankheitsprozesse pervertieren angeborene Verhaltensweisen zu pathologischen Symptomen: reflektorisches oder automatisches Hand- oder orales Greifen, pathologisches Lachen und Weinen, Enthemmung des sexuellen und aggressiven Verhaltens.

4 4 Apparative und laborchemische Diagnostik 4.1

Liquordiagnostik

4.1.1 4.1.2

Liquorpunktion – 120 Untersuchung des Liquors

– 120 – 121

4.2

Neurophysiologische Methoden – 123

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8

Elektromyographie (EMG) – 123 Elektroneurographie (ENG) – 127 Reflexuntersuchungen – 129 Transkranielle Magnetstimulation (TKMS) – 130 Evozierte Potentiale (EP) – 131 Elektroenzephalographie (EEG) – 134 Magnetenzephalogramm (MEG) – 138 Elektronystagmographie – 139

4.3

Neuroradiologische Untersuchungen

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7

Konventionelle Röntgenaufnahmen – 140 Computertomographie (CT) – 141 Magnetresonanztomographie (MRT) – 143 Nuklearmedizinische Untersuchungen – 148 Angiographie – 149 Myelographie – 152 Ventrikulographie – 152

– 140

4.4

Ultraschalluntersuchungen

4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6

Extrakranielle Dopplersonographie (ECD) – 153 Transkranielle Dopplersonographie (TCD) – 154 Extrakranielle Duplexsonographie – 154 Intrakranielle Duplexsonographie – 155 Ultraschallkontrastmittel – 155 Funktionelle Untersuchungen – 156

– 153

4.5

Biopsien

4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4

Muskelbiopsie – 156 Nervenbiopsie – 157 Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen – 157 Andere Biopsien – 157

– 156

4.6

Spezielle Laboruntersuchungen

4.6.1 4.6.2 4.6.3

Muskelbelastungstests – 157 Hypothalamisch-hypophysäre Hormondiagnostik – 158 Neuronale Marker – 158

4.7

Molekulargenetische Methoden

– 157

– 158

120

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

> > Einleitung

4

Der Nobelpreis für Medizin wurde im Jahr 1978 an den englischen Physiker Hounsfield, Mitarbeiter von EMI, und seinen südafrikanischen Kollegen Cormack verliehen. Sie erhielten ihn für eine richtungsweisende Neuerung: Sie hatten die Computertomographie erfunden, indem sie von Computern eine zweidimensionale Bilddarstellung aus vielen einzelnen, um jeweils wenige Winkelgrade verschobenen Röntgenstrahlabschwächungen errechnen ließen. Die ersten Bilder waren noch sehr grob, trotzdem konnte man Knochen, Hirnsubstanz und Ventrikel in einzelnen transversalen Schichten identifizieren. Dies war ein Quantensprung in der medizinischen Diagnostik. Weitere dramatische Verbesserungen bei der intravitalen Diagnostik von pathologischen Veränderungen in Hirn und Rückenmark ergaben sich durch die Kernspintomographie und die nuklearmedizinischen computertomographischen Methoden (vor allem PET). Alle technischen Untersuchungsverfahren haben ihren Wert jedoch nur dann, wenn sie gezielt und nicht nur als blinde Suchmethode eingesetzt werden. Manchmal hat man den Eindruck, dass technische Untersuchungen an Stelle einer gründlichen körperlichen Untersuchung angefordert werden. Bevor man eine Untersuchung anordnet, soll man sich im Klaren sein, welche Befunde man erwarten kann bzw. welche Läsion man finden oder ausschließen will. So ist z.B. bei einer zentralen Beinlähmung ein CT des lumbalen Spinalkanals aus anatomischen Gründen nicht sinnvoll. Invasive Untersuchungen müssen mit besonderer Sorgfalt eingesetzt werden. Die Darstellung der Untersuchungsmethoden wird sich auf die Beschreibung von Prinzip, technischer Durchführung und Leistungsfähigkeit der Methoden, auf Indikationen und ggf. Kontraindikationen beschränken. Die Befunde, die bei den einzelnen Krankheiten zu erheben sind, werden in den entsprechenden Kapiteln besprochen.

4.1

Liquordiagnostik

4.1.1 Liquorpunktion Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ist für die Diagnose einer großen Zahl von Krankheiten unerlässlich. Der Liquor wird routinemäßig durch Lumbalpunktion aus dem Subarachnoidalraum entnommen (. Abb. 4.1). Es wird immer gleichzeitig Blut abgenommen für die vollständige Proteindiagnostik, Blutzuckerund Laktatbestimmung. Bei Verdacht auf eine Meningitis wird eine Blutkultur abgenommen. Lumbalpunktion (LP) Die LP wird unter sterilen Bedingungen (Desinfektion, steriles Abdecken der Umgebung, sterile Handschuhe, Einmal-LP-Nadeln) im Sitzen oder Liegen vorgenommen. Eine Lokalanästhesie ist meist entbehrlich, zumal sie den Eingriff verlängert. Die Punk-

. Abb. 4.1. Seitliche Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule mit lumbaler Punktionsnadel in situ bei L3/L4. (O. Jansen, Kiel)

tionsnadel wird zwischen den Dornfortsätzen des 3. und 4. oder des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers, d.h. unterhalb des Conus medullaris des Sakralmarks eingeführt. Dies ist nur möglich, wenn der Patient den Rücken maximal krümmt, so dass die Dornfortsätze leicht entfaltet werden. Die Punktionsstelle liegt etwa im Schnitt der Wirbelsäule mit einer gedachten Linie zwischen dem oberen Rand beider Beckenschaufeln. Bei Deformitäten der Wirbelsäule kann die Lumbalpunktion unmöglich sein. Heute verwendet man meist so genannte atraumatische LPNadeln (z.B. die Sprotte-Nadel). Mit diesen ist das Risiko postpunktioneller Beschwerden deutlich geringer; man erkauft dies aber mit einer schlechteren Führung der Nadel, besonders bei adipösen Patienten oder älteren Menschen. Manchmal muss man dann doch auf die klassischen starreren LP-Nadeln zurückgreifen. Nach der Punktion bleibt der Patient, wenn er stationär ist, 24 h überwiegend flach im Bett liegen, zunächst für etwa 2–3 h auf dem Bauch, was dem Auftreten postpunktioneller Beschwerden entgegenwirkt. Die Liquorentnahme ist bei intrakranieller Drucksteigerung dadurch gefährlich, dass die plötzliche Druckentlastung eine Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz oder Hinterhauptsloch auslösen kann (7 Kap. 11). Der Punktion muss deshalb in der Regel eine Computertomographie des Gehirns vorangehen. Die Spiegelung des Augenhintergrunds, die vor der CTÄra gefordert wurde, reicht nicht aus, da große raumfordernde Läsionen auch ohne Stauungspapille vorkommen. Eine Subokzipitalpunktion erfolgt nur noch in Ausnahmefällen. Ventrikulären Liquor gewinnt man, wenn aus therapeutischen Gründen ein Ventrikelkatheter gelegt worden ist. Liquordruckmessung Die Messung des Liquordrucks wird bei der Lumbalpunktion mit Hilfe eines Steigrohrs beim entspannt liegenden Patienten ausgeführt. Ängstliche Erregung mit Anspannung der Bauchmuskeln

121 4.1 · Liquordiagnostik

Leitlinien Durchführung der Lumbalpunktion* 4 Die Entnahme des Liquors setzt das Einverständnis des einwilligungsfähigen Patienten voraus. 4 Die Punktion muss durch Ärzte durchgeführt werden, die über entsprechende Erfahrung verfügen oder unter der Aufsicht eines Erfahrenen erfolgen. 4 Die Öffnung der Punktionsnadel sollte so eingestellt werden, dass sie parallel zur Verlaufsrichtung der Durafasern liegt (⇑). 4 Für die Auswahl der Punktionsnadel können keine verbindlichen Empfehlungen gegeben werden, da widersprüchliche

oder forciertes Atmen erhöhen den Liquordruck über eine venöse Abflussbehinderung und damit Steigerung des intrakraniellen Drucks sofort. Der Liquordruck wird in »Millimeter Wassersäule« (mmH2O) gemessen. Werte bis 200 sind normal, bis 250 grenzwertig, über 250 pathologisch. Postpunktionelles Liquorunterdrucksyndrom Es tritt mit einer Latenz von 1–2 Tagen mit heftigen Kopfschmerzen, Übelkeit, Ohrensausen und Ohnmachtsneigung auf, die beim Aufstehen zunehmen und sich im Liegen bessern. Es wird auf Liquorverlust durch den Stichkanal zurückgeführt und lässt sich durch Benutzung spezieller Punktionsnadeln oft, aber nicht immer verhindern. Das postpunktionelle Syndrom kann tagelang anhalten und ist, obschon harmlos und immer reversibel, oft extrem unangenehm und quälend. Entgegen landläufiger Meinung sind es nicht immer zarte, etwas asthenisch wirkende Personen, die dieses Syndrom entwickeln. Dieses Syndrom ist (besser: war) der Grund, warum die LP bei Laien (und manchen Ärzten) immer als ein so eingreifendes und angstmachendes Ereignis galt. Zur Therapie des Liquorunterdrucksyndroms gibt man reichlich Infusionen von Elektrolytlösungen, einfache Analgetika wie Paracetamol oder Ibuprofen, Antiemetika und verordnet Bettruhe. 4.1.2 Untersuchung des Liquors In der Basisuntersuchung des Liquors bestimmt man 4 die Zahl und Art der Liquorzellen, 4 den Gehalt an Eiweiß, 4 die Glukosekonzentration und 4 die Eiweißsubgruppen (Liquorproteinprofil). Bei speziellen Fragestellungen kommt noch eine Vielzahl anderer Untersuchungsmethoden zur Anwendung: die Liquorzytologie, die Analyse infektionsspezifischer Immunglobuline, molekularbiologische Methoden (z.B. Polymerasekettenreaktion, PCR) zum Erregernachweis und die Untersuchung auf Tumormarker. Für die meisten Parameter und für alle Proteinuntersuchungen ist der Vergleich mit den Werten im Serum wichtig, daher wird

Untersuchungsergebnisse zu den Vorteilen der verschiedenen Nadeln vorliegen bzw. keine Studien unter definierten Bedingungen durchgeführt worden sind. 4 Es bestehen Hinweise, dass die Punktion mit einer atraumatischen Nadel mit einer geringeren Inzidenz postpunktioneller Beschwerden verknüpft ist (⇔).

*Leitlinien der DGN 2005

immer gleichzeitig eine Blutentnahme durchgeführt. Die entsprechenden Parameter werden in Liquor und Serum bestimmt. Liquorstatus (Basisuntersuchungen) Aspekt. Der normale Liquor ist wasserklar. Verfärbungen beruhen auf Beimischung pathologischer Bestandteile: Der Liquor kann blutig sein. Bei Zellvermehrung über rund 800/µl wird er trübe, etwa ab 3000/µl werden segmentkernige Zellen eitrig. Gelbfärbung (Xanthochromie) beruht auf Beimischung von Blutfarbstoff nach Zerfall von Erythrozyten im Liquor oder auf starker Eiweißvermehrung. Bei schwerem Ikterus mit Bilirubinwerten über 15 mg/dl tritt Bilirubin in solcher Menge in den Liquor über, dass er ebenfalls ikterisch verfärbt ist. Ist der Eiweißgehalt des Liquors sehr hoch, gerinnt der Liquor in der Nadel oder im Reagenzglas. Die Unterscheidung einer blutigen Punktion von einem primär blutigen Liquor ist manchmal schwierig. Die sog. Dreigläserprobe kann helfen. Wenn die Punktion artefiziell blutig war, nimmt der Blutanteil beim Abtropfen des Liquors kontinuierlich ab. Im dritten Liquorröhrchen ist dann deutlich weniger Blut zu erkennen. Bei einer primären Blutung in den Liquorraum ist dagegen der Blutanteil in den drei Röhrchen immer gleich. Der Nachweis von Xanthochromie hilft nur, wenn die initiale Blutung länger als 6 h vor der Lumbalpunktion stattgefunden hat. Auch durch die sofortige Zentrifugation des Liquors kann man oft die artefizielle blutige Punktion vom blutigen Liquor unterscheiden: Bei der artefiziell blutigen Punktion ist der Überstand stets klar, nach wirklicher Blutung oft schon xanthochrom. Liquorzellzahl. Die normale Zellzahl beträgt 1–4 Zellen/µl (Lym-

phozyten und Monozyten). Vermehrung über diesen Wert oder Auftreten von neutrophilen Granulozyten, eosinophilen Granulozyten und Plasmazellen ist pathologisch. Auch Tumorzellen können im Liquor gefunden werden. Eine normale Gesamtzellzahl schließt die Anwesenheit pathologischer Zellen nicht aus. Eine Vermehrung der Zellzahl wird als Pleozytose bezeichnet. Meist gibt man dazu an, welche Zellfraktion erhöht ist (z.B. »lymphozytäre Pleozytose«). Auch wenn der Liquor artefiziell blutig ist, kann man durch Vergleich mit der Zellverteilung im Blutbild noch Hinweise auf eine Vermehrung der weißen Blut-

4

122

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

körperchen im Liquor bekommen. Bei bakterieller Meningitis können mehrere 10.000 Granulozyten pro µl Liquor gefunden werden. Eosinophile Zellen findet man bei manchen Pilz-, Wurm- und Protozoeninfektionen sowie bei der tuberkulösen Meningitis. Lymphozyten sind vermehrt bei viralen Infektionen (7 Kap. 19) und im subakuten Stadium bakterieller Infektionen. Eiweißgehalt. Der normale Eiweißgehalt des Liquors beträgt

4

0,15–0,45 g/l. Der Eiweißgehalt ist von der Funktion der BlutLiquor-Schranke abhängig, die Moleküle in Abhängigkeit von ihrem Molekulargewicht passieren lässt bzw. zurückhält. So finden sich bei intakter Blut-Liquor-Schranke keine hochmolekularen Eiweißmoleküle im Liquor, und Albumine treten nur in geringem Maße durch die Blut-Liquor-Schranke. Zellen können praktisch nicht übertreten, deshalb auch der zellarme normale Liquor. Wenn die Blut-Liquor-Schranke geschädigt ist, lässt sie größere Moleküle leichter passieren. Der Eiweißgehalt des Liquors wird höher, große Eiweißmoleküle können übertreten, und Albumine sind in höherer Konzentration vorhanden. Der Vergleich der Albuminkonzentrationen in Serum und Liquor wird als Maß für die Schrankenfunktion genutzt (. Abb. 4.2). Andererseits kann man, wenn bestimmte großmolekulare Substanzen wie Immunglobuline in hoher Konzentration im Liquor nachzuweisen sind, aber keine relative Albuminerhöhung – und damit keine Schrankenstörung – gefunden wird, darauf schließen, dass die pathologischen Moleküle innerhalb der Blut-Liquor-Schranke gebildet wurden, und somit einen Immunprozess innerhalb des Nervensystems beweisen. Immunglobuline. Zum Nachweis von erregerbedingten entzündlichen Krankheiten des ZNS werden heute alle 3 Immunglobulinklassen (IgA, IgG, IgM) im Serum und Liquor bestimmt. Deren Konzentration im Liquor wird von 3 Faktoren beeinflusst: 4 Konzentration im Serum (Anstieg im Serum führt zu einem Anstieg auch im Liquor), 4 Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke und 4 lokale Immunglobulinproduktion im Zentralnervensystem.

Eine lokale (= autochthone) IgG-Vermehrung im Liquor als Folge einer eigenständigen Produktion im ZNS wird durch den Liquor-Serum-Quotienten für IgG, bezogen auf den Liquor-Serum-Quotienten für Albumin, nachgewiesen. Diese Berechnung lässt sich besonders anschaulich in dem Schema nach Reiber (. Abb. 4.2) ablesen. Liquorzucker. Die Bestimmung des Liquorzuckers ist bei bakte-

rieller und Virusmeningitis/-enzephalitis sowie bei Tumorkrankheiten von Bedeutung. Da der Zucker rasch reduziert wird, muss er wenige Stunden nach der Punktion bestimmt werden. Normalwert: Zucker 2,7–4,1 mmol/l, also etwa die Hälfte des Serumwerts. Der Liquorzucker sinkt bei akuten bakteriellen Infektionen stark ab, da er von vielen Erregern (und auch von manchen sehr stoffwechselaktiven Zellen) verbraucht wird. Bei Zuckerreduk-

IgG L · 103 IgS S

I= 10

5

4

3

2 5

1

1,8

5

7,4

10

15

20

Alb L A= · 103 Alb S . Abb. 4.2. Graphische Darstellung der Liquorproteinprofile. I Konzentrationsquotient für IgG (Liquor/Serum); A Konzentrationsquotient für Albumin (Liquor/Serum); 1 Normalbereich = 9; 2 Standardabweichungen; 2 Blut-Liquor-Schrankenstörung mit erhaltener Filterfunktion für große Serumproteine (z. B. bei Tumoren, nach Insulten); 3 Schrankenstörung mit gesteigerter Durchlässigkeit für große Serumproteine in den Liquor (z. B. intrazerebrale Blutung, SAB); 4 Schrankenstörung wie bei 2 mit zusätzlicher autochthoner IgG-Produktion (z. B. Enzephalitis, luische Vaskulitis); 5 isolierte autochthone IgG-Produktion ohne Schrankendefekt (z.B. MS). (Mod. nach Reiber 1980; aus Hacke 1986)

tion ist der Laktatwert erhöht. Der Laktatwert bleibt auch unter Behandlung, wenn sich der Liquorzucker schon normalisiert hat, länger erhöht. Spezialuntersuchungen des Liquors Oligoklonale Banden (OKB). Mit Hilfe der isoelektrischen Fokussierung werden oligoklonale Banden von IgG nachgewiesen (. Abb. 4.3). Sie werden bei vielen chronisch entzündlichen Krankheiten (chronische Meningitis oder Enzephalitis, Borreliose, Aids, Lues), autoimmunologischen Krankheiten (multiple Sklerose) und manchen Tumorkrankheiten gefunden. Mikrobiologische und molekularbiologische Untersuchungen.

Der Nachweis von Bakterien und die Untersuchung auf Pilze gelingt durch Färbung, Kultur, Komplementbindungsreaktionen und Neutralisationstests. Untersuchungen auf Antikörper gegen Viren mit dem Enzyme-linked-immunosorbent-Assay (ELISA) werden im Vergleich zu entsprechenden Antikörpertitern im Serum dargestellt (Auswertung analog zum Reiber-Schema: autochthone Produktion von virusspezifischen Antikörpern). Dies gilt auch für Seroreaktionen auf Borrelien und Treponema pallidum in Liquor und Serum. Für immer mehr Erreger lässt sich heute mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR, 7 Kap. 4.7) erregerspezifisches Genommaterial im Liquor nachweisen. Diese Untersuchung ist schon heute ein Routineverfahren bei tuberkulöser Meningitis, Herpesenzephalitis, Zytomega-

123 4.2 · Neurophysiologische Methoden

4.2 a

b

. Abb. 4.3. Oligoklonale Banden. a Oligoklonale Banden im Liquor und zusätzlich identische Banden im Serum (Bandenmuster Typ III), b Oligoklonale Banden ausschließlich im Liquor (Bandenmuster Typ II). Die Trennung der Liquor- (L) und Serumproteine (S) erfolgt mittels isoelektrischer Fokussierung auf einem modifizierten Agarosegel. Über eine Immunfixation mit Peroxidase markiertem Anti-IgG werden die oligoklonalen IgG-Banden visualisiert. (B. Storch-Hagenlocher, Heidelberg)

lieinfektion und einer Reihe anderer Viruskrankheiten (7 Kap. 18 und 19). Der HIV-Nachweis im Liquor mittels PCR bei bekannter HIV-Infektion hat dagegen keine diagnostische Bedeutung, da sich bei fast jeder HIV-Infektion HIV-Genom im Liquor nachweisen lässt, ohne dass gleichzeitig schon eine Infektion des ZNS erfolgt ist. Immunzytologische Untersuchungen. Unter besonderer Indika-

tion nimmt man immunzytologische Untersuchungen des Liquors vor. Qualitative Untersuchung des Liquorzellbildes, besonders auf Plasma- und eosinophile Zellen, Nachweis von Tumorzellen einschließlich Spezialfärbungen (7 Kap. 11), aktivierte Lymphozyten und Klassifikation von Lymphozytensubpopulationen gehören hierzu. Weitere Untersuchungen. Tumormarker wie das karzinoembry-

onale Antigen (CEA) oder das β2-Mikroglobulin, Entzündungsmarker (ACE-Konzentration bei M. Boeck) oder spezielle neuronale Enzyme (neuronenspezifische Enolase (NSE), Amyloid Beta 1–42 (Abeta 42), Tau-Protein und 14–3–3-Protein) als Marker des neuronalen Zelluntergangs können bei entsprechender Fragestellung im Liquor bestimmt werden.

Neurophysiologische Methoden

4.2.1 Elektromyographie (EMG) Die Elektromyographie ist die Untersuchung der elektrischen Aktivität in der Muskulatur. Die Indikation zum EMG wird bei folgenden Fragen gestellt: 4 Differenzierung von neurogener und myogener Muskelatrophie, 4 Differenzierung zwischen neurogener Parese, Inaktivitätsatrophie, mechanischer Behinderung (Gelenk, Sehnenriss), psychogener Lähmung und schmerzreflektorischer Ruhigstellung, 4 Suche nach Generalisierung von neurogenen Veränderungen, d.h. Beteiligung von klinisch unauffälligen Muskelgruppen und 4 Beurteilung von Ausmaß und Reinnervierung nach neurogener Läsion. 3Methodik

Bei der Elektromyographie (EMG) wird die Bioelektrik des Muskels gemessen. Der Muskel besteht aus motorischen Einheiten. Dies sind Muskelfasern, die von einem motorischen Nerven und seinem Axon innerviert werden (. Abb. 4.4). Wenn dieser motorische Nerv (Vorderhornzelle im Rückenmark) feuert, wandert ein Nervenaktionspotential zu der motorischen Endplatte und wird dort auf den Muskel mittels des Botenstoffs Acetylcholin übertragen. Hierdurch kommt es zu einer Permeabilitätsänderung der Na/K-Kanäle mit einer Depolarisation der Membran aller Muskelfasern, die von dem entsprechenden Axon innerviert werden. Die motorische Einheit kontrahiert sich. Die ausbreitende Depolarisation verursacht eine messbare Potentialschwankung, das so genannte Potential einer motorischen Einheit (PmE). Bei der Elektromyographie untersucht man den Muskel mit konzentrischen Nadelelektroden (Elektroden, deren differenter Pol, ein dünner Platindraht, in der Mitte, bis auf die Spitze isoliert ist; er ist umgeben von einer Stahlhülle als indifferentem Pol). Es werden die Potentialschwankungen abgeleitet, die durch die Aktivierung einer oder mehrerer motorischer Einheiten erzeugt werden. Die Potentialschwankungen, die man über die konzentrische Nadelelektrode ableitet, werden verstärkt und am Bildschirm sichtbar gemacht; gleichzeitig ist eine akustische Kontrolle über einen eingebauten Lautsprecher möglich. Eine Registrierungs- und Speichermöglichkeit (Band, Diskette und Schreiber) ist für die Dokumentation der Befunde unerlässlich. Eine Speicherfunktion des Bildschirms ist ebenfalls notwendig, da Form und Dauer von Potentialen nur am stehenden Bild mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden können. Oberflächenelektroden werden überwiegend in der Elektroneurographie eingesetzt, da sie keine exakte Aussage über die Einzelpotentiale ermöglichen. 4 Orientierende EMG-Untersuchung (Screening): Beim EMG wird eine Reihe von Muskeln, deren Auswahl sich nach der kli-

4

124

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

nischen Fragestellung richtet, mehrfach sondiert und nach folgenden Kriterien beurteilt: – Ruheaktivität (elektrische Stille oder pathologische Spontanaktivität), – maximale Willküraktivität (dicht oder gelichtet, bis zu Einzeloszillationen), – eindrucksmäßige Beschreibung der PmE bei geringer Willküraktivität.

4

Es müssen mindestens 3–5 Nadellagen pro Muskel (2–3 Einstiche und Verschieben der Nadel nach Einstich) abgeleitet werden. 4 Exakte Nadelmyographie: Bei bestimmten Fragestellungen wird die exakte Nadelmyographie mit Analyse der PmE durchgeführt. Hierbei werden pro Muskel mindestens 20 sicher reproduzierte und durch exakten Beginn und exaktes Ende definierte Potentiale gespeichert und nach den Kriterien Phasenzahl, Amplitude und Potentialdauer analysiert. Die Daten werden mit Normalwerten verglichen. Die im Folgenden gemachten Aussagen über Potentialformen bei bestimmten Krankheiten beziehen sich auf die exakte Nadelmyographie. Bei sehr stark ausgeprägtem Krankheitsbefund lassen sie sich jedoch auch bei der orientierenden Untersuchung erfassen. Dennoch sollte man es sich zur Regel machen, beim Screening mindestens bei 3 Nadellagen mehrere sichere polyphasische PmE dokumentiert zu haben, bevor man von vermehrter Polyphasie spricht und diesen Befund als Hinweis auf neurogene Veränderungen festlegt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Beurteilung eines durchlaufenden Potentials durch die Fragestellung beeinflusst wird. Inzwischen bieten verschiedene Hersteller rechnergestützte EMG-Systeme an, bei denen eine Potentialanalyse automatisch durchgeführt wird. Es ist zu hoffen, dass hierdurch die Gefahr der subjektiv gefärbten Interpretation der Potentiale motorischer Einheiten verringert wird. Die bisher erhältlichen Programme können aber die Untersuchung durch einen erfahrenen Auswerter noch nicht ersetzen. 4 Normales EMG: Bei völliger Entspannung finden im gesunden Muskel keine Potentialschwankungen statt, da keine Depolarisationen erfolgen. Lediglich beim Einstechen der Nadel kommt es zu 2–3 kurzen Entladungen, der so genannten Verletzungsaktivität (Einstichaktivität). Die Potentiale motorischer Einheiten haben 2–4 Phasen, sie werden mit einer normalen Entladungsfrequenz (2–4/s) rekrutiert. Zuerst erscheinen kleine Potentiale, bei zunehmender Kraftentwicklung treten mehr und größere Potentiale hinzu, die sich bei maximaler Innervation zu einem dichten Muster (Interferenzmuster; . Abb. 4.4) summieren. Endplattenrauschen ist, wie die normale Einstichaktivität, eine nichtpathologische Spontanaktivität, die vermutlich Folge der Verstärkung von Miniaturendplattenpotentialen ist und die bei Änderung der Nadellage verschwindet. 4 Pathologische Spontanaktivität: Fibrillationen und positive scharfe Wellen. Zur pathologischen Spontanaktivität gehören

die so genannten positiv scharfen Wellen (PSW) und Fibrillationspotentiale. Beide Wellen haben einen positiven Abgang (definitionsgemäß nach unten), sind meist klein (etwa 100 µV) und kurz (etwa 5 ms). Ihre ausgeprägt regelmäßige Entladungsfolge und ihre Form lassen sie von anderen Wellen (wie Endplattenspikes und Willkürpotentialen, s.u.) unterscheiden. Bei Denervierung tritt diese pathologische Spontanaktivität etwa 2–3 Wochen nach Durchtrennung des Nerven auf und nimmt über Monate zu, um dann über Jahre hinweg wieder abzunehmen. Bei Myopathien ist die Spontanaktivität seltener als bei Neuropathien und meist geringer ausgeprägt. Die exakte Pathophysiologie der Spontanaktivität ist bis heute nicht vollständig geklärt. Fibrillationspotentiale und PSW sind mit dem bloßen Auge nicht am Muskel zu sehen. Myotone Entladungen. Bei bestimmten Muskelerkrankungen (Na/K-Kanalkrankheiten, wie Myotonia dystrophica Curschmann Steinert) finden sich in Entspannung so genannte myotone Entladungsserien. Diese Entladungsserien bestehen meist aus Fibrillationspotentialen, die amplituden- und frequenzmoduliert sind. Diese Entladungsserien klingen wie ein aufheulendes Motorrad. Myotone Entladungsserien sind die einzige Spontanaktivität, die spezifisch für eine bestimmte Erkrankungsklasse (Myotonien) ist. Davon manchmal schwer abgrenzbar sind pseudomyotone Entladungsserien. Diese sind wesentlich frequenzstabiler (akustisch, Tonhöhe) und weisen meist auch eine gleich bleibende Amplitude (akustisch, Lautstärke) auf. Sie können aus komplexen Wellen zusammengesetzt sein (repetetiv, bizarr, discharges), mit einer inkompletten Kopplung dieser Wellenkomplexe, die wie ein stotternder Motor akustisch imponiert. Die Entladungsserien sind meist viel länger als die myotonen und enden oft abrupt. Die bizarren Serien sind beweisend für pseudomytone Entladungen in Abgrenzung zu den myotonen Entladungsserien. Pseudomytone Entladungsserien sind nicht spezifisch und treten vor allem bei chronisch neurogenen Schäden auf. Faszikulationen. Bei der chronischen Denervierung finden sich

häufig auch Faszikulationen. Das sind hochamplitudige PmE, die irregulär auftreten und klinisch als ein Zucken einzelner Muskelfasern mit dem bloßen Auge zu sehen sind. Faszikulationen finden sich jedoch in geringem Umfang auch beim Gesunden (z.B. nach intensiver sportlicher Betätigung). 4 Pathologische Potentiale motorischer Einheiten: Bei leichter Willkürinnervation kann man die PmE beurteilen. Hierbei wird vor allem die Potentialdauer und Anzahl der Phasen, wie auch die Amplitudengröße berücksichtigt. Normale PmE haben zwischen 2 und 4 Phasen und eine für den jeweiligen Muskel typische mittlere Potentialdauer. In jedem gesunden Muskel können jedoch einige Potentiale gefunden werden, die eine vom Mittelwert abweichende Potentialdauer haben und eine vermehrte Phasenzahl aufweisen (Polyphasie = mehr als 4 Phasen). Die Aussage über Potentialdauer und Phasenzahl ist also eine

125 4.2 · Neurophysiologische Methoden

. Abb. 4.4.a-c. Morphologische und elektromyographische Charakteristika des Normalmuskels bei Myopathie und neurogener Muskelatrophie. a Schematische Darstellung der Innervierung von Muskelfasern durch zwei motorische Einheiten, b schematische Darstellung des histologischen Befundes, c Elektromyogramm. I. Ruheaktivität. II. Potentiale und Einheiten; III. maximales Aktivitätsmuster. 1. Normalfall: Beide motorischen Einheiten sind intakt und versorgen ihre zugeordneten Muskelfasern. Histologisch normale polygonale Muskelquerschnitte von gleichem Kaliber. Im EMG keine Spontanentladung, bi- bis triphasische Potentiale motorischer Einheiten und dichtes, interferentes Aktivitätsmuster bei maximaler Willkürinnervation. 2. Myopathie: In beiden Einheiten sind einzelne Muskelfasern ausgefallen. Histologisch: numerische Atrophie mit Kalibervariation, Abrundung des Querschnitts, zentrale Kerne und Spaltbildung. EMG: i. allg. keine Spontanaktivität, diese kann

aber bei Myositis oder schnell verlaufender Muskeldystrophie vorkommen. Die Potentiale motorischer Einheiten sind niedrig, polyphasisch und im Vergleich zur Norm verkürzt. Das Aktivitätsmuster wird früh dicht bei nur mäßiger Kraftentfaltung. Die Amplitude ist niedrig. 3. Neurogene Muskelatrophie: Eine motorische Einheit ist ganz ausgefallen. Eine dieser Fasern ist von dem gesunden Neuron kollateral innerviert (Pfeil). Histologisch feldförmig gruppierte Atrophie einzelner Muskelfasern bei normaler Histologie der verbleibenden Muskelfasern. Vermehrung randständiger Kerne. EMG: pathologische Spontanaktivität in Form von positiven scharfen Wellen und Fibrillationen. Die Potentiale motorischer Einheiten sind polyphasisch, amplitudenerhöht und verlängert. Im Aktivitätsmuster werden große Potentiale mit hoher Frequenz rekrutiert, das Aktivitätsmuster ist von hoher Amplitude, aber gelichtet. (M. Krause, Heidelberg)

4

126

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Facharzt

Polyphasie und Potentialdauer

4

Bei Myopathien sterben einzelne Muskelfasern ab. Da die Anzahl der Neurone gleich bleibt, gehören zu jeder mE weniger Muskelfasern. Folglich werden die Potentiale einer mE kleiner (7 Abb. 4.4b). Die Myopathie führt meist zu Veränderung der Muskelmembran mit unterschiedlicher Erregbarkeit. Dies bedingt die unterschiedliche Ausbreitung einer Depolarisation in den Muskelzellen, was zu einer Zunahme der Phasenzahl führt. Da die Fasern pro mE verringert sind, ist die Potentialdauer meist normal oder verkürzt.

Da das Nervenaktionspotential zu diesen Fasern eine weitere Laufstrecke hat als zu den Fasern, die vorher zu der mE gehörten, ist die Potentialdauer verlängert. Teilweise treten kleine Satellitenpotentiale auf (Pfeil in . Abb. 4.4c), die von fern gelegenen motorischen Fasern herrühren. Auch nimmt die Amplitude der PmE zu, da zu der mE jetzt mehr Muskelfasern gehören als vor dem Sprouting. Da die größer gewordene überlebende mE die neuen motorischen Fasern nicht ganz zeitgleich innerviert, wie die bisher zu der mE gehörenden, nimmt die Phasenzahl der Welle zu.

statistische Aussage und exakt nur mit Hilfe einer genauen Potentialanalyse möglich, mit der auch die Normalwerte gewonnen wurden. Für die Praxis bedeutet dies, dass einige wenige polyphasische Potentiale auch ohne krankhafte Bedeutung in jedem normalen Muskel gefunden werden können. Bei der PmE-Analyse nach Buchthal wird die Potentialdauer und Phasenzahl an mindesten 20 verschiedenen PmE statistisch ausgewertet und mit alterskorrelierten Normwerten verglichen. Da ein Muskel nicht gleichmäßig erkrankt, sondern meist nur einzelne Muskelfasern betroffen sind (. Abb. 4.4), ist es notwendig, den Muskel mit der Nadel an vielen verschiedenen Stellen zu sondieren. Wenn ein motorisches Axon oder die entsprechende motorische Vorderhornzelle geschädigt ist, sind die dazugehörigen Muskelfasern nicht mehr innerviert. Die verbleibenden Axone anderer Vorderhornzellen sprossen zu den nicht mehr innervierten Muskelfasern aus und binden diese teilweise an ihre Innervation an (Sprouting, . Abb. 4.4c). 4 Neurogene oder myopathische Läsion: Für die in der Klinik wichtige Differenzierung von neurogenen und myogenen Veränderungen kann man folgende Kriterien nennen (. Tabelle 4.1): Bei neurogenen Schädigungen gehen ganze motorische Einheiten zugrunde. Hieraus resultiert eine Lichtung des Aktivitätsmusters. Die denervierten Muskelfasern reagieren überempfindlich auf Acetylcholin und zeigen spontane Entladungen (Fibrillationen, positive scharfe Wellen). Von erhalten gebliebenen PmE sprossen terminale Neuronenverzweigungen aus und koppeln denervierte Muskelfasern an noch intakte PmE an. Hieraus resultiert eine Vergrößerung des Territoriums und der Amplitude

der verbliebenen motorischen Einheit, eine Verlängerung der Potentialdauer und eine Desynchronisierung der Potentialanteile (Polyphasie). Das Aktivitätsmuster ist entsprechend dem Ausfall von motorischen Einheiten gelichtet. Bei einer Erkrankung der Muskulatur gehen dagegen Muskelfasern diffus, ohne Bindung an motorische Einheiten zugrunde. Die Territorien und die Zahl der zu einer PmE gehörenden Muskelfasern werden kleiner. Die Amplituden der PmE werden deshalb niedrig und kürzer, können desynchronisieren und daher polyphasisch werden. Die Zahl der motorischen Einheiten bleibt jedoch lange konstant. Infolgedessen bleiben die maximalen Aktivitätsmuster dicht, sie werden sogar früher dicht als es der Kraftentwicklung entspricht (vorzeitig dichtes Interferenzmuster). Fibrillationspotentiale können auftreten. Ihre Anwesenheit spricht nicht gegen eine Myopathie. Trotz dieser anschaulichen Regeln (. Tabelle 4.1) kann im Einzelfall die Differenzierung zwischen neurogen und myopathisch sehr schwierig sein. In . Abbildung 4.4c sind exemplarisch die Potentiale motorischer Einheiten aus einem normalen Muskel, einem durch Myositis veränderten Muskel und aus einem Muskel mit neurogener Läsion dargestellt. Als Faustregel kann man sich merken, 4 dass bei chronischen neurogenen Läsionen die Potentiale polyphasisch, vergrößert und verlängert sind, 4 während bei primären Muskelkrankheiten die Potentiale verkürzt, erniedrigt und polyphasisch werden.

. Tabelle 4.1. Myopathie vs. Neuropathie

Art der Schädigung

Spontanaktiviät

PmE

Interferenzmuster

Neurogene

Fibrillationen, PSWs, pseudomytone ES

verlängerte Potentialdauer, polyphasisch, großamplitudig

gelichtet, großamplitudig

Myogen

spärlich Fibrillationen, PSWs, Sonderform: myotone ES

kurz bis normale Potentialdauer, polyphasisch, kleinamplitudig

»früh dicht«, kleinamplitudig

127 4.2 · Neurophysiologische Methoden

Exkurs EMG bei zentralnervösen Störungen Hierunter wird die Anwendung des EMG bei der Untersuchung zentraler Bewegungsstörungen verstanden. Mit meist mehrkanaligen Ableitungen mit Oberflächenelektroden wird die Muskelaktivität von Muskelgruppen abgeleitet, in denen pathologische Bewegungen zu erkennen sind. Myoklonien, Dystonien und verschiedene Tremorformen können hiermit charakterisiert werden. Über die wissenschaftliche Bedeutung hinaus ist das EMG hilfreich bei der Auswahl von besonders betroffenen

Exkurs Nervenleitgeschwindigkeit Nach einem überschwelligen Reiz wird in Nervenfasern ein fortgeleitetes Aktionspotential ausgelöst. Dieses Potential wird vom Reizort aus nach beiden Seiten weitergeleitet: orthodrom, d.h. in Richtung der physiologischen Leitung des betreffenden Nerven, und antidrom, d.h. entgegengesetzt. Bei markhaltigen

Muskeln für die Injektion von Botulinumtoxin in der Behandlung der Dystonien (7 Kap. 23.4), in der Klassifikation von Tremorformen und bei der Untersuchung psychogener Bewegungsstörungen. Bei Myoklonien kann mit gemeinsamer Analyse von EMG und EEG unter Verwendung bestimmter elektronischer Mittelungsverfahren (back-averaging) auf die kortikale oder subkortikale Entstehung der Myoklonien rückgeschlossen werden.

Nervenfasern erfolgt die Erregungsleitung saltatorisch. Je dicker die Markscheidenumhüllung ist und je größer der Internodienabstand (Abstand zwischen zwei Ranvier-Schnürringen), desto schneller ist die NLG. Bei den üblichen Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit bestimmt man die NLG der schnellsten Fasern des stimulierten Nerven.

Amplitude der PmE: Potentiale bei neurogenen Läsionen sind in der Regel von höherer Amplitude als bei muskeleigenen Krankheiten. Bei manchen chronischen Vorderhornzellkrankheiten kommt es zu sehr hochamplitudigen PmE (Riesenpotentiale).

für Myopathien spricht und bei zu hohen Werten für neurogene Prozesse.

Pathologisches Aktivitätsmuster bei maximaler Willküraktivität Im gesunden Muskel werden bei maximaler Willküraktivität so viele PmE rekrutiert, dass eine Grundlinie auf dem Oszillographen nicht mehr zu erkennen ist (dichtes Interferenzmuster). Bei peripheren Nervenkrankheiten kommt es zum Ausfall einzelner motorischer Einheiten und zu Lücken im Aktivitätsmuster (gelichtetes Aktivitätsmuster). Diese Lichtung kann bis auf nur noch ganz wenige erhaltene, hochamplitudige PmE fortschreiten. Gleichzeitig steigt aber die Entladungsfrequenz der verbleibenden motorischen Einheiten stark an: Die Folge ist ein Muster mit hochfrequenter Rekrutierung nur einzelner PmE bei kräftiger Innervation (hochfrequente Einzeloszillationen). Bei kompletter Nervenläsion ist keine Willküraktivität mehr möglich. Die Lichtung des Aktivitätsmusters ist sofort nach der Schädigung zu finden. Bei Muskelkrankheiten findet man dagegen eine sehr frühe kompensatorische Aktivierung aller erhaltenen motorischen Einheiten bei geringer Kraft (vorzeitige Rekrutierung). Das Muster kann daher früh dicht werden, die Amplitude der PmE ist jedoch verhältnismäßig niedrig. Beispiele für die Änderungen der Aktivitätsmuster finden sich ebenfalls in . Abb. 4.4. Die Willison-Analyse untersucht das Verhältnis von Amplitude/Umkehrpunkt pro Umkehrpunkt/Zeit und erfasst damit bei kräftiger Innervation die Größe der PmE im Verhältnis zur Dichtigkeit des Interferenzmusters, das bei zu niedrigen Werten

Elektroneurographie ist die Messung der maximalen motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit.

4.2.2 Elektroneurographie (ENG)

3Prinzip. Die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit

(NLG, gemessen in m/s) erfolgt mit dem gleichen Gerät, das auch zum EMG eingesetzt wird. Die NLGs sind für verschiedene sensible und motorische Nerven, sogar für einzelne Abschnitte des gleichen Nerven, sehr unterschiedlich und darüber hinaus altersabhängig, so dass ihre Beurteilung nur mit Hilfe von Normalwerttabellen möglich ist. Die Benutzung von Normalwerttabellen setzt eine konsequente Vereinheitlichung der Untersuchungsbedingungen voraus. Die NLGs sind sehr temperaturabhängig (1–2 m/s pro °C). Krankhafte Veränderungen der Markscheiden beeinflussen die NLG besonders stark, und zwar stets in Richtung einer Verlangsamung. Wenn die Markscheiden der am schnellsten leitenden Fasern betroffen sind, kann die NLG-Verzögerung extrem sein. Primär axonale Schädigungen dagegen haben oft zunächst keine oder nur eine geringe Änderung der NLG zur Folge. Die Amplitude des abgeleiteten Potentials wird jedoch sehr niedrig. 3Methoden

4 Motorische Nervenleitgeschwindigkeit: Bei der Messung der motorischen NLG wird ein Nerv an mehreren Stellen supramaximal stimuliert, und die motorische Antwort wird in einem

4

. Abb. 4.5.a,b. Messung der motorischen (a) und sensiblen (b) Erregungsleitungsgeschwindigkeit am N. ulnaris. S1–3 Stimulationsorte; a1, a2 Ableitungsorte. Die Kurvenausschnitte zeigen jeweils den Reizeinbruch und die mit unterschiedlicher Latenz einsetzende Reizantwort. n normales sensibel orthodromes Potential; p pathologisches sensibel orthodromes Potential bei distaler Ulnarisläsion. (Nach Mumenthaler u. Schliack 1965)

n

p

S3 16,5 cm

5 µV 2 ms

a2

S2

25 cm

a1

S1

10 cm

4

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

26 cm

128

A EMG

10 mV

Ssens.

10 ms

vmot. = 56 m / s

vsens. = 56 m / s

a

b

distalen Muskel mit Oberflächenelektroden (selten mit Nadelelektroden) abgeleitet (. Abb. 4.5). Die Differenz der Latenzzeiten vom Reiz bis zur muskulären Antwort (Aktionspotential) wird in Relation zur Entfernung zwischen den Reizstellen gesetzt. In manchen Fällen kommt auch der distalen Latenz (Überleitungszeit vom distalen Stimulationsort zum Muskel, dL) diagnostische Bedeutung zu. Auch hierfür gibt es Normalwerte. Form und Amplitude des Muskelantwortpotentials werden ebenfalls beurteilt, da bei leichten axonalen Läsionen die maximalen Leitgeschwindigkeiten normal bleiben können. Eine Verbreiterung des Muskelaktionspotentials kann auf eine erhöhte Dispersion der NLGs im Faserspektrum hinweisen. 4 Stimulationselektromyographie (Überprüfung der Funktion der motorischen Endplatte): Bei Störungen der Übertragungsfunktion der motorischen Endplatte wird eine Modifikation der motorischen NLG-Bestimmung, die Frequenzbelastung der motorischen Endplatte, ausgeführt.Hierbei wird der motorische Nerv frequent (3–20 Hz) supramaximal gereizt und die Amplitude des Muskelaktionspotentials fortlaufend registriert. Bei einer Myasthenie (7 Kap. 34) oder einem paraneoplastischen myasthenen Syndrom (7 Kap. 13, dort auch Abbildung) findet man typische Veränderungen in den Amplituden der Muskelantwortpotentiale. 4 Sensibel-antidrome Nervenleitgeschwindigkeit: Bei der Messung der sensibel-antidromen NLG wird die antidrome Erregungsausbreitung in sensiblen Nerven ausgenutzt. Man reizt einen Nerven und leitet distal von Fingern oder Zehen mit Ringelektroden das sensible Potential der Digitalnerven ab. Da keine

synaptische Übertragung zwischengeschaltet ist, kann man bereits aus einem Messwert (dL) und der Distanz die sensibel-antidrome NLG berechnen (Geschwindigkeit = Weg/Zeit). Die sensibel-antidrome Technik ist eine gute Screening-Methode, die ohne großen Aufwand vorgenommen werden kann. 4 Sensibel-orthodrome Nervenleitgeschwindigkeit: Die Messung der sensibel-orthodromen NLG ist aufwendiger, führt jedoch zu Ergebnissen von besserer Aussagekraft. Gereizt wird in diesem Fall distal über den sensiblen Nerven, z.B. eines Fingers. Die Ableitung des sensiblen Nervenantwortpotentials (SNAP) erfolgt in der Regel mit unipolaren Nadelelektroden transkutan in der Nähe des Nervenstamms. Der Einsatz der orthodromen Technik ist besonders bei Polyneuropathien und Engpasssyndromen von Interesse. 3Klinische Anwendung. Mit Hilfe der Neurographie lassen

sich die verschiedenen Störungen der Nervenleitung (motorisch und/oder sensibel) objektivieren und lokalisieren. So führen Läsionen der Markscheiden (lokal oder generalisiert) zur Verminderung der NLG, während axonale Läsionen, solange sie inkomplett sind, nur geringe NLG-Veränderungen hervorrufen, jedoch die Amplituden der Muskel- und Nervenantwortpotentiale verändern.

4

129 4.2 · Neurophysiologische Methoden

4.2.3 Reflexuntersuchungen Orbicularis-oculi-Reflex (Blinkreflex) Unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die schon eine einfache EMG-Einheit bietet, lässt sich der elektrisch ausgelöste »Augenschlussreflex« registrieren und messen. 3Prinzip. Ableitung im Zweikanalbetrieb mit Oberflächenelektroden von beiden Mm. orbiculares oculi, elektrische Reizung am Foramen supraorbitale. Als Antwort registriert man eine ipsilaterale, synchronisierte, frühe Reflexkomponente (R1), die oligosynaptisch ist und eine bilaterale, desynchronisierte, späte, polysynaptische Komponente (R2, R2’; . Abb. 4.6). 3Anwendung. Der Blinkreflex hat seinen Platz in der Diagnostik von Läsionen des N. facialis, bei Hirnstammläsionen, im Koma und bei der elektrophysiologischen Diagnostik der multiplen Sklerose.

Masseterreflex und Kieferöffnungsreflex 3Prinzip. Der Masseterreflex wird mit Nadel- oder Oberflächenelektroden abgeleitet. Die Reflexauslösung erfolgt so wie bei der klinischen Untersuchung. Eine elektronische Schaltung ermöglicht es, dass die Reflexauslösung durch den Hammer die Dokumentation auf dem Bildschirm auslöst.

. Abb. 4.6. Elektrisch ausgelöster Orbicularisoculi-Reflex. Oben links ist die schematische Untersuchungsanordnung des Blinkreflexes, oben rechts eine Darstellung des Reflexbogens und unten die bilaterale Ableitung des Blinkreflexes bei Reiz auf der rechten Seite wiedergegeben. t.s.N.V. tractus spinalis N. trigemini; f.r. formatio reticularis. Die R2’Komponente wird durch die kreuzenden Bahnen vermittelt. (Mod. nach Stöhr 1980 u. Hacke 1983)

Der Kieferöffnungsreflex, ein Schutzreflex, der klinisch durch Unterbrechung der Muskelaktivität in der Kaumuskulatur nach sensibler Reizung der Zunge, der Lippen oder Wangenschleimhaut charakterisiert ist, wird nach sensibler Stimulation des Lippenrots bei gleichzeitiger Ableitung der Muskelaktivität der willkürlich aktivierten Masseteren untersucht. Die Reflexantwort ist das Sistieren der Aktivität in den Muskeln (→ Kieferöffnung). 3Anwendung. Der Masseterreflex ist als ergänzende Untersuchung bei der Frage nach peripheren oder zentralen Trigeminusläsionen von Bedeutung. Der Kieferöffnungsreflex wird bei Verdacht auf Hirnstammläsionen untersucht. Beim Tetanus ist dieser Reflex aufgehoben.

H-Reflex und F-Welle 3Prinzip. Der H-Reflex (Hoffmann-Reflex) ist ein elektrisch ausgelöster Eigenreflex. Das heißt, die Afferenz läuft orthodrom über die Ia-Afferenzen über die Hinterwurzeln zum Rückenmark, die Efferenz über Vorderwurzeln und motorische Fasern zum Muskel. Der H-Reflex ist beim Erwachsenen ohne Vorspannung am leichtesten von der Wadenmuskulatur auszulösen. Er entspricht daher dem klinisch geprüften Achillessehnenreflex. Er wird durch relativ geringe Reizstärken ausgelöst, die zu schwach sind, um über direkte, efferente Reizung der motorischen Fasern schon eine Muskelantwort auszulösen.

200 µV

STIM

20 ms V

V

VII

VII

t. s. N.V.

f. r. M. orbicularis oculi rechts R1

M. orbicularis oculi links

R2

R 2'

Reiz rechts

Reiz links

200 µV

R 2' 20 ms

R1

R2

130

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Facharzt

Weitere Reflexuntersuchungen

4

Long-loop-Reflex (LLR). Mechanisch gesteuerte, abrupte Bewegungen der Finger oder die elektrische Reizung sensibler oder gemischter Nerven am Arm führen zu einer in den Handmuskeln registrierbaren transkortikal verschalteten Reflexantwort. Diese Reflexantwort ist erst durch Mittelwertbildung (Summierung) gleichgerichteter Signale sicher registrierbar. Darüber hinaus muss der Handmuskel, über dem abgeleitet wird, gering angespannt werden. Bei vollständiger Entspannung ist die Reflexantwort nicht zu erhalten. Dieser LLR (so genannt wegen der supraspinalen Verschaltung) ist verändert bei Läsionen der sensiblen Afferenz, des motorischen Cortex und der Pyramidenbahn. Wegen dieses langen Reflexbogens werden bei einer multiplen Sklerose häufig pathologische Veränderungen gefunden. Darüber hinaus wurden typische Veränderungen bei Erkrankungen des extrapyramidal-motorischen Systems beschrieben. Sehr früh im Krankheitsverlauf einer Chorea fällt der Reflex aus. Bulbocavernosusreflex und Analreflex. Nach elektrischer Stimulation des N. pudendus am Penisschaft wird mit EMGNadelelektroden im M. bulbo-cavernosus beidseitig eine Reflexantwort registriert. Diese zeigt eine frühe und eine späte Komponente. Die Latenz der ersten Komponente wird herangezogen als Maß für eine intakte Leitung im spinalen Reflexbogen. Pathologische Veränderungen können bei peripheren, spinalen und weiter zentralen Läsionen gefunden werden. Die Untersuchung kann dazu beitragen, somatisch verursachte erektile Dysfunktionen von psychogen verursachten Störungen zu trennen. Überschwellige elektrische Stimulation der pudendusversorgten Regionen bei Mann und Frau führen zur reflektorischen Anspannung des M. sphincter ani externus, die mit Oberflächen- und Nadelelektroden abgeleitet werden kann. Diese objektive Untersuchung des Analreflexes ist von Bedeutung bei der Analyse von Sphinkterfunktionsstörungen.

Im Gegensatz dazu ist bei der Untersuchung der F-Wellen eine überschwellige Reizung erforderlich. Die F-Welle wird nicht über die Hinterwurzel, sondern durch antidrome Leitung der motorischen Fasern über die Vorderwurzel zum Rückenmark ausgelöst. Es kommt zu einer Art Ping-Pong-Effekt an der motorischen Vorderhornzelle, die sich nach dem antidromen Stimulus efferent entlädt. Die Latenz der F-Welle ist, verglichen mit dem H-Reflex, geringfügig länger. Die F-Welle lässt sich jedoch konstant von verschiedenen Bein- und Hand-(Arm-)Muskeln ableiten. 3Anwendung. Beide Methoden haben praktische Bedeutung

bei der Diagnose von entzündlichen, proximalen Nervenläsio-

Urodynamographie. Dies ist eine kombinierte klinisch-apparative Diagnostik, bei der verschiedene Aspekte der Harnentleerung simultan registriert und ausgewertet werden. Blasenentleerungsdruck, Flussdynamik, Sphinkterdruck und Elektromyogramm der Beckenboden- und Blasenmuskulatur werden untersucht. Oft werden auch noch der Bulbocavernosusreflex, der Sphinkter-ani-Reflex oder pudendusevozierte Potentiale untersucht. Wie die exakte Diagnostik der erektilen Impotenz, werden diese Untersuchungen meist in spezialisierten urodynamischen Labors an urologischen Kliniken durchgeführt. Der Neurologe wird aber häufig um seinen Beitrag zur Frage einer zentralen Mitbeteiligung bei einer solchen Störung gebeten. Reflexpolygraphie. Hierbei werden Mehrkanalableitungen von Körperstammmuskeln nach elektrischer, sensibler Reizung und bei Spontanbewegungen untersucht. Die Methode ist von Interesse bei seltenen Krankheiten reflektorischer spinaler oder zerebraler Übererregbarkeit und wird nur in speziellen Zentren durchgeführt. Galvanischer Hautreflex. Dieser Reflex ist vielen als Teil der Lügendetektormethodik bekannt. Er beruht darauf, dass eine emotional bedingte (→ limbisches System), unbewusste, leichte Vermehrung der Schweißsekretion zu einer Veränderung des elektrischen Hautwiderstands führt (mehr Feuchtigkeit = geringerer Widerstand), der mit einer einfachen Versuchsanordnung gemessen werden kann. Auch nach Schmerzreizen kommt es mit Latenz von wenigen Sekunden zu einer nicht nur auf die gereizte Extremität beschränkten Änderung des Hautwiderstands. Neurologisch wird das Verfahren auch nach pharmakologischer Provokation der Schweißsekretion eingesetzt und kann für den Nachweis peripherer Nervenläsionen herangezogen werden.

nen, bei denen der H-Reflex ausfällt und die F-Wellen rarefiziert und zeitlich dispers werden. Ihre Bedeutung für die Diagnostik mechanischer Nervenwurzelschäden durch Bandscheibenvorfälle oder Tumoren ist gering, zumal die meisten F-Wellen über mehrere Wurzeln vermittelt werden. 4.2.4 Transkranielle Magnetstimulation (TKMS) Mit dieser Methode kann schmerzlos die Leitfähigkeit im Tractus corticospinalis und im peripheren Nerven sowie in bestimmten motorischen Hirnnerven gemessen werden.

4

131 4.2 · Neurophysiologische Methoden

3Methodik. Eine zirkuläre Stimulatorspule wird über dem Stimulationsort auf dem Kopf platziert (. Abb. 4.7). Der Ort wird für Messungen in der Pyramidenbahn für Arm und Hand über dem Vertex, für Bein und Fuß einige Zentimeter davor gewählt. Durch einen ultrakurzen Stromstoß von mehreren tausend Volt wird ein zur Spule senkrecht stehendes Magnetfeld von bis zu 2 Tesla erzeugt. Dieses induziert wiederum einen Stromfluss im Gewebe, der entgegengesetzt zur Flussrichtung des Stroms in der Spule ausgerichtet ist. Man kann auch durch Positionierung der Spule über der Wirbelsäule die motorischen Nervenwurzeln erregen und damit die periphere Leitzeit bestimmen. Gemessen werden Latenz und Amplitude von EMG-Antwortpotentialen in Arm- oder Beinmuskeln. Diese Daten werden mit Normwerten verglichen. Die zentrale motorische Leitzeit ermittelt man durch Subtraktion der peripheren von der Gesamtleitzeit. Vorinnervation eines Muskels verkürzt die Latenz und erhöht die Amplitude des Antwortpotentials.

thode hat hier einen gleich hohen diagnostischen Wert wie die Registrierung der VEP (7 Kap. 4.2.5). Bei der amyotrophischen Lateralsklerose lässt sich frühzeitig eine Pyramidenbahnschädigung nachweisen. Psychogene Lähmungen können dann identifiziert werden, wenn sie massiv und die Werte bei der Magnetstimulation normal sind. Auch die Willkürinnervation des Sphincter ani externus kann mit dieser Methode überprüft werden. Bei der peripheren Nervenleitung ist die konventionelle elektrische Stimulation der magnetischen Stimulation derzeit noch überlegen, da sie fokaler reizt. Lediglich an Orten, an denen der Nerv sehr tief liegt und der elektrischen Stimulation schwer zugänglich ist, kommt die TKMS zur Anwendung (z.B. Plexus brachialis, N. ischiadicus im proximalen Abschnitt).

3Anwendung. Bei der multiplen Sklerose kann die zentrale motorische Leitzeit oft verzögert sein und die Amplitude des Antwortpotentials vermindert, selbst wenn noch keine bei der neurologischen Untersuchung fassbare Lähmung besteht. Die Me-

3Prinzip. Die Veränderungen der elektroenzephalographischen (EEG-)Kurve, die als Reaktion auf wiederholte sensible und sensorische Reize entstehen, werden durch elektronische Mittelung (averaging) aus dem zufällig verteilten EEG-Grundsignal

4.2.5 Evozierte Potentiale (EP)

. Abb. 4.7a,b. Transkranielle Magnetstimulation. Stimulationsspule über dem Vertex. a Position der Stimulationssonde über dem Vertex, b Ableitung der Potentiale nach transkranieller magnetischer Stimulation. Oben kortikal-motorische Latenz bei Reizung über dem Kortex und Ableitung am Hypothenar; unten periphere motorische Latenz bei Reizung über Wirbel C7). Rechnerisch ergibt sich aus der Differenz der beiden Latenzen die zentral-motorische Latenz

a

M. abd. digiti minimi Kortikal motorische Latenz Zentral motorische Latenz M. abd. digiti minimi

1 mV

Peripher motorische Latenz b

10 ms / div

132

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

1s

µVLT / div 5,00

4

∆ P100 – N

2,000 N

Averager P100

P100

+

a a

b b

ms / div 50,000

. Abb. 4.8. a Registrierung der visuellen Reaktionspotentiale nach Stimulation mit Schachbrettmuster. Durch elektronische Mittelung einer Anzahl einzelner EEG-Abschnitte (links) wird die reizabhängige Spannungsänderung im EEG herausgehoben (rechts) (Aus Vogel 1981),

b Visuell evozierte Potentiale (TV-Stimulation) im Seitenvergleich. Untere Zeilen 2 reproduzierte Einzeldurchgänge; obere Zeilen summiertes Potential. (Aus Hacke 1986)

herausgehoben (. Abb. 4.8). Die Ableitung erfolgt mit Oberflächenelektroden von der Kopfhaut, wobei die differente Elektrode über dem jeweiligen Projektionsgebiet (okzipital bei VEP, kontralateral-parietal bei SEP) platziert wird. Aus dem Spektrum der möglichen Reaktionspotentiale haben die evozierten Potentiale 4 nach visueller Stimulation (VEP), 4 nach somatosensibler Stimulation peripherer Nerven (SEP) und 4 die frühen Potentialveränderungen nach akustischer Stimulation (BAEP)

Visuell evozierte Potentiale (VEP) 3Methodik. Als Reiz werden Lichtblitze und Schachbrettmuster mit Kontrastumkehr verwendet. Der entscheidende diagnostische Parameter ist die Latenz einer sehr deutlichen positiven Auslenkung nach 100 ms (P100). Bei Gesunden lässt sich diese Welle oft schon nach wenigen Durchgängen identifizieren. In der Regel reichen 64 bis 128 Durchgänge aus, um ein Potential darzustellen. Für die Dokumentation wird aber gefordert, dass das Potential mindestens einmal in gleicher Qualität reproduziert wird (. Abb. 4.8). Die VEPs können auch gesichtsfeldabhängig und mit unterschiedlichen Mustergrößen bei nicht kooperationsfähigen Patienten zur annähernden Bestimmung der Sehschärfe eingesetzt werden.

einen festen Platz in der neurophysiologischen Diagnostik gewonnen. Weitere Analysen von mehr wissenschaftlichem Interesse beziehen sich auf die Analyse ereigniskorrelierter Potentiale, die sich im EEG nach zum Teil komplexer Stimulation finden (vgl. funktionelles MRT, 7 Kap. 4.3.3, MEG, 7 Kap. 4.2.7 und PET, 7 Kap. 4.3.4). Hierzu gehört auch die Untersuchung des Bereitschaftspotentials, einer Welle langsamer Hirnaktivität, die Willkürbewegungen vorausgeht. Die Potentiale werden durch Form, Amplitude und vor allem Latenz der prägnanten positiven und negativen Potentialanteile charakterisiert, die nach Polarität (P oder N) und mittlerer Latenz (in ms) in einem Normalkollektiv bezeichnet werden. Für die frühen akustischen Potentiale gilt eine andere Nomenklatur.

3Anwendung. Ihre überragende Bedeutung haben die VEPs in der Diagnostik der multiplen Sklerose (MS). Sie finden auch Interesse in der Diagnostik vaskulärer und degenerativer Läsionen der Sehnerven und der Sehbahnen.

Somatosensibel evozierte Potentiale (SEP) 3Methodik. In der klinischen Diagnostik werden die SEPs durch Rechteckstromstöße auf Nervenstämme und durch Mittelung von 64 bis 128 Durchgängen bei Ableitung über dem kontralateralen sensiblen Projektionsgebiet registriert. Sie können auch über dem Nervenplexus und über der Wirbelsäule abgeleitet

4

133 4.2 · Neurophysiologische Methoden

. Abb. 4.9. Somatosensibel evozierte Potentiale nach Stimulation des N. medianus. Ableitungen über dem zum Reiz kontralateralen Handfeld (CP3/4) mit einer Referenz bei Fz, vom Vertex (Cz) zur reizkontralateralen Schulter (SH), von HWK 7 (C7 zum Vertex bzw. zum vorderen Hals (Jug Fossa jugularis) und vom Erb-Punkt (Fossa supraclavicularis) zum Vertex. Anatomische Zeichnung: 1 Gyrus postcentralis; 2 Thalamus, Nucl. ventralis posterolateralis; 3 Lemniscus medialis; 4 Nucl. cuneatus; 5 Fasciculus cuneatus; 6 Radix dorsalis nervi spinalis; 7 Ganglion spinale; 8 spinale Interneurone. (H. Buchner, Aachen)

Referenz

FZ µV / div 1,27

N20

1

C P3/4

N20 / P25 P14 P25

SH

CZ

P11 P9 2 N14 N13 N11

CZ

C7

JUG

C7

3

P14 N14

4 N9

P9 / N9

CZ

7

6 P11 N11 5

ERB N13 8

µV / div 0,62

5 ms / div

werden. Die ersten positiven und negativen Grundlinienschwankungen werden gemessen (. Abb. 4.9). Aussagen sind über den Vergleich mit Normalwerten der Latenzen und im Seitenvergleich möglich. Verschiedene Elektrodenmontagen ermöglichen die Analyse einzelner Subkomponenten. Trigeminus-SEPs lassen sich vom 2. und 3. Trigeminusast auslösen. Sie sollten, wie auch die anderen SEPs, immer nur im Seitenvergleich beurteilt werden. 3Anwendung. Bei MS-Diagnostik, bei unklaren Sensibilitätsstörungen, bei Verdacht auf psychogene Gefühlsstörungen und zur intraoperativen Überwachung der Funktion des sensiblen Systems, z.B. bei Operationen am Rückenmark oder an der A. carotis, findet die SEP-Ableitung ihre Anwendung.

Frühe akustische Hirnstammpotentiale (FAHP) Synonyme: brainstem acustic evoked potential (BAEP); brainstemevoked response audiometry (BERA). 3Methodik. Für die neurologischen Untersuchungen wird

durch Klicklaute (alternierender Sog und Druck) ein Ohr überschwellig gereizt, das andere wird durch Rauschen vertäubt. Über

Elektroden (Mastoid, Vertex) werden Änderungen des elektrischen Feldes im Frequenzspektrum von z.B. 100–3000 Hz registriert. Es müssen bei Normalhörenden zwischen 1000 und 2000 Reizerfolge gemittelt werden. Man erhält ein relativ charakteristisches Kurvenbild mit 5 nachweisbaren Wellen in den ersten 5–6 ms nach Reizbeginn, die den Hirnstammstationen der zentralen Hörbahn entsprechen und mit den römischen Ziffern I–V belegt werden (. Abb. 4.10). Neben den Latenzen der einzelnen Spitzen ist auch der Abstand zwischen Welle III und V als Hirnstammlaufzeit von diagnostischem Interesse. 3Anwendung. Einsatz findet die Untersuchung in der Diagnostik vieler entzündlicher, vaskulärer, traumatischer und neoplastischer Hirnstammläsionen, bei der Überwachung von Operationen in der hinteren Schädelgrube und, mit modifizierter Methodik, bei der objektiven Audiometrie. Mittelschnelle und späte »kognitive«, akustisch evozierte Potentiale haben bisher keine klinische Bedeutung.

Olfaktorisch evozierte Potentiale Sie sind nur in Ausnahmefällen (Begutachtung) von Interesse und als Untersuchung nicht weit verbreitet.

134

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

4.2.6 Elektroenzephalographie (EEG) Elektroenzephalographie ist die Registrierung der bioelektrischen Aktivität des Gehirns.

8

3Methodik. Beim EEG handelt es sich um Makropotentiale,

4 7

V

6

5

IV 4 2

1

3

Besondere Ableitungen und Provokationsverfahren Hyperventilation und Photostimulation. Häufig wird die Routine-EEG-Untersuchung ergänzt durch Stimulationsverfahren,

III

I , II

die die Aktivität großer Neuronenverbände reflektieren. Der Ursprung dieser Potentiale ist nicht genau geklärt. Vermutlich entsprechen sie Summationspotentialen postsynaptischer Potentiale (. Abb. 4.11). Die Potentialschwankungen werden mit 16 oder mehr Elektroden an standardisierten Ableitepunkten von der Kopfhaut abgeleitet (. Abb. 4.12a) und über ein Verstärkersystem registriert (. Abb. 4.12b). Durch geeignete Wahl standardisierter Ableitungskombinationen lässt sich die bioelektrische Tätigkeit umschriebener Hirnregionen erfassen. Die EEG-Untersuchung ist unschädlich, schmerzlos und beliebig oft wiederholbar. Der Zeitaufwand für eine Routineableitung ist gering: etwa 20– 30 min. Ein »positives« EEG kann wertvolle und diagnostisch entscheidende Hinweise geben, ein »negatives«, d.h. normales EEG, schließt jedoch kaum eine Krankheit aus.

Oberflächen - negatives Potential über der Kopfhaut Referenz

CZ

A1

Schädelkalotte Dura mater Arachnoidea apikaler Dendrit

V III

I

IV

II

Senke

Ströme Kortex Quelle

µVLT / div 0,63 1 ms / div . Abb. 4.10. Frühe akustisch evozierte Potentiale, Stimulation mit Klick, Ableitung vom Mastoid (A1, ipsilateral zum Reiz) zum Vertex. Anatomische Zeichnung: 1 N. cochlearis; 2 Nucl. cochlearis dorsalis; 3 Nucl. cochlearis ventralis; 4 Corpus trapezoideum; 5 Lemniscus lateralis; 6 Colliculus inf.; 7 Corpus geniculatum med.; 8 Gyri temporales transversi. Die lateinischen Ziffern I–V bezeichnen die Wellen. Deren Generatoren sind in der anatomischen Zeichnung ebenfalls lateinisch mit I–V bezeichnet. (H. Buchner, Aachen)

Pyramidenzelle thalamokortikale Afferenzen . Abb. 4.11. Entstehung des EEG. Oberflächennegative langsame Hirnpotentiale werden durch Polarisation des Kortex erzeugt. Thalamische Afferenzen aktivieren die apikalen Dendriten von Pyramidenneuronen. Die extrazellulären Ströme erzeugen an der Kopfhaut messbare Potentiale. (Nach Birbaumer u. Schmidt 1996)

135 4.2 · Neurophysiologische Methoden

Facharzt

Weitere EEG-Methoden Langzeit-EEG. Bis zu 8 EEG-Kanäle können ambulant über 24 h aufgezeichnet werden. Dies erlaubt die Analyse des EEG während eines normalen Tagesablaufs und erhöht die Wahrscheinlichkeit, selten auftretende EEG-Veränderungen zu dokumentieren. Video-EEG. Die gleichzeitige Aufzeichnung des EEG mit einer Videoaufnahme des Patienten kann helfen, unklare Anfallsereignisse mit EEG-Veränderungen zu korrelieren. Die Aufzeichnungen werden zum Teil über mehrere Stunden bis hin zu einigen Tagen durchgeführt. Diese Methode gehört in spezielle Epilepsiezentren. Schlaflabor. EEG-Ableitungen gehören neben Herz-KreislaufParametern, Atmungskurven, Okulogramm und EMG zur multi-

modalen Messung bei Schlafstörungen und schlafassoziierten Atmungsstörungen (Schlafapnoesyndrom, 7 Kap. 15.2.2). Auf die Veränderungen des EEG im Schlaf wird weiter unten eingegangen. EEG-Analyse. Verschiedene computerassistierte Analyseverfahren helfen, die Datenmengen bei länger dauernder EEG-Ableitung zu reduzieren und überschaubar zu machen. Die bekannteste beruht auf der Fourier-Frequenzanalyse, bei der die Energie in den verschiedenen EEG-Frequenzen über die Zeit dargestellt wird. Diese Methode eignet sich für die Überwachung des EEG auf Intensivstationen oder bei Dauerüberwachung von Epilepsiepatienten. Andere Computerprogramme erlauben die Rückrechnung von EEG-Veränderungen auf zugrunde liegende Quellen (Quellenanalyse). Die evozierten Potentiale, auch eine Form der Computeranalyse des EEG, wurden bereits besprochen.

Exkurs EEG im Schlaf Der Schlaf modifiziert das EEG in besonderem Maße: Beim Einschlafen verlangsamt sich das EEG. Man unterscheidet verschiedene Schlafstadien von unterschiedlicher Tiefe, die während der Nacht 3- bis 5-mal zyklisch durchlaufen werden. Sie werden, beginnend mit der Wachheit, als Stadien A–E beschrieben: Zunehmender Schlaftiefe entspricht eine Verlangsamung bis zu sehr langsamen, synchronen δ-Wellen. Tiefschlaf (Stadium E) wird meistens nur in der ersten Schlafhälfte erreicht. Jeder EEG-Zyklus endet mit einem Stadium, in dem das Kurvenbild von flachen, raschen und unregelmäßigen Wellen beherrscht wird. Währenddessen ist die Weckschwelle stark erhöht, der Schlaf ist also – in augenscheinlichem Gegensatz zum EEG-Muster, zum Blutdruck (erhöht) und zur Hirndurchblu-

die Herdbefunde oder epileptische Aktivität aus der Latenz heben sollen. Zur Provokation verwendet man 4 die Hyperventilation (Abatmen von CO2 führt zur Alkalose und damit zur relativen Hypokalzämie sowie zur Verminderung der Hirndurchblutung, 7 Kap. 5), 4 die Stimulation mit intermittierenden Lichtreizen wechselnder Frequenz (Photostimulation) und 4 den Schlaf, am besten nach vorangegangenem Schlafentzug. Früher wurde auch die pharmakologische Provokation mit Medikamenten, die die Krampfschwelle des Gehirns herabsetzen, eingesetzt. Dies wird heute jedoch nur noch in speziellen Epilepsiezentren unter besonderer Überwachung durchgeführt.

tung (vermehrt) – besonders tief. Man spricht deshalb vom paradoxen Schlaf. Der Muskeltonus ist gleichzeitig stark herabgesetzt, im Gesicht und an den Gliedmaßen treten myoklonische Zuckungen auf. In diesem Stadium führen die Augen rasche, horizontale und vertikale Bewegungen mit einer Frequenz von 5–10/s aus, weshalb man den paradoxen auch als REM-Schlaf (REM, rapid-eye movements) bezeichnet. Vorwiegend im REMSchlaf treten die strukturierten Träume auf. Die Dauer der REM-Phasen nimmt im Verlauf des Nachtschlafes von etwa 20 min auf etwa 35 min zu. Der REM-Schlaf macht beim Erwachsenen im mittleren Lebensalter etwa 20% des Nachtschlafes aus. Neugeborene und Säuglinge haben mehr REMSchlaf als Erwachsene.

Wellenformen Die Wellen, die von der Kopfhaut registriert werden, unterscheiden sich nach Frequenz, Amplitude, Form, Verteilung und Häufigkeit (. Abb. 4.13). Die wichtigsten Wellenformen sind: 4 α-Wellen, Frequenz von 7,5–12,5/s. Sie sind der physiologische Grundrhythmus des ruhenden Gehirns und haben gewöhnlich ihr Maximum über der Okzipitalregion (. Abb. 4.13a). 4 β-Wellen, 12,5–30/s. Sie sind im normalen Ruhe-EEG wesentlich kleiner als die α-Wellen und kommen hauptsächlich frontal-zentral vor. Unter der Einwirkung von Sinnesreizen, bei geistiger Anspannung, aber auch bei bestimmten Intoxikationen treten sie vermehrt auf (. Abb. 4.13b,c). 4 ϑ- oder Zwischenwellen (3,5–7,5/s; . Abb. 4.13d) 4 δ-Wellen (0,5–3,5/s; . Abb. 4.13e)

4

136

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Nasion Pg1 Fp1 F7

4

A1

T3

F3

P3

C p1 O1

a

a

Fpz Fz

Fp2 F4

Cz

C3

T5

Pg2

Pz Oz

F8

C4 P4

T4

A2 Präaurikulärer Punkt

T6 C p2

O2

Inion

Normales EEG Das EEG des gesunden Erwachsenen wird in der Ruhe bei geschlossenen Augen vom α-Grundrhythmus beherrscht, der okzipital am stärksten ausgeprägt ist. Beim Augenöffnen, nach Sinnesreizen oder bei geistiger Tätigkeit desynchronisiert das EEG, vermutlich unter der Wirkung des retikulären Aktivierungssystems im Hirnstamm: Die gleichmäßigen α-Wellen verschwinden und werden durch unregelmäßige β-Wellen ersetzt. Diesen Vorgang nennt man α-Blockierung oder Arousal-Reaktion. Er gehört zur Charakteristik des normalen EEG (. Abb. 4.14). Normvarianten sind EEG-Kurven mit anderer Grundaktivität, aber identischem Arousal-Effekt. Zu ihnen zählen das β-EEG und die 3–5/s-Grundrhythmusvariante. Sie sind genetisch bedingt, kommen nur bei einem geringen Prozentsatz der Bevölkerung vor und haben keine pathologische Bedeutung. Geistige Aktivität, emotionale Erregung und Medikamente können das EEG massiv verändern: Unregelmäßige Kurven, Blockade der Grundaktivität und medikamentös bedingte Einlagerungen von β-Wellen sind häufige Befunde. Viele Medikamente, besonders Psychopharmaka, verändern das Kurvenbild. Dies muss bei der Deutung des EEG berücksichtigt werden, da heute viele Menschen Medikamente einnehmen, die auf das ZNS einwirken. Im Kindes- und Jugendalter ist das EEG langsamer und unregelmäßiger als beim Erwachsenen. Der α-Rhythmus setzt erst allmählich nach dem 3. Lebensjahr ein. Das EEG reift erst jenseits der Pubertät zu dem Kurvenbild, das später während des ganzen Lebens für das Individuum charakteristisch ist. Erst in diesem Alter schränkt sich auch die vorher sehr große Variationsbreite des Normalen ein, die die Beurteilung des kindlichen EEG sehr schwierig macht. Pathologisches EEG Die wichtigsten pathologischen Veränderungen des EEG sind: 4 Herdbefunde, 4 Allgemeinveränderungen (AV), 4 Krampfpotentiale.

b . Abb. 4.12a,b. EEG-Elektroden-Platzierung. a EEG-Elektrodenschema nach internationaler Konvention (10–20-System), Schemazeichnung, b EEG-Haube nach dem 10–20-System mit Verbindung der Elektroden zum EEG-Vorverstärker

Außerdem kann das EEG verschiedene Formen von großen, steilen Abläufen enthalten sowie charakteristische Potentialkombinationen (Komplexe und Muster, . Abb. 4.13f), die z.T. als epilepsietypische Potentiale gelten. Sie haben in der Diagnostik der Epilepsie jeder Genese eine herausragende Bedeutung.

Alle Veränderungen können im selben EEG kombiniert vorkommen. Krampfpotentiale treten generalisiert oder herdförmig auf. Die Befunde können kontinuierlich oder diskontinuierlich erscheinen. Dies ist bei Epilepsien von Bedeutung und besonders häufig: Nur im Anfall treten die epilepsietypischen Potentiale auf, im Intervall ist das EEG oft normal. Dann gewinnen die oben genannten Provokationsverfahren an Bedeutung. Herdbefunde. Diese sind in verschiedener Abstufung von um-

schriebener Verlangsamung des α-Rhythmus bis zu fokalen δWellen möglich. Je langsamer die Frequenz, desto schwerer der Herdbefund. Allgemeinveränderungen. Als AV bezeichnet man unterschied-

liche Grade der diffusen Verlangsamung und Unregelmäßigkeit des Kurvenbildes. Sie treten vor allem bei Epilepsie, diffusen, or-

137 4.2 · Neurophysiologische Methoden

aa

dd

Alpha- ( α ) Band (8 - 13 Hz)

b b

Theta- ( ϑ ) Band (4 bis unter 8 Hz)

e

Beta- ( β ) Band (über 13 Hz)

Delta- ( δ ) Band (unter 4 Hz)

cc Schlafspindelfrequenzbereich (11 - 15 Hz)

ff Komplexe (Kombination von mindestens zwei verschiedenen Wellen, die sich deutlich von der Hintergrundaktivität abheben)

50 µV . Abb. 4.13a–f. Beispiele von EEG-Wellen der verschiedenen Frequenzbänder, Amplituden und Formen. Es ist jeweils ein Ausschnitt von ca. 3,3 s dargestellt. Die Amplitudenhöhen können nicht zwischen

den einzelnen Abbildungen verglichen werden, da sie mit unterschiedlichen Verstärkungsfaktoren aufgezeichnet wurden. Für Details 7 Text. (Nach Birbaumer u. Schmidt 1996)

ganischen Hirnkrankheiten, nach Hirntraumen und bei Intoxikationen auf. Das Wachbewusstsein ist locker an den α-Rhythmus gebunden. Bei mittlerer und schwerer AV ist der Patient häufig, wenn auch nicht immer, bewusstseinsgetrübt. Schließlich zeigt die AV Akuität und Progredienz eines neurologischen oder psychiatrischen Syndroms an.

Vermehrtes Auftreten von höherfrequenten Wellen wird vor allem unter der Wirkung bestimmter Medikamente und im epileptischen Anfall beobachtet. Krampfpotentiale. Das Auftreten von Krampfpotentialen spricht

bei einem Patienten, der Anfälle hat, für deren epileptische

4

138

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Abb. 4.14. Normales EEG mit α-Blockade beim Augenöffnen. (Nach Jung 1953)

Augen offen rechts

frontal

links

rechts

4

präzentral

links

parietal

rechts links

okzipital

rechts links

100 µV

1s

Genese. Verschiedene Formen kleiner Anfälle sind nur nach ihrem charakteristischen EEG-Muster richtig zu klassifizieren (7 Kap. 14). Ein im Intervall normales EEG beweist nicht, dass keine Epilepsie vorliegt, da bei etwa 30% der Anfallskranken der Kurvenverlauf unauffällig ist. In diesen Fällen wiederholt man die Ableitung mehrmals, auch unter Provokationsmaßnahmen, die geeignet sind, das Auftreten von Krampfpotentialen zu begünstigen. Andererseits kann grundsätzlich jedes Gehirn, wenn es nur stark genug provoziert oder geschädigt ist, Krampfpotentiale produzieren. Findet man also im EEG Krampfpotentiale, darf man allein daraufhin die Diagnose einer Epilepsie nicht stellen. Bestimmte EEG-Muster, die man bei Epilepsiekranken häufig findet (z.B. 3/s-Spike-wave-Komplexe, Krampfpotentiale nach Photostimulation), sind ein eigenes genetisches Merkmal. Sie finden sich in einem hohen Prozentsatz auch bei klinisch gesunden Geschwistern von Anfallspatienten. Das EEG ist also immer nur ein Hilfsmittel bei der Diagnose der Epilepsie. Entscheidend ist das Auftreten von epileptischen Anfällen. 3Anwendung. Die größte Bedeutung hat das EEG in der Diagnostik der Epilepsie. Darüber hinaus hat das EEG in der Diagnose diffuser Hirnschädigungen, wie Enzephalitis, Stoffwechselkrankheiten, Intoxikationen und besonders in der Differentialdiagnose und Verlaufsbeurteilung komatöser Zustände auf der Intensivstation große Bedeutung. Dagegen spielt es keine Rolle mehr in der Diagnostik von Hirntumoren oder Schlaganfällen.

4.2.7 Magnetenzephalogramm (MEG) Der Vorteil des MEG liegt in der Verbindung von hoher örtlicher (3 mm) und sehr hoher zeitlicher Auflösung (30 ng/l) bei bewusstlosen Patienten sprechen für eine schlechte Prognose. Antineuronale Antikörper Antineuronale Antikörper sind von besonderem Interesse beim Verdacht auf paraneoplastische Krankheiten und sind daher in 7 Kap. 13 besprochen. Andere Antikörper Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren werden bei Verdacht auf Myasthenie (7 Kap. 34) untersucht. Heute ist die Bestimmung der Antikörper nach der Bungarotoxinantikörper-Methode üblich. Immer wieder einmal findet man auch gleichzeitig Antikörper gegen Skelettmuskulatur und Schilddrüsengewebe. Tumormarker Diese sind im 7 Kap. 11 (. Tabelle 11.3) besprochen. 4.7

Molekulargenetische Methoden

In immer rascherer Folge werden die genetischen Grundlagen neurologischer Krankheiten identifiziert (. Tabelle 4.2). In der klinischen Diagnostik wird der direkte vom indirekten Gennachweis unterschieden. Ist das Gen bekannt, ist eine direkte DNA-Diagnostik auch bei einzelnen Erkrankten möglich. Bei bekannter Lokalisation des mutierten Gens, aber unbekanntem molekularen Defekt, ist nur ein indirekter Nachweis möglich. Dabei macht man sich die gemeinsame Vererbung des mutierten Gens mit benachbarten bekannten Genmarkern (darunter Restriktionslängenpolymorphismen und Triplet-Wiederholungen zunutze. Der so definierte Genotyp wird erkrankten und gesunden Familienmitgliedern zugeordnet (Linkage). Damit ist die indirekte Diagnostik nur in Familien mit bereits sicher Betroffenen und nicht bei einzelnen Erkrankten anwendbar. Molekulargenetische Untersuchung der DNA Diese ist zu einem wichtigen Bestandteil der Diagnostik geworden. Als Quelle der DNA werden Leukozyten und lymphoblastoide Zelllinien aus Vollblut (Heparin oder EDTA) oder Fibroblastenkulturen aus Hautbiopsien verwendet. Nach Isolierung und nach Amplifizierung spezifischer Sequenzbereiche in einer

159 4.7 · Molekulargenetische Methoden

. Tabelle 4.2. Bekannte Gene wichtiger neurologischer Erkrankungen

Erkrankung

Chromosom

Mutation und Genprodukt

Alzheimer-Krankheit

21 19 1, 14

APP-Gen apo-E-Gen Präsenilin

Amyotrophe Lateralsklerose

21

Kupfer-Zink

CADASIL

19

Mutationen im NOTCH-3-Gen

Cerebral cavernous malformations

7

KRIT 1

Chorea Huntington

4

CAG-Triplet-Repeat, Genprodukt: Huntingtin

Dentatorubrale pallidoluysionale Atrophie

12

CAG-Triplet-Repeat

X

Dystrophin-Gen, meist Deletion,

Genprodukt: Dystrophin

x

X

Dopa-responsive Dystonie

14

Autosomal-dominant: GTP-Cyclohydroxylase I

Superoxid-Dismutase-1-Gen

x

Duchenne/Becker Muskeldystrophie selten Punktmutationen

(Segawa-Syndrom)

11

Autosomal-rezessiv: Tyrosin-Hydroxylase

Emery-Dreifuss-Muskeldystrophie

41 x

Genprodukt: Lamin Genprodukt: Emerin

Fazioskapulohumerale Muskelatrophie

4

Deletion in einem nicht kodierenden Tandem-repeat-Lokus

Familiäre hemiplegische Migräne

19

Punktmutation im Gen für _-Untereinheit eines Kalziumkanals

Friedreich-Ataxie

9

GAA-Triplet-Repeat im X25-Gen, das Frataxin kodiert

Gliedergürtelmuskeldystrophie heterogen

3 15 4, 13, 17

Caveolin 3 Calpain 3 α, β, γ-Sarcoglykan

HMSN Ia

17

Duplikation im PMP-22-Gen

HMSN Ib

1

Punktmutation im P-0-Gen

HMSN Ix

X

Genprodukt: Connexin 32

HMSN II

1, 3, X

HMSN III

17

Punktmutation im PMP-22-Gen

Tomakuläre Neuropathie (HNPP)

17

Deletion im PMP-22-Gen

Hyperkaliämische periodische Lähmung

17

Mutation des SCN4a-Gens, das die α-Untereinheit des Natriumkanals kodiert

Hypokaliämische periodische Lähmung

1

Genprodukt: Dihydropyridin-sensitiver muskulärer Kalziumkanal

Kennedy-Syndrom

X

CAG-Triplet-Repeat im Androgen-Rezeptor-Gen

Maligne Hyperthermie

3, 17, 19

Ryanodin-Rezeptor

Myotonia congenita Becker, autosomal-rezessiv

7

Punktmutation im Gen für Muskel-Chlorid-Kanal

Myotone Muskeldystrophie

19

CTG-Triplet-Repeat-Genprodukt: Myotonin-Proteinkinase

Neurofibromatose 1

17

Genprodukt: Neurofibromin

Neurofibromatose 2

22

Genprodukt: Merlin

Okulopharyngeale Muskeldystrophie

14

GCC-repeat Poly-A-Bindungsprotein

4

160

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Tabelle 4.2 (Fortsetzung)

4

Erkrankung

Chromosom

Mutation und Genprodukt

Paramyotonia congenita

17

Mutation des SCN4a-Gens, das die α-Untereinheit des Natriumkanals kodiert

Familiärer Parkinson

4

Punkmutation α-Synuclein

Hereditäre Paraplegie (spastische Spinalparalyse)

14, 2, X

Typ SPG 1

Mutation im MASA-Gen

Typ SPG 2

Mutation im Gen für Proteolipid-Protein

Spinale Muskelatrophie

5

Deletion im SMN-Gen

Spinocerebelläre Ataxie SCA 1

6

CAG-Triplet-Repeat, Genprodukt: Ataxin

SCA 2

12

CAG-Triplet-Repeat

SCA 3 (Machado-Josef-Erkrankung)

14

CAG-Triplet-Repeat

SCA 4

16

?

SCA 5

11

?

SCA 6

11

CAG-Triplet-Repeat im Gen für α-Untereinheit eines Kalziumkanals

SCA 7

3

?

Tuberöse Sklerose

9 16

Hamartin, TSC2

HMSN hereditäre motorisch sensible Neuropathie; SCA spinozerebelläre Atrophie; CADASIL cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukoencephalopathy.

Facharzt

Molekularbiologische Methoden in der Diagnostik Polymerasekettenreaktion (PCR). Das gesuchte DNA-Fragment wird durch eine DNA-Polymerase und sog. Primer amplifiziert, die Anfang und Ende des zu amplifizierenden DNA-Stücks definieren. Nach elektrophoretischer Auftrennung werden die DNA-Fragmente durch Färbung sichtbar gemacht. Southern-Hybridisierung. Die DNA wird zunächst mir Restriktionsenzymen zerschnitten, und die resultierenden Restriktionsfragmente werden elektrophoretisch aufgetrennt. Markierte DNA-Sonden binden an komplementäre DNA-Abschnitte und werden durch Autoradiographie sichtbar gemacht.

Polymerasekettenreaktion (PCR) kommen verschiedene Verfahren zur Identifizierung von Mutationen zur Anwendung: 4 Längenbestimmung des PCR-Produkts durch Gelelektrophorese für den Nachweis von kleinen Deletionen oder zur Abschätzung der Anzahl von Trinukleotid-Repeats, 4 Sequenzierung des PCR-Produkts für den Nachweis von Punktmutationen.

Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Hybridisierung von großen DNA-Sonden an komplementäre DNA-Sequenzen in ganzen Zellen (Meta- oder Interphase). Dadurch können große DNA-Sequenzen durch an Fluoreszin gekoppelte Antikörper lichtmikroskopisch sichtbar gemacht werden. Die Methode findet Anwendung bei großen Genen mit heterogenem Mutationsspektrum, z.B. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder beim Nachweis von Chromosomenaberrationen. In Zukunft wird der Nachweis der Genprodukte, auch über immunzytochemische Verfahren (z.B. Dystrophin), an Bedeutung zunehmen.

161 4.7 · Molekulargenetische Methoden

In Kürze Liquordiagnostik Liquorpunktion (LP). Entnahme des Liquors aus Subarachnoidalraum unter sterilen Bedingungen im Sitzen oder Liegen bei max. Rückenkrümmung. Punktionsstelle: Im Schnitt der Wirbelsäule zwischen oberen Rand der Beckenschaufeln. Liquordruckmessung (in »Millimeter Wassersäule«, mm H2O) mittels Steigrohr beim entspannt liegenden Patienten. Untersuchung des Liquors: Zahl und Art der Liquorzellen, Eiweißgehalt, Liquorzucker, Eiweißsubgruppen. Postpunktionelles Liquorunterdrucksyndrom: Nach 1–2 Tagen heftige Kopfschmerzen, Übelkeit, Ohrensausen und Ohnmachtsneigung bedingt durch Liquorverlust durch den Stichkanal. Therapie: Infusion von Elektrolytlösung, einfache Analgetika, Antiemetika, Bettruhe.

Neurophysiologische Methoden Elektromyographie (EMG). Untersuchung der elektrischen Aktivität der Muskulatur. Indikationen: Differenzierung zwischen neurogener und myogener Muskelatrophie, neurogener Parese, Inaktivitätsatrophie, mechanischer Behinderung, psychogener Lähmung, schmerzreflektorischer Ruhigstellung. Untersuchung des Muskels: Muskel wird mehrfach sondiert und nach Kriterien beurteilt (Ruheaktivität, max. Willküraktivität, eindrucksgemäße Beschreibung der Potenziale einer motorischen Einheit bei geringer Willküraktivität). Veränderung der Muskelaktivität: Pathologische Spontanaktivität: Fibrillationen, positive scharfe Wellen, myotone Entladung, Faszikulationen; Neurogene Läsion: Zerstörung motorischer Einheiten verursacht Lichtung des Aktivitätsmusters, degenerierte Muskelfasern reagieren überempfindlich auf Acetylcholin, spontane Entladungen; Myopathische Läsion: Diffuse Muskelfaserzerstörung bei max. dichtem Aktivitätsmuster; Pathologisches Aktivitätsmuster bei max. Willküraktivität: Muskelkrankheiten, Periphere Nervenkrankheiten. Elektroneurographie (ENG). Objektivierung und Lokalisierung verschiedener Störungen der Nervenleitung (motorisch und/ oder sensibel). Untersuchung: Supramaximale Stimulierung des Nervs an mehreren Stellen, motorische Antwort wird im distalen Muskel mit Oberflächenelektroden abgeleitet. Reflexuntersuchungen. Orbicularis-oculi-Reflex (Blinkreflex): Zur Diagnostik von Läsionen des N. facialis, bei Hirnstammläsionen, im Koma und bei elektrophysiologischer Diagnostik der MS. 6

Masseterreflex: Ergänzende Untersuchung bei peripheren oder zentralen Trigeminusläsionen. Kieferöffnungsreflex: Bei Verdacht auf Hirnstammläsionen. H-Reflex und F-Welle: Bei Diagnose von entzündlichen, proximalen Nervenläsionen. Transkranielle Magnetstimulation (TKMS). Schmerzlose Messung der Leitfähigkeit im Tractus corticospinali, im peripheren Nerven und in bestimmten motorischen Hirnnerven u.a. bei MS, amyotrophischer Lateralsklerose und psychogenen Lähmungen. Evozierte Potenziale (EP). Visuell evozierte Potenziale (VEP): Diagnostik der MS, vaskulärer und degenerativer Läsionen der Sehnerven und Sehbahnen. Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP): MS-Diagnostik, bei unklaren Sensibilitäts- und psychogenen Gefühlsstörungen. Frühe akustische Hirnstammpotenziale (FAHP): Diagnostik entzündlicher, vaskulärer, traumatischer und neoplastischer Hirnstammläsionen. Elektroenzephalographie (EEG). Registrierung der bioelektrischen Aktivität des Gehirns, v.a. für Diagnostik der Epilepsie, diffuser Hirnschädigungen und in Differenzialdiagnose. Elektronystagmographie. Elektrische Registrierung der Augenbewegungen des spontanen und des durch Provokation ausgelösten Nystagmus.

Neuroradiologische Untersuchungen Konventionelle Röntgenaufnahmen. In der Neurologie kaum noch von Bedeutung. Computertomographie (CT). Anatomisch genaue Darstellung intrakranieller Strukturen (graue und weiße Substanz des Hirngewebes, Liquorräume, Plexus chorioideus, Hirnödem). Spiral-CT: Volumenaufnahmeverfahren durch spiralig aufgerichtete Röntgenstrahlung. CT-Angiographie: Darstellung extra- und intrakranieller Gefäße. Spinal-CT: Darstellung lateraler und mediolateraler lumbaler Bandscheibenvorfälle. Magnetresonanztomographie (MRT). Darstellung von Weichteilkontrasten. Magnetresonanzangiographie (MRA): Räumliche Darstellung der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien.

4

162

Kapitel 4 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Nuklearmedizinische Untersuchungen. Emissions-Computertomographie (ECT): Rechnergestützte, schichtweise Abbildung der Radioaktivitätsverteilung in Organen nach Injektion von radioaktiven Tracern. Diagnostik von Tumoren, extrapyramidal-motorischen Krankheiten und Multisystematrophien.

4

Kontrastuntersuchungen. Ventrikulographie: Überprüfung der Durchgängigkeit von Aquädukt und Foraminae Luschkae und Magendii, Shuntkontrolle in der Neurochirurgie. Digitale Subtraktionsangiographie (DSA): Röntgendarstellung des zerebralen Gefäßsystems für Diagnostik von Hirntumoren oder -blutungen, Gefäßmissbildungen, Sinusthrombose. Myelographie: Feststellung eines raumfordernden spinalen Prozesses.

Ultraschallkontrastmittel. Führt zu einer um den Faktor 1000 höheren Rückstreuung des Ultraschalls und damit zur Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses und der Bilder. Funktionelle Untersuchung. U.a. Untersuchung der zentralen Vasomotorenreserve bei hochgradigen extrakraniellen Stenosen nach CO2-Atmung, Detektion von Mikroemboliesignalen. Biopsien Muskelbiopsie. Differenzierung zwischen neurogener und myogener bzw. myositischer Schädigung der Muskulatur und semiquantitative Darstellung genetischer, metabolischer und immunologischer Störungsmuster. Nervenbiopsie. Ausschließlich Biopsie des rein sensiblen N. suralis lateralis. Bei entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems im Rahmen von Kollagenosen.

Ultraschalluntersuchungen Extrakranielle Dopplersonographie (ECD). Erkennen pathologische Strömungsgeschwindigkeiten und -richtungen in periorbitalen Arterien und an Halsgefäßen. Transkranielle Dopplersonographie (TCD). Nachweis intrakranieller Gefäßstenosen, Untersuchung auf Vasospasmen nach Subarachnoidalblutung, Bestimmung des zerebralen Kreislaufstillstandes. Extrakranielle Duplexsonographie. Beurteilung der hirnversorgenden Gefäße.

Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen. Bei unklarem Hirntumor und Veränderung im Gehirn. Spezielle Laboruntersuchungen Laktat- und Ischämietest, Hypothalmisch-hypophysäre Hormondiagnostik, neuronale Marker.

Molekulargenetische Methoden der DNA Direkter und indirekter Gennachweis durch Leukozyten und lymphoblastoide Zelllinien aus Vollblut oder Fibroblastenkulturen aus Hautbiopsien.

II Vaskuläre Krankheiten des zentralen Nervensystems 5 Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte – 164 6 Spontane intrazerebrale Blutungen 7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen 8 Gefäßfehlbildungen

– 223 – 235

– 244

9 Subarachnoidalblutung

– 262

10 Spinale Durchblutungsstörungen

– 280

5 Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte 5.1

Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns – 166

5.1.1 5.1.2

Anatomie – 166 Pathophysiologie der Ischämie: Energiegewinnung und Durchblutung – 166

5.2

Epidemiologie und Risikofaktoren – 172

5.2.1 5.2.2

Epidemiologie – 172 Risikofaktoren – 173

5.3

Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte – 175 Arteriosklerose und Stenosen der hirnversorgenden Arterien – 175 Lokale arterielle Thrombosen – 176 Embolien – 177 Intrazerebrale Arteriolosklerose (Mikroangiopathie) – 177 Dissektionen – 177

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5

5.4 5.4.1 5.4.2

Einteilung der zerebralen Ischämien – 178 Einteilung nach Schweregrad und zeitlichem Verlauf Einteilung nach der Infarktmorphologie – 179

5.5

Klinik und Gefäßsyndrome

– 178

5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.5.6

– 181 Zerebrale Ischämien in der vorderen Zirkulation – 181 Ischämien in der hinteren Zirkulation – 185 Klinische Besonderheiten bei Dissektionen – 187 Lakunäre Infarkte – 187 Multiinfarktsyndrome – 188 Vaskulitische Infarkte – 188

5.6

Apparative Diagnostik – 188

5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6 5.6.7

Computertomographie (CT) – 188 Magnetresonanz-Tomographie (MRT) Ultraschall – 192 Angiographie – 198 Kardiologische Diagnostik – 199 Labordiagnostik – 199 Biopsien – 199

5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5

Therapie – 201 Schlaganfall als Notfall – 201 Allgemeine Therapie – 202 Perfusionsverbessernde Therapie (Thrombolyse) – 203 Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen – 206 Logopädie, Krankengymnastik und Rehabilitation – 209

5.8

Prophylaxe – 209

5.8.1 5.8.2

Primärprophylaxe – 210 Sekundärprophylaxe – 210

5.9

Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

– 192

– 215

165 Einleitung

> > Einleitung Der Schlaganfall ist eine der häufigsten und volkswirtschaftlich eine der teuersten Krankheiten. Dennoch ist der Kenntnisstand über den Schlaganfall viel geringer ausgeprägt als für andere, zum Teil deutlich seltenere Krankheiten. Entsprechend bescheiden ist auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und seine Präsenz in den Medien. Ein Politiker darf Herzprobleme haben und einen Bypass bekommen, und die Presse berichtet. Ein Politiker hat einen Schlaganfall, und es herrscht Heimlichtuerei: Man verbirgt die Diagnose und spricht von einem Kreislaufproblem (was ja nicht völlig falsch ist, aber die Absicht ist klar). Der Schlaganfall ist ein Notfall. Aber er wurde in der Vergangenheit nicht wie ein solcher behandelt. In Notaufnahmen hatte der Schlaganfallpatient, verglichen mit Herzinfarkt, Trauma, akutem Bauch, einem epileptischen Anfall oder einer akuten Psychose die niedrigere Priorität. Es waren eben die alten, multimorbiden Menschen, die jetzt obendrein noch einen Schlaganfall bekamen. Man hatte gelernt, dass man nichts machen könne, und also tat man auch nichts. Bis vor wenigen Jahren wurde ernsthaft diskutiert, ob ein Mensch mit einem Schlaganfall überhaupt in eine Klinik eingewiesen werden sollte. Erst die letzten Jahre haben eine Trendwende gebracht. Wie in kaum einem anderen Gebiet der modernen Medizin haben Fortschritte in Diagnostik und Therapie eine grundlegende Änderung der Versorgungsstruktur bewirkt: Patienten kommen schneller in die Klinik, werden notfallmäßig diagnostiziert, werden auf modernen Schlaganfallstationen behandelt, es gibt wirksame Medikamente, und die Prognose ist viel besser als noch vor 10 Jahren. Besonders erfreulich ist, dass dieser Paradigmenwechsel in Deutschland, aber auch in Österreich wie in keiner anderen Region der Welt, nahezu flächendeckend umgesetzt werden konnte: Allein über 150 Stroke Units in Deutschland beweisen dies. Es gibt kaum einen Bereich in der klinischen Medizin, der international so stark von deutschen Spezialisten geprägt wird. Die häufigste Ursache des Schlaganfalls ist der Hirninfarkt, die Durchblutungsstörung des Gehirns infolge des Verschlusses einer hirnversorgenden Arterie. Auch das Rückenmark kann von Infarkten betroffen werden. Die ischämischen Formen der Schlaganfälle besprechen wir in diesem umfangreichen Kapitel.

Vorbemerkungen Schlaganfälle sind die dritthäufigste Todesursache, die führende Ursache dauernder Invalidität und, medizinökonomisch betrachtet, in westlichen Industrieländern die teuerste Krankheitsgruppe überhaupt. Die häufigsten Schlaganfälle sind ischämische Infarkte, d.h. Durchblutungsstörungen, die zur Ischämie in umschriebenen Gefäßterritorien des Gehirns führen. Sie liegen bei 80% der Patienten dem Schlaganfall zugrunde. In Deutschland erleiden ungefähr 150.000–200.000 Einwohner pro Jahr einen Schlaganfall. Rund 700.000 Menschen in Deutschland leben mit den Folgen eines Schlaganfalls. Etwa

15–20% der Patienten sterben innerhalb der ersten 4 Wochen. Von den Überlebenden wird nur etwa ein Drittel so gut wiederhergestellt, dass sie ohne Einschränkungen leben können wie vor dem Schlaganfall. Ein weiteres Drittel wird zwar wieder so weit selbständig, dass einfache tägliche Dinge verrichtet werden können, die Patienten sind aber durch Lähmungen oder andere Symptome behindert, nicht mehr berufsfähig und müssen im täglichen Leben viele Einschränkungen akzeptieren. Das letzte Drittel der überlebenden Patienten bleibt dauerhaft pflegebedürftig. Wie beim Herzinfarkt ist auch die Inzidenz (Zahl der Neuerkrankungen) des Schlaganfalls in den letzten Jahren zwar etwas zurückgegangen. Vermutlich führte das verbesserte Gesundheitsbewusstsein großer Teile der Bevölkerung zu dieser Entwicklung. Trotzdem bleiben Risikofaktoren wie Hypertonie, Rauchen, Diabetes und Hypercholesterinämie sowie Bewegungsmangel, die eigentlich gut beeinflussbar wären, noch in weiten Kreisen der Bevölkerung erhalten. Sie nehmen z.T. sogar wieder zu, wie die Zahl der Raucher unter Jugendlichen und bei Frauen zeigt. Man muss angesichts der Zunahme von Übergewicht und früh auftretendem Typ II Diabetes mit einer deutlichen Zunahme der Schlaganfälle auch bei jüngeren Menschen rechnen. Neue Möglichkeiten der primären und sekundären Prävention sowie der Akutbehandlung bei Schlaganfällen stellen jetzt und für die Zukunft eine der wesentlichen Aufgaben des allgemeinmedizinisch, internistisch oder neurologisch tätigen Arztes dar. Für die Akutbehandlung ist es entscheidend, den Schlaganfall als Notfall zu akzeptieren. Diese Erkenntnis ist noch nicht weit genug in das Bewusstsein der Bevölkerung, aber auch vieler Ärzte, gedrungen. Was für den Herzinfarkt heute Standard ist, muss auch für den Hirninfarkt eingeführt werden: Das Hirn ist noch empfindlicher für Sauerstoffmangel als das Herz: Zeit ist Gehirn. ä Der Fall Der Notarzt wird zu einer 65-jährigen Frau gerufen, die beim Frühstück eine plötzliche Lähmung der linken Körperhälfte, besonders der Hand und des Arms erlitten hat. Beim Eintreffen des Notarztes ist die Patientin wach, wirkt etwas verlangsamt, hat eine hochgradige Lähmung auf der linken Körperhälfte und kann die Hand gar nicht mehr bewegen. Sie hat zusätzlich einen Gesichtsfeldausfall nach links. Der Blutdruck beträgt 210/120 mmHg. Ein hoher Blutdruck ist lange bekannt und wird mit Antihypertensiva behandelt. Der Puls ist arrhythmisch, Vorhofflimmern soll schon seit Jahren vorliegen, wurde jedoch nicht behandelt. Die Patientin ist Diabetikerin.

5

5

166

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.1

Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns

5.1.1 Anatomie

a

Vier Arterien versorgen das Gehirn mit Blut: die beiden Karotiden und die beiden Vertebralarterien. Obwohl diese vier Gefäße über Anastomosen miteinander verknüpft sind, ist eine Einteilung in ein vorderes (Carotis media anterior) und ein hinteres (Vertebralis basilaris posterior) Versorgungsgebiet zweckmäßig (. Abb. 5.1). Aus praktischen Gründen wird die A. carotis interna (ACI) in verschiedene Abschnitte unterteilt (. Abb. 5.2). Die vier Hauptarterien werden über den Circulus arteriosus Willisii miteinander an der Schädelbasis verbunden (. Abb. 5.3a). In . Abbildung 5.3b–d sind einige Varianten des Circulus arteriosus Willisii dargestellt (7 auch Box Facharztwissen).

C3

5.1.2 Pathophysiologie der Ischämie:

C2

zerebaler C1 (zisternaler) Abschnitt c b

(intra-) kavernöser Abschnitt C4

C5

c b a C3 Karotissiphon C4

petröser Abschnitt

C5

zervikaler Abschnitt

Energiegewinnung und Durchblutung Sauerstoffbedarf Obwohl das Hirngewicht nur 2% des Körpergewichts beträgt, erhält es in körperlicher Ruhe ca. 15% (etwa 1,2 l) des Herzminutenvolumens und verbraucht dann etwa 20% des gesamten O2Bedarfs des Körpers (ca. 3,35 ml Sauerstoff pro 100 g Hirngewebe und Minute).

Circulus arteriosus Willisii

. Abb. 5.2. Die Abschnitte der A. carotis interna in seitlicher und antero-posteriorer Ansicht. a A. ophthalmica, b A. communicans posterior; c A. chorioidea anterior. (Nach Huber 1979)

Der Energiebedarf des Gehirns ist im Schlaf und bei geistiger Aktivität gleich. Nur im Status epilepticus ist er auf etwa das Doppelte gesteigert. Hauptenergielieferant für das Gehirn ist Glukose, die unter physiologischen Bedingungen zu über 95% oxidativ zu CO2 und H2O metabolisiert und zu 5% anaerob zu Pyruvat abgebaut wird. Es besteht ein empfindliches Gleichgewicht zwischen O2-Versorgung und Nährstoffzufuhr (Glukose), da das Gehirn nur kurzfristig den anaeroben Stoffwechselweg gehen kann, der zu deutlich geringerer Energieausbeute und zur Anhäufung von Laktat als Endprodukt führt (. Abb. 5.7).

A. basilaris

A. carotis interna A. carotis externa

A. vertebralis

A. carotis communis A. subclavia Truncus brachiocephalicus

A. subclavia

Aorta . Abb. 5.1. Schematische Darstellung von Aortenbogen und Hauptarterienstämmen des Gehirns. (Nach Dorndorf 1983)

Struktur- und Funktionsstoffwechsel Wie alle anderen lebenden Zellen, haben Hirnzellen einen Strukturstoffwechsel, der für die Aufrechterhaltung der Zellstrukturen unbedingt notwendig ist. Wird dieser Stoffwechselumsatz nicht erreicht, treten irreversible Schäden der Zelle auf, und die Zelle stirbt. Für die neuronale Funktion muss die Zelle darüber hinaus die Energie bereitstellen, die für die aktiven Tätigkeiten benötigt werden (Funktionsstoffwechsel). Die neuronale Funktion wird bei Unterschreiten einer kritischen Durchblutungsgröße, die man Funktionsschwelle nennt, zunächst reversibel eingestellt. Bei weiterem Verlust der Energie wird auch die Aufrechterhaltung des Ionengleichgewichts, der Gradienten für Kalium, Natrium und Kalzium gefährdet und es kommt zur Schädigung der zellulären Integrität (Infarktschwelle). Der Bereich zwischen Infarkt- und Funktionsschwelle wird als ischämische Penumbra (»Halbschatten«) bezeichnet. Dieser Zone kommt für rekanalisierende Therapien eine besondere Bedeutung zu (7 auch die folgende Box).

167 5.1 · Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns

Facharzt

Einzelheiten der Anatomie der extra- und intrakraniellen Gefäße Extrakranielle Gefäße. Die rechte A. carotis communis entsteht aus der Teilung des Truncus brachiocephalicus in die A. subclavia und die A. carotis communis. Links geht die A. carotis communis direkt aus dem Aortenbogen ab. Die Vertebralarterien stammen aus den Aa. subclaviae. Varianten des Abgangs der großen, hirnversorgenden Gefäße aus dem Aortenbogen sind nicht selten: Die linke Carotis communis kann aus dem rechten Truncus brachiocephalicus hervorgehen, die Vertebralarterien können einseitig oder doppelseitig direkt aus dem Aortenbogen entspringen. Die Communis teilt sich etwa in Höhe des Schildknorpels in die Aa. carotis interna (ICA) und externa (ECA) auf. Die Karotisbifurkation ist besonders häufig von arteriosklerotischen Plaques und Stenosen betroffen. Die Interna läuft dann ohne Aufzweigung bis zum Canalis caroticus zur Schädelbasis. Die beiden Vertebralarterien verlaufen durch die Foramina transversaria der oberen sechs Halswirbelkörper, umrunden den lateralen Teil des Atlas (Atlasschleife) und treten durch das Foramen occipitale magnum in die hintere Schädelgrube ein. Oft ist eine (meist die linke) Vertebralarterie kaliberstärker angelegt, manchmal ist eine Vertebralis stark hypoplastisch oder fehlt. Auch im intrakraniellen Segment gibt es Normvarianten: So kann z.B. eine A. vertebralis (VA) in einer A. cerebelli inferior posterior (PICA) enden, ohne einen Zusammenfluss mit der anderen Vertebralarterie zu bilden. Diese Variation, bei der eine Vertebralis die Basilaris vollständig versorgt, wird symptomfrei toleriert. Intrakranielle Gefäße Carotis-media-anterior-Territorium. Nach Austritt aus dem Canalis caroticus tritt die Interna in den Sinus cavernosus (intrakavernöser Abschnitt) ein. Im Sinus cavernosus bildet die ACI eine Schleife, Karotissiphon genannt. Der Karotissiphon (. Abb. 5.4) reicht bis zum Karotis-T, der Aufteilung des Gefäßes in die A. cerebri media (MCA) und die A. cerebri anterior (ACA). Aus dem Karotissiphon entspringt die A. ophthalmica. Über diese werden wesentliche Anastomosen zu Ästen der A. carotis externa gebildet. Danach zweigt die A. communicans posterior (Pcom) ab. Sie verläuft ziemlich gerade nach hinten und stellt die Verbindung zur A. cerebri posterior (PCA) her. Auch die A. chorioidea anterior, die u.a. wesentliche Teile der zentralen Sehbahn, des limbischen Systems, der Basalganglien und des hinteren Kapselschenkels versorgt, entspringt meistens aus dem Karotissiphon. Sie geht eine enge Verbindung mit Ästen ihrer aus der hinteren Zirkulation stammenden Zwillingsarterie, der A. chorioidea posterior, ein. Am Karotis-T teilt sich die Interna in ihre beiden Endäste, die MCA und die ACA. Die MCA stellt ihrem Kaliber nach die eigentliche Fortsetzung der ACI dar. Sie verläuft nach lateral in

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Richtung Sylvische Furche, der sie dann folgt. In ihrem proximalen, horizontal gerichteten Abschnitt entspringen der MCA eine Reihe von penetrierende Arterien, die praktisch nicht kollateralisiert und als Aa. lenticulostriatae zusammengefasst werden (. Abb. 5.5). Große Teile der Basalganglien, der inneren Kapsel und des paraventrikulären Marklagers werden von diesen Arterien versorgt, während Hypothalamus und große Teile des Thalamus ihr Blut aus vergleichbaren Ästen der A. communicans posterior erhalten. Auch aus der A. cerebri anterior entspringen einige weiter rostral gelegene zentrale Gefäße, von denen die Heubner-Arterie einen besonders langen intrazerebralen Verlauf nimmt und zum Caput des Nucleus caudatus zieht. Die beiden Anteriores sind von der A. communicans anterior (Acom) verbunden. Diese Verbindung unterliegt auch einer Reihe von Variationen und ist, wie wir im Kapitel über die aneurysmatischen Subarachnoidalblutungen (7 Kap. 9) ausführen werden, eine der häufigsten Lokalisationen für Aneurysmen. Nicht selten finden sich erhebliche individuelle Variationen in der Anatomie der A. cerebri anterior, v.a. bedingt durch Normabweichungen der A. communicans anterior. Manchmal stammen beide Aa. pericallosae aus einem Anteriorsegment, während der andere horizontale Anteriorabschnitt hypoplastisch ist oder fehlt. Vertebralis-Basilaris-posterior-Territorium. Vor dem Zusammenschluss der beiden Vertebrales zur A. basilaris (BA) am Übergang von Medulla oblongata zur Brücke geben beide Vertebralarterien Äste für die A. spinalis anterior und die beiden PICA ab. Diese im intrakraniellen Segment der Vertebralis entspringenden Arterien versorgen die lateralen und dorsalen Kleinhirnhemisphären und die Kleinhirnkerne. Einige Äste versorgen den Hirnstamm von ventral (paramediane Äste), ein Ast erreicht die Medulla oblongata in ihrem dorsolateralen Anteil (»WallenbergArterie«, 7 Kap. 5.5.2). Dieser Ast kann direkt aus der Basilaris, aus dem intrakraniellen Teil der Vertebralis oder aus PICA abgehen. In variabler Höhe, auch im Seitenvergleich, gehen von der Basilaris die Aa. cerebelli inferiores anteriores (AICA) ab, die den ventralen Anteil der Kleinhirnrinde, einen Teil des Kleinhirnmarklagers und die Kleinhirnkerne versorgen. Auch AICA gibt kleine Seitenäste für die Medulla oblongata und die Brücke ab. Von der AICA zweigt meist die A. labyrinthi (auditiva) ab. Die Basilaris gibt danach eine Reihe von direkten Ästen zum Hirnstamm (Rami ad pontem) ab, die dort kleine Territorien versorgen. Die nächsten großen Äste sind die oberen Zerebellarterien (Aa. cerebellares superiores, SCA). Sie entspringen knapp unterhalb der Basilarisspitze. Von ihnen werden dorsorostrale Anteile des Kleinhirns, die oberen Kleinhirnstiele und ventrale Anteile des Mittelhirns und der Brücke versorgt. Schließlich teilt sich die Basilaris in die beiden Aa. cerebri posteriores auf. In dieser Region entspringen

5

168

5

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

u.a. die Aa. chorioideae posteriores und die Aa. communicantes posteriores (Pcom), die die Verbindung zum Karotisstromgebiet herstellen. Aus der Pcom und dem proximalen Anteil der PCA entspringen eine Reihe von perforierenden Ästen, die u.a. den Hypothalamus und den Thalamus versorgen (Aa. thalamoperforantes posteriores) und mit einzelnen Ästen auch an der Blutversorgung der hinteren inneren Kapsel teilnehmen (Aa. thalamogeniculatae). Die PCA entsteht phylogenetisch aus dem Karotisstromgebiet, ist aber bei Primaten meist dem Vertebralis-BasilarisGebiet zuzuordnen. Übrig bleibt dann die Pcom, die in Kaliber und Ausprägung sehr stark variiert. Manchmal ist sie einseitig nicht angelegt. In anderen, seltenen Fällen entspringen beide Posteriores direkt aus der Interna, ohne eine Verbindung zur A.basilaris zu haben (sog. embryonaler Abgang der PCA). Funktionelle Einteilung der Hirnarterien. Die Hirnarterien werden in Zirkumferenzarterien und in perforierende Arterien eingeteilt. Diese Einteilung ist im Hirnstamm besonders gut zu erkennen (. Abb. 5.6). Die Zirkumferenzarterien entspringen

aus dem Circulus arteriosus und aus der Vertebralis/Basilaris und verlaufen auf der Hirnoberfläche (Pia-Arterien) über die laterale und vordere Konvexität bis zur Haubenregion. Auf ihrem Weg geben sie kleine Äste in nahegelegene Kortexabschnitte ab. In der Sylvischen Furche teilt sich die Media etwa in Höhe der Inselrinde in ihre verschiedenen Endäste, die nach frontal, parietal und temporal verlaufen. Sie gehen mit Ästen aus den Aa. cerebri anterior und posterior ausgedehnte, leptomeningeale Anastomosen (Heubnersche leptomeningeale Anastomosen) ein. Hieraus resultieren Grenzzonen, auf die noch im Detail eingegangen wird. Aus den proximalen intrakraniellen Gefäßen, aus dem Circulus arteriosus Willisii und den basalen Abschnitten der langen Zirkumferenzarterien entspringen die paramedianen, perforierenden Äste. Diese sehr dünnen Gefäße verlassen die Stammarterien fast rechtwinklig, streben sofort nach intrazerebral und haben im Verhältnis zu ihrem Gefäßlumen einen sehr langen, intrazerebralen Verlauf. Sie gehen kaum Anastomosen ein und sind funktionelle Endarterien, die in den Hemisphären die subkortikalen Kerngebiete und große Anteile des Marklagers versorgen.

Exkurs Kollateralen Für das ätiologische Verständnis der ischämischen Infarkte ist die Kollateralversorgung ein entscheidender Faktor. Physiologische Anastomosen von extrakraniellen Gefäßen stellen eine zusätzliche Sicherung der Blutversorgung des Gehirns dar. Die Gefäße der Hirnoberfläche und der Hirnrinde sind keine Endarterien, sondern durch Gefäßnetze miteinander verbunden (. Abb. 5.4). Die wichtigsten kollateralen Versorgungswege sind: 4 physiologische Anastomosen zwischen extra- und intrakraniellen Gefäßen,

4 der basale Arterienkreis (Circulus arteriosus Willisii) und 4 leptomeningeale Anastomosen. Bei intaktem basalen arteriellen Netzwerk kann der Verschluss in einem, manchmal auch mehreren zuführenden extrakraniellen Gefäßen lange toleriert werden. Das leptomeningeale Anastomosensystem zwischen ACA und MCA (parasagittale Grenzzone), zwischen Media-, Posterior- und Anteriorstromgebiet (parietookzipitale Grenzzone) und über den Kleinhirnhemisphären unterliegt ebenfalls starken individuellen Variationen.

A. ophthalamica A. cerebri ant. A. communicans ant. A. cerebri med. A. carotis int. A. communicans post. A. basilaris A. cerebelli inf. post. A. vertebralis a

b

. Abb. 5.3a–d. Variationen des Circulus arteriosus Willisii. a Normale Konfiguration, b Fehlendes A1-Segment auf der linken Seite, die beiden Aa. cerebri anteriores werden von rechts versorgt. Zusätzlich fehlende A. communicans posterior rechts. Die A. carotis interna versorgt ohne

c

d

Kollateralen vom Circulus arteriosus Willisii die Media und beide Anteriores. c Komplette Dissoziation von vorderer und hinterer Zirkulation durch Aplasie beider Aa. communicantes posteriores, d Direkt in der A. cerebelli inferior posterior endende A. vertebralis auf der rechten Seite

169 5.1 · Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns

Die Unterbrechung der Substratzufuhr hat ein rasches Erlöschen der Gehirnfunktionen zur Folge, da das Gehirnparenchym fast keine Sauerstoff- oder Glukosevorräte besitzt. Nach 68 s findet man in der grauen Substanz des Gehirns keinen molekularen Sauerstoff mehr; nach 34 min ist die freie Glukose verbraucht. Schon wenige Sekunden nach Unterbrechung des Blutstroms treten EEG Veränderungen auf. Nach 10–12 s tritt Bewusstlosigkeit ein und nach 45 min kommt es zu den ersten Nekrosen an Ganglienzellen. Einen Herzstillstand von 8–10 min Dauer kann das Gehirn nicht überleben. Auch bei Hypoglykämie unter 2,3 mmol/l Glukose im arteriellen Blut treten Bewusstseinsstörungen auf. Die extreme Abhängigkeit von ununterbrochener Substratzufuhr (und Abtransport von Metaboliten) verlangt, dass die Hirndurchblutung in sehr engen Grenzen konstant gehalten wird. Zerebrale Durchblutung Perfusionsdruck. Der zerebrale Blutfluss (CBF, cerebral blood flow) hängt von der Herzleistung, dem arteriellen Mitteldruck, dem peripheren Gefäßwiderstand und dem intrakraniellen Druck ab. Unter normalen Bedingungen kann der CBF mit dem mittleren, arteriellen Blutdruck gleichgesetzt werden. Wenn der intrakranielle Druck ansteigt, wird der CBF bei gleichbleibendem Blutdruck geringer. Der CBF entspricht dem Quotienten von Perfusionsdruck und Gefäßwiderstand. Über den Gefäßwiderstands kann der CBF beeinflusst werden. . Abb. 5.4. Schematische Darstellung verschiedener Anastomosen der arteriellen Versorgung des Gehirns. Dargestellt sind die A. carotis externa – A. ophthalmica Kollaterale und die leptomeningealen Kollateralen zwischen Aa. cerebri media, posterior und anterior sowie der basale Arterienring (Circulus art. Willisii)

> Formeln: 4 Perfusionsdruck = mittlerer arterieller Druck (maP)

intrazerebraler Druck (ICP) 4 Zerebraler Blutfluss (CBF) = Perfusionsdruck/

Gefäßwiderstand

. Abb. 5.5. Intrakranielle Aufteilung der Karotis interna in Aa. cerebri media und anterior (Karotis-T) und basale, zentrale Arterien. (Nach Huber 1979)

Aa. lenticulostriatae Aa. insulares A. striata anterior (Heubner) Aa. lenticulostriatae A. cerebri media

A. carotis interna

A. cerebri anterior

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt

Hirndurchblutung, Energiegewinnung und Ischämie

5

Zerebraler Blutfluss und Ischämieschwelle. Bei einem gesunden Erwachsenen beträgt der zerebrale Blutfluss (CBF) ca. 60– 80 ml pro 100 g Hirngewebe und Minute. Der CBF ist sehr auf Sicherheit ausgelegt, denn erst wenn er auf ca. 1/3 bis 1/4 des Ausgangswerts (etwa 20 ml/100 g/min) sinkt, kommt es zu neurologischen Funktionsstörungen.

abgeschätzt werden. Bestimmt wird die Ausdehnung der Penumbra von 4 dem Ausmaß der regionalen CBF-Minderung, 4 dem Ort des Gefäßverschlusses und dem Status der Kollateralen sowie 4 der Dauer des Perfusionsdefizits.

Regulation der Hirndurchblutung. Die Hirndurchblutung ist in einem breiten physiologischen Bereich, etwa zwischen arteriellen Mitteldruckwerten von 50–150 mmHg, durch die Autoregulation blutdruckunabhängig. Steigerung des Blutdrucks bei Belastung oder aus anderen Gründen, Abfall bei orthostatischer Dysregulation, starke Zunahme des Herzminutenvolumens bei körperlicher Anstrengung oder kurzfristige Abnahme, z.B. bei Extrasystolen, verändern beim Gefäßgesunden die Durchblutungsgröße des Gehirns nicht. Steigt der systemische Blutdruck an, kontrahieren sich die Hirngefäße, bei sinkendem Druck erweitern sie sich, und halten dadurch die Hirndurchblutung konstant. Dieser Mechanismus wird Bayliss-Effekt genannt. Außerhalb der genannten Grenzen und in ischämisch geschädigtem Gewebe und seiner Umgebung geht die Autoregulation verloren, und die Durchblutung folgt passiv den Blutdruckveränderungen. Die oben genannten Blutdruckwerte gelten unter der Voraussetzung eines normalen pCO2. Eine Zunahme des paCO2 führt zur Vasodilatation, die Abnahme des paCO2 zur Vasokonstriktion. Diese Regulation findet in einem paCO2-Bereich von 25 mmHg bis etwa 60 mmHg statt. Jenseits eines paCO2 von 60 mmHg nimmt die Hirndurchblutung nicht mehr zu, die Vasodilatation ist dann maximal. Die Relation zwischen Hirndurchblutung und paCO2-Konzentration kann in dem genannten Bereich als linear angenommen werden. Bei Erhöhung des paCO2 um 1 mmHg resultiert eine 4%ige Zunahme der Durchblutung (. Abb. 5.8). Die CO2-Regulation ist blutdruckabhängig. Bei chronisch erhöhtem Blutdruck sind die Grenzen (nach oben) verschoben. Unter physiologischen Bedingungen ist die Durchblutung des Gehirns eng an den metabolischen Bedarf des Gewebes gekoppelt. Da die funktionelle Aktivierung des Gehirns mit einer Zunahme der metabolischen Aktivität verbunden ist, sind Hirnfunktion und regionale Hirndurchblutung gekoppelt.

Die Penumbra ist ein dynamisches Konzept. Auch die Dauer einer Ischämie ist von Bedeutung: Eine Durchblutungsminderung auf 15 ml/100 g/min würde nach den obigen Regeln einer reversiblen Funktionsstörung entsprechen. Wenn diese Störung über längere Zeit anhält, kann es auch bei zunächst ausreichend erscheinenden Durchblutungswerten zur Infarzierung kommen. Eine frühe Rekanalisation, die im Übrigen auch physiologisch, leider zu selten, vorkommt, rettet das Gewebe und verbessert die Prognose, da die Funktion bei ausreichender Perfusion wieder aufgenommen wird. Eine längere Zeit andauernde grenzwertige Minderperfusion kann auch späte Veränderungen im Gewebe hervorrufen, die nicht einer typischen Infarzierung entsprechen. Oft sind dann nur Neurone, nicht aber Gliazellen betroffen: Man spricht vom »verzögerten neuronalen Tod« (delayed neuronal death).

Penumbra. Der CBF-Bereich zwischen Infarkt- und Ischämieschwelle wird auch als Penumbra, als ischämischer Halbschatten, bezeichnet. Dies ist das Hirnareal, das gefährdet und funktionsgestört ist, aber bei zeitiger Therapie gerettet werden könnte. Wie ausgedehnt die Penumbra im Einzelfall ist, kann nur über (zeitaufwendige und komplizierte) Untersuchungen wie PET, Diffusions- und Perfusions-MRT oder Perfusions-CT

Versagen des Funktionsstoffwechsels. Wenn die Durchblutung in einem Gehirnabschnitt unter die Ischämieschwelle sinkt, kommt es bald zu einem Versagen des Funktionsstoffwechsels. Auch die Ionenpumpen funktionieren nicht mehr ausreichend. Das Membranpotential bricht zusammen, Kaliumionen strömen in den Extrazellulärraum, während Natrium- und Kalziumionen intrazellulär angereichert werden. Hierdurch wird die Zelloberfläche negativiert, und die elektrische Erregbarkeit der Membranen erlischt. Zunächst ist diese Depolarisierung der Zellmembran reversibel. Dauert sie länger an, treten auch strukturelle Schäden auf (. Abb. 5.9). Aufgrund des Sauerstoffmangels fällt die Energiegewinnung durch den Zitronensäurezyklus aus, die anaerobe Glykolyse tritt ein und führt zur Azidose. Diese ist auch für die Entstehung des ischämischen Hirnödems, das durch Zellschwellung entsteht, mitverantwortlich. Das Hirnödem führt zur Druckerhöhung und damit zur weiteren Minderung des lokalen CBF. Es folgt eine Kaskade von metabolischen Schritten, die schließlich zur strukturellen Schädigung der Zelle führen. Exzitotoxizität. In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung der terminalen Freisetzung von exzitatorischen Transmittern, wie z.B. dem Glutamat, erkannt worden. Diese werden in unphysiologisch hoher Konzentration freigesetzt und öffnen Kalziumkanäle, was zu intrazellulärer Anreicherung von Kalzium führt. Die Produktion von freien Radikalen, Leukotrienen, von NO-Synthetase und NO (. Abb. 5.10) führt zu einer frühen zusätzlichen Schädigung der ohnehin gefährdeten Zellen.

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171 5.1 · Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns

. Abb. 5.6. Gefäßversorgung des Hirnstamms auf dem Niveau der Brücke. Es sind die Versorgungsgebiete der paramedianen, der kurzen und der langen zirkumferenten Äste aus der A. basilaris sowie der A. cerebelli inferior anterior und A. cerebelli superior angegeben. Man sieht, dass die paramedianen und die kurzen, zirkumferenten Äste vorwiegend den Brückenfuß, die übrigen Arterien vorwiegend die Brückenhaube versorgen

Mitversorgung durch A. cerebelli sup. möglich Territorium der langen zirkumferenten A. Mitversorgung durch A. cerebelli inf. ant. möglich Territorium der kurzen zirkumferenten A.

N. V.

Territorium der paramedianen A. A. basilaris

Hirndurchblutung (ml / min / 100 g) 100 90 zwischen 35 - 60 mm Hg:

80 ANAEROB

70

AEROB

4 % Zunahme Hirndurchblutung

60 O2 Gluc.

Glykolyse

2 ATP

Pyr

Zitronensäurezyklus

40 H 2O

Lact.

1 mm Hg

50

Atmungskette

40

20

60

arterieller pCO2 (mm Hg)

80

38 ATP . Abb. 5.7. Anaerobe Glukoseverwertung in der Glykolyse und oxidative Umsetzung von Glukose in der Atmungskette. ATP Adenosintriphosphat; Gluc. Glukose; Lact. Laktat; Pyr. Pyruvat. (Aus Hacke 1991)

. Abb. 5.9. Schwellen für die zerebrale Mangelperfusion (Funktions- und Infarktschwelle) und die kritische Oxygenierung mit Darstellung der assoziierten EEG- und EPVeränderungen sowie der Membranfunktionsstörungen, die der Gewebsschädigung zugrunde liegen. (Aus Hacke 1991)

. Abb. 5.8. CO2-Reaktivität der Hirndurchblutung: Im Bereich zwischen 25 mmHg und 60 mmHg besteht eine lineare Abhängigkeit zwischen paCO2 und Hirndurchblutung, die sich in 4%iger Zunahme pro mmHg ausdrückt. (Aus Hacke 1991)

zerebrovaskuläre Reserve

CBF P aO 2

60 100

irreversible Gewebeschädigung

"Penumbra" (Halbschatten)

20 40

8 30 - 25

Ischämieschwelle

Infarzierungsschwelle

verlangsamt verändert

isoelektrisch fehlend

elektrische Funktion EEG Ev. Pot.

normal normal

0

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.10. Die Kaskade der Reaktionen im Ablauf einer ischämischen Schädigung, die zur metabolischen Entgleisung führt (. auch Abb. 5.9). (Aus Hacke 1991)

Ischämie

Membranstörung

verstärkter Ca2+ Einstrom

Zellschädigung

Nekrose

freie Fettsäuren ARACHIDONSÄURE

Transmitterfreisetzung

EIKOSANOIDE Prostaglandine Thromboxane Leukotriene

freie Radikale

5 Regulation der zerebralen Durchblutung. Die Sicherheit der ze-

rebralen Durchblutung wird durch mehrfache Schutzmechanismen gewährleistet. Hierzu zählen 4 die physiologische Perfusion weit oberhalb der Infarktschwelle, 4 das Kollateralensystem (Circulus arteriosus Willisii) und die leptomeningealen Kollateralen (7 oben) sowie 4 die Autoregulation. Durch die Autoregulation bleibt die Hirndurchblutung weitgehend vom arteriellen Blutdruck unabhängig. Ischämieschwelle, Infarktschwelle und Penumbra. Der Schwellenwert der lokalen Hirndurchblutung, bei dessen Unterschreiten neurologische Funktionsstörungen auftreten, wird Ischämieschwelle (auch Funktionsschwelle) genannt. Verschiedene Hirnregionen und auch verschiedene Zellarten haben unterschiedliche Ischämieschwellenwerte. So ist der Hirnstamm etwas weniger empfindlich als das Großhirn und die Hirnrinde etwas empfindlicher als das Marklager. Bei Unterschreitung der Infarktschwelle kann die zelluläre Integrität der Hirnzelle nicht aufrechterhalten werden, die Zelle stirbt. Neben der absoluten Höhe der Restdurchblutung und des Sauerstoff- bzw. Glukoseanteils im Blut entscheidet auch die Dauer einer bestimmten Perfusionsbehinderung darüber, ob nur eine Ischämie (Funktionsstörung) oder ein Infarkt (Gewebszerstörung) auftritt (. Abb. 5.9 und 5.10). Das bedeutet, dass eine Durchblutung, die eigentlich noch knapp über der Infarktschwelle liegt, nach einiger Zeit nicht mehr ausreicht, um die Zellen intakt zu halten: Es kommt zum Infarkt. In der Umgebung des Infarktkerns befindet sich Hirngewebe, dessen CBF zwischen Infarkt- und Ischämieschwelle liegt und das gefährdet und funktionsgestört ist, aber bei zeitiger Therapie gerettet werden könnte. Es wird als Penumbra bezeichnet Die Penumbra ist kein stabiles Gewebeareal, sondern stark fluktuierend. Je länger eine kritische Minderzirkulation besteht, desto eher wird potentiell rettbares Gewebe doch infarziert.

5.2

Epidemiologie und Risikofaktoren

5.2.1 Epidemiologie Die Inzidenz der Schlaganfälle wird in Deutschland auf 150– 200/100.000 Einwohner und Jahr geschätzt. Davon entfallen etwa 80–85% auf ischämische Infarkte, die restlichen 15–20% auf intrazerebrale Blutungen, Subarachnoidalblutungen und Sinusthrombosen, die in den folgenden Kapiteln besprochen werden. Die Prävalenz von Personen, die mit den Folgen eines Schlaganfalls leben, beträgt etwa 700.000 Einwohner in Deutschland. Es gibt gravierende Unterschiede in der Inzidenz weltweit. Besonders im früheren Ostblock werden Inzidenzen von 300 oder mehr Schlaganfällen pro 100.000 Einwohnern berichtet, während die Inzidenz im Mittelmeerraum niedriger ist. Allgemeine Prognose nach Schlaganfall Art des Schlaganfalls (Ischämie oder Blutung), Schwere des Infarkts und Begleiterkrankungen spielen für die Prognose eine entscheidende Rolle. Die Prognose erklärt auch die volkswirtschaftliche Bedeutung. Hierbei hilft eine Faustregel, die natürlich nicht präzise ist: In der Vergangenheit, d.h. bis vor etwa 10 Jahren, konnte man eine 25%-Regel postulieren, die besagte, dass etwa ein Viertel der Patienten nach der Diagnose eines ischämischen Infarkts innerhalb von 3 Monaten sterben würde, ein weiteres Viertel mit einer schwere Behinderung bei teilweiser oder vollständiger Pflegebedürftigkeit überleben und das nächste Viertel der Patienten zwar eine neurologische Behinderung davontragen, dabei aber in weiten Bereichen des täglichen Lebens unabhängig von Hilfe sein würde. Nur 25% aller Schlaganfallopfer erreichten einen Zustand, der äußerlich keine erkennbare Behinderung zeigen würde, wobei doch viele dieser Patienten darüber klagten, dass sie nicht die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität wiedererlangt hätten, wie sie vor dem Schlaganfall bestand. Dies betrifft vor allem kognitive Funktionen, neuropsychologische Leistungen wie Belastbarkeit, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit, die Bewältigung mehrerer parallel ablaufender Aufgaben (multitasking) und, wenn die dominante Hemisphäre betroffen war, Wortflüssigkeit und lexikalische Fähigkeiten. (Zur Prognose bei

173 5.2 · Epidemiologie und Risikofaktoren

Exkurs Skalen zur Messung von Langzeitergebnissen nach Schlaganfall Die Ebenen, auf denen die Überlebensqualität nach einem Grad Schlaganfall analysiert werden kann sind komplex und können sehr detailliert sein. Neurologische Ausfälle, neuropsychologische und psychische Folgen, die Einbuße besonderer früherer Fähigkeiten in musischen, intellektuellen oder sportlichen Bereichen, aber auch einfache Dinge wie das Bewältigen einfacher Kulturtechniken und täglicher Anforderungen (ADL, activities of daily living) sind bei der Beurteilung des individuellen Schicksals von Bedeutung. Diese detaillierte Beurteilung verbietet sich natürlich in großen epidemiologischen Erfassungen oder bei der Beurteilung der Behandlungserfolge in großen klinischen Studien. Die modifizierte Rankin-Skala (mRS) ist eine sehr einfache Skala zur Erfassung des Grades der Behinderung nach einem Schlaganfall ist. Sie wird heute häufig als Endpunkt bei klinischen Behandlungsstudien eingesetzt. Die Skala ist nicht metrisch. Sie hat 7 Grade. Oft wird diese grobe Skala noch dadurch vereinfacht, dass eine Dichotomisierung in mRS 0 und 1 versus 2–6 (ohne Behinderung versus behindert oder tot) oder mRS 0–2 versus 3–6 (unabhängig versus abhängig oder tot) vorgenommen wird. Auf diesen Graduierungen des Behandlungserfolgs basieren die Ergebnisse der großen Akutbehandlungsstudien.

Definition

Erläuterung

mRS 0

ohne Behinderung, keine Einschränkungen im täglichen Leben

neurologische Restsymptome können bestehen

mRS 1

minimale Behinderung, keine Einschränkungen im täglichen Leben

leichte neurologische Behinderung ist möglich

mRS 2

Behinderung, Einschränkungen im täglichen Leben, aber unabhängig

deutliches neurologisches Defizit

mRS 3

deutliche Behinderung, weitgehend unabhängig, braucht manchmal Hilfe

deutliches neurologisches Defizit

mRS 4

deutliche Behinderung, weitgehend auf Hilfe angewiesen

bedingt mobil, limitierte Kommunikation

mRS 5

vollständig pflegebedürftig

bettlägerig, kaum/keine Kommunikation

mRS 6

Tod

intrazerebralen Blutungen und nach Subarachnoidalblutung 7 Kap 6 und 9.) Heute hat sich die Prognose durch Therapie und Rehabilitation eindeutig verbessert, speziell wenn man von der Altersgruppe der unter 80-Jährigen ausgeht. Die Sterblichkeit ist auf 10–15% reduziert worden, auch der Anteil der Schwerbehinderten ist leicht gesunken (ca. 20%). Der Anteil der leicht Behinderten ist in etwa gleich geblieben und etwa 40% der Betroffenen erreichen eine gute Überlebensqualität mit den oben gemachten Einschränkungen. Diese Verschiebung finden wir auch bei den älteren Patienten, wenn gleich ausgehend von einer schlechteren Gesamtprognose: Ein Patient jenseits der 80, mit vielen Vorerkrankungen und einem sehr schweren Schlaganfall hat zwar eine viel höhere Frühmortalität, und seine Rehabilitationschancen sind geringer, aber insgesamt auch besser geworden.

natürlich keine arithmetische Gültigkeit in Bezug auf die letzten epidemiologischen Daten hat): Das Risiko, nach einem ischämischen Schlaganfall jeder Ursache oder jedes Schweregrades, in den nächsten 3 Jahren einen weiteren Infarkt zu erleiden, liegt ohne Behandlung bei 12–15%. Etwa 4% der Rezidive entstehen in den ersten 14 Tagen nach dem Ereignis, dies ist also die gefährlichste Zeit. Weitere 4–5% ereignen sich bis zu Ende des ersten Jahres, und die verbleibenden 5–6% treten danach auf. Bestimmte Infarktursachen wie kardiale Embolien bei Vorhofflimmern (s.u.) haben deutlich höhere Rezidivraten, andere liegen weit niedriger, z.B. Infarkte nach Dissektionen (s.u.) oder Rezidive nach Amaurosis-fugax-Attacken (s.u.).

Rezidive Wenn ein Mensch einen Schlaganfall erlitten und überlebt hat, bedeutet dies ein Risiko dafür, weitere Schlaganfälle zu erleiden. Auch hier gilt, dass die Statistik nicht ohne weiteres auf den Einzelfall übertragbar ist: Je nach Ursache des Schlaganfalls und abhängig davon, wie die Sekundärprophylaxe durchgeführt wird und Risikofaktoren kontrolliert werden können, gelten andere Werte. Aber auch hier hilft eine einfache, didaktische Regel (die

Es ist nicht überraschend, dass die Risikofaktoren, die das Auftreten eines Schlaganfalls begünstigen, weitgehend mit den Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen übereinstimmen (. Tabelle 5.1). Als zusätzliche Risiken für ischämische Infarkte treten kardiologische Krankheiten, die mit einem erhöhten Embolierisiko verbunden sind, hinzu: höhergradige Rhythmusstörungen (Lown IVb, Sick-Sinus-Syndrom), Klappenfehler und Klappenersatz, Vorhofseptumdefekte, abgelaufene Myokardin-

5.2.2 Risikofaktoren

5

174

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Tabelle 5.1. Risikofaktoren für ischämische Insulte

5

Risikofaktor

Relatives Risiko (x-fach)

Prävalenz in der Bevölkerung [%]

Alter

Verdopplung pro Dekade nach 55 Lj.

alle

Geschlecht

24–30% höheres Risiko bei Männern

Alle Männer

Genetische Disposition

1,9fach höher bei Verwandten ersten Grades

Arterielle Hypertonie

3–5

25–40

Herzkrankheit (nicht spezifiziert)

2–4

10–20

Idiopathisches Vorhofflimmern

6–16

5

Diabetes mellitus

2–3

4–8

Alkoholmissbrauch

1–4

30–40

Hyperlipidämie

1–3

6–40

Zigarettenrauchen

2–4

20–40

Bewegungsmangel

2

20–40

Karotisstenose – asymptomatische – symptomatische

2 3–6

3 2

farkte und Kardiomyopathien. Man kann die Risikofaktoren in modifizierbare und nichtmodifizierbare einteilen. Nichtmodifizierbare Risikofaktoren Nichtmodifizierbare Risikofaktoren sind Alter, Geschlecht und die genetische Disposition zu kardio- und zerebrovaskulären Krankheiten: Schlaganfälle werden mit zunehmendem Alter immer häufiger, Männer erleiden häufiger Schlaganfälle als Frauen, und es ist unzweifelhaft, dass selbst bei gut kontrollierten Risikofaktoren bestimmte Patienten aus genetischer Disposition heraus einen Schlaganfall erleiden, während andere Patienten mit dem gleichen Risikoprofil nicht erkranken. Modifizierbare Risikofaktoren Bluthochdruck. Dies ist der wichtigste und auch der am besten zu beeinflussende Risikofaktor. Bluthochdruck erhöht das relative Risiko, einen Schlaganfall (ischämisch und hämorrhagisch) zu erleiden, um das 4- bis 5fache. Ein Anstieg des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg erhöht das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, um 10%. Weiterhin besteht ein eindeutiger Anstieg des Schlaganfallrisikos mit steigendem diastolischen Blutdruck. Bedenkt man die Prävalenz des Bluthochdrucks in der Bevölkerung, so wird die Bedeutung der Hypertonie für die Schlaganfallentstehung klar. Vorhofflimmern. Das Hirninfarktrisiko erhöht sich bei unbehan-

deltem, nichtrheumatischem Vorhofflimmern auf das 6- bis 16fache, allerdings ist die Prävalenz des Vorhofflimmerns viel geringer als die des Hypertonus. Besonders häufig führt Vorhofflimmern zu Hirnembolien, wenn komplizierende Faktoren wie koronare Herzkrankheit, Hypertonus, Herzinsuffizienz mit Vorhofdilatation und linksventrikuläre Dysfunktion hinzukommen.

Offenes Foramen ovale (OFO). Ein persistierendes offenes Fora-

men ovale ist viel häufiger bei Patienten, bei denen ein Schlaganfall ohne andere ätiologische Erklärung vorliegt. Andererseits ist es auch bei Gesunden mit einer Inzidenz von 20–25% nicht selten. Daher ist fraglich, ob man es als Risikofaktor bezeichnen darf. Dass paradoxe Embolien aus dem venösen System über ein offenes Foramen ovale symptomatisch werden können, ist unbestritten. Fraglich ist nur, wie häufig dieser Mechanismus gilt. Viel spricht dafür, das ein OFO nur zusammen mit anderen Pathologien des Vorhofseptums, vor allem einem Vorhofseptumaneurysma, ein hohes Risiko für embolische Infarkte bedeutet. OFOs sind überzufällig assoziiert mit 4 Vorhofseptumaneurysmen, 4 Migräne, 4 Absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern 4 prothrombotischen Faktoren wie Prothrombinmutationen oder Faktor-V-Mangel. Ein besonderes Risiko liegt nur vor, wenn das OFO mit einem Vorhofseptumaneurysma (ASA) assoziiert wist. Dann muss man von einer 4-Jahres-Rezidivrate von 16% ausgehen. Ohne ASA beträgt das Rezidivrisiko etwa 3% auf 4 Jahre. Andere kardiale Krankheiten (. Tabelle 5.2). Mit relativ hohem

Schlaganfallrisiko verbunden sind der akute Myokardinfarkt, besonders der Vorderwandinfarkt, Aortenstenosen, künstliche Herzklappen, linksventrikuläre Hypertrophie (2,5fach), Kardiomyopathie mit hypokinetischem linken Ventrikel und Vorhofoder Ventrikelthromben. Weniger starke und zum Teil nicht endgültig gesicherte kardiale Risikofaktoren sind der Mitralklappenprolaps, die Mitralklappenstenose ohne Vorhofflimmern und ein weniger als 6 Monate zurückliegender Herzinfarkt.

175 5.3 · Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte

. Tabelle 5.2. Kardiale Emboliequellen

Häufige Ursachen

Seltenere und nicht endgültig gesicherte Ursachen

Idiopathisches Vorhofflimmern

Nicht bakterielle Endokarditis

Sick-Sinus-Syndrom

Myxom

Akuter Myokardinfarkt

Mitralklappenvorfall

Linksventrikuläres Aneurysma

Andere Arrhythmien

Kardiomyopathie

Länger zurückliegender Herzklappenersatz

Herzklappenkrankheit

Mitralringverkalkung

Offenes Foramen ovale (OFO) mit Vorhofseptumaneurysma

OFO ohne Begleiterkrankung

Infektiöse Endokarditis

Symptomatische Karotisstenose. Eine Karotisstenose, die schon früher zu einer zerebralen Durchblutungsstörung geführt hat (sog. symptomatische Karotisstenose), ist ein weiterer wesentlicher Risikofaktor. Interessant ist, dass eine asymptomatische Karotisstenose ebenfalls ein starker prädiktiver Faktor für das Auftreten eines Herzinfarkts innerhalb des nächsten Jahres ist. Fettstoffwechselstörung. Die Rolle von erhöhtem Cholesterin, erniedrigtem High-density-Lipoprotein (HDL) und erhöhten Low-density-Lipoproteinen (LDL) sowie erhöhten Triglyzeriden im Serum als Risikofaktor für den Schlaganfall ist nicht so bedeutend wie für den Myokardinfarkt. Ein Cholesterinwert von mehr als 240 mg/dl ist aber sicher ein Risikofaktor für den ischämischen Insult. Gerinnungsstörungen. Erhöhte Anti-Kardiolipin-Antikörper

oder Störungen im Gerinnungssystem (z.B. Protein-C- oder Protein-S-Mangel, Heterozygotie für Faktor V (Leiden) und Resistenz gegen aktiviertes Protein C) können einen Risikofaktor für Schlaganfälle darstellen. Diabetes. Bei Diabetes mellitus besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Dauer und Ausprägung des Diabetes und dem Auftreten von Schlaganfällen. Rauchen. Zigarettenrauchen weist einen klaren Zusammenhang zwischen Dauer und Menge des Zigarettenkonsums und dem Auftreten von Schlaganfällen auf. Infektionen, sCRP. Vorbestehende und interkurrente Infektionen

sind ebenfalls unabhängige Risikofaktoren. Ob erhöhte sCRPWerte (sensitives C-reaktives Protein, nicht das im Standardlabor bestimmte CRP), wie beim Myokardinfarkt, auch für den ischämischen Schlaganfall einen Risikofaktor darstellen, ist noch nicht entgültig geklärt.

Hyperhomozysteinämie. Ihre Bedeutung ist noch immer in der Diskussion. Möglicherweise besteht eine Beziehung zur Aktivierung von arteriosklerotischen Läsionen. Interessant ist die potentielle Beinflussbarkeit durch Vitaminsubstitution. Alkohol. Interessant ist, dass geringe Alkoholmengen einen eher protektiven Effekt für das Auftreten von Schlaganfällen haben. Höhere Mengen Alkohol verursachen jedoch hohen Blutdruck, und hier ist dann eine Beziehung zur Häufigkeit von Schlaganfällen unausweichlich. Ein linearer Bezug besteht auch zwischen der Alkoholmenge und dem Auftreten von Subarachnoidalblutungen oder Hirnblutungen. Weitere modifizierbare Risikofaktoren. In Kombination sind

Übergewicht und Bewegungsmangel ein oft unterschätzter Risikofaktor. Daneben erleichtern sie auch das Entstehen von Hypertonus und Diabetes. Migräne mit Aura (7 Kap. 16). Sie ist ein geringgradig ausgepräg-

ter Risikofaktor für ischämische Infarkte. Orale Kontrazeptiva. In Kombination mit Übergewicht und Rau-

chen führen diese bei Frauen zu einem leicht erhöhten Schlaganfallrisiko. 5.3

Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte

5.3.1 Arteriosklerose und Stenosen

der hirnversorgenden Arterien Arteriosklerotische Veränderungen der extra- und intrakraniellen Hirnarterien entstehen durch multifaktorielles Zusammenspiel verschiedenster Risikofaktoren. Störungen des Cholesterinmetabolismus und endotheliale Schädigungen scheinen die Ausprägung der Arteriosklerose zu bestimmen. Die Arteriosklerose nimmt mit dem Alter zu und ist bei Männern häufiger. 3Lokalisation. Arteriosklerose tritt aufgrund strömungsmechanischer Faktoren besonders häufig an der Karotisbifurkation auf. Ebenfalls betroffen sind die Vertebralisabgänge, die distale A. vertebralis im intraduralen Segment, die mittlere A. basilaris und der Karotissiphon. Seltener sind direkte arteriosklerotische Veränderungen an anderen intrakraniellen Gefäßen, z.B. im proximalen Segment der Media oder am Posteriorabgang. 3Einteilung der Stenosen. Oft führt die Arteriosklerose zu Gefäßverengungen, sog. Stenosen. Man unterteilt Stenosen, je nachdem, ob sie schon einmal neurologische Symptome verursacht haben oder nicht, in symptomatische Stenosen und asymptomatische Stenosen. Der Stenosegrad gibt in den Prozentwert die Lumeneinengung an.

5

176

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt

Morphologie der Plaques Die Morphologie der arteriosklerotischen Plaques ist vielfältig: Glattbegrenzte, epithelialisierte und kalzifizierte Einengungen des Gefäßlumens sind ebenso möglich wie breite, exulzerierte, in ihrer Oberfläche zerklüftete und durch appositionelle Thromben zusätzlich aufgelockerte Plaques. Einblutungen, Blutungsresorption, Thrombose, zusätzliche Lipidablagerungen und Verkalkungen sowie fibröse Umwandlungen können die Mor-

5

phologie der Plaques mitbestimmen. Ulzerative Veränderungen an den Plaques sind häufig die Ursache von Embolien, die durch den turbulenten Blutfluss in dieser Region losgelöst werden und in die Gehirnzirkulation gelangen. Eine Plaqueruptur führt zur akuten Thrombose und damit zum Gefäßverschluss oder zur Embolie.

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Infarkte bei hämodynamisch wirksame Stenosen Hämodynamisch bedingte Infarkte entstehen bei signifikanter Drosselung des Perfusionsdrucks mit Verlust des Druckgefälles in der Gefäßperipherie oder im Zentrum eines von außen kollateralisierten Hirnbezirks. Unter normalen Bedingungen werden Stenosen unter 80% Lumeneinengung nicht hämodynamisch wirksam. Dies ändert sich, wenn mehrere Stenosen hintereinander geschaltet sind oder wenn starke Anämie, systemische Hypotonie, Schock, verzögerte Reanimation oder veränderte rheologische Parameter des Blutes hinzukommen. Endstrominfarkte. Diese ereignen sich im Ausbreitungsgebiet der langen, nichtkollateralisierten Markarterien, da sich erst dort der kritische Perfusionsabfall bemerkbar macht. Grenzzoneninfarkte. Sie entstehen im Grenzgebiet zwischen dem Versorgungsgebiet zweier oder mehrerer Hirnarterien und werden auch als Wasserscheideninfarkte bezeichnet. Pathophysiologie. Unterschreitet der Blutfluss die kritischen Schwellen, kommt es zu fluktuierenden Funktionsstörungen

Eine grobe Einteilung der Stenosegrade in niedriggradig (90%) ist klinisch praktikabel. Wenn an der Karotisbifurkation der Abgang der ACI mit mehr als 80–90% Lumeneinengung betroffen ist, kann die Stenose hämodynamisch relevant werden. Die Stenose kann sich über das Stadium einer Pseudookklusion, bei der nur noch ein minimaler Restfluss in einem von Thromben nahezu ausgefüllten, distalen Karotissegment zu finden ist, zum Verschluss entwickeln. > Stenosen der hirnversorgenden Gefäße können hämodynamisch bedingte Infarkte auslösen, aber auch Ursache von Embolien sein.

Dilatative Arteriopathie Eine Sonderform der Arteriosklerose ist die dilatative Arteriopathie. Die betroffenen Gefäße, meist die Basilaris, oft die intrakra-

und später zum Infarkt. Wenn Kollateralen in Funktion treten, können hochgradige Stenosen und Verschlüsse der großen, hirnzuführenden Gefäße toleriert werden. Nicht selten sind mehrere hirnversorgende Arterien kritisch eingeengt. Manchmal hat man Patienten vor sich, bei denen beide ACI verschlossen sind und eine Vertebralarterie stenosiert ist, deren gesamte zerebrale Blutversorgung also von einer Vertebralarterie und den Ophthalmikakollateralen abhängt. Tandemstenosen sind aufeinanderfolgende Stenosen an einem Gefäß, z.B. an der Karotisgabel und im Karotissiphon. Über die hämodynamische Wirksamkeit entscheidet die höhergradige der beiden Stenosen. In der hinteren Zirkulation ist die mittlere A. basilaris eine Prädilektionsstelle für Arteriosklerose. Auch hier kann ein Verschluss weitgehend asymptomatisch toleriert werden, wenn eine gute Kollateralisierung über das zerebelläre leptomeningeale Netzwerk und retrograd aus dem Karotisterritorium erfolgt. Andererseits tendieren hochgradige Stenosen der A. basilaris zur zusätzlichen Thrombose und können dann unter dem Bild eines akuten Basilarisverschlusses lebensbedrohliche Symptome verursachen.

nielle ICA, seltener die MCA, können stark erweitert (fusiformes Aneurysma) und elongiert sein. Der Blutfluss sinkt in den Gefäßen, und die Thromboseneigung steigt. Manchmal wird das Gefäß so groß, dass es die umgebenden Hirnstrukturen komprimieren kann. An der Basilaris wird diese Arteriosklerose vom dilatativem Typ auch als Megadolichobasilaris bezeichnet. 5.3.2 Lokale arterielle Thrombosen Arteriosklerose an den großen Hirnbasisgefäßen wie der intrakraniellen Karotis, der MCA und der Basilaris kann neben der stenotischen Einengung der Gefäße auch zu lokalen Thrombosen führen. Es gibt also hämodynamische und embolische Mechanismen bei diesen Lokalisationen. Vermutlich kommen für die Entstehung solcher Läsionen noch andere Faktoren wie die genetische Prädisposition (Arteriosklerose dieser Gefäße ist bei Asiaten

177 5.3 · Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte

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Emboliequellen Arterioarterielle Embolien 4 Embolien von der Karotisbifurkation: Arteriosklerotische Stenosen jeder Ausprägung an der Karotisgabel tragen ein Embolierisiko, das von Plaquemorphologie und Stenosegrad abhängt. Beim Verschluss eines Gefäßes kommt es nicht selten zur akuten periokklusionellen Embolie, die die klinischen Symptome beim symptomatischen Gefäßverschluss auslöst. Deshalb muss beim Verdacht auf einen akuten Gefäßverschluss eines extrakraniellen Gefäßes immer überprüft werden, ob nicht gleichzeitig eine supraokklusionelle Embolie in eine intrazerebrale Arterie stattgefunden hat. Embolien von intrakraniellen Stenosen der ICA oder ihrer Äste sind selten. In der hinteren Zirkulation sind Embolien von intrakraniellen Vertebralistenosen in die Basilaris, die Zerebellararterien und in die A. cerebri posterior nicht ungewöhnlich. 4 Embolien aus der Aorta: Die aszendierende Aorta ist nach neuen Untersuchungen ebenfalls ein häufiger Ausgangspunkt von arterioarteriellen Embolien, da sie besonders stark von arteriosklerotischen Veränderungen, die sich auch auf die Abgänge der großen hirnversorgenden Arterien erstrecken können, betroffen ist.

und Afroamerikanern häufiger), Infektionen und eine gesteigerte Thromboseneigung ins Spiel. 5.3.3 Embolien Embolien können aus dem Herzen (kardiale Embolie), aus den hirnzuführenden Arterien (Aorta, Karotis, Vertebralarterien) oder den intrakraniellen Arterien stammen (Karotissiphon, intrakranielle Vertebralis, Basilaris) stammen. Sie können in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen sein: Es gibt frische (paradoxe) venöse Embolien, frische arterielle Plättchenthromben, die von arteriosklerotischen Plaques losgelöst werden können, und organisierte, z.T. verkalkte oder cholesterinreiche Embolien. Embolische Infarkte führen zu typischen Territorialinfarkten (s.u.). Kleine Embolien können aber auch Infarkte von Lakunengröße verursachen, wenn sie penetrierende Arterien verschließen. Die häufigste Ursache eines Hirninfarkts ist der embolische Verschluss einer zerebralen Arterie. Er liegt etwa 30% aller Schlaganfälle zugrunde. 5.3.4 Intrazerebrale Arteriolosklerose

(Mikroangiopathie) Alter, Hochdruck und andere Risikofaktoren wie Diabetes und Hypercholesterinämie verursachen arteriosklerotische Ver-

Kardiale Embolien. Herzkrankheiten wie idiopathisches Vorhofflimmern, Herzklappenkrankheiten, der akute Myokardinfarkt, die koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz oder ventrikuläre Hyperthrophie prädisponieren zu Schlaganfällen (. Tabelle 5.2). Das Vorhofflimmern ist mit einem hohen Schlaganfallrisiko verbunden, wenn komplizierende Faktoren wie Herzinsuffizienz oder koronare Herzkrankheit hinzutreten. Das unkomplizierte idiopathische Vorhofflimmern ohne Vorhofdilatation stellt ein viel geringeres Risiko dar. Der akute Myokardinfarkt führt häufig zu einem zusätzlichen Schlaganfall, besonders wenn ventrikuläre Thromben entstehen. Ein persistierendes offenes Foramen ovale ist viel häufiger bei Patienten, bei denen ein Schlaganfall ohne andere ätiologische Erklärung vorliegt. Andererseits ist es auch bei Gesunden mit einer Inzidenz von 20–25% nicht selten. Ein OFO ist nur zusammen mit einem Vorhofseptumaneurysma ein Risiko für embolische Infarkte. Vorhof- oder Ventrikelthromben und ulzerierte Aortenklappen sind häufige Emboliequellen.

änderungen der kleinen intrazerebralen Gefäße (sog. Mikroatherome), die zunächst elongiert werden. Danach kommt es zu einer Lipohyalinose genannten Verdickung der Gefäßwand. Das Lumen wird hierdurch eingeengt. Lipidreiche Makrophagen können einwandern. Wanddefekte und kleine Wandaneurysmen, die Ursache hypertensiver Basalganglienblutungen sein können, bilden sich aus. Diese Veränderungen betreffen nahezu ausschließlich die von basal penetrierenden lentikulostriären Arterien und Rami ad pontem. Die Okklusion der kleinen Gefäße führt durch arteriosklerotischen Verschluss oder zusätzliche Thrombose zu subkortikalen, kleinen Infarkten, sog. Lakunen. 5.3.5 Dissektionen 3Pathogenese. Pathogenetisch liegt Dissektionen eine Einblutung in die Gefäßwand zugrunde. Diese kann unter der Intima, aber auch in der Media oder unter der Adventitia liegen. Bei der subintimalen Dissektion kann eine erhebliche Lumeneinengung bis hin zum Verschluss des Gefäßes resultieren. Bei subadventitialer Dissektion kann hingegen eine Dilatation des Gefäßes mit Pseudoaneurysmabildung entstehen. Bei etwa der Hälfte der Patienten lässt sich ein vorhergehendes, mehr oder weniger schweres Trauma als Ursache der Dissektion feststellen. Hierzu gehören direkte Schlag-, Schuss-, Stichverletzungen, Hyperextension des Halses, chiropraktische Manöver, Operationen, Gurtver-

5

178

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

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Amyloidangiopathie Auch die deszendierenden kortikalen Arterien, die von den leptomeningealen Gefäßen abgehen, können pathologisch verändert sein. Hier findet sich meist eine Verdickung der Gefäßwand mit Amyloidablagerungen. Sie lassen sich mit Kongorot anfärben (deshalb auch »kongophile Angiopathie«). Wandveränderungen führen zu Fragmentierung und Verlust der Tunica elastica interna. Mikroaneurysmen können sich ausbil-

5

den und prädisponieren zu Blutungen. Eine Kombination mit einer subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie (SAE, 7 Kap. 5.5.5) ist möglich. Nur am Rande sei erwähnt, dass es auch eine familiäre, genetisch determinierte Amyloidangiopathie gibt. Gefäßveränderungen durch Amyloid sind nicht selten mit Amyloidablagerungen (senile Plaques) bei Alzheimer-Krankheit assoziiert.

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Seltenere Ätiologien ischämischer Infarkte Koagulopathien. Schlaganfällen können Faktoren, die mit einer erhöhten Gerinnungsbereitschaft des Blutes einhergehen, zugrunde liegen (. Tabelle 5.3). Bei jüngeren Patienten, die keine arteriosklerotischen Risikofaktoren haben, sollte man daher nach Gerinnungsstörungen wie AT-III-Mangel, Protein-CMangel und Protein-S-Mangel suchen. Allen ist gemeinsam, dass sie etwas häufiger Thrombosen im venösen System verursachen, arterielle Gefäßverschlüsse sind jedoch bei allen beschrieben. In letzter Zeit wird der Resistenz gegen aktiviertes Protein C (APC-Resistenz) und Anti-Kardiolipin-Antikörpern eine große Bedeutung zugeschrieben. Seltene Krankheiten wie die thrombotische thrombozytopenische Purpura und die disseminierte intravasale Gerinnung können zu Schlaganfällen führen. Unter Heparinbehandlung kann es zur heparininduzierten Thrombozytopenie kommen, die auch zu thrombotischen Verschlüssen von Hirngefäßen führen kann.

farkten. Spezifische Antikörper, zirkulierende Immunkomplexe und Endotoxine können die Gefäßwand direkt schädigen und Vasospasmen oder Thrombosen verursachen. Immunologische Mediatoren sind auch die Ursache von umschriebenen vaskulitischen Veränderungen bei bakteriellen oder viralen Infektionen. Hier können auch granulomatöse, direkt entzündliche Arteriitiden (z.B. bei Lues, Tbc, Pilzinfektionen) auftreten. Immunkomplexvermittelte Erkrankungen sind 4 die Panarteriitis nodosa (PAN), 4 der systemische Lupus erythematodes (SLE) und die Wegener-Granulomatose, 4 die Takayashu-Arteriitis und die allergische Angiitis (ChurgStrauss) (. Tabelle 5.3). Immunmechanismen werden auch bei der Entstehung von Schlaganfällen (ischämischen Infarkten und Blutungen) bei Drogenabusus (Heroin, Kokain, Crack, Ecstasy) diskutiert.

Immunologische Mechanismen. Immunmechanismen führen zu Vaskulitiden der Hirngefäße und konsekutiv auch zu Hirnin-

letzungen bei Autounfällen und vieles andere mehr. Bei der anderen Hälfte der Patienten findet man jedoch keine traumatische Ursache und muss nach anderen prädisponierenden Faktoren suchen. Eine angeborene Störung des Aufbaus der Gefäßwand (fibromuskuläre Dysplasie, Ehlers-Danlos-Syndrom, MarfanSyndrom) wird bei manchen Patienten gefunden. Auch scheinen spontane Dissektionen oft im Zusammenhang mit Infektionen aufzutreten (. Tabelle 5.3). 3Lokalisation. Besonders häufig finden sich Dissektionen dis-

tal der Karotisgabel bis zum Eintritt der Karotis in die Schädelbasis, aber auch im petrösen Segment und selten im Karotissiphon. Die Vertebralarterien sind vor allem in ihren distalen Anteilen (an der Atlasschleife, am Duradurchtritt und im intrakraniellen Segment) betroffen (7 Kap. 5.5.3). Dissektionen der intrakraniellen Arterien sind viel seltener.

5.4

Einteilung der zerebralen Ischämien

5.4.1 Einteilung nach Schweregrad

und zeitlichem Verlauf Zerebrale Ischämien mit völliger oder weitgehender Rückbildung der Symptome (flüchtige Ischämien) Die Terminologie ist im Wandel. Der Begriff transitorisch-ischämische Attacke (TIA) mit Spontanremission der neurologischen Symptome innerhalb von 24 h ist nicht länger zu halten, da verschiedene Studien gezeigt haben, dass die meisten flüchtigen Symptome, die länger als 30 min andauern, zu nachweisbaren Läsionen im Gehirn führen. Auch ist das Schlaganfallrisiko nach einer »TIA« und nach einem kompletten Infarkt innerhalb der ersten 30 Tage identisch, wenn bei einer TIA in der Bildgebung (CT, MR-DWI) bereits Ischämiezonen demarkiert sind. Der

179 5.4 · Einteilung der zerebralen Ischämien

. Tabelle 5.3. Seltene Ursachen von ischämischen Insulten. (Mod. nach Gorham et al. 1994; Brass 1994)

Arterielle Dissektion Direkt traumatisch

Bedingt traumatisch

Fraglich traumatisch/spontan (ca. 50%)

Auto/Motorradunfall

Sportaktivitäten

Husten, Niesen

(selten HWS-Distorsion)

(ohne direktes Trauma)

Zähneputzen

Chiropraktische Manöver

Basketball, Ringen, Tennis, Ski, Fußball u.v.m.

Überkopf-Arbeit

Mundhöhlenverletzung Schütteltrauma (Kindesmisshandlung)

. Tabelle 5.3 (Fortsetzung)

Entzündliche, immunologische und ätiologisch ungeklärte Ursache von Schlaganfällen 1. Infektiöse Vaskulitis

Bakteriell – Treponemen (Lues, Borreliose) – Tuberkulose Pilze – Mukormykose – Aspergillose Viral – Herpes zoster – Zytomegalie Parasiten – Zystizerkose

2. Sekundäre Vaskulitiden

Riesenzellarteriitis Takayasu-Syndrom Arteriitis temporalis Isolierte Vaskulitis des ZNS Nekrotisierende Vaskulitis Panarteriitis nodosa Allergische Angiitis Systemischer Lupus Hypersensitivitätsvaskulitis Wegener-Granulomatose Sklerodermie Sarkoidose Mitochondriopathien Hyperhomozysteinämie Sneddon Syndrom

3. Unspezifische Angiopathien

Fibromuskuläre Dysplasie Spontane Dissektion Moya-Moya-Syndrom Angiopathie nach Bestrahlung

starke Kopfwendung (Militär, Autofahren)

Schlägerei (Karate)

Hämatologische Ursachen 1. Faktormangel

AT III Protein C; APC-Resistenz Protein S Plasminogen Plasminogenaktivator

2. Faktorenüberexpression

Faktor V Faktor VIII

3. Überproduktion von Plasmaproteinen

Paraproteinämien Kryoglobulinämie Hyperfibrinogenämie

4. Zelluläre Störungen

Hämoglobinopathien Plättchenhyperaggregation Polyzythämie Thrombozythämie Leukämie

5. Immunologische prothrombotische Syndrome

thrombozytisch/thrombozytopenische Purpura Heparininduzierte Thrombozytopenie Antiphospholipid-Antikörpersyndrom Tumorassoziierte Koagulopathien

Übergang von der TIA zum Infarkt mit völliger oder weitgehender Rückbildung der Symptome ist fließend. Zerebrale Ischämien mit bleibenden Ausfallserscheinungen (vollendeter Infarkt, Infarkt mit bleibenden Symptomen) Kennzeichen des vollendeten Infarkts sind neurologische Ausfälle, die sich stabilisiert haben und persistieren. Sind nur leichte neurologische Ausfälle zu finden, spricht man von einem vollendeten Infarkt mit leichtem oder mäßigem Defizit. Ein vollendeter Infarkt mit erheblichem Defizit zeigt sich z.B. mit einer schweren Aphasie, einer fortbestehenden Hemianopsie und einer

hochgradigen Hemiparese bis Hemiplegie. Nicht selten sind kompletten Infarkten mit ausgedehnten Funktionsstörungen flüchtige Attacken oder vollendete Infarkte mit leichtem Defizit im gleichen Strombahngebiet vorausgegangen. 5.4.2 Einteilung nach der Infarktmorphologie Morphologische Befunde in CT und MRT enthalten Hinweise auf den Entstehungsmechanismus des ischämischen Infarkts. Ganz wesentlich ist die Unterscheidung, ob es sich um Läsionen handelt, 4 die auf den Verschluss penetrierender, kleiner intrazerebraler Arterien (Mikroangiopathie) oder 4 großer pialer oder extrakranieller Arterien (Makroangiopathie) zurückzuführen sind (. Abb. 5.11 und 5.12; . Tabelle 5.4). Weiterhin geben die morphologischen Befunde Hinweise auf die Infarktursache, z.B. auf eine Embolie.

5

180

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs TIA, flüchtige Ischämie und progredienter Infarkt

5

Eine alte, noch immer oft benutzte, aber inzwischen überholte Einteilung zerebraler Ischämien stützt sich auf die Beschreibung des zeitlichen Verlaufs der Ischämie. Man unterschied 4 die transitorisch-ischämische Attacke (TIA), 4 den Infarkt mit guter oder völliger Remission (reversibles ischämisches neurologisches Defizit, RIND), 4 den progredienten (oder fluktuierenden) Insult und 4 das Stadium des vollendeten Infarkts, das mit stabilem Defizit oder partieller Rückbildung einhergehen kann. Der Begriff »vollendeter Infarkt« sagt nichts über das Ausmaß des neurologischen Defizits aus. Ursprünglich beschrieb man als TIA fokale neurologische Funktionsstörungen, die innerhalb von 24 h vollständig reversibel sind. In der Realität sind sie viel kürzer, 80% der Attacken dauern weniger als 30 min und nur 5% dauern länger als 6 h. Die meisten flüchtigen Symptome, die länger als 30 min andauern, führen zu nachweisbaren Läsionen im Gehirn. Entsprechend ist auch die neue Definition der TIA: Die Symptome müssen sich innerhalb von 1 h vollständig zurückbilden und dürfen in der bildgebenden Diagnostik keine morphologische Läsion hinterlassen haben. Die Behandlung von Patienten in

der Frühphase einer Ischämie sollte daher unabhängig von der – ohnehin nur retrospektiv festzulegenden Klassifikation – erfolgen. Dennoch ist das Konzept der sich schnell vollständig zurückbildenden Durchblutungsstörung weiterhin sehr wichtig: Der flüchtigen, voll reversiblen Attacke können in engem zeitlichem Zusammenhang neue, schwerere und nicht mehr reversible Ausfälle folgen. Die TIA ist und bleibt ein wichtiges Warnsignal. Entgegen einer immer noch weit verbreiteten Meinung rechtfertigt eine rasche klinische Besserung oder eine nur gering anhaltende oder fluktuierende Funktionsstörung nicht eine abwartende Haltung. Im Gegenteil, diese flüchtigen Ischämien sollten Anlass sein, prophylaktisch nach einer behandelbaren Ursache zu fahnden. Wird dies versäumt, droht den Patienten Invalidität oder Tod nach einem vollendeten Infarkt. Der seltene progrediente Insult stellt diagnostisch und therapeutisch ein besonderes Problem dar. Über Stunden (im hinteren Kreislauf auch über Tage) nehmen die Ausfälle an Schwere und Ausmaß immer mehr zu. Verlaufsformen mit fluktuierender Symptomatik, mit Remissionen (Crescendo-TIA) und mit kontinuierlicher fortschreitender Verschlechterung der neurologischen Ausfälle sind möglich.

Facharzt

Makro- und Mikroangiopathie Makroangiopathien können thrombembolisch, autochthon thrombotisch oder hämodynamisch (Verlust des Druckgradienten) entstehen. Territorialinfarkte. Sie entstehen durch embolischen oder lokal thrombotischen Verschluss von großen Hirnoberflächenarterien. Sie sind oft keilförmig auf das Versorgungsgebiet (Territorium) der betroffenen Arterie beschränkt (. Abb. 5.11e und 5.12e). Bei partieller Kollateralisierung des Randbezirks eines solchen Territorialinfarkts entstehen zentrale Infarkte. Die Okklusion der Aa. lenticulostriatae am Abgang das Gefäßbündels aus der A. cerebri media führt zu einem ausgedehnten Basalganglieninfarkt, der eine Sonderform eines Territorialinfarkts darstellt (. Abb. 5.11f ). Embolien stammen vom Herzen, aus der Aorta ascendens und von arteriosklerotischen Plaques. Lokale Thrombosen der Hirngefäße sind bei Vaskulitis, Arteriosklerose und Koagulopathien zu finden, sie sind in der vorderen Zirkulation selten, spielen aber in der hinteren Zirkulation eine wesentliche Rolle. Hämodynamische Infarkte. Hier unterscheiden wir Endstrominfarkte (im distalen Ausbreitungsgebiet der penetrierenden

Arterien, »letzte Wiesen«) und Grenzzoneninfarkte zwischen den Versorgungsgebieten von zwei oder drei großen Gefäßen (. Abb. 5.11c,d). Ihnen liegen immer hochgradige, hämodynamisch wirksame Stenosen (oder Verschlüsse) der extrakraniellen Gefäße (Karotisgabel, Vertebralisabgang, distale Vertebralis) oder der intrakraniellen großen Arterien (Karotissiphon, proximale Media, Basilaris) zugrunde. Neben der arteriosklerotischen Ätiologie kommen auch Dissektionen der Arterien infrage. Mikroangiopathien. Als Mikroangiopathie bezeichnet man eine durch Mikroatherome, Lipohyalinose und fibrinoide Nekrose gekennzeichnete Wandveränderung der kleinen Gefäße. Sie führt zu isolierten oder multiplen Thrombosen der kleinen, dünnen, tief in das Hirngewebe penetrierenden Arterien. Dem entspricht das Muster der lakunären Infarkte (. Abb. 5.11a,b und 5.12a, b). Sie sind meist Ausdruck einer »Systemkrankheit« der kleinen Hirngefäße. Einzelne oder einseitig betonte Infarkte von Lakunengröße ( Makroangiopathien können thrombembolisch bedingt

5.5

oder hämodynamisch entstanden sein. Als Emboliequellen kommen das Herz, die aufsteigende Aorta und die hirnversorgenden Arterien in Frage. Mikroangiopathien entstehen durch eine meist durch Hypertonie hervorgerufene Veränderung der Wand der kleinen, intrazerebralen Endarterien (Mikroatherome und Lipohyalinose).

Klinik und Gefäßsyndrome

5.5.1 Zerebrale Ischämien in der

vorderen Zirkulation Territorium der A. carotis interna Arteriosklerose am Abgang der Interna führt häufig zu hemisphärischen Ischämien mit flüchtigen kontralateralen Halbseitensymptomen. Wegen der guten Kollateralisierung führt ein Karotisverschluss meist nur zu Symptomen des Mediaterritoriums. Ein proximaler Verschluss der ACI kann wegen der oft ausrei-

5

182

5

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.12a–f. Schematische Darstellung der verschiedenen ischämischen Läsionsmuster im Großhirn entsprechend der Anordnung in Abb. 5.11. a Multiple lakunäre Infarkte an den Prädilektionsstellen, b Typischer Befund bei subkortikaler arteriosklerotischer Enzephalopathie (M. Binswanger) mit lakunären Infarkten an den Prädilektionsstellen und diffuser, periventrikulär betonter Dichteminderung der weißen Substanz, c Unterschiedlich große Endstrominfarkte (,,letzte Wiesen«) an typischer Stelle, streng subkortikal, d Vorderer und hinterer Grenzzoneninfarkt mit kombinierter kortikaler und subkortikaler Läsion. Nachweis in den apikalen Schichten, e Unterschiedlich große Territorialinfarkte der vorderen, mittleren und hinteren Mediaastgruppe (links), des gesamten Mediaterritoriums (Mitte) sowie des Anterior- und Posteriorgebiets (rechts). Ein sehr kleiner kortikaler Territorialinfarkt eines peripheren Mediaastes ist ebenfalls abgebildet, f So genannter »ausgedehnter Linsenkerninfarkt«. Das Territorium der Aa. lenticulostriatae ist in allen Schnittebenen betroffen. (Nach Ringelstein 1985)

Mikroangiopathien

Makroangiopathien

Hämodynamisch bedingte Infarkte

Territorialinfarkte

aa

c

e e

b b

d d

ff

. Tabelle 5.4. Ätiopathogenetische Einteilung der Infarkte

Infarktmuster

Ätiologie

Risikofaktoren

1. Lipohyalinose

1. Hypertonus 2. Diabetes

2. arterioarterielle Embolie

1. Hypertonus 2. Diabetes 3. Hypercholesterinämie

3. kardiale Embolie

1. Vorhofflimmern 2. Andere kardiale Quellen

1. Lipohyalinose

1. Hypertonus

2. kardiale Embolie

1. Vorhofflimmern 2. Andere kardiale Quellen

1. Lipohyalinose

1. Hypertonus 2. Diabetes

Mikroangiopathie Lakunäre Infarkte – Einzelne

– Multiple

Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie

183 5.5 · Klinik und Gefäßsyndrome

. Tabelle 5.4 (Fortsetzung)

Infarktmuster

Ätiologie

Risikofaktoren

1. Kardiale Embolie

1. Vorhofflimmern 2. Andere Quellen

2. Arterio-arterielle Embolie 1. Karotisstenose 2. Aortenarteriosklerose

Hypertonus Diabetes Hypercholesterinämie

3. Dissektion

1. Trauma 2. Infektion

4. Lokale Thrombosen

1. Gerinnungsstörung 2. Lokale Arteriosklerose 3. Vaskulitis 4. Drogen

1. Extrakranielle Stenosen 2. Intrakranielle Stenosen 3. Dissektion

1. Hypertonus, Diabetes 2. Hypercholesterinämie 3. Trauma

Makroangiopathie Territorialinfarkt

Hämodynamisch induzierte Infarkte

Gliederung von Ätiologie und Risikofaktoren nach Häufigkeitsrangfolge (1.–3.) und Bedeutung (fett hervorgehoben = sehr häufig und wichtig; kursiv hervorgehoben = eher selten).

chenden Kollateralisierung symptomfrei toleriert werden. Der – meist akut auftretende – distale Karotisverschluss (Karotis-TVerschluss) führt dagegen zu ausgedehnten Hirninfarkten mit schwersten neurologischen Ausfällen (maligner Infarkt). A. ophthalmica Die Amaurosis-fugax-Attacke (retinale TIA) ist ein sich meist vertikal, von oben nach unten ausdehnender Visusverlust auf einem Auge »wie ein sich senkender Vorhang«, der innerhalb von Minuten wieder verschwindet (. Abb. 5.13). Rezidive sind häufig. Ursache: meist embolischer, kurzdauernder Verschluss der Zentralarterie (Emboliequelle: Karotisbifurkation, selten kardial). A. cerebri media Das Mediasyndrom mit armbetonter Hemiparese, Hemihypästhesie und Dysarthrie bzw. Aphasie ist die häufigste klinische Manifestation eines Schlaganfalls. Es treten sensible, motorische oder sensomotorische, kontralaterale Halbseitensymptome, Störungen der Blickmotorik, Störungen der Sprechmotorik, neuropsychologische Syndrome wie Aphasien oder Apraxien, Lese- oder Rechenstörungen auf. Den Mediateilinfarkten liegen überwiegend embolische oder lokal atheromatös-thrombotische Läsionen zugrunde. Im CT findet 7 . Abb. 5.13. Synoptische Darstellung (a) der Dynamik von Gesichtsfeldveränderungen, (b) von retinalen Ischämieterritorien und (c) Gefäßprozessen in den Retinaarterien bei Amaurosis-fugax-Attacken. Mit wechselnder Lokalisation des Gefäßverschlusses (1–4) ändert sich auch die Symptomatologie entsprechend dem Ischämieterritorium. (Nach Toole 1984)

1a

1b

1c

2a

2b

2c

3a

3b

3c

4a

4b

4c

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184

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt

Subclavian-Steal-Syndrom

5

Es kann bei Stenosen bzw. Verschlüssen der linken A. subclavia proximal vom Abgang der A. vertebralis oder des rechten Truncus brachiocephalicus auftreten. Da die A. subclavia nicht mehr genügend Blut erhält, kehrt sich der Blutstrom in der betreffenden A. vertebralis um. Über diese Strömungsumkehr wird der ipsilaterale Arm versorgt (. Abb. 5.14a,b). Die verminderte Blutversorgung löst während der Muskelarbeit im betroffenen Arm Schmerzen aus. Das Anzapfen des Basilariskreislaufs reicht dabei nicht immer für die O2-Versorgung des Arms aus, so dass

man entsprechend dem verschlossenen Mediaast subkortikalkortikale territoriale Infarkte. Bei sehr kleinen Infarkten kann die Läsion auf den Kortex beschränkt sein und sich nur im MRT oder bei Gabe von Kontrastmittel im CT zeigen. Bei subkortikalen Ischämien, wie dem ausgedehnten Linsenkerninfarkt, steht eine Hemiparese, manchmal mit früher Tonus-

dieser rasch ermüdet. Immer besteht eine Blutdruckdifferenz zwischen beiden Armen. Oft ist der betroffene Arm pulslos. Nur selten kommt es zu fluktuierenden hämodynamischen Hirnstammsymptomen (Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, kurze Bewusstlosigkeit bei angestrengter Armarbeit). Die Diagnose ist bei rezidivierender, belastungsabhängiger Brachialgie, besonders nach Überkopfarbeit, einseitiger Pulsabschwächung und einer Blutdruckdifferenz über 25 mmHg systolisch klinisch sehr wahrscheinlich und wird mit Dopplersonographie und Angiographie bestätigt.

erhöhung, im Vordergrund. Nicht selten sind auch Sensibilitätsstörungen und, wenn die zentrale Sehbahn betroffen ist, eine Hemianopsie. Auch bei subkortikalen Infarkten treten in der Frühphase oft neuropsychologische Symptome auf: So wird eine initiale, globale oder Broca-Aphasie beim linksseitigen Linsenkerninfarkt beobachtet. Dies führt man auf eine durch den Basal-

A. basilaris

Aa. vertebrales

Aa. carotis

A. subclavia (Obliteration) Aorta

aa

. Abb. 5.14. a Schematische Darstellung der Fluss- und Kollateralverhältnisse bei proximaler Subklaviastenose und Subklavia-Anzapfsyndrom, b Angiographische Darstellung eines Subklavia-Anzapfsyndroms bei hochgradiger Subklaviastenose links. Auf den beiden oberen Bildern erkennt man die Stenose der A. subclavia und die

retrograde Füllung der linksseitigen A. vertebralis, über die sich dann die Subklavia anfärbt (unten links). Nach Dilatation der Subklaviastenose kommt es zur orthograden Füllung der Arteria vertebralis (rechts unten). (H. Zeumer, Hamburg)

185 5.5 · Klinik und Gefäßsyndrome

Facharzt

Wallenberg-Syndrom In etwa 50% der Fälle geht aus der PICA eine Arterie hervor, die den dorsolateralen Teil der Medulla oblongata versorgt. In anderen Fällen entspringt diese Arterie direkt der VA oder der proximalen Basilaris. Der embolische oder lokal thrombotische Verschluss dieses kleinen Gefäßes führt zum Wallenberg-Syndrom. In seiner klassischen Konstellation ist es relativ selten, Varianten sind jedoch häufig. Symptome: kontralateral am

ganglieninfarkt ausgelöste funktionelle Hemmung benachbarter kortikaler Areale zurück. Die Funktionsstörung lässt sich mit der PET als vorübergehende Minderperfusion und Drosselung von Stoffwechselvorgängen in dieser Region nachweisen. Hämodynamische Infarkte machen sich mit einer fluktuierenden kontralateralen Lähmung bemerkbar, bei der man manchmal eine Abhängigkeit vom systemischen Blutdruck feststellen kann. A. cerebri anterior Die ACA ist selten ( Der akute Verschluss der A. basilaris ist lebensbedroh-

lich. Unbehandelt liegt die Sterblichkeit bei 80%.

A. cerebri posterior Aus dem proximalen Anteil der PCA entspringen einige Arterien (A. choroidea posterior, Aa. thalamoperforantes anterior und posterior) die Thalamus, Corpus geniculatum laterale und obere Hirnstammanteile versorgen. Verschlüsse dieser Arterien führen bei Thalamusinfarkten zu vielfältigen Symptomen mit Apathie, Desorientiertheit, Aspontaneität, homonymer Hemianopsie zur Gegenseite, Hemineglect, Hemiataxie sowie Gedächtnisstörungen, Blickparesen und Okulomotorikstörungen. Bei Posteriorteilinfarkten kann, wenn obere Anteile betroffen sind, auch eine Quadrantenanopsie nach unten entstehen. 5.5.3 Klinische Besonderheiten bei Dissektionen

Vertebralisdissektion Vertebralisdissektionen im intrakraniellen Segment können eine Subarachnoidalblutung verursachen. Häufiger ist aber auch hier der schwere lokalisierte Nackenkopfschmerz (ipsilateral zur Dissektion) sowie Symptome, die denen eines embolischen Kleinhirnarterien-, Posterior- oder Basilarisverschlusses entsprechen. Die Symptome können auch nur flüchtig sein. Bilaterale Dissektionen der Vertebralarterien sind nicht selten Ursache des tödlichen Ausgangs von Verkehrsunfällen.

3Allgemeine Symptome. Das Spektrum der Symptome ist

5.5.4 Lakunäre Infarkte

breit. Es reicht von monosymptomatischen Scherzen im vorderen Halsdreieck (Differentialdiagnose Karotidodynie, 7 Kap. 16.4.6) über ein ipsilaterales Horner-Syndrom (Läsion des Halssympathikus in der Umgebung der ICA), kaudale Hirnnervenläsionen, vor allem von N VIII und X bis hin zu den Fernsymptomen eines

Lakunäre Läsionen treten als Folge mikroangiopathischer Veränderungen der perforierenden Arterien (Rami ad pontem, Thalamusarterien, Basalganglienarterien) auf. Wenn die Brücke betroffen ist, können rein motorische Halbseitensyndrome entstehen.

5

188

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Es gibt einige relativ typische lakunäre Symptome und Syndrome wie 4 die rein motorische Hemisymptomatik, 4 die rein sensible Halbseitensymptomatik, 4 die ataktische Hemiparese oder 4 das Dysarthria-clumsy-hand-Syndrom. Dennoch sollte man lakunäre Infarkte nur diagnostizieren, wenn sich der Verdacht in CT oder MRT bestätigt.

5

5.5.5 Multiinfarktsyndrome Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE) Die SAE (M. Binswanger) ist pathologisch-anatomisch durch viele lakunäre Infarkte in Stammganglien und Hirnstamm in Kombination mit einer vakuolären Demyelinisierung des Marklagers beider Hemisphären mit diffuser periventrikulärer Dichteminderung im CT gekennzeichnet. Neuropathologische Untersuchungen sprechen dafür, dass die großen, konfluierenden Entmarkungen im Marklager über eine Hyalinisierung der Arteriolen ischämisch bedingt sind. Die Abnahme des Perfusionsdrucks wird für die ischämischen Läsionen verantwortlich gemacht. Oft, aber nicht obligat und häufig erst bei mehrjährigem Verlauf kommt es zu einer intellektuellen und affektiven Nivellierung in Kombination mit neuropsychologischen Störungen. Eine apraktische Gangstörung (Differentialdiagnose: Normaldruckhydrozephalus; 7 Kap. 25) ist häufig. Die SAE ist die wichtigste Form der vaskulären Demenz. Status lacunaris Beim Status lacunaris des Hirnstamms liegen multiple, lakunäre Erweichungen im mittleren und unteren Hirnstamm vor, die die Bahnen für die unteren motorischen Hirnnerven lädieren. Der Verlauf ist schubweise. Neurologisch kommt es zur dysarthrischen Sprechstörung, Heiserkeit, Zungenlähmung, Gaumensegelparese und zur Steigerung des Masseterreflexes. Einzelbewegungen werden durch Massenbewegungen ersetzt. Das Sprechen ist heiser, mangelhaft artikuliert, häufig von schwachen Hustenstößen unterbrochen. Die Patienten verschlucken sich häufig. Charakteristisch ist auch das Auftreten von pathologischem Lachen und Weinen. Bei den Patienten mit diesen Symptomen findet man computertomographisch die morphologischen Kriterien der SAE. 5.5.6 Vaskulitische Infarkte Eine Vaskulitis im Zentralnervensystems kann Ausdruck einer systemischen Autoimmunkrankheit (häufig) und einer isolierten erregerbedingten (Lues, Borreliose, Tuberkulose) oder anderen autoimmunen Erkrankung im ZNS (selten) sein. Häufig betrof-

fen sind die Media, die Anterior und die Posterior, meist multilokulär. 5.6

Apparative Diagnostik

3Apparative Voraussetzungen. Diagnostik und Therapie der zerebrovaskulären Krankheiten verlangen heute gezielte und qualitativ hochwertige apparative Diagnostik. Zu den Mindestvoraussetzungen gehören: 4 ein 24 h pro Tag verfügbares und sachkundig betreutes Computertomographiegerät (CT), 4 eine kompetente Ultraschalldiagnostik, 4 ein normal ausgestattetes biochemisches Labor (einschließlich Liquordiagnostik), 4 internistisch/anästhesiologische Konsiliarversorgung und 4 eine neurochirurgische Abteilung in der Nähe.

Wünschenswert ist ein Magnetresonanztomographiegerät und die Möglichkeit der Angiographie als konventionelle digitale Subtraktionsangiographie und die MR- oder CT-Angiographie. Die einzelnen diagnostischen Methoden sind in 7 Kap. 4 dieses Buches detailliert besprochen worden. Hier geben wir nur Hinweise zum Ablauf und Zeitpunkt der Untersuchungen und auf besondere Befunde und Techniken, die für Schlaganfallpatienten relevant sind. 5.6.1 Computertomographie (CT) Auch wenn andere moderne Bildgebungstechniken eine umfassendere und sensitivere Diagnostik bei akuten Schlaganfällen erlauben, ist die CT aufgrund ihrer Verbreitung nach wie vor die wichtigste diagnostische Maßnahme beim Schlaganfall, insbesondere innerhalb der ersten 3 Stunden. Die Technik ermöglicht die Differenzierung zwischen intrazerebraler Blutung und ischämischer Läsion, Aussagen über Ort, Art, Alter und Ausdehnung des Infarkts, die Identifikation früher Infarktzeichen bei schweren, schlecht kollateralisierten Ischämien, den Nachweis älterer Infarktnarben und die Abgrenzung von anderen pathologischen intrakraniellen Befunden. CT-Angiographie Mit der CT-Angiographie (7 Kap. 4.3.2) ist auch die Darstellung kleinerer Gefäßstrukturen (bis 2 mm) und der leptomeningealen Kollateralisierung computertomographisch möglich. . Abbildung 5.19 zeigt die CT-Angiographie eines proximalen Mediaverschlusses der linken A. cerebri media in 3D-Rekonstruktion vor (a) und nach (b) Lysetherapie. Der Hauptvorteil für die Akutbehandlung des Schlaganfalls liegt in der Geschwindigkeit der Untersuchung, der geringen Invasivität und der Möglichkeit der flexiblen, dreidimensionalen Darstellung aus beliebigen Blickwinkeln. Diese Technik kann auch indirekte Aussagen über Kol-

189 5.6 · Apparative Diagnostik

Facharzt

Zeitliche Entwicklung der Infarkte im CT Für die Akutdiagnostik sind die Informationen, die sich aus der zeitlichen Entwicklung der Infarkte ergeben, von größter Bedeutung. In den ersten Stunden. In Abhängigkeit vom Ort des Gefäßverschlusses und dem Grad der Kollateralen können frühe Infarktzeichen bei Territorialinfarkten schon in den ersten 26 h nach Symptombeginn gefunden werden. Frühe Infarktzeichen (. Abb. 5.15a–d) sind: 4 Thrombuskontrast im betroffenen Gefäß (hyperdenses Mediazeichen, . Abb. 5.16a). Hierbei handelt es sich genau genommen nicht um ein Infarktzeichen, sondern den CT-Nachweis eines Thrombus in einer Hirnarterie, 4 frühe Hypodensität (. Abb. 5.15b), 4 Verlust der Differenzierung von grauer und weißer Substanz auf Basalganglien- oder Cortexniveau (. Abb.5.15c). Das Erkennen ausgedehnter, früher Infarktzeichen ist wichtig für die Auswahl von Patienten, die mit thrombolytischer Therapie behandelt werden sollen. Die frühen Infarktzeichen können sehr umschrieben oder ausgedehnt, z.B. auf das ganze Mediaterritorium bezogen sein. Nach Stunden bis Tagen. In den folgenden Stunden und Tagen demarkiert sich dann der Infarktbezirk. Er wird zuneh-

lateralisierung und Perfusionsausfall liefern. Die Methode unterliegt zurzeit einer rasanten Entwicklung. Perfusions-CT (PCT) Während der Passage eines Kontrastmittelbolus können dynamische CT-Bilder erfasst werden, aus denen funktionelle Parameterbilder des zerebralen Blutvolumens (CBV), zerebralen Blutflusses (CBF) oder der Zeit zum Kontrastmittelpeak (TTP) generiert werden können (. Abb. 5.20). Von der Perfusionstechnik her ist das PCT der PWI ebenbürtig, von Nachteil ist die der CT und CTA folgende zusätzliche Strahlenbelastung. Mit den CT-Scannern der neuen Generation (16-Zeiler und mehr) wird die Qualität und die Geschwindigkeit der Darstellung immer besser. Infarktmuster Einzelne Infarktmuster sind typisch für eine bestimmte Ätiologie: 4 Der komplette, meist raumfordernde Mediainfarkt (. Abb. 5.16, 5.18) mit Beteiligung der Basalganglien kommt nur beim embolischen, nichtkollateralisierten Verschluss der distalen ICA (Karotis-T) oder der proximalen Media vor. 4 Sitzt der Mediaverschluss hinter dem Abgang der lentikulären Gefäße, entsteht der Mediainfarkt unter Aussparung der Basalganglien.

mend dichtegemindert und lässt die genaue anatomische Lokalisation klarer erkennen. Größere Infarkte können durch Ödementwicklung anschwellen und einen raumfordernden Effekt haben (. Abb. 5.16). Kompression der Liquorräume bei einem raumfordernden Kleinhirninfarkt kann zum okklusiven Hydrozephalus führen (. Abb. 5.17). . Abbildung 5.18 zeigt einen einige Tage alten kompletten Mediainfarkt. Nach mehreren Tagen. Nach einigen Tagen können die Infarkte durch Schädigung der Blut-Hirn-Schranke Röntgenkontrastmittel aufnehmen. Es gibt jedoch, außer bei der CT-Angiographie, keinen Grund, beim ischämischen Infarkt Kontrastmittel zu geben. Fogging-Phase. Wenn der Infarkt etwa 10–18 Tage zurückliegt, führen Reparationsvorgänge im Infarktbezirk möglicherweise zu Dichteveränderungen, die den Infarkt verbergen können (Fogging-Effekt; fog = Nebel). Nach Wochen. Erst danach, ab der 3. bis 4. Woche, demarkiert sich die definitive Infarktnarbe. Nach transitorisch-ischämischen Attacken sind bei etwa 1/3 der Patienten asymptomatische Infarktläsionen, z.T. kortikal, z.T. subkortikal zu erkennen. Dieses Phänomen ist bei der MRT noch häufiger.

4 Der isolierte Basalganglieninfarkt ist charakteristisch für die embolische oder arteriosklerotische Verlegung der Abgänge der lentikulostriären Gefäße bei guter leptomeningealer Anastomosierung (. Abb. 5.10f). 4 Doppelseitige Posteriorinfarkte (. Abb. 5.21a) sind fast immer Folge einer Embolie in die Basilarisspitze, bei der es auch zu doppelseitigen Thalamusinfarkten und Infarkten im Mittelhirn kommen kann (. Abb. 5.21b). 4 Kleinhirninfarkt (. Abb. 5.17) und Infarkte im Hirnstamm sind charakteristisch für den intrakraniellen Vertebralisverschluss (. Abb. 5.22, hier wegen besserer Auflösung im MRT dargestellt). 4 Multiple Lakunen und ischämische Dichteminderung im Marklager (. Abb. 5.12a–f) kommen bei hypertensiver (SAE) oder genetisch bedingter Mikroangiopathie vor. > Der Schlaganfallpatient wird nach allgemeinmedizini-

scher Stabilisierung und Notfallversorgung praktisch immer zuerst computertomographisch untersucht. Nur bei wenig bedrohlichem klinischen Bild kann einmal die dopplersonographische Untersuchung am Anfang der diagnostischen Kette stehen.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.15a–d. Frühe Infarktzeichen im CT. a Zeichen der dichten A. cerebri media in einem etwa 24 h alten Infarkt. Man erkennt die hyperdense Nachzeichnung des gesamten horizontalen Anteils der A. cerebri media durch den Thrombus, b Ausgedehnter, früher kortikaler Infarkt links (12 h nach Beginn der Symptomatik). Der Verlust der Abgrenzung zwischen Mark und Rinde ist vollständig. Gleichzeitig erkennt man schon eine Kompression des Seitenventrikels. Beachtenswert ist die zusätzliche kleine hypodense Läsion auf der Gegenseite, subkortikal, die eine embolische Ursache nahe legt, c Die Basalganglien sind rechtshirnig nicht mehr abgrenzbar. Normale Darstellung der Hirnrinde. Dieses CT ist 4 h nach Beginn des Infarkts angefertigt worden, d Ausgedehnte, sehr frühe Infarktzeichen bei einem proximalen Mediaverschluss. Es deutet sich ein Infarkt im gesamten Mediaterritorium der rechten Hemisphäre mit Verlust der Rinde-Mark-Differenzierung und leichter, beginnender Hypodensität an. Die CTUntersuchung erfolgte 3 h nach Beginn der Symptomatik. (K. Sartor, Heidelberg; R. von Kummer, Dresden, M. Hartmann, Heidelberg)

. Abb. 5.16. Progrediente Ödementwicklung bei einem ischämischen Infarkt. Zwischen den beiden CTs liegen 36 h. Man sieht schon initial die erhebliche raumfordernde Wirkung des Infarkts, die von der ersten zur zweiten Untersuchung noch massiv zunimmt. Der Seitenventrikel ist komprimiert, es liegt eine deutliche Mittellinienverlagerung vor

191 5.6 · Apparative Diagnostik

. Abb. 5.17. a Raumfordernder Kleinhirninfarkt. Infarkt der A. cerebelli inferior posterior rechts mit Kompression des Hirnstamms, Verlegung des Aquädukts und Erweiterung der Temporalhörner als Ausdruck der zunehmenden Liquorabflußstörung (Hydrocephalus occlusus), b Nach dekompressiver Operation ist die raumfordernde Wirkung weniger ausgeprägt, der 4. Ventrikel wieder entfaltet und die Erweiterung der Temporalhörner reversibel. (M. Hartmann, Heidelberg)

a

b

. Abb. 5.18. Kompletter Mediainfarkt, etwa drei Tage alt mit schon deutlicher Raumforderung und Verlagerung der Mittellinie. (M. Hartmann, Heidelberg)

. Abb. 5.19a,b. CT-Angiographie. a 3D-rekonstruierte CT-Angiographie eines proximalen A.-cerebri-media-Verschlusses auf der linken Seite. Man erkennt den Abbruch des Gefäßes (Pfeil), b Nach thrombolytischer Therapie Reperfusion des verschlossenen Gefäßes. (R. von Kummer, Dresden)

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192

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.6.2 Magnetresonanztomographie (MRT) Konventionelle MRT Bei ischämischen Läsionen in der vorderen Zirkulation ist die MRT der CT nicht entscheidend überlegen. Dies wird anders, wenn es sich um Hirnstamminfarkte handelt (. Abb. 5.22). Hier ist das Auflösungsvermögen der MRT wegen geringerer Artefaktanfälligkeit besser. Dies bedeutet aber nicht, dass jeder Patient mit einem typischen Hirnstamminfarkt und fehlendem CT-Befund unbedingt noch ein MRT braucht. Die MRT sollte auch aus Kostengründen auf unklare Fälle, in denen vom Ergebnis der Untersuchung therapeutische Konsequenzen zu erwarten sind, beschränkt bleiben. Da fließendes Blut im MRT einen Signalausfall (flow void) verursacht, kann das Fehlen des flow void als Hinweis auf einen Perfusionsausfall interpretiert werden. Ein hyperintenses Signal in Projektion auf ein extrakranielles Gefäß mit gleichzeitigem Verlust des flow void findet man bei Dissektionen (Einblutung in die Gefäßwand und Stenose; . Abb. 5.23). Im axialen T2-Bild erscheint das betroffene Gefäß wie eine Zielscheibe mit hellem äußeren Blutrand und schwarzem Zentrum. Blutanteile verändern zeit- und stoffwechselabhängig ihr Signal in verschiedenen MR-Sequenzen, was eine zeitliche Einordnung von Blutungen erlaubt.

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MR-Angiographie Die MR-Angiographie beruht auf einer weiteren Analyse der Flusssignale und gibt exzellente Darstellungen der extra- und intrakraniellen Gefäße (. Abb. 5.24 und 5.25). Zwar werden der Stenosegrade eher überschätzt, und hochgradige Stenosen können als Verschlüsse erscheinen, dennoch ist die MR-Angiographie eine schonende, nichtinvasive Methode bei Patienten, denen man eine konventionelle Angiographie (noch) nicht zumuten will. Sie eignet sich auch für die Suche nach größeren Aneurysmen oder bei Verdacht auf Sinusvenenthrombose (MR-Venogramm).

. Abb. 5.20. CT-Perfusion. Darstellung des Blutvolumens un der Timeto-Peak Perfusion bei Karotis-T-Verschluss mit MCA und ACA-Perfusionsdefizit links. Das geringere Signal entspricht der Zunahme des Blutvolumens (oben) und der Verzögerung der Perfusion (unten). (M. Hartmann, Heidelberg)

Perfusions-MRT und Diffusions-MRT Diese Sequenzen (. Abb. 5.26) können frühe, ischämische Areale sichtbar machen und möglicherweise in Zukunft auch Penumbra und definitiven Infarkt unterscheiden helfen. Bislang sind sie nur an großen Zentren Routinemethoden. Man kann sich aber vorstellen, dass schon bald Schlaganfallpatienten in einer kurzen ( Die große ätiologische Bedeutung kardialer Embolien

4 vor Karotis-TEA (oft aber auch nur auf der Basis von Duplex-

und TCD-Befund), 4 vor oder bei interventionellen Eingriffen, 4 Verdacht auf Pseudoaneurysma nach Dissektion, 4 intrakranielle Gefäßstenosen, 4 Verdacht auf Pseudookklusion, 4 Verdacht auf Vaskulitis oder 4 wenn eine lokale Thrombolyse geplant ist. 5.6.5 Kardiologische Diagnostik Immer sind die klinische Auskultation des Herzens, häufige Blutdruckmessungen und ein EKG Teil der Aufnahmeroutine. Eine RR-Langzeitmessung und ein 24-h-EKG zur Aufdeckung von intermittierenden Rhythmusstörungen wird häufig durchgeführt. Das transthorakale Echokardiogramm (TTE) ist einfach und nichtinvasiv durchführbar, liegt aber in ihrer Empfindlichkeit besonders im Vorhof und im linken Ventrikel deutlich hinter der transösophagealen Echokardiographie (TEE) zurück. Für diese sollte aber eine besondere Indikation gestellt werden und der Verdacht auf eine kardiale Emboliequelle nach Ausschluss anderer Ätiologien schon dringend sein. Deutliche Vorteile weist die TEE im Nachweis von intrakardialen Thromben, von Septumveränderungen (OFO, Vorhofseptumaneurysma, . Abb. 5.31) und beim Nachweis arteriosklerotischer Veränderungen des Aortenbogens auf. Je früher die TEE nach einem Schlaganfall durchgeführt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, eine Emboliequelle zu finden. Ein Routine-TEE bei über 70-jährigen Hypertonikern mit Karotisstenosen oder bei Patienten mit Vorhofflimmern ist unnötig. Eine kardiologische und angiologische Untersuchung ist vor geplanter Karotisoperation wegen der häufigen Komorbidität (Atherothrombose als Systemkrankheit) notwendig.

macht, besonders bei jüngeren Schlaganfallpatienten ohne wesentliche andere Risikofaktoren, eine konsequente kardiologische Diagnostik erforderlich.

5.6.6 Labordiagnostik Die Labordiagnostik dient der Aufdeckung allgemeiner Risikofaktoren für Arteriosklerose, der Überprüfung anderer Organfunktionen in der Akutbehandlung des Schlaganfalls und dem Nachweis seltener Schlaganfallätiologien (Vaskulitis, Koagulopathie usw.). Die klinischen Laboruntersuchungen sind in . Tabelle 5.6 zusammengestellt. Die Liquordiagnostik ist nur bei Verdacht auf Vaskulitis sinnvoll. 5.6.7 Biopsien Gefäß- und Muskelbiopsien werden bei Verdacht auf Vaskulitis durchgeführt. Hautbiopsien sind bei jungen Patienten mit spontanen Gefäßdissektionen und bei Verdacht auf CADASIL, eine genetisch bedingte Mikroangiopathie (7 Kap. 5.9), hilfreich. ä Der Fall: Fortsetzung Es ist klar, dass die Patientin einen Schlaganfall erlitten hat. Ob eine Blutung oder ein Infarkt vorliegt, ist an der Symptomatik nicht zu erkennen. Der hohe Blutdruck könnte für eine Blutung sprechen, aber auch nach ischämischem Infarkt sind hohe Blutdruckwerte nicht ungewöhnlich. Idiopathisches Vorhofflimmern hat ein hohes embolisches Hirninfarktrisiko. Es bleiben also drei Differentialdiagnosen: 4 die intrakranielle Blutung, 4 die kardiale Embolie, 4 die arterioarterielle Embolie von einer Karotisstenose.

6

5

200

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.31a,b. Kontrastmittelübertritt bei offenem Foramen ovale mit Septumaneurysma. a TEE mit KM. Bubble-Übertritt durch kleines OFO mit Vorhofseptumaneurysma (Pfeil) (S. Bährle-Szabo, Heidelberg), b TEE mit Thrombus in situ, der durch das offene Foramen in den linken Vorhof ragt (Pfeil). (D. Mereles, Heidelberg)

5

a

b

Die Patientin wird innerhalb von 2 h ins Krankenhaus gebracht, und nach initialer Stabilisierung wird ein CT durchgeführt, das keine Blutung und nur geringe frühe Infarktzeichen in den Stammganglien zeigt.

Es liegt also keine Blutung vor. Dagegen finden wir Zeichen einer frühen ischämischen Läsion in den lateralen Basalganglien. Die Dopplersonographie zeigt eine etwa 70%ige Stenose der rechten ICA. Die transkranielle Dopplersonographie spricht für einen Verschluss im M1-Segment der rechten MCA, der durch die CTAngiographie bestätigt wird.

201 5.7 · Therapie

Leitlinien Diagnostik des Schlaganfalls* 4 Die CCT ist die wichtigste apparative Untersuchung bei Schlaganfallpatienten, die unverzüglich durchgeführt werden sollte (A). 4 Die Erhebung von Routinelaborparametern sowie EKG, Pulsoxymetrie gehört zu den Basisuntersuchungen und sollte bei jedem Schlaganfallpatienten durchgeführt werden (B). 4 Ultraschalluntersuchungen der extra- und intrakraniellen Gefäße und des Herzens dienen der Ursachenfindung des Schlaganfalls und sollten so früh wie möglich nach Symptom-

beginn durchgeführt werden, ohne allgemeine oder spezifische Therapiemaßnahmen zu verzögern (B). 4 Die MRT kann die CCT ersetzen, wenn sie rasch zur Verfügung steht und eine geeignete Sequenz zum Blutungsausschluss durchgeführt wird (z.B. T2*-Aufnahme) (B). 4 Diffusions- und perfusionsgewichtete MRT-Aufnahmen können zusätzliche Informationen zur Risiko-Nutzen-Abschätzung einer revaskularisierenden Therapie liefern (B). *Leitlinien der DGN 2005

. Tabelle 5.6. Klinische Laboruntersuchungen bei Patienten mit zerebralen Ischämien I

II

III

IV

Unbedingt notwendige Basisinformation (Praxis, Notambulanz)

Klinische Aufnahmeroutinea

Laboruntersuchung bei speziellen Fragestellungen

Bei Verdacht auf Vaskulitis

Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) Blutbild (Hb, Thrombozyten Erythrozytenzahl, Hämatokrit) Leukozyten Kreatinin Glukose Wünschenswert ferner Na+, K+, Quick, PTT, Fibrinogen

Diff.-Blutbild Harnstoff, Kreatinin Natrium, Kalium SGOT, SGPT, AP, GLDH, γ-GT, CK Glukose HbAIc Quick, PTT Gesamteiweiß, Elektrophorese, Harnsäure Cholesterin, Triglyzerideb

Zusätzl. Gerinnungsuntersuchung wie Fibrinogen, Protein C, Protein S, AT III, Fibrinogen-Spaltprodukte, APC-Resistenz Thrombozytenfunktionstest Lupus-Antikoagulans, Anticardiolipin-AK Blutkulturen, spezifische Entzündungsparameter wie Lues-, HIV-Serologie Lipidelektrophorese, HDL, LDL, VLDL, Apolipoproteine Blutzuckertagesprofil OGT TSH CDT

Protein-Elektrophorese C3, C4 CRP ANA ANCA ds-DNA Rheumafaktoren Liquorstatus Liquorimmunologie‚ BorrelienSerologie

a Die klinische Aufnahmeroutine ist von Klinik zu Klinik unterschiedlich; hier ist eine Laborroutine für Patienten auf Normalstationen dargestellt. Eine Reihe der Untersuchungen (Harnstoff, Kreatinin, T3, T4) dient auch der Patientensicherheit für den Fall geplanter Kontrastmitteluntersuchungen. b Nur bei Nüchternabnahme sinnvoll.

5.7

Therapie

5.7.1 Schlaganfall als Notfall Präklinische Versorgung Der Schlaganfall ist, wie der Herzinfarkt oder die Lungenembolie, als medizinischer Notfall zu behandeln. In der präklinischen Behandlungsphase ist eine sichere Differenzierung zwischen den einzelnen Schlaganfallsubtypen nicht möglich. Die Mehrheit der Schlaganfallpatienten erhält keine adäquate Therapie, weil sie nicht rasch genug das Krankenhaus erreichen. Beim Verdacht auf

einen Schlaganfall jeden Schweregrades soll der Rettungsdienst, bei schweren Schlaganfall mit Bewusstseinsstörung der Notarzt gerufen werden. Die erfolgreiche Versorgung des akuten Schlaganfalls beruht auf einer viergliedrigen Kette: 1. rasches Erkennen von und Reagieren auf die Schlaganfallsymptome (Angehörige, Patienten, Hausärzte), 2. umgehende Information der Rettungsdienste (Leitstellen), 3. bevorzugter Transport mit Voranmeldung am Zielkrankenhaus, 4. rasche und zielgerichtete Versorgung im Krankenhaus.

5

202

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Leitlinien zur Schlaganfallversorgung* 4 Schlaganfallpatienten sollten in Schlaganfallstationen behandelt werden. Deswegen sollten vermeintliche Schlaganfallpatienten ohne Verzögerung in ein Zentrum transportiert werden, das eine Stroke Unit oder zumindest eine strukturierte Schlaganfallversorgung aufweist (⇑⇑/A). 4 Der Schlaganfall ist als medizinischer Notfall anzusehen und erfordert das für Notfälle erforderliche Versorgungs-

5

Dies setzt eine verbesserte Information über die Symptome und richtiges Verhalten beim »Schlaganfall« für Betroffene und Angehörige, für Rettungsdienste und Aufnahmestationen, die Einbindung der Hausärzte und Notärzte in ein Akutversorgungssystem, verbesserte Transportwege in Kliniken, in denen adäquate Diagnostik und Therapie durchgeführt werden kann und Beschleunigung und Standardisierung der Abläufe in Notambulanz und Klinik voraus. Stroke Units In den Kliniken ist eine spezielle Organisation für die Behandlung von Schlaganfällen notwendig. Sinnvoll sind Schlaganfallspezialstationen (sog. Stroke Units), auf denen mit der Diagnostik und Therapie von Schlaganfällen besonders vertraute Neurologen, Internisten, Krankenschwestern, Logopäden und Krankengymnasten (Stroke Team) zusammenarbeiten und eine standardisierte Behandlung der Patienten durchführen. Die Behandlung auf einer Stroke Unit führt 4 zu einer Verkürzung der Behandlungsdauer, 4 zu einer beschleunigten Übernahme in Rehabilitationseinrichtungen und 4 zu einem geringeren Anteil an dauerhaft pflegebedürftigen oder abhängigen Patienten. Ziel aller Sofortmaßnahmen bei Schlaganfallpatienten ist es, eine Stabilisierung und Normalisierung allgemeiner Körperfunktionen (Herz-Kreislauf-, Lungenfunktionen, Flüssigkeitshaushalt, metabolische Parameter) herbeizuführen und, falls sich therapeutische Konzequenzen absehen lassen, den Patienten in eine Klinik zu bringen, in der Diagnostik und spezielle Therapie durchgeführt werden können. Bei inkompletten, leichteren Schlaganfällen kann eine rechtzeitige Therapie und Prophylaxe die Entwicklung eines viel schwereren Schlaganfalls verhindern. 5.7.2 Allgemeine Therapie Oxygenierung Störungen der Atmung sind in den ersten Stunden nach einem Schlaganfall, gleich welcher Genese, selten. Nur Patienten mit ausgedehnten, hemisphärischen oder vertebrobasilären Infarkten, großen Hirnblutungen, schweren Subarachnoidalblutungen

und Behandlungsnetzwerk sowie öffentliche Aufklärung (⇑/A). 4 Bei Auftreten eines Schlaganfalls ist unverzüglich der medizinische Notfalldienst zu verständigen und eine Einweisung in ein qualifiziertes Zentrum zu veranlassen (⇑/A). *Leitlinien der DGN 2005

oder Krampfanfällen sind primär ateminsuffizient oder haben frühzeitig eine reduzierte Vigilanz und damit ein erhöhtes Aspirationsrisiko. Eine gute Oxygenierung des Blutes ist entscheidend. Patienten mit akutem mittelschweren bis schweren Schlaganfall erhalten sofort Sauerstoff über eine Nasensonde (2–4 l/min). Blutdruckbehandlung In den ersten Stunden nach dem Schlaganfall haben ca. 70% der Patienten einen erhöhten arteriellen Blutdruck von 170/100 mmHg und mehr. Da der zerebrale Blutfluss direkt vom arteriellen Mitteldruck abhängig ist, führt eine Senkung des arteriellen Mitteldrucks zu einer Reduktion des lokalen zerebralen Blutflusses im Infarktareal und in der Penumbra. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt bei älteren Patienten mit vorbestehender Hypertonie. 4 Beim ischämischen Infarkt sollen erhöhte Blutdruckwerte nur dann gesenkt werden, wenn sie Werte von 200/110 mmHg bei wiederholten Messungen überschreiten. . Tabelle 5.7 stellt oral und parenteral zu gebende Antihypertensiva zusammen. Die orale Gabe des Kalziumantagonisten Nifedipin sollte wegen der Gefahr einer überschießenden Blutdrucksenkung vermieden werden. 4 Andere Kalziumantagonisten wie Nitrendipin können in der Akutphase bei dramatisch erhöhtem RR eingesetzt werden (Bayotensin acut®). Der systolische Blutdruck sollte nicht unter 150/160 mmHg liegen. 4 Besonders kritisch ist die Blutdruckeinstellung bei hämodynamisch induzierten Infarkten, bei denen man unter Umständen auch eine Anhebung des Blutdrucks mit hyperonkotischen Infusionen oder Medikamenten vornehmen muss. Blutzuckerkontrolle Sowohl Hypoglykämie als auch Hyperglykämie können ungünstige Auswirkungen auf die Überlebensfähigkeit der Neurone haben. Wir bevorzugen einen Blutglukosespiegel nicht über 150 mg/dl. 4 Werte über 200 mg/dl werden mit subkutaner, seltener intravenöser Gabe von Alt-Insulin behandelt. 4 Bei Hypoglykämie (Glukose-stix bei der Erstuntersuchung) sofort 10%ige Glukoseinfusion. Ansonsten werden keine glukosehaltigen Infusionen in den ersten Tagen nach Schlaganfall gegeben.

203 5.7 · Therapie

. Tabelle 5.7. Charakteristika verschiedener Antihypertensiva in der Behandlung des akuten Schlaganfalls.

Dosis

Wirkeintritt

Wirkdauer

Nebenwirkungen

α1-Rezeptorenblocker Urapidil

25-(50) mg Perfusor: 9–30 mg/h

2–5 min

HWZ: 3 h

Bradykardie Übelkeit

Beta-Blocker Metoprolol

1 mg/min (max 20 mg) Kombination Perfusor: Dihydralazin (1,5–7,5 mg/h)

2–5 min

HWZ: 3–6 h

Bradykardie, AV-Block, Bronchospasmus

Clonidin

0,15–0,3 mg Perfusor: 9–45 µg/h

5–10 min

HWZ: 6–10 h

Initiale Hypertension, Sedierung, Bradykardie

Vasodilatatoren Nitroprussid

0,25–10 µg/min × kg KG

sofort

2 min

Hirndruckerhöhung Zyanidvergiftung Thiocyanatvergiftung (Kombi: Nathiosulfat)

Alpha-/Betablocker Labetalol *

20–80 mg i.v.-Bolus

5–10 min

3–5 h

Erbrechen, Hypotension, Übelkeit, Schwindel

ACE-Hemmer Captopril

6,5–50 mg sublingual

15–30 min

4–6 h

Verminderter CBF, Sedierung, orthostatische Hypotonie

Zentrale Sympatholytika Clonidin

0,2 mg initia

0,5–2 h

6–8 h

Erhebliche Hypotension, besonders zusammen mit Diuretika, Bradykardie

Parenterale Substanzen

Orale Medikamente

* International in Richtlinien erste Wahl, in Deutschland nur über internationale Apotheke erhältlich

Infektbehandlung und Fiebersenkung Erhöhte Hirntemperaturen machen das Nervengewebe besonders empfindlich gegen ischämische Prozesse und vergrößern den ischämischen Schaden. Dementsprechend ist eine konsequente Fiebersenkung durch physikalische Kühlung und Antipyretika und schon beim Verdacht auf eine Infektion eine gezielte Antibiose indiziert. Viele Patienten mit zerebrovaskulären Krankheiten kommen mit einem vorbestehenden Infekt zur Aufnahme oder haben in der Akutphase erbrochen und/oder aspiriert und sind dadurch infektgefährdet.

4 Alternativ niedermolekulare Heparine, z.B. Fragmin P, 1-mal täglich 0,2 ml (entspricht 2500 IE Anti-Xa-Aktivität). 4 Zusätzlich werden Stützstrümpfe oder pneumatische Strümpfe und eine frühe intensive Krankengymnastik zur Thromboseprophylaxe angewandt.

> Vorsicht beim Senken des erhöhten Blutdrucks bei

Die Thrombolysebehandlung basiert auf der Vorstellung, dass eine möglichst rasche Rekanalisierung verschlossener Gefäße die Prognose des Patienten verbessert. Man unterscheidet: 4 systemische Thrombolyse mit einem Plasminogenaktivator, meist mit rekombinantem Gewebsplasminogenaktivator (rtPA: recombinant tissue plasminogen activator), 4 lokale Lyse mit Urokinase oder rtPA (s. Box).

Schlaganfallpatienten! Nur bei Blutungen ist eine frühe RR-Senkung sinnvoll, bei Ischämien kann die Blutdrucksenkung gefährlich sein. Man kann initial RR-Werte von systolisch 200 mmHg tolerieren. Fieber und erhöhte Blutglukosewerte müssen konsequent gesenkt werden!

Thromboseprophylaxe Schlaganfallpatienten mit höhergradigen Lähmungen haben ein deutlich erhöhtes Thrombose- und Lungenembolierisiko. 4 Eine s.c.-Heparinisierung zur Thromboseprophylaxe mit 10.000–15.000 IE Na+- oder Ca2+-Heparin pro Tag wird bei praktisch allen Patienten (auch bei SAB und Massenblutungen) eingesetzt.

5.7.3 Perfusionsverbessernde Therapie

(Thrombolyse)

Systemische Thrombolyse 3Zeitfenster. Es gibt bei der Lysetherapie ein enges Zeitfenster. Zugelassen ist die Behandlung bislang nur in einem 3-h-Zeitfenster. Es gibt eindeutige Hinweise auf eine Wirksamkeit bis zu 4½ h nach dem Beginn der Symptome. Entscheidend für den klinischen Erfolg der Lyse ist neben der Rekanalisierung die Qualität der Kollateralversorgung über leptomeningeale Anastomosen. Mit

5

204

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs Antikoagulation

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Die Frühantikoagulation dient der Prophylaxe von Rezidivinsulten, wenn eine Emboliequelle gesichert oder wahrscheinlich ist. Vermutet wurde, dass die frühe (s.c.- oder i.v.-)Antikoagulation auch eine Wirkung auf den Schlaganfall selbst habe. Diese Erwartung konnte für die i.v.-Vollheparinisierung nicht bestätigt werden. Die Datenlage für s.c.-Heparinisierung mit low-molecular-weight-Heparinen ist ebenfalls negativ. Das Risiko, ein Rezidiv eines kardioembolischen Hirninfarkts innerhalb von 14 Tagen nach dem ersten Schlaganfall zu erleiden, soll 2–5% betragen. Dieses Risiko schwankt sehr in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden kardialen Erkrankung. Die wesentliche Nebenwirkung einer Heparinisierung liegt in der sekundären hämorrhagischen Umwandlung des Infarkts, die aber meist ohne eine Verschlechterung des neurologischen Befunds abläuft. Vielerorts werden Patienten, die eine der in . Tabelle 5.8 aufgeführten Indikationen erfüllen, mit Heparin i.v. antikoaguliert:

4 Nach einer Bolusinjektion von 5000 IE werden sie kontinuierlich mit 1000 IE/h behandelt. Die partielle Thromboplastinzeit (PTT) soll auf das 2- bis 2,5fache des Ausgangswertes verlängert werden. 4 Die individuelle Heparindosierung wird alle 12 h angepasst. Um heparinassoziierte Thrombozytopenien zu erkennen, muss täglich die Thrombozytenzahl bestimmt werden. Bei heparininduzierter Thrombozytopenie drohen zusätzliche Thrombosen. Heparin, auch subkutanes, muss dann abgesetzt werden. 4 Ausweichmedikament ist Danaparoid-Na (Orgeran®). Wir setzen die i.v.-Heparinisierung bei sekundären Einblutungen ab, führen aber trotzdem eine s.c.-Heparinisierung zur Thromboseprophylaxe fort. Bei ausgeprägter Mikroangiopathie verzichten wir auf die Heparinisierung. Wir geben, solange die Patienten immobil sind, s.c.-Heparin, danach Thrombozytenfunktionshemmer.

Leitlinien Allgemeine Therapie des Schlaganfalls* 4 Neurologischer Status und die Vitalfunktionen sollen überwacht werden (A). 4 Bei Patienten mit schweren Schlaganfällen sind die Atemwege freizuhalten und eine zusätzliche Qxygenierung ist anzustreben (B). 4 Hypertensive Blutdruckwerte bei Patienten mit Schlaganfällen sollten in der Akutphase nicht behandelt werden, solange keine kritischen Blutdruckgrenzen überschritten werden (B). 4 Der Blutdruck sollte in den ersten Tagen nach dem Schlaganfall im leicht hypertensiven Bereich gehalten werden. In Abhängigkeit von der Schlaganfallursache kann mit einer Blutdrucknormalisierung nach wenigen Tagen begonnen werden (B).

Hilfe moderner MRT- und CT-Verfahren können Patienten identifiziert werden, die auch noch bis zu 9 h nach Symptombeginn möglicherweise von einer Rekanalisation profitieren könnten, Allerdings ist die Wirksamkeit der Therapie am höchsten, wenn sie in den ersten 90 min eingesetzt wird. Je früher behandelt wird, desto größer ist für den Patienten der Behandlungseffekt. 4 Die Dosierung von 0,9 mg rtPA/kg KG ist in den ersten 3 h effektiv und sicher. Die Zahl der Patienten, die ihren Schlaganfall ohne oder mit nur minimalen Restsymptomen überleben, steigt um etwa 15% an. 4 In den ersten 90 min nach Symptombeginn ist die Chance einer geringen Behinderung 2,8-mal höher als gegenüber Plazebo, in den zweiten 90 min noch 1,5-mal höher und zwischen 180 und 270 min noch 1,4-mal höher.

4 Zu vermeiden ist der Einsatz von Nifedipin, Nimodipin und aller Maßnahmen, die zu einem drastischen RR-Abfall führen (B). 4 Eine arterielle Hypotonie sollte vermieden und durch die Gabe geeigneter Flüssigkeiten und/oder Katecholaminen (außer Dopamin) behandelt werden (B). 4 Regelmäßige Blutzuckerkontrollen sind zu empfehlen, Serumglukosespiegel von z.B. > 200 mg/dl sollten mit Insulingaben behandelt werden (B). 4 Die Körpertemperatur sollte regelmäßig kontrolliert und Erhöhungen über 37,5° sollten behandelt werden (C). 4 Der Elektrolytstatus sollte regelmäßig kontrolliert und ausgeglichen werden (C). *Leitlinien der DGN 2005

. Tabelle 5.8. Verbleibende Indikationen zur Antikoagulation (nach EUSI 2003) – Schlaganfall durch gesicherte kardiale Embolie mit hohem Re-Embolierisiko – künstliche Herzklappen – Vorhofflimmern – Myokardinfarkt mit Wandthrombus – Linksatrialer Thrombus – Koagulopathien! – Protein-C- und Protein-S-Mangel, – APC-Resistenz – Symptomatische Dissektion extrakranieller Arterien – Sinusvenenthrombosen

205 5.7 · Therapie

Facharzt

Lokale, intraarterielle Thrombolyse und mechanische Rekanalisation Die lokale, intraarterielle Thrombolyse von Verschlüssen der proximalen A. cerebri media führt, wenn sie innerhalb von 6 h durchgeführt wird, zu einer signifikanten Verbesserung des Behandlungsergebnisses. Die Substanz Pro-Urokinase, mit der dieses Ergebnis erzielt wurde, ist noch nicht im Handel erhältlich. Wir geben rtPA bis zu 40 mg i.a. über. 1 h oder bis zur Wiedereröffnung des Gefäßes. Eine lokale Thrombolyse bei Verschlüssen in der vorderen Zirkulation wird nur in Ausnahmefällen durchgeführt. Es ist unbekannt, ob die lokale Lyse hier der systemischen überlegen ist. Das Zeitfenster für die Thrombolyse eines Basilarisverschlusses ist wegen der oftmals fluktuierenden Symptomatik nicht so eng wie in der vorderen Zirkulation. Ohne Wiedereröffnung droht der komplette Infarkt des Hirnstamms (. Abb. 5.32). Die Lyse bei Basilaristhrombose wird auch mit rtPA in der o.a. Dosierung durchgeführt. Unser augenblickliches Basilarisprotokoll besteht aus 4 Reopro 0,25 mg/kg i.v. 4 Angiographie und selektive Lyse mit 20–40 mg rtPA

Oft wird zuerst auch eine mechanische Rekanalisation mit dem Angiographie-Führungsdraht versucht. In manchen Fällen wird nach erfolgreicher Lyse eine verbleibende Stenose in der Basilaris mit einem Stent gesichert (. Abb. 5.33). Verschiedene Studien zeigten Reperfusionraten von ca. 60% mit deutlich besserer Prognose und geringerer Mortalität im Falle erfolgreicher Rekanalisierung. 4 Weiterbehandlung auf der Intensivstation 4 Kombinationstherapie mit Aspirin® und Clopidogrel Zurzeit werden verschiedene mechanische Rekanalisationssysteme entwickelt, mit deren Hilfe Thromben entfernt werden sollen. Eines dieser Systeme, der »Merci-Retriever«, der Ähnlichkeit mit einem Korkenzieher hat und wie ein solcher in den Thrombus hineingedreht werden soll, um ihn danach herauszuziehen, ist inzwischen in den USA zugelassen.

Leitlinien Thrombolyse* 4 Die intravenöse Behandlung mit rtPa wird innerhalb eines 3 Stunden-Fensters zur Behandlung ischämischer Hirninfarkte an in dieser Therapie erfahrenen Zentren empfohlen (0,9 mg/ kg/KG; Maximum von 90 mg, 10% der Gesamtdosis als Bolus, die restlichen 90% im Anschluss als Infusion über 60 Minuten) (A). 4 Mit geringem Behandlungseffekt ist die intravenöse Lysebehandlung wahrscheinlich auch in einem 4,5-Stunden-Zeitfenster wirksam. Die Lysetherapie zwischen 3-4,5 Stunden ist, wie die MRT-basierte Patientenauswahl, aber nicht zugelassen.

4 Nach den aktuellen Studiendaten besteht für die CT-basierte systemische Lyse mit rtPA nach mehr als 4½ h kein nachweisbarer Benefit mehr. 4 Patienten mit einem PWI/DWI-Mismatch können auch jenseits dieses Zeitfensters in einem ähnlichen Ausmaß wie Die Thrombolyse mit 0,9 mg/kg KG rtPA ist die zurzeit

einzige gesichert wirksame Behandlungsmethode des akuten Hirninfarkts. Sie muss innerhalb von 3 h beginnen, und im CT müssen eine Blutung und ein großer, früher Infarkt ausgeschlossen sein.

Thrombozytenaggregationshemmer 4 Aspirin® (100–300 mg), in den ersten 48 h nach dem Infarkt gegeben, führt über eine Reduktion früher Rezidive zu einer minimalen, aber statistisch signifikanten Verbesserung des Behandlungsergebnisses nach Schlaganfall. Allerdings müssen 100 Patienten behandelt werden, um einen Fall von Tod oder Behinderung zu verhindern.

5.7.4 Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen Einige Unterformen der schweren zerebrovaskulären Krankheiten, wie beispielsweise der »maligne« Mediainfarkt bei Verschluss der distalen A. carotis interna, die Basilaristhrombose, große spontane Hirnblutungen, die Ponsblutung oder die Subarachnoidalblutung im Stadium V (7 Kap. 9) haben eine Mortalität von mehr als 80%. Eine der vorrangigen Aufgaben in der Akutbehandlung der Schlaganfallpatienten liegt in der Unterscheidung von Patienten, die rasche, intensivmedizinische Behandlung benötigen, und solchen, die weniger aggressiv behandelt werden können. Faktoren wie vorbestehendes schweres neurologisches Defizit, bekannte lebenslimitierende Erkrankung, hohes Alter

207 5.7 · Therapie

Facharzt

Konservative Behandlung des erhöhten Hirndrucks Osmotherapie erfolgt mit niedermolekularen, hypertonen Lösungen, wie Glycerol, Mannitol oder 7% NaCl. Unter der Voraussetzung einer intakten Blut-Hirn-Schranke entziehen diese Substanzen dem Gehirn aufgrund eines osmotischen Gradienten Wasser. Glycerol kann entweder intravenös (125 ml oder 250 ml einer 10%igen Lösung über 12 h 4-mal täglich) oder oral (50 ml einer 80%-Lösung 4-mal täglich) gegeben werden. Die Wirkung tritt rasch ein. Volumenüberbelastung, Hämolyse und Elektrolytentgleisung sind häufige Nebenwirkungen der Glycerol-Therapie. Mannitol 20% (125 ml alle 4–6 h) ist ein osmotisches Diuretikum mit rascherem Wirkungseintritt. Es ist die Therapie der Wahl bei Patienten mit raumfordernden Hemisphäreninfarkten. Elektrolytentgleisung, Niereninsuffizienz und Hypovolämie sind bekannte Komplikationen. Wie Glycerol, verliert auch Mannitol seine Wirksamkeit nach wenigen Tagen.

tion wird heute üblicherweise nur mit einem Ziel-PaCO2 von 35 mmHg kurzfristig eingesetzt.

Hyperventilation: Senkung des arteriellen PaCO2 auf 30 mmHg führt zur Abnahme des intrakraniellen Drucks um 25–30%. Aufgrund der Kompensation der Liquoralkalose nimmt die Wirkung der Hyperventilation nach Stunden ab. Hohe postexspiratorische Druckwerte sollten bei der Beatmung wegen ihrer potentiell hirndrucksteigernden Wirkung vermieden werden. Zu aggressive Hyperventilation senkt zwar den Druck, führt aber zur Verstärkung der Ischämie! Hyperventila-

Die Hypothermiebehandlung (33 °C Hirntemperatur) ist experimentell und auf wenige Zentren beschränkt. Bei sehr großen, raumfordernden Infarkten kann eine Senkung der Hirntemperatur die Ödementwicklung begrenzen.

Trispuffer: Tris-Hydroxy-Methyl-Aminomethan (THAM) ist eine Pufferlösung, die den intrakraniellen Druck über eine alkaloseinduzierte Vasokonstriktion senkt. Sie muss über einen zentralen Venenkatheter gegeben werden. Die Blutgase müssen stündlich kontrolliert werden, der Basenüberschuss sollte +10 mmol nicht überschreiten. Barbiturate: Die intravenöse Gabe von Barbituraten, z.B. Thiopental bis zu einer Tagesmaximaldosis von 100 mg/kg KG, senkt ebenfalls den intrakraniellen Druck durch Verminderung des intrakraniellen Blutvolumens, kann aber zur unerwünschten Senkung des systemischen Blutdrucks führen.

Indometacin (50 mg) im Bolus senkt den Hirndruck zuverlässig, aber nur kurz.

. Abb. 5.33a–c. Basilaristhrombose Therapie. a Thrombose der mittleren Basilaris mit umflossenen Thrombus, b Zustand nach erfolgreicher Lyse mit Reopro und tPA. Es verbleibt eine Stenose, c Nach Anwendung eines intrakraniellen Stents ist die Stenose beseitigt. (M. Hartmann, Heidelberg)

a

oder der Wille des Patienten können im Einzelfall gegen eine maximale intensivmedizinische Therapie sprechen. Behandlung des erhöhten intrazerebralen Drucks Bei großen Infarkten ist der erhöhte intrazerebrale Druck das größte Problem. Wenn man den Hirndruck invasiv überwacht

b

c

(epiduraler Sensor), kann man manchmal Druckwerte von über 30 mmHg messen. Der zentralvenöse Zugang über die V. jugularis sollte vermieden werden, da hierdurch venöse Abflussbehinderungen entstehen können, die zum prompten Anstieg des intrakraniellen Drucks führen können. Sedierung und Schmerzfreiheit sind die Basis jeder Hirndrucktherapie.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs Hypothermie Die Kühlung des Gehirns auf eine Temperatur von etwa 33 °C hat einen erheblichen neuroprotektiven Effekt, der aus tierexperimentellen Studien und aus 2 großen Studien bei Patienten nach hypoxischem Herzstillstand bekannt ist. Leider ist die Datenlage bei Hirninfarkten (und beim Neurotrauma) noch nicht überzeugend. Zumindest weiß man, dass eine systemische Kühlung bei Infarktpatienten durchgeführt werden kann,

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Dekompressionsoperation Der raumfordernde Hemisphäreninfarkt, der sog. maligne Mediainfarkt bei Verschluss der A. carotis interna oder der proximalen A. cerebri media, hat selbst unter maximaler konservativer Therapie eine hohe Mortalität von über 80%. In ausgewählten Fällen kann die Hemikraniektomie eine lebensrettende Maßnahme sein. Wir setzen diese Behandlung in der Regel nur bei Patienten unter 70 Jahren mit rechtshemisphärischer Läsion ein. Man muss das Versagen der konservativen Therapie vor dem Auftreten irreversibler Sekundärschäden erkennen, also bevor erste Zeichen der Einklemmung (Herniation, 7 Kap. 11) gesehen werden. Wir indizieren die Dekompressionsoperation bei mittleren intrakraniellen Druckwerten von >30 mmHg und aufgrund wiederholter CT-Untersuchungen. Wenn bereits irreversible Herniationszeichen vorliegen, kommt diese Maßnahme immer zu spät. Rechtzeitig durchgeführt, lässt sich die Mortalität von 80% auf unter 30% senken, ohne dass die Zahl von schwerst pflegebedürftigen Patienten zunimmt. Diese Behandlung ist zurzeit Gegenstand einiger randomisierter Studien. . Abbildung 5.34 zeigt in einer koronaren T2-gewichteten MR-Darstellung, welchen immensen raumschaffenden Effekt eine großzügige Entlastungstrepanation hat. Es ist leicht vorstellbar, dass eine solche Schwellung der Hemisphäre ohne Entlas-

. Abb. 5.34. Maligner Mediainfarkt vor und nach Trepanation. Der raumfordernde Effekt richtet sich nicht mehr in Richtung Mittellinienstrukturen sondern nach außen

dies allerdings auch Risiken wie Entzündungen, Sepsis und Gerinnungsstörungen birgt. Verglichen mit der Dekompressionsoperation beim malignen Mediainfarkt ist der Effekt der Hypothermie auf die Überlebensrate geringer, was vor allem auf die erneute Steigerung des Hirndrucks nach Wiedererwärmung zurückzuführen ist. Die Hypothermiebehandlung (33 °C Hirntemperatur) ist experimentell und auf wenige Zentren beschränkt.

tungstrepanation unbeeinflussbar zur Herniation und zum Hirntod geführt hätte. Auch bei Kleinhirninfarkten kann eine chirurgische Intervention indiziert sein, wenn das ischämische Hirnödem zu einem Verschlusshydrozephalus oder zur Hirnstammkompression führt. Die Entlastungstrepanation der hinteren Schädelgrube ist der alleinigen Ventrikulostomie (Ventrikelkatheter zum Ablassen des aufstauenden Liquors) überlegen. Neben der engmaschigen klinischen Kontrolle und wiederholten CT-Kontrollen liefert die Messung evozierter Potentiale wichtige Informationen über den richtigen Zeitpunkt der Entlastungsoperation (. Abb. 5.17). Hypertensive Volumentherapie Die hypervolämisch-hypertensive Hämodilution wurde für die Behandlung des Vasospasmus nach Subarachnoidalblutung entwickelt und wird jetzt auch bei ischämischen Infarkten, hervorgerufen durch hämodynamisch relevante extra- oder intrakranielle Stenosen, eingesetzt. Plasmaexpander werden bis zu einem zentralen Venendruck von 8 mmHg und einem systolischen Blutdruck von 180 mmHg infundiert. Zusätzlich können Vasokonstriktoren zur Erhöhung des arteriellen Mitteldrucks angewandt werden. Eine invasive Überwachung der kardialen Funktion kann notwendig werden (Swan-Ganz-Katheter).

209 5.8 · Prophylaxe

5.7.5 Logopädie, Krankengymnastik

und Rehabilitation Die medizinische Therapie wäre weit weniger wirksam, wenn sie nicht mit einer ständigen und kompetenten krankengymnastischen und logopädischen Behandlung verbunden wäre. Krankengymnastik Sie ist in vielfacher Hinsicht wertvoll und wirksam: Krankengymnastik hilft bei der Thrombose- und Pneumonieprophylaxe (Atemtherapie) und erlaubt die frühe Aktivierung von Restfunktionen. Nicht hoch genug bewertet werden kann die Motivationshilfe durch frühes krankengymnastisches Training. Krankengymnastinnen haben in der Regel ein besseres Gefühl für die erhaltenen und wieder zu etablierenden neurologischen Funktionen als Ärzte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich täglich und zeitlich viel intensiver um den funktionellen Status der Schlaganfallpatienten bemühen. Sekundäre Schäden, wie Gelenkkontrakturen und Gliedmaßenfehlstellungen können verhindert werden. Bestimmte krankengymnastische Techniken erlauben eine kurz- und mittelfristige Beeinflussung der Spastik. Spezielle Lagerungs- und Aktivierungstechniken beugen der Spastikentwicklung vor. Auf einer Schlaganfallstation sind Krankengymnastinnen und -gymnasten integraler Bestandteil des Teams und gleichberechtigte Partner. Logopädie Gleiches gilt für die Logopädie, deren Rolle in Aktivierung, Motivation und Wiedererlernen von Sprachinhalten derjenigen der Krankengymnastik vergleichbar ist. Auch Logopädinnen und Logopäden haben oft eine bessere Einsicht in erhaltenes Sprachverständnis und wieder beginnende Sprachproduktion, da sie sich bei ihren täglichen Sitzungen um die Sprache weit intensiver kümmern können als die Ärzte bei ihrer Visite. Ein wesentlicher Teil ihrer Aufgaben in der Frühphase nach Schlaganfall ist die Diagnostik und Therapie der häufig übersehenen Schluckstörungen, die oft Ursache von Aspirationspneumonien sind.

gen. Dies kann unter Umständen schon wenige Tage nach dem Schlaganfall möglich sein. Dort sollten krankengymnastische, ergotherapeutische und logopädische Maßnahmen noch stärker als in der Akutklinik eingesetzt werden. Spezielle Rehabilitationsansätze zur neuropsychologischen Rehabilitation bei kognitiven Störungen, zur neurolinguistischen Rehabilitation bei schweren aphasischen Sprachstörungen und zur gezielten Förderung der Beweglichkeit bei Hemiplegien oder Kleinhirnfunktionsstörungen werden noch zu wenig angeboten. Schließlich sind auch Einleitung und Fortführung von Sekundärprophylaxe (7 Kap. 5.8.2) und Gesundheitserziehung wesentliche Punkte, die in der Rehabilitation berücksichtigt werden müssen. Die Rehabilitationsforschung beschäftigt sich darüber hinaus auch mit der Entwicklung von Techniken und Substanzen, die Regeneration und Plastizität des Gehirns (Übernahme von Funktionen durch andere Hirnabschnitte) erleichtern sollen sowie mit der Erprobung und Applikation von mechanischen (Prothesen, Gehhilfen) und kybernetischen Hilfsmitteln (Kommunikationshilfen, Neuroprothesen). Neuronale Wachstumsfaktoren könnten in Zukunft eine Rolle spielen. Besonders bemerkenswert sind die Ergebnisse, die, manchmal noch nach Jahren, mit der »forceduse-motorischen« Rehabilitation erreicht werden. Hierbei werden die Patienten gewissermaßen gezwungen, den partiell gelähmten Arm kontinuierlich einzusetzen und zu trainieren, weil der gesunde Arm durch Verbände zeitweise nicht brauchbar ist. Diese Methode zeigt übrigens auch im Tierexperiment eine erhebliche Trainingseffizienz und eine Veränderung der kortikalen Repräsentation der trainierten Funktion. ä Der Fall: Fortsetzung Die Patientin wird auf die Schlaganfallstation gebracht und thrombolytisch behandelt. Der Blutdruck wird kontinuierlich überwacht und auf Werte um 160 mmHg eingestellt. Im Verlaufs-CT zeichnet sich ein kleinerer hinterer Basalganglieninfarkt ab. Im transösophagealen Echo wurde ein Vorhofthrombus entdeckt. Die Patientin erholt sich sehr gut und wird nach knapp einer Woche mit nur noch geringer Halbseitenschwäche in eine Rehabilitationsklinik verlegt. Aber wie soll die medikamentöse Weiterbehandlung aussehen?

Ergotherapie In Rehabilitationskliniken und manchen Akutkliniken kommt noch die Ergotherapie als dritte Säule der Frührehabilitation hinzu.

5.8

Rehabilitation Die Rehabilitation des Schlaganfallpatienten beginnt am Erkrankungstag. Die Akuttherapie kann nur in den ersten Stunden, vielleicht den ersten 24 Stunden durchgeführt werden. Die medizinische Behandlung von Komplikationen ist meist nach der ersten Woche beendet. Schon in dieser Zeit ist es notwendig, mit kombinierter Krankengymnastik, logopädischer und medizinischer Behandlung den Rehabilitationsprozess einzuleiten. Wünschenswert ist, den Patienten, sobald es sein klinischer Zustand zulässt, in eine Frührehabilitationseinrichtung zu verle-

Da Patienten mit zerebrovaskulären Krankheiten oft auch in anderen Regionen des Körpers arterielle Verschlusskrankheiten haben, beugen die meisten Maßnahmen auch dem Myokardinfarkt und der peripheren arteriellen Durchblutungsstörung vor. 4 Primärprophylaxe: Sie hat zum Ziel, durch Behandlung der bekannten Risikofaktoren einen ischämischen Insult zu verhindern. Die Primärprävention ist immer eine Dauertherapie. Sie zielt darauf ab, vaskuläre Risikofaktoren und potentielle kardiale Emboliequellen zu kontrollieren. 4 Sekundärprophylaxe: Diese umfasst alle Maßnahmen zur Verhinderung eines Schlaganfalls, nachdem zuvor bereits ein

Prophylaxe

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210

Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

flüchtiger, leichter oder auch schwerer ischämischer Infarkt abgelaufen ist. > Primärprophylaxe soll den Schlaganfall beim Gesunden

verhindern. Sekundärprophylaxe soll einen weiteren Schlaganfall verhindern, nachdem der Patient schon eine zerebrale Ischämie erlitten hat.

5.8.1 Primärprophylaxe

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Behandlung von Risikofaktoren und medikamentöse Primärprophylaxe Hypertonie. Die arterielle Hypertonie stellt den bedeutendsten Risikofaktor für einen ischämischen Schlaganfall dar. Eine konsequente antihypertensive Behandlung führt zu einer Reduktion der Schlaganfallshäufigkeit um 40%. Selbst einfache Maßnahmen, wie die Reduktion der Salzaufnahme mit der Nahrung, verbunden mit Gewichtsabnahme und Alkoholreduktion, können den systolischen Blutdruck deutlich senken und führen zu einer entsprechenden Schlaganfallreduktion. Blutfettspiegel. Die prophylaktische Wirkung einer Senkung der Blutfettspiegel ist inzwischen auch bewiesen. Rauchen. Beim Zigarettenrauchen kann man davon ausgehen, dass ein früherer Raucher, der beispielsweise 20 oder mehr Zigaretten pro Tag geraucht hat, nach etwa 5–7 Jahren Abstinenz wieder das Infarktrisiko eines Nichtrauchers hat. Vorhofflimmern. Für das nichtrheumatische Vorhofflimmern ist die prophylaktische Wirksamkeit der Antikoagulation sehr gut belegt. Unbehandelt beträgt das jährliche Hirninfarktrisiko bei Vorhofflimmern 3–15%. 4 Unter Dauerantikoagulation mit Marcumar kann dieses Risiko um 60–80% gesenkt werden (Ziel-INR 2–3,5). 4 Auch mit niedrig dosiertem Marcumar (INR 2–2,5) wird eine prophylaktische Wirkung bei geringerem Blutungsrisiko erreicht. Wenn Marcumar nicht gegeben werden kann, ist auch Acetylsalicylsäure (ASS) in einer Dosierung um 300 mg prophylaktisch wirksam. 4 Orale Thrombininhibitoren (z.B. Ximegalatran) scheinen jüngsten Studien zufolge ähnlich wirksam wie Marcumar, sollen jedoch nebenwirkungsärmer sein, was Blutungskomplikationen betrifft. Sie können in Standarddosen ohne Gerinnungskontrolle gegeben werden (Studien: SPORTIF 3 und SPORTIF 5). Noch ist allerdings unklar, ob andere Nebenwirkungen (Leberenzymerhöhung und andere, unklare Komplikationen, die in den USA die Zulassung verhindert haben) diesen Vorteil zunichte machen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Patienten mit lange bekanntem, idiopathischem Vorhofflimmern, die mit einem Schlaganfall in die Klinik kommen, keine prophylaktische Behandlung hatten.

Operative Primärprophylaxe Operation einer asymptomatischen Karotisstenose. Asymptomatische Karotisstenosen, die zufällig entdeckt werden, haben ein Infarktrisiko von etwa 2% pro Jahr. Deshalb haben Neurologen bisher bei diesem geringen Risiko und angesichts der perioperativen Morbidität und Mortalität einer Karotisoperation von 2,55% empfohlen, asymptomatische Stenosen nicht zu operieren. 4 Inzwischen ist durch zwei randomisierte Vergleichsstudien belegt, dass die Operation asymptomatischer Karotisstenosen bei ausgewählten Patienten sinnvoll sein kann, vorausgesetzt, sie wird an einem Zentrum durchgeführt, an dem nachweislich ein sehr geringes perioperatives Risiko bei Halsschlagaderoperationen besteht. 4 Männer mit besonders ausgeprägten Risikofaktoren profitieren hierbei deutlich mehr als Frauen. 4 Wenn das Risiko über 2,5% ansteigt, ist keine prophylaktische Wirksamkeit mehr zu erwarten. 4 Bei rascher Progredienz der Stenose, bei hämodynamisch relevanter Stenose, beim Nachweis stummer Infarkte im Computertomogramm, bei Männern mit hohem Risikofaktorprofil oder wenn die gegenseitige A. carotis interna schon verschlossen ist, entscheiden wir uns heute für die Operation asymptomatischer Stenosen. Karotisstenting. Asymptomatische Karotisstenosen können

durch neuroradiologische Techniken (Ballondilatation und Stent-Implantation) beseitigt werden. Technisch machbar bedeutet aber nicht immer sinnvoll. Die Wirksamkeit im Vergleich zur Karotisdesobliteration muss zunächst bewiesen werden, bevor man eine Empfehlung für diese Methode ausspricht. Der Verweis auf eine im Jahr 2004 veröffentlichte Vergleichsstudie von Stent und Operation bei überwiegend asymptomatischen Patienten, die ein hohes kardiales Risiko hatten (SAPPHIRE), hat nur sehr begrenzte Beweiskraft. Stents waren nur überlegen, wenn auch der perioperative Tod in die Beurteilung einbezogen wurde, was weniger für den Nutzen des Stents, Schlaganfälle zu verhindern, spricht als für die Richtigkeit der Annahme, dass diese Patienten tatsächlich ein hohes Operationsrisiko hatten und eigentlich gar nicht an der Karotisstenose hätten operiert werden sollen. 5.8.2 Sekundärprophylaxe Modifikation von Risikofaktoren Die im Abschnitt »Primärprophylaxe« gemachten Angaben zur Notwendigkeit der Optimierung von Risikofaktoren gelten erst recht für die Sekundärprävention. Neben medikamentösen Behandlungsansätzen sind hierfür auch oft Verhaltensänderungen seitens der Patienten und deren Angehörigen nötig.

211 5.8 · Prophylaxe

Empfehlungen Primärprävention – Risikofaktoren* 4 Zur Primärprävention des Schlaganfalls gehört ein „gesunder Lebensstil“ mit mindestens 30 min Sport dreimal pro Woche und einer obst- und gemüsereichen bzw. mediterranen Kost (A). Kardiovaskuläre Risikofaktoren (Blutdruck, Blutzucker, Fettstoffwechselstörung) sollten regelmäßig kontrolliert und dann behandelt werden (B). 4 Patienten mit arterieller Hypertonie (RR systolisch >140 mm Hg, diastolisch >90 mm Hg; Diabetiker: RR systolisch >130 mm Hg, diastolisch >85 mm Hg) müssen mit Diät (DASHDiät, kochsalzarme Kost), Ausdauersport und/oder Antihypertensiva behandelt werden (A). Hierbei ist der präventive Effekt der Antihypertensiva umso ausgeprägter, je stärker der Blutdruck reduziert wird (A). Die einzelnen Antihypertensiva unterscheiden sich nur geringfügig in ihrer schlaganfallpräventiven Wirkung (A). Alphablocker sind weniger wirksam als andere Antihypertensiva (B). 4 Raucher sollen den Nikotinkonsum einstellen. In ihrer Wirksamkeit belegt sind pharmakologische (Nikotinpflaster, Nikotinkaugummi, selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer oder Buproprion) oder nicht pharmakologische Hilfen (Verhaltenstherapie, Gruppenarbeit) (B). 4 Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung oder Zustand nach Herzinfarkt und einem LDL > 100 mg % sollen mit einem Statin behandelt werden (A). Bei Personen ohne KHK und keinem oder einem vaskulären Risikofaktor soll ein Statin gegeben werden bei LDL-Werten > 160 mg %, bei mittlerem Risiko und LDL > 130 mg % und > 100 mg % und mehreren vaskulären Risikofaktoren. Die Datenlage ist am besten für Simvastatin, Pravastatin und Atorvastatin. 4 Diabetiker sollen mit Diät, regelmäßiger Bewegung, Antidiabetika und bei Bedarf mit Insulin behandelt werden (B). Normoglykämische Werte sollten angestrebt werden. Bei Diabetikern ist die Bedeutung der antihypertensiven Behandlung mit ACE-Hemmern oder Sartanen und der Gabe von Statinen bezüglich der Schlaganfallprävention von besonderer Bedeutung (B). 4 Die Behandlung der Hyperhomozysteinämie mit Vitamin B6, B12 und Folsäure ist in der Sekundärprävention des Schlaganfalls nicht wirksam (B).

Medikamentöse Sekundärprophylaxe Acetylsalicylsäure (ASS). Nach vorhergegangenem flüchtigem oder gut rückgebildeten ischämischen Schlaganfall senkt der Thrombozytenaggregationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS) das Re-Infarktrisiko um ca. 20%. Lange Zeit war die optimale Dosis einer ASS-Therapie umstritten. Während in Nordamerika Dosen über 900 mg favorisiert wurden, war in Europa in der Regel eine Dosis um 300 mg als ausreichend angesehen worden.

4 Eine Hormonsubstitution nach der Menopause ist in der Sekundärprävention des Schlaganfalls nicht wirksam (B).

Primärprävention – Vorhofflimmern * 4 Patienten mit persistierendem oder paroxysmalem Vorhofflimmern und begleitenden vaskulären Risikofaktoren (Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, Alter über 75 Jahre) sollen oral antikoaguliert werden mit einer Ziel-INR von 2,0– 3,0 (A). Bei Patienten im Alter über 75 Jahren sollte eine INR um 2,0 angestrebt werden. Bei der seltenen sog. lone atrial fibrillation, d. h. Vorhofflimmern, Alter unter 65 Jahren und fehlenden vaskulären Risikofaktoren ist keine Antikoagulation oder Thrombozytenfunktionshemmung notwendig. Bei Patienten ohne vaskuläre Risikofaktoren im Alter über 65 Jahren und Vorhofflimmern wird Acetylsalicylsäure (100–300 mg) empfohlen. ASS wird ebenfalls eingesetzt bei Patienten mit Kontraindikationen für orale Antikoagulanzien wie zerebrale Mikroangiopathie, beginnender Demenz und erhöhter Sturzgefahr. 4 Ein asymptomatisches offenes Foramen ovale mit oder ohne Vorhofseptumaneurysma (ASA) ist nicht behandlungsbedürftig (A).

Primärprävention – Thrombozytenfunktionshemmer * 4 Ein Acetylsalicylsäure ist in der Primärprävention des Schlaganfalls bei Männern nicht wirksam (A). Bei Frauen mit vaskulären Risikofaktoren im Alter > 45 Jahre werden Schlaganfälle, aber nicht Myokardanfälle verhindert (B).

Primärprävention – Hochgradige Abgangsstenose der A. carotis interna * 4 Die Operation einer asymptomatischen Karotisstenose mit einem Stenosegrad von > 60% nach doppler- oder duplexsonographischen Kriterien reduziert signifikant das Schlaganfallrisiko. Dies gilt aber nur, wenn die kombinierte Mortalität und Morbidität des Eingriffs innerhalb von 30 Tagen unter 3% liegen (A) (⇑⇑). Die Lebenserwartung sollte > 5 Jahre sein.

*Nach den Leitlinien der DGN 2005

Verschiedene Metaanalysen fanden keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Dosisbereichen. 4 In verschiedenen Leitlinen wurde festgelegt, dass jegliche Dosis zwischen 50 und 325 mg ASS empfohlen werden kann. Wichtig ist hierbei, dass die subjektiven gastrointestinalen Nebenwirkungen (wie Übelkeit, Dyspepsie etc.) dosisabhängig sind, während die schweren Nebenwirkungen, wie Blutungen und Ulzera, über alle Dosisbereiche von ASS relativ ähnlich sind.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs Kosten der medikamentösen Sekundärprophylaxe

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Die Tageskosten unterscheiden sich bei den unterschiedlichen Therapien zum Teil erheblich. ASS 100 kostet € 0,02 am Tag. Dipyridamol/ASS (Aggrenox®) kostet etwa € 1,33 am Tag und Clopidogrel (Plavix®, Iscover®) etwa 2,80 € am Tag, beide allerdings bei höherer Wirksamkeit gegenüber ASS. Auch Marcumar bzw. Warfarin ist mit € 0,20 pro Tag relativ günstig, allerdings muss man hier noch die notwendigen Blutabnahmen zum INRMonitoring bzw. die Selbsttestgeräte hinzurechnen. Wenn man dann noch die Kosten von Statinen und modernen Antihypertensiva, ggf. auch noch von oralen Antidiabetika

4 Derzeit hat sich in Deutschland, wie den meisten europäischen Ländern eine Therapie mit 100 mg ASS pro Tag durchgesetzt.

Clopidogrel (z.B. Plavix®, Iscover®). Diese Substanz, die die Thrombozytenfunktion über eine Blockade des ADP-Rezeptors blockiert, ist prophylaktisch sogar noch etwas besser wirksam als ASS. Sie wird bei ASS-Unverträglichkeit und bei Hochrisikopatienten eingesetzt. Dosierung: 75 mg täglich. Die Vorgängersubstanz aus der gleichen Stoffklasse der Thienopyridine war ebenfalls wirksamer als Aspirin, wird jedoch heute wegen höherer Nebenwirkungshäufigkeit nicht mehr gegeben. Clopidogrel senkte in der CAPRIE-Studie an fast 20.000 Patienten einen kombinierten Endpunkt von Schlaganfall (Ischämie und Blutung), Herzinfarkt und vaskulärem Tod im Vergleich zu 325 mg ASS relativ um 8,7%. Die drei Patientenuntergruppen der Studie (Herzinfarkt, Schlaganfall und periphere Verschlusskrankheit) profitierten unterschiedlich. Clopidogrel-behandelte Patienten mit pAVK und nach ischämischem Hirninfarkt haben eine stärkere Risikoreduktion verglichen mit der Herzinfarktgruppe. Die Sicherheit von Clopidogrel ist sowohl gegenüber ASS als auch gegenüber Ticlopidin sehr gut. Patienten mit erhöhtem Risiko für vaskuläre Ereignisse, z.B. mit Diabetes mellitus oder gehäuften vaskulären Risikofaktoren, profitieren stärker von der Gabe von Clopidogrel als von ASS.

Kombinationstherapien 4 Die Kombination von 50 mg ASS mit 400 mg Dipyridamol (Aggrenox®) ist der ASS-Monotherapie deutlich überlegen. Die relative Risikoreduktion gegenüber Plazebo beträgt fast 40%, gegenüber ASS 50 mg etwa 18%. 4 Die Kombination von ASS mit Clopidogrel, die nach akuten kardiovaskulären Erkrankungen der Monotherapie mit ASS überlegen ist, wird für die Indikation Schlaganfall zurzeit getestet. Die Kombination aus Clopidogrel und ASS hat sich bei Patienten mit instabiler Angina pectoris als hocheffektiv zur Verhinderung weiterer kardialer Ereignisse herausgestellt. 4 Bei sog. Hochrisikopatienten nach TIA oder ischämischem Hirninfarkt ergab sich unter dieser Kombination in der MATCH-

hinzurechnet, kommt man in der Sekretärprävention, wenn sie nach den Ansätzen der evidenzbasierten Medizin geht, auf beachtliche Behandlungskosten. Dennoch geht die Rechnung auf: Die Folgekosten der Schlaganfälle und Herzinfarkte, die verhindert werden, wiegen die Kosten sicher auf, allerdings werden diese anderen Budgets wie der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversorgung und den Steueraufkommen gutgeschrieben, und nicht denen, die die Kosten aufbringern, nämlich den Krankenkassen.

Studie nur ein Trend zu weniger vaskulären Ereignissen (Schlaganfall, Myokardinfarkt, vaskulärer Tod, Rehospitalisierung) im Vergleich zu der alleinigen Gabe von Clopidogrel. Allerdings führte die Kombination zu einer Verdoppelung der Häufigkeit schwerwiegender Blutungsereignisse. Daher kann diese Kombination zurzeit nicht zur längerfristigen Sekundärprävention nach ischämischem Hirninfarkt empfohlen werden. 4 Die Ergebnisse einer weiteren großen Prophylaxestudie, in der die Kombination ASS-Clopidogrel gegen ASS alleine getestet wird (CHARISMA), stehen noch aus. Orale Antikoagulanzien. Vitamin-K-Antagonisten sind auch in der Sekundärprävention nach Infarkten bei Vorhofflimmern wirksam. Wie in der Primärprävention werden sie aber zu selten gegeben. Ob Marcumar bei anderen kardialen Emboliequellen prophylaktisch wirksam ist, ist nicht bewiesen. Bei kardialen Emboliequellen mit erhöhtem Embolierisiko entscheiden wir uns für die Marcumarisierung, wenn keine Kontraindikationen vorliegen. Auch hier richtet sich die Hoffnung auf zukünftig verfügbare direkte Thrombininhibitoren. Antikoagulanzien sind bei intrakraniellen Stenosen der ASS nicht überlegen. 4 Wir geben Antikoagulanzien bei Dissektionen für einige Monate. Gleiches gilt für Patienten mit offenem Foramen ovale und Septumaneurysma, wenn keine Indikation zum interventionellen Verschluss der Foramen (»Schirmchen-Implantation«, s.u.) gestellt wird. 4 Ob direkte Thrombinantagonisten mit ihrer vergleichbaren Wirksamkeit, aber geringerer Blutungsrate die Vitamin-K-Antagonisten verdrängen werden, ist noch unklar.

Chirurgische Sekundärprophylaxe Karotis-Thrombendarteriektomie (TEA) 4 Symptomatische Karotisstenosen von 70% oder mehr stellen

eine Operationsindikation dar. 4 Das perioperative Hirninfarkt- und Sterblichkeitsrisiko wird

durch die Verringerung weiterer Schlaganfälle nach erfolgreicher Operation schon nach weniger als einem Jahr ausgeglichen. 4 Patienten mit niedriggradigen Stenosen (unter 50%) haben keinen Vorteil von einer TEA und sollten nicht operiert werden.

213 5.8 · Prophylaxe

Leitlinien Sekundärprävention des Schlaganfalls – Risikofaktoren (Auswahl)* 4 Die konsequente Behandlung einer arteriellen Hypertonie reduziert das Schlaganfallrisiko (⇑⇑/A). Die Kombination von Perindopril plus Indapamid ist signifikant wirksamer als Placebo (⇑), und Eprosartan ist signifikant wirksamer als der KalziumAntagonist Nitrendipin (⇑). Ramipril reduziert bei Patienten nach Schlaganfall vaskuläre Endpunkte, aber nicht das Schlaganfallrisiko. 4 Die Behandlung des Diabetes mellitus reduziert das Schlaganfallrisiko (C), wobei dies aber in prospektiven Studien bisher nicht gut untersucht ist.

4 Bei Patienten mit fokaler zerebraler Ischämie und KHK sollten unabhängig vom Ausgangswert des LDL-Cholesterins Statine eingesetzt werden (⇑⇑/A). Zielwerte für LDL sollten zwischen 70 und 100 mg % liegen. 4 Bei Patienten mit fokaler cerebraler Ischämie ohne KHK kann Simvastatin (40 mg) gegeben werden. Damit wird aber überwiegend das allgemeine vaskuläre Risiko gemindert (⇑/B). Wahrscheinlich sind auch die anderen Statine wirksam (C)

Leitlinien Sekundärprävention – Thrombozytenfunktionshemmer* 4 Bei Patienten mit fokaler Ischämie sind Thrombozytenfunktionshemmer in der Sekundärprävention wirksam (⇑⇑/A). Dies gilt für ASS (50–100 mg), ASS (2x25 mg) plus Dipyridamol (2x200 mg) und Clopidogrel (75 mg) (A). 4 Bei Patienten nach TIA und ischämischem Insult und geringem Rezidivrisiko wird die tägliche Gabe von 50–150 mg Acetylsalicylsäure empfohlen (B). 4 Bei Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko wird die zweimal tägliche Gabe der fixen Kombination aus 25 mg Acetylsalicylsäure plus 200 mg retardiertem Dipyridamol oder Chlopidogrel (75 mg) empfohlen (B). 4 Bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko (≥4%/Jahr) und zusätzlicher pAVK wird Clopidogrel 75 mg empfohlen (C).

4 Stenosen zwischen 50 und 70% sollten operiert werden, wenn weitere Risikofaktoren bestehen und wenn das Operationsrisiko am Ort niedrig ist (unter 6% perioperativer Morbidität und Mortalität). Wahrscheinlich profitieren Männer mehr von der Operation als Frauen. 4 Besonders erfolgreich ist die TEA, wenn sie in den ersten 1–2 Wochen nach der Ischämie durchgeführt wird, vorausgesetzt es hat keine sekundäre Einblutung gegeben und der Infarkt ist nicht sehr ausgedehnt.

Interventionell neuroradiologische Maßnahmen. Die perkutane, transluminale Angioplastie (PTA) mit Einbringung von Stents in Stenosen der hirnversorgenden Gefäße wird zurzeit als Alternative zum operativen Ansatz in meheren großen Vergleichsstudien geprüft (. Abb. 5.35). 4 Die Ergebnisse der bislang größten Studie weltweit, der SPACE-Studie (Akronym für: Stent Protected Angioplasty versus Carotis-Endarerectomy), die in Deutschland und Österreich durchgeführt wurde, zeigten eine Äquivalenz der beiden Methoden bezüglich der periinterventionellen Mortalität und des Auftretens ipsilateraler Schlaganfälle in den ersten 30 Tagen. Langzeitergebnisse liegen allerdings noch nicht vor.

4 Bei Patienten mit Kontraindikation gegen oder Unverträglichkeit von ASS wird Clopidogrel empfohlen (A). 4 ASS in Dosierungen > 150 mg führt zu einem erhöhten Risiko von Blutungskomplikationen (⇑). 4 Die Kombination von Clopidogrel plus ASS hat keine bessere Wirksamkeit als eine Clopidogrel Monotherapie, führt aber zu vermehrten Blutungskomplikationen (⇑⇑). 4 Patienten mit einer TIA oder einem Schlaganfall und akutem Koronarsyndrom sollten mit der Kombination von 75 mg Clopidogrel und 75 mg ASS über eine Zeitraum von 3 Monaten behandelt werden (⇑/C). *Gekürzt und modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2005 Angelehnt an Leitlinie EUSI 2003

4 Leider werden Karotisstents aber schon jetzt kritiklos vieler-

orts eingesetzt, ohne dass Äquivalenz oder gar Überlegenheit gegenüber der etablierten operativen Therapie bewiesen wäre. Dies ist ein eklatantes Beispiel für unwissenschaftliches und verantwortungsloses, gewinnorientiertes Handeln in der Medizin. Ähnliches gilt für die unbewiesene Aussage, dass Stenten mit sogenannten Protektionssystemen dem einfachen Stenten überlegen wäre. 4 Wir sehen die Indikation zu dieser Maßnahme besonders bei postoperativen, distal gelegenen Re-Stenosen, bei chirurgisch nicht erreichbaren Stenosen an der Schädelbasis, möglicherweise auch im Karotissiphon, und schließlich bei Patienten, die trotz klarer Operationsindikation wegen des hohen Narkoserisikos nicht operiert werden können. 4 Andere Gefäßterritorien (distale Vertebralarterie, proximale Vertebralarterie und Basilaris) werden in individuell begründeten Fällen interventionell neuroradiologisch behandelt. Die größten Erfahrungen hat man mit der Dilatation von Subklaviastenosen (. Abb. 5.14) und proximalen Vertebralisstenosen bei gegenseitigem Vertebralisverschluss. 4 Auch bei intrakraniellen Stenosen kann in Einzelfällen eine Stentversorgung erfolgen. Die Systeme hierfür sind noch in Entwicklung.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.35. Karotisstenose vor und nach Stentversorgung. (S. Hähnel, Heidelberg)

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Indikation zur Karotisoperation bei symptomatischen Karo-

tisstenosen: 4 Der ischämische Hirninfarkt sollte nicht länger als ein halbes Jahr zurückliegen. 4 Karotisstenose muss als Ursache des Infakts hinreichend sicher sein. 4 Die Stenosegrad soll 70% oder mehr betragen. 4 Das neurologische Defizit darf nicht zu ausgeprägt sein. 4 Die Operation darf nur in einem Zentrum mit hoher Operationsfrequenz und mit niedriger perioperativer Komplikationsrate (höchstens perioperative Morbidität und Mortalität von 6%, da anderenfalls kein Vorteil der TEA über die konservative Behandlung mehr besteht), durchgeführt werden.

ä Der Fall: Fortsetzung Schon während der Rehabilitation wird die Patientin mit Marcumar behandelt. Auch wenn nicht entschieden werden kann, ob die Symptomatik von einer Embolie bei Vorhofflimmern oder von der Karotisstenose kam, ist die Marcumarbehandlung in jedem Fall sinnvoll. Die Diabetesbehandlung wurde intensiviert, die Patientin erhält jetzt Insulin. Der Blutdruck ist mit einer Kombination aus einem ACE-Hemmer und einem Diuretikum gut eingestellt. Die erhöhten Blutfette wurden mit einem Statin normalisiert. Jetzt wird die Patientin nach erfolgreicher Rehabilitation mit der Frage, ob die Karotisstenose behandelt werden soll, wieder vorgestellt. Soll man oder soll man nicht? Wir haben uns mit der Patientin für die Operation entschieden.

215 5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

Empfehlungen Operation oder Stenting bei Karotisstenosen* 4 Bei hochgradigen symptomatischen Karotisstenosen sollte eine Endarteriektomie durchgeführt werden (⇑⇑/A). Der Nutzen der Operation nimmt mit dem Stenosegrad zwischen 70 und 95% zu. Der Nutzen der Operation ist geringer bei einem Stenosegrad zwischen 50 und 70%, bei subtotalen Stenosen, bei Frauen und wenn die Operation jenseits der 2. Woche nach dem Indexeereignis durchgeführt wird (⇑/B) 4 Der Nutzen der Operation geht bei einer Komplikationsrate von >6% verloren (⇑⇑). 4 Zur Diagnosesicherung der Karotisstenose sind neurosonologische Verfahren, MR- oder CT- Angiographie ausreichend (⇑). Eine DSA ist in der Regel nicht erforderlich (B). 4 Die Karotisangioplastie mit Stenting ist bei symptomatischen Stenosen >70% der Karotis-TEA ähnlich wirksam, allerdings fehlt noch der Beweis der Äquivalenz (⇑/A). Vor, während und nach Stenting erfolgt eine Prophylaxe mit Clopidogrel (75 mg) plus ASS (100 mg) für 1–3 Monate.

5.9

Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

In den folgenden Boxen wird eine Reihe seltener Schlaganfallursachen und die Ischämien bei Gefäßentzündungen (Vaskulitis) vorgestellt. Ihnen ist gemeinsam, dass oft junge Patienten betroffen sind (Ausnahme: die Riesenzellarteriitis), sie insgesamt selten

. Abb. 5.36. Vaskulitis. Angiographie bei Vaskulitis. Kaliberunregelmäßige Gefäße (Pfeil) lösen sich ab mit unregelmäßigen, z.T. kettenförmig angeordneten Gefäßerweiterungen (Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

4 Intrakranielle Stenosen. Bei Patienten mit hochgradigen intrakraniellen Stenosen oder Verschlüssen ist eine Antikoagulation mit einer INR von 3,0 nicht wirksamer als die Gabe von 1500 mg ASS, führt aber zu vermehrten Blutungskomplikationen und kann daher nicht empfohlen werden (⇑/A). Angesichts der schlechten Verträglichkeit von 1500 mg ASS empfehlen wir eine Prophylaxe mit 100–300 mg ASS (⇔/C) Bei Rezidivereignissen kann eine Stentimplantation erwogen werden (⇔/C). Anschließend erfolgt die Gabe von 75 mg Clopidogrel und 100 mg ASS über einen Zeitraum von 1–3 Monaten (⇔/C) *Angelehnt an die Leitlinien der DGN 2005

auftreten und in ihrer Bedeutung erst in den letzten Jahren erkannt wurden. Allerdings besteht im Falle der Vaskulitiden die Gefahr, dass die Diagnose zu häufig gestellt wird: Die MRA übertreibt oft das Ausmaß vermeintlicher Gefäßengstellungen oder überzeichnet Strömungsunregelmäßigkeiten als Stenosen. Die Diagnose einer Vaskulitis kann nicht nur auf der Basis der bildgebenden Diagnostik gestellt werden.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt

Vaskulitische Infarkte

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Riesenzellarteriitis (Arteriitis cranialis) Die Arteriitis cranialis ist eine systemische, nektrotisierende Vaskulitis, die v.a. Äste der A. carotis externa und die A. ophthalmica betrifft. Sie ist im 7. und 8. Lebensjahrzehnt häufig und oft mit einer Polymyalgie verbunden. Symptome sind Kopfschmerzen, allgemeine Ermüdung und hohe Blutsenkungsgeschwindigkeit. Ein- oder, sehr selten, doppelseitige Erblindung tritt in 10–20% der unbehandelten Fälle auf. Selten sind hemisphärische Schlaganfälle im Posterior- oder Mediaterritorium. 3Diagnose. Sie kann mit einer Temporalarterienbiopsie gesichert werden. Bei ausreichend großem Präparat ist die Biopsie auch in den ersten Tagen nach Kortisonbehandlung noch positiv, die Therapie muss also nicht wegen einer geplanten Biopsie verzögert werden. 3Therapie. Man behandelt mit Methylprednisolon, zunächst 80–100 mg i.v. über mehere Tage, langsam oral ausschleichend unter BSG-Kontrolle bis zu einer Erhaltungsdosis von ca. 8 mg jeden 2. Tag. Unter Therapie bilden sich alle Symptome schnell zurück. Dies gilt ausdrücklich nicht für eine fortgeschrittene, länger bestehende Sehstörung. Azathioprin oder andere Immunsuppressiva sind nicht wirksam. Takayashu-Arteriitis Sie ist eine seltene Riesenzellarteriitis, die die Abgänge der hirnversorgenden Gefäße am Aortenbogen betrifft. Es kommt zu hämodynamisch und auch embolisch ausgelösten Symptomen in verschiedenen Gefäßterritorien. Dabei entwickeln sich erst verschiedene Kollateralen, die aber bei fortschreitendem Prozess insuffizient werden. Frauen sind häufiger betroffen. Die Therapie ist schwierig, Immunsuppression hilft in Einzelfällen. Manchmal wird eine Aortenbogenplastik eingesetzt, eine Operation mit hohem Risiko. Isolierte Vaskulitis des ZNS Die isolierte Vaskulitis des ZNS ist eine lokale, vermutlich immunologisch bedingte Entzündung der kleinen und mittelgroßen Gefäße des Gehirns. Chorioidale und leptomeningeale Gefäße sind ebenfalls betroffen. Histologisch finden sich mononukleäre Infiltrate, eine endotheliale Proliferation und Veränderungen der Gefäßwand bis hin zu Nekrosen. 3Symptomatik. Kopfschmerzen und enzephalopathische Symptome mit Persönlichkeitsänderung, Verhaltensstörungen,

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kognitiven Schwierigkeiten und Gedächtnisstörungen stehen im Vordergrund. Daneben können multiple, meist leichtere neurologische Herdsymptome gefunden werden. Auch die Hirnnerven können beteiligt sein. 3Diagnostik. Es finden sich keine systemischen Entzündungszeichen, alle Blutwerte und serologischen Bluttests sind normal. Auch im Liquor findet sich oft ein Normalbefund, manchmal eine leichte, unspezifische Pleozytose mit Eiweißanstieg. CT und MRT können multiple ischämische Läsionen in der weißen Substanz zeigen, die aber unspezifisch sind. Die Angiographie ist häufig normal, im positiven Fall sieht man segmentale Stenosen oder Erweiterungen in den kleineren Gefäßen. Selbst dann ist die Diagnose noch nicht gesichert. Die Diagnose kann endgültig nur durch leptomeningeale Biopsie gesichert werden, und selbst diese bleibt leider oft negativ. Nicht selten bleibt die isolierte Vaskulitis des ZNS eine Verdachtsdiagnose (. Abb. 5.36). 3Therapie. Man beginnt mit Methylprednisolon 12 mg/kg KG über 1 Woche, anschließend ausschleichend, und Cyclophosphamid 1 g alle 4 Wochen i.v. Das Syndrom spricht oft gut auf diese Therapie an, neigt jedoch zu Rückfällen. M. Behçet Diese in Mitteleuropa bisher seltene Krankheit betrifft in fast der Hälfte der Fälle auch die Gehirngefäße, meist die Venen, und soll deshalb etwas detaillierter besprochen werden, weil die Inzidenz unter Einwohnern, die aus dem östlichen Mittelmeerraum stammen, deutlich höher ist als in Mitteleuropa. Klinisch macht sich das typische Syndrom mit dermatologischen Erscheinungen wie aphthöser Stomatitis, genitalen Ulzerationen und Augensymptomen (Iridozyklitis, Konjunktivitis, Augenvenenthrombose) bemerkbar. Arthralgien, periphere Venenthrombosen und ein Erythema nodosum werden beobachtet. Neurologisch treten Zeichen der Sinusthrombose mit erhöhtem intrazerebralem Druck und meningoenzephalitische Symptome auf. Das Spektrum der neurologischen Symptome ist breit und schwankt von Somnolenz und kognitiven Auffälligkeiten bis zu Hirnnervenläsionen und fokalen zentralen Symptomen (Hemiparese oder Hemianopsie). Der Liquor ist in der Regel leicht entzündlich verändert (chronische, überwiegend lymphozytäre Pleozytose), im MRT findet man Befunde wie bei zerebralen Venenthrombosen. Die Behandlung besteht in Steroiden, initial 12 mg/kg KG i.v., langsam ausschleichend, kombiniert mit Azathioprin.

217 5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

Andere Vaskulitisformen Die Hirngefäße können bei verschiedenen idiopathischen Vaskulitiden (Panarteriitis nodosa PAN, (s. Kap. 32), ChurgStrauss-Syndrom, Wegener-Granulomatose, Sarkoidose) und bei sekundären Vaskulitiden infolge von Infektionen, z.B. durch Pilze, Viren, Bakterien (Lues, Borreliose, Tuberkulose), betroffen sein. Verschiedene Toxine und Medikamente können eine Hypersensibilitätsvaskulitis verursachen. Allen ist gemeinsam, dass das Zentralnervensystem einer von vielen und sicher nicht der häufigste Manifestationsort dieser Krankheiten ist, weshalb sie an dieser Stelle auch nicht gesondert besprochen werden. Die Diagnose erfolgt rheumatologisch/immunologisch (Panarteriitis, Wegener-Granulomatose) oder durch Nachweis der Grundkrankheit (Liquor). Mit zunehmender Verbreitung selte-

nerer infektiöser Ursachen (Protozoen, Pilze) mit und ohne Immunsuppression und bei der erneuten Zunahme von Tuberkulose und Treponemeninfektionen muss man bei unklarer vaskulitischer Symptomatik auch an solche Ursachen denken. Sneddon-Syndrom Das Sneddon-Syndrom ist charakterisiert durch das dermatologische Bild einer Livedo racemosa mit rezidivierenden Hirninfarkten. Die fast immer weiblichen und meist jüngeren Patienten haben oft ausgedehnte Infarkte. Die Pathogenese ist unklar. Hautgefäße zeigen eine Proliferation glatter Muskelzellen und thrombotische Gefäßverschlüsse ohne Entzündungszeichen. Man nimmt an, dass dies auch für die Hirngefäße gilt.

Facharzt Seltene vaskuläre Krankheiten des ZNS anderer Ätiologie Fettembolie 3Pathophysiologie. Eine Fettembolie tritt bei polytraumatisierten Patienten mit multiplen Frakturen auf. Die Hauptursache der Fettembolie sieht man im traumatischen Schock, der über verschiedene Mechanismen (Ersatz des verlorenen Blutvolumens durch fettreiche Lymphe aus dem Ductus thoracicus? Lipaseaktivierung durch Katecholamine?) zu einer Vermehrung der wasserunlöslichen Neutralfette im Blut führt. Das freie Fett entstammt also nicht den Zellen, sondern dem Blutfett. Es resultiert eine Verstopfung der Kapillaren in Lunge, Gehirn, Niere und vielen anderen Organen durch grob disperse Fetttröpfchen. Dieser Vorgang wird durch die im Schock vorliegende Hypovolämie und die verlangsamte Mikrozirkulation stark begünstigt. Im Gehirn findet man eine sog. Purpura cerebri, d.h., die Hemisphären sind von flohstichartigen Blutungen übersät. Die Blutungen sind von multiplen, kleinen Erweichungsherden umgeben. 3Symptomatik und Verlauf. Die klinischen Erscheinungen werden 46 h oder auch erst 12 Tage nach dem Trauma manifest. Sie können sich in den ersten Tagen wiederholen, sodass die Symptomatik sich schubweise verstärkt. Akute psychische Störungen beherrschen oft das Bild. Meist besteht ein delirantes Syndrom mit Bewusstseinsstörung bis zum Koma, Desorientiertheit und psychomotorischer Unruhe. Neurologisch findet man häufig bilaterale pathologische Reflexe, Herdsymptome der Großhirnhemisphären, in schweren Fällen treten Streckkrämpfe auf. Internistisch äußert sich die pulmonale Fettembolie in Dyspnoe, Beklemmungsgefühl mit stechenden Brustschmerzen, in Husten, Hämoptoe und Zyanose, der renale Schock in

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Oligurie bis Anurie. Die Körpertemperatur ist meist erhöht, ebenso kompensatorisch die Pulsfrequenz. Am Augenhintergrund findet man multiple kleine Blutungsherde und weißlich glänzende, um die Makula angeordnete Flecken infolge Fettembolie der Netzhautkapillaren. Nach einigen Tagen treten subkonjunktivale Blutungen und Blutungen in der Haut und den Weichteilen der oberen Körperhälfte auf. 3Diagnose. Im Frühstadium kann die Diagnose schwierig sein. Wenn der Patient gleichzeitig ein Kopftrauma erlitten hat, ist die Differentialdiagnose zur Kontusionspsychose oder zum traumatischen epi- oder frühen subduralen Hämatom zu stellen. Die Analgosedierung der häufig intubierten, polytraumatisierten Patienten erschwert die Diagnose weiter. Im CT findet man zunächst nur eine leichte Hirnschwellung, erst später können sich multiple kleine ischämische Läsionen abzeichnen. Das EEG ist allgemein verändert und kann wechselnde Herdbefunde zeigen. Wichtige internistische Zusatzbefunde sind: fleckige Verschattungen auf dem Thoraxröntgenbild und Zeichen der akuten Rechtsherzbelastung im EKG. Im Blut, Urin und Liquor lassen sich Fetttröpfchen nachweisen. 3Therapie. Die intensivmedizinische Behandlung umfasst die Schockbekämpfung mit Volumenersatz und Verbesserung der Mikrozirkulation durch Infusion von Hydroxyethylstärke. Man gibt den Proteinasehemmer Trasylol (1 Mio. IE/Tag) und Cholinphospholipide (z.B. Lipostabil). Kontrollierte Hypothermie senkt den zerebralen Stoffwechsel, der durch den schweren O2-Mangel besonders gefährdet ist.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Luftembolie 3Pathophysiologie. Die zerebrale Luftembolie ist selten. Sie wurde früher vor allem beim Anlegen eines Pneumothorax in der Tuberkulosebehandlung beobachtet. Heute kommt sie in erster Linie bei Operationen am offenen Herzen, im Thorax oder am Hals vor. Bei Abtreibungsversuchen dringt gelegentlich Luft in die Venen des Uterus ein. Häufig geschieht dies erst dann, wenn die Frau nach dem Eingriff aufsteht. Auch ohne offenes Foramen ovale gelangt Luft durch die Lunge in den Hirnkreislauf. Durch Verstopfung einer Vielzahl von kleinen Arterien kommt es zu multiplen ischämischen Erweichungen (. Abb. 5.37). Im Gegensatz zur Fettembolie ist die Luftembolie ein einmaliges Ereignis und wiederholt sich nicht in Schüben. 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome können sich auf akuten Schwindel, Tachykardie oder einen Zustand von Verwirrtheit beschränken, der nach wenigen Minuten wieder abklingt. In schweren Fällen tritt eine Bewusstseinstrübung mit Krämpfen und bilateralen oder multiplen neurologischen Herdsymptomen auf. Pupillenstörungen und Augenmuskellähmungen sind häufig. Der Verlauf ist nicht einheitlich. Foudroyante Luftembolien führen in Minuten unter Krämpfen zum Tode. Wird der erste Tag überlebt, ist die Prognose quoad vitam gut, nicht selten bleiben aber neurologische Herdsymptome und eine psychoorganische Wesensänderung zurück. Sonderfall: Caisson-Krankheit. Ein Sonderfall der Luftembolie ist die Caisson-Krankheit. Wenn Taucher plötzlich aus großer Tiefe an die Oberfläche geholt werden, setzt die akute Herabsetzung des Luftdrucks Stickstoff in kleinen Bläschen frei. Wie bei der Luftembolie kommt es zur akuten, diffusen Mangeldurchblutung. Sie äußert sich als akute Atemnot und Zyanose. Der Patient kann im Schock zu Tode kommen. Wird der Schock überlebt, treten psychomotorische Unruhe, Bewusstseinstrübung und multiple neurologische Herdsymptome auf. Besonders charakteristisch sind Rückenmarksymptome in allen Abstufungen von der leichten Paraparese bis zur Querschnittslähmung, begleitet von Funktionsstörungen im N. vestibulocochlearis. Die Therapie besteht in rascher Rekompression, d.h. künstlicher Herstellung der Druckverhältnisse in der Tiefe (Druckkammer). In einer TCD/MRT-Studie konnte bei Tauchern, die ein offenes Foramen ovale hatten, eine erhöhte Zahl von (asymptomatischen) vermutlich ischämischen Signalveränderungen im Hirnparenchym nachgewiesen werden. Septisch-embolische Herdenzephalitis 3Pathophysiologie. Die infektiöse Endokarditis wird durch multiple, septische Embolien kompliziert. Die meisten dieser

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Embolien gehen in das Gehirn und führen dort zu ischämischen Infarkten, Mikroabszessen und sekundären Einblutungen. Streptokokken und Staphylokokken sind die wichtigsten Erreger. Neben der akuten Endokarditis können auch infizierte Herzklappen Quelle der septischen Embolien sein. Sie kommen bei drogenabhängigen und immunsupprimierten Patienten, nach Zentralvenenkatether oder chronischen Infektionen vor. 3Symptome. Kopfschmerzen, Meningismus, Fieber und Herdsymptome infolge der multiplen zerebralen ischämischen Infarkte. Die Diagnose wird klinisch (Systolikum über Aortenoder Mitralklappe), echokardiographisch, durch entzündlichen Liquor und mit wiederholten Blutkulturen, die aber negativ sein können, gestellt. Im CT und im MRT findet man multiple intrakranielle Läsionen, die als kleine Infarkte, Mikroabszesse oder kleine sekundäre Blutungen erscheinen. Mykotische Aneurysmen prädisponieren zur Subarachnoidalblutung. 3Therapie. Antibiotisch (Penicillin 4 x 10-20 Mio. IE pro Tag plus Cephalosporin 3 x 2 g pro Tag plus Vancomycin 30 mg/kg KG pro Tag). Umstritten ist die Gabe von Heparin. Einerseits könnte Heparin das Risiko weiterer Embolien verhindern, andererseits aber bei einer Krankheit mit sehr hoher spontaner Blutungsneigung das Blutungsrisiko erhöhen. Wir entscheiden uns inzwischen meist für eine Vollheparinisierung im unteren therapeutischen Bereich (PTT um 50–60 s). Umstritten ist die Frage, ob und wann Patienten mit septischer Herdenzephalitis kardiochirurgisch behandelt werden sollen. Während viele Kardiochirurgen je nach Klappenfunktion zurückhaltend sind, sehen wir in den großen Risiken weiterer Embolien eine frühzeitige Operationsindikation, wohl wissend, dass das Operationsrisiko bei gleichzeitig bestehenden intrakraniellen Infarkten erhöht ist. Die Mortalitätsrate bei Patienten, die subarachnoidal aus mykotischen Aneurysmen bluten oder eine Begleitmeningitis entwickeln mit ausgedehnten territorialen Infarkten und Abszessbildung, liegt bei 80%. Moya-Moya-Syndrom Dies ist eine in China und Japan häufige, in USA und Mitteleuropa seltene entzündliche, vermutlich immunologisch vermittelte (Reaktion auf Leptospireninfektion?), z.T. auch genetisch angelegte Krankheit, die durch fortschreitende Stenosierungen und Verschlüsse der distalen Interna und des vorderen Anteils des Circulus arteriosus Willisii gekennzeichnet ist. Es bildet sich ein Netzwerk von abnormen Kollateralen, die angiographisch ein »wolkenartiges« Aussehen haben (jap. Moya-Moya, kleine Wolke; . Abb. 5.38). Klinisch haben die meist jungen Patienten rezidivierende ischämische Symptome. Der Verlauf ist stark variabel und nicht vorhersehbar. Behandelt wird mit Thrombozytenaggre-

219 5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

gationshemmern, manchmal auch Kortison. Operationen (extrakraniell-intrakranieller (EC-IC)-Bypass, Omentum-Transplantation) sind in Einzelfällen versucht worden. CADASIL (zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie) Diese dominant vererbte Erkrankung der kleinen Gefäße äußert sich mit rezidivierenden Schlaganfällen, auch Pseudobulbärparalyse und Multiinfarktdemenz. Die Patienten sind meist jünger und haben im CT oder MRT eine deutliche Hirnatrophie, multiple subkortikale Infarkte und eine SAE, ohne dass die üblichen Risikofaktoren vorliegen (. Abb. 5.39). Besonders auffallend ist die Beteiligung der Temporallappen an der Pathologie. Manche werden durch eine Demenz auffällig. Viele jüngere Patienten haben eine Migräne mit Aura und die genannten CT-/MRTVeränderungen. In der Hautbiopsie lassen sich elektronenmikroskopisch typische Veränderungen finden. Das Gen für diese Krankheit ist identifiziert und wird auf einen Genort auf Chromosom 19 bezogen. Eine Variante mit familiärer hemiplegischer

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. Abb. 5.37a,b. Luftembolie. a akute, multiple Luftembolien (nach Herzoperation), die als kleine, runde Dichteminderungen an der Mark-Rindengrenze zu sehen sind, b Nach einigen Tagen Resorption der Luft und Ausbildung eines überwiegend im rechten vorderen Marklager erkennbaren ischämischen Ödems. (S. Hähnel, Heidelberg)

. Abb. 5.38. Angiographische Darstellung eines Moya-MoyaSyndroms mit hochgradiger Siphonstenose der A. carotis interna links nach Abgang der A. ophthalmica und ausgedehntem rete mirabile. (Aus Hacke et al. 1991)

Migräne mit Lokalisation auf dem gleichen Gen wurde kürzlich beschrieben. Migräne-assoziierter Schlaganfall Patienten (meist Patientinnen) mit Migräne mit Aura erleiden gelegentlich Schlaganfälle, besonders wenn gleichzeitig orale Antikonzeptiva genommen werden und ein Nikotinabusus vorliegt. Der Pathomechanismus hierfür ist nicht endgültig geklärt. Auch im »normalen« Migräneanfall selbst kommt es zu einer Verminderung des zerebralen Blutflusses, der bei Aurasymptomatik auch die Funktionsschwelle unterschreiten kann. Er erreicht aber praktisch nie die Infarktschwelle. Im Migräneanfall sind hämostaseologische Veränderungen beschrieben worden (Erhöhung von thrombozytenaggregationsfördernden Substanzen wie Thromboxan, Plättchenfaktor 4). Hypertensive Krise Bei Blutdruckwerten über 120 mmHg diastolisch (systolisch dabei häufig um 240 mmHg oder darüber) können Störungen

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

der Gehirnfunktion auftreten, die einen Schlaganfall imitieren.

hintergrund erkennt man das Bild der sog. angiospastischen Retinopathie, gelegentlich auch ein Papillenödem.

3Pathophysiologie. Die krisenhafte Blutdrucksteigerung führt zum Versagen der Autoregulation der Hirngefäße mit verstärkter Durchlässigkeit der Basalmembran der Gefäßwände (englisch plastisch als »Breakthrough-Phänomen« bezeichnet), konsekutivem Hirnödem und perivaskulären, kleinen Blutungen.

3Diagnostik. Im EEG besteht eine diffuse Verlangsamung der Aktivität. Im zerebralen Computertomogramm und im MRT findet man weder die Zeichen der Massenblutung noch gefäßabhängige Bezirke verminderter Dichte, sondern Zeichen der Hirnschwellung und selten kleine Blutungen in umschriebenen Rindengebieten.

3Klinik. Die Patienten bekommen sehr heftige Kopfschmerzen, nicht selten fokale oder generalisierte epileptische Anfälle und zerebrale Herdsymptome, die von Bewusstseinstrübung begleitet sein können. Typische Herdsymptome sind im Karotisterritorium Hemiparese und Aphasie, im vertebrobasilären Territorium kortikale Blindheit oder Hemianopsie. Am Augen-

3Therapie. Man gibt sofort Nitrendipin sublingual, Captopril 25 mg sublingual oder Clonidin 0,15 mg langsam i.v., zudem eventuell Furosemid 20 mg i.v. und zusätzlich zur Sedierung Diazepam. Der Blutdruck wird in engen Abständen gemessen und anschließend mit intravenösen Antihypertensiva, in Absprache mit dem Internisten, kontrolliert.

. Abb. 5.39. CADASIL. MRT-Befund bei molekulargenetisch gesichertem CADASIL, T2-Sequenz. Massive Mikroangiographie mit lakunären Infarkten und periventrikulärer Dichteminderung sowie der für das Syndrom typische Atrophie und Mikroangiopathie der frontalen Temporalpole

221 5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie

In Kürze Gefäßversorgung des Gehirns Ischämische Infarkte werden begleitet von Reduktion des Blutflusses im Gehirn mit nachfolgendem Sauerstoffmangel. Unterschreiten der für Hirngewebsstrukturen variablen Schwelle stört Funktionsstoffwechsel der Neurone, Strukturstoffwechsel bleibt bestehen. Weiteres Absinken des zerebralen Blutflusses führt zum Zusammenbruch des Strukturstoffwechsels, zum Absterben der Zellen und zum Infarkt.

Epidemiologie und Risikofaktoren Inzidenz. 150-200/100.000 Einwohner/Jahr; 80-85% ischämische Infarkte, 15-20% Sinusthrombosen, intrazerebrale und Subarachnoidalblutungen. 10–15% Mortalität. Risikofaktoren. Nicht modifizierbare Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, genetische Disposition zu kardio- und zerebrovaskulären Krankheiten; Modifizierbare Risikofaktoren wie Hypertonie, Vorhofflimmern, Fettstoffwechselkrankheiten, Diabetes, Rauchen, Alkohol.

Ischämische Infarkte Arteriosklerose und Stenosen. Durch Störungen des Cholesterinmetabolismus und endotheliale Schädigungen. Arteriosklerose führt zu Stenosen hirnversorgender Gefäße, die hämodynamisch bedingte Infarkte oder Embolien auslösen. Lokale arterielle Thrombosen. Durch Arteriosklerose an den großen Hirnbasisgefäßen. Embolien. Verschluss einer zerebralen Arterie; Ursache für 30% aller Hirninfarkte, stammen aus dem Herzen, den hirnzuführenden (Aorta, Karotis, Vertebralarterien) oder intrakraniellen Arterien (Karotissiphon, intrakranielle Vertebralis, Basilaris). Intrazerebrale Arteriolosklerose. Durch Alter, Hochdruck, Diabetes oder Hypercholesterinämie entsteht Verdickung der Gefäßwand, die durch arteriosklerotischen Verschluss oder zusätzliche Thrombose zu subkortikalen, kleinen Infarkten führt. Lakunäre Infarkte. Motorische Halbseitensyndrome durch mikroangiopathische Veränderungen der perforierenden Arterien.

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Dissektion. Einblutung in Gefäßwand durch schweres Trauma wie Stich- und Schussverletzung mit monosymptomatischen Schmerzen im vorderen Halsdreieck.

Einteilung der zerebralen Ischämien Nach Schweregrad. Völlige oder weitgehende Rückbildung der Symptome (flüchtige Ischämie) oder bleibende neurologische Ausfallerscheinungen (vollendeter Infarkt). Nach Infarktmorphologie. Durch Hypertonie bedingte Veränderung der kleinen, intrazerebralen Endarterienwand (Mikroangiographie) oder thrombembolisch bzw. hämodynamisch verursacht (Makroangiographie).

Klinik und Gefäßsyndrome Zerebrale Ischämien in der vorderen Zirkulation. A. carotis interna: Hemisphärische Ischämien mit flüchtigen kontralateralen Halbseitensymptomen wie ausgedehnter Visusverlust auf einem Auge. A. cerebri media: Sensible, motorische, kontralaterale Halbseitensymptome, Störungen der Blick- und Sprechmotorik, neuropsychologische Syndrome. A. cerebri anterior: Parese des kontralateralen Beins, der Hüfte und Schulter, Antriebs- und Orientierungsstörungen. Zerebrale Ischämien in der hinteren Zirkulation. A. vertebralis: Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, Tonusverlust bei beidseitiger hochgradiger Stenosierung. A. cerebelli inferior posterior: Frühsymptome sind u.a. Schluckauf, Erbrechen, Doppelbilder durch Abduzenslähmung. A. basilaris: Symptomatik uncharakteristisch, u.a. Zeigeataxie, horizontaler Nystagmus zur Gegenseite, ipsilaterales HornerSyndrom. Basilaristhrombose: Ausgedehnte, oft bilaterale Funktionsstörungen. Mortalität ohne Behandlung: 80%. A. cerebri posterior: Apathie, Desorientiertheit, Aspontaneität, homonyme Hemianopsie zur Gegenseite, Hemineglect, Hemiataxie, Gedächtnisstörungen. Multiinfarktsyndrome. Intellektuelle, affektive Nivellierung mit neuropsychologischen Störungen bei subkortikaler arteriosklerotischer Enzephalopathie. Dysarthrische Sprechstörung, Heiserkeit, pathologisches Lachen und Weinen mit schubweisem Verlauf bei Status lacunaris.

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Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Apparative Diagnostik

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CT: Differenzierung zwischen intrazerebraler Blutung und ischämischer Läsion, Aussagen über Ort, Art, Alter und Ausdehnung des Infarkts. MRT bei Hirnstamminfarkten; MRA bei Verdacht auf Sinusthrombose oder bei Suche nach größeren Aneurysmen; Perfusions- und Diffusions-MRT: Erkennen früher ischämischer Areale. Ultraschall: Diagnostische Abklärung zerebrovaskulärer Erkrankungen; Akutphase: Erkennen eines intrakraniellen Gefäßverschlusses; Postakutphase: Ätiologische Einordnung der Schlaganfallursache wie Emboliequelle, extrakranielle Gefäßveränderungen. Angiographie: U.a. vor oder bei interventionellen Eingriffen, bei intrakraniellen Gefäßstenosen, bei Verdacht auf Pseudoaneurysma nach Dissektion oder Vaskulitis. Kardiologische Diagnostik: Transthorakales Echokardiogramm (TTE) oder transösophageale Echokardiographie (TEE). Labordiagnostik: Aufdeckung allgemeiner Risikofaktoren für Arteriosklerose, Überprüfung anderer Organfunktionen, Nachweis seltener Schlaganfallätiologien. Biopsien: Gefäß- und Muskelbiopsien bei Verdacht auf Vaskulitis, Hautbiopsie bei Verdacht auf genetisch bedingte Mikroangiopathie.

Allgem. Therapie: Oxygenierung, Blutzuckerkontrolle, Infektbehandlung, Thromboseprophylaxe. Perfusionsverbessernde Therapie (Thrombolyse): Zurzeit einzige gesichert wirksame Behandlungsmethode. Ausschluss: Blutung und großer, früher Infarkt. Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen: Behandlung des erhöhten intrazerebralen Druckes durch Osmotherapie, Hyperventilation, Barbiturate; Dekompressionsoperation bei mittleren intrakraniellen Druckwerten von >30 mmHg. Weitere Maßnahmen: Logopädie, Rehabilitation, Krankengymnastik

Prophylaxe Primärprophylaxe. Verhinderung des Schlaganfalls beim Gesunden durch Behandlung der Risikofaktoren. Operative Primärprophylaxe z. B. bei rascher Progredienz der Stenose. Sekundärprophylaxe. Verhinderung eines weiteren Schlaganfalls durch Verhaltensänderung und Medikation; Chirurgische Sekundärprophylaxe z. B. bei Karotisstenose, ischämischen Hirninfarkt, ausgeprägten neurologischen Defiziten.

Seltene Schlaganfallursachen Therapie Notfalltherapie: Stabilisierung und Normalisierung allgemeiner Körperfunktionen wie Herz-Kreislauf, Lungenfunktion, Flüssigkeitshaushalt, metabolische Parameter.

Vaskulitische Infarkte (wie M. Behçet, Riesenzellarteriitis), seltene vaskuläre Krankheiten des ZNS (wie Fett- und Luftembolie, Migräne-assoziierter Schlaganfall, hypertensive Krise).

6 6 Spontane intrazerebrale Blutungen 6.1

Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie – 225

6.2

Symptome – 227

6.3

Diagnostik – 228

6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4

Computertomographie – 228 Magnetresonanztomographie – 229 Angiographie – 229 Labordiagnostik – 230

6.4

Therapie

6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4

Konservative Therapie – 230 Chirurgische Therapie – 232 Rehabilitative Maßnahmen – 233 Prognose – 233

– 230

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Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

> > Einleitung

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Die drei Herren in . Abbildung 6.1 sollten Sie noch aus Ihrem Geschichtsunterricht kennen. Richtig, es sind Churchill, Roosevelt und Stalin bei der JaltaKonferenz. Roosevelt und Stalin haben, abgesehen davon, dass sie zu den Siegern des 2. Weltkriegs gehören, noch etwas gemeinsam: Sie starben beide kurze Zeit später an einer spontanen intrazerebralen Blutung, d.h. einer nicht traumatisch bedingten Blutung in das Hirnparenchym. (Übrigens, auch Churchill war zu dieser Zeit schon durch viele kleine Schlaganfälle bei zerebraler Mikroangiopathie (7 Kap. 5) gezeichnet.) Die drei Politiker, die über die Zukunft der Welt entschieden, litten alle an einer fortgeschrittenen vaskulären Krankheit des Gehirns. Man darf sich fragen, inwieweit dies die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Und vielleicht wäre es auch interessant zu wissen, bei wie vielen unserer heutigen Entscheidungsträger diese Konstellation vorliegt- oder: besser nicht. Die häufigste Ursache der spontanen intrazerebralen Blutung ist der Bluthochdruck. Die Symptomatik entwickelt sich, wie bei zerebralen Durchblutungsstörungen, meist rasch (»Schlaganfall«). Spontane intrazerebrale Blutungen sind für etwa 10% aller Schlaganfälle verantwortlich. Aus der Symptomatik lässt sich nur selten darauf schließen, ob eine Blutung oder Durchblutungsstörung zugrunde liegt. Dies ist jedoch für die Therapie von entscheidender Bedeutung. Zur Klärung sind bildgebende Verfahren (primär CT) erforderlich; diese geben oft auch Hinweise auf die Ursache einer Blutung.

Vorbemerkungen 3Definition. Als spontane intrazerebrale Blutungen (ICB) bezeichnet man Blutungen in das Hirnparenchym, die nicht traumatisch bedingt sind. Die Einteilung der Blutungen kann nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen, die Ätiologie, Lage und Schweregrad berücksichtigen. In Abhängigkeit von der Lage der spontanen intrazerebralen Blutung unterscheidet man Stammganglienblutungen, Lobärhämatome, Kleinhirnblutungen, Hirnstammblutungen, intraventrikuläre Blutungen und Blutungsbe-

. Abb. 6.1. Roosevelt, Churchill und Stalin bei der Konferenz von Jalta. (Bildquelle: DHM Berlin, F60/13.11)

teiligung bei subarachnoidaler Blutung. Häufig gibt die Lage der Blutung schon einen Hinweis auf die zugrunde liegende Ätiologie: So sind Stammganglienblutungen meist hypertensiv, Lappenhämatome bei älteren Patienten meist die Folge eine Amyloidangiopathie (s.u.), während sie bei jüngeren Patienten als »atypisch« gelegene Blutungen oft auf eine Gefäßmissbildung oder eine Tumorblutung deuten. 3Epidemiologie. Spontane ICB sind bei 15% der Patienten

Ursache eines Schlaganfalls. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen. Die Häufigkeit spontaner ICB nimmt im höheren Lebensalter zu. Es gibt deutliche ethnische Unterschiede der Krankheitsinzidenz: Die jährliche Inzidenz beträgt 15–20 Fälle pro 100.000 Einwohner bei der weißen Bevölkerung in Europa und Nordamerika. Dagegen ist die Inzidenz bei Ostasiaten (Japan) 60/100.000, bei der afroamerikanischen und bei der hispanischen US-Bevölkerung 35/100.000.

. Tabelle 6.1. Andere, nicht hypertensive Ursachen der intrazerebralen Blutungen und der Subarachnoidalblutungen Gefäßkrankheiten

Amyloidangiopathie, Amyloidose, Arteriitis, Dissektion

Blutkrankheiten und Gerinnungsstörungen

Antikoagulanzien, Aspirin, Thrombolytische Therapie, DIC, Hämophilie, Leukämie, Sichelzellanämie, Thrombozytopenie, Anti-Kardiolipinantikörper

Intoxikationen

Alkohol, Amphetamine, Kohlenmonoxid, Kokain, Crack, Ecstasy Adrenalin, Monominooxidase hemmer, Sympatikomimetika

Traumaa

Schädelhirntrauma, epileptischer Anfall, Strangulation

Tumoren

Melanom- und Karzinommetastasen, Ependymome, Meningeosis

Venenthrombose

Hormonelle Schwankungen, Schwangerschaft, Eklampsie, Kontrazeptiva

a

Gelten nicht als spontane Blutungen und sind hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt. DIC disseminierte introvasale Gerinnung (C für coagulation).

225 6.1 · Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie

Facharzt

Weitere Risikofaktoren und Ursachen für spontane intrazerebrale Blutungen Erkrankungen des Herzens und des blutbildenden Systems, Gerinnungsstörungen. Bei infektiöser Endokarditis, Leukämie, Thrombozytopenien (z.B. thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura) und disseminierter intravasaler Gerinnung finden sich disseminierte kleine Blutungen. Kardiale Krankheiten (außer solchen, die einer Antikoagulation bedürfen, s.o.) und ihre Risikofaktoren Diabetes, Hypercholesterinämie und Zigarettenrauchen sind keine wesentlichen Risikofaktoren der ICB. Dagegen werden sehr niedrige Cholesterinwerte (unter 150 Gesamtcholesterin) als Risikofaktor für ICB angesehen, die das Blutungsrisiko in etwa verdoppeln. Sinusthrombosen. Diese können durch venöse Stauung eine ICB auslösen (7 Kap. 7). Alkoholkonsum. Ausgeprägter Alkoholkonsum erhöht das Risiko, eine ICB zu erleiden, um das 5- bis 6fache. Drogen- und Medikamentennebenwirkungen. Crack, Kokain und Amphetamine verursachen intrazerebrale Blutungen durch

6.1

Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie

Ätiologie Hoher Blutdruck ist der wichtigste Risikofaktor der spontanen ICB. Man findet ihn bei etwa 70% der Patienten. Andere wesentliche Ursachen sind die Amyloidangiopathie und Gefäßmissbildungen. Es lassen sich anhand der wichtigsten Risikofaktoren und Ursachen folgende Formen spontaner ICB unterscheiden: 4 hypertensive (Massen-, d.h. massive) Blutung, 4 Blutung bei Amyloidangiopathie, 4 Blutung bei Gefäßmissbildungen (7 Kap. 8), 4 Blutung bei Antikoagulanzien oder thrombolytischer Therapie. Zu weiteren Risikofaktoren und Ursachen spontaner ICB 7 Box und . Tabelle 6.1. Pathogenese und Pathophysiologie Hypertensive (Massen-)Blutung. Die hypertensiven Blutungen finden bevorzugt in Hirnabschnitten statt, die von perforierenden Hirnarterien versorgt werden. Die Wand der lentikulostriären und paramedianen Arterien ist dünner als die Wand von kortikalen Arterien gleichen Durchmessers. Der Druck in den perforierenden Arterien ist durch ihren direkten Abgang von den großen Piaarterien im Verhältnis zu ihrem Durchmesser relativ hoch. Chronischer Hypertonus führt zu Veränderungen der Wand der dünnen, perforierenden Arterien in Form der fibrinoiden Nekrose. Degenerative Veränderungen der Gefäßwand führen zur Lipohyalinose, bei der es subintimal zur Fettablagerung

hypertensive Krisen oder (Hypersensitivitäts-)Vaskulitis. Dieser Mechanismus kann auch die Ursache von Blutungen nach Einnahme von Schmerzmitteln oder Antibiotika sein. Intoxikationen mit den oben genannten Substanzen sowie mit MAO-Hemmern, Sympathikomimetika, Alkoholintoxikation oder Kohlenmonoxid können ICB auslösen. Tumorblutungen. Metastasen von Melanomen und hypernephroiden Nierenkarzinomen sowie hochmaligne primäre Hirntumoren (apoplektisches Gliom) bluten relativ häufig. Bei atypischer Blutungslage sind daher mehrere MRT-Kontrolluntersuchungen (z.B. nach 3 und nach 8 Wochen) erforderlich. Eklampsie. Intrazerebrale Blutungen unter Eklampsie führen in einem Drittel zu einer maternalen Mortalität und damit häufig zu kindlichen Problemen, die sekundär zu den maternalen auftreten, insbesondere abhängig von intrakraniellen Drucksteigerungen.

kommt, und zur Ausbildung von Mikroaneurysmen. Zusätzliche Anstiege des systolischen Blutdrucks, die bei eingeschränkter Vasoreaktivität nicht mehr kompensiert werden können, führen dann zur Rhexisblutung. Diese pathogenetischen Faktoren begründen auch die typische Lokalisation hypertensiver Blutungen in den Basalganglien (ca. 40%; . Abb. 6.2a,b), dem subkortikalen Marklager (25%; . Abb. 6.2b), dem Thalamus (20%; . Abb. 6.2c), dem Zerebellum (10%; . Abb. 6.2g,h) und der Brücke (5%). Blutung bei Amyloidangiopathie. Die Amyloid- oder kongophile

Angiopathie ist Folge der Ablagerung von Amyloid in der Media und Adventitia mittelgroßer Arterien im Kortex. Die Wandveränderungen disponieren zu rezidivierenden Lappenhämatomen. Amyloidablagerungen nehmen mit steigendem Lebensalter zu (7 Kap. 25.1). Lobärhämatome bei Patienten über 75 Jahre sind praktisch immer Folge einer Amyloidangiopathie. Bei manchen Patienten mit Lobärhämatomen wird über ein vorangegangenes leichteres Kopftrauma berichtet. Blutung bei Gefäßmissbildungen. Folgende Gefäßmissbildun-

gen können einer intrazerebralen Blutung zugrunde liegen: arteriovenöse Missbildung (AVM, 7 Kap. 8.1), arterielles Aneurysma (meist Nachblutung), Durafistel, Kavernom.

4 4 4 4

Gefäßmissbildungen bluten mit einer Häufigkeit von 2% pro Jahr. Die Blutungshäufigkeit hängt von der Größe der AVM, ihrer Lage und der venösen Drainage ab. Intrazerebrale Blutungen aus An-

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226

Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

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66,6001 mm

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227 6.2 · Symptome

eurysmen sind praktisch immer Rezidivblutungen, denen eine typische Subarachnoidalblutung (7 Kap. 9) vorausgegangen ist. Die Blutung liegt meist etwas atypisch basal, in der Nähe der großen Piaarterien. Antikoagulanzien und Thrombolytika. Zwischen 5 und 10% aller

ICB treten unter Heparin- oder Marcumar-Therapie auf. Antikoagulation mit Marcumar begründet ein 0,5–1%iges zerebrales Blutungsrisiko pro Jahr; nur bei einem Drittel der Patienten ist Marcumar überdosiert. Patienten, die wegen kardialer Embolien marcumarisiert worden sind, erleiden häufiger einen embolischen ischämischen Infarkt als eine Hirnblutung. Antikoagulation nach akutem ischämischem Infarkt hat ein etwa 4%iges Risiko einer spontanen ICB pro Jahr. Die thrombolytische Therapie bei Herzinfarkt ist mit einem Risiko einer symptomatischen ICB von 0,5–2% (je nach Dosis und Substanz) verbunden. Die thrombolytische Therapie bei zerebralen Ischämien führt in Abhängigkeit von Dosis, Zeit und Infarktgröße in bis zu 6% der Fälle zu einer symptomatischen ICB. Die ICB unter Antikoagulation und Thrombolyse wird eingeteilt in die harmlose hämorrhagische Infarzierung, die nach embolischen Hirninfarkten auch spontan (in ca. 50–70% der Fälle) auftritt (. Abb. 6.3 links und die ausgedehnte, fast immer mit klinischer Verschlechterung verbundene parenchymatöse Hämorrhagie (symptomatische ICB, . Abb. 6.3 rechts). > Hypertonus und Amyloidangiopathie sind die häufigsten Ursachen spontaner ICB. Bei jüngeren Patienten spielen Gefäßmissbildungen eine wichtige Rolle.

6.2

Symptome

Die klinischen Symptome bei spontaner ICB sind denen der zerebralen Ischämie sehr ähnlich. Sie hängen von Lokalisation und Ausdehnung der Blutung ab. Noch häufiger als bei ischämischen Infarkten beginnen die klinischen Symptome bei ICB abrupt oder entwickeln sich über wenige Minuten. Kopfschmerz, Erbrechen, Halbseitenlähmung, fokale Anfälle und frühe Bewusstseinsstö9 . Abb. 6.2a–i. Verschiedene Typen spontaner intrakranieller Blutungen. a Kleine, laterale Stammganglienblutung links ohne raumfordernde Wirkung, b Außerordentlich große Stammganglienmassenblutung mit Ventrikeleinbruch, Kompression des Foramen Monroi und massiver, raumfordernder Läsion, c Mäßig große Thalamusblutung links bei Mikroangiopathie, d Intraventrikuläre Blutung links, möglicherweise aus einer kleinen Kaudatuskopfblutung hervorgegangen, e Kleine Lobärblutung rechts parietookzipital, f Große, raumfordernde, inhomogene Lobärblutung rechts parietookzipital mit umgebendem Randödem. Zusätzlich noch eine kleinere, subkortikale Blutung rechts frontal. Dieser Befund ist charakteristisch für das Vorliegen einer kongophilen Angiopathie, g,h Computertomographische und kernspintomographische Darstellung einer zerebellären Hemisphärenblutung. In der Kernspintomographie zeigen sich deutlich die unterschiedlichen Signalcharakteristika, die durch die verschiedenen Abbaustufen des Hämoglobin bedingt sind. (K. Sartor, Heidelberg), i Ponsblutung. (M. Hartmann, Heidelberg)

rung sind bei großen Blutungen typisch. Blutungen, die eine flüchtige Symptomatik haben oder innerhalb von Stunden asymptomatisch werden, sind eine Rarität. Auch Prodromi sind sehr selten. Bei den meisten ICB findet man die folgenden Symptome: 4 fokale Ausfälle (typisch für die jeweilige Blutungsstelle und -größe), z.B. Hemiplegie mit Kopf und Blickwendung bei großer Stammganglienblutung oder okulomotorische Störungen mit skew deviation bei mesenzephaler ICB, 4 Symptome des erhöhten intrakraniellen Druckes z.B. Kopfschmerzen, Übelkeit, Schluckauf, Erbrechen, 4 Bewusstseinsstörungen als Ausdruck der schweren intrakraniellen Drucksteigerung (Somnolenz-Sopor-Koma). Vegetative Störungen wie EKG-Veränderungen, Katecholaminausschüttung und Herz-Kreislauf-Störungen sind häufig beschrieben und können im Einzelfall einen Myokardinfarkt mit ST-Senkung, CK-Anstieg und Arrhythmien imitieren. Bei speziellen Blutungstypen können weitere charakteristische Symptome hinzutreten. Lobärblutung Hochgradige Hemiparese, Aphasie, Hemianopsie, Sensibilitätsstörungen, fokale Anfälle und unruhige Verwirrtheit sind häufig. Patienten mit Lobärblutungen sind meist älter als 65 Jahre; fast immer liegt dann eine Amyloidangiopathie zugrunde (. Abb. 6.2f). Bei jüngeren Patienten liegen den Lobärblutungen häufig eine AVM, eine Durafistel, eine Sinusthrombose, eine Gerinnungsstörung oder ein Tumor zugrunde. Basalganglienblutung Bei dieser meist hypertensiven Blutung sind Kopfschmerzen und Erbrechen typische Initialsymptome. Progressive Hemiparese, Blickwendung zur Seite der betroffenen Hemisphäre und homonyme Gesichtsfeldausfälle sind häufig. Blutungen in der dominanten Hemisphäre verursachen trotz der subkortikalen Lage initial eine globale Aphasie. Basalganglienblutungen können medial, in direktem Bezug zur inneren Kapsel, lateral (Capsula externa) oder sehr weit lateral (Capsula extrema) liegen. Auch die Größe kann stark variieren. Es kommen kleine Blutungen von nur wenigen Kubikmillimetern Volumen vor, die flüchtige, TIAähnliche Symptome verursachen, mittelgroße (50 cm3, . Abb. 6.2b) vor. Mediale und große Blutungen neigen dazu, in die Ventrikel einzubrechen. Große Basalganglienblutungen führen zu Koma, Herniation und Hirntod (7 Kap. 11). Thalamusblutung Alle Patienten haben kontralaterale Sensibilitätsstörungen, viele sind bewusstseinsgestört, hemiparetisch und weisen bilaterale Pyramidenbahnzeichen auf. Die meist hypertensiven Blutungen (Mikroangiopathie, . Abb. 6.3c) führen zur vertikalen Blickparese, oft mit Blickdeviation nach unten bei kleinen, aber reaktiven Pupillen. Die vertikale Blickparese entsteht durch Läsion der

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228

6

Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

Kerne in der Nachbarschaft der hinteren Kommissur und der Periaquäduktregion (Nucleus interstitialis). Ventrikeleinbruch ist bei größeren Thalamusblutungen häufig. Die miotischen, auf Licht reagierenden Pupillen sind Folge einer Sympathikusläsion.

trikulären Blutungen, bei denen die Patienten keine fokalen Störungen haben und lediglich über Kopfschmerzen, Benommenheit sowie Nackensteifigkeit klagen. Die Gefahr dieser ventrikulären Blutung liegt im Verstopfen des Aquädukts und der Entwicklung eines Stauungshydrozephalus.

Kleinhirnblutung Sie ist meist Folge eines Hypertonus, seltener eines Kavernoms, und entsteht meist im Nucleus dentatus. Von hier erstreckt sie sich in die Kleinhirnhemisphäre und nach ventral über den mittleren Kleinhirnstiel zum Hirnstamm (. Abb. 6.2g und h). Sie beginnt mit Ataxie, Schwindel und Nystagmus. Je größer das Hämatom, desto stärker die Kompression von Hirnstamm und 4. Ventrikel mit nachfolgender Bewusstlosigkeit. Die Beteiligung des Hirnstamms zeigt sich durch Pupillenstörung, Blicklähmung, Hemiparese und doppelseitige Pyramidenbahnzeichen.

Multilokuläre Blutungen Multiple ICB werden vor allem bei der Amyloidangiopathie, Sinusvenenthrombosen, Gerinnungsstörungen, mykotischen Aneurysmen und Vaskulitis gefunden.

Hirnstammblutung (Brücken- und Mittelhirnblutung) Diese meist durch Hypertonus oder, besonders bei jungen Patienten, Gefäßmissbildung bedingte Blutung manifestiert sich durch tiefes Koma, Streck- und Beugesynergismen, Pupillenstörungen und gestörten okulozephalen Reflex, Atemstörung und Tetraplegie. Ausgedehnte Hirnstammblutungen haben eine sehr schlechte Prognose (. Abb. 6.2i). Kleinere Blutungen können klinisch wie Hirnstamminfarkte imponieren und haben eine gute Prognose. Bei im Vergleich zum Blutungsausmaß geringem neurologischem Defizit liegt meist ein Kavernom des Hirnstamms zugrunde. Intraventrikuläre Blutung Die Seitenventrikel und der 4. Ventrikel können bei Thalamusblutung, medial gelegenen Basalganglienblutungen und Hirnstammblutungen Blut enthalten (. Abb. 6.2d). Ganz selten (bei juvenilem Diabetes, Koagulopathien oder kleinen, subependymalen Gefäßmissbildungen) kommt es auch zu reinen intraven. Abb. 6.3. Hämorrhagische Infarzierung (HI links) und parenchymatöse Hämorrhagie (PH rechts) nach thrombolytischer Therapie. Die HI zeigt lediglich eine diskontinuierliche Hyperdensität in Teilen des Infarktbezirks und führt zu keiner klinischen Verschlechterung. Dagegen nimmt die PH gut die Hälfte des Infarktbezirks ein und hat einen deutlichen raumfordernden Effekt. Eine klinische Verschlechterung ist typisch. Man beachte, dass die Mediainfarkte in beiden Fällen ungefähr gleiche Größen haben. (R. v. Kummer, Dresden)

6.3

Diagnostik

Klinisch sind spontane ICB nicht sicher von ischämischen Infarkten zu unterscheiden. Eine ICB kann nur mit CT oder MRT sicher diagnostiziert werden. 6.3.1 Computertomographie Die CT ist die noch am weitesten verbreitete Methode für die schnelle Beurteilung einer ICB. Sie erfasst Lage und Ausdehnung der Blutung, die sich als Zone erhöhter Dichte, entsprechend dem Hämoglobingehalt des ausgetretenen Blutes, darstellt. Sehr früh untersuchte Blutungen können noch isodens wirken, machen sich dann aber schon durch die raumfordernde Wirkung bemerkbar. Etwa 33% der großen spontanen ICB dehnen sich in den ersten 12–24 Stunden noch weiter aus; dies kann durch Nachblutung oder kontinuierliches Weiterbluten bedingt sein. Daher ist am Folgetag eine CT-Kontrolluntersuchung erforderlich. Die Größenzunahme zwischen Erst- und Kontrolluntersuchung kann bis zu 30% betragen (. Abb. 6.5). Die verbleibenden Defekte nach einer Blutung sind oft überraschend klein. Sie sind in der Regel schlitzförmig.

229 6.3 · Diagnostik

. Abb. 6.4. Blutung im CT MR. Atypisch gelegene links parietookzipitale intrazerebrale Blutung bei einem 74-jährigen Mann ohne wesentliche Risikofaktoren. Dargestellt sind das initiale CT und die MRT vom nächsten Tag in T2- und T1-Sequenzen. Nur gering ausgeprägte beglei-

tende Mikroangiopathie (Thalamuslakune rechts). Man beachte die unterschiedliche Darstellung der verschiedenen Blutabbauprodukte 7 Text) im MRT. (M. Hartmann, Heidelberg)

6.3.2 Magnetresonanztomographie

gleichwertig zur CT in der Frühdiagnostik der ICB angesehen werden. Die MR-Angiographie kann einen ersten Eindruck über zugrunde liegende Gefäßanomalien geben.

Die MRT ist sehr empfindlich in der Aufdeckung von Blutungen. Eigentlich wäre sie die Methode der Wahl, allerdings sprechen Preis, Verfügbarkeit und die Tatsache, dass manche der Patienten zu krank sind, um eine MRT in der Akutphase zu tolerieren, dagegen. In vielen Schlaganfallzentren werden allerdings auch heute schon bei einer großen Zahl von Patienten MRT-Untersuchungen in Ergänzung zum CT durchgeführt. Bei Verdacht auf eine tumorassoziierte Blutung sind MRT-Verlaufsuntersuchungen im Abstand von einigen Wochen und Monaten indiziert. Die MRT mit entsprechenden sensitiven Sequenzen kann mittlerweile als

6.3.3 Angiographie Die selektive, intraarterielle DSA ist im akuten Stadium nur indiziert, wenn ausgedehnte subarachnoidale Blutanteile oder eine atypische Lage der Blutung an ein früh operables Aneurysma oder eine arteriovenöse Gefäßmissbildung denken lassen. Auch

. Abb. 6.5a,b. Blutungsausdehnung. Rechtsseitige, ausgedehnte Stammganglienblutung 3 h (a) und 24 h (b) nach Symptombeginn. Klinisch machte sich die massive Blutungszunahme und Verlagerung der Mittellinie (Pfeil) durch eine Zunahme der Bewusstseinstörung bemerkbar. (M. Hartmann, Heidelberg)

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230

Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

Facharzt

Darstellung von Blutungen im MRT In Abhängigkeit von den Umbauprozessen im Blutextravasat entsteht eine charakteristische zeitliche Abfolge von Signalveränderungen im MRT (. Abb. 6.2h), die hier im Detail nicht besprochen werden sollen, aber eine Einschätzung des Alters der Blutung möglich macht. Mit besonders empfindlichen MRSequenzen (sog. T2*-Sequenzen) lassen eisenhaltige Blutab-

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bei jüngeren Patienten und Patienten ohne wesentliche Hochdruckanamnese zum Ausschluss seltener Ursachen der ICB und beim Verdacht auf eine Durafistel ist die DSA sinnvoll. 6.3.4 Labordiagnostik Sie umfasst routinemäßig Gerinnungsanalyse, rotes und weißes Blutbild. Bei jungen Patienten sollte ein Drogen-Screening durchgeführt werden. Eine Liquorpunktion ist nicht indiziert, außer bei atypischen Blutungen mit Verdacht auf eine Meningeose (Melanom). Dopplersonographie, elektrophysiologische oder nuklearmedizinische Untersuchungen sind nicht hilfreich. . Abb. 6.6. Mikroblutungen (Microbleeds). Mikroblutungen als schwarze Signalauslöschungen im T2*-gewichteten MRT bei einem Patienten mit ausgeprägter Mikroangiopathie. (S. Hähnel, Heidelberg)

bauprodukte nach langer Zeit selbst kleine Blutungsnarben erkennen. Solche oft asymptomatisch gebliebenen Mikroblutungen (. Abb. 6.6) sind prognostisch wichtige Zeichen bei Patienten mit fortgeschrittener Mikroangiopathie, da sie ein erhöhtes Blutungsrisiko anzeigen.

6.4

Therapie

6.4.1 Konservative Therapie Viele Patienten mit Hirnblutung müssen intensivmedizinisch behandelt werden. Bei manchen Patienten sind Ausmaß und Lage der Blutung oder die medizinische Ausgangsposition jedoch so infaust, dass man den Angehörigen vorschlägt, auf eine Therapie zu verzichten. Behandlung der Blutungsausdehnung Fast 40% der Patienten mit einer ICB erleben eine Nachblutung innerhalb von 24 h nach Auftreten der ersten Symptome. In einer

231 6.4 · Therapie

multizentrischen Studie konnte die Rate der Nachblutungen durch die intravenöse Gabe von rekombinantem Faktor VIIa (rFVIIa) signifikant um 50% gesenkt werden. Durch die Therapie wurde auch das funktionelle Ergebnis positiv beeinflusst. Allerdings ist das Medikament für diese Indikation noch nicht zugelassen. Derzeit ist das Medikament außerdem viel zu teuer, um es routinemäßig einsetzen zu können. Außerdem muss der Therapieerfolg in einer 2. Studie repliziert werden. Ventikeldrainage und intraventrikuläre Lyse Bei zunehmender Ventrikelerweiterung oder ausgedehnter intraventrikulärer Blutung wird eine Ventrikeldrainage gelegt. Hierbei kann auch ein Thrombolytikum (rt-PA) intraventrikulär appliziert werden (. Abb. 6.7). Neue Methoden, wie die endoskopische oder stereotaktische Entfernung der Blutgerinnsels, u.U. verbunden mit lokaler intraparenchymatöser Applikation von Thrombolytika zur Verflüssigung der geronnenen Blutmassen, lassen erwarten, dass sich neue Strategien bei der Indikationsstellung zur operativen Entfernung von ICB entwickeln. Allgemeine intensivmedizinische Therapie Künstliche Beatmung 4 Stark bewusstseinsgestörte und komatöse Patienten mit Ver-

lust der Schutzreflexe und respiratorischer Insuffizienz werden intubiert und beatmet. 4 Bei der Intubation muss eine reflektorische Blutdruckerhöhung vermieden werden, da sie eine Nachblutung oder Blutungsausdehnung verursachen kann. Man gibt daher kurz wirksame Sedativa oder Barbiturate, gelegentlich Muskelrelaxanzien. Behandlung des erhöhten intrazerebralen Drucks 4 Beatmung (s.o.), Analgesie, Hochlagerung des Kopfes und

Osmotherapie stellen die Basistherapie dar. Länger dauernde Osmotherapie kann zu einer Anreicherung der osmotischen Substanz in der Blutung und so zur Wasseraufnahme und weiteren Ausdehnung des geschädigten Bezirks führen. . Abb. 6.7a,b. Intraventrikuläre Lyse. Ausgedehnte rein intraventikuläre Blutung vor (a) und 36 h nach Instillation von 4 mg rtPA (b). Das ventrikuläre Blut ist nahezu vollständig verschwunden. Spontan sieht man diese Besserung frühestens nach 5–7 Tagen. Entsprechend verkürzt werden kann auch der Aufenthalt auf der Intensivstation. (M. Hartmann, Heidelberg)

a

4 Mannitol sollte daher nur kurzzeitig eingesetzt werden. Es wird empfohlen, die Osmotherapie mit Diuretika (Furosemid) zu kombinieren. Barbiturate, Tris-Puffer und hypertone Kochsalzlösungen werden ebenfalls eingesetzt (zur Dosierung 7 Kap. 5). 4 Steroide können bei Blutungen eingesetzt werden, obwohl es hierfür keine belegenden Studien gibt. Es handelt sich also um einen individuellen Therapieversuch, wenn die Ödembildung um die Blutung besonders ausgeprägt ist. Man gibt 40–80 mg Dexamethason im Bolus, gefolgt von 2-mal 16 mg pro Tag, über 7–10 Tage ausschleichend.

Blutdrucksenkende Therapie. Im Gegensatz zum ischämischen

Infarkt (7 Kap. 5) müssen bei einer spontanen ICB deutlich erhöhte Blutdruckwerte gesenkt werden, denn fortbestehender hoher Blutdruck führt zur Blutungsausdehnung. Eine zu drastische Blutdrucksenkung ist aber nicht sinnvoll, da dies den Perfusionsdruck im Gewebe um den Blutungsherd kritisch beeinträchtigen kann. Am häufigsten werden Urapidil und Betablocker eingesetzt (. Tabelle 5.7). Therapie epileptischer Anfälle. Bei großen lobären Blutungen schlagen manche Autoren eine prophylaktische Gabe von Phenytoin vor. Manifeste epileptische Anfälle werden mit PhenytoinSchnellaufsättigung (750 mg Kurzinfusion, danach 3-mal 250 mg pro Tag, gesteuert nach Serumspiegel) behandelt. Wir vermeiden sedierende Medikamente wie Clonazepam oder Diazepam bei wachen, nicht intensivstationspflichtigen Patienten. Weitere Maßnahmen. Hyperglykämien sollen vermieden werden. Zur Therapie von Gerinnungsstörungen 7 folgende Box. Patienten mit großen Blutungen neigen zu Hypermetabolismus und brauchen eine adäquate enterale oder parenterale Ernährung. Zur Stressulkusprophylaxe dienen Analgosedierung, gemischt parenteral-enterale Ernährung und H2-Blocker. Wir verabreichen Heparin s.c. zur Thromboseprophylaxe. b

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Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

Exkurs Behandlung von Gerinnungsstörungen 4 Marcumar, Heparin oder Thrombolytika absetzen! 4 Bei Marcumarblutungen gibt man Gerinnungsfaktoren oder Fresh-frozen-Plasma und Vitamin K (30 mg/d). 4 Patienten mit heparinbedingten Blutungen erhalten Protaminsulfat (3 mg pro 100 IE Heparin). 4 Ob die Gabe von ε-Aminocapronsäure und Kryopräzipitaten bei thrombolyseassoziierten Blutungen sinnvoll ist, ist unklar. 4 Blutungen bei Hämophilie werden durch Substitution des fehlenden Gerinnungsfaktors behandelt.

4 Plättchendysfunktion bei Leukämie oder aplastischer Anämie wird durch Plättchentransfusion behandelt. 4 Bei thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura behandelt man mit Fresh-frozen-Plasma, Immunsuppressiva und Kortison, manchmal auch mit Plasmaaustausch. Die Therapie ist besonders schwierig, da Thrombosen und Blutungen gemeinsam vorkommen.

6 6.4.2 Chirurgische Therapie Offene Evakuation Die chirurgische Entfernung intrazerebraler Blutmassen scheint eine logische Therapie zu sein. Das morphologische Ergebnis ist oft beeindruckend (. Abb. 6.8). 4 Es gibt bis heute keine klaren Richtlinien, wann ein Patient mit einer intrakraniellen Blutung eine Hämatomevakuation erhalten soll. 4 Sicher ist, dass Patienten mit kleinen Hämatomen (>10 ml) meist ohne Operation eine gute Prognose haben. 4 Bei Patienten, die schon bei Aufnahme komatös sind, wird in der Regel von einer Hämatomausräumung abgesehen. 4 Dasselbe gilt vielerorts für Patienten mit großen linkshirnigen Blutungen. Patienten mit Kleinhirnblutung, die zu einer Hirnstammkompression führen, sollten operiert werden. 4 Patienten mit mittelgroßen Hämatomen und mittelschwerer klinischer Symptomatik profitieren möglicherweise von einer Operation, vor allem wenn sie eine zunehmende Bewusstseinstrübung entwickeln und/oder im CT eine zunehmende raumfor-

dernde Wirkung mit Mittellinienverschiebung nachzuweisen ist. 4 Die ultrafrühe Operation führt allerdings zu inakzeptablen Raten an Nachblutungen. 4 Solitäre Hirnstamm- und Thalamusblutungen werden in der Regel nicht operiert. Obwohl ICB häufig sind, gibt es leider keine gesicherten prospektiven Daten, die eine Überlegenheit der operativen Evakuation gegenüber der konservativen Behandlung beweisen. Im letzten Jahr wurde die bislang größte klinische Studie zu dieser Fragestellung veröffentlicht (STICH-Studie), bei der erneut keine Überlegenheit der operativen Therapie bei unselektionierten Blutungspatienten gefunden wurde. Allerdings beruhte die Studie auf dem sog. uncertainty principle, d.h. Patienten wurden nur dann eingeschlossen, wenn sich die behandelnden Ärzte über die weitere Versorgung (OP oder nicht) unsicher waren. Die Entscheidung über operative oder konservative Therapie treffen daher weiterhin Neurochirurgen und Neurologen gemeinsam. Entscheidungshilfen sind Alter, Bewusstseinslage (kei-

. Abb. 6.8. Große, frische Lobärblutung vor (a) und (b) neurochirurgischer Blutungsentfernung. Man sieht einige kleine Lufteinschlüsse im OP-Gebiet, die Blutung ist weitgehend entfernt. (A. Unterberg, Heidelberg)

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233 6.4 · Therapie

Exkurs Operationsindikationen bei spontaner ICB 4 Hirnstamm- und Thalamusblutungen werden nur operativ entfernt, wenn sie durch Kavernome bedingt sind. 4 Basalganglienblutungen mit einem Durchmesser von mehr als 35 cm werden operativ entfernt, wenn sich die Bewusstseinslage des Patienten verschlechtert hat oder die Hirndruckerhöhung pharmakologisch nicht zu beherrschen ist. Sehr ausgedehnte Blutungen mit Verschiebung der Mittel-

linienstrukturen und erheblichem Ödem werden nur operativ entfernt, solange der Patient noch bei Bewusstsein ist. Gleiche Indikationen gelten für Lappenhämatome. 4 Kleinhirnblutungen mit einem Durchmesser von mehr als 3–4 cm werden operativ entfernt. Kleinere Hämatome werden operiert, wenn Zeichen der Hirnstammbeeinträchtigung auftreten.

Leitlinien Behandlung intrazerebraler Blutungen* 4 RR senken bei Werten über 170/90 mm Hg (C). 4 Rascher Transport in die Klinik zum CCT und zur Intensivbzw. Stroke-unit-Behandlung (A). 4 Bei Patienten mit rasch progredienter Bewusstseinstrübung ist eine frühzeitige Intubation indiziert (B). 4 Generell besteht die Indikation zur Intubation bei CO2Werten über 60 mm Hg oder pCO2-Werten über 50–55 mm Hg (A). 4 Bei Gerinnungsstörungen ist die schnellstmögliche Korrektur der Gerinnungsstörung mit der Gabe von Frischplasmenkonzentraten oder PPSB sinnvoll (B). 4 Das hämostatische Faktor-VIIa-Konzentrat innerhalb von 3 Stunden nach Blutung (NOVO7) zeigt in einer ersten Studie einen signifikanten Nutzen (B).

ne Operation bei tiefem Koma) und Begleiterkrankungen des Patienten, Größe und Lage der Blutung (7 Box) und der mutmaßliche Wille des Patienten. Stereotaktische und endoskopische Blutungsentfernung Manche Neurochirurgen sind überzeugt, dass der weniger traumatische endoskopische Eingriff bei der Entfernung der Blutung Vorteile hat, andere sind sicher, dass der dekompressive Effekt einer Kraniotomie wichtig ist. Es gibt keine verlässlichen Studien, die den Vorteil der minimal invasiven Therapie belegen würden. 6.4.3 Rehabilitative Maßnahmen Wesentlich sind Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie (7 Kap. 5.7.5) und die Behandlung der Risikofaktoren. Sie unterscheiden sich nicht von denen nach ischämischen Infarkten. 6.4.4 Prognose Verglichen mit dem Hirninfarkt ist die Prognose der intrazerebralen Blutung schlechter. Die durchschnittliche Mortalität der

4 Die Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks folgt den Richtlinien zur Behandlung des intrakraniellen Drucks bei anderen Erkrankungen (B). 4 Beseitigung der Blutungsquelle durch Operation oder Coiling bei Aneurysma oder Angiom als Blutungsquelle (gesicherter Therapieansatz) (A). 4 Ventrikeldrainage bei intraventrikulärer Blutungsbeteiligung und Liquorabflussbehinderung (B). 4 Bisher keine klaren Richtlinien, wann ein Patient mit einer intrakraniellen Blutung eine Hämatomevakuation erhalten soll. 4 Prognostische Faktoren sind Größe der Blutung, ventrikuläre Blutungsbeteiligung, initialer GCS und hohes Alter (A). *Leitlinien der DGN 2005

ICB liegt bei 30–50%, ist aber stark abhängig von Ausdehnung und Lokalisation der Blutung und dem Alter des Patienten. Je größer das Blutvolumen, desto schlechter ist die Prognose (Grenzwerte bei supratentoriellen Hämatomen >50 ml Volumen, bei infratentoriellen Hämatomen >20 ml Volumen). Überschreitet die Blutmenge 100 ml, liegt die Mortalität bei über 90%. Frühes Koma, zentral gelegene Blutungen (Hirnstamm, Thalamus) und der Einbruch von Blut in das Ventrikelsystem oder in den Subarachnoidalraum zeigen ebenfalls eine ungünstige Prognose an. Die Langzeitprognose ist insgesamt als ungünstig anzusehen. So leben nach 3 Jahren nur noch 35% der Patienten und von diesen nur die Hälfte ohne Behinderungen des täglichen Lebens, d.h. nur ca. 15–20% aller Blutungspatienten überleben ohne wesentliche bleibende Behinderung. ä Der Fall Eine 85 Jahre alte Patientin wird aus dem Altenheim in die Klinik gebracht. Ihre Betreuerin berichtet, dass die Patientin schon mehrere Schlaganfälle gehabt habe, aber immer noch einigermaßen selbständig gewesen sei. Am frühen Nachmittag habe man sie bewusstlos auf dem Boden liegend aufgefunden. In der nächsten halben Stunde sei sie etwas wacher geworden, habe aber nicht

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Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

sprechen können. Sie habe die rechte Körperhälfte deutlich weniger bewegt als die linke. Bei der neurologischen Untersuchung finden sich eine mittelgradige, am Arm hochgradige Hemiparese rechts, eine Hemianopsie nach rechts und ein Status fokaler Anfälle mit ständigen Zuckungen des rechten Arms. Die Patientin ist global aphasisch, nimmt keinen Kontakt auf, wirkt dabei aber wach. Der Blutdruck beträgt 210/115 mmHg, der Puls ist arrhythmisch. Das EKG zeigt eine absolute Arrhythmie. Das CT (. Abb. 6.9) zeigt eine mittelgroße Basalganglienblutung links; außerdem finden sich multiple Lakunen und eine Demyelinisierung des Marklagers, d.h. Zeichen einer Mikroangiopathie. Aufgrund des Alters und der zerebralen Vorschädigung wurde auf eine Operation verzichtet. Die Parese bildete sich nur wenig, die Aphasie deutlich zurück.

6 . Abb. 6.9. Computertomogramm einer typischen hypertensiven Basalganglienmassenblutung links. (H. Zeumer, Hamburg)

In Kürze Spontane intrazerebrale Blutungen (ICB)

Diagnostik

Nicht traumatisch bedingte Blutungen in das Hirnparenchym. Inzidenz: 15-20/100.000 Einwohner/Jahr, Ursache für 15% aller Schlaganfälle. Risikofaktoren: Hypertonie, Amyloidangiopathie und Gefäßmissbildungen. Formen: Hypertensive (Massen-)Blutung in von perforierenden Hirnarterien versorgten Hirnabschnitten; Blutung bei Amyloidangiopathie: durch Ablagerung von Amyloid in der Media und Adventitia mittelgroßer Arterien im Kortex; Blutungen bei Gefäßmissbildungen: Blutungshäufigkeit abhängig von Größe, Lage und Drainage der arteriovenösen Missbildung; Antikoagulanzien und Thrombolytika: harmlose hämorrhagische Infarzierung oder ausgedehnte parenchymatöse Hämorrhagie.

CT: Darstellung der Blutungslage und -ausdehnung als Zone erhöhter Dichte. Größenzunahme innerhalb 24h: bis 30%; MRT: Aufdeckung von Blutungen; Angiographie: Bei Verdacht auf früh operables Aneurysma, arteriovenöse Gefäßmissbildung, jüngeren Patienten, Patienten ohne Hochdruckanamnese; Labordiagnostik: Gerinnungsanalyse.

Symptome der intrazerebralen Blutungen Abhängig von Blutungslokalisation und -ausdehnung, abrupter oder langsamer Beginn. Lobärblutung: Hochgradige Hemiparese, Aphasie, Sensibilitätsstörungen, fokale Anfälle bei Patienten > 65 J.; Basalganglienblutung: Kopfschmerz, Erbrechen als Initialsymptome, Koma, Herniation, Hirntod bei großen Blutungen; Thalamusblutung: Hemiparese, kontralaterale Sensibilitäts- und Bewusstseinsstörung; Kleinhirnblutung: Ataxie, Schwindel, Nystagmus, Bewusstlosigkeit; Hirnstammblutung: Koma, Streck-, Beugesynergien, Tetraplegie, Pupillenstörungen; Intraventrikuläre Blutung: Gefahr des Stauungshydrozephalus; Multilokuläre Blutung: Bei Gerinnungsstörung, Sinusvenenthrombose.

Therapie Konservative Therapie: Behandlung der Blutungsausdehnung: Senkung der Nachblutungsrate; Ventikeldrainage und intraventrikuläre Lyse; Allgemeine Intensivtherapie wie künstliche Beatmung, Behandlung des erhöhten intrazerebralen Druckes, Senkung des Blutdruckes. Chirurgische Therapie: Entfernung intrazerebraler Blutmasse durch offene Evakuation oder stereotaktische und endoskopische Blutungsentfernung. Abhängig u.a. von Bewusstseinslage, Blutungsgröße und -lage, Alter. Rehabilitative Maßnahmen: Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie. Prognose: Mortalität: 30-50%, abhängig von Alter, Blutungsausdehnung, -lokalisation

7 7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen 7.1

Anatomie und Pathophysiologie – 236

7.2

Ätiologie – 237

7.2.1 7.2.2

Septische Sinusthrombosen – 237 Aseptische Sinusthrombosen – 237

7.3

Diagnostik – 238

7.4

Symptome – 240

7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5

Sinus-sagittalis-superior-Thrombose – 240 Sinus-transversus-Thrombose – 240 Sinus-cavernosus-Thrombose – 240 Thrombose der inneren Hirnvenen – 240 Thrombose einzelner Brückenvenen – 241

7.5

Therapie

7.5.1 7.5.2

Konservative Therapie – 241 Operative Therapie – 241

– 241

7.6

Pseudotumor cerebri (gutartige intrazerebrale Druckerhöhung) – 242

236

Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

> > Einleitung Die gefährlichste neurologische Komplikation am Ende der Schwangerschaft und im Wochenbett ist die aseptische Hirnsinus- und Hirnvenenthrombose. Hierbei kommt es zum Verschluss einzelner zerebraler Venen oder zerebraler Sinus. In besonders schweren und prognostisch ungünstigen Fällen können sämtliche Sinus thrombosiert sein. Hierdurch ist der Abfluss des Blutes aus dem Gehirn behindert: Kopfschmerzen, Verlangsamung und Bewusstseinstrübung durch zunehmenden Hirndruck sowie neurologische Herdsymptome und epileptische Anfälle durch fokales Hirnödem oder Stauungsblutungen sind die Folge. Fokal beginnende, generalisierte Anfälle sind besonders häufig. Zu spät behandelt, kann der Hirndruck unkontrollierbar hoch werden, sodass die Patienten versterben.

7

. Tabelle 7.1. Ätiologie der Sinus- und Hirnvenenthrombosen Septische Sinusthrombosen

Aseptische Sinusthrombosen

Lokale HNO-Infektionen

Hormonell: – Schwangerschaft und Wochenbett – Orale Kontrazeptiva – Gestagentherapie

Lokale, intrakraniale Abszesse oder Empyeme

Maligne Tumoren

Meningitis

Bluterkrankungen

Sepsis

Polyzythämie

Posttraumatisch

Thrombozythämie

Postoperativ

Leukämie Koagulopathien – AT3-Mangel – Protein-C-Mangel – Protein-S-Mangel

ä Der Fall Eine etwa 30-jährige Frau wird in die Notaufnahme gebracht, weil sie seit einigen Tagen unter zunehmenden Kopfschmerzen leidet. Die Kopfschmerzen hätten über die letzten Tage massiv zugenommen. Sie sei müde, antriebsarm und phlegmatisch geworden. In der vergangenen Nacht haben sich dann unwillkürliche, zuckende Bewegungen im linken Arm eingestellt, der seither nicht mehr richtig bewegt werden könne. Bei der neurologischen Untersuchung ist die Patientin apathisch, deutlich schmerzgeplagt und hat eine mittelgradige schlaff wirkende Parese des linken Arms. Die Pyramidenbahnzeichen sind beidseits positiv, es liegen Stauungspapillen vor. Die Patientin wurde vor zwei Wochen von einem gesunden Kind entbunden.

Vorbemerkungen Die Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) betrifft entweder die intrazerebralen Venen, die großen venösen Blutleiter in den Hirnhäuten (Sinus) oder beide Gefäßabschnitte. Thrombosen der duralen Sinus und der zerebralen (Brücken-)Venen treten häufig gemeinsam auf. Aus ätiologischen Gründen ist es sinnvoll, zwischen septischen und aseptischen Sinusthrombosen (. Tabelle 7.1) zu unterscheiden. 3Epidemiologie. Die exakte Häufigkeit von SVT ist unbe-

kannt. Früher nahm man an, dass solche venösen Thrombosen sehr selten seien. Heute schätzt man, dass etwa 2–4% aller Schlaganfallpatienten unter venösen Durchblutungsstörungen leiden. Man schätzt, dass pro Jahr etwa 5–10 Neuerkrankungen/ 1 Mio. Einwohner auftreten. Diese Zahl ist allerdings unsicher, da sie vermutlich nur die sehr schweren Sinusthrombosen erfasst. Frauen sind im Verhältnis 3:2 häufiger als Männer von Sinus- und Hirnvenenthrombosen betroffen. Das mittlere Erkrankungsalter ist geringer als bei arteriellen Ischämien, oft unter 40 Jahre, vermutlich durch den höheren Anteil von Frauen im gebärfähigen Alter. Die Mortalität liegt unbehandelt zwischen 5 und 10%. Etwa 20% der Patienten müssen intensivmedizinisch behandelt werden.

Disseminierte, intravasale Gerinnung (DIC) Heparininduzierte Thrombozytopenie Behandlung mit Erythropoetin Dehydratation Marasmus Lokale Thrombose der V. jugularis interna

7.1

Anatomie und Pathophysiologie

3Anatomie. Die Anatomie der duralen Sinus und der Hirnvenen ist in . Abbildung 7.1 dargestellt. Die zerebralen Venen drainieren in die duralen Sinus. Man unterscheidet oberflächliche und tiefe zerebrale Venen. Die zerebralen Venen haben keine Venenklappen und bilden ausgedehnte Anastomosennetze. Die Blockade in einem oder mehreren Gefäßen kann durch Kollateralen kompensiert werden. Dabei kommt es zum retrograden Fluss in anderen Gefäßen und zur Drainage des venösen Blutes über frontobasale venöse Kanäle (Emissarien). Die venösen Territorien sind aufgrund der ausgiebigen Kollateralisierung viel variabler als die Territorien im arteriellen System. 3Pathophysiologie. Die Blockade des venösen Abflusses

durch die Thrombose führt zu einer Verminderung des zerebralen Blutflusses, zur fokalen, zerebralen Ischämie mit umschriebenen Vermehrung des lokalen Blutvolumens und einer Erhöhung des intrakapillären Drucks mit Ödem und lokalem Austritt von Blut in das Hirngewebe. Stauungsblutungen finden sich v.a. in den Territorien der Brückenvenen. Am häufigsten ist der Si-

237 7.2 · Ätiologie

. Abb. 7.1. MR-Venogramm in der seitlichen Darstellung mit Sinus sagittalis superior, Confluens sinuum, in Sinus transversus beidseits sowie Brückenvenen und angedeutet auch den inneren Hirnvenen. (M. Hartmann, Heidelberg)

nus sagittalis superior von einer Thrombose betroffen. Es kann rasch eine generalisierte Hirndrucksteigerung entstehen, bei der fokale neurologische Syndrome oft fehlen. Der allgemein erhöhte intrakranielle Druck kann zur generalisierten, globalen, ischämischen Schädigung und zum kritisch erhöhten intrakraniellen Druck mit Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz führen. Während die ischämischen Mechanismen auf zellulärer Ebene vermutlich denen bei der arteriellen zerebralen Ischämie vergleichbar sind – wenn auch die Infarktschwelle erst viel später unterschritten wird – ist die Ödementwicklung bei Venenthrombosen anders als bei arteriellen Ischämien. Das Problem ist hier nicht die zytotoxische Ödementwicklung in einem minderperfundierten Areal, sondern eine vasogene Ödementwicklung in einem hyperämisch abflussgestörten Areal. 7.2

Ätiologie

Sinusthrombosen haben ein breites ätiologisches Spektrum. . Tabelle 7.1 gibt eine Übersicht verschiedener Ätiologien und assoziierter Krankheiten. Von besonderer Bedeutung sind hormonelle Faktoren bei Frauen. Etwa 75% aller Frauen mit SVT bekommen diese während oder nach der Schwangerschaft, unter Einnahme von oralen Kontrazeptiva oder bei Gestagentherapie. Auch lokale Entzündungsprozesse sind von besonderer Bedeutung. Sie finden sich vor allem bei Sinus-cavernosus-Thrombosen und bei Thrombosen der Sinus transversus. Hier liegen oft Entzündungen der Nasennebenhöhlen zugrunde.

Unter rekombinantem Erythropoetin, das bei chronischer Dialyse gegeben wird, sind Sinusthrombosen beschrieben worden. Angeborene Koagulopathien, wie Protein-C-Mangel und Protein-SMangel führen häufig zu venösen, selten auch arteriellen, Durchblutungsstörungen. Auch bei Malignomen, Exsikkose oder Polyzythämie und Thrombozytose treten Sinusthrombosen gehäuft auf. 7.2.1 Septische Sinusthrombosen 3Ätiologie. Septische Sinusthrombosen sind heute selten. Sie entstehen meist durch Übergreifen eitriger Prozesse der Nebenhöhlen, der Siebbeinzellen, des Gesichts oder bei Otitis und Mastoiditis auf die Venen- oder Sinuswand. Die Erreger gelangen entweder über die zuleitenden kleinen Venen in die Sinus oder die Eiterung bricht durch die Knochenwand in den benachbarten Sinus ein. Dabei entsteht auch eine umschriebene oder generalisierte Meningitis (s. Kap. 18). In den betroffenen Sinus kommt es zunächst zu einer wandständigen, später zu einer obliterierenden Thrombose.

7.2.2 Aseptische Sinusthrombosen Aseptische Sinusthrombosen sind viel häufiger und die Symptome, die wir später besprechen, beziehen sich auf diese Form. Die führenden Ursachen sind in Tabelle 7.1 aufgeführt. Nicht selten findet man keine spezielle Ursache. Auch die Schwangerschaftsund Wochenbett-SVT gehören hierzu.

7

238

Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Facharzt

Septische Sinusthrombosen Septische Thrombose des Sinus transversus. Am häufigsten ist die septische Thrombose des Sinus transversus, der im okzipitalen Ansatz des Tentorium cerebelli verläuft und sich von der Kante der Felsenbeinpyramide als Sinus sigmoideus zum Foramen jugulare und in die V. jugularis fortsetzt. Diese Thrombosen gehen vom Mastoid und der Paukenhöhle aus. Septische Thrombose des Sinus cavernosus. Der Sinus cavernosus nimmt die Venen der Augenhöhlen auf, die mit den Gesichtsvenen über die V. angularis in Verbindung stehen. Nach hinten kommuniziert er mit den Sinus petrosus superficialis

7

7.3

Diagnostik

Konventionelle CT Ein normales natives Computertomogramm schließt eine SVT nicht aus. Es gibt keine »beweisenden« computertomographischen Befunde. Die Untersuchung sollte immer nativ und anschließend mit Kontrastmittel durchgeführt werden. Wenn der Verdacht auf eine septische Sinusthrombose besteht, müssen die Nasennebenhöhlen und die Felsenbeine in Knochentechnik mit dargestellt werden. Häufig findet man im CT Zeichen einer fokalen oder globalen Hirnschwellung. Bei der großen Variationsbreite der Ausprägung der Rindenfurchenzeichnung bei Patienten im mittleren Lebensalter kann eine leichte Hirnschwellung oft nicht sicher diagnostiziert werden. Die Diagnose wird leichter, wenn einzelne oder multiple intrazerebrale und intrakranielle Blutungen, eine diffuse oder lokalisierte Hirnschwellung mit Ödem der weißen Substanz, Hypodensitäten im Gebiet venöser Territorien oder ein . Abb. 7.2. a Ausgedehnte Thrombose des Sinus sagittalis superior (CT). Nach Kontrastmittelgabe stellt sich der Thrombus als Aussparung im randständig kontrastierten Sinus dar (Pfeil). (O. Jansen, Heidelberg), b Der Sinus sagittalis superior und der linke Sinus transversus enthalten Thrombusmaterial, das infolge der Kontrastverstärkung der Sinuswände wie kontrastmittelumflossen wirkt (Pfeil). Aufgrund der charakteristischen Form wird dieser Befund auch als »Delta-Zeichen« bezeichnet, er kommt in ähnlicher Weise auch im CT vor (koronare MRT, T1-gewichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung). (K. Sartor, Heidelberg)

und inferior, die auf dem oberen und unteren Rand des Felsenbeins verlaufen. Die anatomischen Beziehungen erklären die häufige Beteiligung des Sinus cavernosus bei Eiterungen in den Nasennebenhöhlen, der Orbita und im Gesicht (Oberlippenfurunkel). Sehr charakteristisch ist eine einseitige Protrusio bulbi mit Bewegungseinschränkung des Auges. Meist sind die Netzhautvenen gestaut. Eine Ausbreitung in das Schädelinnere mit nachfolgender Abszessbildung ist über vordere Hirnvenen möglich. Das Erregerspektrum umfasst die üblichen Erreger von Infektionen auf HNO-ärztlichem Gebiet.

Thrombosesignal im Sinus sagittalis superior oder Confluens sinuum gesehen werden. Das »Delta-Zeichen« nach Kontrastmittelgabe im Sinus sagittalis superior oder im Confluens sinuum gilt als relativ typisch, ist aber nicht konstant nachweisbar (hohe Spezifität, niedrige Sensitivität): Der Sinus ist nicht mit kontrastmittelhaltigem Blut gefüllt, statt dessen sieht man gelegentlich eine Kontrastmittelanreicherung am Rand des Sinus (. Abb. 7.2), die dem griechischen ∆ ähnelt. CT-Angiographie Diese erlaubt eine sichere Darstellung der großen venösen Blutleiter und wird von uns noch oft vor der MR-Angiographie (s.u.) durchgeführt, es sei denn, es läge eine Schwangerschaft vor. Konventionelle MRT Die MRT mit T1- und T2-gewichteten Bildern und eine MR-Angiographie ist heute die schnellste und sicherste Methode des

239 7.3 · Diagnostik

. Abb. 7.3. Ausgedehnte Sinusthrombose im MRT (großer Pfeil Sinus sagittalis superior; mittelgroßer Pfeil Sinus tranversus, kleiner Pfeil Sinus rectus). Kasuistik: 27-jährige Patientin, die im Wochenbett generalisierte

epileptische Anfälle und eine fortschreitende Bewusstseinstrübung bekam. Neurologisch keine Herdsymptome. Unter Heparinbehandlung rasche Besserung innerhalb von 10 Tagen

SVT-Nachweises. Die MR-Darstellung bietet den anatomischen Nachweis der beim CT beschriebenen Veränderungen mit noch größerer Detailtreue und Auflösung, zusätzlich erlaubt sie den Nachweis eines hyperintensen Thrombosesignals im T1-gewichteten Bild (. Abb. 7.3). MR-Angiographie Eine MR-Angiographie bietet gleich gute Informationen wie eine digitale Subtraktionsangiographie. Die Darstellung der Sinus und der Hirnvenen in der MRA ist exzellent (. Abb. 7.1). Nur die Auflösung für die kleinen Gefäße ist noch nicht so genau wie in der DSA. Dennoch wird heute die MR-Angiographie meist anstelle der digitalen DSA durchgeführt.

stellung der SVT. Typische Befunde sind der Ausfall der Füllung von Venen oder Sinus, korkenzieherartige Umgehungskreisläufe bei Verschlüssen oberflächlicher zerebraler Venen und eine verzögerte venöse Drainage (. Abb. 7.4). Schwierigkeiten ergeben sich bei der Beurteilung des vorderen Anteils des Sinus sagittalis superior, der oft nicht vollständig angelegt ist, und bei angeborenen Asymmetrien der Sinus transversus. Manchmal ist nur ein Sinus transversus angelegt. Dies lässt sich aber auf konventionellen Röntgenaufnahmen des Schädels erkennen, in denen dann die knöcherne Impression des Sinus transversus fehlt. Die DSA wird heute seltener durchgeführt, da mit CTA und MRT die Diagnose praktisch immer möglich ist.

Digitale Subtraktionsangiographie Die digitale Subtraktionsangiographie (DSA) mit langen Serien zur Darstellung des Phlebogramms erlaubt die zuverlässige Dar-

Andere diagnostische Maßnahmen Das EEG ist oft verlangsamt und kann fokale Krampfaktivität zeigen.

. Abb. 7.4. Sinusthrombose: Karotisangiographie (venöse Phase). Der Sinus sagittalis stellt sich nicht dar. Die Pfeile weisen auf einen kontrastmittelumflossenen Thrombus in der Vena Labbé hin

7

240

Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Der Liquor ist wenig hilfreich: Der Liquor kann normal und das Eiweiß erhöht sein, manchmal findet man auch eine leichte Blutbeimengung im Liquor. Bei septischer Sinusthrombose ist der Liquor entzündlich verändert. Labordiagnostisch erstellt man einen Gerinnungsstatus (PTT, Quick, Thombinzeit, Fibrinogen, Thrombozyten, FaktorV-Leiden-Mutation, Anti-Phospholipid-Antikörper, Prothrombinmutation G 20210A, Antithrombin 3, Protein C und S, Faktor VIII) und sucht nach Hinweisen auf eine Polyglobulie, eine Thrombozytose oder eine Leukose. Bei einem Vaskulitisverdacht untersucht man CRP, ANA, dsDNA, Lupusantikoagulanz, zirkulierende Immunkomplexe, p- und c-ANCA, Kryoglobuline, Komplement C 3 und 4, SSA und SSB.

7

7.4

Symptome

Wir besprechen die Symptome der aseptischen Sinusthrombosen in Abhängigkeit von ihrer Lokalisation. 7.4.1 Sinus-sagittalis-superior-Thrombose 3Symptomatik 4 Kopfschmerzen: Kopfschmerzen sind das führende Symptom bei etwa 90% der Patienten. 4 Epileptische Anfälle: Da die venöse Abflussbehinderung mehr die Rinde als das Mark betrifft, sind fokale oder generalisierte Anfälle bei einem Drittel der Patienten das erste Symptom. Die fokalen Anfälle sind häufig von einer langandauernden postiktalen Parese (Todd-Parese; 7 Kap. 14) gefolgt. 4 Neurologische Herdsymptome: Fokale neurologische Symptome sind meist die Folge einer lokalen Abflussbehinderung mit umschriebenem Ödem oder Einblutung. Unter diesen stehen Lähmungen an erster Stelle, die oft als kortikale Monoparese beginnen und sich erst im weiteren Verlauf zur Hemiparese ausweiten. Nahezu alle neurologischen Herdsymptome, auch Hemihypästhesie, Aphasie, Apraxie, Hemianopsie oder Ataxie, und auch psychoorganische Störungen, wie Apathie, Antriebsmangel, Wesensänderung, Verwirrtheit und zunehmende Bewusstseinsstörung, können auftreten. Frühzeitig und häufig entwickelt sich eine Abduzensparese. Meist kommt es zur Stauungspapille. Auch Nackensteifigkeit ist nicht selten. 4 Bewusstseinsstörung: Allgemeinsymptome, wie Verwirrtheit, Verlangsamung, Schläfrigkeit und Antriebsmangel Ausdruck der diffusen Hirnschwellung sind. Neurologische Herdsymptome entwickeln sich innerhalb von Stunden bis Tagen.

3Verlauf und Prognose. Nur etwa ein Drittel der Patienten berichtet über einen schlagartigen Beginn der Symptome, meist mit Kopfschmerzen oder einem fokalen Anfall. Häufiger ist ein schleichender Beginn mit gradueller Zunahme der Beschwerden.

Die Möglichkeit der Restitution der Symptome ist besser als bei zerebralen, arteriellen Ischämien. Selbst sehr schwere neurologische Defizite können sich erstaunlich gut zurückbilden. Der Schweregrad der klinischen Symptome kann von mäßigen Kopfschmerzen mit leichten Sehstörungen und minimalen neurologischen Herdsymptomen über schwerste Kopfschmerzen, erhebliche Beeinträchtigung von Antrieb und Konzentration, uni- und bilateralen neurologischen Herdsymptomen, epileptischen Anfällen, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma reichen. > Eine relativ typische Kombination von Symptomen, die

unbedingt den Verdacht auf eine Sinusvenenthrombose richten sollte, ist: 4 zunehmende Kopfschmerzen, 4 fokale epileptische Anfälle und 4 neurologische Allgemeinsymptome, wie Antriebsarmut, Schläfrigkeit und Apathie.

7.4.2 Sinus-transversus-Thrombose Diese kann mit Hirnstamm- und Kleinhirnsymptomen beginnen, ist aber meist von der Thrombose des Sinus sagittalis superior nicht zu unterscheiden. Manchmal entsteht sie retrograd nach Thrombose einer Vena jugularis externa oder durch Ausbreitung einer Sinus sagittalis superior – oder einer Sinus rectus – mit Confluens-sinuum-Thrombose (s.u.). Bei Kindern kommt eine aseptische Thrombose des Sinus transversus in der Nachbarschaft eines entzündeten Felsenbeins vor. 7.4.3 Sinus-cavernosus-Thrombose Sie ist nur selten aseptisch. Ein besonders starker, retroorbitaler Kopfschmerz mit Ausfällen der durch den Sinus cavernosus führenden okulomotorischen Hirnnerven und Schmerzen im ersten Ast des N. trigeminus stehen klinisch im Vordergrund. Das Auge steht vor (Protrusio), und die Konjunktiven sind massiv injiziert. Diese Symptome finden sich nicht selten doppelseitig. 7.4.4 Thrombose der inneren Hirnvenen Die Thrombose der inneren Hirnvenen (V. cerebri magna, Vv. cerebri basales, Vv. cerebri internae) ist selten. Kopfschmerzen, Apathie, Verwirrtheit, starke mnestische Störungen und, bei Kompression des Aquädukts, Hydrozephalus mit zunehmender Bewusstseinstrübung sind die unspezifischen klinischen Zeichen. Sie können das Bild eines Zwischenhirntumors oder einer Thalamusblutung imitieren. Die Thrombose kann sich in den Sinus rectus, den Confluens sinuum und die Sinus transversi erstrecken.

241 7.5 · Therapie

7.4.5 Thrombose einzelner Brückenvenen Die Symptome gleichen denen eines subakuten arteriellen Infarkts. Alle denkbaren kortikalen Herdsymptome können vorkommen. 7.5

Therapie

7.5.1 Konservative Therapie Septische SVT Bei unbekanntem Erreger wird eine Kombinationstherapie von einem Cephalosporin der 2. oder 3. Generation (z.B. 3-mal 2 g ® Claforan ), kombiniert mit einem Staphylokokkenpenicillin (z.B. Dichlor-Stapenor®, 4-mal 2 g), empfohlen. Ob Heparin bei der Behandlung der septischen Sinusvenenthrombose sinnvoll ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Wir setzen Heparin jedoch ein. So rasch wie möglich soll die Indikation zum chirurgischen Eingreifen gestellt werden. Aseptische SVT Antikoagulation. Therapie der Wahl bei SVT ist die sofortige Antikoagulation mit Heparin i.v., das auch dann gegeben werden kann, wenn intrazerebrale Blutungen vorliegen. Man beginnt mit einem Bolus von 5000–7500 IE Heparin, gefolgt von zunächst 24.000 IE über 24 h und steuert die Dosis nach aPTT. Man strebt das 2,5fache der Ausgangs-PTT an. Die erforderliche Heparindosis kann sehr stark schwanken. Besonders bei AT-III-Mangel kann eine sehr hohe Heparindosis notwendig werden, AT-III muss dann substituiert werden. Meist wird man nach klinischer Besserung für eine gewisse Zeit auf eine orale Antikoagulation übergehen. Bei Gerinnungsstörungen kann eine lebenslange Antikoagulation erforderlich werden. Bei milden Verlaufsformen kann auch eine Therapie mit niedermolekularen Heparinen erwogen werden. Eine prospektive, plazebokontrollierte Studie mit Nadroparin (90 anti-Xa U/kg 2mal tgl.) zeigte einen günstigen Effekt auf den klinischen Verlauf. Ob man prinzipiell unfraktioniertes oder niedermolekulares Heparin wählt, lässt sich aus der Datenlage der bisherigen Studien nicht herleiten. Meist wird man nach klinischer Besserung für eine gewisse Zeit auf eine orale Antikoagulation übergehen. Bei Gerinnungsstörungen kann eine lebenslange Antikoagulation erforderlich werden. Thrombolyse. In seltenen Fällen ist auch die lokale oder systemische Thrombolyse versucht worden. Leider gibt es hier noch keine zuverlässigen Aussagen über die Überlegenheit der Thrombolyse im Vergleich zur Heparinisierung, obwohl theoretisch eine initiale Thrombolyse vor der Heparinisierung eine sinnvolle Ergänzung wäre. Indikationen für die Lyse können Thromboserezidive, sehr ausgedehnte Pansinusthrombosen und Thrombosen der inneren Hirnvenen sei.

Hirnödemtherapie. Das Ödem ist anders als bei ischämischen

Infarkten. Osmotherapie ist nicht wirksam, sogar kontraindiziert. Eine Osmotherapie ist aus pathophysiologischen Überlegungen nicht sinnvoll, da hierbei Flüssigkeit aus dem Gewebe mobilisiert werden und über den venösen Abfluss aus dem Schädelinneren geschafft werden soll. Dieser Schritt ist aber bei der Venenthrombose behindert. Es kann daher zwar zur Mobilisierung von Flüssigkeit aus dem Gewebe, aber nicht zum Abtransport kommen. Insofern kann eine Osmotherapie nicht wirksam sein. Eine hypervolämische Therapie ist ebenfalls nicht erforderlich. Die Anhebung des arteriellen Drucks ist weniger wichtig als die Senkung des venösen Abflussdrucks. Die anderen allgemeinen Maßnamen bei erhöhtem intrakraniellem Druck (7 Kap. 11.2) haben allerdings Gültigkeit. Vermutlich sind Antikoagulation oder Thrombolyse der beste hirndrucksenkende Ansatz, da er dafür sorgt, dass die venösen Abflüsse frei werden und wichtige venöse Kollateralen offen bleiben. Barbiturate können gegeben werden, da sie das zerebrale Blutvolumen vermindern. Bei drohender Einklemmung versucht man Dexamethason, 80–100 mg i.v., obwohl Steroide prothrombotisch wirken. Kopfschmerzen werden mit Paracetamol, Ibuprofen oder Opioiden behandelt. Patientinnen, die in der Schwangerschaft, im Wochenbett oder unter Einnahme von oralen Kontrazeptiva eine SVT hatten, sollten keine Hormontherapie mehr bekommen. Antiepileptische Therapie 7 Kap. 14. 7.5.2 Operative Therapie Die operative Desobliteration des Sinus sagittalis superior ist in Einzelfällen beschrieben worden. In letzter Zeit wurde auch die transvenöse Katheterisierung des Sinus transversus und des Sinus sagittalis anterior mit lokaler Thrombolyse durchgeführt. Bei ganz ausgedehnter bilateraler Schwellung kann auch einmal eine (bilaterale) Dekompressionsoperation versucht werden. ä Der Fall: Fortsetzung Nach Klinik und CT bestand bei der Patientin der dringende Verdacht auf eine postpartale Sinusthrombose. Dieser Verdacht wurde mit Angiographie und MRT bestätigt. Die Patientin wurde auf die Intensivstation gebracht und sofort antikoaguliert. Die Kopfschmerzen besserten sich schnell, die Parese bildete sich rasch zurück. Die Patientin konnte auf die Normalstation verlegt werden und verließ die Klinik beschwerdefrei nach 14 Tagen. Sie wurde mit Marcumar nach Hause entlassen. Die Suche nach einer Koagulopathie blieb negativ.

7

242

Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Leitlinien Diagnostik und Therapie der Sinusthrombosen* 4 Die Diagnostik der Hirnvenen- und Sinusthrombose (SVT) erfolgt mit einem Schnittbildverfahren (Computertomographie oder Magnetresonanztomographie) (A). 4 Nach der Diagnosestellung muss eine detaillierte Suche nach der Ursache erfolgen (z.B. Gerinnungsstörungen, konsumierende Erkrankungen, Infektionen) (A). 4 In der Akutphase wird die SVT mit intravenös verabreichtem unfraktionierten Heparin behandelt. Ziel PTT 60–80 s, mindestens das Zweifache des Ausgangswertes für 10–14 Tage (A).

7.6

7

Pseudotumor cerebri (gutartige intrazerebrale Druckerhöhung)

3Epidemiologie und Symptome. Es ist umstritten, ob der Pseudotumor cerebri wirklich eine prognostisch günstige Variante der Sinusthrombosen ist. Er tritt meist bei übergewichtigen Frauen im jüngeren und mittleren Lebensalter oder in der Schwangerschaft auf. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen, Brechreiz, Schwindel und verschwommenes Sehen. Man findet eine doppelseitige Stauungspapille (bis zu 6 Dioptrien Prominenz), seltener eine Abduzenslähmung und keine weiteren neurologischen Symptome. Das Bewusstsein ist klar. Typisch ist eine Hypophyseninsuffizienz mit mangelhafter Reaktion auf Hypophysenstimulation. 3Diagnostik. In CT und MRT erkennt man häufig erweiterte

Optikusscheiden und eine leere Sella infolge einer lokalen Druckerhöhung. Die Ventrikel sind allerdings meist nicht komprimiert, und auch die apikalen Liquorräume sind fast immer gut sichtbar. Das Gehirn wirkt demnach nicht geschwollen. Der Liquordruck ist auf Werte über 300 mm H2O erhöht. Wenn man zum Ausschluss einer Sinusthrombose eine Angiographie durchführt, ist der Befund meist normal. Manchmal findet man Stenosen oder Asymmetrien der venösen Blutleiter, speziell in den Sinus transversus. Daher wird das Syndrom in manchen Fällen als Minimal-

4 Nach der Akutbehandlung erfolgt für 3–6 Monate eine orale Antikoagulation (Ziel-INR 3) (A). 4 Eine dauerhafte orale Antikoagulation ist indiziert beim Vorliegen von Gerinnungsstörungen nach einem Rezidiv sowie bei prothrombotischer Grundkrankheit (A). * Leitlinien der DGN 2005

variante einer venösen Abflussstörung gesehen und deshalb hier besprochen. Allerdings muss man einräumen, das die Pathophysiologie dieses Syndroms nicht gut verstanden ist. Eine andere Ursache für die Hirndrucksteigerung kann gesteigerte Liquorproduktion oder mangelhafte Resorption sein. Alle Patienten sollen endokrinologisch untersucht werden. Regelmäßige Visuskontrollen sind angezeigt, da die Optikusschädigung zur Blindheit führen kann. 3Therapie und Prognose. Wiederholte Lumbalpunktionen, Furosemid unter Elektrolytkontrolle, Diamox, subkutanes Heparin, Kortikoide in Ausnahmefällen. Die früher propagierte ophthalmologische Operation mit Schlitzung der Optikusscheiden wird heute bei uns nicht mehr durchgeführt. Wenn die Stauung nicht zurückgeht, kann die Anlage eines lumboperitonealen Shunts notwendig werden. > Der Pseudotumor cerebri ist eine häufig verkannte, chronische und weniger schwere Variante der Hirnvenen-/Sinusthrombose, bei der Kopfschmerzen und Sehstörungen im Vordergrund stehen. Übergewichtige Frauen sind am häufigsten betroffen. Eine hormonelle Ursache wird vermutet. Die gutartige Hirndrucksteigerung kann durch Optikusschädigung zur Blindheit führen.

243 7.6 · Pseudotumor cerebri (gutartige intrazerebrale Druckerhöhung)

In Kürze Anatomie und Pathophysiologie

Symptome

Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) betrifft intrazerebrale Venen, große venöse Blutleiter in Hirnhäuten (Sinus) oder beide Gefäßabschnitte. Allgemein erhöhter intrakranieller Druck bewirkt generalisierte, globale, ischämische Schädigung und kritisch erhöhten intrakraniellen Druck. Mortalität: unbehandelt 5-10%.

Sinus-sagittalis-superior-Thrombose: Schleichende Abfolge von Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen und neurologischen Allgemeinsymptomen wie Antriebsarmut, Schläfrigkeit, Apathie; Sinus-transversus-Thrombose: Beginnt mit Hirnstamm- und Kleinhirnsymptomen; Sinus-cavernosus-Thrombose: Starker, retroorbitaler Kopfschmerz mit Ausfällen; Thrombose der inneren Hirnvenen: Kopfschmerzen, Apathie, Verwirrtheit, starke mnestische Störungen; Thrombose einzelner Brückenvenen: Alle kortikalen Herdsymptome möglich.

Ätiologie aseptischer Sinusthrombosen U.a. Übergreifen eitriger Prozesse der Nebenhöhlen, des Gesichts, bei Otitis und Mastoiditis auf Venen- oder Sinuswand.

Diagnostik CT: Darstellung der Nasennebenhöhlen und Felsenbeine, bei Verdacht auf septische Sinusthrombose; CTA: Darstellung großer venöser Bauleiter; MRT: Anatomischer Nachweis fokaler und globaler Hirnschwellung und hyperintensiven Thrombosesignals; MRA: Darstellung von Sinus und Hirnvenen; DSA: Darstellung u.a. vom Füllungsausfall bei Venen und Sinus, von verzögerter Drainage.

Therapie Operativ oder konservativ u.a. durch Antikoagulation mit Heparin, Thrombolyse.

Pseudotumor cerebri Gutartige, chronische intrazerebrale Druckerhöhung. Symptome: Kopfschmerzen, Brechreiz, Schwindel, verschwommenes Sehen, doppelseitige Stauungspapille, klares Bewusstsein. Diagnostik: CT und MRT: Darstellung der erweiterten Optikusscheiden und leeren Sella durch lokale Druckerhöhung. Therapie: Wiederholte Lumbalpunktion, Furosemid unter Elektrolytkontrolle, Diamox, subkutanes Heparin.

7

8 Gefäßfehlbildungen 8.1

Arteriovenöse Fehlbildungen

8.2

Kavernome

– 245

– 248

8.3

Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung – 251

8.3.1 8.3.2

Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen – 251 Asymptomatische arterielle Aneurysmen – 252

8.4

Arteriovenöse Fisteln – 252

8.4.1 8.4.2

Durale, arteriovenöse Fisteln – 252 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel – 252

8.5

Spinale Gefäßfehlbildungen

8.5.1 8.5.2

Übersicht – 258 Spinale AVMs und Durafisteln

– 258

– 258

245 8.1 · Arteriovenöse Fehlbildungen

> > Einleitung Ein 28 Jahre alter Mann hat seit dem Jugendalter immer wieder sekundär generalisierte epileptische Anfälle, die mit rhythmischen Zuckungen in der linken Hand beginnen. Diese sind mit antiepileptischer Behandlung zwar weniger häufig geworden, haben jedoch nicht völlig aufgehört. In den letzten Monaten ist ihm eine leichte Schwäche in der linken Hand aufgefallen, die ihn etwas beim Arbeiten behindert. Er leidet unter häufigen, rechtsseitigen, migräneartigen Kopfschmerzen. Da man immer angenommen hat, dass die Anfälle auf eine perinatale Hirnschädigung zurückzuführen seien, ist bislang noch kein Computertomogramm oder Magnetresonanztomogramm durchgeführt worden. Auf Nachfragen berichtet der Patient, dass er schon seit vielen Jahren, ein leichtes pulssynchrones Geräusch im Schädel höre. Er habe sich aber daran so gut gewöhnt, dass es ihn nicht mehr störe. Bei der neurologischen Untersuchung findet man eine ganz leichte, spastische Hemiparese auf der linken Seite.

Vorbemerkung In diesem Kapitel werden nicht nur die Gefäßfehlbildungen im engeren Sinne besprochen – nämlich die arteriovenösen Fehlbildungen, die Kavernome, die venösen Angiome und die kapillären Teleangiektasien. Wir diskutieren auch die asymptomatischen Aneurysmen sowie symptomatische Aneurysmen, die nicht zu einer Subarachnoidalblutung geführt haben, aber durch ihre Lage, wie ein Tumor, neurologische Herdsymptome hervorrufen. Auch die arteriovenösen Fisteln, die neurokutanen Phakomatosen mit Gefäßfehlbildungen und Gefäßtumoren sowie spinale Gefäßfehlbildungen werden in diesem Kapitel behandelt. . Tabelle 8.1 gibt eine Übersicht über die Häufigkeit der zerebralen Gefäßfehlbildungen. 8.1

Arteriovenöse Fehlbildungen

3Epidemiologie. Arteriovenöse Missbildungen (AVM) sind wichtige Formen der Gefäßfehlbildungen. AVM sind insgesamt

. Tabelle 8.1. Häufigkeit von zerebralen Gefäßfehlbildungen

Art

Häufigkeit [%]

Blutungen

Anfälle

Cephalgie

Venöse Angiome Kapilläre Teleangiektasien Arteriovenöse Fehlbildungen Kavernomea

ca. 60 ca. 15

(+) (+)

(+) –

? –

ca. 15

+++

++

+

ca. 10

++

+



a Seit Einführung der MRT werden asymptomatische Kavernome immer häufiger diagnostiziert. Die Schätzung von 10% ist vermutlich zu niedrig.

selten (Inzidenz ca. 2 pro 100.000 Einwohner). Sie können in jedem Lebensalter symptomatisch werden. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. 3Pathologische Anatomie. Charakteristisch ist die direkte

Kommunikation zwischen Arterien und Venen ohne ein regulär angelegtes Kapillarbett, die auf eine fetale Entwicklungsstörung innerhalb der ersten drei Gestationswochen zurückzuführen ist. Die erweiterten, zuführenden Arterien, im Englischen und im Klinikjargon als Feeder bezeichnet, münden über ein oder mehrere Zentralgefäße in den Gefäßnidus und drainieren in die erweiterten Venen. Im Nidus sind Wandunregelmäßigkeiten, Gefäßerweiterungen und -stenosen, thrombosierte Anteile mit Kalkeinlagerung und Fibrosen zu finden. Bei starkem arteriellen Shuntvolumen kann es zur Minderdurchblutung der benachbarten Hirnsubstanz kommen. Ausgedehnte Hirnanteile können chronisch unterversorgt sein (Steal-Effekt). Es kommt zur (Rinden-) Atrophie und zu chronisch-progredienten neurologischen Symptomen. Die Venen stehen unter hohem Druck und führen arterielles Blut. Oft sind Venenerweiterungen, venöse Aneurysmen und Stenosen zu finden. 3Einteilung. Die Einteilung der Angiome erfolgt nach Lage,

Größe und Zahl der versorgenden Arterien und nach der Art der venösen Drainage. Details hierzu finden sich in Lehrbüchern der Neuroradiologie und der Neurochirurgie. Die Einteilung hat Einfluss auf die Therapiemöglichkeiten. Etwa 80–90% aller Angiome liegen supratentoriell. AVM sind sehr häufig in den Hirnlappen lokalisiert. Auch das Kleinhirn, die Insel und die Basalganglien sind Sitz von AVM. Am häufigsten sind Äste der A. cerebri media an der Versorgung beteiligt. AVM können wenige Millimeter messen, in Extremfällen aber die ganze Hemisphäre durchsetzen (. Abb. 8.1a,b). Entsprechend kann die Zahl der zuführenden Arterien von solitären, großen Mediaästen bis hin zu multiplen, zum Teil büschelartig aus einem Hauptgefäß entspringenden Zuflüssen variieren. Die Blutungsneigung ist bei verschiedenen Angiomtypen unterschiedlich: Generell haben AVM ein Blutungsrisiko von 2–3% pro Jahr. Nach einer ersten Blutung verdoppelt sich das jährliche Blutungsrisiko, falls keine Therapie erfolgt. Das Blutungsrisiko ist unterschiedlich in Abhängigkeit von Angiomgröße und venöser Drainage: Kleine Angiome bluten etwas häufiger, Angiome mit geringem Shuntvolumen, möglicherweise bedingt durch venöse Stenosen, bluten ebenfalls häufiger als solche mit einem hohen Shuntvolumen. Auch venöse Aneurysmen prädisponieren zur Blutung. 3Symptome 4 Blutungen verursachen bei der Mehrzahl der Patienten (> 50%) die ersten Symptome eines Angioms. Die Blutungen können in den Basalganglien und in den Hirnlappen liegen. Meist liegen sie in Hirnregionen, die seltener von hypertensiven Blutungen betroffen werden. Erhöhter Blutdruck kann zwar Angio-

8

246

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

. Abb. 8.1a,b. Angiom. a Sehr großes, zwei Drittel der linken Hemisphäre durchsetzendes arteriovenöses Angiom mit unregelmäßig geformten, zum Teil seenartig ausgeweiteten Gefäßanteilen (K. Sartor, Heidelberg), b Großes, ein Drittel der linken Hemisphäre durchsetzendes arteriovenöses Angiom (T2-Sequenz). Die aneurysmatisch erweiterten Venen stellen sich mit dunklem Signal dar (Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

a

8

b

me wachsen lassen, ist aber kein Risikofaktor für eine akute Blutung. 4 Anfälle. Einfache und komplex partielle epileptische Anfälle, z.T. mit sekundärer Generalisierung, sind häufige Symptome eines AVM. 4 Kopfschmerzen sind häufig, besonders als migräneartige Kopfschmerzen, manchmal mit einer Aura. 4 Fokale neurologische Ausfälle treten in Abhängigkeit von der betroffenen Region auf. > Hirnblutungen, Kopfschmerzen und partielle Anfälle

sind die häufigsten Erstsymptome von AVMs. Hirnblutungen bei jüngeren Patienten müssen an AVAngiome denken lassen. 3Diagnostik 4 CT: Kleinere Angiome sind schon im Nativ-CT erkennbar,

wenn Verkalkung, fokale Atrophie oder kaliberstarke, leicht hyperdense, atypisch gelegene Gefäßstrukturen gefunden werden. Nach Kontrastmittelgabe kommen die erweiterten Blutgefäße als band- oder girlandenförmige hyperdense Strukturen zur Darstellung (. Abb. 8.2). Das CT ist besonders empfindlich für den Nachweis von Verkalkungen in der Umgebung des Angioms. 4 MRT: In der MRT stellt sich die AVM als Areal überwiegend signalleerer, punktförmiger oder tubulärer Strukturen dar. Mit der MRT ist noch besser als mit der CT die exakte Lagebeziehung der Gefäßkonvolute zum Hirnparenchym und zu den umgebenden Liquorräumen erkennbar. Neben der lokalen Atrophie können kernspintomographisch auch eine Gliose im umgebenden Hirnparenchym sowie die Folgen vorangegangener Einblutungen durch entsprechende Signalabweichungen zuverlässig nachgewiesen werden. 4 Angiographie: Die MR- und die CT-Angiographie geben eine erste Orientierung über den Aufbau der AVM. Die digitale Subtraktionsangiographie zeigt die zuführenden Gefäße, den An-

. Abb. 8.2a,b. Großes, parietales, arteriovenöses Angiom. Computertomographie (a) vor und (b) nach Kontrastmittelgabe. (A. Thron, Aachen)

247 8.1 · Arteriovenöse Fehlbildungen

Exkurs Bestrahlung von AVM Die Bestrahlung führt zu einer Schädigung des Gefäßendothels und einer konsekutiven, über Monate bis Jahre erfolgenden Obliterierung und Thrombose der Gefäße. Kleinere, tief gelegene Angiome können hierdurch gut behandelt werden. Die Bestrahlungsintensität ist unterschiedlich. Zwischen 30 Gy und 120 Gy werden auf das Angiom und den Angiomnidus appliziert. Die Bestrahlung kann mit γ-Strahlen (Gamma-Knife), schweren Partikeln (Proton-beam) oder fokussierten Linearbeschleunigern erfolgen.

giomnidus und die Anatomie der abführenden Gefäße (. Abb. 8.3). Sie ermöglicht auch eine Abschätzung des Shuntvolumens. 4 Dopplersonographie: Mit transkranieller und extrakranieller Dopplersonographie kann der Verdacht auf eine AVM gestellt werden: Man findet eine Zunahme des Blutflusses über der Karotis oder der Media, gegebenenfalls auch über anderen Arterien. 3Therapie. Therapeutisch sind die mikrochirurgische Angiom-

exstirpation, die transvaskuläre Embolisierung und die stereotaktische Bestrahlung der AVM möglich. Diese Methoden können auch in Kombination eingesetzt werden. 4 Mikrochirurgische Operationen: Für die Operationen geben die Größe, Lage, Anzahl der Feeder, Shuntvolumen, venöse Drainage und Funktionalität des umgebenden Hirnparenchyms

a . Abb. 8.3a,b. DSA bei insulärem High-flow-Angiom. Arterielle (a) und venöse Phase (b). Arterielle Versorgung aus Mediaästen, venöse

Stereotaktische Bestrahlung. Inoperable, tief oder in der Mittellinie sitzende arteriovenöse Fehlbildungen werden heute an ausgewählten Zentren entweder nur embolisiert und/oder stereotaktisch bestrahlt. Das Blutungsrisiko besteht in den ersten 2 Jahren nach Bestrahlung bis zur völligen Obliteration weiter. Eine Komplikation ist die Radionekrose mit manchmal ausgeprägtem raumfordernden Ödem, vermutlich durch venöse Abflussstörung bedingt. Sie kann zu progredienter fokaler Symptomatik und Anfällen führen. Man behandelt sie mit Steroiden, Antiepileptika und Heparin.

(Eloquenz) eine sehr differenzierte Indikationsstellung. In mikrochirurgischer Operationstechnik werden alle zuführenden Gefäße unterbunden, und die Gefäßfehlbildung wird entfernt. Zu Operationsindikationen und -limitationen s. Lehrbücher der Neurochirurgie. 4 Embolisierung: Größere, ernährende Gefäße können durch präoperative Embolisierung neuroradiologisch verschlossen werden (. Abb. 8.4). Kleine AVMs können durch alleinige Embolisierung ausgeschaltet werden. > Arteriovenöse Gefäßfehlbildungen werden, wenn

irgend möglich, embolisiert und danach operiert. Die stereotaktische Bestrahlung ist eine weitere Behandlungsmöglichkeit.

b Drainage über innere Hirnvenen zum Sinus rectus. (M. Hartmann, Heidelberg)

8

248

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

8.2

Kavernome

3Epidemiologie. Kavernome galten in der Vergangenheit als

selten. Heute werden sie häufiger als asymptomatische Zufallsbefunde im MRT beschrieben. Etwa 0,5–1% der Bevölkerung sollen Kavernome haben. Familiäre Häufung und multiple Kavernome lassen eine genetische Prädisposition annehmen. Die Blutungsrate wird auf 2–5% pro Jahr geschätzt, diese Schätzungen sind aber nicht verlässlich. 3Symptome und Verlauf. Viele Kavernome bleiben lebens-

a

8

lang asymptomatisch. Andere können zu fokalen oder generalisierten epileptischen Anfällen, Hirn- oder Rückenmarksblutungen mit Lähmungen oder unvollständiger Querschnittssymptomatik führen. Die intrazerebralen Blutungen sind meist relativ klein. Im Hirnstamm bewirken Kavernomblutungen oft nur vergleichsweise geringe neurologische Symptome, so dass die Kombination von mittelgroßer Hirnstammblutung mit nur mäßigen Ausfallserscheinungen schon klinisch den Verdacht auf eine Kavernomblutung lenkt. Große Massenblutungen durch Kavernome sind selten. 3Diagnostik

b . Abb. 8.4a,b. Kleine parietale AVM vor und nach Embolisation. Das Embolisat ist auf der unteren Abbildung in der Subtraktion als heller Schatten erkennbar (Pfeil)

Alle klinischen Symptome, die von dem Patienten berichtet und erfragt wurden, werden durch die Diagnose einer zerebralen AVFehlbildung erklärt, die sich im CT bestätigt hat (. Abb. 8.4). Angiographisch zeigte sich, dass das Angiom von einer großen, solitären Arterie versorgt wird. Die Embolisierung und anschließende Operation ließ eine nahezu vollständige Entfernung des Angioms zu. Der Patient ist inzwischen unter antiepileptischer Medikation anfallsfrei. Die Halbseitensymptomatik hat nicht weiter zugenommen.

4 CT: Computertomographisch sind Kavernome, wenn sie nicht akut geblutet haben, nur ausnahmsweise durch verkalkte Anteile nachweisbar. Sie erscheinen als Rundherde von 0,5–3 cm Durchmesser mit inhomogener Dichte. Kontrastmittel wird kaum aufgenommen, ein Randödem sieht man nur nach kurz zurückliegender Blutung. Eine spontane Blutung kann im CT nicht von einer Kavernomblutung unterschieden werden (. Abb. 8.5a). 4 MRT: Im MRT erhebt man einen typischen Befund (. Abb. 8.5): Im T2-betonten Bild sieht man ein Zentrum von unregelmäßigen Strukturen mit signalintensiven Arealen, umgeben von einem signalfreien Randsaum. Dieser entsteht durch Hämosiderinablagerungen in der Umgebung der Gefäßfehlbildung, die aus früheren, klinisch oft unbemerkten Blutungen stammen. Manchmal sind Kavernome multipel (. Abb. 8.6). 4 Angiographisch kommen Kavernome nur selten zur Darstellung.

3Therapie. Asymptomatische Kavernome werden nicht operiert. Nach symptomatischen Blutungen und wenn medikamentös schlecht behandelbare Anfälle auftreten, werden die Kavernome, wenn von der Lage her möglich, mikrochirurgisch operiert. Auch Hirnstammkavernome werden, wenn sie geblutet haben, operiert, sofern es die Lage erlaubt Rückenmarkkavernome sind wegen ihrer zentralen Lage selten ohne sekundäre neurologische Ausfälle zu operieren. > Kavernome werden operiert, wenn sie geblutet haben oder häufige epileptische Anfälle verursachen.

249 8.2 · Kavernome

Facharzt

Pathologische Anatomie der Kavernome Kavernome treten oft mit anderen zerebralen oder extrazerebralen, vaskulären Fehlbildungen gemeinsam auf. Sie bestehen aus einem Konvolut erweiterter kavernöser, endothelialisierter Gefäßkanäle, die durch dünne Bindegewebssepten getrennt sind. Man findet sie bevorzugt in der weißen Substanz, nahe an Hirnfurchen und in Ventrikelnähe. Besonders häufig kommen sie im Temporallappen und Frontallappen vor, in Brücke und Mesenzephalon sowie, zentral gelegen, im Rückenmark. In

ihnen ist der Blutfluss sehr langsam. Ihre Wand enthält keine Muskelfasern und kein Bindegewebe. Zwischen den Kanälen liegt kein Hirngewebe. Die Größe der Kavernome variiert zwischen einigen Millimetern und einigen Zentimetern. In 40% der Fälle verkalken sie. Histologisch sind Mikroblutungen, Thrombosen, bindegewebige Umwandlung der Septen und Hämosiderinablagerung typisch. Fast immer findet man mikroskopisch oder makroskopisch Zeichen der Einblutung.

Facharzt

Andere intrazerebrale Gefäßmissbildungen Kapilläre Teleangiektasien Hierbei handelt es sich um meist asymptomatisch bleibende, kleine Mikroangiome mit umschriebener Vermehrung erweiterter Kapillaren. Sie sollen bei M. Osler gehäuft auftreten. Die Blutungsneigung soll sehr gering sein. Der computertomographischen Diagnostik entziehen sich diese kapillären Teleangiektasien meist, magnetresonanztomographisch kann man kleine Läsionen erhöhter Signalintensität finden. Möglicherweise liegen solche kapillären Fehlbildungen auch einmal intrazerebralen Blutungen zugrunde, dann werden sie jedoch meist im Operationspräparat nicht gefunden. Vermutlich sind kapilläre Teleangiektasien ganz harmlose Zufallsbefunde.

Venöse Fehlbildungen: Venöse Angiome 3Epidemiologie und Morphologie. Venöse Angiome gehören zu den häufigsten Gefäßfehlbildungen. Sie bestehen aus dünnen Venen, die spinnennetzartig zusammenfließen und in eine oder mehrere größere Sammelvenen einmünden (»Medusenhaupt«). Die Blutungshäufigkeit wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Prospektive Zahlen über die jährliche Blutungsrate liegen nicht vor. Nach unserer Einschätzung bluten venöse Angiome sehr selten. 3Symptome. Die meisten venösen Angiome bleiben asymptomatisch. Epileptische Anfälle, Kopfschmerzen und fokale neurologische Ausfälle können vorkommen. 3Diagnostik. In der CT sieht man primär hyperdense, streifenförmige Läsionen, die vom Marklager bis an die Hirnoberfläche reichen. Kontrastmittel wird meist deutlich aufgenommen. . Abbildung 8.7 zeigt den MR-Befund eines venösen Angioms. Manchmal kann das Medusenhaupt erkennbar sein.

Patienten mit symptomatischen, venösen Angiomen werden angiographiert, um sicher zu gehen, dass es sich nicht doch um eine arteriovenöse Fehlbildung mit kleinem arteriellen und großem, möglicherweise aneurysmatisch erweiterten venösen Anteil handelt. Im Angiogramm findet man nach normaler arterieller und kapillärer Phase das Medusenhaupt und die große transzerebral abführende Vene, die manchmal verzögert drainiert. 3Therapie. Venöse Angiome werden nur operiert, wenn sie sicher neurologisch symptomatisch gewesen sind. Dies gilt für raumfordernde Blutungen und manchmal für venöse Angiome mit medikamentös nicht kontrollierbarer Epilepsie. Venöse Fehlbildungen: Aneurysma der V. cerebri magna Galeni An der V. cerebri magna Galeni kommen zwei Formen der Gefäßfehlbildungen vor: das arteriovenöse Angiom und das Aneurysma der V. Galeni. Beide sind sehr selten. Vermutlich liegt auch den solitär wirkenden Aneurysmen eine kleine, arteriovenöse Fistel zugrunde. Die angeborenen Angiome werden meist schon im Kindesalter symptomatisch (Hydrozephalus, obere Hirnstammsymptomatik), bei Erwachsenen kommt es nur sehr selten zur Erstdiagnose, wenn sich Kopfschmerzen, Hydrozephalus und Einklemmungszeichen entwickeln. Sie zeigen sich in CT, MRT und Angiogramm als auf die V. cerebri magna zu beziehende Gefäßausweitung (. Abb. 8.8). 3Therapie. Die operative Behandlung ist risikoreich und schwierig, die endovaskuläre Behandlung scheint dagegen komplikationsärmer und effektiver zu sein.

8

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a

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

b

c

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. Abb. 8.5a–d. Kavernomblutung im Hirnstamm. a CT, b MRT T1 ohne Kontrast, c MRT T1 mit Kontrast: leichte ringförmige Anreicherung um die Blutung, d T2+: Blutabbau-Signal. (M. Hartmann, Heidelberg)

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. Abb. 8.6. Zwei Kavernome in der linken Hemisphäre. Das vordere zeigt eine frische Blutung, das hintere das typische Signal eines Kavernoms mit länger zurückliegenden Blutungen. (M. Hartmann, Heidelberg)

. Abb. 8.7. Koronare MR-tomographische Darstellung (T2) eines venösen Angioms, das sich als geradlinige, strichförmige Zone von erniedrigtem Signal (Fluss) darstellt. Keine Umgebungsreaktion des Parenchyms. (K. Sartor, Heidelberg)

. Abb. 8.8. Darstellung eines großen Aneurysmas der V. cerebri magna galeni vor (a) und nach (b) Kontrastmittelgabe. Das Aneurysma verdrängt den dritten Ventrikel nach rostral. Es ist ohne Kontrastmittel schon als hyperdense Struktur erkennbar. Es steht mit dem Sinus rectus in direkter Verbindung. Nach Kontrastmittelaufnahme zeigt sich nicht nur die massive Kontrastmittelaufnahme im Aneurysma, sondern auch eine relative Stenose am Übergang zum Sinus rectus sowie gestaute weitere innere Hirnnerven. (K. Sartor, Heidelberg)

a

b

251 8.3 · Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung

8.3

Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung

Intrakranielle Aneurysmen können auf verschiedene Weise klinisch relevant werden. 4 Am häufigsten ist die Subarachnoidalblutung, die in Kap. 9 ausführlich besprochen wird. 4 Die zweite Form ist das raumfordernde, basale Aneurysma mit druckbedingten, lokalen, neurologischen Symptomen. Diese Aneurysmen sind in der Regel sehr groß und oft teilweise, manchmal überwiegend thrombosiert. Auch sie können selten einmal bluten (Kombination von raumforderndem Aneurysma und SAB). 4 Selten kommt es zur ischämischen Schädigung durch aus dem Aneurysma ausgespültes embolisches Material.

Auch die Druckschädigung des N. opticus mit monokulärem Visusverfall oder des Chiasmas bei Aneurysmen der A. carotis und der vorderen Arterien des Circulus Willisii sind häufig. Für infraklinoidale Karotisaneurysmen ist ein Kavernosussyndrom (Ausfälle der Hirnnerven III, IV, VI, Schmerzen in V1) charakteristisch. Basilarisaneurysmen können doppelseitige Abduzenslähmungen hervorrufen. Andere Hirnnerven sind sehr viel seltener betroffen. Die flüchtigen Funktionsstörungen beruhen auf einer vorübergehenden Ausdehnung des Aneurysmasacks mit Gefäßschmerz und Druck auf den peripheren Verlauf der betroffenen Hirnnerven ohne stärkere meningeale Symptomatik. Es sind auch Verläufe ohne Kopfschmerzen möglich. Extrakranielle Pseudoaneurysmen der A. carotis interna nach Dissektionen führen zu Hypoglossusparese und peripherem Horner-Syndrom.

Asymptomatische Aneurysmen, die als Zufallsbefunde bei der bildgebenden Diagnostik gefunden werden, machen definitionsgemäß keine klinischen Symptome, können allerdings später einmal durch eine SAB relevant werden

3Diagnostik. Bei rezidivierenden Hirnnervenlähmungen mit Kopfschmerzen muss ein basales Aneurysma durch MRT und digitale Subtraktionsangiographie nachgewiesen oder ausgeschlossen werden. Größere Aneurysmen stellen sich auch in der MR-Angiographie und der CT-Angiographie dar.

8.3.1 Raumfordernde, symptomatische

3Therapie. Die beschriebenen rezidivierenden Symptome können die einzige Manifestation eines basalen Aneurysmas bleiben. In manchen Fällen kommt es aber doch zu einer akuten Subarachnoidalblutung. Deshalb müssen die Aneurysmen neurochirurgisch ausgeschaltet werden. Die Aneurysmen sind nicht selten sehr groß und manchmal durch ihre Lage im Karotiskanal operativ schwer zugänglich. Transvaskuläre interventionell-neuroradiologische Eingriffe schalten das Aneurysma mit Hilfe von Platinspiralen (Coils) (. Abb. 8.11), ablösbaren Ballons oder im Einzelfall den Verschluss der Trägerarterie aus.

Aneurysmen 3Symptome. Die Symptome sind durch die Lage der Aneu-

rysmen definiert. Viele Patienten haben über Jahre, in wechselnden Zeitabschnitten, anfallsweise Kopfschmerzen. Oft sind die Kopfschmerzen von neurologischen Symptomen begleitet, unter denen die innere und/oder äußere Okulomotoriuslähmung besonders häufig ist, weil der III. Hirnnerv Lagebeziehungen zur A. carotis interna, A. communicans posterior und A. cerebri posterior hat (ophthalmoplegisches Aneurysma). Facharzt

Differentialdiagnose basaler Aneurysmen Die diabetische Ophthalmoplegie tritt bei Patienten im mittleren und höheren Lebensalter, auch bei nur subklinischem Diabetes, akut, einseitig und unter Kopfschmerzen auf. Sie betrifft in erster Linie den N. oculomotorius, dabei aber nur die Augenmuskeln. Seltener ist der N. abducens betroffen. Die Prognose ist meist gut. Die Lähmung bildet sich über 3 oder 4 Monate wieder zurück. Das Tolosa-Hunt-Syndrom ist charakterisiert durch einseitigen Schmerz hinter der Augenhöhle, gleichzeitig oder anschließend einseitige Parese des III. und/oder IV. und VI. Hirnnerven sowie Sensibilitätsstörungen im ersten Trigeminusast. Hinzu kommen eine geringe Protrusio bulbi und konjunktivale Injektion. Die Ursache soll eine unspezifische, granulomatöse, retroorbital gelegene Entzündung sein. Zur Diagnose muss eine

Dünnschicht-CT-Untersuchung der Orbita und der parasellären Region mit Kontrastmittel ausgeführt werden. Man behandelt mit Glukokortikoiden (60–100 mg/Tag Prednisolon für 1 Woche, danach ausschleichend). Nach wenigen Tagen tritt eine Rückbildung der Symptome ein. Rezidive sind möglich. Wenn sich die Symptomatik nicht nach wenigen Tagen bessert, war die Diagnose falsch. Weitere Differentialdiagnosen sind 4 ophthalmoplegische Migräne (7 Kap. 16), 4 Cluster-Kopfschmerz (7 Kap. 16), 4 Augenmuskelmyositis (7 Kap. 34), 4 Thrombose oder Fistel im Sinus cavernosus (7 Kap. 7) und 4 Arteriitis cranialis (7 Kap. 16.5.5).

8

252

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

Nähe der großen Sinus. Besonders häufig sind sie am Sinus sagittalis superior und am Sinus transversus. Rekanalisierte Sinusthrombosen werden als eine Entstehungsursache der erworbenen Durafisteln diskutiert. Auch kongenital angelegte Durafisteln sind möglich. Meist werden die Fisteln von einer ganzen Reihe kleiner Arterien versorgt. Selten sind einzelne, zuführende Arterien. Auch Externagefäße (meningeale Äste und, besonders häufig, die A. occipitalis externa) können sich an der Fistel beteiligen. Durale AV-Fisteln haben ein jährliches Blutungsrisiko von 1–2%. Nach einer Blutung besteht ein sehr hohes Rezidivblutungsrisiko innerhalb des ersten halben Jahres. 3Klinische Symptome und Komplikationen. Das führende

Symptom ist ein sehr störendes Kopf-/Ohrgeräusch. Neurologische Herdsymptome sind selten. Die wichtigste und gefährlichste Komplikation ist die intrazerebrale Blutung (venöse lobäre Stauungsblutung durch hohen, venösen Druck). Selten sind direkte, arterielle Rhexisblutungen.

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3Diagnostik

. Abb. 8.9. Großes, asymptomatisches Aneurysma der Karotis T mit schmalem Hals. (S. Hähnel, Heidelberg)

8.3.2 Asymptomatische arterielle Aneurysmen Mit zunehmendem Einsatz hochauflösender bildgebender Diagnostik (CT, MRT) findet man immer häufiger asymptomatische Aneurysmen, da etwa 2–3% der Bevölkerung Träger asymptomatischer Aneurysmen sind. Aneurysmen ab einer Größe von etwa 0,8–1 cm bluten mit einer Wahrscheinlichkeit von 1% pro Jahr. Hinzu kommt, dass Hypertonus eine Größenzunahme des Aneurysmas und eine Erhöhung des Blutungsrisikos bewirkt (. Abb. 8.9). 3Operationsindikation. Man operiert heute asymptomatische Aneurysmen mit über 0,8 cm Durchmesser prophylaktisch, wenn keine Kontraindikationen (Alter, Multimorbidität) besteht und die Aneurysmen günstig, d.h. ohne großes operatives Risiko, erreichbar sind. Alternativ kommt auch hier die transvaskuläre neuroradiologische Ausschaltung des Aneurysmas mit Coils in Frage (. Abb. 8.10).

8.4

Arteriovenöse Fisteln

8.4.1 Durale, arteriovenöse Fisteln 3Definition und Pathogenese. Hierbei handelt es sich um

arteriovenöse Gefäßkurzschlüsse an und auf der Dura, bei denen es zur arteriellen Drainage in die Sinus kommt. Diese Fisteln entwickeln sich sowohl supra- als auch infratentoriell, meist in der

4 CT: Computertomographisch sind die Fisteln leicht feststellbar, wenn sie zu einer Blutung geführt haben. In seltenen Fällen können ausgedehnte, gestaute, kollaterale Venennetze einen Hinweis auf eine Abflussstörung geben. 4 MRT: Besser ist die Situation im MRT zu beurteilen, wo sowohl arterielle als auch venöse Anteile der Fistel dargestellt werden können. 4 Angiographie. Die selektive Angiographie der intra- und extrakraniellen Gefäße erlaubt eine genaue Beschreibung der Blutversorgung, der Anzahl der zuführenden Arterien und der venösen Abflussstörung (. Abb. 8.11).

3Therapie. Die transvaskuläre Embolisierung mit dem Ziel, sowohl arterielle Zuflüsse als auch venöse Empfängergefäße zu verschließen, ist die heute am häufigsten eingesetzte Therapie. Bei multiplen Versorgungsgefäßen können nach Verschluss einzelner Gefäße neue Zuflüsse rekrutiert werden, so dass der operative oder transvaskuläre Verschluss einzelner Gefäße zu keiner wesentlichen Veränderung der Symptomatik führt. Trotzdem kann hierüber eine Verringerung der Blutungsneigung erreicht werden, wenn ein wesentlicher Anteil der Feeder verschlossen und der intravenöse Druck reduziert wird. Behandelte Durafisteln können rezidivieren.

8.4.2 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel 3Pathogenese. Nach Kopftraumen, häufiger aber spontan;

kann die Wand der A. carotis interna im Sinus cavernosus einreißen, so dass sich ein arteriovenöser Shunt bildet (Mechanismus wie bei der Durafistel). Sehr selten beruhen Karotis-Sinus-cavernosus-Fisteln auf Ruptur eines sackförmigen, infraklinoidalen Karotisaneurysmas, eines arteriosklerotischen Mikroaneurysmas

253 8.4 · Arteriovenöse Fisteln

a

b

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. Abb. 8.10a–e. Partiell thrombosiertes Riesenaneurysma der A. carotis interna in CT (a) und MRT T2-Sequenz. In der MRA ist Rest-

fluss am Rand des Aneurysmas zu erkennen (c, Pfeil). (d,e) DSA vor und nach Embolisation mit Platincoils. (M. Hartmann, Heidelberg)

oder einer Anlageanomalie. Hier fehlen häufig Stauungszeichen und Gefäßgeräusche. Das führende Symptom ist dann eine einseitige Augenmuskellähmung.

Hirnnerven verlaufen durch den Sinus cavernosus; . Abb. 8.12). Ein pulssynchrones Geräusch, das manchmal als rhythmisches Brausen oder Zischen auszukultieren ist, beeinträchtigt die Patienten sehr. Wie beim Angiom, lässt es nach Kompression der ipsilateralen A. carotis nach. Im Aspekt des Kranken fällt ein ein- oder doppelseitiger, meist pulsierender, jedenfalls aber eindrückbarer Exophthalmus auf. Er beruht auf venöser Stauung bei Abflussbehinderung in der V. ophthalmica durch Zufluss arteriellen Blutes in den Sinus cavernosus. Die Stauung zeigt sich auch in Chemosis der Konjunktiven mit Erweiterung der Venen (. Abb. 8.13). Oft ist sie auch am Fundus zu erkennen. In schweren Fällen kommt es zu Stauungsblutungen

3Symptomatik. Die neurologischen Symptome entwickeln

sich subakut oder langsam progredient, oft im Verlauf von einigen Wochen. Bei traumatischen Fisteln und bei Ruptur eines Karotisaneurysmas kann die Symptomatik aber auch akut auftreten. Die Symptome sind in den meisten Fällen so typisch, dass die Diagnose leicht gestellt werden kann. Die Patienten klagen über einseitige Stirnkopfschmerzen (N. ophthalmicus) und Doppelbilder (alle okulomotorischen

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254

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

a

b

N. III N. IV A. carotis int.

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N. VI N. V1

. Abb. 8.11a,b. Darstellung einer Durafistel, die sich über multiple, zuführende Gefäße, im Wesentlichen aber über die A. occipitalis anfärbt. Nach Embolisation mit Ethiblock erkennt man, dass das massive Shuntvolumen, das initial noch in der arteriellen Phase den Sinus transversus und die Vena jugularis angefärbt hat, nicht mehr übertritt. Trotzdem sind noch einzelne, kleine, die Fistel erhaltende Gefäße zu erkennen. (K. Sartor, Heidelberg)

Sinus cavernosus 9 . Abb. 8.12. Situs des Sinus cavernosus, axiale Darstellung. Die Lage der Augenmuskelnerven sowie des 1. Trigeminusastes sind angegeben. Blau A. carotis interna

. Abb. 8.13. Klinischer Aspekt einer Sinus-cavernosus-Fistel mit Exophthalmus, Ptose, massiver Injektion der konjunktiven und gestauten Venen. Die untere Bildreihe gibt den Befund nach Embolisa-

tion der Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel wieder. Das Auge ist zwar noch gereizt, die Ptose ist rückläufig, die konjunktivale Injektion und Stauung der Venen nicht mehr zu erkennen

255 8.4 · Arteriovenöse Fisteln

in die Netzhaut und den Glaskörper. Augenmuskelparesen und eine Einschränkung der Bulbusmotilität bei Exophthalmus führen zu Doppelbildern. Doppelseitige Fisteln kommen vor. Oft ist das zweite Auge auch bei nur einseitiger Fistel ebenfalls venös gestaut.

die Blutversorgung vollständig darzustellen. Dies ist für das interventionelle Vorgehen entscheidend. Bei der periorbitalen Doppleruntersuchung ist die Flussgeschwindigkeit in der V. orbitalis stark vermehrt.

3Diagnostik. Die Angiographie lässt die Ausdehnung der

3Therapie. Die Behandlung der Wahl ist die Okklusion der

Fistel oder des Aneurysmas sowie die Zu- und Abflussverhältnisse erkennen. Man stellt angiographisch den vorderen und hinteren Hirnkreislauf dar und führt auch Kompressionstests aus, um

Fistel durch ablösbare Ballons oder Platinspiralen mit Hilfe eines Spezialkatheters. Es kann nötig werden, mehrere Ballons oder Spiralen in mehreren Eingriffen zu platzieren (. Abb. 8.14). Ge-

a

c

b

. Abb. 8.14a–c. Embolisation einer Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel. 45jährige Patientin mit spontaner A. carotis interna – Sinus cavernosusFistel links. DSA im frontalen Strahlengang nach Injektion der A. carotis interna vor (a) und nach (b, c) transarterieller Embolisation der Fistel mit Platinspiralen. Zeitlich verfrühte Kontrastierung des Sinus cavernosus links und über den Sinus intercavernosus auch des Sinus cavernosus rechts (a). Die Drainage erfolgt über die V. ophthalmica beidseits und den Plexus pterygoideus (a). Nach Fistelverschluss normales Internaangiogramm. Die eingebrachten Platinspiralen sind am besten auf dem unsubtrahierten Bild zu erkennen (c). (S. Hähnel, Heidelberg)

8

256

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

Facharzt

Neurokutane Fehlbildungen mit Gefäßveränderungen Sturge-Weber-Krankheit 3Definition. Die Krankheit wird auch als enzephalotrigeminale Angiomatose bezeichnet. Man rechnet sie mit der Neurofibromatose, der Hippel-Lindau-Krankheit und der tuberösen Sklerose (7 Kap. 35) zu den Phakomatosen. Das sind neurokutane Krankheiten mit Nävi und Tumorbildung (Phakomata). Die Sturge-Weber-Krankheit ist, wie alle Phakomatosen, autosomal-dominant erblich. Der Genlokus ist noch nicht bekannt. 3Symptome. Bei voller Ausbildung findet man die folgende Trias: 4 Naevus flammeus des Gesichts (. Abb. 8.15), 4 verkalktes Angiom der Leptomeninx, das zu umschriebener Hirnatrophie und Anfällen führt, und 4 Angiom der Aderhaut mit konsekutivem Glaukom.

8

Der Nävus kann auf die Gegend der Stirn, der Nasenwurzel, auf Wange oder Kinn beschränkt sein. Gelegentlich dehnt er sich auch bis zum Hals und selbst auf Rumpf und Extremitäten aus. Er betrifft auch die Schleimhaut der Mundhöhle. In seltenen Fällen überschreitet er die Mittellinie. Das Syndrom ist oft nicht vollständig. Am häufigsten findet sich ein isolierter Nävus im Gesicht. Die Kombination von Gesichtsnävus mit Angiom ist etwas seltener. Das Glaukom fehlt oft. Die Zusammengehörigkeit dieser Fehlbildungen ist daran zu erkennen, dass die Haut des Gesichts und die weichen Hirnhäute vom N. trigeminus versorgt werden. Der typische Augenbefund ist ein Angiom der Aderhaut, stets auf der Seite des Gesichtsnävus, mit Glaukom und verschiedenen anderen, pathologischen Symptomen, z. B. Netzhautablösung. Die neurologischen Symptome setzen in der Kindheit ein. Meist leiden die Kranken unter generalisierten oder fokalen epileptischen Anfällen. Viele klagen über Kopfschmerzen, die oft den Charakter einer Migräne haben. Frühzeitig bleibt die Persönlichkeitsentwicklung zurück, und es entwickeln sich Wesensänderung und Demenz. Oft findet sich eine Hemianopsie, gelegentlich eine Hemiparese und Unterentwicklung der betroffenen Gliedmaßen. 3Diagnostik. Im CT fallen Rindenatrophie und die Verkalkungsgirlanden ins Auge. Im MRT sieht man das Angiom als Netzwerk von geschlängelten, kapillären und venösen Gefäßen einseitig, nicht immer auf derselben Seite wie der Nävus, in den weichen Häuten über dem Parietal- oder Okzipitallappen. Die Hirnrinde darunter ist durch Mangelernährung atrophisch (. Abb. 8.16). 3Therapie. Eine kausale Behandlung existiert nicht, man behandelt antikonvulsiv.

Hämangioblastom bei Hippel-Lindau-Krankheit 3Definition. Der Lindau-Tumor, das Hämangioblastom des Kleinhirns, ist eine autosomal-dominant vererbte Krankheit, die im mittleren Lebensalter beginnt. Männer sind weit häufiger als Frauen betroffen. Sporadische Fälle werden beobachtet. Der Sitz der Angioblastome ist in einer Kleinhirnhemisphäre, ausgehend vom Dach des 4. Ventrikels. Der solide Tumor, der aus Netzen von Kapillaren oder kavernösen Gefäßen besteht, ist relativ klein. Um diesen bildet sich meist ein Zyste, die mit gelblicher, stark eiweißreicher Flüssigkeit gefüllt ist. Über der Zyste liegen die weichen Hirnhäute mit stark blutgefüllten Gefäßen. Tumorzapfen können bis ins Halsmark hinabreichen. Wenn gleichzeitig eine Angiomatosis retinae vorliegt, sprechen wir von der Hippel-Lindau-Krankheit. Dabei können sich auch in den Nieren und im Pankreas Zysten finden. Der Tumor metastasiert nicht. 3Symptomatik und Verlauf. Manche Patienten mit LindauTumoren haben nur leichte Kopfschmerzen und geringen Nystagmus. Häufig bleibt der Tumor klinisch stumm, bis plötzlich Einklemmungssymptome mit unerträglichen Kopfschmerzen im Hinterkopf auftreten, die durch Bewegungen ausgelöst werden und sich beim flachen Liegen bessern. Oft besteht eine hochgradige, doppelseitige Stauungspapille. Verschiedene Hirnnerven können einseitig oder beidseitig gelähmt sein. Zerebelläre Ataxie betrifft die Beine stärker als die Arme, ist aber oft nur wenig ausgeprägt. Der Verlauf ist oft intermittierend, was auf dem unterschiedlichen Füllungszustand der Zyste beruht. 3Diagnostik. Computertomographisch sind die Tumoren durch den Nachweis von scharf begrenzten, homogenen Zysten niedriger Dichte gekennzeichnet. Der Gefäßanteil ist auch nach Kontrastmittelgabe nur selten darzustellen. Im MRT gelingt der Nachweis des Gefäßtumoranteils durch starke Kontrastmittelaufnahme besser. Auch lässt sich die Beziehung zum Hirnstamm besser darstellen (. Abb. 8.17). Bei der Vertebralisangiographie färbt sich der angioblastische Tumorteil oft an. Nicht selten sind aber auch nur die Raumforderungszeichen der Zyste erkennbar. Internistisch haben manche Kranken eine Polyglobulie, die auf Sekretion von Erythropoetin durch den Tumor beruht. 3Therapie. Die Behandlung der Wahl ist operativ, unter Umständen ebenfalls nach vorangegangener Embolisierung größerer, zuführender Gefäße. Wird nur die Zyste entleert, muss man mit einem Rezidiv rechnen. Bei kompletter Entfernung des Tumors ist die Prognose gut.

257 8.4 · Arteriovenöse Fisteln

. Abb. 8.15. Naevus flammeus bei Sturge-Weber-Syndrom. Seit Geburt vorhandener unilateraler Naevus flammeus im Bereich des ersten und zweiten Trigeminusastes. Zusätzlich zwei tuberöse Hämangiome über der linken Augenbraue. (D. Petzoldt, M. Richter, Heidelberg)

. Abb. 8.16a,b. Kernspintomographische Darstellung einer kortikalen Angiomatose Sturge-Weber, die sich auf die parietale und okzipitale Kortexregion links erstreckt

. Abb. 8.17. Sagittales T1-gewichtetetes MRT nach Kontrastmittelgabe bei einem infratentoriell gelegenen, überwiegend zystischen Hämangioblastom mit einem kleinen soliden Tumorknoten. (O. Jansen, Kiel)

8

258

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

lingt die selektive Ausschaltung der Fistel nicht, werden neurochirurgische Maßnahmen oder eine neuroradiologische Okklusion der ACI notwendig. 8.5

Insgesamt sind sie sehr selten, stellen aber, wenn sie übersehen werden, eine besonders schwerwiegende Fehldiagnose dar, da oft eine vermeidbare Querschnittlähmung resultiert.

Spinale Gefäßfehlbildungen

8.5.1 Übersicht

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3Pathophysiologie. Mehrere Mechanismen, die Blutung aus der Gefäßmissbildung, die Minderperfusion durch den Abtransport arteriellen Blutes über den arteriovenösen Kurzschluss (Steal-Effekt) die stauungsbedingte Druckerhöhung bei Abflussbehinderung durch erhöhten venösen Druck (Kongestionshyperämie und Ödem) Überforderung der Kapazität der abführenden Venenplexus können zu neurologischen Symptomen führen. Durafisteln haben immer einen erhöhten Venendruck, der die venöse Drainage behindert. Klinisch wichtig sind die akute, spinale Blutung und die chronische Myelopathie durch Steal-Phänomen bei arteriovenösem Shunt oder venöser Kongestion. Andere, seltene Manifestationen sind der direkte raumfordernde Effekt der arteriovenösen Fehlbildung und subarachnoidale oder epidurale Blutungen ohne spinale Symptome. Die Gefäßfehlbildungen liegen häufig im Thorakalmark. Der Nidus, d.h. der arteriovenöse Shunt bei Durafisteln und AVMs, befindet sich meist in Höhe thorakaler oder lumbaler Segmente. Kavernome liegen intramedullär. Sie stellen sich im MRT gut dar, da sie von Blutabbauprodukten früherer kleiner Blutungen umgeben sind (. Abb. 8.20). Die Varicosis spinalis ist eine meist lumbal gelegene Ansammlung von ausgeweiteten Venen, die raumfordernden Charakter haben können und zu dem Syndrom der Claudicatio der Cauda equina (7 Kap. 10.1.4) führen kann.

9

8.5.2 Spinale AVMs und Durafisteln

Zum Verständnis der spinalen Fehlbildungen ist es wichtig, die Blutversorgung des Rückenmarks zu verstehen, die in den . Abbildungen 8.18 und 8.19 dargestellt ist. In Analogie zu den intrakraniellen Gefäßmissbildung unterscheidet man folgende spinale Gefäßmissbildungen 4 arteriovenöse Durafisteln, 4 Kavernome,

8 7 3 6 5 4 2 1

4 arteriovenöse Fehlbildungen, 4 venöse Angiome und 4 die Varicosis spinalis.

3Symptomatik und Verlauf. Meist werden die Angiome jen11 10

. Abb. 8.18. Die wichtigsten arteriellen Zuflüsse zum Rückenmark. 1 Truncus brachio-cephalicus; 2 A. carotis; 3 A. vertebralis; 4 Truncus thyreocervicalis; 5 Truncus costocervicalis; 6 A. radicularis anterior C6–8; 7 A. radicularis anterior C4–5; 8 A. spinalis anterior; 9 A. intercostalis posterior Th4–Th6; 10 A. intercostalis posterior Th9–L1; 11 A. radicularis magna Adamkiewicz. (A. Thron, Aachen)

seits des 40. Lebensjahres symptomatisch. Die neurologischen Störungen setzen subakut ein. Sehr charakteristisch sind fluktuierende Beschwerden und Symptome mit progredientem Verlauf. Die Kranken klagen zunächst über Parästhesien und Schwäche in den Beinen, auch über radikuläre Schmerzen. Im weiteren Verlauf treten zentrale oder periphere Paresen der Beine und Störungen der Blasen- und Darmentleerung hinzu. Man findet eine paraspastische Gangstörung oder die Zeichen der peripheren Paraparese. Erlöschen der Eigenreflexe an den Beinen nach länger dauernder Symptomatik gilt als typisch. Blutungen setzten mit heftigsten, lokalen Rückenschmerzen ein, die gürtelförmig oder nach kaudal in die Beine ausstrahlen, während sich rasch ein Meningismus entwickelt.

259 8.5 · Spinale Gefäßfehlbildungen

Exkurs Differentialdiagnose der spinalen Durchblutungsstörungen und Gefäßfehlbildungen Akute Myelitis: 7 Kap. 22. Intraspinaler oder epiduraler Abszess: 7 Kap. 21 Funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28): Hier ist eine B12Resorptionsstörung zu fordern, auch betrifft die Gefühlsstörung nicht Schmerz- und Temperaturempfindung, sondern Berührung, Vibrationsempfindung und Lagewahrnehmung. Beginnende amyotrophische Lateralsklerose (7 Kap. 33): Objektivierbare Sensibilitätsstörungen kommen bei ALS nicht vor, auch findet man schon in einem Stadium, in dem klinisch nur eine zentrale Lähmung besteht, im Elektromyogramm in verschiedenen Muskeln die Zeichen einer zusätzlichen Schädigung des peripheren, motorischen Neurons. Chronische »spinale« Verlaufsform der multiplen Sklerose (7 Kap. 22): Diese Diagnose kann nur bei typischem Liquorbefund und dem Nachweis anderer Herde im CCT oder MRT gestellt werden. Der intermittierende, »schubförmige« Verlauf bei manchen spinalen Gefäßfehlbildungen erklärt die Verwechslung mit einer spinalen MS.

Spinales Meningeom (7 Kap. 12): Meningeome müssen nicht zu einem scharf abgegrenzten Querschnittssyndrom führen. Der Liquor kann normal sein. Im Zweifel klärt die MRT-Untersuchung die Diagnose. Zervikale Myelopathie durch Bandscheibenprotrusion: Die Abgrenzung gegenüber der vaskulären Myelopathie kann manchmal nach den betroffenen Segmenten erfolgen: Im Halsmark gibt es häufiger eine vertebragene als eine vaskuläre Rückenmarksschädigung. Im Brustmark gibt es keine Myelopathie durch Bandscheibenprotrusion, dagegen häufiger eine vaskuläre Rückenmarkschädigung. Bei der zervikalen Myelopathie sind bewegungsabhängige Nackenschmerzen häufig und das Zeichen von Lhermitte kann positiv sein. Zur Diagnose muss nach den bildgebenden Verfahren einschließlich MRT auch eine Myelographie durchgeführt werden. Psychogene Querschnittslähmung: Diskrepante klinische Befunde, normaler Reflexstatus, erhaltene unwillkürliche Bewegungen, normale Elektrophysiologie bei komplettem Funktionsausfall.

Rückenmarktumor: Die Symptomatik kann ganz ähnlich sein. Liquorveränderungen können fehlen. Immer muss die MRT die Differentialdiagnose klären.

a

b

. Abb. 8.19a–c. MRT und spinale Angiographie bei spinaler Durafistel. Schon im MRT (a) sieht man die korkenzieherartigen Signalauslöschungen durch die getauten Venen (Pfeile). In der Angiographie stellt

c sich die Fistel dar (b, Pfeil). c Späte venöse Phase mit den gefüllten ausgeweiteten Venen. (M. Hartmann, Heidelberg)

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260

Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

3Diagnostik. Im Liquor findet man eine leichte Pleozytose

und geringe Eiweißvermehrung. Bei der Myelographie sind meist sehr charakteristische Befunde zu erheben: korkenzieherartige, spiralförmige Aussparungen, die sich über viele Segmente des Thorakal- und Lumbalmarks erstrecken. Diese erkennt man oft auch im MRT, allerdings gibt es dort durch Artefakte falsch-positive Befunde.

Spinale AV-Angiome und Durafisteln werden über die selektive spinale DSA dargestellt (. Abb. 8.20). 3Therapie. Die Behandlung hängt von Lage, Art und arteriel-

ler Gefäßversorgung ab. In speziellen Zentren wird der endovaskuläre Verschluss des Nidus durch Embolisierung oder Ballonokklusion ausgeführt (. Abb. 8.20) oder es wird mit mikrochirurgischer Technik operiert.

8

a

b . Abb. 8.20a–c. Spinale, durale AV-Fistel. a Magnetresonanztomographie in Protonengewichtung (SE: 2200/15) links und T2-Gewichtung (SE: 2200/90) rechts. Neben den erweiterten Gefäßen im dorsalen Subarachnoidalraum (offener Pfeil) kommt eine ausgedehnte Zone intramedullärer Signalanhebung zur Darstellung, die von der Konusspitze bis in den mittleren Thorakalbereich reicht (solide Pfeile). Sie entspricht zentromedullären Ödemnekrosen, b Die selektive, spinale Angiographie zeigt

c zwei aus der 9. Interkostalarterie rechts zur Dura abzweigende Rr. spinales, die im Duraniveau (Pfeilspitze) in eine stark elongierte und kalibervermehrte V. radicularis shunten. Der Abfluss des Blutes über den stark dilatierten dorsalen Venenplexus der Rückenmarkoberfläche erfolgt extrem langsam und in diesem Fall mehr in kaudaler als in kranialer Richtung, c Zustand nach selektiver Embolisation der Fistelzuflüsse. (Aus Hopf et al. 1993)

261 8.5 · Spinale Gefäßfehlbildungen

In Kürze Arteriovenöse Missbildungen (AVM) Inzidenz: 2/100.000 Einwohner/Jahr. Einteilung: Erfolgt nach Lage, Größe, Zahl der versorgenden Arterien und Art der venösen Drainage. Lokalisation: Hirnlappen, Kleinhirn, Insel und Basalganglien. Blutungsrisiko ohne Therapie: 2-3%/Jahr. Symptome: Hirnblutungen, partielle epileptische Anfälle, Kopfschmerzen. Diagnostik: CT: Darstellung erweiterter Blutgefäße als bandoder girlandenförmige hyperdense Strukturen; MRT: Lagebeziehung der Gefäßkonvolute zu Hirnparenchym und umgebenden Liquorräumen, Darstellung vorangegangener Blutung; CTA/MTA: Orientierung über Aufbau der AVM; Dopplersonographie: Darstellung der Zunahme des Blutflusses über Karotis oder Media. Therapie: Embolisierung: neuroradiologisches Verschließen der Gefäße; mikrochirurgische Operation: Unterbindung aller zuführenden Gefäße, Entfernung der Gefäßfehlbildung.

Asymptomatische arterielle Aneurysmen

Kavernome

Karotis-Sinus-cavernosus Fisteln. Einreißen der Gefäßwand nach Kopftraumen oder spontan mit Bildung von arteriovenösem Shunt. Symptome: Einseitige Stirnkopfschmerzen, Doppelbilder, pulssynchrones Geräusch. Diagnostik: Angiographie: Darstellung der Fistel- und Aneurysmaausdehnung, der Zu- und Abflussverhältnisse; Doppleruntersuchung: Vermehrte Flussgeschwindigkeit in der V. orbitalis. Therapie: Okklusion der Fistel durch ablösbare Ballons oder Platinspiralen mit Spezialkatheter.

Inzidenz: 0,5-1% der Bevölkerung. Symptome: Fokale oder generalisierte epileptische Anfällen, Hirn- oder Rückenmarksblutungen mit Lähmungen oder unvollständiger Querschnittssymptomatik. Diagnostik: CT: Darstellung akuter Blutung, verkalkter Anteile; MRT: Zentrum unregelmäßiger Strukturen mit signalintensiven Arealen, umgeben vom signalfreien Randsaum. Therapie: Mikrochirurgische Operation nach Blutungen und häufigen epileptischen Anfällen.

Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Prophylaktische transvaskuläre neuroradiologische Operation.

Arteriovenöse Fisteln Durale, arteriovenöse Fisteln. Arteriovenöse Gefäßkurzschlüsse an und auf der Dura mit arterieller Drainage in die Sinus. Symptome: Störendes Kopf-/Ohrgeräusch, intrazerebrale Blutung. Diagnostik: CT: Fisteln bei Blutung leicht feststellbar; MRA: Darstellung arterieller und venöser Fistelanteile; Angiographie: Beschreibung der Blutversorgung, Anzahl zuführender Arterien und venöser Abflussstörung. Therapie: Transvaskuläre Embolisierung zum Verschließen der Gefäße.

Spinale Arteriovenöse Missbildungen und Durafisteln Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen Symptome: Kopfschmerzen, neurologische Symptome wie innere und/oder äußere Okulomotoriuslähmung, doppelseitige Abduzenslähmungen. Diagnostik: MRT, DSA, bei größeren Aneurysmen MRA/CTA. Therapie: Neurochirurgische oder neuroradiologische Eingriffe.

Symptome: Parästhesien und zentrale, periphere Paresen der Beine, Blutungen mit heftigen Rückenschmerzen, Blasen- und Darmentleerungsstörungen. Diagnostik: Liquor: Leichte Pleozytose, geringe Eiweißvermehrung; Myelographie: Korkenzieherartige, spiralförmige Aussparungen über Segmente des Thorakal- und Lumbalmarks; DSA: Darstellung spinaler AV-Angiome und Durafisteln. Therapie: Endovaskulärer Verschluss des Nidus durch Embolisierung, Ballonokklusion oder mikrochirurgische Operation.

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9 Subarachnoidalblutung 9.1

Warnblutung

– 264

9.2

Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6

Symptome – 266 Verlauf und Komplikationen – 267 Diagnostik – 270 Therapie – 272 Perimesenzephale und präpontine SAB – 275 Nicht-perimesenzephale Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis

– 266

– 276

263 Einleitung

> > Einleitung Es war eine ganz normale Geschäftsbesprechung, mit nicht weniger und nicht mehr Stress als üblich, als die 35-jährige Geschäftsfrau plötzlich einen sehr heftigen Schmerz im Nacken und Hinterkopf verspürte. Der Schmerz kam so unerwartet, dass sie unwillkürlich aufschrie, das Gefühl hatte, bewusstlos zu werden, sich festhalten musste, Herzklopfen und einen Schweißausbruch bekam. In den nächsten Minuten ließ der Schmerz zwar etwas an Intensität nach, blieb aber kaum erträglich. Die Nackenmuskulatur war verspannt, jede Bewegung des Kopfes unangenehm und schmerzhaft. Die Frau suchte sofort einen Arzt auf, der sie beruhigte, über Stress und die Halswirbelsäule räsonierte und Aspirin verschrieb. Die Schmerzen ließen nicht nach. Am nächsten Tag suchte die Patientin den Arzt erneut auf, und der überwies sie zum Neurologen. Drei Tage später hatte sie dort einen Termin. Inzwischen waren die Kopfschmerzen weitgehend abgeflaut, der Nacken war immer noch schlecht beweglich, und die Schmerzen waren bis in die Lendenwirbelsäule gezogen. Die neurologische Untersuchung soll unauffällig gewesen sein. Mit der Diagnose eines »Halswirbelsäulensyndroms«, der Verschreibung von Krankengymnastik und Massage sowie dem Hinweis, wenn »so etwas« wieder auftreten würde, wieder vorbei zu kommen, wurde die Patientin verabschiedet. »So etwas« kam wieder, genau eine Woche später, aber noch schlimmer. Jetzt wurde die tief bewusstlose Patientin vom Notarzt in die Klinik gebracht, wo eine massive Subarachnoidalblutung festgestellt wurde, an deren Folgen die junge Frau innerhalb weniger Tage verstarb. Eine Warnblutung – und nichts anderes war das erste Ereignis – geht nicht selten einer schweren Subarachnoidalblutung aus einem Aneurysma voraus. Wenn sie nicht erkannt wird, verspielt man die Chance, den Patienten in einem frühen Stadium operieren zu lassen und damit die gefährliche, oft tödliche Blutung zu verhindern.

Vorbemerkungen 3Definition. Die Subarachnoidalblutung (SAB) ist eine akut auftretende, arterielle Blutung unterhalb der Arachnoidea, der Spinngewebshaut des Gehirns. Die Beschaffenheit des liquorgefüllten Subarachnoidalraums ermöglicht eine rasche Verbreitung des Blutes und führt zu typischen, perakut einsetzenden meningealen Reizsymptomen. Neben der Verteilung des Blutes innerhalb des – subarachnoidalen und intraventrikulären – Liquorraumes ist auch ein Einbrechen der Blutung in den Subduralraum und in das Hirnparenchym, in Form einer intrazerebralen Blutung, möglich. Eine SAB ist meist die Folge der Ruptur eines intrakraniellen Aneurysmas. Die Leitsymptome der Subarachnoidalblutung (SAB) sind akut einsetzende Kopf- und Nackenschmerzen oder eine akute Bewusstseinsstörung. Nackensteife, Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu und Atemstörungen sind weitere häufige Symptome, die jedoch erst Stunden nach der Blutung auftreten können. Diese typischen Symptome, v.a. der explosionsartige Kopf-

schmerz, werden jedoch nur von der Hälfte der SAB-Patienten beschrieben; die anderen geben eine zunehmende Kopfschmerzintensität über Minuten an. 3Epidemiologie. Etwa 5–10% aller Schlaganfälle werden durch Subarachnoidalblutungen verursacht. Zuverlässige epidemiologische Zahlen für die Erkrankungshäufigkeit finden sich insbesondere für die Aneurysmablutungen. So wird die jährliche Rate von Neuerkrankungen bei der aneurysmatisch verursachten Subarachnoidalblutung in Nordamerika mit 28.000 Patienten pro Jahr angegeben, dies entspricht etwa 6–10% aller an einem Schlaganfall erkrankten Personen. Weltweit wird die jährliche Inzidenz für die Subarachnoidalblutung auf dem Boden einer Aneurysmaruptur zwischen 7 und 15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner und Jahr geschätzt. Das Haupterkrankungsalter liegt zwischen 40 und 60 Jahren. Frauen haben häufiger SABs als Männer. Vor dem 40. Lebensjahr ist die SAB bei Männern häufiger, jenseits des 50. Lebensjahres bei Frauen (w:m = 1,5:1). Man schätzt, dass zwischen 10 und 15 Personen pro 100.000 Einwohner und Jahr eine spontane SAB erleiden. Es gibt eine nicht zu unterschätzende Dunkelziffer, da etwa ein Drittel der Patienten stirbt, bevor sie ins Krankenhaus gelangen. Am häufigsten tritt eine SAB in der 5. und 6. Lebensdekade auf. Risikofaktoren sind arterielle Hypertonie, Rauchen und Hypercholesterinämie, Drogen und (fraglich) Kontrazeptiva. Von den Überlebenden stirbt ein weiteres Drittel während des stationären Aufenthaltes, etwa ein Drittel bleibt dauerhaft behindert. Nur ein Drittel, d.h. 50% der Überlebenden, erreicht wieder ihren prämorbiden Zustand. Mehrfache Aneurysmen sind in etwa 15% der Fälle festzustellen. Deutliche Hinweise gibt es darauf, dass auch tages- und jahreszeitliche Einflüsse von Bedeutung sind. So gibt es einen morgendlichen Blutungsgipfel, auch zeigen Subarachnoidalblutungen zwei Häufigkeitsgipfel im Winter und im Frühjahr. Bei Patienten, bei denen kein Aneurysma nachgewiesen werden kann, ist die Prognose weitaus besser. Die Prävalenz asymptomatischer Aneurysmen wird auf 2,5% geschätzt. Die Wahrscheinlichkeit der Ruptur eines solchen Aneurysmas liegt bei 1– 2%/Jahr. 3Ätiologie und Pathogenese. Bei mehr als 80% der Patienten

mit SAB ist ein Aneurysma die Blutungsursache. Die Aneurysmen der intrakraniellen Gefäße sind in der Regel sackförmig; fusiforme oder auch arteriosklerotische Aneurysmen sind wesentlich seltener und dann vorwiegend im hinteren Kreislauf lokalisiert. Sie sind oft nur stecknadelkopfgroß, können aber die Größe eines Golfballs erreichen. Manche sitzen gestielt, andere breitbasig an der Gefäßwand. Sie finden sich überwiegend am Circulus arteriosus Willisii, seltener in distalen Abschnitten der Piaarterien. 3Risikofaktoren. Etwa 15–20% der Patienten haben multiple

Aneurysmen. 5–20% der SAB-Patienten haben eine positive Fa-

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264

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

Exkurs Arterielle Aneurysmen In der Reihenfolge der Häufigkeit kommen folgende Lokalisationen vor (. Abb. 9.1): 4 A. communicans anterior und A. cerebri anterior, 4 A. cerebri media, 4 A. carotis interna (meist supraklinoidal, d.h. intradural, seltener im Sinus cavernosus und extradural) und intrakranielle Karotisteilung (Karotis-T; . Abb. 9.2), 4 A. communicans posterior, A. basilaris und A. vertebralis. In etwa 85% sitzen die Aneurysmen am vorderen, in 15% am hinteren Teil des Circulus arteriosus. Aus hämodynamischen Gründen bilden sich die Aneurysmen bevorzugt an den Gabelungsstellen der Arterien aus. In etwa 15% sind sie multipel (. Abb. 9.1). In der Mehrzahl der Fälle beruhen die Aneurysmen auf embryonalen Fehlbildungen der Tunica media. Der Druck des arteriellen Blutstroms führt zum Untergang der elastischen Fasern und schließlich zu einer umschriebenen Ausweitung der Arterienwand. Dieser pathogenetische Mechanismus erklärt die Vorzugslokalisation an Gefäßabschnitten, die strömungsmechanisch stärker beansprucht werden. Zum Zeitpunkt der Blutung sind etwa 70% der Aneurysmen kleiner als 12 mm im Durchmesser, 25% zwischen 10 und 25 mm messend und nur 2–4% größer als 25 mm. 4–6% der Patienten mit sackförmigem Aneurysma haben Zystennieren, 17% der Patienten mit Zystennieren haben Aneurysmen des Circulus arteriosus Willisii. Der Entwicklung und Ruptur von Aneurysmen liegen manchmal genetisch bedingte Gefäßwanderkrankungen zugrunde (Typ-III-Kollagenstörung, Ehlers-

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milienanamnese. Die Suche nach genetischen Ursachen von Aneurysmen wird intensiv geführt. SABs sind im höheren Lebensalter zwar häufiger, aber nicht in dem Maße, wie dies für Hirnblutungen oder zerebrale ischämische Infarkte gilt. Während der Schwangerschaft steigt das Risiko der SAB. Hoher Blutdruck ist ein wesentlicher Risikofaktor für Aneurysmabildung und Aneurysmaruptur. Auch Rauchen ist ein starker, unabhängiger Risikofaktor. Manche Autoren sprechen sogar von erworbenen Aneurysmen, führen als mögliche Risikofaktoren Zigarettenrauchen, schweren Alkoholabusus und auch den Gebrauch oraler Kontrazeptiva an. 9.1

Warnblutung

3Symptomatik. Die Warnblutung wird leider in vielen Fällen

nicht richtig gewertet. Die Patienten berichten über plötzliche, starke Nackenkopfschmerzen (»wie noch nie«), die dann rasch in einen dumpfen, störenden, aber meist nicht mehr alarmierenden Dauerkopf- und Nackenschmerz übergeht. Die Patienten haben eine geringe Nackensteifigkeit. Innerhalb der nächsten Tage bis

Danlos-Syndrom). 15% der Aneurysmen treten familiär auf. Selten entstehen Aneurysmen durch erworbene Gefäßveränderungen, z.B. Arteriosklerose, entzündliche Arterienkrankheiten oder bakterielle Embolien in die Vasa vasorum, vor allem bei Endokarditis (sog. mykotische Aneurysmen). Andere Gefäßmissbildungen (5%), Traumen, Dissektionen, Blutkrankheiten und Intoxikationen sind weitere Ursachen für eine Subarachnoidalblutung. Pseudoaneurysmen. Fusiforme Aneurysmen sind langstreckige Erweiterungen der intrakraniellen Gefäße, meist infolge einer schweren Arteriosklerose vom dilatativen Typ. Bei jüngeren Patienten kann auch einmal eine Bindegewebserkrankung (fibromuskuläre Dysplasie, Ehlers-Danlos-Syndrom) zugrunde liegen. Fusiforme Aneurysmen können sehr groß werden (Megadolichobasilaris, von dolichos, gr. der Weinsack, . Abb. 9.3) und hierdurch erhebliche raumfordernde Wirkung auf Hirnstamm und Hirnnerven ausüben. Die A. basilaris kann so elongiert sein, dass die Basilarisspitze über die Thalamusebene hinausreicht und manchmal zu einer Behinderung der Liquorzirkulation mit Verschlusshydrozephalus führt. Solche Erweiterungen gibt es auch an den Karotiden, manchmal bis in die proximale Media hinein. Diese Pseudoaneurysmen bluten äußerst selten, der Druck und der Blutfluss in diesen Gefäßabschnitten sind eher reduziert. Nicht selten entstehen hier Thromben. In diesen Fällen wird man Thrombozytenaggregationshemmer oder niedrig dosiertes Marcumar (INR um 2,5) einsetzen. Wenn diese Gefäße allerdings bei einer hypertensiven Entgleisung einmal rupturieren, wird dies nicht überlebt.

etwa 2 Wochen kann es dann zu einer schweren (Rezidiv)-SAB kommen. Etwa bei einem Viertel der SAB-Patienten können Zeichen einer Warnblutung erfragt werden: Oft sind die Patienten nicht zum Arzt gegangen, noch häufiger aber hat der Arzt diese Kopfschmerzen auf die Wirbelsäule, eine Migräne oder auf psychische Belastungen bezogen und den Patienten wieder nach Hause geschickt, manchmal mit Aspirin. Hauptrisiko nach eingetretener Warnblutung aus einem Aneurysma ist die mit großer Wahrscheinlichkeit eintretende Rezidivblutung, die mit einer hohen Mortalität von über 70% einhergeht. Ursache ist in erster Linie die körpereigene Lyse des Thrombus im Aneurysmainneren. Dabei liegt in den ersten 7 Tagen nach der Erstblutung das tägliche Nachblutungsrisiko bei etwa 2%, kumulativ beträgt dieses 25% innerhalb der ersten 3 bis 4 Wochen nach dem initialen Ereignis. 3Erforderliche Maßnahmen. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte diese Symptomatik als leichte SAB aufgefasst werden, was eine auch neurologische Untersuchung, CT und, in seltenen Fällen, eine Liquoruntersuchung verlangt.

265 9.1 · Warnblutung

40 - 45 % 15 - 20 %

15 - 20 %

3-5 % 1-2 %

. Abb. 9.1. Prädilektionsstellen für sakkuläre Aneurysmen am Circulus arteriosus Willisii und an den Aufzweigungsstellen der großen pialen Arterien . Abb. 9.3. Computertomographischer Befund einer massiven Elongation der Arteria vertebralis. Die Untersuchung ist mit Kontrastmittel durchgeführt. Man sieht vor dem Hirnstamm gelegen die ausgeweiteten Vertebralarterien, dann in das Kleinhirn hineinreichend die massive Aussackung der Basilaris. Im unteren Teil des Bildes ist eine Rekonstruktion erfolgt, die die Anterior-posterior-Ausdehnung dieser Aussackung besonders deutlich zeigt. (H. Zeumer, Hamburg)

. Abb. 9.2. Zwillingsaneurysmen am Karotis-T. 3-D-Rekonstruktion einer CT-Angiographie. (M. Hartmann, Heidelberg)

9

266

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

> Etwa 25% der Patienten mit schwerer SAB hatten »Warnblutungen«, die nicht erkannt wurden. Man muss deshalb bei perakuten Kopfschmerzen (»wie noch nie«) an diese Ursache denken, ein CT anfertigen lassen und den Liquor lieber einmal zu häufig als zu selten untersuchen.

9.2

Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

Eine schwere SAB kann sich ereignen, nachdem zuvor Prodromalerscheinungen, wie plötzliche Kopfschmerzen (Warnblutung) oder auch Augenmuskelparesen (7 Kap. 1.3.2) aufgetreten sind. Sie kann aber auch plötzlich und ohne Vorboten, aus voller Gesundheit einsetzen. Sie tritt nicht vermehrt nach körperlicher Anstrengung mit Erhöhung des Blutdrucks auf, sondern häufig auch spontan, oft selbst in völliger Ruhe. Hypertoniker haben häufiger Subarachnoidalblutungen. Entweder entwickeln sie mehr Aneurysmen oder sie ruptieren leichter.

9

3Pathophysiologie der Aneurysmaruptur. Wenn ein Aneurysma rupturiert und das Blut mit arteriellem Blutdruck in den Subarachnoidalraum austritt, kommt es zu einer akuten Erhöhung des intrakraniellen Druckes. Dieser kann bei schweren Blutungen bis zur Höhe des diastolischen Blutdruckes steigen und eine plötzliche Reduktion des zerebralen Perfusionsdruckes, die oft zur initialen Bewusstlosigkeit führt, hervorrufen. Die Reduktion der Perfusion hilft vermutlich, die Blutung durch Gerinnungsvorgänge an dem rupturierten Aneurysma zu beenden. Nach der initialen Hirndruckerhöhung mit Verminderung der Hirndurchblutung steigt der Blutfluss wieder an (reaktive Hyperämie), und der Patient kann aus der Bewusstlosigkeit erwachen. Je nach Menge und Lokalisation des Blutes kann die schwere Bewusstseinsstörung auch bestehen bleiben. Manche Patienten mit ganz schwerer SAB sterben in den ersten Minuten nach dem Ereignis oder erreichen das Krankenhaus in einem instabilen, komatösen Zustand. Ausgedehnte Blutansammlun-

gen in den basalen Zisternen können früh über eine Passageoder Resorptionsstörung des Liquors einen Hydrozephalus verursachen. Das im Subarachnoidalraum befindliche Blut und seine Abbauprodukte sind ein starker Reiz für eine Engstellung der Piaarterien (Vasospasmus), die initial durch Kontraktion der Muskularis entsteht. Später kommt es zu morphologischen Veränderungen in der Gefäßwand mit chronischer Engstellung. Viele Patienten haben nach der Subarachnoidalblutung einen erhöhten Blutdruck, der einerseits hilft, den Perfusionsdruck zu stabilisieren, andererseits aber auch die Gefahr einer erneuten Aneurysmaruptur mit sich bringt. Die körpereigene Lyse des Thrombus im Aneurysmainneren kann zur Nachblutung führen. 9.2.1 Symptome Die Symptome sind so charakteristisch, dass man sich immer wieder wundert, wie oft die Diagnose verfehlt wird und die Patienten wegen eines »grippalen Infekts«, einer »Nerveneinklemmung bei Bandscheibenschaden« oder einer Migräne falsch oder mit gefährlichen, aktionistischen Maßnahmen (»Einrenkung«) behandelt werden. Der Schweregrad der SAB wird nach einer Skala der Weltgesellschaft für Neurochirurgie in 5 Stufen eingeteilt (. Tabelle 9.1). Kopfschmerz und vegetative Symptome Das erste Symptom ist der plötzliche, noch nie erlebte Kopfschmerz, der sich rasch vom Nacken oder von der Stirn über den ganzen Kopf und innerhalb weniger Stunden auch zum Rücken ausbreitet. Häufig kommt es initial zu vegetativen Symptomen: Erbrechen, Schweißausbruch, Anstieg oder Abfall des Blutdrucks, Temperaturschwankungen und Veränderungen in der Frequenz von Pulsschlag und Atmung. Meist bildet sich rasch Meningismus aus. Der Meningismus kann jedoch im tiefen Koma nicht mehr nachweisbar sein.

. Tabelle 9.1. Einteilung des Schweregrads der SAB nach der Weltgesellschaft für Neurochirurgie (WFNS) und Hunt u. Hess

WFNS

Hunt und Hess

Grad

GCS

Hemiparese, Aphasie

Grad

Kriterien

I

15

nein

I

Asymptomatisch, leichte Kopfschmerzen, leichter Meningismus

II

14–13

nein

II

Starke Kopfschmerzen, Meningismus, keine Fokalneurologie außer Hirnnervenstörungen

III

14–13

ja

III

Somnolenz, Verwirrtheit, leichte Fokalneurologie

IV

12–7

ja/nein

IV

Sopor, mäßige bis schwere Hemiparese, vegetative Störungen

V

6–3

ja/nein

V

Koma, Einklemmungszeichen

Die Graduierung des Schweregrades ist von prognostischer Bedeutung (je besser der initiale Schweregrad, desto höher die Überlebens- und Heilungschancen) und dient zum Festlegen des Operationszeitpunktes.

9

267 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

Neurologische Symptome Bewusstseinslage. Manche Patienten stürzen bei der akuten Subarachnoidalblutung sofort bewusstlos zu Boden. Eine unklare Zahl von dieser Patienten, man schätzt etwa 30%, sterben innerhalb von Minuten. In der Mehrzahl der Fälle ist das Bewusstsein initial nur leicht getrübt. In den ersten Stunden und Tagen nach der Blutung kann sich die Bewusstseinsstörung aber oft durch zunehmenden Hirndruck verstärken. Gelegentlich kommt es zu einer exogenen Psychose. Selten treten generalisierte oder fokale epileptische Anfälle auf. Die Pupille kann auf der Seite der Blutung erweitert sein und schlecht auf Licht reagieren (innere Okulomotoriuslähmung). Gelegentlich finden sich Lähmungen anderer Hirnnerven. Am Augenhintergrund zeigen sich manchmal nach einigen Tagen papillennahe Blutungen (Morbus Terson). Die Papille ist gelegentlich gestaut. Bei schweren Subarachnoidalblutungen treten zentrale neurologische Herddefizite wie Hemi- oder auch Tetraparesen hinzu. 9.2.2 Verlauf und Komplikationen Ein Patient mit SAB ist im Verlauf vor allem durch drei Komplikationen gefährdet: 4 Rezidivblutung, 4 Gefäßspasmen, 4 Hydrocephalus communicans. Diese drei Komplikationen haben einen charakteristischen zeitlichen Ablauf (. Abb. 9.4). Andere Komplikationen sind epileptische Anfälle, Elektrolytstörungen und kardiale Dysregulationen (. Tabelle 9.2). Rezidivblutung Hauptrisiko nach eingetretener aneurysmatischer Subarachnoidalblutung ist bei nicht versorgter Rupturstelle die mit hoher

% 40

Nachblutung Vasospasmus

30 20 10 Hydrozephalus

0 1 2 3 4 5 6 7

10

15 2.

1.

20

25 3.

Woche

. Abb. 9.4. Schematische Darstellung der Häufigkeit und des Zeitpunkts von Komplikationen nach Subarachnoidalblutungen. Man erkennt, dass die Nachblutungsphase in den ersten 3–4 Tagen ihr Maximum hat, der Vasospasmus um den 5.–6. Tag beginnt und sein Maximum nach 10 Tagen erreicht. Ein Hydrozephalus kann zu jedem Zeitpunkt nach Subarachnoidalblutung, bis hin zu 4 Wochen, auftreten

Wahrscheinlichkeit eintretende Rezidivblutung, die mit einer hohen Letalität von über 70% einhergeht. Dabei liegt in den ersten 7 Tagen nach der Erstblutung das tägliche Nachblutungsrisiko bei etwa 2%, kumulativ beträgt es 25% innerhalb der ersten 3 bis 4 Wochen und annähernd 50% für die ersten 6 Monate nach dem initialen Ereignis. Danach beträgt das Blutungsrisiko erneut ungefähr 2% pro Jahr; dies liegt nur geringfügig oberhalb der jährlichen Rupturrate bei nicht gebluteten Aneurysmen (UIAI-Studie, 1998). Nach früheren Blutungen ist ein basales Aneurysma oft durch leptomeningeale Verwachsungen gegen den Subarachnoidalraum abgedeckt, so dass die Rezidivblutung in die Hirnsubstanz einbrechen kann. Die Symptomatik entspricht dann einer hypertensiven intrazerebralen Massenblutung (7 Kap. 6.1). Oft bricht die Blutung auch ins Ventrikelsystem ein und führt zur Ventrikeltamponade. Die Prognose ist dann schlecht: Viele Kranke sterben innerhalb weniger Tage, wenn nicht rechtzeitig eine Ventrikeldrainage gelegt wird (7 Kap. 6.4.1).

. Tabelle 9.2. Komplikationen nach SAB

Komplikation

Zeitpunkt

4.

Häufigkeit und Zeitpunkt von Komplikationen nach SAB

Besonders gefährdet

Häufigkeit

Therapie

Nachblutung

1. Woche

Alle Patienten

ca. 25%

Frühzeitige Ausschaltung des Aneurysmas

Gefäßspasmen

4–14 (21) Tage

Grad III–V

ca. 30%

Nimotop HHH

Hydrozephalus

1–21 Tage

Alle Patienten

ca. 15–20%

Akut: Ventrikeldrainage Chronisch: VP-Shunt

Hyponatriämie (SIADH)

4–14 Tage

Grad III–V

Unklar

i.v. Flüssigkeit (0,9%ige NaCl-Lösung)

Herzrhythmusstörungen

1–14 Tage

Alle Patienten

ca. 30%

Kardiologisch, falls notwendig

Neurogenes Lungenödem

Unklar, meist früh

Grad III–V

selten

PEEP-Beatmung, Diuretika, Betablocker,

Epileptische Anfälle

Bis zu 3 Wochen

Alle Patienten

10%

initial Phemytoin, Valproat i.v. Selten Dauertherapie

268

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

Exkurs Gefäßspasmen Zur Entstehung der zerebralen Gefäßspasmen sind verschiedene pathophysiologische Vorstellungen entwickelt worden, die jedoch auch heute eine Klärung der molekularen Ursachen der Spasmengenese nicht ermöglichen. Bisherige Überlegungen fokussieren auf zwei grundlegende Mechanismen: zum einen auf die während der Erythrozytenlyse freiwerdenden vasoaktiven, potentiell spasmogenen Substanzen, die eine intakte Gefäßwand beeinflussen, zum anderen werden entzündliche Veränderungen in den Gefäßwänden verantwortlich gemacht. Für letztere Annahme sprechen nachgewiesene Spiegel aktivierter Komponenten des Komplementsystems im Plasma und im Liquor der betroffenen Patienten. Auch zeigen sich Komple-

9

Gefäßspasmen Diese kommen durch Einwirkung verschiedener Blutabbauprodukte auf die Hirngefäße zustande. Gefäßspasmen setzen nach dem 4. Tag ein und dauern etwa 2–3 Wochen an. Manche bleiben asymptomatisch, aber oft führen sie durch lokale oder globale Minderung der Hirndurchblutung zum Auftreten oder einer Zunahme der Paresen oder der Bewusstseinsstörung. Spasmen erhöhen das Risiko einer Operation so sehr, dass die frühe Ausschaltung der Gefäßmissbildung vor der Spasmenphase generell bevorzugt. In der Angiographie lassen sich die Spasmen ebenfalls gut dokumentieren (. Abb. 9.5). Die transkranielle Dopplersonographie kann über eine Erhöhung der Flussgeschwindigkeit in den verengten Gefäßen Spas-

a . Abb. 9.5. a Spasmen nach Subarachnoidalblutung (digitale Subtraktionsangiographie). Deutliche, langgestreckte Einengung der distalen intrakraniellen A. carotis interna sowie der proximalen Anteile der Aa. cerebri media und cerebri anterior. Bei diesem Patienten war etwa

mentablagerungen in den histologisch untersuchten Gefäßwänden. Die Freisetzung spasmogener Metaboliten über lysierte Erythrozyten wird seit Beginn aller Spasmendiskussionen als mögliche Erklärung herangezogen, die bekanntesten und umfassend untersuchten Substanzen kommen aus der Gruppe der Endotheline, Polypeptide mit vasokonstriktorischen Effekten (Seifert et al. 1995). Auch Plasminen und Prostaglandinen werden gefäßverengende Wirkungen zugesprochen, während andere Untersuchungen auf eine Blockierung vasodilatativer Peptide wie der Substanz P oder dem calcitonin-gene-related peptide (CGRP) durch entsprechende Antagonisten hinweisen.

men nachweisen, liefert aber keine Information über die Perfusion in den abhängigen Hirnarealen. Die Methode dient zur Verlaufskontrolle und Schweregradbestimmung des Vasospasmus (. Abb. 9.6). Hydrozephalus Durch Blockierung der Arachnoidalzotten und der basalen Zisternen kann sich innerhalb weniger Tage ein Hydrocephalus communicans einstellen, bei dem sich Wachheit und Antrieb verschlechtern. Er kann früh, innerhalb von Stunden und spät, nach 1–2 Wochen entstehen. Ein Hydrozephalus kann durch eine Blockade der Liquorzirkulation durch Blutclots (Okklusivhydrozephalus) hervorgerufen werden. Die Diagnose ist mit Hilfe der CT

b 6 Tage vorher eine ausgedehnte Subarachnoidalblutung, bislang ohne Aneurysmanachweis, erfolgt, b Infarkte. Ausgedehnte Infarzierung bei schweren Media- und Anteriorspasmen links. (S. Hähnel, Heidelberg)

269 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

. Abb. 9.6. Transkranielle Dopplersonographie mit Spasmen im Karotissiphon, der Arteria cerebri media und der Arteria cerebri anterior, alle rechts. Bei diesem Patienten lag ein inzwischen geclipptes Mediaaneurysma auf der rechten Seite vor. (R. Winter, Heidelberg)

4.00

A. cerebri anterior links

A. cerebri anterior rechts 4.00

Siphon rechts

Siphon links

5.00

A. cerebri media links

A. cerebri media rechts

4.00

A. cerebri posterior links

gut möglich: Man erkennt eine Größenzunahme der inneren Liquorräume, besonders die Erweiterung der Temporalhörner. Infolge der begleitenden Hirnschwellung sind die im mittleren und höheren Lebensalter normalerweise sichtbaren Rindenfurchen verstrichen. Der Hydrocephalus communicans kann spontan reversibel sein. Meist wird aber für einige Tage eine externe Ventrikeldrainage angelegt. Ist die Ableitung über längere Zeit erforderlich, muss der Patient mit einem ventrikuloatrialen oder ventrikuloperitonealen Shunt versorgt werden. Seltener ist der Hydrocephalus occlusus, der durch Blutclots im Ventrikel, die zu einer Aquädukt- oder Foramen-MonroiBlockade führen, entsteht. Auch hier ist die frühe Liquoraußenableitung entscheidend. Intrakranielle Hämatome Neben der Ausbreitung der Blutung im Subarachnoidalraum kann es auch zu Parenchymblutungen oder auch subduralen Blutungen

A. cerebri posterior rechts

kommen. Insbesondere Aneurysmen der MCA erzeugen nicht selten größere, raumfordernde Hämatome, die zu den klinischen Zeichen der Einklemmung führen und eine sofortige Intervention herausfordern. Solche schweren Subarachnoidalblutungen – meist Grad V – in der Verbindung mit einer raumfordernden intrazerebralen Blutung haben jedoch eine wesentlich bessere Prognose als Grad-IV/V-Blutungen ohne begleitendes Hämatom Andere Komplikationen Elektrolytstörungen. Bei den Veränderungen des Elektrolythaushaltes spielen insbesondere Hyponatriämien ( Eine Lumbalpunktion (LP) bei Verdacht auf SAB wird nur dann durchgeführt, wenn im CT kein sicherer Nachweis von subarachnoidalem Blut gelingt.

Transkranielle Dopplersonographie Die TCD wird zur Feststellung und zum Monitoring intrazerebraler Gefäßspasmen eingesetzt. Wenn ein transkranielles Schallfenster vorliegt, ist diese Methode verlässlich und praktikabel einsetzbar. Dauer und Dosierung der Vasospasmustherapie können darüber gesteuert werden. Die TCD erlaubt allerdings nur indirekte Hinweise auf die Hirndurchblutung, so dass eine quantitative Aussage nicht möglich ist. Die Abfolge der diagnostischen Schritte und der Einsatz der verschiedenen Methoden ist in . Tabelle 9.3 zusammengestellt.

. Abb. 9.8a–c. Darstellung von drei sackförmigen Aneurysmen unterschiedlicher Lokalisation. a Typisches Aneurysma der A. communicans posterior mit langem Hals (Pfeil), b Riesiges, größtenteils thrombosiertes Aneurysma der Mediatrifurkation (Pfeil). Das Aneurysma, dessen Lumen nur einen kleinen Teil ausmacht, wirkt primär raumfordernd. Entsprechend ist der Mediastamm aufgerichtet, die Inseläste wirken gespreizt und gespannt, c Mittelgroßes, sackförmiges Aneurysma der A. communicans anterior (Pfeil). (K. Sartor, Heidelberg; M. Forsting, Essen)

9.2.4 Therapie Aneurysmaausschaltung Nach angiographischer Darstellung eines oder mehrerer Aneurysmen als Blutungsquelle für die SAB sollten diese so rasch wie möglich ausgeschalten werden. Dazu stehen mit dem endovaskuläre Ausstopfen des Aneurysmas mit Platinspiralen (Coiling) durch einen Neuroradiologen und dem neurochirurgischen Aneurysma-Clipping zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Eine hypertensive Volumentherapie (s.u.) kann nur durchgeführt werden, wenn das Aneurysma ausgeschaltet ist, da andernfalls ein hohes Nachblutungsrisiko bestehen würde. Chirurgische Therapie. Das Prinzip der Aneurysmaoperation besteht darin, den Aneurysmahals durch einen Gefäß-Clip zu komprimieren. Manchmal wird das Aneurysma auch reseziert. Die Umhüllung der Rupturstelle mittels Muskel oder Baumwollwatten, das Wrapping, ist weniger effizient, reduziert zwar das

273 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

. Tabelle 9.3. Diagnostik nach SAB

Methode

Zeitpunkt

Aussagekraft

Computertomographie

Sofort Im Verlauf

SAB-Nachweis, Differentialdiagnosen, Frühhydrozephalus Nachblutung, Hydrozephalus

Lumbalpunktion

Wenn CT negativ

Blutungsnachweis, auch bei länger zurückliegenden Blutungen

Angiographie

Vor Operation

Aneurysmanachweis

Magnetresonanztomographie

Im Verlauf, subakut

Aneurysmanachweis, andere Blutungsquellen, ischämische Läsionen, Spasmen

Transkranielle Dopplersonographie

Im Verlauf

Spasmennachweis/Monitoring

Risiko einer Blutung, verhindert diese jedoch nicht. Auch das sog. Trapping, die Ausschaltung des Gefäßes vor und nach der aneurysmatischen Aussackung, ist eine sichere Methode, jedoch nur an manchen Lokalisationen, wie etwa der Acom, durchführbar. Eine frühe Aneurysmaoperation kann Nachblutungen effektiv verhindern, ist aber technisch aufgrund von Hirnschwellung und frischem Blut im Subarachnoidalraum schwieriger. Die schlechteste Prognose haben Patienten, die zwischen dem 7. und 10. Tag nach SAB operiert werden, vermutlich wegen der hohen Spasmenrate. Trotz immer wieder geführter Diskussionen über den besten Zeitpunkt der Aneurysmaoperation hat sich zwischenzeitlich die Frühoperation innerhalb der ersten drei Tage nach Blutung durchgesetzt. Kritiker des frühen Eingriffes konnten den Nachweis dadurch bedingter, zusätzlicher neurologischer Schädigungen nicht führen. Auch haben spätere, separate Analysen aus der gleichen Datenerhebung gezeigt, dass doch eine günstigere Prognose mit einer frühen Intervention einhergeht. In den meisten Zentren werden heute Patienten mit Hunt-und-HessGraden I bis III nach Möglichkeit früh, d.h. innerhalb von 1– 2 Tagen nach der SAB operiert. Die Operation ist besonders vielversprechend bei Patienten

a

b

. Abb. 9.9a–c. Coiling eines Karotis-T-Aneurysmas. a Präinterventionelle DSA mit Darstellung des Aneurysmas mit breitem Hals, b Postinterventionelle Dokumentation des Coil-Nestes (nichtsubtrahierte Aufnah-

4 in gutem klinischen Zustand (WFNS I–III), 4 deren Aneurysma frühzeitig (am 1. und 2. Tag nach den Erst-

symptomen der SAB) behandelbar ist und die 4 keinen Hinweis auf einen schon beginnenden Vasospasmus (transkranieller Doppler) haben. In vielen Kliniken gilt dies auch für Grad-IV-Patienten. Neuroradiologische Behandlungsmöglichkeiten. Inzwischen können viele Aneurysmen, einschließlich solcher, die chirurgisch nicht therapierbar sind, mit interventionell neuroradiologischen Maßnahmen behandelt werden. Elektrolytisch loslösbare Platinspiralen (coils), die über dünne Katheter in das Aneurysma eingebracht werden, füllen dieses aus und triggern eine Thrombosierung im Aneurysma. Diese Prozedur wird als coiling bezeichnet (. Abb. 9.9). Inzwischen gibt es gut belegte Daten, die zeigen, dass die endovaskuläre Behandlung von Aneurysmen, die dieser Therapie zugänglich sind, eine günstigere Prognose für Überleben und Überlebensqualität haben. Nach der ISAT-Studie ist die kurzfristige Prognose (Mortalität und Behinderungsgrad nach 1 Jahr) nach endovaskulärem Clipping besser als nach Aneurysma-Clip-

c me), c Postinterventionelle DSA, die die komplette Ausschaltung des Aneurysmas zeigt. (S. Hähnel, Heidelberg)

9

274

9

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

ping (absolute Risikoreduktion 6,9%, relative Risikoreduktion 22,6%) (International Subarachnoid Aneurysm Trial (ISAT) Collaborative Group 2002). Seither wird von vielen das Coiling als Methode der 1. Wahl angesehen. Die Studienergebnisse sind jedoch nicht unumstritten: Nur ein Viertel der ursprünglich für die Studie vorgesehen Patienten wurden letztendlich in der Studie behandelt. Viele dieser Patienten waren in einem guten klinischen Zustand (WFNS 1 und 2) und hatten Aneurysmen der vorderen Hirnzirkulation (97,3%). Die größte Unsicherheit ist jedoch der Langzeitverlauf, da bislang nur die Einjahresergebnisse bekannt sind. Fünfjahresdaten fehlen noch. Bis zum Vorliegen langfristiger Reblutungsraten aus ISAT wird empfohlen, eine individuelle Therapieentscheidung in interdisziplinärer Absprache zwischen Neuroradiologen, Neurochirurgen und Neurologen, zu treffen. Das endovaskuläre Coiling kann auch bei SAB-Patienten in den WFNS-Graden IV und V, bei Patienten mit Vasospasmus und bei Aneurysmen der posterioren Zirkulation durchgeführt werden. Da nach Coiling rekanalisierte Aneurysmen (10–15%) und inkomplett ausgeschaltete Aneurysmen häufiger sind als nach der Operation, müssen gecoilte Aneurysmen nach 6 Monaten kontrollangiographiert werden. Kombinierte neuroradiologisch/neurochirurgische Operationen werden bei großen oder schwer zugänglichen Aneurysmen der Schädelbasis durchgeführt. Konservative Therapie Initialbehandlung vor Aneurysmaoperation. Die allgemeine Be-

handlung entspricht der beim ischämischen Infarkt. Ausnahmen sind die initiale antihypertensive Therapie und die frühe Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks. Alle SAB-Patienten, auch im Grad I und II, werden intensivmedizinisch behandelt. Sedierung und Schmerzbehandlung. Die ersten Maßnahmen

sind Sedierung und Schmerzbehandlung durch Bettruhe, Analgetika, wie Buprenorphin (z.B. Temgesic) 0,15 mg i.v. 4- bis 6stündlich, und zusätzlich Tranquilizer, z.B. Diazepam (z.B. Valium) 5 mg, wiederholt nach Wirkung. Blutdruck. Sehr hohe initiale Blutdruckwerte, wie sie nach SAB

oft gefunden werden, erhöhen das Risiko der frühen Nachblutung. 4 Deshalb werden erhöhte systolische Blutdruckwerte auf etwa 140–160 mmHg gesenkt. Man setzt Urapidil 25 mg i.v. oder Nifedipin (oral 10 mg oder i.v. über Perfusor) ein. 4 Betablocker sind auch günstig, da sie den stressinduzierten hohen Druck gut modifizieren. ACE-Hemmer oder Clonidin können ebenfalls eingesetzt werden. 4 Auch der blutdrucksenkende Effekt von Nimodipin kann hilfreich sein. Behandlung des Vasospasmus. Der Vasospasmus ist der wesentliche Grund für die Verschlechterung der Patienten zwischen

dem 4. und 10. Tag nach SAB. Dies gilt für operierte und für nichtoperierte Patienten. Da die meisten Patienten im Grad I–III heute früh operiert werden, sehen wir mehr postoperative Gefäßspasmen. Der Calciumantagonist Nimodipin (Nimotop®) senkt signifikant das Risiko für Symptome durch einen Vasospasmus. Vermutlich spielt auch eine neuroprotektive Wirkung eine Rolle. 4 Wir geben allen Patienten i.v. Nimodipin in einer Dosierung von 2 mg/h (halbe Dosis für 1–2 h bei manchen Patienten mit deutlicher Blutdrucksenkung). Die orale Gabe ist allerdings ähnlich wirksam (Nimodipin 60 mg alle 4–6 h) und hat weniger Einfluss auf den Blutdruck. Die Metaanalyse der vorliegenden kontrollierten Studien spricht dafür, dass Nimodipin bei allen Schweregraden der SAB wirkt. Dies gilt auch, wenn kein Aneurysma vorliegt. Als Nebenwirkungen können Kopfschmerzen, akuter Ileus, pulmonale Rechts-links-Shunts und Leberenzymerhöhungen auftreten. 4 Wegen Gefäßreizung der alkoholischen Lösung muss ein zentraler Venenkatheter gelegt werden. Nimodipin i.v. muss in lichtundurchlässigen Infusionssystemen gegeben werden. Hypertensiv-hypervolämische Hämodilution. Bei klinisch manifesten Gefäßspasmen und hierdurch bedingten ischämischen Symptomen wird, wenn das Aneurysma ausgeschaltet ist, heute eine hypertensiv-hypervolämische Hämodilution (HHH, TripleH-Therapie) durchgeführt. Bei Einsatz innerhalb von Stunden nach Auftreten eines symptomatischen Vasospasmus kann sie ischämische Symptome zurückbilden. 4 Sie besteht in einer Volumentherapie (bis zu 6 l/Tag oder mehr) mit Volumenexpandern (z.B. HAES steril® 500–1000 ml/d oder Albumin 5% 4-mal 250 ml/Tag) und der Infusion von adrenergen Substanzen, wie Dobutamine (2,5–10 μg/kg KG/min), oder auch Noradrenalin (0,1 μg/kg KG/min). 4 Hinzu kommt als hämodilutive Behandlung die Infusion mit 0,9% NaCl-Lösung (5–8 l/Tag. Diese Behandlung kann nur auf Intensivstationen, manchmal mit gleichzeitigem invasiven kardialen Monitoring (Swan-Ganz-Katether) durchgeführt werden. 4 Da zum Teil systemische Blutdrucksteigerungen bis zu 180– 200 mmHg angestrebt werden, hat die Behandlung beträchtliche kardiale und pulmonale Risiken (hydrostatisches Lungenödem, Myokardischämie, Hirnödem).

Weitere Therapieansätze bei manifesten Spasmen 4 Die intraarterielle Infusion von Papaverin, einem starken Vasodilatator, wird wegen erheblicher Nebenwirkungen (Breakthrough-Mechanismen und Einblutungen) nur in Einzelfällen durchgeführt. 4 Bei monosegmentalen Spasmen, z.B. an der A. carotis interna, ist manchmal eine interventionelle Ballondilatation indiziert.

275 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

Empfehlungen zur Therapie der aneurysmatischen SAB* 4 Die Diagnose einer aneurysmatischen Subarachnoidalblutung erfordert aufgrund des hohen frühen Reblutungsrisikos die möglichst rasche Ausschaltung des gebluteten Aneurysmas (⇑⇑/A). 4 Das neurochirurgische Clipping (⇑⇑/A) und das neuroradiologische Coiling (⇑⇑/A) des Aneurysmas sind Verfahren mit ähnlicher Wirksamkeit. Das am besten geeignete Verfahren muss individuell festgelegt werden. 4 Das Coiling von Aneurysmen über einen neuroradiologischen Zugang zeigt bei selektionierten Patienten bessere Einjahresdaten (Behinderungsgrad, Tod) als das Aneurysma-Clipping (⇑⇑).

4 Die Entscheidung zum Coiling oder Clipping setzt bis dahin eine interdisziplinäre Absprache von Neurochirurgen, Neuroradiologen und Neurologen voraus. 4 Nimodipin verhindert die Komplikation des symptomatischen Vasospasmus (⇑⇑/A) und sollte bei allen Patienten mit aneurysmatischer Subarachnoidalblutung gegeben werden, wenn die Aufrechterhaltung eines normalen Blutdrucks dies erlaubt (A). 4 Ischämische Symptome durch einen Vasospasmus können mit der hypertensiven hypervolämischen Hämodilution (⇑/B), der transluminalen Ballonabgioplastie (⇑/B) oder intraarterieller Papaveringabe (⇔/B) behandelt werden. * gekürzt nach Leitlinien der DGN 2005

Hydrozephalus 4 Die Behandlung bei frühem oder subakutem Hydrozephalus besteht in der Ventrikeldrainage, die die Entfernung von Liquor aus dem Ventrikelsystem und die Messung des intrazerebralen Drucks ermöglichen. 4 Externe Ventrikeldrainagen können unter Antibiotikaprophylaxe für 7–10 Tage liegen. Sollte nach Abklemmen dann immer noch ein erhöhter Druck festgestellt werden, wird ein definitiver Shunt angelegt (7 Kap. 35.2.1). Weitere intensivmedizinische Behandlung nach SAB 4 Elektrolytstörungen: Viele SAB-Patienten entwickeln Elektrolytstörungen, vor allem eine Hyponatriämie, vermutlich als Folge eines SIADH und eines renalen Salzverlustes. Die Hyponatriämie beginnt meist am Ende der ersten Woche nach der Subarachnoidalblutung und kann 2 Wochen andauern. Die Behandlung besteht in isotonischen Salzlösungen und Volumentherapie. 15% der Patienten mit Subarachnoidalblutung entwickeln epileptische Anfälle, die mit Phenytoininfusionen behandelt werden. 4 Hirndruck: Bei klinischen Zeichen des erhöhten Hirndrucks (Erbrechen, Schluckauf, zunehmende Bewusstseinstrübung, Pupillenstörungen) behandelt man nach den in Kap. 5 vorgestellten Prinzipien. 5 Neben der allgemeinen Hirndrucksenkung durch Oberkörperhochlagerung (10–30°), einer leichten Hyperventilation (pCO2 32–34 mmHg) und einer adäquaten Analgosedierung mit Opiaten/Benzodiazepinen kann die Osmotherapie mit Mannitol (z.B. 4- bis 6-mal 80 ml/Tag) oder Glycerol (2- bis 3-mal 250 ml/) den Hirndruck erfolgreich senken. 5 Oft genügt die ausreichende Liquordrainage durch den Ventrikelkatheter zur Senkung des Hirndrucks. 5 Dexamethason (20–40 mg initial, gefolgt von 6-mal 4 mg/ Tag) wird nur postoperativ gegeben. 5 Andere Maßnahmen sind in Kap. 5 beschrieben.

Prognose Die wesentlichen prognostischen Faktoren sind das Alter, der Grad der initialen Bewusstseinsstörung (die Letalität steigt von 20% bei wachen auf 80% bei initial komatösen Patienten), die Menge des subarachnoidalen Blutes und die Lokalisation des Aneurysmas. Aneurysmen im hinteren Hirnversorgungsgebiet und viel subarachnoidales Blut in den Zisternen und Ventrikeln haben eine schlechte Prognose. Insgesamt liegt die Letalität innerhalb des ersten Monats mit über 40% sehr hoch, wobei berücksichtigt werden muss, dass 15–20% der Patienten bereits vor Erreichen des Krankenhauses versterben. Etwa ein Drittel der überlebenden Patienten hat ein bleibendes neurologisches Defizit. Bleibende neuropsychologische Defizite sind noch häufiger. Bei Patienten, bei denen kein Aneurysma nachgewiesen werden kann, ist die Prognose weitaus besser. Die Prävalenz asymptomatischer Aneurysmen wird auf 2,5% geschätzt. Die Wahrscheinlichkeit der Ruptur eines solchen Aneurysmas liegt bei 1– 2%/Jahr.

9.2.5 Perimesenzephale und präpontine SAB 3Definition. Bei manchen Patienten mit Symptomen einer

SAB findet man im CT eine umschriebene Blutung präpontin, prämesenzephal oder perimesenzephal. Das Blut liegt in den Zisternen um das Mittelhirn, jedoch nicht in der Sylvischen Fissur, im frontalen Interhemisphärenspalt oder in den Ventrikeln. Bei ihnen gelingt der Nachweis eines Aneurysmas oft nicht. Sie entwickeln nur selten Gefäßspasmen und neigen nicht zur Nachblutung. Vermutlich handelt es sich hierbei um eine venöse Blutung. Bei manchen dieser Patienten sind vor der Blutung Aktivitäten mit Erhöhung des intrathorakalen und intraabdominellen Drucks (schweres Heben, Abstützen, Valsalva-Mechanismen) eruierbar.

9

276

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

3Diagnostik. Die CT zeigt den Befund, der für diese Entität

namensgebend ist: Eine Ansammlung von subarachnoidalem Blut vor der Brücke, dem Mesenzephalon und den perimesenzephalen Zisternen (. Abb. 9.10) Auf die initiale Angiographie kann bei diesem Blutungstyp nicht verzichtet werden, da in 2,5– 5% doch ein Aneurysma nachweisbar ist. Eine weitere Angiographie nach einigen Wochen bei fehlendem Aneurysmanachweis und gut beurteilbarer Erstuntersuchung mit kompletter Viergefäßdarstellung, auch in gedrehten Einstellungen und ohne Vasospasmus ist nicht notwendig. Allerdings reicht eine negative CToder MR-Angiographie nicht aus, um ein Aneurysma auszuschalten Obwohl ein symptomatischer Vasospasmus bei dieser SAB sehr selten ist, sollten initial wiederholte Kontrollen mit der transkraniellen Dopplersonographie (TCD) erfolgen. 3Therapie. Bei perimesenzephaler SAB ohne Aneurysma-

9

nachweis und bei Patienten ohne Blutungsquellennachweis in der initialen Angiographie ist keine intensivmedizinische Therapie mehr erforderlich. Häufigste Komplikation ist der Hydrozephalus, der ggf. mit einer Außenableitung versorgt werden muss. Bei Hinweisen auf einen sich entwickelnden Vasospasmus (Flussgeschwindigkeitsanstieg) kann auch hier orales Nimodipin prophylaktisch (Nimotop 60 mg alle 4–6 h) verabreicht werden. Diese Patienten können nach Aufklärung über die gute Prognose der Krankheit schon bald nach Hause entlassen werden. 3Prognose. Diese Blutungen haben eine weitaus bessere Prognose als Patienten mit Aneurysmanachweis. Das Nachblutungsrisiko ist äußerst gering. Dennoch sind viele Patienten anschließend verunsichert und werden in der Zukunft auf Kopfschmerzen sehr sensibel reagieren. Dies ist in Anbetracht der initialen Schmerzsymptomatik gut nachzuvollziehen. Wenn sie mit erneuten Kopfschmerzen in die Notaufnahme kommen, soll ein CT durchgeführt werden, um die Angst vor einer Rezidivblutung zu nehmen. . Abb. 9.10. Perimesenzephale präpontine SAB mit Blutungsschwerpunkt vor der Brücke und in der perimesenzephalen Zisterne. In der Angiographie kein Aneurysmanachweis. (M. Hartmann, Heidelberg)

9.2.6 Nicht-perimesenzephale Subarachnoidal-

blutung ohne Aneurysmanachweis Alle anderen SABs ohne Aneurysmanachweis bleiben verdächtig auf eine Aneurysmablutung und erfordern wiederholte angiographische Diagnostik. Bei ihnen liegt im Computertomogramm das Blut an Lokalisationen, die aneurysmatypisch sind, z.B. in der Sylvischen Fissur über der Inselrinde, in den basalen Zisternen oder im frontalen Interhemisphärenspalt. Im Gegensatz zu den perimesenzephalen Blutungen besteht ein hohes Reblutungsund Komplikationsrisiko. Mögliche Blutungsquellen sind nicht entdeckte kleine oder thrombosierte Aneurysmen, arteriovenöse Malformationen, Sinus- und Venenthrombosen, Durafisteln, vaskuläre Malformationen und Tumoren (z.B. Hämangioblastome) im Hals- und oberen Brustwirbelsäulenbereich. 3Diagnostik. Bei fehlendem Aneurysmanachweis in der initialen Angiographie kann z.B. die fehlende Darstellung einer typischen Aneurysmalokalisation (R. communicans anterior oder posterior), die Thrombose des Aneurysmas oder ein Vasospasmus dafür verantwortlich sein. Eine Nachangiographie nach Tagen oder Wochen, aber nicht bei Vasospasmus (Kontrolle durch transkranielle Dopplersonographie), ist notwendig. Die wiederholte Angiographie kann dann in bis zu 15% ein Aneurysma nachweisen. Wenn der Blutungsschwerpunkt in der hinteren Schädelgrube liegt, ist eine zervikale MRT und die spezielle Darstellung der Vertebralarterien auch im extraduralen Verlauf sinnvoll. 3Therapie. Die üblichen Komplikationen nach SAB, Reblutung, Hydrozephalus und Vasospasmus können auftreten und werden wie oben beschrieben behandelt. Ein sekundär gefundenes Aneurysma oder vaskuläre Malformationen (Durafistel, Angiome) sollen so rasch wie möglich operiert oder endovaskulär verschlossen werden. Bei Blutnachweis in den basalen Zisternen wird eine Vasospasmusprophylaxe empfohlen.

277 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

Mykotische Wandveränderungen Mykotische oder infektiöse Pseudoaneurysmen entstehen durch infektiöse Ablagerungen in der Gefäßwand, meist in den Ästen der A. cerebri media, manchmal auch am proximalen Circulus Willisii. Neben einer SAB können auch intrazerebrale Blutungen entstehen. Die Reblutungsrate unter konservativer Therapie ist gering. Die mykotischen Aneurysmen werden antibiotisch behandelt, von einer interventionellen Therapie wird zurzeit eher abgeraten. ä Der Fall Ein 40-jähriger Mann wird bewusstlos, intubiert und beatmet in die Notaufnahme gebracht. Die Ehefrau berichtet, dass ihr Mann noch am Morgen wie immer zur Arbeit gegangen sei. Um 17.00 Uhr sei er zurückgekommen und habe mit leichter Gartenarbeit begonnen. Dabei habe er ganz plötzlich über heftigste Kopfschmerzen geklagt, sei noch bis zum Haus gekommen, dort ohnmächtig geworden und hingestürzt. Der Notarzt habe eine sehr flache Atmung festgestellt und ihn intubiert, Herz und Kreislauf seien aber normal gewesen. Auf Nachfragen berichtet die Frau, dass ihr Mann vor etwa einer Woche über plötzliche, erhebliche Kopfschmerzen geklagt und auch einen Arzt aufgesucht habe. Hinterher hätten die Schmerzen langsam nachgelassen, seien aber nicht ganz verschwunden. Der Patient ist Nichtraucher und hat anamnestisch keinen erhöhten Blutdruck. Bei der Aufnahmeuntersuchung ist der Patient intubiert und beatmet. Vom Notarzt hat er sedierende Medikamente erhalten. Die Pupillen sind seitengleich und reagieren. Bei der ungezielten Reaktion auf Schmerzreize sind grobe Paresen nicht feststellbar, der Augenhintergrund ist unauffällig, Nackensteifigkeit kann nicht festgestellt werden. Fieber liegt nicht vor. Der Blutdruck beträgt 200/120 mmHg, die Pulsfrequenz liegt bei 100/min. Nach Anlegen eines zentralvenösen Zugangs und wiederholtem Überprüfen des Blutdrucks (weiterhin Werte um 180–200 mmHg systolisch, der Blutdruck wird zunächst nicht gesenkt) wird eine Computertomographie durchgeführt, deren Ergebnis in . Abb. 9.11 wiedergegeben ist. Der Patient wird auf die Intensivstation gebracht und erhält Nimodipin i.v. Am nächsten Morgen erfolgt die Angiographie. Die

. Abb. 9.11. Computertomographie einer typischen Subarachnoidalblutung mit Blut in den basalen Zisternen, den Sylvischen Furchen und dem Interhemisphärenspalt

Neurochirurgen sind bereits informiert und operieren den Patienten am gleichen Nachmittag. Postoperativ erholt sich der Patient langsam. Am 5. postoperativen Tag entwickeln sich zunächst asymptomatische Gefäßspasmen, die durch die transkranielle Dopplersonographie festgestellt werden. Als am Folgetag eine leichte Lähmung des rechten Arms hinzukommt, wird eine hypervolämische Therapie durchgeführt. Nach zwei weiteren Tagen ist der Patient wieder asymptomatisch. In der Dopplersonographie nehmen die Spasmenfrequenzen ab, und der Patient kann auf die Normalstation verlegt werden. Bei Entlassung aus der Akutklinik ist er noch leicht verlangsamt, klagt über Kopfschmerzen und eine diffuse Leistungsschwäche. Nach vierwöchiger Rehabilitationsbehandlung hat sich der Patient gut erholt und kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück.

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278

Kapitel 9 · Subarachnoidalblutung

Facharzt

Differentialdiagnose Spinale (zervikale) SAB. Diese ist oft von der kranialen SAB nicht unterscheidbar. Die Schmerzen sind noch mehr im Nacken lokalisiert. Intrakranielles subarachnoidales Blut mit dem Schwerpunkt hintere Schädelgrube kann nachgewiesen werden. Bei typischen SAB-Symptomen, schwerem Meningismus und normalem CT: Liquoruntersuchung. Bei blutigem Liquor: spinales MRT (auch ein epidurales spinales Hämatom muss ausgeschlossen werden) und Angiographie. Meningitis. Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit sind für Meningitis und SAB typisch. Fieber, entzündlicher Liquor, Veränderungen an den Nasennebenhöhlen und weniger akuter Beginn sprechen für Meningitis. Das CT ist bei Meningitis meist normal.

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Dissektion. Sie kann zu akutem Nackenschmerz und zu Nackensteifigkeit führen. Intrakranielle Vertebralisdissektionen können auch eine SAB zur Folge haben. Die Differentialdiagnose ist oft schwierig, Anamnese, Liquor, Angiographie und CT helfen. Mykotische Wandveränderungen. Mykotische oder infektiöse Pseudoaneurysmen entstehen durch infektiöse Ablagerungen in der Gefäßwand, meist in den Ästen der A. cerebri media, manchmal auch am proximalen Circulus Willisii. Neben einer SAB können auch intrazerebrale Blutungen entstehen. Die Reblutungsrate unter konservativer Therapie ist gering. Die mykotischen Aneurysmen werden antibiotisch behandelt, von einer interventionellen Therapie wird zurzeit eher abgeraten.

Erkrankung der Halswirbelsäule. Dies ist die häufigste Fehldiagnose, weil heute von vielen Ärzten fast alle Symptome der hinteren Schädelgrube auf die Halswirbelsäule bezogen werden (so sollen z.B. Schwindel, Hörstörungen, Migräne, Nystagmus oder Fazialislähmungen von der HWS ausgelöst werden, was tatsächlich nicht möglich ist). Bevor man überhaupt nur einen Gedanken an eine »zervikogene« Symptomatik verschwendet, muss man sicher sein, dass man keine SAB übersieht. Gravierende Krankheiten des zervikalen Spinalkanals und der zervikalen Wirbelsäule, die differentialdiagnostische Probleme machen können, wie z.B. der epidurale spinale Abszess oder das epidurale Hämatom, sind selten: Sie werden mit MRT, Liquor und gegebenenfalls Blutkulturen diagnostiziert. Die chronische rheumatische Polyarthritis betrifft die obere Halswirbelsäule, speziell Atlas und Axis. Diagnose aus Anamnese, neurologischem Befund (spinale Symptome), rheumatologischem Befund und zervikalem CT in Knochentechnik Migräne. Auch dies ist eine Differentialdiagnose, die nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden sollte, aber immer wieder zu folgenschweren Fehldiagnosen geführt hat. Die klassische Migräne und die Migräne mit Aura sollten nicht verwechselt werden. Die seltene Basilarismigräne (s. Kap. 16) ist ebenfalls von der Symptomatik so charakteristisch, dass eine Verwechslung nicht möglich sein sollte. Eine Zervikalmigräne, wie von manchen Stellen postuliert, gibt es nicht.

In Kürze Subarachnoidalblutung (SAB)

Akute Subarachnoidalblutung

Ursache: Akut auftretende, arterielle Blutung unterhalb der Arachnoidea. Inzidenz: 7-15/100.000 Einwohner/Jahr; Mortalität: ca. 30%. Risikofaktoren: Arterielle Hypertonie, Rauchen, Hypercholesterinämie, Drogen, positive Familienanamnese.

Vegetative Symptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Schweißausbruch, Anstieg oder Abfall des Blutdrucks, Temperaturschwankungen. Neurologische Symptome wie Bewusstlosigkeit, Bewusstseinsstörung, Okulomotoriuslähmung. Komplikationen: Rezidivblutung: Letalität >70%, Nachblutungsrisiko innerhalb der ersten 6 Monate: 50%; Gefäßspasmen: nach dem 4. Tag, Dauer: 2–3 Wochen; Hydrozephalus: innerhalb von Stunden oder nach 1–2 Wochen; intrakranielle Hämatomie; weitere Komplikationen: Elektrolytstörungen, epileptische Anfälle, kardiale Symptome. Diagnostik: CT: Ausmaß und Lokalisation vom Blutungsschwerpunkt, möglichen Sitz des Aneurysmas und von der Ventrikelgröße; MRT: Nachweis kleiner, asymptomatischer Aneurysmen; DSA:

Warnblutung Symptome: Perakute, anschließend dauernde Kopf- und Nackenschmerzen. Diagnostik: Neurologische Untersuchung; CT; bei Übersehen der Warnblutung: schwere, lebensbedrohliche Folgeblutung.

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279 9.2 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)

Nachweis der Aneurysmalokalisation, -konfiguration, multiple Aneurysmen, Beurteilung kollateraler Blutversorgung und Vasospasmusausmaß; Lumbalpunktion bei fehlendem CTNachweis von subarachnoidalem Blut; TCD: Feststellung intrazerebraler Gefäßspasmen. Therapie: konservative Therapie: Initialbehandlung vor Operation, Sedierung und Schmerzbehandlung, Blutdrucksenkung, Behandlung der Vasospasmen, hypertensiv-hypervolämische Hämodilution; neurochirurgische Therapie: Aneurysmaausschaltung durch Clipping; neuroradiologische Therapie: Ausschaltung des Aneurysmas durch Ausstopfen mit Platinspiralen. Prognosefaktoren: Alter, Grad der initialen Bewusstseinsstörung, Menge des subarachnoidalen Blutes, Lokalisation des Aneurysmas.

Diagnostik: CT: Ansammlung subarachnoidalen Blutes vor der Brücke, dem Mesenzephalon und den perimesenzephalen Zisternen. Therapie: Keine intensivmedizinische Therapie nötig, da Nachblutungsrisiko äußerst gering.

Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis

Dissektion intraduraler Gefäße, mykotische Wandveränderungen.

Perimesenzephale und präpontine SAB Ursache: evtl. venöse Blutung durch Aktivität mit Erhöhung des intrathorakalen und intraabdominellen Drucks (schweres Heben, Abstützen).

Nichtperimesenzephale SAB ohne Aneurysmanachweis Ursache: Nicht entdeckte kleine oder thrombosierte Aneurysmen, arteriovenöse Malformationen, Sinus- und Venenthrombosen, Durafisteln. Diagnostik: Nachangiographie nach Tagen oder Wochen notwendig. Therapie wie nach SAB.

SAB mit anderen Blutungsquellen

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10 Spinale Durchblutungsstörungen 10.1 Klinik der spinalen Gefäßsyndrome – 281 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4. 10.1.5

Spinalis-anterior-Syndrom – 281 Sulkokommissuralsyndrom – 283 Radicularis-magna-Syndrom – 283 Claudicatio spinalis (Syndrom des engen Spinalkanals) – 284 Progressive, vaskuläre Myelopathie – 284

10.2 Spinale Blutungen

– 285

10.2.1 Hämatomyelie – 285 10.2.2 Andere spinale Blutungen

– 285

281 10.1 · Klinik der spinalen Gefäßsyndrome

> > Einleitung Operationen an der abdominalen Aorta sind heute ein Standardeingriff – ein Standardeingriff mit einem immanenten Risiko, an das man zu selten denkt. Die Rede ist von Infarkten im Rückenmark, die meist thorakal, seltener auch zervikal entstehen können. Rückenmarkinfarkte treten weitaus seltener auf als die Infarkte des Gehirns, was nicht zuletzt auf das viel geringere Volumen des Rückenmarks zurückzuführen ist. Wenn sie allerdings auftreten, sind die Folgen oft katastrophal: Eine Querschnittslähmung kann eintreten und die Patienten können inkontinent werden. Aufgrund der anatomischen Besonderheiten der Blutversorgung des Rückenmarks resultieren einige spezielle Syndrome, die wir in diesem Kapitel besprechen werden. Die Inhalte des Kapitels sind auch eng verwandt mit denen des Kapitels über die spinalen Gefäßmissbildungen, bei denen klinisch kaum unterscheidbare Syndrome zustande kommen.

Vorbemerkungen 3Epidemiologie. Arterielle und venöse Durchblutungsstö-

rungen des Rückenmarks sind viel seltener als zerebrale Schlaganfälle (geschätzte Inzidenz 1–3 Neuerkrankungen/100.000 Einw. pro Jahr). Die intramedullären Rückenmarkgefäße sind auch von einer ausgedehnten, generalisierten Arteriosklerose kaum betroffen. Spinale Durchblutungsstörungen betreffen Männer und Frauen gleichermaßen und treten bevorzugt im mittleren bis höheren Lebensalter auf. 3Lokalisation von Durchblutungsstörungen. Die häufigsten vaskulären spinalen Krankheiten sind das A.-spinalis-anteriorSyndrom, das Komissuralarteriensyndrom, die spinale intramedulläre Blutung und spinale Gefäßfehlbildungen (7 Kap. 8.). Die Organisation der spinalen Blutversorgung bringt es mit sich, dass arterielle Durchblutungsstörungen des Rückenmarks vor allem im Versorgungsgebiet der vorderen Spinalarterie auftreten (Spinalis-anterior-Syndrom). Eine zentrale Rückenmarkschädigung entsteht dagegen bei hämodynamischer Behinderung der Blutversorgung (Stenose der Bauchaorta oder bei gefäßchirurgischen Eingriffen an der Aorta) an der Wasserscheide zwischen den verschiedenen arteriellen Gefäßterritorien. Durchblutungsstörungen, die von der Vasokorona, den hinteren Spinalarterien oder dem venösen System ausgehen, sind seltener. Schließlich findet man ischämische Nekrosen im dorsalen Teil des Hinterhorns, in den Hintersträngen sowie dem dorsalen Teil des Pyramidenseitenstrangs, entsprechend dem Versorgungsbereich der Aa. spinales posteriores. Chronische Minderperfusion führt zur Myelomalazie (ischämische Erweichung) und chronischem Parenchymschwund. 3Risikofaktoren und Ätiologie. Die meisten Risikofaktoren

für spinale Durchblutungsstörungen sind mit denen für andere vaskuläre Krankheiten identisch, haben aber z.T. eine unter-

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schiedliche Gewichtung. Ätiologisch am häufigsten ist die schwere Arteriosklerose der Aorta mit Aortenstenose oder Aortenaneurysma, Einengung des Abgangs oder Thrombose der zum Rückenmark führenden Arterien. Kardiale Embolien und lokale Arteriosklerose der Rückenmarkarterien sind selten. Herzkrankheiten mit verminderter Auswurfleistung können spinale Ischämien auslösen. Ein wesentliches Risiko besteht bei orthopädischen (Kyphoskolioseoperation) und abdominellen, gefäßchirurgischen Eingriffen (Aortenchirurgie) mit Abklemmung der Aorta. Hierbei kommt es so häufig zu ischämischen, spinalen Komplikationen, dass intraoperativ die Überwachung der spinalen Funktionen mit elektrophysiologischen Methoden notwendig ist (spinal cord monitoring). Die Kompression der Rückenmarkgefäße durch extramedulläre Tumoren, bei Wirbelsäulentraumen (Frakturen, Luxationen) und das Übergreifen von meningealen Entzündungen auf die Rückenmarkgefäße sind weitere ätiologische Faktoren. Primäre und parainfektiöse Vaskulitiden betreffen überdurchschnittlich oft die Rückenmarkarterien. Die Durchblutungsstörungen können auch einige Segmente vom Ort der Gefäßkompression entfernt Auswirkungen haben. 10.1

Klinik der spinalen Gefäßsyndrome

10.1.1 Spinalis-anterior-Syndrom 3Symptomatik. Das Spinalis-anterior-Syndrom ist die häu-

figste Form der spinalen Durchblutungsstörung. Es tritt akut bzw. subakut ohne Vorboten auf. Im Initialstadium verspüren die Patienten radikuläre Schmerzen oder Missempfindungen auf dem segmentalen Niveau der betroffenen Arterie. Innerhalb von wenigen Stunden entwickelt sich eine Lähmung der Beine und des Rumpfes. Der Muskeltonus ist zunächst meist schlaff, dabei sind aber bald positive Pyramidenzeichen auszulösen. Nur bei Schädigung des Lendenmarks kommt es durch Läsion der motorischen Vorderhornzellen zu einer peripheren Lähmung. Gleichzeitig bildet sich eine dissoziierte Sensibilitätsstörung aus, deren obere Begrenzung oft auf den beiden Körperseiten um ein Segment differiert. Die übrigen sensiblen Qualitäten sind kaum oder gar nicht betroffen. Immer besteht eine Blasen- und Mastdarminkontinenz. Gelegentlich tritt Priapismus auf. In den gelähmten Körperpartien ist die Haut schlecht durchblutet, und es kommt leicht zu Dekubitalgeschwüren. Das Spinalis-anterior-Syndrom betrifft häufig die Höhe der A. radicularis magna (etwa Th10– L1). 3Diagnostik. Das CT eignet sich nur für die Suche nach loka-

len Faktoren (Tumor, Bandscheibenvorfall, Wirbelsäulenveränderungen). Der Nachweis der ischämischen Rückenmarkläsion ist nur im spinalen MRT möglich. Man sieht eine erhöhte Signalinten-

282

Kapitel 10 · Spinale Durchblutungsstörungen

Facharzt

Anatomie und Physiologie der Rückenmarksdurchblutung

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Anatomie. Verlauf der Spinalarterien: Das Rückenmark wird durch ein Gefäßnetz mit Blut versorgt, dessen wichtigste Komponenten drei längsverlaufende Arterien sind: Aus den beiden Vertebralarterien bildet sich eine A. spinalis anterior, die im vorderen Sulkus des Rückenmarks nach kaudal verläuft (. Abb. 10.1). Dorsal verlaufen zwei Aa. spinales posteriores, die neben dem Eintritt der hinteren Wurzeln liegen. Diese drei Längsarterien sind durch eine große Zahl von zirkulär verlaufenden Arterien, die Vasokorona, miteinander verbunden. Vom Brustmark ab entstammen die zuführenden Arterien (Aa. intercostales, lumbales und sacrales) aus der Aorta und den Aa. iliacae. In der Fetalzeit wird noch jedes Rückenmarkssegment von einer eigenen Arterie versorgt. Die Zahl der zuführenden Arterien vermindert sich später auf zwischen 3 bis etwa 8 arterielle Zuflüsse, die nicht auf alle Segmente gleichmäßig verteilt sind. Vielmehr sind sie im unteren Zervikalmark, im unteren Thorakalmark (Th9–10) und in L1–L2 besonders dicht, im mittleren Hals- und Brustmark dagegen sehr spärlich ausgebildet. Fast immer ist die A. radicularis magna (Adamkiewicz), ein thorakolumbaler Zufluss (meist Th10) aus der Aorta, besonders kaliberstark. Die A. spinalis anterior versorgt das Vorder- und Seitenhorn, die vordere und hintere Kommissur und die Basis des Hinterhorns. In der weißen Substanz reichen ihre Verzweigungen in Teile des Vorderseiten- und Pyramidenseitenstrangs. Große Bedeutung haben die Sulkokommissuralarterien, die von der vorderen Spinalarterie aus in den ventralen Abschnitt des Rückenmarks eindringen. Im Hals- und Brustmark tritt nur

jeweils eine Sulkokommissuralarterie abwechselnd in das linke und das rechte Vorderhorn ein. Dies erklärt die Unterschiede im Niveau der Sensibilitätsstörung auf beiden Körperseiten bei Rückenmarksinfarkten. Vom Lumbalmark ab sind diese zuführenden Arterien paarig. Von den hinteren Spinalarterien und der Vasokorona geht eine große Zahl von kleinen, dünneren Arterien aus, die die weiße Substanz des Rückenmarks, besonders die Hinterstränge, und den großen Teil der Hinterhörner versorgen. Alle radiären Gefäße und die Sulkokommissuralarterien sind funktionelle Endarterien. Im Zentrum der grauen Substanz besteht eine Grenzzone, in der die Vaskularisation am schwächsten und die durch hämodynamische Störungen stark gefährdet ist. Venöser Abfluss: Dieser erfolgt über 2 große Längsanastomosen, von denen die dorsale stärker ausgebildet ist als die ventrale Längsvene. Das venöse Blut wird im Halsgebiet über Vv. vertebrales in die V. cava superior geleitet, aus den mittleren und unteren Rückenmarksabschnitten über Vv. intercostales und lumbales sowie den Plexus sacralis in die V. cava inferior. Das Rückenmark ist von einem ausgedehnten Venenplexus umgeben. Physiologie. Regulation der Durchblutung. Die spinalen Arterien unterliegen nicht einer nervösen Regulation, und Pharmaka wirken nur auf die vorgeschalteten Arterien. Der spinale Kreislauf ist passiv vom Perfusionsdruck abhängig. Eine funktionierende Autoregulation besteht nicht. Kohlensäure- und Sauerstoffspannung haben wahrscheinlich nur untergeordnete Bedeutung. Verstärkung der neuronalen Tätigkeit, z.B. in den motorischen Vorderhornzellen für den Armplexus, führt zu einer Zunahme der regionalen Durchblutung in diesem Rückenmarksabschnitt.

sität auf T2- oder protonengewichteten Bildern, entsprechend der vermehrten Wassereinlagerung im betroffenen Territorium (. Abb. 10.2). Die Signalabnormität umfasst weiße und graue Substanz und erstreckt sich über mehrere Segmente. Chronisch kommt es zur Ausbildung von T1-hypointensen Defekten und zur fokalen Atrophie des Rückenmarks. Frische Infarkte sind in der Diffusionssequenz gut darstellbar (. Abb. 10.3). Der Liquor ist meist normal oder enthält nur eine geringe Zell- und Eiweißvermehrung. Elektrophysiologische Methoden (SEP und transkranielle Magnetstimulation) können bei unklaren Fällen und negativem MRT Ausmaß und Lokalisation der Funktionsstörung objektivieren.

prednisolon i.v.), nicht zuletzt deshalb, weil im Anfangsstadium immer die Differentialdiagnose einer Myelitis besteht. Ein Blasenkatheter ist initial immer notwendig. Nach wenigen Tagen beginnt man mit dem Blasentraining oder legt einen suprapubischen Katheter. Prophylaktische Maßnahmen gegen Pneumonie, Magenulkus und Dekubitalulzera sind selbstverständlich. Die Kranken werden mehrmals am Tage, wenn möglich jede Stunde, umgelagert und sollten in ein spezielles Krankenbett gelegt werden. Bei allen Querschnittslähmungen ist es wichtig, dass man den Patienten stetig ermutigt und zur Mitarbeit anregt, da Komplikationen (Zystitis, Dekubitus) gerade bei den Kranken eintreten, die die Hoffnung aufgeben und völlig passiv im Bett liegen.

3Therapie. Ist die Ischämie durch lokale, mechanische Faktoren bedingt, muss, wenn möglich, sofort neurochirurgisch die Frage einer Operation entschieden werden. In den übrigen Fällen behandelt man mit Heparin, Volumentherapie und, im Gegensatz zu zerebralen Ischämien, Kortikosteroiden (100 mg Methyl-

3Prognose. Die Prognose muss in den ersten Tagen offen bleiben. Wenn sich nach 2 bis 3 Wochen noch keine Rückbildung zeigt, ist ein bleibender Defekt zu befürchten. Wird die Lähmung spastisch, kann man durch konsequente und über Monate ausgedehnte krankengymnastische Behandlung oft noch bemerkens-

283 10.1 · Klinik der spinalen Gefäßsyndrome

10

Aa. fissurae A. spinalis posterior

V. spinalis posterior

V. fissurae

Aa. cornu posterioris

V. transversalis obliqua

A. spinalis posterolateralis

V. spinalis posterolateralis

Aa. marginales V. radicularis posterior A. sulcocommisaralis Vv. marginales Corona vasorum

A. radicularis anterior A. radicularis posterior A. nervomedultaris

V. spinalis anterolateralis

A. spinalis anterolateralis

V. radicularis anterior

V. spinalis anterior A. spinalis anterior

. Abb. 10.1. Blutversorgung des Rückenmarks. Darstellung der arteriellen und venösen Blutversorgung im Rückenmarkquerschnitt. Die Gefäße sind im Einzelnen bezeichnet. (Aus Hacke 1994)

werte Besserungen erreichen. Bleibt sie im zweiten Monat schlaff, ist die Prognose schlecht. 10.1.2 Sulkokommissuralsyndrom Es ist dem Spinalis-anterior-Syndrom ähnlich, meist etwas geringer und oft nur halbseitig ausgeprägt. Die Blasenstörungen sind vielfach reversibel und die Paresen meist nicht komplett. Typisch sind segmentale, nukleäre (periphere) Lähmungen. Da die Sulkokommissuralarterien jeweils nur eine Rückenmarkhälfte in ihrem vorderen Abschnitt versorgen, kann eine Ischämie in der vorderen Spinalarterie auch als Brown-Séquard-Halbseitensyndrom (7 Kap. 1.13.2) auftreten. 10.1.3 Radicularis-magna-Syndrom . Abb. 10.2. Zervikales Spinalis-anterior-Syndrom. Die sagittale Aufnahme zeigt die sich über 6 knöcherne Segmente ausdehnende Hyperintensität im T2-Bild, die sich in den beiden axialen Aufnahmen auf die Vorderseitenstränge bezieht. Die Hinterstrangbahnen haben normales Signal. (S. Hähnel, Heidelberg)

Dies ist eine »Maximalvariante« des Spinalis-anterior-Syndroms, bei dem die Symptomatik im Verlauf nicht nur über mehrere Segmente aufsteigen kann, sondern auch das Territorium der posterioren Spinalarterien (durch Thrombose der Vasokorona) betrifft. Eine komplette Querschnittsläsion mit spinalem Schock und, bei hohen Verschlüssen, massiven vegetativen Störungen können die Folge sein.

284

Kapitel 10 · Spinale Durchblutungsstörungen

rung der Lendenlordose lässt die Symptome verschwinden. Auch eine maximale Verspannung der Unterschenkelmuskulatur, speziell in der Tibialis-anterior-Loge kann auftreten, die an ein Kompartmentsyndrom erinnert. Im Intervall ist der neurologische Befund normal oder man findet nur geringe Zeichen eines leichten Kaudasyndroms. Die Beschwerden treten vor allem bei Männern in der 2. Lebenshälfte auf. Man nimmt eine Ischämie der Kaudawurzeln an, die durch lumbale Bandscheibenprotrusionen, Spondylolisthesis oder abnorme Enge des lumbalen Spinalkanals begünstigt wird. 3Diagnostik. Der Nachweis erfolgt durch spinales CT oder MRT Die Diagnose »enger Spinalkanal« soll nicht rein radiologisch ohne die typische, neurologische Symptomatik gestellt werden. Inzwischen ist aufgrund mehrerer Vorteile das MRT als Untersuchungsmethode der Wahl zu bezeichnen. So lassen sich Weichteilstrukturen besser darstellen. Die kraniokaudale Ausdehnung der Stenose ist leichter zu beurteilen. Des Weiteren können skoliotisch veränderte Wirbelsäulenabschnitt aufgrund der Möglichkeit, die Schichtführung im Raum zu platzieren, besser beurteilt werden. 3Therapie. In der Regel ist zunächst ein konservativer Thera-

10 . Abb. 10.3. Thorakaler spinaler Infarkt. Wie beim zerebralen Infarkt kann die Diffusionsgewichtung eine frische Infarzierung zweifelsfrei identifizieren (B–D, Pfeil). Die Sagittale und das axiale Bild zeigen Befunde wie in Abbildung 10.2. (S. Hähnel, Heidelberg)

3Differentialdiagnose. Leriche-Syndrom: Hierbei handelt es sich um den akuten Verschluss der Aortenbifurkation mit spinalem und bilateralem Beinarterienverschluss (kalte, pulslose Beine). Oft wird die spinale Symptomatik übersehen, da die Durchblutungsstörung der Beine im Vordergrund steht.

10.1.4 Claudicatio spinalis

(Syndrom des engen Spinalkanals) Die Claudicatio spinalis ist eine mechanisch bedingte, belastungsabhängige Durchblutungsstörung der Cauda equina (damit definitionsgemäß keine »spinale« Durchblutungsstörung), bei der eine periphere Schwäche der Beine im Vordergrund steht. 3Symptome. Nach langem Stehen, beim Gehen oder Joggen setzen Parästhesien (Einschlafen, Kribbeln, Brennen) und Krämpfe ein, die sich von den Füßen nach proximal ausbreiten. Wenn der Patient sich nicht hinsetzt oder legt, folgt eine Schwäche, die sich ebenfalls von den Füßen über die Unterschenkel bis zu den Knien ausbreitet. Hinsetzen oder Legen mit Verminde-

pieversuch indiziert. Bei akut exazerbierten Schmerzen steht die Schmerzreduktion im Vordergrund. Hierfür bieten sich insbesondere für die orale Therapie nicht steroidale, sauer Antiphlogistka (NSAID) an. Eine operative Vorgehensweise ist angezeigt bei Patienten mit einer progredienten neurologischen Symptomatik oder einer nicht akzeptablen Verschlechterung der allgemeinen Lebensqualität. Des Weiteren stellen anderweitig nicht beherrschbare Schmerzen eine Operationsindikation, sofern sich durch konservative Therapiemethoden keine befriedigende Besserung erzielen lässt. Eine Operation (Laminektomie) ist möglich, wenn die Enge auf ein bis zwei Segmente beschränkt ist. 10.1.5 Progressive, vaskuläre Myelopathie Die Krankheit tritt im höheren Lebensalter auf. Langsam progredient, entwickelt sich eine paraspastische Bewegungsstörung der Beine, die in schweren Fällen von einer querschnittsförmigen, dissoziierten Gefühlsstörung begleitet ist. Wenn der Parenchymschwund bevorzugt das Hinterhorn betrifft, ist die Empfindungsstörung strumpfförmig angeordnet. Manchmal entsteht durch Läsion der Vorderhörner das Bild einer nukleären Atrophie. Pathologisch-anatomisch findet man einen teilweisen Parenchymschwund ohne umschriebene Nekrose und ohne besondere Gliareaktion, vor allem im zentralen Rückenmarkgrau. Im MRT ist dann eine Atrophie des Rückenmarks zu sehen, gliotische Veränderungen sind seltener. Die Diagnose ist nur per exclusionem zu stellen und muss immer wieder überprüft werden.

285 10.2 · Spinale Blutungen

10

. Tabelle 10.1. Akute und chronische spinale vaskuläre Syndrome

Beginn

Symptome

Ätiologie

Claudicatio spinalis

Akut kurzdauernd

Schlaffe Paraparese, selten: Paraspastik

Enger (lumbaler) Spinalkanal, körperliche Anstrengung

Arteria-spinalis-anteriorSyndrom

Akut

Paraplegie (-parese), diss. Empfindungsstörung, Blasen-Mastdarm-Lähmung

Arteriosklerose, Embolie

Sulkokommissuralsyndrom

Akut

Halbseitiges Arteria-spinalis- anteriorSyndrom

Arteriosklerose, Embolie

Arteria-radicularis-magnaSyndrom

Perakut

Spinaler Schock, kompletter Querschnitt (thorakolumbal)

Arteriosklerose, Embolie, Aortenaneurysma, Aortachirurgie

AVMs

Langsam progredient

Sensibilitätsstörung, Paresen, Schmerzen

Durafisteln (durale AVM und extradurale AVM)

Intraparenchymale Blutung

Akut progrediente Symptomatik

Spinaler Schock, akute Querschnittssymptomatik

Vaskuläre Missbildung akute Querschnittsgerinnungsstörung

10.2

Spinale Blutungen

10.2.1 Hämatomyelie

spinale Angiographie kann zum Nachweis einer spinalen Gefäßfehlbildung nötig werden. Im Liquor ist oft Blutbeimengung oder Xanthochromie nachweisbar.

3Ätiologie. Die Hämatomyelie ist weit seltener als früher angenommen wurde. Blutungen in die Rückenmarksubstanz kommen aus Angiomen der intraspinalen Gefäße (7 Kap. 8.5.2), bei Gerinnungsstörungen und, seltener, bei Wirbelsäulentraumen und intraspinalen Tumoren vor.

3Prognose. Die Prognose ist ungünstig: Trotz intensiver phy-

3Symptome. Die Symptomatik gleicht dem Spinalis-anterior-

10.2.2 Andere spinale Blutungen

Syndrom: Das führende Symptom ist die Para- oder Tetraparese mit dissoziierter Sensibilitätsstörung infolge Schädigung des zentralen Rückenmarkgrau. Die Hämatomyelie kann aber auch zu vollständiger Querschnittslähmung führen. Spinaler Schock und vegetative Dysregulation sind häufig. Die Blutung ist durch Läsion schmerzleitender Fasern meist von starken Schmerzen begleitet. 3Diagnose. Die MRT die wichtigste Methode, mit deren Hilfe die Blutung und Differentialdiagnosen (epidurale, spinale Blutung, subdurale Blutung, Abszess) erfasst werden können. Eine

sikalischer Behandlung bleiben meist schwere Lähmungen und Sensibilitätsstörungen zurück, und die Patienten sind dem ganzen Risiko der Querschnittslähmung ausgesetzt.

Subarachnoidalblutungen und epidurale Blutungen kommen gelegentlich bei spinalen Gefäßmissbildungen, Traumen und spontan (Antikoagulation) vor. Die Symptome unterscheiden sich nicht von den intramedullären Blutungen: Schmerzen und akutes Querschnittsyndrom stehen im Vordergrund. Bei spinaler SABV kann Nackensteifigkeit vorliegen. Daher sollte bei SAB in der hinteren Schädelgrube mit Rückenschmerz und normalem zerebralen Angiogramm die spinale Angiographie eingesetzt werden (7 Kap 4.3.5).

286

Kapitel 10 · Spinale Durchblutungsstörungen

In Kürze Spinale Gefäßsyndrome

Claudicatio spinalis

Inzidenz: 1–3/100.000 Einwohner/Jahr. Risikofaktoren: Wie ischämischer Hirninfarkt. Orthopädische und abdominelle gefäßchirurgische Eingriffe mit Abklemmung der Aorta führen zu arteriellen und venösen Durchblutungsstörungen des Rückenmarks.

Ursache: enger Spinalkanal, körperliche Anstrengung. Symptomatik: Parästhesien, Krämpfe, periphere Schwäche in Beinen. Diagnostik: CT, MRT: Darstellung der Weichteilstrukturen, kraniokardiale Stenosenausdehnung. Therapie: konservativ zur Schmerzreduktion; Operation bei progredienter neurologischer Symptomatik oder inakzeptabler Verschlechterung der allgemeinen Lebensqualität.

Spinalis-anterior-Syndrom Ursache: arterielle Durchblutungsstörungen des Rückenmarks. Symptomatik: akut und subakut auftretende radikuläre Schmerzen auf segmentalem Niveau der betroffenen Arterie, schnelle Bein- und Rumpflähmung mit dissoziierter Sensibilitätsstörung, Blasen- und Mastdarminkontinenz. Diagnostik: CT: Suche nach lokalen Faktoren; MRT: erhöhte Signalintensität auf T2- oder protonengewichteten Bildern, vermehrte Wassereinlagerung im betroffenen Territorium; Liquor: geringe Zell- und Eiweißvermehrung. Therapie: Volumentherapie, neurochirurgische, medikamentöse, prophylaktische Maßnahmen.

10

Progressive, vaskuläre Myelopathie Symptomatik: Paraspastische Beinbewegungsstörung mit querschnittsförmiger, dissoziierter Gefühlsstörung. Diagnostik nur per exclusionem möglich.

Spinale Blutungen

Ursache: Arteriosklerose, Embolie. Symptomatik: segmentale, periphere Lähmungen, reversible Blasenstörungen, nicht komplette Paresen.

Ursache: Blutungen in Rückenmarksubstanz durch Angiome der intraspinalen Gefäße, Gerinnungsstörungen, Wirbelsäulentraumen und intraspinale Tumoren. Symptomatik: Para- oder Tetraparese mit dissoziierter Sensibilitätsstörung, teilweise vollständige Querschnittslähmung. Diagnostik: MRT: Erfassung der Blutung und Differenzialdiagnose; Angiographie: Nachweis einer spinalen Gefäßfehlbildung.

Radicularis-magna-Syndrom

Andere spinale Blutungen

Ursache: Arteriosklerose, Embolie, Aortaaneurysma. Symptomatik: komplette Querschnittsläsion mit spinalem Schock, massive vegetative Störungen.

SAB und epidurale Blutungen bei spinalen Gefäßmissbildungen, Traumen und spontan. Symptome: Schmerzen und akutes Querschnittssyndrom.

Sulkokommissuralsyndrom

III Tumorkrankheiten des Nervensystems 11

Hirntumoren

12

Spinale Tumoren

13

Paraneoplastische Syndrome

– 288 – 339 – 348

11

Hirntumoren

11.1

Klinik der Hirntumoren – 294

11.1.1 11.1.2

Allgemeinsymptome – 294 Fokale Symptome – 294

11.2

Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung – 295

11.2.1 11.2.2 11.2.3

Zeitlicher Ablauf von Hirnödem und Druckanstieg – 296 Symptome erhöhten Hirndrucks – 296 Einklemmung (Herniation) – 297

11.3

Diagnostik – 298

11.3.1 11.3.2 11.3.3

Neuroradiologische Diagnostik – 298 Hirnbiopsie und Histologie – 300 Laboruntersuchungen – 300

11.4

Therapieprinzipien – 301

11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4

Operative Therapie – 301 Strahlentherapie – 301 Chemotherapie – 306 Hirndrucktherapie – 306

11.5

Astrozytäre Tumoren (Gliome) – 307

11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4 11.5.5

Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I) – 307 Astrozytom (WHO-Grad II) – 307 Ponsgliome – 309 Anaplastisches Astrozytom (WHO-Grad III) – 309 Glioblastom (Glioblastoma multiforme, WHO-Grad IV)

– 310

11.6

Oligodendrogliale Tumoren – 312

11.6.1 11.6.2

Oligodendrogliome (WHO-Grad II) – 312 Anaplastische Oligodendrogliome (WHO Grad III)

11.7

Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II) – 312

11.8

Primitiv neuroektodermale Tumoren – 314

11.9

Mesenchymale Tumoren – 318

11.9.1 11.9.2

Meningeome – 318 Anaplastische Meningeome – 318

11.10

Nervenscheidentumoren – 320

11.10.1 11.10.2

Akustikusneurinom – 320 Andere Neurinome – 322

– 312

11 11.11

Hypophysentumoren – 322

11.11.1 11.11.2

Hormonproduzierende Tumoren – 324 Hormoninaktive Tumoren – 326

11.12

Kraniopharyngeome

– 326

11.13

Metastasen und Meningeosen – 327

11.13.1 11.13.2 11.13.3

Solide Metastasen – 327 Meningeosis blastomatosa – 330 Meningeosis neoplastica (carcinomatosa)

11.14

Intrakranielle maligne Lymphome – 333

– 332

290

Kapitel 11 · Hirntumoren

> > Einleitung

11

Physikalisch kann das Schädelinnere als geschlossenes Kompartiment mit drei Hauptelementen – dem Hirngewebe, dem Blutvolumen und dem Liquorraum – angesehen werden. Der knöcherne Schädel ist ein starres Behältnis mit einem Fassungsvermögen von ca. 1500–1800 ml. Er ist gefüllt mit etwa 1200–1300 ml Gehirngewebe, etwa 150 ml Liquor, etwa 200 ml Blut und ca. 20–50 ml anderer Gewebe, z.B. Hirnhäute. Wenn sich innerhalb des geschlossenen, starren Behältnisses ein zusätzliches Kompartiment entwickelt, wird zunächst der Liquor verdrängt, weil er mit dem Rückenmarkraum in Verbindung steht. Danach wird das Blutvolumen in der Umgebung des neuen Kompartiments reduziert, aber insgesamt ergibt dies nicht viel Kompensationsmöglichkeit und geht mit einer Minderdurchblutung des umgebenden Gewebes einher. Als nächstes wird Hirngewebe verdrängt und gegen die starren Umgebungsstrukturen gepresst. Sobald eine raumfordernde Läsion in der Schädelhöhle akut ein Volumen von mehr als 50 ml erreicht, wirkt sie komprimierend auf das Hirngewebe und kann zu Funktionsstörungen, z.B. zu einer Lähmung führen. Wenn sie weiter an Volumen zunimmt und lebenswichtige Hirnanteile komprimiert werden, geben sie ihre Funktion auf, der Patient wird bewusstlos und kann an der raumfordernden Läsion sterben. Auch die Geschwindigkeit, mit der sich die raumfordernde Läsion entwickelt, spielt eine Rolle. Wenn ein Tumor langsam wächst, dann kann er ein beträchtliches Volumen erreichen, bevor er symptomatisch wird. Wächst er sehr schnell, entwickeln sich die Symptome auch rasch und schon bei kleinerem Volumen. Mechanische Voraussetzungen. Beim Erwachsenen kann die starre Schädelkapsel der Volumenvermehrung durch die intrakranielle Geschwulst nicht nachgeben. Die Hüllstrukturen (Dura, Kno-

6

chen) lassen keine wesentlichen Ausweichmöglichkeiten für einen raumfordernden Prozess zu, sieht man einmal von der Stauungspapille oder der Herniation im Foramen magnum ab, die einen frustranen Versuch des Ausweichens von Gewebe darstellen. Dies gilt nicht für Tumoren im frühen Kindesalter, wenn die Knochennähte und Fontanellen noch nicht geschlossen sind.

Vorbemerkungen Primäre Hirntumoren gehen vom Neuroepithel, Ganglienzellen, den Hirnhäuten, den Nervenscheiden, der Hirnanhangsdrüse oder ektopen, intrakraniellen Geweben (Keimzell- und Fehlbildungstumoren) aus. Sekundäre Hirntumoren sind Metastasen anderer Tumoren und Tumoren, die von dem das Gehirn umgebenden Knochen ausgehen. Sie werden durch verdrängendes oder infiltratives Wachstum und Erhöhung des Schädelinnendrucks symptomatisch. 3Einteilung der intrakraniellen Tumoren. Die Tumoren werden nach ihren histologischen Kennzeichen in benigne und maligne Geschwülste eingeteilt. Auch ein gutartiger Tumor mit sehr langsamer Wachstumstendenz kann, unbehandelt, zur Hirndruckerhöhung und zur Einklemmung führen. Infiltratives Wachstum eines benignen, aber inoperablen Tumors in lebenswichtige Hirnabschnitte führt zum Tode (Beispiel Ponsgliom). Daher geht die klinische Einschätzung der Malignität der Hirntumoren sowohl vom biologischen Verhalten des Tumors als auch vom histologischen Befund aus. Die Einteilung in benigne und maligne intrakranielle Tumoren erfolgt primär nach histologischen Kriterien. Malignitätsgrade (WHO-Klassifikation): Aufgrund der histologischen Klassifikation werden die Hirntumoren nach Empfehlungen der WHO in vier Malignitätsgrade eingeteilt, die einen Anhalt für ihr biologisches Verhalten angeben:

. Tabelle 11.1. Histologische Kriterien der Hirntumoren (WHO)

WHOGrad

Dignität

Histologische Charakteristika

Beispiele

Überlebenszeit Zirka-Angaben)

I

Benigne

Gut differenzierte Gewebe, keine Metastasen

Pilozytisches Astrozytom, Meningeom, Neurinom, Hypophysenadenom

≥ 5(–50) J.

II

Semibenigne

Einzelne atypische Zellen, noch gut differenziertes Gewebe, Kernatypien, keine/kaum Metastasen,

Astrozytom II, Oligodendrogliom, Ependymom, Pineozytom

3–5 J.

III

Semimaligne

Viele atypische Zellen, Mitosen, Ursprungsgewebe noch erkennbar, jedoch bereits entdifferenziert

Anaplastisches Astrozytom, anaplastisches Oligodendrogliom, Plexuskarzinom

2–3 J

IV

Maligne

Entdifferenziertes Gewebe, viele Mitosen, Nekrosen, Endothelproliferation, Metastasen

Astrozytom IV, Medulloblastom, Meningosarkom, Glioblastom, malignes Lymphom

6 Monate (bis 2 Jahre)

Folgende histologische Kriterien werden zur Beurteilung herangezogen: a) Kernatypien, b) Mitosen, c) Endothelproliferation, d) Nekrosen. Wenn keines der Kriterien erfüllt ist, Grad I 1 Kriterium erfüllt, Grad II 2 Kriterien vorhanden, Grad III 3 oder 4 Kriterien erfüllt, Grad IV.

291 11 · Hirntumoren

11

Exkurs Histologische Malignitätszeichen Entdifferenzierung der Zellen: Kernatypien, regelrechte und atypische Mitosen sowie Entwicklung pathologischer Gefäße. Degenerative Prozesse im Tumor finden sich bei hochmalignen, besonders schnell wachsenden Tumoren und bei geringgradig malignen Tumoren. Nekrosen (bei malignen Tumoren als Folge eines Ungleichgewichts zwischen Tumorwachstum und Gefäßversorgung)

und Verkalkung zählen zu den regressiven Veränderungen. Tumorblutungen treten bei benignen und malignen Tumoren meist aufgrund von pathologischer Gefäßneubildung auf. Spezielle Marker, wie das gliale fibrilläre azidische Protein (GFAP), das S-100-Protein oder das Synaptophysin erlauben auch bei sehr starker Entdifferenzierung des Gewebes ein Erkennen des Ursprungsgewebes.

Facharzt

Erkrankungsalter und Hirntumoren Das Erkrankungsalter unterscheidet sich für einzelne Gruppen von Hirntumoren: 4 Im Kindes- und Jugendalter bis zum 20. Lebensjahr findet man Tumoren oft in der hinteren Schädelgrube: Besonders häufig sind Medulloblastome und pilozytische Astrozytome des Kleinhirns, Tumoren des Hirnstamms und Zwischenhirns (Kraniopharyngeome, Gliome, Pinealome) und, in den Großhirnhemisphären, die Ependymome. Hemisphärengliome sind dagegen selten, Meningeome, Neurinome und Hypophysenadenome treten kaum auf. 4 Im mittleren Lebensalter überwiegen die Gliome der Großhirnhemisphären, die Meningeome, Hypophysen-

adenome, die Neurinome der Hirnnerven und unter den Kleinhirntumoren das Hämangioblastom (Lindau-Tumor, 7 Kap. 8.4.2). 4 Im höheren Alter treten die bösartigen Glioblastome und die Hirnmetastasen an die erste Stelle. In diesem Alter ist auch die absolute Zahl von Hirngeschwülsten besonders hoch: 20% aller Tumoren kommen im 6. Lebensjahrzehnt vor. Die Bindung bestimmter Geschwulstarten an unterschiedliche Altersklassen ist so streng, dass sich einzelne Tumorarten und Altersgruppen ausschließen.

Facharzt

Genetische Ursachen von Hirntumoren Die Rolle der genetischen Faktoren bei der Entstehung von Hirntumoren ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund getreten. Bei Astrozytomen sind Veränderungen auf den Chromosomen 10 und 17 beschrieben worden. Beim Glioblastom ist das Gen für den epidermalen Wachstumsfaktorrezeptor übermäßig exprimiert. Bei Meningeomen ist ein partieller Verlust von Chromosom 22 beschrieben. Bei atypischen oder malignen Meningeomen wurde eine Punktmutation auf

4 Grad I: gutartiges Wachstum mit einer postoperativen Über-

lebenszeit von 5 oder mehr Jahren. 4 Grad II: semimaligne Tumoren mit einer Überlebenszeit von 3 bis 5 Jahren. 4 Grad III: maligne Tumoren mit einer Überlebenszeit von 2 bis 3 Jahren. 4 Grad IV: hochmaligne Tumoren mit einer Überlebenszeit von 6 bis 15 Monaten. Die . Tabellen 11.1 und 11.2 fassen die WHO-Grade der im Folgenden besprochenen Hirntumoren zusammen. 3Metastasierung. Während diese bei anderen Tumorkrankheiten ganz wesentlich zur Beurteilung der Malignität beiträgt,

Chromosom 14 festgestellt. Bei Medulloblastomen werden häufig Veränderungen auf Chromosomen 17q beschrieben. Auf diesem Chromosom sitzt das p53-Tumorsuppressorgen. p53Mutationen sind assoziiert mit der Progression von malignen Tumoren. Hirntumoren bilden verstärkt Wachstumsfaktoren (growth factor, GF; epidermaler GF, Plättchen-GF, Fibroblasten-GF, Tumor-GF-β, vaskulär endothelialer GF) und Wachstumsfaktorrezeptoren aus.

tritt sie bei Hirntumoren in den Hintergrund. Eine Metastasierung von Hirntumoren nach außerhalb des Zentralnervensystems ist extrem selten. Einige Tumoren, wie das Medulloblastom, das Ependymom oder das Germinom, neigen zur Metastasierung innerhalb des ZNS, zu Abtropfmetastasen in die hintere Schädelgrube oder in den Spinalkanal. Diese grundsätzlich malignen Tumoren sind heute schon relativ gut therapeutisch angehbar, so dass die Neigung zur Metastasierung an sich keine zusätzliche Information über den klinischen Malignitätsgrad der Tumoren ergibt. 3Epidemiologie. Über die Häufigkeit von Hirngeschwülsten liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Die Inzidenz wird mit 15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner im Jahr geschätzt.

292

Kapitel 11 · Hirntumoren

. Tabelle 11.2. WHO-Gradeinteilung von ZNS-Tumoren

Tumor-Familie

Tumor-Typ

Grad I

II

III

x x

x

IV

Neuroepitheale Tumoren Astrozytäre Tumoren

Oligodendrogliome Plexus-Tumoren Pinealis-Tumoren

11

Pilozytisches A. fibrilläres A. anaplastisches A. Glioblastom

x

x

Oligodendrogliom anaplastisches O. Plexus-Papillom Plexus-Karzinom

x x x x

Pineozytom Pineoblastom

x x

Embryonale Tumoren (primitiv neuroektodermale Tumoren)

Medulloblastom

Mesenchymale Tumoren

Meningeom Hämangioperizytom

x x

x

Neuronal/gliale Tumoren

Gangliozytom Neurozytom Gangliogliom

x x x

x

x

Nervenscheiden-Tumoren (Schwannzelltumoren)

Neurinom (Schwannom)

x

Keimzelltumoren

Germinom Teratom Chorion-Ca.

x

x x

Hypophysenadenome

Hormonaktiv hormoninaktiv

Kraniopharyngeome

Die Prävalenz von Hirntumoren soll bei etwa 50 pro 100.000 Einwohner liegen. Alle Hirntumoren zusammen machen etwa 7–9% der Tumorkrankheiten aus, primäre Hirntumoren etwa 5%. Bei Kindern stehen Hirntumoren nach Leukämien, Nierentumoren und Knochentumoren an vierter Stelle. Männer leiden häufiger als Frauen unter bösartigen Hirntumoren und Metastasen. Die Häufigkeit von Hirnmetastasen wird sehr unterschiedlich, meist zu niedrig angegeben. Man schätzt die Inzidenz von Metastasen auf 6–8/100.000 und Jahr. Unter den hirneigenen Tumoren sind die Gliome mit 4–5 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner und Jahr (ca. 40%) am häufigsten, gefolgt von den Meningeomen (etwa 20%), den Neurinomen (8%) und den Hypophysenadenomen (6%). In der Gruppe der Gliome stellen Glioblastome mit über 50% den Hauptanteil, gefolgt von Astrozytomen (20%), Oligodendrogliomen (3–8%) und Ependymomen (2–6%). 3Pathogenese, Genetik und Wachstumskinetik. Über die

Entstehung der primären Hirntumoren ist nicht viel bekannt. Viele Geschwulsttypen entstehen an bestimmten Orten im Gehirn. Bevorzugt ist die dorsale Schließungsrinne des Medullar-

x

x

x x x

x x x

rohres, die entwicklungsgeschichtlich zu Fehlbildungen disponiert ist. Die meisten Hirntumoren sind nicht erblich. Ausnahmen bieten die Hirntumoren, die bei der Neurofibromatose I und II (beidseitige Akustikusneurinome, Optikusgliom) auftreten und Tumoren bei Phakomatosen (tuberöse Hirnsklerose, Hippel-Lindau-Krankheit, Sturge-Weber-Krankheit, 7 Kap. 8.4.2). Trotzdem ist eine familiäre Häufung von Tumorerkrankungen ebenso augenfällig wie die familiäre Häufung von kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen. Exogene Faktoren haben für das Auftreten von Hirngeschwülsten keine nachweisbare Bedeutung. Dies gilt besonders für den immer wieder diskutierten Zusammenhang mit Schädeltraumen.

293 11 · Hirntumoren

Exkurs Zerebrale Herdsymptome bei Hirntumoren Stirnhirn: 4 Psychisch: Veränderung von Antrieb und Affektivität: Die Kranken werden aspontan bis zu einem solchen Grade, dass sie keine eigene Initiative mehr entwickeln und stundenlang regungslos dasitzen, nicht mehr das Bett verlassen und Speisen halbgekaut im Munde behalten. Auch die spontanen, sprachlichen Äußerungen versiegen. Die Patienten sind nur noch ganz begrenzt zu zielgerichteten Handlungen anregbar. Ihre Antworten sind lakonisch. Zu einem Gespräch sind sie nicht mehr imstande. Jede Umstellung ist erschwert: Wenn die Patienten sich einer Situation oder einem Objekt zugewandt haben, sind sie so daran fixiert, dass sie nur schwer wieder abgelenkt werden können. 4 Mit dem Verlust der eigenen Initiative tritt eine Auslieferung an die Umwelt ein, die sich in Echosymptomen äußert: Echolalie (Wiederholung des Gehörten) und Echopraxie (Wiederholungen von Bewegungen des Gegenüber). Perseveration (Wiederholung von Handlungen und Wörtern) ist häufig. Die Stimmung ist indifferent, die affektiven Bewegungen sind nivelliert. Das Bewusstsein kann lange ungestört sein. Bei Läsion der sprachdominanten Hemisphäre: Broca-Aphasie. 4 Epileptische Anfälle: Generalisierte Krampfanfälle können als Status epilepticus ablaufen. Bei Läsion der lateralen Stirnhirnkonvexität treten Adversivanfälle mit Wendung von Augen und Kopf zum kontralateral angehobenen Arm auf. Motorische Jackson-Anfälle zeigen eine Schädigung der Präzentralregion an. 4 Neurologische Symptome: leichte, kontralaterale Hemiparese, frontale Gangstörung (äußerst zögernde Schritte, bei denen die Füße »am Boden kleben« bleiben, Unsicherheit, die kaum oder gar nicht durch unwillkürliche, gleichgewichtserhaltende Körperbewegungen ausgeglichen werden kann). Bei frontobasaler Lokalisation Anosmie, auch Visusverlust durch Optikusatrophie. Bei frontaler Tumorlokalisation werden die Symptome oft als psychiatrisch verkannt und die Patienten längere Zeit antidepressiv behandelt, bis dann nach Auftreten von epileptischen Anfällen oder neurologischen Herdsymptomen in einem »zur Sicherheit durchgeführten« Computertomogramm der Hirntumor erkannt wird. Balken: Tumoren, die vom Balken einseitig oder doppelseitig (»Schmetterlingsgliom«) ins Stirnhirn einwachsen, sind klinisch nicht von Geschwülsten des frontalen Marklagers zu unterscheiden. Die Symptomatik umschriebener Balkentumoren ist uncharakteristisch. Schläfenlappen: 4 Psychisch: Die Patienten sind häufig reizbar, verstimmbar, ängstlich oder depressiv. Bei Tumoren des basalen Temporallappens kann das affektive und sexuelle Verhalten enthemmt werden.

6

4 Epilepsie mit psychomotorischen und generalisierten Anfällen kommt bei fast 50% der Patienten vor. 4 Neurologische Symptome: homonyme obere Quadrantenanopsie oder Hemianopsie bei dorsal gelegenen Tumoren, armbetonte Hemiparese. Bei Läsion der dominanten Hemisphäre: Wernicke- oder amnestische Aphasie. Parietallappen: 4 Psychisch keine typischen Lokalsymptome. 4 Neuropsychologische Störungen: Vernachlässigung (»Neglect«) der kontralateralen Körper- und/oder Raumhälfte, räumliche Orientierungsstörung, konstruktive Apraxie von seiten der nicht sprachdominanten Hemisphäre. Bei Läsion der dominanten Hemisphäre: amnestische Aphasie, auch andere sprachabhängige Leistungsstörungen, Dyslexie, Apraxie für beide Hände. Anosognosie ist bei rechts-parietalen Tumoren möglich. 4 Epileptische Anfälle: sensible Jackson-Anfälle. 4 Neurologische Symptome: sensomotorische oder vorwiegend sensible Hemiparese, Hemianopsie, untere Quadrantenanopsie oder hemianopische Aufmerksamkeitsschwäche, Abschwächung oder Aufhebung des optokinetischen Nystagmus zur Gegenseite. Okzipitallappen: 4 Neuropsychologische Störungen: häufig Dyslexie und Störung der optisch-räumlichen Orientierung. Bei doppelseitiger Läsion schwere Störung des visuellen Erkennens, kortikale Blindheit mit Anosognosie. 4 Epileptische Anfälle: Anfälle mit optischer Aura. 4 Neurologische Symptome: homonyme, hemianopische Gesichtsfelddefekte, oft Aufhebung des optokinetischen Nystagmus zur Gegenseite. Basalganglien: 4 Psychisch: Antriebsmangel, affektive Nivellierung, Somnolenz. 4 Neurologisch: akinetisches Parkinson-Syndrom, auch halbseitig, Gegenhalten, kontralaterale Hemiparese. Dienzephalon: 4 Psychisch: starke Verlangsamung, Erlöschen der Interessen, gesteigertes Schlafbedürfnis, affektive Nivellierung. 4 Neurologisch: bei Gliomen, im Gegensatz zum Kraniopharyngeom, meist keine endokrinen oder vegetativen Regulationsstörungen, auch kaum neurologische Herdsymptome. Kleinhirn: 4 Psychisch: manchmal Euphorie. 4 Neurologisch: Tumoren einer Kleinhirnhemisphäre verursachen eine ipsilaterale Ataxie der Extremitäten mit Muskelhypo-

11

294

Kapitel 11 · Hirntumoren

tonie, erst später Gang- und Standataxie und skandierendes Sprechen. Tumoren des Kleinhirnwurms führen frühzeitig zu Störungen des Körpergleichgewichts. Charakteristisch ist die Neigung des Kopfes zur Herdseite (Ocular-tilt-Reaktion). Kleinhirntumoren verursachen frühzeitig Hirndruck mit Kopfschmerzen und Stauungspapille, fast immer Nystagmus. Fernsymptome durch Druck auf den Hirnstamm und/oder Liquorabflussbehinderung sind: doppelseitige, pathologische Reflexe, Trigeminus-Sensibilitätsstörungen, Blickparesen und optokinetische Störung.

11

11.1

Klinik der Hirntumoren

11.1.1

Allgemeinsymptome

Kopfschmerzen Kopfschmerzen, die sich beim Aufrichten, Bücken oder Pressen, also bei Schwankungen des intrakraniellen Drucks verstärken, werden von der Hälfte aller Tumorpatienten als erstes Symptom angegeben. Tumoren, die zum Hydrocephalus occlusus führen, verursachen am häufigsten Kopfschmerzen. Auslöser der Kopfschmerzen ist eine Dehnung der Meningen, die sensibel vom N. trigeminus versorgt werden. Deshalb sind auch die Austrittspunkte dieses Nerven, oft einseitig, druckschmerzhaft. Epileptische Anfälle Diese sind das wichtigste Frühsymptom bei Tumoren der Großhirnhemisphären. Jeder dritte Tumorkranke erleidet Anfälle, und ein Hirntumor ist die häufigste Ursache für das Auftreten einer Epilepsie zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr (Spätepilepsie). Aber auch bei Kindern und Jugendlichen können Anfälle das erste Symptom eines Großhirntumors sein. Eine erbliche Belastung mit Epilepsie macht die Suche nach einem Hirntumor nicht überflüssig. Oft treten Anfälle lange vor anderen, lokalen oder allgemeinen, neurologischen Symptomen des Tumors auf. Die Aussichten einer Operation wären in diesem Stadium besonders günstig, zumal es oft die gutartigen, langsam wachsenden, operablen Geschwülste sind, die Anfälle hervorrufen. Tumoren, die zu Anfällen führen, liegen meist in der Umgebung der Zentralregion. Andere Lokalisationen sind der Schläfenlappen, das Stirnhirn und der Scheitellappen. Tumoren der Hirnbasis und infratentorielle Geschwülste treten dahinter als Ursache der Tumorepilepsie ganz zurück. Ob die Tumorepilepsie sich in generalisierten oder fokalen Anfällen äußert, hängt von der Lokalisation ab: So wird ein Neoplasma der Zentralregion eher zu einfach-partiellen, insbesondere zu Jackson-Anfällen, und ein Schläfenlappentumor zu komplexpartiellen (psychomotorischen) Anfällen führen, während Stirnhirntumoren häufiger generalisierte Krampfanfälle auslösen, besonders in Form des Status epilepticus, der das erste neurologische

Hirnstamm: 4 Psychisch: meist Verlangsamung und Nivellierung. 4 Neurologisch: frühzeitig Pupillenstörungen, Augenmuskellähmungen mit Doppelbildern, vertikale oder horizontale Blickparese, Blickrichtungsnystagmus. Meist optokinetische Störungen. Bei größerer Ausdehnung: Hirnnervenlähmungen, spastische Tetraparese, Ataxie, Atemstörungen (symptomatisches Schlaf-Apnoe-Syndrom).

Symptom sein kann. Ein Wechsel des Anfallscharakters ist bei bekannter Epilepsie sehr auf einen Hirntumor verdächtig. > Epileptische Anfälle sind das wichtigste Frühsymptom bei Tumoren der Großhemisphären. Nicht selten beginnt eine Tumorepilepsie mit einem Grand-mal-Status, besonders bei frontalen Tumoren. Komplex-partielle Anfälle können bei temporalen Tumoren über Jahre das einzige Tumorsymptom sein.

Wesensänderung und Verhaltensstörungen Häufig tritt eine Veränderung im Wesen und Verhalten der Kranken ein: Der spontane Antrieb lässt nach, die affektiven Regungen stumpfen ab, die Interessen engen sich ein, so dass die Patienten im Beruf, aber auch in den mitmenschlichen Beziehungen viele Verhaltensweisen unterlassen, die ihnen früher selbstverständlich waren. Die Persönlichkeit erscheint im ganzen vergröbert und entdifferenziert. Beim Erwachsenen sind dies meist Zeichen eines erhöhten intrazerebralen Drucks. Greifreflexe kommen bei jeder Lokalisation in den Hemisphären vor. Verhaltensstörungen sind bei den Tumoren des Kindesalters oft das einzige Frühsymptom. Kinder klagen nur selten über umschriebene Schmerzen, und bei ihnen entwickeln sich, solange die Schädelnähte noch nicht geschlossen sind, Hirndrucksymptome erst relativ spät. Dagegen ist das plötzliche Einsetzen von Verhaltensauffälligkeiten, wie Teilnahmslosigkeit, Unlust am Spiel, Leistungsabfall in der Schule, Reizbarkeit und affektive Labilität auf die Entwicklung eines Hirntumors verdächtig, und die neurologische Untersuchung darf neben der psychiatrisch-psychologischen nicht unterlassen werden. > Oft sind neuropsychologische Auffälligkeiten, wie Antriebsstörung, affektive Verflachung, Desinteresse und Verlangsamung Frühsymptome eines Hirntumors.

11.1.2

Fokale Symptome

Im weiteren Verlauf entwickeln sich zerebrale Herdsymptome. Diese sind in Kap. 2 im Einzelnen beschrieben. Hier werden sie

295 11.2 · Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung

11

Facharzt

Intrakranielle Druckerhöhung und Blut-Hirn-Schranke Die Reaktionen auf einen raumfordenden Prozess im Gehirn sind 4 Verdrängung und Auspressung von Liquorräumen, 4 Kompression von Hirngewebe mit gleichzeitiger Verminderung von lokalem, zerebralen Blutfluss und Volumen und 4 Anstieg des intrakraniellen Drucks. Der Wachstumsdruck wirkt sich also auf innere Strukturen des ZNS aus (. Abb. 11.2). Hirndruckentwicklung und Compliance Die initiale Fähigkeit, eine raumfordernde Läsion ohne Druckerhöhung durch Verschiebung der Kompartmentverhältnisse zu tolerieren, wird als »Compliance« bezeichnet. Die Compliance ist zeitabhängig, d.h., bei sehr langsam wachsenden Tumoren oder raumfordernden Läsionen dauert es relativ lange, bis Zeichen eines erhöhten Hirndrucks auftreten. Anders ist dies bei sich sehr schnell ausdehnenden Läsionen, wie z.B. extraduralen, intrakraniellen Hämatomen und intraparenchymatösen Blutungen oder auch bei sehr schnell wachsenden, raumfordernden Läsionen, wie Abszessen oder hochmalignen Tumoren Zerebraler Perfusionsdruck. Ein Anstieg des intrakraniellen Drucks vermindert den zerebralen Perfusionsdruck. Die zerebrale Autoregulation kann die Durchblutung nur in engen Grenzen über einen Anstieg des arteriellen Blutdrucks verbessern. In der Umgebung des Tumors entsteht durch Druck, lokale Behinderung des Blutabflusses in Venen und Sinus, lokale Drosselung der Blutzufuhr infolge Dehnung oder Verlagerung von arteriellen Gefäßen und toxische Zerfallsprodukte aus dem Tumorgewebe ein relativer Sauerstoffmangel.

für die Diagnose der Tumorlokalisation wichtig. Im folgenden Exkurs sind die klinischen Symptome aufgeführt. 11.2

Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung

In der Umgebung von Tumoren bildet sich ein mehr oder weniger ausgeprägtes Hirnödem. Man unterscheidet generell zwei Arten von Hirnödem, das zytotoxische und das vasogene Ödem (. Abb. 11.1). Mischformen beider Arten können vorkommen. Zu einem vasogenen Ödem kommt es bei Hirntumoren, zum zytotoxischen Ödem beim Gewebszerfall nach Hypoxie, z.B. nach Schlaganfällen. Das zytotoxische Hirnödem entsteht durch eine intrazelluläre Wasseransammlung, besonders in der Rinde, das vasogene Ödem durch die Ansammlung von Flüssigkeit im Interzellulärraum v. a. des Marklagers. Das Hirnödem um einen

Blut-Hirn-Schranke Das Gehirn ist durch die Blut-Hirn-Schranke (BHS) in sehr effektiver Weise vom sonstigen Organismus abgeschottet. Der Intravasalraum ist vom Hirnparenchym und vom Liquorraum durch die Bluthirnschranke getrennt. Die Bluthirnschranke wird von den Kapillarendothelien gebildet, an deren Basalmembran sich die Fußfortsätze der Astrozyten in einer lückenlosen zellulären Schicht anschließen. Die Endothelzellen sind durch Verbindungselemente, die tight junctions, verknüpft, die nur Partikel mit einem Durchmesser unter 2 Nanometer passieren lassen. Die BHS lässt zwar den Transport von niedermolekularen Substanzen (O2, Glukose, Transmitter, Albumin) zu, bildet aber eine effektive Abschottung gegen höhermolekulare Substanzen und Organismen. Die Blut-Hirn-Schranke kann durch Traumen, Entzündungen und Tumoren geschädigt werden. Bei Schädigung der BHS werden die engen Verbindungen, die tight junctions, zwischen den Endothelzellen aufgebrochen. Die Blut-Hirn-Schranke verliert ihre Schutzwirkung und größere Moleküle können passieren. Pathologische Tumorgefäße bilden keine Blut-Hirn-Schranke aus. Die Folge ist die Auspressung von eiweißreicher Flüssigkeit in das Hirnparenchym und in den Extrazellulärraum, das vasogene Ödem. Die Schädigung der BHS ist von diagnostischer Bedeutung, da Kontrastmittel überall, wo die BHS intakt ist, intravasal bleibt und abtransportiert wird. Dort, wo die Blut-Hirn-Schranke geschädigt ist, kommt es zum Austreten des Kontrastmittels in das Parenchym und damit konsequenterweise zur Anreicherung.

Hirntumor ist ein vasogenes Marklagerödem, das durch die Auspressung von Plasma durch die zusammengebrochene BlutHirn-Schranke in den Extrazellulärraum entsteht. Dies führt zu der im CT und MRT typischen fingerförmigen Ausbreitung des Ödems. Das Ödem kann sich auch über den Balken, speziell über die hinteren Balkenanteile auf die Gegenseite ausdehnen. Als Faustregel kann gelten: Je maligner der Tumor ist, desto größer seine Neigung, ein Begleitödem zu entwickeln. Das erklärt das häufig besonders ausgedehnte Hirnödem in der Umgebung von Hirnmetastasen. Das Hirnödem ergreift zunächst die gleichseitige Hemisphäre. Der Liquorraum, der normalerweise das Nervengewebe vor Druck schützt, wird kompensatorisch ausgepresst und durch Hirngewebe ersetzt.

296

Kapitel 11 · Hirntumoren

11.2.1

11

. Abb. 11.1. Entwicklung von zytotoxischem und vasogenem Ödem. Eine schematische Darstellung des normalen Kapillarbetts mit Erytrozyten, Endothelien (einschließlich tight junctions) und Astrozytenfortsätzen findet sich im oberen linken Teil der Abbildung. In der ersten Phase der Ödementwicklung (rechts) sind die tight junctions ungeschädigt. Flüssigkeit wird über das Endothel in die Astrozyten aufgenommen (zytotoxische Phase). Durch die Schwellung der Astrozyten wird der Extrazellulärraum verringert. In der vasogenen Phase (links unten) öffnen sich die tight junctions, und Wasser kann in den Extrazellulärraum einströmen (vasogene Phase). (Aus Hacke 1994; nach Hartmann u. Wassmann 1987)

Der Druckanstieg erfolgt zunächst nur sehr langsam (solange durch Liquorauspressung Raum gewonnen werden kann), erreicht dann einen Umschlagpunkt und steigt danach proportional unter Zunahme des Volumens an. Eine weitere Volumenzunahme hat dann eine gröbere Massenverschiebung, zunächst ipsilateral, zur Folge. Es droht die Einklemmung. Bald ergreift die Massenverlagerung aber auch unter der Falx cerebri hindurch die gegenseitige Hemisphäre, deren innere und äußere Liquorräume ebenfalls eingeengt werden. Ältere Patienten mit Hirnatrophie entwickeln verhältnismäßig spät Hirndruck, so dass der Tumor beim ersten Auftreten von Symptomen schon recht groß sein kann. Etwa ab einem Tumorvolumen um 50 ml kommt es zu den ersten Zeichen eines erhöhten Hirndrucks. Je größer der Tumor, desto größer ist der raumfordernde Effekt. Wächst der Tumor jedoch langsam, kann sich der raumfordernde Effekt weniger bemerkbar machen. Manchmal sind Begleitödem oder Hydrocephalus occlusus von größerer Bedeutung als das Volumen des Tumors: Ein kleiner Tumor, z.B. eine Metastase, die von einem ausgedehnten Ödem umgeben ist, kann einen beachtlichen raumfordernden Effekt auslösen. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur der Tumor selbst ist, der raumfordernde Wirkung hat, sondern auch das begleitende Hirnödem. Auch die direkte Behinderung der Liquorpassage kann zu einer besonders schnellen Hirndrucksymptomatik führen, wenn man bedenkt, dass die tägliche Liquorproduktion beim Erwachsenen zwischen 200 ml und 300 ml beträgt. Dies bedeutet, dass bei einem kompletten Verschluss des Aquädukts durch einen Tumor innerhalb von Stunden eine kritische Zunahme des Liquorvolumens in den Seitenventrikeln entstehen kann. Bei Blockade des Abflusses aus einem Seitenventrikel kann Hirndruck durch Vermehrung des Liquorvolumens entstehen. 11.2.2

. Abb. 11.2. Schematische Darstellung der Massenverlagerungen bei supratentoriell, intrahemisphärisch und infratentoriell raumfordernder Läsion mit Darstellung der drei Herniationstypen, subfalzial, transtentoriell und foraminal

Zeitlicher Ablauf von Hirnödem und Druckanstieg

Symptome erhöhten Hirndrucks

Psychische Symptome Patienten mit Hirndruck sind zunächst psychisch verändert. Sie liegen oft aspontan im Bett und sind nur noch begrenzt anregbar. Sie antworten nur zögernd, langsam, oft unwillig und können sich mitten in der Exploration zur Wand wenden. Das Gesicht ist ausdrucksleer, die Affektivität ist nivelliert. Oft greifen sie während der Untersuchung oder Exploration nach etwas Essbarem auf ihrem Nachttisch und stecken es in den Mund. Regelmäßig kann man Greifreflexe der Hand und des Mundes (7 Kap. 3.13) auslösen, die zu den frühesten Symptomen des Hirndrucks gehören. Handlungsaufforderungen kommen die Patienten nur teilweise nach, dann bleiben ihre Bewegungen gleichsam »unterwegs stecken«. So behalten sie oft ungekaute Speisen für Stunden

297 11.2 · Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung

11

Exkurs Formen der Herniation Die transtentorielle Herniation wurde früher als axiale Herniation aufgefasst. Heute weiß man, dass sie mehr auf einer horizontalen Dislokation des oberen Anteils des Hirnstamms im Tentoriumschlitz beruht. Neben der lateralen Verschiebung des Hirnstamms kann auch der Uncus hippocampi in den Tentoriumschlitz eintreten und hierdurch die Bedrängung des Hirnstamms noch vergrößern. Der ipsilaterale N. oculomotorius wird gedehnt und der Hirnstamm gegen den kontralateralen Tentoriumrand gepresst. Diese Sequenz erklärt, warum bei erhöhtem Hirndruck und drohender Einklemmung initial oft eine reversible ipsilaterale (periphere) und später eine kontralaterale (nukleäre) Okulomotoriusparese auftritt. Mediale Temporallappenteile können hierbei nach kaudal in die ipsilaterale Cisterna ambiens gepresst und zwischen Mittelhirn und Schlitz des Tentorium cerebelli eingeklemmt werden (Unkusverquellung, temporaler Druckkonus). Bei der tonsillären Herniation wird eine oder werden beide zerebellären Tonsillen und anderes Gewebe in das

im Mund. Häufig lassen sie unter sich, ohne dies zu bemerken. Das Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsfeld ist eingeengt: An Vorgängen in der Umgebung nehmen sie kaum Anteil. Oft sind sie über Ort und Zeit desorientiert und antworten auf entsprechende Fragen gleichgültig und abweisend. Später sind die Patienten schläfrig und nur mit Mühe erweckbar. Die Symptomatik des erhöhten Hirndrucks hat Ähnlichkeit mit der bei Stirnhirntumoren. Stauungspapille und weitere Symptome In fortgeschritteneren Stadien besteht eine (oft einseitige) Stauungspapille. Sie ist bei Tumoren der hinteren Schädelgrube besonders häufig. Historisch zwar wichtig, hat die Suche nach einer Stauungspapille für die frühe Diagnose eines Hirntumors heute keine Bedeutung mehr. Ihr Fehlen schließt eine intrakranielle Drucksteigerung keineswegs aus. Andererseits kann auch bei hypertonischer Arteriosklerose, bei kardiopulmonalen Krankheiten, bei Allgemeinkrankheiten und Intoxikationen, bei Kortikoidtherapie und Einnahme von Kontrazeptiva eine Stauungspapille bestehen, die bis zwei oder drei Dioptrien prominent und asymmetrisch sein kann. Hochgradige Stauungspapillen sind auch für Sinusthrombosen charakteristisch (7 Kap. 1.2.2). Blutungen in der Netzhaut zeigen eine rasche Zunahme der Papillenprominenz an und sprechen für Glioblastom, Metastasen, Tumoren der hinteren Schädelgrube oder Hydrocephalus occlusus. Visusminderung bei Stauungspapille tritt erst auf, wenn diese durch ischämische Nervenfaserdegeneration in Atrophie übergeht. Erbrechen tritt anfangs nur morgens auf. Es verstärkt sich mit zunehmendem Hirndruck so, dass es bei jedem Aufrichten, aber auch schon bei Kopfbewegungen, ohne vorangehende Übel-

Foramen magnum gepresst. Diese Herniation ist typisch für eine infratentoriell raumfordernde Läsion. Die Medulla oblongata kann dabei zwischen den hinabgedrückten Kleinhirntonsillen im Foramen occipitale magnum eingeklemmt werden. Pathologisch-anatomisch findet sich hier später der typische Kleinhirndruckkonus. Durch die Gefahr einer Lähmung des retikulären Aktivierungssystems und der Regulationsstellen für Atmung und Kreislauf führt diese Einklemmung rasch zum Tode. Eine Massenverschiebung nach rostral, durch die der Kleinhirnwurm gegen das Mittelhirn und in den Tentoriumschlitz gepresst wird kommt bei Tumoren der hinteren Schädelgrube vor. Bei dieser Einklemmung wird der Aquädukt verengt oder verschlossen, und es bildet sich ein Hydrocephalus occlusus aus. Bei der häufigen, allein aber nicht lebensbedrohlichen subfalzialen Herniation werden Teile des Gyrus cinguli unter der Falx disloziert.

keit ausgelöst wird. Ursache ist eine Druckwirkung auf die Vestibulariskerne in der Medulla oblongata. Ein weiteres Zeichen der Hirnstammschädigung ist der Singultus. Kopfschmerzen werden oft nicht mehr spontan, sondern wegen der erheblichen psychischen Veränderung erst auf Befragen geklagt. Die NAP des N. trigeminus sind beiderseits stark druckschmerzhaft. > Morgendliche Kopfschmerzen ohne Übelkeit, aber schwallartigem Erbrechen sind typische Zeichen des erhöhten Hirndrucks, schon bevor Stauungspapillen, Pupillenstörungen oder Einklemmungszeichen auftreten.

11.2.3

Einklemmung (Herniation)

Sobald der Kompensationsraum aufgebraucht und die Compliance erschöpft ist, kommt es zu einer Verlagerung von Gewebe und Ödem, die in der Einklemmung endet. Man unterscheidet drei Formen der Herniation: 4 die transtentorielle Herniation, 4 die tonsilläre Herniation von Kleinhirnanteilen im Foramen magnum und 4 die subfalziale Herniation. Symptome der Einklemmung Ophthalmologische Symptome. Die Pupillen sind durch innere Okulomotoriuslähmung (ipsilaterale Dehnung des Nerven im Tentoriumschlitz) einseitig, später (durch Pressen des Hirnstamms mit Okulomotoriuskern gegen die Klivuskante = Klivuskantensyndrom) doppelseitig erweitert.

298

Kapitel 11 · Hirntumoren

Exkurs Signalcharakteristika von Tumoren im MRT Im MRT haben die meisten Hirntumoren in T1-gewichteten Bildern eine hypointense Darstellung, während sie auf T2- und Protonendichte-gewichteten Abbildungen leicht hyperintens sind. Manche extraaxialen Tumoren weisen niedrige Signale in allen Sequenzen auf oder sind hirnisointens. Das Hirnödem erscheint auf den T2-Bildern sehr stark hyperintens. Die Gabe von Kontrastmittel erlaubt es, durch Charakterisierung der Störung der Blut-Hirn-Schranke solide Tumoranteile von Ödemzonen zu unterscheiden. Zysten erscheinen auf T1-Bildern deutlich hypointens und auf T2-Bildern stark hyperintens. Kalk ist

Weitere neurologische Symptome. Die Verlagerung des gegen-

seitigen Hirnschenkels gegen den Rand des Tentoriums führt zu ipsilateralen (!) pathologischen Reflexen und zentraler Parese; ipsilateral zum Tumor deshalb, weil die motorischen Bahnen auf diesem Niveau noch nicht gekreuzt haben. Blutdruck. Später verändert sich der Blutdruck. Zunächst führen

11

die Hypoxydose des Hirns und der Druck auf die Medulla zu einem reaktiven Hypertonus (Cushing-Reflex), später fällt der Blutdruck ab, was die Blutversorgung des Gehirns weiter verschlechtert. Der Puls wird langsam. Im Endstadium sind die Patienten komatös. Ihre Pupillen sind weit und lichtstarr, die Bulbi divergieren oder führen langsame Pendelbewegungen aus. Die Extremitäten befinden sich in einer Dezerebrationshaltung. Doppelseitig sind pathologische Reflexe auslösbar. Der Blutdruck fällt weiter ab. Die Atmung wird schnarchend, periodisch, unregelmäßig, sistiert. Der Hirntod tritt ein. 11.3

Diagnostik

11.3.1

Neuroradiologische Diagnostik

Computertomographie Die CT, die ohne und mit Kontrastmittel durchgeführt wird, ist auch heute trotz MRT meist noch die erste bildgebende Diagnostik, die bei einem Patienten mit Verdacht auf einen raumfordernden, intrakraniellen Prozess durchgeführt wird. Die CT erlaubt nicht nur die erste Verdachtsdiagnose eines Hirntumors, sondern gibt darüber hinaus schon gute Informationen über Lokalisation, Grad der Massenverschiebung, Begleitödem, Homogenität oder Inhomogenität des Tumors und Störungen der Bluthirnschranke (Kontrastmittelaufnahme). Die Beteiligung knöcherner Strukturen und Verkalkungen innerhalb des Tumors sind mit der Computertomographie, besonders im Knochenfenster, gut erkennbar. Das wichtigste gemeinsame Zeichen aller Hirngeschwülste ist die Massenverschiebung. Das Tumorgewebe selbst kann ge-

auf kernspintomographischen Bildern oft schlecht zu erkennen, er erscheint hypointens in T1 und T2. Hier ist häufig eine zusätzliche computertomographische Untersuchung notwendig. Dagegen sind MR-Sequenzen für die Darstellung frischer oder älterer Hämorrhagien besonders empfindlich. Abbauprodukte des Blutes in verschiedenen Stadien haben charakteristische Signalcharakteristika im MRT, die es dem Neuroradiologen mit hoher Sicherheit erlauben, Art und Alter des Blutungsereignisses zu identifizieren.

genüber dem normalen Hirngewebe eine vermehrte, gleiche oder verminderte Dichte besitzen. Weitere diagnostische Kriterien sind 4 das Ausmaß des begleitenden Ödems, 4 Dichteänderungen nach intravenöser Kontrastmittelgabe sowie 4 der Nachweis von verkalkten oder zystischen Tumoranteilen. Die Mehrzahl der Tumoren der Großhirnhemisphären lassen sich mit der CT gut nachweisen. Aus der computertomographischen Morphologie kann in vielen Fällen schon eine artdiagnostische Verdachtsdiagnose gestellt werden. Magnetresonanztomographie Wo sie verfügbar ist, ersetzt die MRT vielerorts die Computertomographie. Die bessere Auflösungsfähigkeit und geringere Artefaktanfälligkeit speziell bei schädelbasisnahen Prozessen oder Hirnstammtumoren, in der Sella oder im Sinus cavernosus machen die MRT der CT überlegen. Auch innerhalb des Tumors gelingt eine bessere Einschätzung der Tumoranteile. Frühere oder frische Blutungen, die Abgrenzung von Tumor und Ödem und die Einbeziehung anatomischer Strukturen in den Tumorprozess lassen sich mit der MRT besser analysieren. Durch die Anwendung von paramagnetischen Kontrastmitteln wird die Differenzierung zwischen Tumor und Ödem, die Beurteilung der Gefäßdichte innerhalb des Tumors und die Störung der Blut-Hirn-Schranke, ggf. auch der Nachweis von kleinen, im Nativ-MRT noch nicht erkennbaren Satellitentumoren möglich. Heute wird in den meisten Fällen, in denen ein Hirntumor schon durch die Computertomographie sehr wahrscheinlich gemacht worden ist, noch eine Kernspintomographie mit KM durchgeführt, weil sich hierdurch besser die Lokalisation für eine stereotaktischen Biopsie bestimmen lässt. Bei Verdacht auf Hirnmetastasen ist die MRT besonders wichtig, um zwischen solitären und multiplen Hirnmetastasen zu unterscheiden. Viele kleine Metastasen machen sich erst im KMMRT bemerkbar. Dies hat eine wesentliche therapeutische Be-

299 11.3 · Diagnostik

. Abb. 11.3a–d. a,b CT und MRT (jeweils kontrastangehoben) bei rechts-okzipitalem Glioblastom. Das MR zeigt die Ausdehnungsbegrenzung des schrankengestörten Anteils deutlicher, c, d Gleiche Darstellung für ein Lymphom, bei dem durch die Kontrastmittelaufnahme im MRT die Abgrenzung von pathologischem und gesundem Hirngewebe sowie Ödem deutlich besser gelingt. Das CT (c) ist ohne Kontrastmittel angefertigt. (M. Forsting, Heidelberg)

a

b

c

d

. Abb. 11.4. Angiogramm eines hochgradig malignen Hirntumors mit Anfärbung des Tumorareals, pathologischen Gefäßen, die z.T. seenförmig erweitert sind und früher, venöser Drainage. Die Mediaäste sind nach unten gedrückt, die Anterioräste nach vorne ausgespannt als Zeichen der parietalen raumfordernden Läsion. (K. Sartor, Heidelberg)

11

300

Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt

Digitale Subtraktionsangiographie Vor Einführung der Schnittbilddiagnostik (CT und MRT) war die Angiographie das wesentliche diagnostische Verfahren bei Verdacht auf Hirntumoren. Heute wird die Diagnose des Hirntumors meist ohne Angiographie gestellt. Das Angiogramm hat aber noch Bedeutung bei der Klärung der Lagebeziehung zwischen Tumor und arteriellem sowie venösem Gefäßsystem. Außerdem kann die Art der Gefäßversorgung oder der Nachweis pathologischer Gefäße einen artdiagnostischen Hinweis geben. Die lokale Raumforderung und die Hirnschwellung sind an einer erheblichen Verlagerung der Gefäße (. Abb. 11.4) und manchmal an der Verlangsamung der Durchblutung mit Verspätung der venösen Phase zu erkennen.

11

deutung, da solitäre Metastasen operiert werden können, während bei multiplen Metastasen im Allgemeinen von der Operation abgesehen wird. Insgesamt lässt sich mit der MRT heute eine hohe Voraussage der Tumorart und -dignität erreichen. Zwar ist man noch nicht so weit, dass die MRT die Biopsie ersetzen kann, in vielen Fällen sind aber MRT-Befunde so eindeutig, dass kein Zweifel mehr an der Zuordnung der Tumorart besteht. Wenn es Diskrepanzen zwischen MRT-Diagnose und Histologie gibt, muss nicht selten der histologische Befund nach nochmaliger Befundung revidiert werden. . Abbildung 11.3 stellt vergleichend CT- und MRT-Befunde bei Hirntumoren dar. 11.3.2

Hirnbiopsie und Histologie

Die endgültige Artdiagnose eines Tumors wird histologisch gestellt. Bei vielen nichtoperablen Tumoren ist vor Bestrahlung eine histologische Sicherung der Tumorart erwünscht. Die Hirnbiopsie wird offen (zusammen mit einer Tumorverkleinerung) oder stereotaktisch in lokaler Anästhesie durchgeführt. 11.3.3

Laboruntersuchungen

Liquor Bevor eine Lumbalpunktion durchgeführt wird, muss durch CT oder MRT ausgeschlossen werden, dass eine direkte Einklemmungsgefahr besteht. Diese besteht, wenn es durch Tumordruck zu einem Hydrozephalus gekommen ist, bei raumfordernden Läsionen in der hinteren Schädelgrube oder bei lateralen, gegen das Seitenventrikelsystem drückenden Tumoren, die sich dann, nach der Reduzierung des Ventrikelvolumens durch die Liquorpunktion, nach medial in Richtung Tentoriumschlitz ausdehnen können.

Die Angiographie ist wichtig bei der Frage der präoperativen Dokumentation der Gefäßversorgung, wobei manchmal der operative Zugang hiervon abhängig gemacht werden kann. Bei einzelnen Tumoren (Meningeome, Hämangioblastome) wird heute eine präoperative Embolisation durchgeführt (. Abb. 11.5), durch die die anschließende neurochirurgische Operation schonender und mit geringerer Blutsubstitution erfolgen kann. Nuklearmedizinische Methoden Das Knochenszintigramm kann bei der Suche nach multiplen Knochenmetastasen helfen. Einen Beitrag zur Differentialdiagnose zwischen Strahlennekrose und Rezidivtumor liefert PET und SPECT.

Die Spiegelung des Augenhintergrunds ist nicht ausreichend. Bei vielen Patienten mit großen raumfordernden intrakraniellen Läsionen kommt es nicht zur Ausprägung einer Stauungspapille. Darüber hinaus sind viele Untersucher auch zu ungeübt, um am nicht weitgetropften Auge eine Stauungspapille diagnostizieren zu können. Eine Lumbalpunktion bei Tumorverdacht ohne vorhergehende CT oder MRT ist nicht mehr zu verantworten. Bei den meisten Hirntumoren ist der Liquor normal. Viele Tumoren führen zu einer unspezifischen Eiweißerhöhung durch Blut-Hirn-Schranken-Störung. Intrathekale Produktion von Immunglobulinen kommt praktisch nicht vor. Eine Pleozytose ist möglich, aber nicht sehr ausgeprägt. Der Nachweis von Tumorzellen mit dem Ziel einer Artdiagnose des primären Hirntumors oder der Metastase kann den Patienten eine Hirnbiopsie ersparen. Tumorzellen können auch ohne Pleozytose im Liquor nachweisbar sein. Die Liquorzytologie ist bei Meningeosen und ventrikelnahen Tumoren – wie Ependymomen oder Pinealomen, Keimzelltumoren und dem Medulloblastom – von besonderer Bedeutung, wenn aufgrund der bildgebenden Diagnostik noch keine sichere Artdiagnose möglich ist (. Abb. 11.6). Tumormarker Nur bei wenigen intrakraniellen Tumoren stehen Tumormarker in Liquor oder Serum zur Diagnostik zur Verfügung. Tumoren der Pinealisloge können zum Teil über den Nachweis von α-Fetoprotein, plazentare alkalische Phosphatase oder β-HCG im Serum und Liquor festgestellt werden. Bei hormonaktiven Hyposentumoren sind die entsprechend erhöhten Hormonspiegel im Serum wichtig. Bei Verdacht auf Metastasen sind die in . Tabelle 11.3 aufgelisteten Tumormarker für die Suche nach dem Primärtumor hilfreich.

301 11.4 · Therapieprinzipien

11

. Abb. 11.5a,b. Angiographische Darstellung eines Meningeoms vor und nach Embolisation der Tumorgefäße. Man erkennt die massive Kontrastmittelaufnahme des Meningeoms (a), das überwiegend aus einem dilatierten Ast der Externa (A. meningea media) versorgt wird. Nach Embolisation (b) der Tumorgefäße ist das Meningeom angiographisch nicht mehr kontrastiert. (K. Sartor, Heidelberg)

a

11.4

Therapieprinzipien

Zur Therapie der Hirntumoren stehen neurochirurgische Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie zur Verfügung. Oft werden diese Methoden miteinander kombiniert. Bei manchen Tumoren ist die alleinige Tumorresektion erfolgreich. Bei malignen Tumoren wird, wenn möglich, eine chirurgische Reduktion der Tumormasse mit anschließender Bestrahlung und ggf. Chemotherapie durchgeführt. 11.4.1

Operative Therapie

Grundsätzlich gilt, dass jeder Hirntumor, wenn die Lokalisation des Tumors und die Operationsfähigkeit des Patienten dies erlauben, möglichst radikal reseziert werden soll (. Abb. 11.7). Bei Eingriffen in der dominanten Hemisphäre oder in anderen, funktionell wichtigen Hirnabschnitten kann aber das zu erwartende postoperative neurologische Defizit diese Aussage relativieren. Selbst wenn man vorhersehen kann, dass keine vollständige Tumorresektion zu erwarten ist, sollte dennoch versucht werden, die Tumormasse zu verringern und gleichzeitig zu einer histologischen Diagnose zu kommen (erweiterte, offene Biopsie mit Tumorverkleinerung). Ist auch dies nicht möglich, so wird vor einer Strahlen- oder Chemotherapie in den meisten Fällen versucht, über eine stereotaktische Biopsie eine Artdiagnose zu erzielen. Hierauf kann verzichtet werden, wenn die Morphologie des Tumors, wie sie in CT und MRT gesehen wird, eindeutig in eine bestimmte artdiagnostische Richtung weist, die Liquorzytologie Tumorzellen nachweist oder wenn bei Metastasen ein Primärtumor gefunden wird.

b

Postoperativ werden heute praktisch alle Hirntumoren ab einem WHO-Grad II nachbestrahlt. Dies gilt auch bei vermeintlich kompletter Resektion. Shunt-Operationen (Außenableitung, definitiver Shunt) können lebensrettend sein, wenn ein Tumor durch lokalen Tumordruck zum Hydrocephalus occlusus geführt hat (. Abb. 11.8). 11.4.2

Strahlentherapie

Die Strahlentherapie intrakranieller Tumoren erfolgt als externe (perkutane) oder interstitielle Strahlentherapie. Moderne Bestrahlungsverfahren ermöglichen einen optimalen Schutz benachbarter, besonders strahlenempfindlicher Risikostrukturen und halten Strahlenschäden (Ödem, Demyelinisierung, Nekrose) im umgebenden, gesunden Hirngewebe heute sehr niedrig. 4 Externe Strahlentherapie: Hier haben moderne Bestrahlungsverfahren eine differenzierte Therapie intrakranieller Tumoren ermöglicht. Neben der konventionellen, fraktionierten Bestrahlung des Kopfes (Teil- oder Ganzhirnbestrahlung) und des Spinalkanals werden lokal begrenzte Bestrahlungen durchgeführt, bei denen die zur Tumorkontrolle erforderliche Strahlendosis manchmal in einer einzigen Behandlung appliziert wird. 4 Stereotaktische Einzeitbestrahlungen (. Abb. 11.9) und fraktionierte Hochpräzisionsbestrahlungen, durchgeführt mit Linearbeschleunigern oder Gamma-Knife sowie Protonen- und Schwerionentherapie-Einrichtungen werden bei ausgewählten Krankheitsbildern heute häufiger angewendet. 4 Interstitielle Strahlentherapie: Hier werden umhüllte Strahler mit kurzer Halbwertszeit, sog. Seeds, stereotaktisch in den Tumor eingebracht. Die Aktivität dieser Strahler wird im Regel-

302

Kapitel 11 · Hirntumoren

a

b

c

d

11

. Abb. 11.6a–d. Liquorzytozentrifugenpräparate. a May-GrünwaldGiemsa-Färbung. Meningeosis carcinomatosa bei Mammakarzinom. Fast ausschließlich hyperchromatische, polymorphe Tumorzellen mit pseudopodienähnlichen Plasmaausläufern, chromatinreichem Kern und mehreren Mitosen, b May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Meningeosis blastomatosa bei B-Zell-Lymphom. Zahlreiche Lymphoblasten mit großen, bizarren Kernen, prominenten Nukleoli und perinukleärer Zytoplasmaaufhellung,

c May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Meningeosis bei malignem Melanom. Zahlreiche, polymorphe Tumorzellen, z.T. mit Pigmentablagerungen. d May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Meningeale Aussaat bei einem Ependymomrezidiv, Lockerer Tumorzellverband, polymorphe Tumorzellen mit bizarren, großen, chromatinreichen Kernen. (B. Storch-Hagenlocher, B. Wildemann, Heidelberg)

. Tabelle 11.3. Tumormarker

Marker-Bezeichnung

Tumor

Referenzbereich

SCC (squamous cell carcinoma antigen)

HNO-Tumoren Bronchialkarzinom (Plattenepithel) Zervixkarzinom (Plattenepithel) Ösophaguskarzinom Analkarzinom

0–1,5/3 ng/ml

NSE (neuronenspezifische Enolase)

Bronchialkarzinom (kleinzellig) Neuroblastom medulläres Schilddrüsenkarzinom

Serum 0–10 ng/ml Liquor 0–20 ng/ml

303 11.4 · Therapieprinzipien

. Tabelle 11.3 (Fortsetzung)

Marker-Bezeichnung

Tumor

Referenzbereich

CE (carcino-embryonic antigen)

Kolorektales Karzinom medulläres Schilddrüsenkarzinom hepatozelluläres Karzinom HNO-Tumoren Bronchialkarzinom Mammakarzinom Magenkarzinom Pankreaskarzinom Ovarialkarzinom Zervixkarzinom

1,5–5 mg/l

CA 19–9, GICA (gastrointestinal cancer antigen)

Pankreaskarzinom Leberkarzinom (cholangiozellulär) Gallenwegskarzinom Magenkarzinom kolorektales Karzinom (Zweitmarker nach CEA) Ovarialkarzinom (Zweitmarker nach CA 125)

0–30 U/ml

CA 15–3 (cancer antigen 15–3)

Mammakarzinom

0–40 U/ml

CA 125 (cancer antigen 125)

Ovarialkarzinom Pankreaskarzinom (Zweitmarker nach CA 19–9) Uteruskarzinom

0–35 U/ml

CA 72–4 (cancer antigen 72–4)

Magenkarzinom Ovarialkarzinom (Zweitmarker nach CA 19–9)

0–4 U/ml

CA 549 (cancer antigen 549)

Mammakarzinom

0–11 U/ml

AFP (alpha-fetoprotein)

Hepatozelluläres Karzinom Keimzelltumoren (Hoden, Ovar, extragonadal)

bis 7 IU/ml

MCA (mucin-like cancer associated antigen)

Mammakarzinom

0–15 U/ml

BCM (breast cancer mucin)

Mammakarzinom

0–31 U/ml

Beta-hCG (humanes Choriongonadotropin)

Keimzelltumoren (Hoden, Ovar, extragonadal)

5 IU/l

PSA (Prostata-spezifisches Antigen)

Prostatakarzinom

0–2,5 mg/l

PAP (Prostata-spezifische saure Phosphatase)

Prostatakarzinom

1–2,3 mg/l

PP (Pankreatisches Polypeptid)

Endokrine Tumoren im Gastrointestinaltrakt

bis 150 pmol/l

TG (Thyreoglobulin)

Differenziertes Schilddrüsenkarzinom (follikulär/papillär)

bis 50 mg/l

hCT (humanes Calcitonin)

Medulläres Schilddrüsenkarzinom (C-Zell-Karzinom)

> 300 ng/l

TPA (tissue polypeptide antigen)

Harnblasenkarzinom Schilddrüsenkarzinom Pankreaskarzinom Prostatakarzinom Hodenkarzinom

bis 60 U/l

β2M (b2-Mikroglobulin)

Plasmozytom Lymphom

SCD 25

Lymphom

Beta HCG

Keimzelltumoren, Ovar, Hoden, Throphoblasttmoren

PLAP

Germinom

CYFRA

Plattenepithel-Ca der Lunge

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304

Kapitel 11 · Hirntumoren

a

c

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d

f

11 a

. Abb. 11.7a-f. Prä- und postoperative Befunde bei intrazerebralen Tumoren. a MRT (protonengewichtete, axiale Darstellung) eines großen Tentoriummeningeoms, b T1-gewichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung, axial. MRT am ersten postoperativen Tag. Das Meningeom ist weitgehend entfernt, lediglich im Bereich der V. magna Galeni findet sich noch ein kleiner Resttumor, c MRT (T1-gewichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung): Metastase eines bronchialen Plattenepithelkarzinoms in der rechten Kleinhirnhemisphäre mit perifokalem Ödem, d CT am ersten Tag postoperativ nach Totalentfernung der Metastase, e MRT (T1-Gewichtung mit paramagnetischer

Kontrastverstärkung, koronare Darstellung): rechts frontopräzentraler, im Rand stark kontrastmittelaufnehmender, intraaxialer Tumor, histologisch Glioblastoma multiforme, mit deutlicher Verlagerung der Mittellinie und Kompression des Seitenventrikels, f MRT (T1-Gewichtung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung, koronare Darstellung) am ersten postoperativen Tag: große Tumorhöhle, keine paramagnetische Kontrastanhebung im früheren Tumorbezirk. Makroskopisch komplette Tumorresektion. Leider kam es nach einigen Monaten zum Tumorrezidiv im Randbezirk der Resektion. (K. Kunze, K. Sartor, M. Wannenmacher, Heidelberg)

305 11.4 · Therapieprinzipien

. Abb. 11.8a,b. CT mit Ventrikelaufstau mit deutlicher Erweiterung der Temporalhörner und des dritten Ventrikels sowie der Vorderhörner bei infratentorieller, raumfordernder Läsion (a). Nach Einlegung einer Ventrikeldrainage (Pfeil) deutliche Rückbildung des Liquoraufstaus (b). (A. Aschoff, Heidelberg)

a

. Abb. 11.9. Beispiel einer Bestrahlungsplanung für eine stereotaktische Einzeitbestrahlung eines hemisphärischen Tumors. Es handelt sich um die Berechnung der Dosisverteilung für die Einzeitbestrahlung einer Metastase (eines malignen Melanoms). (M. Wannenmacher, Heidelberg)

6

b

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306

Kapitel 11 · Hirntumoren

Exkurs Chemotherapie bei Hirntumoren Die Wirksamkeit einer Chemotherapie kann im Einzelfall nicht vorhergesagt werden. Leider ist es bisher nicht gelungen, über eine In-vitro-Testung der Chemosensitivität des Tumorgewebes eine Vorhersage darüber zu machen, ob der Tumor auch intravital chemosensitiv sein wird. Gerade bei den häufigsten und bislang am schlechtesten zu behandelnden malignen Hirntumoren, den Glioblastomen, ist in der Vergangenheit der Chemotherapie zu wenig Interesse gewidmet worden. Nachdem man mit Operation und Bestrahlung geringe, aber seit Jahren nicht mehr verbesserte Therapieerfolge erzielt hat, wendet man sich auch der Chemotherapie

der malignen Gliome zu. Neben der Sensitivität der Tumorzellen auf die verwendete Substanz hängt die Wirksamkeit der Chemotherapie auch von der Liquorgängigkeit der Zytostatika ab, dem Ausmaß der Blut-Hirn-Schranken-Störung (bei malignen Tumoren praktisch immer vorhanden) und der Möglichkeit der Substanz, in das Tumorgewebe in ausreichender Konzentration penetrieren zu können. Hier sind Methoden in der Entwicklung, die die zytostatische Aktivität durch eine an Antikörper gebundene Vermittlung (monoklonale Antikörper, Liposomen) erhöhen sollen.

Facharzt

Problematische Behandlungsindikationen

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Behandlung von niedriggradigen Hemisphärentumoren. Nicht alle niedriggradig malignen Tumoren des Großhirns müssen initial behandelt werden. Die gute Spontanprognose, die bei manchen Patienten jahrzehntelange, beschwerdefreie Überlebenszeiten unter antikonvulsivem Schutz ermöglicht, wird als Argument gegen eine frühzeitige, aggressive chirurgische oder strahlentherapeutische Behandlung genannt. Diese kann man für den Fall einer Malignisierung des Tumors in Reserve halten. Manche Chirurgen plädieren allerdings für eine frühzeitige Operation, besonders wenn der Tumor noch gut demarkiert ist. Anders ist es aber, wenn eine primär infiltrierend wachsende Geschwulst (wie beim Astrozytom Grad II des Erwachsenenalters) vorliegt. Es kann also keine generelle Therapieempfehlung gegeben werden. Die Entscheidung muss individuell für den einzelnen Patienten – und mit ihm und seiner Familie – getroffen werden.

fall so gewählt, dass der Seed (z.B. Jod 125) im Tumor verbleiben kann. Dennoch sind lokale Strahlenreaktionen relativ häufig. 11.4.3

Chemotherapie

Die systemische Chemotherapie von Hirntumoren wird in Analogie zur systemischen Chemotherapie anderer Malignome eingesetzt. Benutzt werden die gleichen Substanzen, besonders Nitroseharnstoffe (BCNU, ACNU, CCNU), Procarbazin, Mitosehemmstoffe wie VMZG, und Vincaalkaloide. Hierbei sind die systemischen Nebenwirkungen der Zystostatika zu berücksichtigen. Daneben habe viele Zytostatika eine eigene neurotoxische Aktivität, die ebenfalls bei der Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses der Chemotherapie bedacht werden muss. Bei der lokalen, intrathekalen Chemotherapie, zumeist mit MTX und/oder ARA-C durchgeführt, treten die systemischen

Hochgradig maligne Tumoren. Auch bei ausgedehnten, bislang asymptomatischen, hochmalignen Tumoren der Gliomreihe, besonders den bifrontal gelegenen Schmetterlingsgliomen, die sich über lange Zeit nur mit einer Wesensänderung, dem Auftreten von pathologischen Greifreflexen und einer Verlangsamung bemerkbar machen, steht man oft vor der Frage: Therapieversuch oder nicht? Die Patienten fühlen sich oft wohl, haben kein Krankheitsgefühl und wirken in keiner Weise gequält. Ob man dann, bei der bekannt schlechten Prognose (Überlebenszeit maximal 6 Monate) den Patienten noch eine maximale Therapie mit Biopsie, Bestrahlung, ggf. Chemotherapie (und entsprechend langem Krankenhausaufenthalt) zumuten soll, muss man ebenfalls genau abwägen. Wir entscheiden uns in diesen Fällen in Absprache mit den Neurochirurgen oft gegen die spezifische Therapie und behandeln antikonvulsiv, wenn Anfälle, und antiödematös, wenn Kopfschmerzen auftreten.

Nebenwirkungen zurück. Hier ist aber zu bedenken, dass intrathekale Chemotherapie und Strahlentherapie eine sich verstärkende neurotoxische Wirkung haben können und zur Strahlenleukenzephalopathie (7 Kap. 27.4.2) führen können. Dennoch kann man, gerade bei hochmalignen Tumoren mit ansonsten nur sehr geringer Überlebensdauer, die kombinierte Behandlung vertreten, da die zu erwartenden Nebenwirkungen erst mit großer, zeitlicher Latenz eintreten würden. 11.4.4

Hirndrucktherapie

Die Prinzipien der Hirndrucktherapie, die in 7 Kapitel 5 detailliert besprochen wurden, gelten auch hier. Die einzige Ausnahme ergibt sich für die Steroidtherapie. Beim vasogenen Ödem kann Dexamethason eine schnelle Ödemausschwemmung bewirken. Steroide stabilisieren die BlutHirn-Schranke und vermindern hierdurch weitere Ödementste-

307 11.5 · Astrozytäre Tumoren (Gliome)

hung. Dosierung: Initial 100 mg Dexamethason i.v., dann bis zu 6-mal 8 mg i.v. am Tag in absteigender Dosierung bis auf 4–8 mg alternierend, dazu Antazida oder Protonenpumpenhemmer wie Omeprazol. Unter Dexamethason tritt sehr schnell eine deutliche Besserung der Vigilanz, ein Rückgang der Kopfschmerzen und eine Besserung der neurologischen Herdsymptome ein. Während der Bestrahlung wird die niedrig dosierte Dexamethason-Behandlung (4–8 m/Tag) beibehalten. Bei inoperablen Tumoren des Hirnstamms und Kleinhirns kann zur Behandlung des Hirndrucks eine Shuntoperation erfolgen. 11.5

Astrozytäre Tumoren (Gliome)

Astrozytäre Tumoren werden, wie auch die Oligodendrogliome, die Ependymome und Plexustumoren, von neuroepithelialen Strukturen gebildet. 11.5.1

Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I)

Dies sind langsam wachsende, gut abgegrenzte Tumoren ganz überwiegend des Kindes- und Jugendalters, die hauptsächlich in Strukturen der Mittellinie, im Kleinhirn, Hirnstamm, Thalamus und im Sehnerven vorkommen. Obwohl sie pathologisch-anatomisch gutartig sind, können sie bei operativ unzugänglicher Lage klinisch bösartig sein. Sie bestehen oft aus einem soliden und einem zystischen Anteil. ä Der Fall Ein inzwischen 23 Jahre alter Student leidet seit 5 Jahren unter komplex-partiellen (psychomotorischen) Anfällen mit Amnesie, Nesteln, Schmatzen und Depersonalisierungsgefühl. Generalisierte Anfälle sind in dieser Zeit zweimal aufgetreten, die psychomotorischen Anfälle sind mit Carbamazepin relativ gut eingestellt. Im EEG findet sich immer ein links-temporobasaler Verlangsamungsfokus, hin und wieder auch interiktale Spitzenaktivität. Ein Computertomogramm, das vor vier Jahren angefertigt wurde, war als normal befundet worden. Die neurologische Untersuchung war immer regelrecht. Da der Patient immer noch 1- bis 2-mal pro Monat psychomotorische Anfälle hatte, wurde jetzt ein MRT durchgeführt. Das Kernspintomogramm zeigte den in . Abbildung 11.11 wiedergegebenen linkstemporalen Befund.

11.5.2

Astrozytom (WHO-Grad II)

3Epidemiologie und Lokalisation. Astrozytome sind Tumoren des mittleren Lebensalters. Sie finden sich in erster Linie in der Konvexität des Stirnhirns, etwas seltener im Schläfen- und Scheitellappen. Sie kommen aber auch im Thalamus, Mittelhirn und in der Brücke vor. Das Astrozytom Grad II wächst sehr lang-

11

sam und überschreitet selten große Sulci. Perifokale Ödembildung ist selten. Astrozytome können gut abgegrenzt und homogen, aber auch infiltrierend, mit zystischen Anteilen wachsen. Die Astrozytome der Großhirnhemisphären wachsen oft diffus infiltrierend und können bis in die Basalganglien reichen. Blutungen kommen praktisch nicht vor. Verkalkungen sind seltener als beim Oligodendrogliom. 3Symptomatik und Verlauf. Epileptische Anfälle können den neurologischen Herdsymptomen jahrelang vorangehen. In einem sehr hohen Prozentsatz tritt im Verlauf eine Malignisierung des Tumors auf. 3Diagnostik. Oft ist das Astrozytom im CT als Zone verminderter Dichte erkennbar, in der sich Tumor- und Ödemanteil selbst nach Kontrastmittelgabe in der Regel nicht differenzieren lassen. Es kommen aber auch Tumoren sowohl erniedrigter, hirngleicher als auch erhöhter Dichte ohne wesentliches Begleitödem vor. Eine geringe Dichtezunahme nach Kontrastmittelgabe ist möglich. Im MRT erscheinen sie als überwiegend in der weißen Substanz lokalisierte Läsionen mit mäßigem raumfordernden Effekt. Sie sind im T1-gewichteten Bild leicht hypointens (. Abb. 11.11) und im T2-Bild deutlich hyperintens und in ihrer Struktur homogen. Bei infiltrativem Wachstum fehlt oft ein raumfordernder Effekt, Kontrastmittelaufnahme ist, wenn überhaupt, nur in etwa 20% der Fälle schwach erkennbar. 3Therapie und Prognose 4 Kleinere Tumoren können, zumal bei frontaler Lokalisation, radikal entfernt werden. Die Gefäßarmut der Geschwülste begünstigt die Operation. Bei neuroradiologischem Verdacht auf ein diffuses Wachstum wird eine Biopsie durchgeführt. Maxime des neurochirurgischen Eingriffs ist die Vermeidung fokal neurologischer Defizite, auch zugunsten der Radikalität. 4 Hinsichtlich der postoperativen Strahlentherapie haben Studien gezeigt, dass eine Bestrahlung zwar die lokale Tumorkontrolle verbessert, jedoch keinen Vorteil hinsichtlich des Fünf- und Zehnjahresüberlebens bietet. Daher wird zunehmend ein abwartendes Verhalten favorisiert. 4 Kernspintomographische Verlaufskontrollen sollten alle 3– 6 Monate erfolgen. Wenn beim Kontroll-MRT ein Rezidiv gesehen wird, sollte die Strahlentherapie erfolgen, da dann davon auszugehen ist, dass es zur malignen Entartung eines Teils des Tumors gekommen ist. 4 Bei klinischer Verschlechterung oder einer Änderung der Kontrastmittelaufnahme kann eine erneute neurochirurgische Intervention geprüft werden. Heute wird die externe, stereotaktische Konvergenzbestrahlung bevorzugt. 4 Die Chemotherapie hat bei Astrozytomen WHO II erst beim Rezidiv nach Strahlentherapie Bedeutung. Wir kennen jahrzehntelange Verläufe, bei denen keine weiteren Symptome außer den Anfällen eingetreten sind.

308

Kapitel 11 · Hirntumoren

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Pilozytisches Astrozytom des Kleinhirns Dieser Tumor hat seine größte Häufigkeit zwischen dem 7. und 17. Lebensjahr. Er geht in der Regel vom Kleinhirnwurm aus, wölbt sich aber oft mit großen Zysten in eine Kleinhirnhemisphäre vor. Später kann der Tumor nach rostral wachsen und zur Einklemmung des Mittelhirns im Tentoriumschlitz führen. 3Symptomatik und Verlauf. Neurologische Symptome treten oft erst auf, wenn die Geschwulst schon eine beträchtliche Größe erreicht hat und vorübergehende Einklemmungserscheinungen verursacht. Die Patienten klagen über Schmerzen im Nacken, Hinterkopf und in der Stirn. Zerebrales Erbrechen ist häufig, da der Tumor auf die Medulla oblongata drückt. Der Kopf wird häufig zur Seite des Tumors geneigt, wobei das Kinn etwas zur Gegenseite angehoben ist. Beim Gehen und Stehen tritt Fallneigung und Abweichen zur Herdseite auf. Nystagmus und zerebelläre Ataxie fehlen fast nie. Der Nystagmus wird bei Blickwendung zur Seite des Tumors langsamer und grober. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. In CT und MRT zeigen diese Tumoren meist verminderte Dichte, zystische Anteile sowie Kontrastmittelanreicherung des soliden Tumorteils.

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3Therapie und Prognose. Die Tumoren sind meist gut operabel. Nach dem Eingriff bessern sich die Symptome rasch, und die Koordinationsstörungen werden kompensiert. Rezidive sind bei radikaler Entfernung nicht zu befürchten. Eine Zweitoperation ist möglich. Strahlentherapie oder Chemotherapie sind nicht indiziert. Pilozytische Astrozytome des Kleinhirns sind gutartige Tumoren im Kindes- und Jugendalter. Im CT und MRT erscheint ein scharf begrenzter Tumor mit Zystenbildung und Verkalkungen. Nach Resektion haben die Tumoren eine sehr gute Prognose. Pilozytische Astrozytome der Basalganglien, des Thalamus und des Hirnstamms Dies sind die häufigsten Tumoren der Mittellinienregion. Sie kommen, wie auch die unten besprochenen Optikusgliome, gelegentlich bei der Neurofibromatose Typ 1 (NF1, 7 Kap. 35) vor. Bei den NF1-assoziierten pilozytischen Astrozytomen scheinen zusätzliche Veränderungen des heterozygoten NF1-Gens mit einer Astrozytenproliferation und Malignisierung des Tumors einherzugehen.

ä Der Fall: Die Fortsetzung Bei dem Patienten liegt ein links-temporofrontal gelegener, im T1Bild hypointenser, im T2-Bild hyperintenser, leicht kontrastmittelaufnehmender Tumor vor, der nach Lage und MRT-Kriterien für ein

3Symptomatik und Verlauf. Die neurologischen Befunde sind oft nur spärlich, da die Tumoren das Nervengewebe lange Zeit intakt lassen. Da sie erst sehr spät zu Hirndruck führen, kann ihre Abgrenzung gegen eine Enzephalitis ohne MRT schwierig sein. Im Verlauf können sich, offenbar durch wechselnde Beeinträchtigung benachbarter Hirnanteile, schubartige Verschlechterungen mit Remissionen abwechseln. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Kleine Tumoren des Hirnstamms sind oft nur mit der MRT darstellbar. 3Therapie und Prognose. Die Tumoren werden mit mikrochirurgischen Methoden operiert. Eine komplette Entfernung ist meist nicht möglich, Resttumorwachstum und Rezidive sind daher die Regel. Die Tumoren sind nicht strahlensensibel. Die Prognose ist daher auf lange Sicht infaust. Optikusgliom (pilozytisches Astrozytom des N. opticus) 3Symptomatik und Verlauf. Das sog. Optikusgliom geht vom Sehnerven oder vom Chiasma aus. Die Geschwulst führt zu Kopfschmerzen und durch Behinderung des Blutabflusses aus dem Auge zum Exophthalmus. Gewöhnlich tritt primär eine Optikusatrophie mit Visusverfall ein. Der Tumor kann über das Chiasma auf den anderen Sehnerven übergreifen. Sitzt er primär in der Sehnervenkreuzung, wächst er sofort in beide Nn. optici ein. Dann sind doppelseitige Sehstörungen mit hypothalamischen Symptomen kombiniert. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Der Tumor stellt sich in CT und MRT mit Anschwellung des N. opticus und deutlicher Kontrastmittelaufnahme gut dar (. Abb. 11.10). 3Therapie und Prognose. Je nach Sitz und Ausdehnung ist eine orbitale oder intrakranielle Operation möglich, bei der allerdings oft ein Auge geopfert werden muss. Die Operation wird vor allem durchgeführt, um die Infiltration des Chiasma opticum und damit eine Sehstörung auf dem anderen Auge zu verhindern. Eine Bestrahlung kann diskutiert werden, wenngleich berücksichtigt werden muss, dass der N. opticus besonders strahlenempfindlich ist. Bei Ausdehnung des Tumors in die Hypophyse kann es zu endokrinologischen Störungen kommen. Bilaterale Tumoren sind inoperabel.

Astrozytom Grad II–III gehalten wurde. Dieser Befund bestätigte sich in der Operation, bei der es gelang, den Tumor zu entfernen. Auf den Folge-MRTs bislang kein Tumorrezidiv.

309 11.5 · Astrozytäre Tumoren (Gliome)

11

kann aufgrund des verdrängenden Wachstums dieser Tumoren und der relativ guten Abgrenzbarkeit eine Operation versucht werden. Bei Verschlusshydrozephalus wird ein Shunt angelegt. > Astrozytome Grad II sind gutartige Tumoren der Großhirnhemisphären, meist frontal oder temporal gelegen. Astrozytome können infiltrierend wachsen und werden im MRT sicher diagnostiziert. Wenn möglich, chirurgische Resektion.

11.5.4

. Abb. 11.10. Optikusgliom. Das Computertomogramm der Orbita zeigt den großen, homogenen, dichten Tumor in der rechten Orbita, der vom Optikus, dessen Durchtritt durch den Kanal am unteren Bildrand zu erkennen ist, ausgeht. Es besteht ein leichter Exophthalmus. (Nach Sartor 1992)

11.5.3

Ponsgliome

Ponsgliome bei Erwachsenen sind meist Astrozytome WHOGrad II oder III. Durch Infiltration in den unteren Hirnstamm und durch Druck auf den IV. Ventrikel sowie den Aquädukt werden sie symptomatisch und können zu lebensbedrohlichen Hirndruckkrisen führen. Im CT sieht man oft nur eine relative Vergrößerung des Durchmessers der Brücke. Im MRT lässt sich der Tumor abgrenzen. Aufgrund ihrer Lage sind Ponsgliome meist inoperabel, interstitielle Bestrahlung oder stereotaktische Bestrahlung können versucht werden. Ponsgliome des Kindes- und Jugendalters sind zumeist pilozytische Astrozytome Grad I. Hier

a

b

. Abb. 11.11a–c. Astrozytom. T1-Sequenz ohne (a) und mit (b) Kontrastmittel zeigen eine nicht homogene Hypointensität im rechten Temporallappen mit leicht raumfordernder Wirkung auf Inselrinde und

Anaplastisches Astrozytom (WHO-Grad III)

Diese histologisch malignen Tumoren wachsen fast immer infiltrierend und können multilokulär auftreten. Sie wachsen sehr rasch, sind gefäßreich, neigen zu Einblutungen und sind von einem erheblichen Begleitödem umgeben. Erkrankungsalter und Lokalisation sind dem Astrozytom Grad II vergleichbar, das nicht selten im Rezidiv anaplastisch wird. 3Symptome und Verlauf. Anaplastische Astrozytome sind durch ein rascheres Auftreten von Hirndruck und gehäufte Anfälle gekennzeichnet. In CT und MRT findet man deutlich kontrastmittelaufnehmende Tumoranteile, Zysten und ein ausgeprägtes Ödem. 3Therapie und Prognose 4 Standardtherapie ist die Tumorresektion oder -biopsie mit nachfolgender Strahlentherapie der erweiterten Tumorregion (54–60 Gy in 1,8–2 Gy-Fraktionen). 4 Aufgrund ihres infiltrierenden Wachstums ist eine komplette Resektion der Tumoren praktisch nicht möglich. Rezidive treten nahezu immer auf.

c Kortexband. Keine Kontrastmittelaufnahme. Im T2-Bild (c) ausgedehnte Hyperintensität dieses Bereiches als Ausdruck eines vasogenen Ödems. (M. Hartmann, Heidelberg)

310

Kapitel 11 · Hirntumoren

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Gliomatosis cerebri 3Lokalisation und Histologie. Die Gliomatose zeigt eine diffuse, manchmal symmetrische Einbeziehung beider Hemisphären mit Basalganglien und Mittellinienstrukturen in einen multilokulären Prozess. Histologisch findet man astrozytäre Tumoranteile Grad II bis IV. Für die Diagnose einer Gliomatose ist diffuses Wachstum neoplastischer Astrozyten in mehr als zwei Gehirnlappen Voraussetzung.

3Symptomatik. Aufgrund des infiltrativen Wachstums sind die raumfordernden Effekte wie auch die klinischen Symptome im Vergleich zur Ausdehnung des infiltrativ wachsenden Tumors oft erstaunlich gering. Allgemeinsymptome wie Antriebsmangel, Konzentrationsverlust und Gedächtnisstörungen, epileptische Anfälle und gering ausgeprägte, fokale neurologische Symptome können gefunden werden.

3Diagnostik. Radiologisch ist das gesamte Ausmaß der Tumorinfiltration nur im MRT festzustellen. Nur Teile der Gliomatose reichern Kontrastmittel an. Hier findet man dann in der Biopsie auch histologische Veränderungen, die einem Grad III entsprechen. Das CT bleibt bei den häufig isodensen Tumoranteilen ohne Kontrastmittelaufnahme unsicher. Der raumfordernde Effekt ist oft sehr gering.

3Therapie. Eine neurochirurgische Tumorverkleinerung kommt aufgrund des diffusen Wachstums nicht in Frage. Die Resultate der Strahlentherapie und der adjuvanten Chemotherapie sind bei dem seltenen Krankheitsbild nicht überzeugend. Die Überlebenszeit beträgt im Schnitt 1 Jahr.

4 Bei Patienten mit günstigen prognostischen Faktoren (i.e.

11

junges Alter und hoher Karnofsky-Index, histologischer Nachweis eines oligodendroglialen Tumoranteils) ist eine adjuvante Chemotherapie nach dem PCV-Schema (7 Kap. 11.6.2) eine therapeutische Option. 4 Beim (regelhaften) Auftreten eines Tumorrezidivs ist die Möglichkeit einer erneuten Operation und/oder Strahlentherapie zu prüfen. In dieser Rezidivsituation hat die Chemotherapie bisher ihre größte Bedeutung. 11.5.5

Glioblastom (Glioblastoma multiforme, WHO-Grad IV)

3Epidemiologie und Lokalisation. Das Glioblastom macht ca.

25% aller hirneigenen Tumoren aus. Die malignen Glioblastome sind die häufigsten Gliome. Sie treten bevorzugt nach dem 50. Lebensjahr auf. Männer sind fast doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Glioblastome wachsen vornehmlich in den Großhirnhemisphären. Sie gehen von der weißen Substanz aus. Die Tumoren wachsen infiltrierend, meist subkortikal, können aber auch die Rinde ergreifen. Sie finden sich in allen Hirnlappen, aber auch im Balken, von dessen Knie aus sie sich als Schmetterlingsgliome beiderseits in das frontale Marklager ausbreiten. Manchmal wachsen sie entlang des Fornix, im Thalamus, selten im mittleren Hirnstamm. Das rasche Wachstum der Glioblastome führt zur Bildung von pathologischen Gefäßen mit arteriovenösen Anastomosen. Die mangelhafte Ernährung des Tumors fördert den nekrotischen Zerfall des Gewebes. Die Glioblastome neigen zu Blutungen. Frühzeitig entwickelt sich ein peritumoröses Ödem, das oft zu einer Schwellung der ganzen Hemisphäre führt.

3Symptomatik und Verlauf. Charakteristisch ist das frühe Einsetzen von Kopfschmerzen und Hirndruckzeichen mit Übelkeit und Erbrechen. Anfälle sind selten, Lähmungen wegen der großen Ausdehnung von Tumor und Hirnödem häufig. Insultartige Verschlechterungen (apoplektisches Gliom) sind nicht selten. 3Diagnostik 4 Im CT zeichnen sich Glioblastome durch eine unterschiedliche Dichte, unscharfe Tumorbegrenzung sowie ein großes, begleitendes Marklagerödem aus. Nach Kontrastmittelgabe kommt es zu einer inhomogenen Anreicherung, vor allem in der Tumorrandzone, bei kleinen Tumoren als sog. Ringstruktur, bei größeren als Girlandenformation sichtbar. 4 Im MRT sieht man ausgedehnte Tumorinfiltrationen, zum Teil über den Balken hinweg. Solide Tumoranteile reichern stark Kontrastmittel an, Zysten, Blutungsreste und ein ausgedehntes, fingerförmiges Ödem im T2-Bild machen das MRT-Muster der Glioblastome relativ typisch. Dennoch kann die Abgrenzung von einer großen, nekrotischen Hirnmetastase schwierig sein. 4 Die Angiographie lässt in 60–70% eine Kontrastmittelanreicherung mit pathologischen Gefäßen erkennen. Die aus dem Tumor ableitenden Venen stellen sich schon während der arteriellen oder kapillaren Phase dar (»frühe Venen«). Es gibt keinen Grund, beim CT- oder MRT-Befund eines Glioblastoms den Liquor zu untersuchen. Wenn man es dennoch tut, darf man sich nicht dadurch verwirren lassen, dass im Liquor eine deutliche Eiweißerhöhung und manchmal auch eine Reizpleozytose festgestellt werden kann. 3Therapie und Prognose 4 Eine Radikaloperation des Tumors ist nicht möglich. Schon früh kann man auf dem (postoperativen) Kernspintomogramm gadoliniumanreichernde Rezidive identifizieren. Deshalb wird

311 11.5 · Astrozytäre Tumoren (Gliome)

nach möglichst weitgehender Entfernung des Tumorgewebes immer nachbestrahlt. 4 Als wesentliche prognostische Faktoren gelten: Lebensalter und Ausmaß der klinischen Beeinträchtigung zu Beginn der Therapie. Unter Bestrahlung und antiödematöser Therapie kann zunächst eine klinisch eindrucksvolle Besserung eintreten. Rezidive sind aber unvermeidlich. 4 Auch Chemotherapie wird zunehmend mit der Bestrahlung, besonders mit der Substanz Temozolomide, kombiniert oder nachfolgend eingesetzt, dennoch sind die Therapiechancen bei Gliompatienten gering. Die mittlere Überlebenszeit bei Glioblastompatienten des Grads IV (Glioblastom) liegt, in Abhängigkeit von den genannten prognostischen Faktoren, zwischen 6 und 12 Monaten. Wenn ein Patient mit Glioblastom länger als 2 Jahre überlebt, spricht dies bislang gegen die histologische Diagnose und nicht für die Qualität der Therapie. In der EORTC-Studie zur begleitenden und adjuvanten Chemotherapie mit Temozolomid zusätzlich zur Strahlentherapie des Glioblastoms wurdet eine geringe Erhöhung der medianen Überlebenszeit von 12,1 auf 14,6 Monate und der 2-Jahresüberlebensrate von 10% auf 26% gezeigt. Die interstitielle Chemotherapie mit BCNU zusätzlich zur Strahlentherapie zeigte einen geringen Zugewinn an medianer Überlebenszeit von 11,6 auf 13,9 Monate und beeinflusst das mediane progressionsfreie Überleben nicht.

ä Der Fall Ein 65-jähriger Rentner sucht wegen seit wenigen Wochen bestehender Kopfschmerzen und einer progredienten Lähmung des linken Arms sowie einer Störung des Gesichtsfelds seinen Hausarzt auf, der ihn zur Computertomographie überweist. Das CT zeigt den in Abb. 11.12a wiedergegebenen Befund. In der rechts-okzipital raumfordernden Läsion ist randständig eine kompakte Blutung, die auch Anschluss an das Ventrikelsystem gefunden hat, zu erkennen. Bei der Aufnahme in die Neurologische Klinik sind eine leichtgradige armbetonte Hemiparese auf der linken Seite, eine Hemianopsie nach links und eine allgemeine Verlangsamung des Patienten festzustellen. Unter Behandlung mit Dexamethason gehen die Kopfschmerzen innerhalb von Stunden zurück, auch die Parese bessert sich. Die MR-Befunde sind in . Abb. 11.12b,c wiedergegeben. In Anbetracht der Ausdehnung des Befundes und der typischen, computertomographischen Morphologie wird der Patient ohne Biopsie primär bestrahlt, eine Chemotherapie wird angeschlossen. Nach 4 Monaten kommt er erneut zur Aufnahme. Die Hemiparese ist schwer, die Hemianopsie besteht weiter, der Patient hat aufgrund der Dauerbehandlung mit Dexamethason ein CushingSyndrom. Er ist aspontan, tief somnolent, hat doppelseitige Pyramidenbahnzeichen, und eine Cheyne-Stoke-Atmung. Unter analgetischer/anxiolytischer Therapie verstirbt der Patient innerhalb von 3 Tagen an der Einklemmung.

> Glioblastome sind die häufigsten malignen Hirntumoren des Erwachsenenalters. Mit subtotaler Resektion, Bestrahlung, Zytostase und Kortikoiden kann man das Leben der Kranken um einige Monate verlängern.

a

b

. Abb. 11.12a–c. Glioblastoma multiforme. a CT ohne KM mit Einblutung (Pfeil) und massiver raumfordernder Wirkung bei z.T. hypodensen und isodensen Tumoranteilen, b MRT T2 mit inhomogener, über-

c wiegend hyperintenser Struktur und c deutlicher inhomogener Kontrastmittelaufnahme. (M. Hartmann, Heidelberg)

11

312

Kapitel 11 · Hirntumoren

11.6

Oligodendrogliale Tumoren

11.6.1

Oligodendrogliome (WHO-Grad II)

3Epidemiologie und Lokalisation. Oligodendrogliome sind verhältnismäßig ausgereifte Geschwülste. Sie treten gehäuft im mittleren Lebensalter (30 bis 45 Jahre) auf. Die Tumoren wachsen in den Hemisphären langsam infiltrierend vom Mark aus in die Hirnrinde ein und treiben sie auf. Bevorzugte Lokalisationen sind das laterale Stirn- und Parietalhirn, die basale, frontale und temporale Rinde, die Parasagittalregion sowie Balken und Septum pellucidum. Okzipital kommen die Oligodendrogliome, wie alle Gliome, nur sehr selten vor. 3Symptomatik und Verlauf. Die Krankheitsdauer erstreckt sich im Durchschnitt über 4–5 Jahre. Häufig sind fokale oder generalisierte Anfälle das erste Symptom, was sich aus dem diffusen Einwachsen in die Hirnrinde erklärt. Später entwickeln sich langsam die neurologischen Herdsymptome, die der Lokalisation entsprechen. Tumoreinblutungen können akute Verschlechterungen bedingen. Hirndruck tritt erst spät ein.

11

3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Die Nativröntgenaufnahme des Schädels zeigt gelegentlich eine Verkalkung, deren Art allerdings nicht für Oligodendrogliome spezifisch ist. Weitaus häufiger sind kleinere Verkalkungen von Oligodendrogliomen im CT erkennbar. Im MRT sind die Tumoren im T1-Bild meist hypointens, im T2-Bild hyperintens. Ihre Morphologie ist sehr uneinheitlich, mit Zysten, Verkalkungen und solideren Tumoranteilen. Die Dichte des Tumors zeigt wenig Abweichung von der des normalen Hirngewebes. Kontrastmittel wird in der Regel erst bei höherem Malignitätsgrad aufgenommen. Zystische Tumoranteile kommen vor. Immer wieder findet man frische Einblutungen. 3Therapie und Prognose 4 Auch Oligodendrogliome werden so vollständig wie möglich operiert. Die Lokalisation des Tumors setzt einem chirurgischen Eingriff oft, zumal bei Sitz in der dominanten Hemisphäre, enge Grenzen. 4 Postoperative Rezidive sind häufig. Nicht selten ergibt die histologische Aufarbeitung oligoastrozytäre Mischtumoren. Die oligodendrogliale Tumorkomponente scheint i.Vgl. zu den rein astrozytären Tumoren die bessere Prognose zu bedingen. 4 Therapeutisch wird wie bei den Astrozytomen vorgegangen. Oligodendrogliome sprechen auf Strahlen- und insbesondere Chemotherapie besser an als rein astrozytäre Tumoren. 4 Die PCV-Therapie (s. u.) ist Standard > Oligodendrogliome sind histologisch gutartige, aber schlecht abgegrenzte Hemisphärentumoren, die nach operativer Behandlung zu Rezidiven neigen. Beim Rezidiv ist eine Chemotherapie sinnvoll.

11.6.2

Anaplastische Oligodendrogliome (WHO Grad III)

Beim anaplastischen Oligodendrogliom sind die Kriterien der Malignität erfüllt. Es wächst infiltrierend und kann multilokulär auftreten. Die mediane Lebenserwartung nach Diagnosestellung beträgt 2–10 Jahre. Molekulare Veränderungen wie Verlust der Chromosomenabschnitte 19q und 1p scheinen nach retrospektiven Studien von prognostischer Bedeutung zu sein. 3Diagnostik. Das Bild der Oligodendrogliome ist gekennzeichnet durch hyperdense und hypodense Anteile im CT (Kalk), variable Befunde mit hyperintensen und hypointensen Signalen im MRT und eine fleckige Kontrastaufnahme in CT und MRT (. Abb. 11.13) 3Therapie. Nach der Operation wird bei Indikation zu einer adjuvanten Therapie, insbesondere bei jüngeren Patienten, aufgrund der höheren Chemosensitivität zunächst einer Chemotherapie, meist nach dem PCV-Schema gestellt. Man gibt: 4 CCNU 110 mg/m2 KO oral am Tag 1, 4 Vincristin 1,4 mg/m2 KO intravenös am Tag 8, 4 Procarbazin 60 mg/m2 KO täglich oral Tag 8 bis 21, 4 Vincristin 1,4 mg/m2 intravenös am Tag 29. Dieser Zyklus wird alle 8 Wochen 6 bis 8-mal wiederholt. Ondansetron (Zofran®) wird als Antiemetikum gegeben. In der RTOG-Studie zeigte sich im Vergleich zu alleiniger Strahlentherapie anaplastischer eine Verlängerung der progressionsfreien Überlebenszeit, nicht jedoch der Gesamtüberlebenszeit, wenn die PCV-Chemotherapie der Strahlentherapie direkt vorgeschaltet wird (sequentielle Chemotherapie). 11.7

Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II)

3Epidemiologie und Lokalisation. Ependymome sind die

häufigsten Großhirngeschwülste des Kindes- und Jugendalters. Sie kommen auch bei Erwachsenen vor, sind dann aber weit mehr in der hinteren Schädelgrube und im Spinalkanal lokalisiert. Die Ependymome wachsen langsam, bis zu Apfelgröße, entweder in die Ventrikel ein oder verdrängen von der Ventrikelwand aus das benachbarte Hirngewebe. Sie sitzen bevorzugt im IV. Ventrikel (. Abb. 11.14). An Häufigkeit folgen die Seitenventrikel vor dem III. Ventrikel. Hydrocephalus occlusus ist häufig. Histologisch sind sie semimaligne. Die Oberfläche der Tumoren ist blumenkohlartig, was die Gefahr mit sich bringt, dass bei der Operation Zotten abreißen und sich Abtropf-Metastasen bilden. Im Innern der Geschwülste finden sich häufig Zysten. Verkalkungen kommen besonders bei Sitz im Seitenventrikel vor. Anaplastische Ependymome sind aggressiver und entsprechen

313 11.7 · Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II)

a

b

. Abb. 11.13a–c. Oligodendrogliom. Links temporales Oligodendrogliom mit hyperintensen und hypointensen Signalen im MRT in T2- (a)

11

c und T1-Sequenzen (b) sowie fleckiger Kontrastaufnahme (c, Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

. Abb. 11.14. Ependymom des IV. Ventrikels. Starker Hydrocephalus occlusus. MRT mit Kontrastmittel in axialer und sagittaler Schichtführung. Kasuistik: 28-jähriger Mann mit akut einsetzenden Kopfschmerzen, Zwangshaltung des Kopfes und nur leichter zerebellärer Ataxie. (A. Thron, Aachen)

einem WHO-Grad III. Sie wachsen destruierend und neigen zu Rezidiven. 3Symptomatik und Verlauf. Lokalsymptome nach Lage des Tumors, Entsprechend der Primärlokalisation ist ein Hydrozephalus mit Hirndruckzeichen häufig. Spinale Absiedlung kann Querschnittsymptome verursachen. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie 4 Ependymome zeichnen sich computertomographisch durch eine häufig erhöhte Dichte und deutliche Kontrastmittelaufnahme aus. Sie sind in der Regel scharf begrenzt und von einem geringen Ödem umgeben. 4 Im MRT erkennt man die Tumoren nahe am Seitenventrikel, oft intraventrikulär als zystische, kontrastmittelaufnehmende Läsion, die iso- oder hypointens in T1- und hyperintens im T2-Bild

ist. Nekrosen (niedriges Signal im T1) sind möglich. Im MRT lassen sich die Beziehungen zum Hirnstamm und spinale Absiedlungen gut nachweisen. Tumorzellen im Liquor sprechen für eine metastatische Absiedlung. 3Therapie und Prognose 4 Häufig muss wegen des Hydrozephalus zunächst ein Shunt gelegt werden. 4 Totale Resektion ist nicht immer möglich, aber von hoher prognostischer Bedeutung. 4 Es ist strittig, ob nach chirurgisch vollständiger Entfernung eines Ependymoms sofort eine Strahlenbehandlung durchgeführt werden soll. Dies richtet sich nach dem histologischen Befund. Bei inkomplett resezierten Tumoren und bei Ependymomrezidiven (unabhängig vom Malignitätsgrad) erfolgt eine Bestrahlung.

314

Kapitel 11 · Hirntumoren

Leitlinien Diagnostik und Therapie Maligne Hirntumoren*

11

4 Früherkennung und Prävention besitzen bei Gliomen keinen relevanten Stellenwert (B). 4 Diagnostische Methode der Wahl bei Verdacht auf ein Gliom ist die MRT ohne und mit Kontrastmittel (⇑/A). 4 Nur in sehr seltenen Ausnahmen sollte auf die histologische Diagnosesicherung verzichtet werden (A). 4 Histologische Diagnosen sollten sich an der aktuellen WHO-Klassifikation orientieren (A). 4 Molekulare Marker sollten (noch) nicht zur Entscheidung über Strahlen- und Chemotherapie herangezogen werden (B). 4 Die Vermeidung neuer permanenter neurologischer Defizite hat bei der Operationsplanung Vorrang gegenüber der operativen Radikalität (B). 4 Die Ganzhirnbestrahlung ist in der Therapie umschriebener Gliome obsolet (⇑/A). 4 Bioptisch/operativ gesicherte diffuse Astrozytome (WHOGrad II), die klinisch bis auf zerebralorganische Anfälle asymptomatisch sind, werden beobachtet (wait and see), insbesondere bei jüngeren Patienten ( Medulloblastome sind maligne Tumoren, die vom Kleinhirnwurm ausgehen und in den Liquorraum metastasieren können. Operation und anschließende Bestrahlung des gesamten ZNS führen zu einer relativ günstigen Prognose.

317 11.8 · Primitiv neuroektodermale Tumoren

Facharzt

Keimzelltumoren 3Einteilung und Dignität. Germinome und Teratome sind die häufigsten Keimzelltumoren. Seltene, andere Tumoren sind das embryonales Karzinom, der Dottersacktumor und das Chorionkarzinom. Keimzelltumoren sitzen in der Epiphysenregion oder im Infundibulum des Hypothalamus und dehnen sich von der Vierhügelregion, seltener auch vom Infundibulum der Hypophyse, paraventrikulär unter dem Ependym aus, gelegentlich auch in den III. Ventrikel hinein. Es sind seltene, semibis hochmaligne Tumoren des Kindes- und Jugendalters. Die ätiologische Zuordnung erfolgt praktisch immer histologisch.

3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Im CT und MRT stellen sie sich homogen kontrastmittelaufnehmend dar. Germinome können im MRT die gleiche Signalgebung wie Hirngewebe haben, reichern aber massiv Kontrastmittel an. Differentialdiagnostisch muss auch die Metastasierung eines Seminoms, das histologisch ähnlich sein kann, ausgeschlossen werden. Mit dem Alpha-Fetoprotein (erhöht bei Dottersacktumor und embryonalem Karzinom), Beta-HCG (erhöht beim Chorionkarzinom) und PLAP (erhöht beim Germinom) stehen Tumormarker zur Verfügung.

3Symptomatik und Verlauf. Psychisch sind die Patienten zunächst reizbar, später, mit zunehmendem Hirndruck, gleichgültig und im Antrieb vermindert. Die Behinderung des Liquorabflusses im Aquädukt führt frühzeitig zu Kopfschmerzen und Stauungspapillen, die bald in Atrophie übergehen. Hypothalamische Symptome (Diabetes insipidus und Pubertas praecox) können durch Druck (III. Ventrikel) oder durch lokales Tumorwachstum hinzutreten.

3Therapie und Prognose. Die Therapie ist kombiniert chirurgisch/strahlentherapeutisch. Eine Radikaloperation ist oft nicht möglich. Bei Germinomen wird – bei positivem Tumormarkernachweis – eine Chemotherapie der Operation und der Strahlentherapie mit gutem Erfolg vorangestellt. Germinome sind hochgradig strahlensensibel (ZNS-Bestrahlung mit 30 Gy, danach lokale Aufsättigung). Die Therapie führt zur vollständigen Remission. Bei Hydrozephalus wird ein Shunt angelegt. Die hochmalignen Dottersacktumoren werden mit einer Chemotherapie aus Vincristin, Ifosfamid und Cisplatin nachbehandelt.

. Abb. 11.16. Infratentoriell wachsender, bis nach zervikal reichender Tumor im MRT mit Kontrastmittel. Die Differentialdiagnose ist zwischen Ependymom und Medulloblastom zu stellen. Histologie: Medulloblastom. Oben: Zystische Komponente (offener Pfeil); solide Komponente (geschlossener Pfeil). Unten: zystische Komponente (offener Pfeil); solide Komponente (großer Pfeil). Rechts unten komprimiertes Rückenmark (kleiner Pfeil). (A. Thron, Aachen)

11

318

Kapitel 11 · Hirntumoren

ä Der Fall Ein 8-jähriger Schüler wird wegen häufiger Kopfschmerzen, morgendlichen Erbrechens und Sehstörung zum Hausarzt geschickt. Dieser verweist die Familie zunächst an einen Augenarzt, der in Atrophie übergehende, hochgradige Stauungspapillen feststellt. Ein Nervenarzt, der den ophthalmologischen Befund nicht kennt (und keine Augenspiegelung vornimmt) interpretiert Kopfschmerzen und morgendliches Erbrechen als Ausdruck einer Verhaltensstörung. Der Hausarzt, alarmiert durch den augenärztlichen Befund, veranlasst eine Computertomographie, in der eine raumfordernde Läsion des Kleinhirns mit erheblichem Hydrozephalus festgestellt wird. Er weist den Patienten in die Neurochirurgie ein. Das MRT zeigt den in . Abbildung 11.16 wiedergegebenen Befund. Der Patient wird sofort mit einer Liquoraußenableitung versorgt und zwei Tage später operiert. Das histologische Präparat bestätigt die Verdachtsdiagnose eines Medulloblastoms. Trotz makroskopisch vollständiger Resektion wird eine Nachbestrahlung von Gehirn und Rückenmark veranlasst. Der Junge ist jetzt 15 Jahre alt und noch immer rezidivfrei.

11

11.9

Mesenchymale Tumoren

11.9.1

Meningeome

3Epidemiologie und Lokalisation. Meningeome machen etwa 15–20% aller intrakraniellen Tumoren aus. Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. Etwa 2% der Patienten haben multiple Meningeome. Meningeome sind gut abgegrenzte Tumoren, die vom arachnoidalen Deckendothel der Pacchioni-Granulationen ausgehen. Sie machen sich erst im mittleren und fortgeschrittenen Lebensalter bemerkbar (Häufigkeitsgipfel um 50 Jahre). Meningeome wachsen gegen das Gehirn verdrängend, dagegen infiltrieren sie die Dura und den benachbarten Knochen, mit denen sie bei der Operation oft fest verbacken sind. Im Knochen der Schädelkalotte oder -basis rufen sie gelegentlich umschriebene Destruktionen oder reaktive Hyperostosen, auch in Form der sog. Spiculae, hervor. Sie werden vorwiegend von Ästen der A. carotis externa versorgt. Ihr Wachstum ist äußerst langsam, so dass sich auch bei großer Ausdehnung des Tumors erst sehr spät Hirndruck einstellt. Manche Meningeome werden mit ganz geringer Symptomatik überlebt oder finden sich als Zufallsbefund bei einer aus anderen Gründen durchgeführten CT oder bei der Obduktion. Nicht selten sind die Meningeome fleckförmig oder diffus verkalkt. Fast immer sind sie sehr gefäßreich. 3Symptome. Für alle Meningeome ist das Auftreten einer Spätepilepsie und die langsame Entwicklung von neurologischen Herdsymptomen charakteristisch (7 Exkurs).

3Diagnostik 4 Computertomographisch sind Meningeome durch ihre primär erhöhte Dichte, die scharfe Begrenzung und eine in der Regel homogene und intensive Kontrastmittelverstärkung erkennbar (. Abb. 11.17 und 11.18 geben typische Beispiele). Über die Hälfte der Fälle zeigt ein perifokales Ödem. Ferner können Verkalkungen im Tumor dargestellt werden. 4 MRT: Meningeome sind auf T1-gewichteten Darstellungen meist hirnisointens und können auch in T2-Sequenzen isointens sein, häufiger aber leicht hyperintens. Ödeme sind selten. Sie nehmen massiv Kontrastmittel auf, außer im zystischen oder verkalkten Tumoranteil. Die Signalheterogenität, die man manchmal sieht, ist auf die Zysten und Verkalkungen zurückzuführen. 4 In der Angiographie, bei der man auch den Kreislauf der A. carotis externa darstellt, über die Teile des Tumors gewöhnlich versorgt werden, findet man dann eine homogene Anfärbung, einen »Gefäßnabel« (. Abb. 11.5) und große, abführende Venen. 3Therapie und Prognose 4 Etwa 3/4 der Patienten mit Meningeom können chirurgisch radikal operiert werden. Ist der Sinus sagittalis superior im vorderen Drittel verschlossen, kann er reseziert werden. 4 Bestehen Beziehungen zu großen Gefäßen oder zum Hirnstamm, ist nur Teilresektion nach Embolisation möglich. 4 Eine radikale Operation ist nicht möglich, wenn die Schädelbasis invadiert ist, große hirnversorgende Arterien vom Tumor ummauert sind oder breites Einwachsen in venöse Blutleiter oder Schädelbasisstrukturen vorliegt. 4 Meningeome können rezidivieren. Rezidive sind häufiger bei schädelbasisnahen Meningeomen. 4 Die präoperative Embolisation größerer, zuführender Gefäße mit einer partiellen Nekrose im Meningeom hat die Operationsmorbidität weiter gesenkt (. Abb. 11.5). 4 Obwohl Meningeome, mit Ausnahme der anaplastischen Meningeome und der Meningosarkome, histologisch gutartig sind und als nicht strahlensensibel gelten, werden unvollständig operierte (oder inoperable) Meningeome heute häufig, besonders bei schädelbasisnaher Lage strahlentherapeutisch behandelt. Die Literatur zu diesem Vorgehen ist keineswegs überzeugend. 11.9.2

Anaplastische Meningeome

Sehr selten sind maligne Meningeome, die histologisch als anaplastische Meningeome oder als Meningosarkome vorkommen. Bei ihnen ist das Hirnödem oft ausgedehnter und das Wachstum schneller. > Meningeome sind die häufigsten mesenchymalen umoren. Sie sind fast immer gutartig und in CT und MRT leicht zu diagnostizieren. Die vollständige Operation ist oft möglich, manchmal nach präoperativer Embolisation.

319 11.10 · Nervenscheidentumoren

. Abb. 11.17 a–d. Meningeome. a Falxmeningeom mit perifokalem Ödem, b mediales Keilbeinflügelmeningeom, c Konvexitätsmeningeom mit ausgedehntem, perifokalen Ödem und deutlicher Verlagerung der Mittellinienstrukturen, d Meningeom der hinteren Schädelgrube (Tentor iummeningeom) mit Verlagerung des IV. Ventrikels und beginnendem Hydrocephalus occlusus. (H. Brückmann, München)

a

b

c

d

. Abb. 11.18. a Axiales MRT, T1-gewichtete Darstellung nach paramagnetischer Kontrastverstärkung. Es kommt zum homogenen Signalanstieg des etwa mandarinengroßen Tumors, der zu einer Verlagerung der Mittelstrukturen und des dritten Ventrikels geführt hat, b MRT, T1-gewichtete Aufnahmen nativ. Stark raumfordernder fronto-temporaler, gegen das Hirnparenchym gut abgegrenzter Tumor, der das Ventrikelsystem nach oben und hinten verlagert. Das Tumorgewebe ist überwiegend hirnisointens. Im Tumor und am Tumorrand sind Gefäße zu erkennen. (K. Sartor, Heidelberg)

a

b

11

320

Kapitel 11 · Hirntumoren

Exkurs Symptome von Meningeomen bei besonderen Lokalisationen 4 Parasagittale Meningeome: Ein Viertel aller Meningeome wächst parasagittal in der Nachbarschaft des Sinus sagittalis superior. Die Geschwülste gehen von dem Winkel zwischen der Dura der Konvexität und dem Sinus aus und wachsen verdrängend vorwiegend nach unten. Falxmeningeome sitzen, der großen Duraduplikatur zwischen den beiden Hemisphären breit anliegend, tief im rostralen Abschnitt der Fissura interhemisphaerica. Sie sind meist noch vom Hirnmantel überdeckt und haben keine unmittelbaren Beziehungen zur Schädelkalotte. 4 Frontale Meningeome führen zum Stirnhirnsyndrom. 4 Konvexitätsmeningeome liegen bevorzugt vor der Zentralfurche. Zunächst treten fokale Anfälle auf, später Hemiparese. 4 Keilbeinflügelmeningeome des großen oder kleinen Keilbeinflügels wachsen meist in die vordere, selten in die mittlere Schädelgrube ein. Wir unterscheiden mediale und laterale Keilbeinmeningeome. Die medialen wachsen halbkugelförmig nach oben. Sie rufen früh Schmerzen in der Augenhöhle oder mittleren Stirn hervor. Durch Kompression des Sehnerven im Canalis nervi optici führen sie zur primären Optikusatrophie mit Erblindung und amaurotischer Pupillenstarre. Druck auf den Sinus cavernosus behindert den venösen Abfluss aus der Orbita, so dass es zum einseitigen, nichtpulsierenden Exophthalmus kommt (Abgrenzung vom pulsierenden Exophthalmus bei Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel; 7 Kap. 8.4.2). An-

11

ä Der Fall Ein 68 Jahre alter Mann wird in die Klinik gebracht, nachdem er bewusstlos zu Hause gefunden wurde. Angehörige und Nachbarn berichten, dass er in den letzten 2 Jahren zunehmend interessenlos und in sich gekehrt gewesen sei. Er sei sehr langsam geworden und man habe erhebliche Gedächtnisstörungen bemerkt. Aus der Vorgeschichte ist bekannt, dass der Patient einen Herzinfarkt hatte und in den vergangenen Jahren mehrfach flüchtige Hirndurchblutungsstörungen gehabt haben soll. Eine Überweisung zu einem Neurologen habe er stets abgelehnt. Seit 2–3 Wochen habe sich sein Zustand ständig verschlechtert. Bei Aufnahme beträgt der Blutdruck 220/100 mmHg, der Puls ist arrhythmisch mit einer Frequenz um 100/min. Der Patient ist somnolent, aspontan und spricht kaum. Er reagiert verlangsamt, aber gezielt auf Schmerzreize. Keine Stauungspapille. Das BabinskiZeichen ist beidseits positiv, und der Patient zeigt orale Greifreflexe. Die Laboruntersuchung bei Aufnahme zeigt einen erhöhten Blutzucker mit 280 mg/dl, leicht erhöhte Nierenretentionswerte und eine normozytäre Anämie. Zusatzdiagnostik und neuroradiologische Untersuchungen: Die Duplexsonographie zeigt bilateral geringgradige arteriosklerotische Veränderungen am Interna-Abgang, der transkranielle Doppler einen normalen Blutfluss in der

6

dere Hirnnerven, die durch die Fissura orbitalis cerebralis ziehen, vor allem der äußere N. oculomotorius, der N. trochlearis und der N. supraorbitalis (V 1), werden beteiligt. Die lateralen Keilbeinmeningeome wachsen häufig beetartig. Sie infiltrieren Dura und Schädelknochen und rufen dadurch reaktive Knochenverdichtungen im hinteren Anteil der Orbita, am äußeren Orbitalrand und in der Fossa temporalis hervor. Ihr erstes Symptom ist ein umschriebener Schläfenkopfschmerz. Bald entwickelt sich in vielen Fällen eine Anschwellung der Schläfenregion. 4 Meningeome der Olfaktoriusrinne sitzen der Lamina cribriformis des Siebbeins auf. Diese Meningeome lädieren den Tr. olfactorius und den N. opticus und drängen das Frontalhirn von basal nach oben. Zunächst kommt es zur Hyposmie, dann zur einseitigen Anosmie. Danach entsteht durch Kompression eine einseitige Optikusatrophie mit Amaurose und Pupillenstarre. Später wird die Anosmie doppelseitig. Schließlich tritt psychopathologisch ein Stirnhirnsyndrom auf, und es entwickelt sich kontralateral eine Stauungspapille (Kennedy-Syndrom, das aber äußerst selten ist). 4 Meningeome des Tuberculum sellae sitzen, von der Wand des Sinus cavernosus ausgehend, am Vorderrand der Sella turcica. Sie drängen mit zunehmendem Wachstum gegen das Chiasma (bitemporale Hemianopsie) und den basalen Frontallappen. 4 Kleinhirnbrückenwinkelmeningeome wachsen von der Pyramidenspitze aus in die mittlere Schädelgrube und haben eine ähnliche Lage und Symptomatik wie das Akustikusneurinom (s. u.).

A. cerebri media. Das EEG ist mäßig allgemeinverändert mit einem kontinuierlichen Verlangsamungsfokus über der linken Frontotemporalregion, aber ohne epilepsietypische Potentiale. In der MRT sieht man den in . Abbildung 11.18 wiedergegebenen Befund. Die Risikofaktoren ließen den Verdacht auf eine vaskuläre Demenz aufkommen. Der Patient hatte sich der weiterführenden Diagnostik entzogen, so dass ein behandelbares, inzwischen sehr groß gewordenes Meningeom über Jahre unentdeckt bleiben konnte. Der Patient wurde nach neuroradiologischer Embolisation operiert und erholte sich bemerkenswert gut. Antrieb und Interessenslage verbesserten sich, und der Patient konnte sich anschließend wieder selbst versorgen.

11.10

Nervenscheidentumoren

11.10.1

Akustikusneurinom

3Epidemiologie und Lokalisation. Neurinome (Schwannome) bevorzugen das mittlere Lebensalter. Sie finden sich am häufigsten am VIII. Hirnnerven. Der Name »Akustikusneurinom« ist eigentlich falsch, denn die Neurinome gehen vom vestibulären Anteil des VIII. Hirnnerven aus. In 2,5% sind sie dop-

321 11.10 · Nervenscheidentumoren

11

Exkurs Weitere Symptome bei Akustikusneurinom 4 Vestibuläre Reizsymptome treten als unsystematischer Schwindel, gelegentlich mit Abweichen oder Fallneigung zur Seite des Herdes auf. Oft bleiben sie ganz aus (einseitiger, unbemerkter Vestibularisausfall). Im Anfangsstadium überwiegt der periphere Vestibularisausfall mit gleichseitiger kalorischer Unter- oder Unerregbarkeit des Labyrinths und nach kontralateral gerichtetem Spontannystagmus. In 95% der Fälle findet sich ein pathologischer Nystagmus. Im fortgeschrittenen Stadium, wenn die Brücke geschädigt ist, treten Blickrichtungsnystagmus, optokinetische Störungen und richtungswechselnder Lagenystagmus hinzu. 4 Druck auf den N. trigeminus führt zu Missempfindungen im Versorgungsgebiet des 2. und 1. Astes, später zu Hypästhesie. Der Kornealreflex erlischt frühzeitig. Eine Trigeminus-

pelseitig, besonders bei Neurofibromatose Typ 2. Die Neurinome des VIII. Hirnnerven wachsen in den Kleinhirnbrückenwinkel. Sie verdrängen die Brücke nach seitwärts, so dass dort sekundäre, ischämische Erweichungen entstehen. Das Kleinhirn wird nach oben und unten gedrückt, auch die benachbarten Hirnnerven werden geschädigt. 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome des Akustikusneurinoms entwickeln sich oft über viele Jahre. Die Krankheit beginnt mit Hörstörungen. Im Anfangsstadium klagen die Patienten über einseitige Hörverschlechterung besonders für hohe Frequenzen, z.B. beim Telefonieren, und über Ohrgeräusche.

3Diagnostik. Otologisch besteht im Anfangsstadium eine vestibuläre Untererregbarkeit, später wird das Labyrinth unerregbar. Der Hörbefund ist durch pankochleäre Innenohrschwerhörigkeit mit meist fehlendem Lautheitsausgleich (Recruitment) gekennzeichnet. Wenn ausnahmsweise das Recruitment positiv ist, beruht das auf sekundärer Haarzellschädigung infolge Stauung oder Mangeldurchblutung. Durch die BAEP ist eine Unterscheidung zwischen kochleärer und retrokochleärer Hörstörung möglich. Im CT findet man eine einseitige Erweiterung des Porus acusticus internus, manchmal auch Destruktion der Spitze des Felsenbeins. Das MRT zeigt zuverlässig die intrakanalikulären und Kleinhirnbrückenwinkel-Portionen der Neurinome (. Abb. 11.19a). Die Schwannome reichern homogen Kontrastmittel im CT und MRT an. Auch kleine Akustikusneurinome sind zuverlässig im MRT nachzuweisen. Nur noch selten findet man sehr große, raumfordernde Neurionome wie in . Abbildung 11.19b dargestellt. Frühzeitig findet sich im EMG der mimischen Muskeln Denervierungsaktivität sowie eine einseitige efferente Veränderung beim Blinkreflex. Bei großen Tumoren ist das Eiweiß im Liquor stark erhöht.

neuralgie gehört nicht zum Syndrom. Die Lähmung des motorischen Trigeminus ist selten. 4 Der N. facialis wird oft peripher gelähmt. Als peripheres Reizsymptom kann auch ein Fazialisspasmus auftreten. 4 Der N. abducens wird indirekt durch Zug oder durch Kompression von Brückenästen der A. basilaris betroffen. Die kaudalen Hirnnerven sind nur in Ausnahmefällen gelähmt. 4 Bei fortgeschrittenen Fällen, die man heute nur noch selten sieht, entsteht Druck auf die Brücke und den mittleren Kleinhirnstiel mit gleichseitiger Beinataxie. 4 Kopfschmerzen sind anfangs im Hinterkopf lokalisiert, später diffus. Mit zunehmender Behinderung der Liquorpassage entwickelt sich ein allgemeiner Hirndruck mit Stauungspapille und Pyramidenbahnzeichen.

3Therapie und Prognose. Die Operation wird von subokzipital her vorgenommen. 4 Nur durch Frühoperation können N. facialis und N. statoacusticus erhalten werden. 4 Intrakanalikuläre Tumoren, die zu einem Hörverlust geführt haben, werden durch das Innenohr HNO-chirurgisch operiert. Die im Kleinhirnbrückenwinkel gelegenen Tumoren werden transkraniell operiert. Das Erhalten des Restgehörs ist ein Ziel dieser Operation. Dennoch kommt es bei den meisten Patienten zu postoperativem Hörverlust. 4 Auch der N. facialis kann bei der Operation lädiert werden. Patienten mit bilateralen Akustikusschwannomen bei Neurofibromatose Typ 2 werden auch operiert, wenn der Hörverlust schon vollständig ist. Bei intrakanalikulären Tumoren und erhaltenem Restgehör wartet man, solange es möglich ist. ä Der Fall Ein 50-jähriger Beamter klagt über einen fortschreitenden Hörverlust auf dem linken Ohr und gelegentlichen, nicht seitenbetonten Schwindel. Trotz der langsam progredienten Symptomatik nimmt der Hausarzt einen Hörsturz an. Da die Therapie ohne Erfolg bleibt, sucht der Patient den Hals-Nasen-Ohrenarzt auf, der einen pankochleären Hörverlust links und vestibuläre Untererregbarkeit links feststellt. Der Neurologe wird eingeschaltet, weil der Hals-NasenOhrenarzt eine »zentrale Ursache« des pankochleären Hörverlustes ausgeschlossen haben möchte. Der Neurologe stellt eine leichte Fazialisschwäche und pathologische akustische Hirnstammpotentiale links fest und veranlasst ein MR, in dem ein überwiegend extrakanalikuläres Akustikusneurinom, das neurochirurgisch gehör- und fazialiserhaltend operiert werden konnte, gefunden wurde.

322

Kapitel 11 · Hirntumoren

. Abb. 11.19. a MRT eines Akustikusneurinoms (T1-gewichtete Aufnahme nach paramagnetischer Kontrastverstärkung). Man erkennt im rechten Kleinhirnbrückenwinkel die stark und homogen kontrastmittelaufnehmende, nach medial rundliche, nach lateral zapfenförmige Tumorformation (Pfeil), die dem Akustikusneurinom (Vestibularisschwannom) im extrakanalikulären, medialen und im proximalen, kanalikulären, lateralen Anteil entspricht. (K. Sartor, Heidelberg), b Großes, raumforderndes Akustikusschwannom rechts mit massiver KM-Anreicherung. Man beachte die Verdrängung von Hirnstamm und Kleinhirn. Im linken oberen Rand des Tumors erkennt man den Zapfen, der aus dem Porus acusticus int herausragt. Klinisch: Taubheit rechts, Vestibularisausfall rechts, Fazialisparese rechts. Keine Hirnstammsymptome. (M. Hartmann, Heidelberg)

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b

11.10.2

Andere Neurinome

Neurinome an anderen Hirnnerven wie den Nn. trigeminus und abducens sind selten. Relativ häufig sind Neurinome der spinalen Nervenwurzeln. > Die Akustikusneurinome (besser Vestibularisschwannome) sind gutartige Tumoren des Kleinhirnbrückenwinkels, die zu einseitigem Hörverlust, peripherem Vestibularisausfall und zur Fazialislähmung führen können. Mit bildgebenden Verfahren wird heute die Diagnose meist so frühzeitig gestellt, dass eine schonende und radikale Entfernung möglich ist.

11.11

Hypophysentumoren

Diese Tumoren gehen vom Hypophysenvorderlappen aus. Manche wachsen rein intrasellär mit asymmetrischer Ausweitung der Sella und Ausdünnung des Dorsum sellae, andere wachsen nach supra- und parasellär. Man nennt sie Mikroadenome, wenn ihr Durchmesser kleiner als 10 mm ist, und Makroadenome, wenn sie einen größeren Durchmesser haben und aus der Sella turcica hinauswachsen (. Abb. 11.20). Hypophysenadenome können zur vermehrten Sekretion von Vorderlappenhormonen führen (hormonaktive Adenome). Wenn sie den Hypophysenvorderlappen komprimieren, können sie zur verminderten Produktion von Hormonen führen (hormoninaktive Adenome).

323 11.11 · Hypophysentumoren

. Abb. 11.20a–d. Hypophysenadenom. a Intrasellär ist eine nahezu kreisrunde, kontrastmittelanreichernde Formation zu erkennen, an deren hinterer Zirkumferenz noch ein Anschnitt des Dorsum sellae zu erkennen ist. Die Untersuchung ist zur besseren Darstellung des Lokalbefunds in Vergrößerungstechnik durchgeführt, weswegen die vordere Schädelgrube nicht abgebildet ist. Der Kopf des Patienten lag bei der Untersuchung etwas verkippt, erkennbar am unterschiedlichen Anschnitt der Felsenbeine, b Die sekundäre Rekonstruktion durch die Tumormitte zeigt die intra- und v.a. auch supraselläre Ausdehnung (Pfeil). (H. Brückmann, München), c,d Hypophysenadenom vor und nach KM. Massiv kontrastmittelaufnehmendes Hypophysenadenom mit ausgedehntem suprasellarem Wachstum. Verdrängung des Chiasma opticum nach oben (Pfeil) und Stauchung der Seitenventrikel von unten. (B. Kress, Heidelberg)

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324

Kapitel 11 · Hirntumoren

Die supraselläre Ausdehnung kann über die Kompression des Chiasma opticum mit bitemporaler Hemianopsie klinisch auffällig werden. Bei noch weiterer suprasellärer Ausdehnung wird der Hypothalamus komprimiert und der III. Ventrikel verdrängt. Es kann ein Hydrozephalus entstehen. Paraselläre Hypophysenadenome, die meist asymmetrisch zu einer Seite hin wachsen, können die Hirnnerven III, V1 und VI lädieren und die Karotis ummauern. Hypophysenadenome sind histologisch immer gutartig. 11.11.1

Hormonproduzierende Tumoren

Hormonaktive Adenome können vermehrt Wachstumshormon (GH), Prolaktin (PRL) und das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) produzieren:

11

3Einteilung 4 Wachstumshormon-produzierende Tumoren: Eine Erhöhung des GH führt zu Riesenwuchs bei Erkrankung im Jugendalter vor Schluss der Epiphysenfugen und zu Akromegalie bei Erkrankung im Erwachsenenalter. Die Vergrößerung der Akren hat bei etwa der Hälfte der Erkrankten ein Karpaltunnelsyndrom (7 Kap. 31.3.8) zur Folge. Es gibt auch eine Viszeromegalie mit Struma diffusa und Herzvergrößerung. Viele Patienten entwickeln Diabetes mellitus und sekundären Hypogonadismus. Gesichtsfeldstörungen durch Chiasmaläsion treten erst spät auf, da die Geschwulst lange Zeit intrasellär wächst. Das klinische Bild der Akromegalie (. Abb. 11.21) ist so eindrucksvoll und unverwechselbar, dass man sich wundert, wie es geschehen kann, dass auch heute noch Patienten erst mit sehr fortgeschrittener Symptomatik diagnostiziert werden. Kopfschmerzen werden besonders von Patienten mit Akromegalie geklagt. 4 Prolaktin-produzierende Adenome: Sie sind die häufigsten hormonaktiven Hypophysenadenome. Sie sind aber nicht die einzige, noch nicht einmal die häufigste Ursache der Hyperprolaktinämie bei Frauen. Anstieg von Prolaktin hat bei der Frau Galaktorrhoe (in 2/3 der Fälle), Oligomenorrhoe und Infertilität zur Folge. Beim Mann führt er zu Verminderung von Libido und Potenz, Galaktorrhoe ist sehr selten. Eine sekundäre Hyperprolaktinämie, wie sie bei anderen Hypophysenprozessen oder als Nebenwirkung von Medikamenten (Psychopharmaka) entstehen kann, weist nur eine leichte Erhöhung der Serumkonzentration von Prolaktin auf. Viele Tumoren sind Mikroadenome, jedoch ist auch ein sehr großes, supraselläres Wachstum möglich. Bei Männern werden Prolaktinome oft erst spät, nachdem Gesichtsfeldausfälle eingetreten sind, diagnostiziert. 4 ACTH-produzierende Adenome: Diese führen zum Cushing-Syndrom mit den Symptomen Stammfettsucht, arterielle Hypertonie, Osteoporose und Myopathie. Der Tagesrhythmus der Kortisonproduktion ist aufgehoben. Die Adenome sind häufig sehr klein. Die Überproduktion der übrigen HVL-Hormone (TSH, LH, FSH) spielt nur eine untergeordnete Rolle. Hormon-

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b . Abb. 11.21a,b. Klinisches Bild bei Akromegalie. Die Vergrößerung der Nase und Ohren (a), und besonders eindrucksvoll der Hand (b), lassen die Verdachtsdiagnose eines wachstumshormonproduzierenden Tumors sehr wahrscheinlich werden. (C. Wüster, Bad Herrenalb)

aktive Hypophysenadenome können auch mehr als ein Hormon im Überschuss produzieren. Die häufigste Kombination ist die von GH und Prolaktin. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Der Verdacht auf ein Hypophysenadenom ergibt sich aus den geschilderten endokrinen Symptomen. Eine Sellavergrößerung im konventionellen Röntgenbild (Schädelübersicht und Sellaspezialaufnahme) findet sich nur bei Adenomen, die größer als 5–10 mm im Durchmesser sind. Mit dem CT lassen sich größere intraselläre Adenome zuverlässig nachweisen (. Abb. 11.20). Die Methode der Wahl ist die MRT, bei der kleine Adenome im kontrastverstärkten T1Bild als hypointense Bezirke inmitten der stärker KM aufneh-

325 11.11 · Hypophysentumoren

menden Hypophyse zeigen. Eine sorgfältige Gesichtsfeldbestimmung ist notwendig. Endokrinologische Untersuchung: Bestimmung der Hormonbasalwerte. Patienten mit Akromegalie haben typischerweise GH-Werte über 5 ng/ml. Normalerweise sind die GH-Werte postprandial oder nach oralem Glukosetoleranztest erniedrigt. Bei Akromegalie fehlt diese Suppression als Ausdruck der unabhängigen GH-Produktion im Adenom. Prolaktinspiegel über 200 ng/ml sind beweisend für ein Prolaktinom (. Abb. 11.22). 3Therapie und Prognose 4 Operation: 5 Wenn der Tumor noch keine starke, supraselläre Ausdehnung hat, wird er transsphenoidal durch die Nase operiert. 5 Wächst der Tumor stark nach suprasellär oder parasellär, muss er offen, d.h. über eine Schädeltrepanation operiert werden. 5 Paraselläres Wachstum und Eindringen in den Sinus cavernosus kann eine Operation unmöglich machen. 4 Medikamentöse Therapie: 5 Prolaktinproduzierende Adenome können mit prolaktinhemmenden Dopaminagonisten (Bromocriptin, Lisurid, Pergo-

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lid) konservativ behandelt werden. Bei großen Tumoren kommt es dadurch zur Reduktion der Tumormasse. Nur wenn Patienten die Dopaminagonisten nicht tolerieren oder es bei Makroadenomen zu sekundären Ausfällen (Gesichtsfeld) kommt, wird operiert. 5 Große Prolaktinome werden erst mit Dopaminagonisten vorbehandelt und danach operiert. Rezidive kommen nach der Operation und unter Dopaminagonisten vor. 5 Wenn nach Reoperation erneut ein Rezidiv entsteht, ist eine Strahlentherapie notwendig. Sonst ist Strahlentherapie nur bei invasivem Wachstum und inkompletter Operation angezeigt. 5 Bei kleineren GH-produzierenden Tumoren wird zunächst ein Behandlungsversuch mit Bromocriptin unternommen. Kommt es hierunter nicht zu einer deutlichen Tumorregression, ist die Behandlung der Wahl ist chirurgisch. 5 Nach radikaler Operation ist eine Hormonsubstitution (Schilddrüsenhormone, Gonadotropine, (Hydro-)Kortison) notwendig. Patienten mit ausgeprägter Akromegalie haben eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. 5 Ein andauernder Diabetes insipidus wird mit Minirhin®-Nasenspray behandelt. Nach 3–6 Monaten muss die Hormonproduktion des hypothalamisch-hypophysären Systems noch einmal untersucht werden, um die Dauersubstitution festzulegen. Die Patienten sollen einen Pass über die für sie lebensnotwendigen Medikamente bei sich führen.

. Abb. 11.22. MRT (T1-gewichtete sagittale Aufnahme) eines Hypophysenvorderlappentumors. Die Sella ist von einem stark und homogen kontrastmittelaufnehmenden Tumor von etwa 1,5--2,5 cm Durchmesser ausgefüllt, der um etwa 1 cm nach suprasellär reicht und das Chiasma opticum (bandförmige Struktur am Oberrand des Tumors) anhebt und komprimiert. Es handelt sich um einen prolaktinproduzierenden Tumor. (K. Sartor, Heidelberg)

ä Der Fall Ein etwa 45 Jahre alter Bauarbeiter kommt zum Arzt, weil er seit Monaten nächtliche Schmerzen in beiden Händen, vor allem in Daumen und Zeigefingern hat. Er meint, auch nicht mehr so kräftig zugreifen zu können wie früher. Elektrophysiologisch zeigt sich ein ausgeprägtes doppelseitiges Karpaltunnelsyndrom. Dem Neurologen fällt auf, dass der Patient ausgesprochen große, plumpe Hände, große Füße, eine große Nase, ein vorstehendes Kinn und ausgesprochen wulstige Augenbrauen hat. Insgesamt wirkt der Patient sehr muskulös und untersetzt. Darauf angesprochen, berichtet er, dass er schon immer relativ kräftig gewesen sei, aber in letzter Zeit an Gewicht zugenommen habe. Der Ehering habe ihm nicht mehr gepasst, er habe jetzt eine größere Schuhgröße und die Hemden seien ihm am Kragen allesamt zu eng geworden. Dazu habe man vor einem Jahr einen Diabetes mellitus festgestellt. Dieser Patient stellte sich mit dem Vollbild einer Akromegalie vor. Ein doppelseitiges Karpaltunnelsyndrom ist beim GH-produzierenden Hypophysenadenom häufig. Der Patient wurde transphenoidal operiert. Ein weiteres akromegales Wachstum ist nicht festzustellen, die diabetische Stoffwechsellage hat sich gebessert. Aufgrund des fortgeschrittenen Karpaltunnelsyndroms wurde auch die Indikation zur Neurolyse des N. medianus im Karpaltunnel gestellt.

326

Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt

Kraniopharyngeom Das Kraniopharyngeom geht von Resten des embryonalen Ductus craniopharyngicus (Rathke-Tasche) aus. Es liegt entweder intrasellär oder suprasellär, selten sanduhrförmig innerhalb und über der Sella. Die intrasellären Kraniopharyngeome komprimieren zunächst die Hypophyse und arrodieren die hintere Sellabegrenzung, bevor sie das Diaphragma sellae durchbrechen und gegen das Chiasma opticum und den III. Ventrikel wachsen. Die suprasellären Tumoren lädieren das Chiasma

11.11.2

11

Hormoninaktive Tumoren

3Symptome. Diese Adenome sind meist größer als die hormonproduzierenden Adenome, weil sie länger wachsen können, bevor sie Symptome verursachen. Sie führen durch ihr verdrängendes Wachstum innerhalb der Sella zur Minderfunktion des HVL mit endokrinen Mangelsymptomen, wie dem sekundären Hypogonadismus. Sehr charakteristisch ist eine blasse Hautfarbe (Anämie) und eine zarte, von feinen Furchen durchzogene Haut um den Mund bei Männern. TSH-Mangel führt zur Müdigkeit, Antriebsarmut und Verstopfung. Insgesamt liegt in fortgeschrittenen Fällen das charakteristische Syndrom der Hypophyseninsuffizienz vor, bei der sich die genannten Symptome kombinieren. Hormoninaktive Adenome sind oft Makroadenome. Supraund paraselläres Wachstum führt durch Läsion des Chiasma opticum zu Gesichtsfelddefekten. Sie kommen als Quadrantenanopsie oder Hemianopsie, symmetrisch oder asymmetrisch, und auch als Skotom vor. Wächst der Tumor nach parasellär, wird zunächst der N. oculomotorius betroffen. In Extremfällen erstreckt sich das Adenom bis zum basalen Temporallappen und kann die Ursache von komplex partiellen epileptischen Anfällen sein. 3Diagnostik. Auch bei den hormoninaktiven Adenomen ist die Gesichtsfeldbestimmung sehr wichtig. Oft sind Visusstörungen die frühesten Symptome. Die neuroradiologische Diagnostik folgt den gleichen Regeln wie bei den hormonaktiven Adenomen. Basiswerte von T3, T4 und TSH sowie das Kortisoltagesprofil dienen der Aufdeckung von sekundärer Hypophyseninsuffizienz. 3Therapie. Indikation und Methode der Operation sind wie bei den hormonaktiven Tumoren. Bei Hypophyseninsuffizienz ebenfalls Hormonsubstitution. 11.12

Kraniopharyngeome

3Epidemiologie und Lokalisation. Kraniopharyngeome sind Tumoren des Kindes-, Jugend- und jüngeren Erwachsenenalters. Histologisch sind sie benigne oder semimaligne, wachsen aber destruierend und verdrängend.

frühzeitig und füllen den III. Ventrikel aus. Das weitere Wachstum erstreckt sich in Richtung auf Thalamus und Brücke, in seltenen Fällen dehnen sich die Tumoren bis zum Okzipitallappen aus. Die Kraniopharyngeome haben eine feste Kapsel. Sie sind meist mehrfach gekammert. Die Zysten sind mit cholesterinhaltiger Flüssigkeit gefüllt. Sehr charakteristisch ist in 50% eine Kalkeinlagerung in dem soliden Teil der Geschwulst. Metastasen kommen nicht vor. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist gering.

3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome entwickeln sich bei Kindern und jungen Erwachsenen unterschiedlich: 4 Kinder klagen frühzeitig über Kopfschmerzen und Erbrechen. Sie sind im Wachstum zurückgeblieben und oft zu dick. Die verzögerte Körperentwicklung zeigt die Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz an. Der Schädel ist hydrozephal vergrößert, die Nähte klaffen, und es besteht eine Stauungspapille. 4 Während und nach der Pubertät stehen hypothalamische Störungen, vor allem der Diabetes insipidus im Vordergrund. Hypogenitalismus (Amenorrhoe, Impotenz, mangelhafte Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale), Fettsucht und Hypothyreose sind seltener. Andere Zwischenhirnstörungen zeigen sich erst bei den genaueren endokrinologischen Untersuchungen. 4 Später kommt es zu Stirnkopfschmerzen und zu den für alle Altersgruppen sehr charakteristischen bizarren Gesichtsfelddefekten in Form unregelmäßig geformter Skotome oder Quadrantenanopsien. Streng bitemporale Hemianopsien werden kaum gefunden. Durch weiteren Druck auf das Chiasma tritt bilaterale Optikusatrophie mit Amblyopie und entsprechender Pupillenstarre ein. Wächst die Geschwulst nach dorsal, entwickeln sich Mittelhirn- und Brückensyndrome. Das Endstadium mit Hirndruck, spastischer Tetraplegie und anderen Zeichen der Enthirnungsstarre tritt aber dank der frühzeitigen Diagnose mit bildgebenden Verfahren meist nicht mehr auf. Der Verlauf ist, wie oft bei zystischen Tumoren, intermittierend und variabel. 3Diagnostik. Die Röntgenaufnahme des Schädels zeigt in 50% supraselläre Verkalkungen. Die Sella selbst kann entkalkt oder normal sein. Das CT zeigt hyper- und hypodense Bereiche, entsprechend den verkalkten und zystischen Tumoranteilen. Die soliden Tumoranteile nehmen häufig Kontrastmittel auf. Das MRT stellt die Nachbarschaftsbeziehungen (Chiasma, paraselläre Region, intraselläre Anteile, Bedrängung der Karotis) durch multiplanare Darstellung weit besser dar. 3Therapie und Prognose 4 Die Behandlung der Wahl ist die Operation und Zystenentleerung. 4 Eine vollständige Resektion ist oft nicht möglich. Bestrahlung soll die Überlebenszeit verlängern.

327 11.13 · Metastasen und Meningeosen

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Facharzt

(Epi-)Dermoide und Lipome Epidermoide 3Epidemiologie und Lokalisation. Die seltenen, histologisch gutartigen Epidermoide und Dermoide können in jedem Lebensalter manifest werden, meist jedoch im Jugend- und jüngeren Erwachsenenalter. Sie wachsen außerordentlich langsam und liegen bevorzugt im Brückenwinkel, in Nähe des Chiasma, in der Gegend der Epiphyse und am rostralen Balken. Ihre Herkunft aus versprengten Keimzellen macht die Häufung in der Mittellinie verständlich. 3Symptomatik und Verlauf. Bei Rupturen kann der Inhalt der Kapsel in der Umgebung Entzündungen hervorrufen. Es liegt dann außer den Lokalsymptomen (Hydrozephalus, selten epileptische Anfälle, hypothalamisch-hypophysäre Störungen, Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom) eine hartnäckige, rezidivierende und diagnostisch sehr schwer zu klärende Meningoenzephalitis vor. 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Epidermoide und Dermoide zeigen, entsprechend dem hohen Anteil an Cholesterinkristallen und ihrer zystischen Struktur, bei scharfer Begrenzung im CT stark variable Dichtewerte (von Fett, sehr niedrige, bis Kalk, sehr hohe Dichte) und eine sehr variable Morphologie.

3Therapie und Prognose. Die operative Entfernung führt zur Heilung, Rezidive kommen nach vollständiger Resektion nicht vor. Lipome Intrakranielle Lipome sind mittelliniennah, oft in der Balkenregion lokalisiert. Sie sind histologisch gutartig und werden häufig als asymptomatischer Zufallsbefund in CT oder MRT gesehen. Sie sind im CT durch starke Dichteminderung gekennzeichnet. Kolloidzyste des III. Ventrikels Hierbei handelt es sich um Fehlbildungen, die mit Ependym ausgekleidet und mit einer kolloidartigen Flüssigkeit gefüllt sind. Ihr Sitz ist am Dach des III. Ventrikels zwischen den Foramina Monroi. Wenn sie eine ausreichende Größe erreicht haben und beweglich sind, können sie wiederholt akut den Liquorabfluss aus dem Seitenventrikel blockieren. Im CT sind Kolloidzysten in den meisten Fällen primär hyperdens und nehmen kein Kontrastmittel auf (. Abb. 11.23). Therapie: Operative Entfernung.

4 Rezidivierende, zystische Prozesse können stereotaktisch entleert oder lokal, auch interstitiell bestrahlt werden. 4 Hormonsubstitution (s. Hypophysenadenome) ist bei Hypophyseninsuffizienz erforderlich.

Die Rezidivrate ist hoch.

. Abb. 11.23. Signalreiche Kolloidzyste des III. Ventrikels. Man erkennt eine rundliche, signalhyperintense Formation in Projektion auf den hinteren Anteil des Foramen Monroi (Pfeil). Kein Hinweis auf eine Ventrikelerweiterung (MRT, T1-gewichtete, sagittale Darstellung ohne Kontrastmittelaufnahme). (O. Jansen, Kiel)

11.13

Metastasen und Meningeosen

11.13.1

Solide Metastasen

3Epidemiologie. Metastasen machen etwa 20% aller Hirntumoren aus. Metastasen sind die häufigsten intrakranialen Tumoren. Systematische Autopsiestudien belegen, dass die Zahl der ZNS-Metastasen deutlich höher ist als die klinisch symptomatischen Metastasen. Etwa 30% der Patienten, die an einem Tumorleiden sterben, weisen autoptisch intrakraniale Metastasen auf. Man rechnet mit einer Inzidenz von 6–8 pro 100 000 Einwohner. Die Patienten haben in der Regel das mittlere Lebensalter überschritten, Männer sind häufiger befallen als Frauen. Lange zeitliche Abstände (4–5 Jahre) seit Entdeckung und Behandlung des Primärtumors kommen zwar vor, sind aber selten.

328

Kapitel 11 · Hirntumoren

Hirnmetastasen sind eine schwerwiegende Komplikation eines Tumorleidens. Sie können nicht nur die ersten Metastasen eines bis dahin nicht metastasierenden, bekannten Primärtumors, sondern auch die erste Manifestation eines bis dahin unbekannten Primärtumors sein. Hirnmetastasen sind nicht selten multipel. Metastasen sind zu 80% supratentoriell und zu 20% infratentoriell lokalisiert. Sie finden sich meist an der Rindenmarkgrenze. Initial sind sie meist noch gut vom Hirngewebe abgegrenzt und von einem deutlichen Ödem umgeben, später wachsen sie auch infiltrierend. 3Primärtumore. . Tabelle 11.4 gibt eine Übersicht über die häufigsten Primärtumoren, die zerebralen Metastasen zugrunde liegen können, und über die Primärtumoren, die besonders häufig Metastasen entwickeln. In 25% der Fälle gehen Hirnmetastasen von einem Bronchialkarzinom aus. Dieses ist oft zum Zeitpunkt der Metastasierung noch so klein, dass es selbst im ThoraxCT nicht nachzuweisen ist. Andere Ursprungsgewebe sind: Mammakarzinom, gastrointestinales Karzinom, Melanom, Genitalkarzinom und Schilddrüsenkarzinom. Beim Nierenkarzinom kann es selbst mehr als ein Jahrzehnt nach der Operation zu Hirnmetastasen kommen. Chorionepitheliome setzen regelmä. Tabelle 11.4. Hirnmetastasen

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Häufigste Primärtumoren für Hirnmetastasen (in absteigender Häufigkeit) 1. 2. 3. 4. 5.

a) Adenokarzinom der Lunge b) Kleinzelliges Bronchialkarzinom Mammakarzinom Melanom Hypernephrom Gastrointestinale Tumoren sowie Schilddrüsenkarzinom Uteruskarzinom, Ovarialkarzinom Prostatakarzinom Kopf-Hals-Karzinome Keimzelltumoren

Tumoren mit höchster ZNS-Metastasierungsrate 1. 2. 3. 4. 5.

Melanom Keimzelltumoren (Hodenteratome) Lymphom Kleinzelliges Bronchialkarzinom Mammakarzinom

Wahrscheinlichstes Ursprungsgewebe von Metastasen vorher unbekannter Primärtumoren 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Adenokarzinome der Lunge Gastrointestinale Tumoren Blasenkarzinome Schilddrüsenkarzinome Melanome Lymphome

ßig zerebrale Absiedlungen. Das Kolonkarzinom metastasiert äußerst selten ins Gehirn, weil im Kreislauf Leber- und Lungenfilter vorgeschaltet sind. Die Bestimmung von Tumormarkern (. Tabelle 11.3) ist nützlich. 3Lokalisation. Die Lokalisation ist entsprechend der hämatogenen Entstehung meist im Versorgungsgebiet der A. cerebri media, und häufig in der gut durchbluteten Hirnrinde. Auch der Hirnstamm wird, wenn auch selten, betroffen. Grundsätzlich können sich Metastasen in allen Teilen des ZNS und seiner Anhangsstrukturen (z.B. Hypophyse) absiedeln. Schädelbasismetastasen führen zu den Syndromen, die in 7 Kap. 1 beschrieben sind. Hat ein Patient ein bekanntes Karzinom, so muss man beim Auftreten einer Hirnnervenlähmung eine Schädelbasismetastase befürchten, wenn eine Meningeosis carcinomatosa nach dem Liquorbefund unwahrscheinlich ist. 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome entwickeln sich in wenigen Tagen oder Wochen. Die Krankheitsgeschichte dauert meist nicht länger als 5–6 Monate. Metastasen führen schon bei geringer Größe zu einem deutlichen Hirnödem. Deshalb entstehen neben den Lokalsymptomen rasch allgemeine psychische Störungen: Bewusstseinstrübung und Verwirrtheit. Die allgemeinen Befunde wie Gewichtsabnahme, Husten, Verdauungsstörungen, Ausfluss, beschleunigte BSG und Anämie, die sonst den Verdacht auf einen fortgeschrittenen malignen Tumor erwecken, brauchen zum Zeitpunkt der Hirnmetastasierung noch nicht vorzuliegen. 3Diagnostik. Im CT sind auch Metastasen von weniger als 1 cm Durchmesser, oft allerdings nur nach Kontrastmittelgabe, erkennbar. Metastasen von mehr als 2 cm Durchmesser sind fast immer zentral nekrotisch und zeigen nach Gabe von Kontrastmittel eine mehr oder minder breite Ringformation. Mehrere solcher Läsionen bei bekanntem Primärtumor machen eine intrazerebrale Metastasierung wahrscheinlich (. Abb. 11.24). Eine sichere organspezifische Zuordnung aufgrund bildmorphologischer Kriterien ist nicht möglich. Im MRT lassen sich kleine und multiple Metastasen viel leichter zu entdecken. Die MRT hat die CT bei dieser Fragestellung verdrängt. 3Therapie und Prognose Operation: Wesentliche Kriterien für die Therapieentscheidung ist die Anzahl der Hirnmetastasen und die Kontrolle des Primärtumors. 4 Die Operation ist meist nur sinnvoll, wenn eine einzelne Metastase vorliegt. Allerdings wird auch immer wieder einmal die Indikation zur Operation gestellt wenn zwei oder drei operativ gut zugängliche Metastasen vorliegen, und eine hiervon beispielsweise im Kleinhirn lokalisiert ist. 4 In allen Fällen schließt sich eine Strahlentherapie an.

329 11.13 · Metastasen und Meningeosen

Facharzt

Spezielle Aspekte besonders häufiger Metastasen Bronchialkarzinome. Adenokarzinome der Lunge sind die häufigsten Primärtumoren bei Hirnmetastasen. Bei ca. 25% liegt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde. Bei kleinzelligen Brochialkarzinomen ist die prophylaktische Ganzhirnbestrahlung bei kompletter Remission nach Erstbehandlung inzwischen etabliert, da sie die Hirnmetastasierung vermindert und zu einem statistisch signifikanten Überlebensvorteil führt. Bei Adenokarzinomen besteht eine deutlich bessere Therapieaussicht als bei Patienten mit einem kleinzelligen Karzinom. Adenokarzinommetastasen sind häufig gut strahlenempfindlich. Remissionen lassen sich bei der Mehrzahl der Patienten erzielen, Rezidive sind jedoch sehr häufig. In einem Viertel der Fälle liegen kleinzellige Karzinome vor. Auch Patienten mit Metastasen von kleinzelligen Bronchialkarzinomen werden meist bestrahlt. Diese Metastasen sind häufig multipel und entziehen sich damit der chirurgischen Behandlung. Die Prognose ist deutlich schlechter. Mammakarzinome. Mammakarzinome metastasieren sehr häufig und multipel in das Gehirn und in das Rückenmark. Sie neigen zur Meningeose. Leider macht es für die Behandlung der Hirnmetastasen noch keinen Unterschied, ob Primärtumoren hormonaktiv oder hormoninaktiv gewesen sind. Operation (selten, da oft multiple Metastasen) und Ganzhirnbestrahlung sind die therapeutischen Optionen. Die systemische Chemotherapie führt zu keiner Verbesserung der Prognose. Dies ist anders bei der Meningeosis carcinomatosa (s.u.), die, auch wenn sie rezidiviert, oft gut auf intrathekale Zytostase anspricht. Melanome. Oft liegen Jahre zwischen der Operation des (manchmal sehr kleinen) Melanoms und dem Auftreten der

Hirnmetastase(n). Die Metastasen wachsen sehr schnell und werden mit Anfällen, Lähmungen und Verlangsamung symptomatisch. Melanommetastasen neigen zu Einblutungen, zu multipler Lokalisation und zur Beteiligung der Hirnhäute. Besonders wenn eine frühe Operation der Metastase möglich war, gibt es immer wieder einmal erstaunlich gute Langzeitergebnisse. Solitäre Melanommetastasen werden operiert und nachbestrahlt. Die Bestrahlung allein zeigt keine besondere Wirksamkeit. Neue, systemische Chemotherapieverfahren, die auch Interferon-Behandlung einschließen, werden erprobt, sind aber noch nicht gesichert. Gastrointestinale Tumoren. Hier findet man seltener eine frühe ZNS-Metastasierung, da die Tumoren meist zuerst in Lunge und Leber metastasieren. Rektum- und Mastdarmtumoren metastasieren selten in das Gehirn. Je nach dem Allgemeinzustand des Patienten und dem Tumor-Staging wird eine solitäre Metastase operiert und nachbestrahlt. Andere Primärtumoren Prostatakarzinome machen viel häufiger spinale (extradurale) Metastasen als eine ZNS-Metastasierung. Seminome sind sehr selten, hochmaligne und neigen zur Hirnmetastasierung. Hypernephrommetastasen sind oft solitär, stark kontrastaufnehmend und können nach Operation und Bestrahlung langjährige freie Intervalle haben. Bei manchen Schilddrüsenmetastasen ist eine Radiojodtherapie möglich. Nasen-Rachen-Tumoren wachsen lokal infiltrierend und können so ZNS-Symptome machen. Findet man bei solchen Patienten Hirnmetastasen, muss man nach einem Zweittumor suchen, der meist, bei ähnlichen Risikofaktoren (Raucher), in der Lunge gefunden wird.

Leitlinien Diagnostik und Therapie von Hirnmetastasen* 4 Singuläre oder solitäre Hirnmetastasen solider Tumoren (mit Ausnahme kleinzelliger Bronchialkarzinome) sollten bei günstiger prognostischer Konstellation reseziert werden (⇑⇑/B). 4 Die Radiochirurgie ist für viele Patienten eine sinnvolle Alternative zur Operation (⇔). 4 Für die meisten Patienten mit multiplen Hirnmetastasen ist die Ganzhirnbestrahlung eine wirksame palliative Therapiemaßnahme (⇑⇑/B).

4 Bei der Auswahl der spezifischen Therapie (Operation, Radiochirurgie, fraktionierte Strahlentherapie, Chemotherapie) müssen die wichtigsten prognostischen Faktoren (Alter, Karnofsky-Index, extrazerebrale Tumormanifestationen) berücksichtigt werden. * Leitlinien der DGN 2005

11

330

a

11

Kapitel 11 · Hirntumoren

b

c

. Abb. 11.24a–c. Zerebrale Metastasen. a Rechts-frontale Metastase mit erheblichem Randödem (Primärtumor: Bronchialkarzinom), b Zwei links-subkortikal und im linken parietalen Marklager gelegene, kontrastmittelanreichernde Metastasen mit geringgradigem, perifokalen Ödem (Mammakarzinom), c CT einer eingebluteten links-temporalen Metastase

eines Melanoms. Die Blutung wird von einem Ödem umgeben und verlagert die Mittellinienstrukturen nach rechts. Das linke Temporalhorn ist als Zeichen der Abflussbehinderung bereits aufgeweitet. (H. Zeumer, Hamburg)

4 Wenn eine Operation nicht möglich ist, wird primär strahlen-

Index und das Alter des Patienten. Gelingt eine lokale Tumorkontrolle sind mediane Überlebenszeiten von bis zu einem Jahr beschrieben.

therapiert. Zur Indikationsstellung genügt meist der Nachweis des Primärtumors und der neuroradiologisch zweifelsfreie Befund. Bei unbekanntem Primärtumor ist eine histologische oder liquorzytologische Diagnosesicherung vor Einleitung der Strahlentherapie notwendig. Besonders Metastasen von Tumoren des lymphoretikulären Systems können sehr erfolgreich bestrahlt werden. Aber auch bei Metastasen kleinzelliger Bronchialkarzinome und des Mammakarzinoms können klinisch eindrucksvolle Remissionen erzielt werden, wenn durch Steroidbehandlung das in der Frühphase oft bedrohliche Hirnödem zusätzlich zurückgedrängt werden kann. Bemerkenswerterweise sprechen auch manche Metastasen auf die palliative Röntgenbestrahlung an, deren Primärtumor strahlenresistent ist. Wenn der Primärtumor einer Chemotherapie zugänglich ist, wird diese auch bei Metastasen im Zentralnervensystem versucht.

ä Der Fall Ein 35 Jahre alter Straßenbauarbeiter wird nach einem ersten generalisierten Anfall in die Klinik gebracht. Im CT und MRT sieht man dem in . Abbildung 11.25 wiedergegebenen Befund. Vor 1 Jahr ist der Patient an einem Hypernephrom operiert worden und war seither beschwerdefrei. Ursache des generalisierten, epileptischen Anfalls ist eine eingeblutete Metastase. Im MRT zeigt sich, dass es sich um eine solitäre Metastase handelt. Die Metastase wird reseziert und eine Bestrahlung des Herdes (30 Gy) und des Gesamthirns (30 Gy) durchgeführt. Bei regelmäßigen MRT-Kontrollen über 2 Jahre hat sich bislang kein Rezidiv gezeigt.

11.13.2

Meningeosis blastomatosa

Medikamentöse Therapie: Vor der Operation oder Strahlenthe-

rapie ist meist eine supportive Therapie zur Behandlung des Tumor-Ödems mit Steroiden oder osmotisch wirksamen Substanzen notwendig und erfolgreich. Insgesamt ist die Prognose von Hirnmetastasen nicht gut: Nur etwa 20% der Patienten überleben die Diagnose der Hirnmetastasen länger als 1 Jahr. Der Therapieansatz ist immer palliativ. Wichtige prognostische Faktoren sollten beachtet werden. Als wesentliche Prognosefaktoren gelten das Stadium und die Art der Grunderkrankung, der Karnofsky-

Bei 15–30% systemischer Lymphome und Leukämien tritt im Krankheitsverlauf eine ZNS-Beteiligung auf. Auch beim NonHodgkin-Lymphom wird eine Meningeose bei etwa 10% der Patienten gefunden. 3Diagnostik. Im CT, noch besser im MRT lässt sich oft eine starke meningeale Anreicherung von Kontrastmittel nachweisen (. Abb. 11.25). Da dies auch nach LP, wenn auch in geringerem

331 11.13 · Metastasen und Meningeosen

Exkurs Suche nach dem Primärtumor Nicht selten findet man als Ursache einer akuten neurologischen Symptomatik in CT oder MRT eine Läsion im Gehirn, die auf eine Metastase verdächtig ist. Diese Konstellation – metastasenverdächtiger CT- oder MRT-Befund und bislang nicht bekanntes Tumorleiden – stellt ein diagnostisches Problem dar, da jetzt in kurzer Zeit eine umfassende Tumorsuche durchgeführt werden muss. Hierbei darf man nicht außer Acht lassen, dass Metastasen häufig schnell wachsen, dass man also nicht zu lange mit der Operation einer solitären Metastase warten sollte, wenn diese operativ zugänglich ist. Andererseits sind Neurochirurgen bei der Operation solitärer Hirnmetastasen verständlicherweise zurückhaltend, wenn noch nicht bekannt ist, wo der Primärtumor sitzt, wie ausgedehnt dieser schon ist und welche anderen Organe schon befallen sind. Die notwendigen Untersuchungen bei ZNS-Metastasen eines unbekannten Primärtumors richten sich nach Tumor- und Metastasenhäufigkeit (. Tabelle 11.4). 4 Praktisch wird man am ersten Tag das Blut neben der Laborroutine auf Tumormarker untersuchen und eine Röntgenuntersuchung und gegebenenfalls Computertomographie des Thorax durchführen. 4 Danach folgen das Oberbauchsonogramm, das Sonogramm der Nieren und der Schilddrüse. Spätestens jetzt sollte die MRT das CT ergänzen (multiple Metastasen?).

a

b

. Abb. 11.25a–c. Eingeblutete Hypernephrommetastase in CT (a) und MRT (b,c). Geringgradiges Ödem um die Metastase und randständi-

4 Frauen werden gynäkologisch (mit Mammographie) untersucht. Wenn nach diesen Untersuchungen noch kein Primärtumor aufgedeckt worden ist, wird in der nächsten Stufe der Liquor, wenn gefahrlos möglich, untersucht. Dann ist auch eine Computertomographie des Oberbauches sinnvoll. Weitere Untersuchungen wie Bronchoskopie, Schilddrüsenszintigramm, Knochenmarkpunktion, dermatologische oder urologische Untersuchung werden je nach Ergebnissen der Basisdiagnostik durchgeführt. Wenn auch diese zweite Stufe noch nicht zu einer Diagnose geführt hat, wird man bei solitärer Metastase und allgemeiner Operationsfähigkeit des Patienten die Neurochirurgen bitten, die Metastase zu entfernen und hierüber zu einer möglichen Gewebezuordnung zu kommen. Jetzt ist nicht mehr damit zu rechnen, dass man ein weit fortgeschrittenes Tumorleiden übersehen hätte. Wo verfügbar, kann ein Ganzkörper-Glukose-PET die Suche nach einem Primärtumor abkürzen. Findet man ein schon weit fortgeschrittenes, auch in andere Organe metastasiertes Tumorleiden, wird sich auch die Therapie der ZNS-Metastase(n) nach den Therapieoptionen für die Grundkrankheit richten, d.h., wenn von Seiten der Internisten, Gynäkologen oder Chirurgen keine Therapiemöglichkeiten bestehen, wird auch die neurologische Behandlung palliativ sein.

c ge KM-Aufnahme mit kleinem knotigen Kerntumor (Pfeil, c). (B. Kress, Heidelberg)

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Kapitel 11 · Hirntumoren

Maße, vorkommen kann, sollte das MRT vor der LP erfolgen. Im Liquor finden sich Blasten. 3Therapie. Bei den akuten lymphatischen Leukämien ist eine ZNS-Prophylaxe mit hoch dosierter systemischer Zytostatikagabe und intrathekaler Chemotherapie oder zusätzlicher ZNS-Bestrahlung Bestandteil der Induktionstherapie. Für die intrathekale Chemotherapie sind in Deutschland Methotrexat (MTX), Ara-C und Thiotriethylenephosphoramid (Thiotepa) zugelassen. Die Therapie sollte über ein intraventrikuläres Reservoir zweimal wöchentlich durchgeführt werden. Die Dosierungen betragen 4 12–15 mg für MTX, 4 40 mg für Ara-C und 4 10 mg für Thiotepa.

11

MTX gilt als Mittel derWahl. Zur Prävention systemischer Wirkungen von MTX wird oral Folinsäure, 15 mg, alle 6 h für 48 h, erstmals 6 h nach der MTX-Injektion, verabreicht (Leukovorin rescue). Eine Depotform von Ara-C (DepoCyt®), die in kontrollierten Studien Vorteile gegenüber konventioneller Ara-C-Therapie gezeigt hat und gegenüber MTX zumindest gleichwertig war, ist in Deutschland für die Behandlung der Meningeosis lymphomatosa zugelassen. Ara-C wird über 14 Tage retardiert freigesetzt, dadurch nur 14-tägige Behandlungszyklen. Die Substanz ist sehr teuer und muss zur Therapie individuell genehmigt werden. Kortison sollte hinzugegeben werden um eine Arachnitis zu vermeiden. 11.13.3

Meningeosis neoplastica (carcinomatosa)

Unter einer Meningeosis neoplastica versteht man die metastatische Ausbreitung von Tumorzellen im Subarachnoidalraum als solide leptomeningeale Metastasen oder als Aussaat nicht adhärenter Zellen. Ist die Grunderkrankung ein Karzinom, spricht man von einer Meningeosis karzinomatosa bei einer Leukämie von einer Meningeosis leukaemica. 3Symptomatik und Verlauf. Je nach Lokalisation und Ausdehnung kommt es zu Kopfschmerzen, Hirnnervenausfällen und Liquorstauung. Der Befall der Meningen kann aber auch klinisch asymptomatisch bleiben. Die Infiltration der Meningen ist besonders ausgeprägt an der Schädelbasis. Dies erklärt die frühen Hirnnervenläsionen (Doppelbilder durch Befall der verschiedenen okulomotorischen Hirnnerven, Hypoglossus- und Fazialisparese). Die häufigsten Primärtumoren sind Mammakarzinome, Bronchialkarzinome, maligne Melanome sowie Lymphome und Leukämien. Eine Meningeosis kann auch bei primären Hirntumoren insbesondere bei Germinomen, Medulloblastomen u.a. auftreten.

Die Meningeosis neoplastica tritt im Verlauf einer malignen Erkrankung in ca 10% auf und ist Ausdruck einer disseminierten Erkrankung mit infauster Prognose. 3Diagnostik. MRT: siehe oben. Liquor: Bei klinischem oder radiologischem Verdacht auf eine Meningeosis sind zum Nachweis von Tumorzellen im Liquor nicht selten mehrfache Liquorpunktionen notwendig. Der Nachweis von Tumorzellen setzt keine erhöhte Zellzahl voraus. 3Therapie und Prognose. Die Meningeose bei Mammakarzinom spricht oft gut auf die Therapie an. Auch Rezidive können nochmals erfolgreich behandelt und Überlebenszeiten von mehreren Jahren können erreicht werden. Dagegen ist die Prognose bei Meningeosen durch Bronchialkarzinome oder Melanome sehr schlecht. Die Patienten überleben meist nur einige Monate. 4 Zur intrathekalen Chemotherapie gibt man MTX 15 mg in steriler Trägerlösung 2-mal/Woche. 4 Zur Prävention einer systemischen Wirkung von MTX wird Folinsäure oral 15 mg alle 6 h für 48 h, erstmals 6 h nach der MTX-Instillation gegeben. 4 Die intrathekale Chemotherapie kann auch über ein intraventrikuläres Reservoir und nicht über wiederholte Lumbalpunktionen erfolgen. 4 Depotcyte ist zwar nur für die Meningeosis blastomatosa zugelassen, wird aber auch bei der karzinomatösen Meningeose eingesetzt. Die Therapie wird bei Abnahme des Tumorzellanteils bis zur Liquorsanierung (kein Nachweis von Tumorzellen in 2–3 Liquoruntersuchungen) fortgeführt. 4 Ist wegen solider Metastasen eine zusätzliche Strahlentherapie vorgesehen, wird die intrathekale Chemotherapie i.R. wegen zu hoher Neurotoxizität pausiert. ä Der Fall Mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Doppelbildern wird eine 35-jährige Frau in die Klinik überwiesen. Bei der Aufnahmeuntersuchung findet man eine endgradige Nackensteifigkeit und Abduzensparese links. Die Patientin klagt weiterhin über erhebliche Kopfschmerzen und lageabhängiges Übelkeitsgefühl. Das kraniale Computertomogramm mit und ohne Kontrastmittel wird als unauffällig befundet. Die Liquoruntersuchung zeigt eine leichte Eiweißerhöhung (80 mg/dl) und eine Pleozytose von 20 Zellen. Liquorzytologisch liegen über 80% entdifferenzierte Tumorzellen mit reichlich Mitosen vor (. Abb. 11.6). Das Kernspintomogramm mit Kontrastmittel zeigt eine deutliche Anreicherung über den Meningen (. Abb. 11.26). Vor zwei Jahren war die Patientin wegen eines Mammakarzinoms T2 N1 M0 brusterhaltend operiert worden. Die Diagnose einer Meningeosis carcinomatosa bei Mammakarzinom führte zur sofortigen Chemotherapie mit Methotrexat und anschließender Bestrahlung von Gehirn- und Rückenmark. Inzwischen ist es einmal zum Rezidiv gekommen, das erneut mit Methotrexat-Gabe gut beherrscht werden konnte.

333 11.14 · Intrakranielle maligne Lymphome

11

. Abb. 11.26. a T1-gewichtetes MRT nach Kontrastmittelgabe bei Meningeosis lymphatica, b Auf der Ponsoberfläche kommt es zu einem pathologischen Enhancement bei diffuser maligner Infiltration der Pia durch das Lymphom. (O. Jansen, Kiel)

a

11.14

Intrakranielle maligne Lymphome

3Epidemiologie. Lymphome des Zentralnervensystems machten früher etwa 0,5–2% der intrakraniellen Tumoren aus. Sie nehmen aber in den letzten Jahren an Häufigkeit deutlich zu (6–7%). In manchen Serien wird schon eine Häufigkeit von 15% angegeben. Dies ist nicht nur auf die Inzidenz von Lymphomen bei AIDSPatienten zurückzuführen oder auf die verbesserte Diagnostik, sondern zeigt wohl eine tatsächliche Zunahme von Lymphomen in der Bevölkerung, auch ohne Immunsuppression, an. Lymphome betreffen alle Altersgruppen mit einem Gipfel in der 6. Lebensdekade. Das Auftreten in höherem Lebensalter könnte – aufgrund der höheren Lebenserwartung – auch einer der Gründe für die relative Zunahme der Lymphome sein. Wir unterscheiden 4 die primären Lymphome des ZNS von 4 den ZNS-Absiedelungen systemischer Lymphome, meist bei Non-Hodgkin Lymphomen. Zu den Lymphome des ZNS bei AIDS 7 Kap. 19. 3Diagnostik. Die Verdachtsdiagnose eines primären ZNSLymphoms wird mit CT und MRT – ggf. ergänzt durch eine Spektroskopie-gestellt. Die Diagnose-sicherung erfolgt durch eine Hirnbiopsie oder die Liquorzytologie. Bei immunkompetenten Patienten sind ventrikel- und mittelliniennahe, ausgedehnte, in 50% der Fälle multipel lokalisierte, homogen kontrastmittelaufnehmende Läsionen charakteristisch (. Abb. 11.27). Histologisch handelt es sich meist um B-ZellLymphome hohen Malignitätsgrades. Das Bild kann bei immunsupprimierten Patienten auch atypisch sein mit inhomogener Tumordichte und fleckiger, girlandenähnlicher Kontrastmittelaufnahme, wie beim Glioblastom. Als charakteristisch gilt, dass die Lymphommassen unter Kortisontherapie deutlich zurückgehen. Dies ist einerseits diagnostisch hilfreich, andererseits wird unter Kortisontherapie schon nach kur-

b

zer Zeit die Aussagekraft einer Biopsie reduziert, so dass man, wenn nicht eine vitale Indikation zur Kortisonbehandlung besteht, beim Verdacht auf ein Lymphom die Kortisonbehandlung so lange aussetzen soll, bis eine bioptische Sicherung erfolgt ist. Auch die Absiedlungen der systemischen Lymphome halten sich meist an die ventrikelnahe Lokalisation. Sie nehmen ebenfalls stark Kontrastmittel auf. Non-Hodgkin-Lymphome sind meist die Primärtumoren. Beim M. Hodgkin kommen auch Metastasen vor, die an Absiedlungen solider Tumoren erinnern. 3Therapie und Prognose. Die neurochirurgische Resektion von Lymphomen des ZNS führt wegen häufig diffusen Wachstums statistisch nicht zur Verbesserung der Prognose und ist nicht indiziert. Lymphome des ZNS sind strahlen- und chemosensibel. Die alleinige Strahlentherapie, bis vor einigen Jahren Therapie der ersten Wahl, wurde unter der Zielsetzung einer Verbesserung der Therapieergebnisse mit einer systemischen und intraventrikulären Chemotherapie kombiniert. Hiermit konnte zwar eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit erreicht werden, jedoch wurde, insbesondere bei den über 60-jährigen Patienten, nahezu ausnahmslos eine Spätneurotoxizität mit dementieller Entwicklung beobachtet, so dass die Kombinationsbehandlung in der Primärtherapie wieder verlassen wurde. Zwischenzeitlich konnte die Wirksamkeit einer alleinigen Chemotherapie bei primären Lymphomen des ZNS gezeigt werden. Neben Cortison sind insbesondere Methotrexat und Cytosinarabinosid wirksame Substanzen. Unbehandelt oder mit alleiniger Cortisontherapie beträgt die mittlere Überlebenszeit wenige Monate, mit alleiniger Strahlentherapie 12–18 Monate und mit einer Methotrexat basierten Polychemotherapie ist eine mittlere Überlebenszeit von 50 Monaten beschrieben. Bei Rezidiven nach Chemotherapie besteht dann mit Bestrahlung und Steroiden eine weitere Therapieoption.

334

Kapitel 11 · Hirntumoren

Leitlinien Diagnose und Therapie der ZNS-Lymphome* 4 Die Diagnosesicherung erfolgt in der Regel durch eine stereotaktische Biopsie; eine operative Resektion ist nicht sinnvoll (⇔/B). 4 Chemotherapie allein oder Chemotherapie mit Strahlentherapie ist die Behandlung der Wahl (⇑/B). Welche Therapie am wirksamsten und gleichzeitig am wenigsten toxisch ist, wird in Deutschland derzeit in klinischen Studien untersucht. Daher wird der Einschluss von Patienten in Therapiestudien empfohlen. 4 Mit einer Methotrexat-basierten systemischen und intraventrikulären Polychemotherapie wurde für Patienten unter 60

Jahren eine 5-Jahres-Überlebensrate von 75% bei niedriger Neurotoxizität erzielt (⇑). 4 Bei etwa der Hälfte der Patienten ist Temozolomid allein oder in Kombination im Rezidiv oder bei primärem Therapieversagen wirksam (⇑). 4 Können oder wollen Patienten nicht in Studien eingeschlossen werden, ist der Einschluss von systemisch appliziertem Methotrexat in einer Einzeldosis von mindestens 1,5 g/m2 KOF in den Therapieplan sinnvoll ((⇑/B). * Gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2005

11 a

b

c

d

. Abb. 11.27a–d. Charakteristischer Befund eines primären ZNSLymphom in CT (a) und MRT (b-c). Im CT sieht man eine leicht hyperdense raumfordernde Läsion (Pfeil) mit Begleitödem rechts parietookzi-

pital, die das Hinterhorn kompimiert. Ödem und Tumor werden im T2 (b) und T1 (c) MRT noch deutlicher. Die Läsion nimmt massiv Kontrastmittel auf (Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

335 11.14 · Intrakranielle maligne Lymphome

Facharzt

Therapiefolgen Bestrahlungsfolgen Heute sind Strahlenschäden (7 auch Kap. 30) des zentralen und peripheren Nervensystems aufgrund der großen technischen und methodischen Fortschritte in der Strahlentherapie selten geworden. Plexusschäden nach Bestrahlung der Axilla bei Mammakarzinom oder Cauda-equina-Läsionen nach Bestrahlung von Prostata oder Enddarmtumoren sieht man kaum noch. Selbst in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hirnnerven, z.B. bei Hypophysenmetastasen, kann die Bestrahlung ohne Schädigung gesunden Gewebes durchgeführt werden. Strahlennekrose. Nach stereotaktischer Einzeitbestrahlung und bei Implantation von interstitiellen Strahlenquellen kommt es in einem geringen Prozentsatz zur Strahlennekrose, einer zystischen Nekrose mit deutlichem Randödem. Der Nekroserand kann Kontrastmittel aufnehmen, die Läsion kann raumfordernd werden und ist in CT und MRT oft nicht von einem Tumorezidiv zu unterscheiden (. Abb. 11.28). Vermutlich liegt neben der direkten Parenchymstörung auch noch eine venöse Abflussstörung durch Obliteration von benachbarten Venen zugrunde. Manchmal ist eine Nekrosenexstirpation notwendig. Sonst gibt man Dexamethason und subkutan Heparin. Die Strahlenvaskulitis in benachbarten Gefäßen kann auch zu arteriellen Gefäßokklusionen führen, besonders nach Schädelbasisbestrahlung.

Strahlenleukenzephalopathie. Eine diffuse, homogene Demyelinisierung der weißen Substanz der Hemisphären ist für die Strahlenleukenzephalopathie charakteristisch. Im CT erscheinen die subkortikalen Strukturen stark hypodens. Klinisch ist eine psychomotorische Verlangsamung mit möglicher dementieller Entwicklung auffällig. Die Strahlenleukenzephalopathie tritt vor allem nach Ganzhirnbestrahlung (60 Gy) mit intrathekaler Chemotherapie auf. Chemotherapiefolgen Viele der heute gängigen Zytostatika sind neurotoxisch und führen zu Funktionsstörungen peripherer Nerven (Polyneuropathie, 7 Kap. 32) und zu zentralen Symptomen, die Anfälle, psychotische Episoden, Verwirrtheit und Bewusstseinsstörungen umfassen. Diese Symptome treten sowohl bei der systemischen Chemotherapie von extrakraniellen Primärtumoren als auch bei der Behandlung von ZNS-Malignomen auf. Tabelle 11.5 gibt eine Übersicht der häufigsten systemischen, neurotoxischen Nebenwirkungen gängiger Chemotherapeutika. Opportunistische Infektionen Bei aggressiver, systemischer Chemotherapie (und bei AIDS) kommt es zu opportunistischen Infektionen, wie der progressiven, multifokalen Leukenzephalopathie, die durch das JC-Virus, ein Papova-Virus, verursacht wird.

. Abb. 11.28a,b. MRT einer rechts-frontalen Radionekrose nach Radiatio einer Melanommetastase. Die Nekrose nimmt deutlich Kontrastmittel auf (T1-Bild, a) und wird von einem ausgedehnten signalreichen Ödem (T2-Bild, b) umgeben. (O. Jansen, Kiel)

a

b

11

336

Kapitel 11 · Hirntumoren

. Tabelle 11.5. Neurotoxische Nebenwirkungen von Chemotherapeutika

Stoffklasse

Neurotoxische Symptome

Ausprägung

Sensomotorische Polyneuropathie, Hirnnervenausfall, Enzephalopathie, vegetative Störungen

+++ ++

Sensomotorische Polyneuropathie

+

Sensomotorische Polyneuropathie Ototoxizität

++ +

Psychose, Enzephalopathie, Hirnnervenausfall, zerebelläre Funktionsstörung Hochdosis: Enzephalopathie

+ +

Enzephalopathie, Verwirrtheit Enzephalopathie, Verwirrtheit Enzephalopathie, Verwirrtheit

+ + +

Enzephalopathie, Koma, zerebelläre Funktionsstörung, sensomotorische Polyneuropathie Enzephalopathie, Halluzinationen, Tremor, Spastik, sensible Polyneuropathie

+ + +++ ++ ++

Arachnopathie, epileptische Anfälle, Leukenzephalopathie

+ +

Enzephalopathie, Somnolenz, Halluzinationen, epileptische Anfälle, Ataxie Enzephalopathie, Somnolenz, Ataxie

+ ++ +

Mitosehemmstoffe Vinca-Alkaloide Vincristin, Vinblastin Taxane Taxol Alkylanzien Platinkomplexe Cisplatin, Carboplatin Stickstoff-Lost-Derivate Ifosfamid Cyclophosphamid Nitrosoharnstoffe Nimustin ACNU Carmustin BCNU Lomustin CCNU Andere Alkylanzien Procarbazin

11

Hexamethylmelamin (HMM)

Folsäureantagonisten Methotrexat (MTX) (intrathekal) Pyrimidinanaloga Cytosinarabinosid (ARA-C, Alexan) Fluorouracil (5-FU)

In Kürze Klinik der Hirntumoren

Hirnödem und intrakranielle Drucksteigung

Inzidenz: 50/100.000 Einwohner/Jahr WHO-Malignitätsgrade: Grad I: benigne Tumoren, postoperative Überlebenszeit: >5 Jahre; II: semimaligne T., 3–5 J.; III: maligne T., 2–3 J; Grad IV: hochmaligne T., 6–15 Monate. Symptome: Kopfschmerzen durch Meningendehnung; Epileptische Anfälle als Frühsymptom bei Tumoren der Großhirnhemisphäre; Neuropsychologische Auffälligkeiten als Frühsymptom eines Hirntumors; fokale Symptome.

Hirnödem in Umgebung von Tumoren, zunächst gleichseitige Hemisphäre, wird kompensatorisch ausgepresst, mit Hirngewebe gefüllt. Weiterer Verlauf: Druckanstieg, Einklemmung (Herniation) durch Verlagerung von Gewebe und Ödem. Symptome des erhöhten Hirndrucks: Psychische Symptome; Stauungspapille, Blutungen in Netzhaut, Erbrechen. Ophthalmologische und neurologische Symptome bei Herniation sowie Abfall des Blutdruckes, Koma, Hirntod.

6

337 11.14 · Intrakranielle maligne Lymphome

Diagnostik Neuroradiologische Diagnostik. CT: Lokalisation, Störungen der Bluthirnschranke, Voraussage über Tumorhomogenität/ -inhomogenität, Grad der Massenverschiebung, Begleitödem. MRT: Darstellung früherer oder frischer Blutungen, Tumorart, -dignität, Abgrenzung Tumor und Ödem, solitäre und multiple Hirnmetastasen. Hirnbiopsie. Offen (inkl. Tumorverkleinerung) oder stereotaktisch in Lokalanästhesie. Labor. Normaler Liquor, unspezifische Eiweißerhöhung durch Blut-Hirn-Schrankenstörung.

Therapie Operative Therapie. Radikale Resektion zur Verringerung der Tumormasse, bei Hirntumoren ab WHO-Grad II postoperative Bestrahlung. Strahlentherapie. Schutz benachbarter, strahlenempfindlicher Risikostrukturen möglich, niedrige Strahlenschäden im umgebenden, gesunden Hirngewebe.

pie: Resektion oder Biopsie mit Strahlentherapie, Chemotherapie bei Rezidiven. Glioblastome (WHO-Grad IV). Infiltrierend, subkortikal wachsende Tumoren in Großhirnhemisphäre mit Blutungsneigung. Symptome: Kopfschmerzen, Übelkeit, Lähmungen. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Subtotale Resektion, Strahlen-, Chemotherapie, Rezidive.

Oligodendrogliale Tumoren Oligodendrogliome (WHO-Grad II). Histologisch gutartige, aber schlecht abgegrenzte Hemisphärentumoren des mittleren Lebensalters. Symptome: Fokale oder generalisierte Anfälle als Frühsymptome, neurologische Herdsymptome. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Totale Resektion, postoperative Rezidive häufig, Strahlen-, Chemotherapie. Anaplastische Oligodendrogliome (WHO-Grad III). Infiltrierend wachsende, multilokulär auftretende Tumoren. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Resektion, anschließend Chemotherapie.

Ependymale Tumoren (WHO-Grad II) Chemotherapie. Verschiedene Therapieschemata abhängig vom Tumorsubtyp. Hirndrucktherapie. Besserung von Kopfschmerzen, Vigilanz, neurologischen Herdsymptomen.

Ependyme. Langsam wachsende Großhirngeschwülste des Kindes- und Jugendalters. Symptome: Hydrozephalus mit Hirndruckzeichen, Querschnittsymptome. Diagnostik: CT, MRT, Liquor. Therapie: Shuntlegung, totale Resektion, Strahlentherapie.

Astrozytäre Tumoren (Gliome) Primitiv neuroektodermale Tumoren (WHO-Grad IV) Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I). Langsam wachsende, gut abgegrenzte Tumoren des Kindes- und Jugendalters, in Strukturen der Mittellinie, in Kleinhirn, Hirnstamm, Thalamus. Astrozytome (WHO-Grad II). Sehr langsam, gut abgegrenzt und homogen wachsende Tumoren des mittleren Lebensalters. Symptome: Epileptische Anfälle, Malignisierung des Tumors. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Radikale Resektion bei kleineren Tumoren, postoperative Strahlen-, Chemotherapie. Ponsgliome (WHO-Grad II oder III). Tumoren des Erwachsenenalters in Großhirnhemisphäre, frontal oder temporal, mit lebensbedrohlichen Hirndruckkrisen. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Falls möglich, Resektion.

Medulloblastome. Rasch wachsende, undifferenzierte Geschwülste des Kindes- und Jugendalters im Kleinhirnwurm. Symptome: Erbrechen, Rumpfataxie mit Fallneigung, Stauungspapillen. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Totale Resektion, Strahlen-, Chemotherapie.

Mesenchymale Tumoren (WHO-Grad I) Meningeome. Langsam gegen das Gehirn wachsende, gut abgegrenzte Tumoren des mittleren und fortgeschrittenen Alters. Symptome: Spätepilepsie, Entwicklung neurologischer Herdsymptome. Diagnostik: CT, MRT, Angiographie. Therapie: Präoperative Embolisation, totale Resektion, Strahlentherapie.

Nervenscheidentumoren (WHO-Grad I) Anaplastische Astrozytome (WHO-Grad III). Rasch wachsende Tumoren, neigen zu Einblutungen, Begleitödem. Symptome: Hirndruck, gehäufte Anfälle. Diagnostik: CT, MRT. Thera-

6

Vestibularis-Schwannome. Gutartige Tumoren des Kleinhirnbrückenwinkels. Symptome: Einseitiger Hörverlust, peripherer

11

338

Kapitel 11 · Hirntumoren

Vestibularisausfall, Fazialislähmung. Diagnostik: BAEP, CT, MRT, EMG, Liquor. Therapie: HNO-chirurgische, transkranielle Operation.

Hypophysentumoren (WHO-Grad I) Intrasellär wachsende Tumoren mit asymmetrischer Ausweitung der Sella, Ausdünnung des Dorsum sellae, supra- und paraselläres Wachsen. Symptome hormonproduzierender Tumoren: Riesenwuchs bei Erkrankung in Jugend, Akromegalie bei Erwachsenen, Diabetes mellitus, Infertilität, Oligomenorrhoe, Stammfettsucht, Libido-, Potenzverminderung. Endokrine Mangelsymptome, Anämie, Müdigkeit, Gesichtsfelddefekte bei hormoninaktiven Tumoren. Diagnostik: CT, MRT, Gesichtsfeldbestimmung. Therapie: Transsphenoidale Operation durch Nase, medikamentöse Therapie, bei Rezidiv Strahlentherapie, nach Totaloperation Hormonsubstitution.

Metastasen und Meningeosen (WHO-Grad IV) Solide Metastasen. Komplikation eines Tumorleidens. Symptome: Allgemeine psychische Störungen, Gewichtsabnahme, Husten, Verdauungsstörungen, beschleunigte BSG, Anämie. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Medikamentöse Therapie, Operation bei einzelnen Metastasen, Strahlentherapie. Meningeosis blastomatosa. Häufig ZNS-Beteiligung. Diagnostik: CT, MRT, Liquor. Therapie: Hoch dosierte systemische Zytostatikagabe, intrathekale Chemotherapie, ZNS-Bestrahlung. Meningeosis neoplastica. Metastatische Ausbreitung von Tumorzellen im Subarachnoidalraum. Symptome: Kopfschmerzen, Hirnnervenausfälle. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Intrathekale Chemotherapie, Strahlentherapie.

Intrakranielle maligne Lymphome (WHO-Grad IV) Kraniopharyngeome (WHO-Grad I)

11

Benigne oder semimaligne, destruierend und verdrängend wachsende Tumoren des Kindes-, Jugend- und jüngeren Erwachsenenalters. Symptome: Kopfschmerzen, Erbrechen, im Wachstum zurückgeblieben, hypothalamische Störungen, Stauungspapille, Gesichtsfelddefekte. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Operation, Zystenentleerung, Strahlentherapie, Hormonsubstitution.

Lymphome des Zentralnervensystems aller Altersgruppen. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Chemo-, Strahlentherapie.

12 12 Spinale Tumoren 12.1 Diagnostik spinaler Tumoren – 340 12.1.1 Neuroradiologische Diagnostik 12.1.2 Liquordiagnostik – 342 12.1.3 Elektrophysiologie – 342

– 341

12.2 Therapieprinzipien – 342 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4

Chirurgisch – 342 Strahlentherapie – 343 Chemotherapie – 343 Schmerztherapie und Palliativmedizin – 343

12.3 Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen – 343 12.3.1 Extradurale Tumoren – 343 12.3.2 Extramedulläre, intradurale Tumoren – 343 12.3.3 Intramedulläre Prozesse – 345

340

Kapitel 12 · Spinale Tumoren

> > Einleitung Das Leitsymptom spinaler raumfordernder Läsionen ist die Querschnittssymptomatik. Spinale Tumoren sind seltener als intrakranielle und histologisch häufig gutartig. Raumfordernde, spinale Entzündungen, Gefäßfehlbildungen des Rückenmarks und Bandscheibenkrankheiten sind in anderen Kapiteln behandelt. Ätiologisch so unterschiedliche Krankheitsprozesse, wie primäre Tumoren des Rückenmarks, seiner Wurzeln und Häute, Metastasen in Rückenmark und Wirbeln und Granulome der Wirbel, verursachen sehr ähnliche neurologische Symptome, so dass klinisch die ätiologische Differentialdiagnose in vielen Fällen nur durch die Zusatzdiagnostik gelingt. Die Einförmigkeit der Symptomatik beruht darauf, dass das Rückenmark in seinen Kerngebieten und Bahnsystemen verhältnismäßig einfach gebaut ist und nur einen geringen Durchmesser hat. Bleiben raumfordernde spinale Prozesse unerkannt, führen sie auch bei histologischer Gutartigkeit zur Querschnittslähmung.

12

Vorbemerkungen 3Epidemiologie. Spinale Tumoren sind erheblich seltener als Hirntumoren. Im Spinalkanal überwiegen die gutartigen Geschwülste mit etwas über 60%. Diese Tumoren können jedoch nur dann erfolgreich operiert werden, wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt wird, d.h. bevor es zu einer irreparablen Kompression des Rückenmarks oder zu einer gefäßabhängigen Markerweichung gekommen ist. Altersverteilung: Die Kurve hat einen flachen Verlauf mit einem Plateau zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr. 10–15% aller Rückenmarktumoren werden im Kindes- und Jugendalter manifest. Dabei handelt es sich vorwiegend um bösartige Geschwülste und um Gliome. Für das mittlere Lebensalter (30– 50 Jahre) sind Ependymome, Neurinome und Gefäßtumoren 7 Kap. 11) charakteristisch. Jenseits des 50. Lebensjahres überwiegen die Meningeome. In diesem Alter sind auch die Metastasen und Plasmozytome häufig. 3Ätiologische Einteilung. Tumorarten: Obwohl sich Rückenmark und Gehirn entwicklungsgeschichtlich aus den gleichen Bauelementen zusammensetzen, unterscheidet sich die relative Häufigkeit der einzelnen Geschwulstarten in den beiden Abschnitten des ZNS beträchtlich. So sind im Rückenmark die Gliome in der Minderzahl, Oligodendrogliome und Glioblastome werden nur selten beobachtet. Auch Metastasen in die Rückenmarksubstanz kommen nur ganz vereinzelt vor, während sie als sekundär raumfordernde, extradurale Metastasen in das Achsenskelett häufig sind. Blutungen in den Tumor, die im Gehirn eine so große Rolle spielen, treten bei Rückenmarktumoren kaum ein. Zahlenmäßig an erster Stelle stehen die Neurinome, dann folgen die Meningeome vor den Gefäßfehlbildungen, den Ependymomen, den eigentlichen Gliomen (pilozytisches Astrozytom, Astrozytom) und den bösartigen Wirbelprozessen.

3Lokalisation und klinische Symptome. Die klinischen Symptome spinal raumfordernder Läsionen lassen sich durch die Höhenlokalisation der Läsion im zervikalen, thorakalen, lumbalen und sakralen Spinalkanal oder, in Höhe der Läsion, durch ihre Beziehung zum Rückemark beschreiben und erklären. Im Durchmesser unterscheiden wir intramedulläre (intraaxiale) von extramedullären (extraaxialen) Tumoren, die wiederum intradural oder extradural sitzen können. 4 Etwa ein Drittel aller Rückenmarkstumoren sitzt extramedullär und intradural. Es handelt sich vor allem um Neurinome und um Meningeome. Sie sind in der Regel gut operabel. 4 Mehr als ein Drittel der Tumoren wächst primär extradural. Unter diesen überwiegen die bösartigen Wirbelprozesse: Metastasen, Sarkome und Plasmozytome. 4 Am seltensten sind intramedulläre Geschwülste, vorrangig Ependymome, pilozytische Astrozytome und andere Gliome. Bei diesen sind der chirurgischen Behandlung auch dann enge Grenzen gesetzt, wenn die Tumoren histologisch gutartig sind. 4 Extramedulläre Tumoren werden oft erst sekundär, nach Einengung des Subarachnoidalraums und Kompression der Rückenmarkstrukturen von außen symptomatisch. Querschnittssyndrom. Die spinalen Syndrome, wie sie in 7 Kap. 1.13 ausführlich beschrieben sind, sind auch für spinale raumfor-

dernde Läsionen charakteristisch. Im fortgeschrittenen Stadium führen alle unbehandelten spinalen Tumoren, sofern sie oberhalb des Conus medullaris sitzen, zur kompletten Querschnittslähmung. Diese kann sich in Stunden, Tagen, manchmal aber auch langsam fortschreitend über Wochen, Monate und selbst Jahre entwickeln. Durch Beeinträchtigung der spinalen Zirkulation können vorübergehend Verschlechterungen und Remissionen eintreten, die Verwechslungen mit spinalen Durchblutungsstörungen oder spinalen Entzündungen entstehen lassen. Eine Querschnittslähmung kann schon sehr früh, wenn der spinale Tumor noch nicht weit fortgeschritten ist, als akute Komplikation innerhalb von wenigen Stunden einsetzen, wenn der Tumor die Blutzufuhr zum Rückenmark gedrosselt oder unterbrochen hat, so dass eine sekundäre Rückenmarkischämie eintritt, die die Lokalzeichen des Tumors überdecken kann. Oft ist die Querschnittlähmung in Folge der Ischämie initial, manchmal auf Dauer, schlaff. Diese sekundäre Markerweichung, die vor allem bei extramedullären Geschwülsten eintritt, begrenzt die Aussichten des Kranken auf eine erfolgreiche Operation, selbst bei einem gutartigen Tumor. 12.1

Diagnostik spinaler Tumoren

Anders als bei den Hirntumoren, kann man aus dem neurologischen Untersuchungsbefund allein immer nur ungefähr die Lokalisation des vermuteten Tumors festlegen. Oft vermutet man klinisch den Sitz der Geschwulst aufgrund der topischen Gliederung der spinalen Bahnsysteme, zu tief. Die exakte Höhenlokali-

341 12.1 · Diagnostik spinaler Tumoren

12

Exkurs Raumfordernde Entzündungen und Bandscheibenvorfälle als spinal raumfordernde Läsionen (7 Kap. 1) Die oben gegebene Einteilung und Lokalisation gilt auch für die Entzündungen mit raumforderndem Charakter: 4 Abszesse können extradural (Spondylitis oder Diszitis), intradural – extramedullär und intramedullär (Subduralempyem) liegen. 4 Intramedulläre Abszesse kommen hämatogen und bei Parasiten vor.

4 Die raumfordernde Myelitis ist ein primär intramedullärer, entzündlicher Tumor, während die Arachnitis, wie schon der Name sagt, intradural extramedullär liegt. 4 Bandscheibenprozesse sind primär extradural, Sequester können nach intradural vordringen

Facharzt

Symptome spinaler Tumoren Frühsymptome Intramedulläre Tumoren. Die ersten Symptome setzen häufig schleichend ein. Die zentrale Lähmung beginnt meist als Spannungsgefühl und Steifigkeit in den Beinen oder als Schwäche in den Armen An der oberen Begrenzung der Geschwulst besteht nicht selten eine periphere Lähmung, die durch Läsion der Vorderhörner zustande kommt. Sensible Strangsymptome, die als unscharf abgegrenzte Missempfindungen in den distalen Gliedabschnitten empfunden werden, haben eine dumpfe, brennende Qualität und wellenförmigen Verlauf. Sie werden oft schon durch leichte Berührung ausgelöst und verstärken sich nicht oder kaum bei Erhöhung des spinalen Drucks. Eine Läsion der Pyramidenvorder- und -seitenstränge kann schon früh zu spinalen Automatismen führen. Diese zeigen sich als unwillkürlich eintretende, spontan oder durch sensible Reize ausgelöste Bewegungen eines oder beider Beine oder einer intermittierenden spastischen Tonuserhöhung. Blasen- und Mastdarmstörungen sind nur selten Frühsymptome. Extramedulläre Tumoren. Die Symptome sind für intra- und extradurale Lokalisation vergleichbar Radikuläre, d.h. segmentale Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen, die sich bei Erhöhung des spinalen Drucks durch Husten, Pressen oder Niesen verstärken, sind charakteristisch. Diese Schmerzen und sensiblen Störungen können den Lähmungen mehrere Jahre vorangehen. Sobald mehr als eine Wurzel betroffen ist, lässt sich in den betroffenen Segmenten eine hyperästhetische Zone oder

sation und vor allem die Feststellung, welche Längsausdehnung der Tumor hat, d.h. über wie viele Segmente er sich erstreckt, ist nur durch Zusatzuntersuchungen möglich. 12.1.1 Neuroradiologische Diagnostik Die genaue, topographische Zuordnung (Höhe, Lage im Querschnitt, Längenausdehnung) muss durch bildgebende Verfahren gesichert werden. Unter diesen ist für die intramedullären Prozesse die MRT der Computertomographie und der Myelogra-

ein konstanter Sensibilitätsausfall nachweisen. Oft ist das Nackenbeugezeichen nach Lhermitte (7 Kap. 1.11.2) positiv. Die Dauer der Anamnese ist oft länger als beim intramedullären Tumor, weil die Patienten wegen ihrer Schmerzen lange Zeit unter anderen Diagnosen konservativ behandelt werden.

Spätsymptome Intramedulläre Tumoren führen zu einem fortschreitenden Syndrom der zentralen Rückenmarkschädigung (7 Kap. 1.13.3), die letztendlich in einem kompletten, das heißt sensomotorischen und vegetativen Querschnittsyndrom endet. Die Lähmung ist dann in der Regel spastisch. Wächst ein extramedullärer Tumor weiter, zerstört er die Wurzel und dehnt sich im Querschnitt des Spinalkanals aus. Dann lassen die Wurzelsymptome nach, und es stellen sich Rückenmarksymptome ein, die von der Lokalisation der Geschwulst an der Zirkumferenz des Marks bestimmt werden. Druck von ventral führt zur langsamen Entwicklung eines Spinalis-anteriorSyndroms mit frühzeitigen Blasenstörungen, Druck von lateral zum Brown-Séquard-Syndrom und Druck von dorsal zu Parästhesien und zur Beeinträchtigung der Berührungs- und Lageempfindung (sensible Ataxie) durch Läsion der Hinterstrangbahnen. Bei den extramedullären Geschwülsten kann man auch jetzt rein neurologisch nicht zwischen extra- und intraduralem Sitz unterscheiden. Letztendlich entsteht auch hier unbehandelt ein komplettes Querschnittsyndrom.

phie überlegen. Größere Gefäßmissbildungen stellen sich in der MRT gut dar, jedoch bleibt deren exakte Diagnose eine Domäne der spinalen Angiographie. Andere extramedulläre Tumoren sind im MRT so gut nachweisbar, dass eine Myelographie oft entbehrlich ist. Im Zusammenspiel mit der CT (Myelo-CT) erhält man jedoch bei extraduralen Läsionen oft wertvolle Zusatzinformationen. Diese Untersuchung kann im Notfall, wenn eine akute Querschnittsläsion unklarer Ursache vorliegt und ein MRT nicht sofort zu erhalten ist, dem Patienten kein MRT zugemutet werden kann oder die Höhenlokalisation klinisch nicht möglich ist, ganz

342

Kapitel 12 · Spinale Tumoren

entscheidend sein. Sie erlaubt die Feststellung der Höhe eines Stops mit der Myelographie, macht danach die CT mit intraspinalem Kontrastmittel möglich und liefert noch den Liquor. Auch abnorme Gefäße heben sich in dem kontrastmittelgefüllten Liquorraum ab. In einzelnen Fällen kann die CT-gesteuerte Feinnadelpunktion eines extraduralen Tumors die histologische Diagnose sichern. Auch bei spinaler Meningeosis carcinomatosa ist die kontrastmittelverstärkte MRT, zusammen mit der Liquoruntersuchung (s.u.) entscheidend. Ein lumbales CT oder MRT bei einer zervikalen oder thorakalen Läsion führt zwangsläufig zur Fehldiagnose und falschen Sicherheit. Verdacht auf Knochenmetastasen kann durch Knochenszintigraphie erhärtet werden. Es ist ein unverzeihlicher Fehler, bei einer spastischen Lähmung der Beine mit Hilfe der CT oder MRT nach einer raumfordernden Läsion im Lumbalkanal zu suchen. Die Läsion muss aus anatomischen Gründen höher liegen. 12.1.2 Liquordiagnostik

12

Bei der Lumbalpunktion findet man oft eine Eiweißvermehrung bei normaler Zellzahl. Eine besonders starke Eiweißerhöhung findet sich bei kompletten Querschnittsläsionen, wenn keine Liquorzirkulation mehr möglich ist (»Stop-Liquor«). Bei spinaler Karzinose können allerdings auch Tumorzellen nachgewiesen werden. Die diagnostische Bedeutung der LP tritt aber gegenüber den bildgebenden Verfahren ganz in den Hintergrund. Dies gilt natürlich nicht für entzündliche Ursachen (7 Kap. 21), bei denen spezifische Untersuchungen (Tuberkulose-PCR, Liquorserologie bei Parasiten, immunologische Untersuchungen bei Myelitis und direkter Keimnachweis bei Empyemen) möglich sind. 12.1.3 Elektrophysiologie Die vergleichende Untersuchung der SEP (somatosensorisch evozierte Potentiale) nach Stimulation des N. tibialis und des N. medianus kann Anhaltspunkte für eine Brustmarkläsion geben. Das EMG hilft bei der Aufdeckung peripherer Nervenläsionen. Transkranielle Magnetstimulation und sensibel evozierte Potentiale sind bei den nicht so seltenen psychogenen Querschnittsyndromen hilfreich. Urologische Methoden helfen bei der Quantifizierung von Blasenstörungen. > Spinale Tumoren sind oft erst durch die Auswertung

einer großen Zahl von Befunden aus der neurologischen Untersuchung und den technischen Hilfsmethoden zu diagnostizieren.

. Abb. 12.1. T1-gewichtetes MRT der BWS (Nativ-Untersuchung). Plasmozytombefall eines Brustwirbelkörpers (signalgemindert) mit zirkulärer epiduraler Kompression des Rückenmarks. Die Signalanhebungen im darüber- und darunter liegenden Brustwirbelkörper entsprechen harmlosen fettigen Degenerationen des Markraumes

ä Der Fall Ein 78 Jahre alter Rentner wird notfallmäßig in die Klinik gebracht, nachdem in den letzten zwei Tagen eine zunehmende Schwäche beider Beine und Rückenschmerzen aufgetreten sind. Bei der Aufnahmeuntersuchung findet sich eine schlaffe, nahezu vollständige Paraplegie und eine Überlaufblase. Ein sensibles Niveau ist bei etwa Th8–9 festzustellen. Die MRT zeigt den in . Abbildung 12.1 wiedergegebenen Befund. Es handelt sich um einen akuten Querschnitt bei Einbruch eines Plasmozytoms in dem Spinalkanal (extradurale, raumfordernde Läsion). Da computertomographisch nur ein Wirbelkörper massiv befallen war und die anderen in ihrer Form und Höhe erhalten waren, war eine sofortige orthopädische Operation indiziert, und der Patient wurde anschließend bestrahlt. Die Querschnittssymptomatik bildete sich bis auf eine mittelgradige 3/5 Paraparese zurück, der Patient musste mit einem suprapubischen Katheter versorgt werden. Beim weiteren Staging zeigte sich ein Befall multipler Knochen durch das Plasmozytom.

12.2

Therapieprinzipien

12.2.1 Chirurgisch Wenn nach Lage, Ausdehnung und Schweregrad der Symptome möglich, sollte die neurochirurgische Operation angestrebt werden. Daneben kommen in Einzelfällen auch stabilisierende orthopädische Operationen in Frage.

343 12.3 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen

12.2.2 Strahlentherapie Viele maligne Tumoren sprechen auf eine Strahlentherapie an, die bei Metastasen und Wirbelbefall bei Lyphomen oder Plasmozytom und schell fortschreitender Symptomatik auch notfallmäßig erfolgen muss. 12.2.3 Chemotherapie

12

3Therapie und Prognose. Die Prognose ist auf längere Sicht infaust: Viele Kranke sterben innerhalb eines Jahres. Eine Operation kommt selten in Frage. Die Behandlung mit Zytostatika, lokaler Röntgenbestrahlung, Hormontherapie bei Mammakarzinom und Prostatakarzinom sowie Behandlung mit radioaktivem Jod bei jodspeicherndem Schilddrüsenkarzinom kann den Verlauf aufhalten und sogar eine gewisse Rückbildung der Querschnittssymptomatik bewirken.

12.2.4 Schmerztherapie und Palliativmedizin

Bösartige, primäre Wirbelprozesse 3Ätiologie. Am häufigsten ist das Plasmozytom. Es kann in den Wirbeln als solitärer Herd auftreten. Häufiger ist multipler Befall von Wirbeln (und anderen Knochen, z.B. Schädel, Becken) oder ausgedehnte Osteoporose, auch mit Spontanfrakturen. Die Symptome sind denen von Metastasen vergleichbar.

In manchen, oft spät diagnostizierten Fällen ist nur die Schmerztherapie, die antispastische Therapie, die Rehabilitation mit Rollstuhltraining (meist bei gutartigen Tumoren) und eine umfassende Palliativmedizin möglich.

3Diagnostik. Oft sind die sonst typischen Laborbefunde (BSG in der ersten Stunde über 100, Elektrophorese, Immunelektrophorese, Nachweis von Plasmazellen im Differentialblutbild und in der Beckenstanze) noch unverdächtig.

Chemotherapie kommt leider nur selten zur Anwendung, zum Beispiel bei der Meningeosis carcinomatosa oder leucaemica.

12.3

Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen

12.3.1 Extradurale Tumoren Extradurale Metastasen 3Ätiologie. Bei den Metastasen handelt es sich in erster Linie um Karzinommetastasen. In der Reihenfolge der Häufigkeit aufgeführt, gehen diese von Primärgeschwülsten in der Lunge, der Mamma, der Prostata, im Uterus, Magen, in der Niere und in der Schilddrüse aus. Die Metastasierung erfolgt meist hämatogen, nur selten liegt direktes lokales Tumorwachstum vor. Die Symptome der spinalen Metastasen können auftreten, bevor ein Primärtumor nachzuweisen ist. Betroffen sind vor allem thorakale und lumbosakrale Wirbel. 3Symptome. Am Anfang stehen hartnäckige, therapieresistente Schmerzen. Da die Prozesse meist vom Wirbelkörper ausgehen, d.h. von ventral her gegen das Rückenmark vordringen, kommt es lumbal bald durch Läsion der vorderen Wurzeln zu schlaffen, thorakal dagegen zu zentralen Paresen. 3Diagnose. Neben der üblichen und entscheidenden bildgebenden Diagnostik mit MRT (7 Abb. 12.1) und CT findet man in den Laborbefunden häufig eine erhöhte Aktivität der alkalischen Phosphatase, bei Primärkarzinom in der Prostata auch der PSA. Bei der Tumorsuche (7 Kap. 11) werden auch die Tumormarker bestimmt. Der Liquor bringt selten entscheidende, zytologische Befunde.

3Therapie. Hier ist nur zytostatischeTherapie und die Be-

strahlung, bei starken Schmerzen in Kombination mit Opiaten und Biphosphonaten, sinnvoll. Für alle bösartigen Wirbelprozesse gilt, dass bei sehr starken Schmerzen eine palliative Versteifung der betroffenen Wirbelabschnitte mit schnell härtenden Kunststoffen vorübergehend eindrucksvolle Linderung bringen kann. Meningeale Tumoren Sarkome, die von den Leptomeningen oder der Adventitia der Gefäße ausgehen, leukämische Durainfiltrate oder lokale Manifestationen von Lymphomen können rasch zur Querschnittslähmung führen. Sie reagieren manchmal gut auf Strahlenbehandlung und auf intrathekale und/oder systemische Gabe von Zytostatika. Bei vorangegangener, lokaler Bestrahlung stellt sich die Differentialdiagnose zur Strahlenmyelopathie. Differentialdiagnose der extramedullären, extraduralen Tumoren Die wichtigsten Differentialdiagnosen dieser Tumoren sind 4 der Bandscheibenvorfall (7 Kap. 31.7), 4 orthopädische Krankheiten der Wirbelsäule > Die Mehrzahl der extraduralen Tumoren sind bösartige

Wirbelprozesse, die in den Spinalkanal einbrechen

12.3.2 Extramedulläre, intradurale Tumoren Neurinome 3Epidemiologie und Lokalisation. Die spinalen Neurinome sind die häufigsten spinalen Tumoren. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Neurinome gehen von den hinteren Wurzeln aus. Sie können sich auf jeder segmentalen Höhe bilden.

344

Kapitel 12 · Spinale Tumoren

Facharzt

Pancoast-Tumor 3Lokalisation. Der Pancoast-Tumor sollte an seinen charakteristischen peripheren neurologischen Symptomen diagnostiziert werden, bevor er den Epiduralraum erreicht hat. Diese Tumoren wachsen, wenn sie aus der Lungenspitze ausbrechen, zunächst in den unteren Armplexus ein und erreichen bald das Ggl. stellatum. 3Symptome. Pathognomonisch ist folgende Symptomkombination: heftige Armschmerzen, untere Plexuslähmung mit Schwellung der Hand (infolge Lymphstauung oder Abflussbehinderung in der V. subclavia), Horner-Syndrom und Verminderung oder Verlust der Schweißsekretion im entsprechenden oberen Körperquadranten. Bildgebende Verfahren in Weichteil-

12

Besonders häufig findet man sie aber im oberen und mittleren Halsmark und im oberen Brustmark. Nicht selten, besonders wenn sie bei einer Neurofibromatose Typ 2 vorkommen, sind sie multipel. In ihrer Längsausdehnung erstrecken sie sich oft über mehrere Segmente. Im Querschnitt des Spinalkanals sitzen sie entweder innerhalb des Duralraums oder aber teils intra-, teils extradural. Die Neurinome können auch durch ein Foramen intervertebrale aus dem Spinalkanal herauswachsen. Das Zwischenwirbelloch wird dabei durch Arrosion des Knochens erweitert, dennoch ist der Tumor in dieser Region weniger ausgedehnt und zeigt die charakteristische Form einer extraspinalen und intraspinalen Raumforderung, die von einer Schlanken Brücke verbunden wird (Sanduhrgeschwulst).

oder Knochentechnik eignen sich zur Frühdiagnose. Später zerstört der Tumor die Querfortsätze der unteren Halswirbelkörper, wächst in den Spinalkanal ein und führt über eine zentrale Parese der Beine zur Querschnittslähmung. 3Therapie. Wenn ein Horner-Syndrom vorliegt, hat der Tumor die Lungenspitze bereits verlassen. Auch diese Tumoren können noch operiert werden, jedoch besser nach einer Vorbestrahlung von 20–25 Gy, bei der sich eine Schwiele bildet, unter deren Schutz die Operation leichter möglich ist. In der Regel ist aber nur eine Palliativoperation möglich, wenn Rippen, Plexus und Muskeln befallen sind. Röntgenbestrahlung kann bei Befall des Plexus brachialis die Schmerzen lindern, zytostatische Therapie ist bestenfalls beim kleinzelligen Bronchialkarzinom indiziert.

Meningeome 3Epidemiologie und Lokalisation. Die Meningeome sitzen mit einer festen Haftstelle an der Dura, meist an der dorsolateralen Zirkumferenz des Rückenmarks, und werden in der Regel etwa bohnengroß. Gelegentlich erstrecken sie sich fingerförmig über mehrere Segmente. Auch die spinalen Meningeome sind bei Frauen häufiger als bei Männern. Ihr bevorzugter Sitz ist das Hals- und das obere und mittlere Brustmark. 3Symptome. Entsprechend beginnt die Symptomatik meist mit einer langsam fortschreitenden Paraspastik mit Gefühlsstörungen in den Händen und Fingern. Radikuläre Schmerzen sind

3Symptome. Die Tumoren wachsen äußerst langsam, das Nervengewebe verdrängend. Die klinische Symptomatik beginnt stets mit einseitigen, radikulären Schmerzen, die sich bei Erhöhung des spinalen Drucks verstärken. Im weiteren Verlauf können die Schmerzen wieder geringer werden und, wenn die Wurzel zerstört ist, ganz aussetzen. Später entwickelt sich langsam, oder durch Abklemmung der A. spinalis anterior auch akut, eine asymmetrische Querschnittslähmung. 3Diagnose. Neurinome stellen sich in der MRT gut dar. Sie führen fast immer durch Stauungstranssudation aus Wurzelgefäßen zu einer deutlichen Erhöhung des Eiweißgehalts im Liquor. 3Therapie und Prognose. Neurinome sind im Allgemeinen gut operabel. Nach erfolgreicher Operation rezidivieren sie nicht. Lähmungen und Blasenstörungen bilden sich gut, Sensibilitätsstörungen teilweise wieder zurück. Die meisten Patienten können wieder ihrem Beruf oder einer verwandten Arbeit nachgehen. Die Prognose ist schlechter, wenn der Tumor zu spät erkannt wurde und eine Rückenmarkkompression bereits längere Zeit bestanden hat. Eine maligne Variante sind die Neuroblastome (. Abb. 12.2).

. Abb. 12.2. Neuroblastom im oberen Brustmark, von dorsal in den Spinalkanal einwachsend. MRT, sagittale Aufnahme mit Kontrastmittel. Kasuistik: Über Monate hatte sich bei diesem 38-jährigen Mann unter Rückenschmerzen eine zentrale Paraparese der Beine mit schlecht abgegrenzter Sensibilitätsstörung und Erschwerung des Wasserlassens eingestellt. (A. Thron, Aachen)

345 12.3 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen

12

Facharzt

Andere Kaudaprozesse Dieselbe Prognose haben auch die stets solitären Dermoide und Epidermoide der Kauda, die in einem langsamen Krankheitsverlauf zu einer ähnlichen Symptomatik (unvollständiges Kaudasyndrom) führen. Durch Austreten von Cholesterin und Fettsäuren kommt es bei diesen Missbildungstumoren zu einer chronischen aseptischen Entzündung mit Zellvermehrung im Liquor.

weit seltener als bei Neurinomen, während der weitere Verlauf ähnlich ist. 3Diagnose. MRT und Myelo-CT sichern die Diagnose, SEP können bei der Höhenlokalisation helfen. 3Therapie. Auch Meningeome werden operativ entfernt. Allerdings ist die Prognose für die Rückbildung der Symptome weniger günstig als bei den Neurinomen.

Dieser Befund erleichtert, im Zusammenhang mit der langen Vorgeschichte, die Diagnose. Ein Kaudasyndrom kommt in chronischer Entwicklung auch beim M. Bechterew vor und beruht auf Wurzelschädigung durch Arachnopathia cystica.

3Therapie und Prognose. Die Operationsprognose ist gut, allerdings hängt die postoperative Restitution davon ab, in welchem Maße die Geschwulst mit den Kaudafasern direkt oder über eine lokale Arachnopathie verbacken war. Nachbestrahlung ist sinnvoll, Rezidive sind häufig. In vielen Fällen muss man mit neurologischen Restsymptomen rechnen. Differentialdiagnose der extramedullären, intraduralen Tumoren. Die wichtigsten Differentialdiagnosen intraduraler extraaxi-

aler Tumoren sind Lipome Die seltenen Lipome sitzen dorsal, vorwiegend in Höhe der thorakalen und lumbosakralen Segmente. Sie erstrecken sich über mehrere Segmente. Symptomatik und Verlauf sind ähnlich wie bei den Meningeomen. Die Operationsprognose ist trotz der histologischen Gutartigkeit schlechter, weil sich das Lipom oft nicht gut vom Rückenmark abtrennen lässt, sondern infiltrierend entlang der Septen einwächst. Kaudatumoren Die Kaudatumoren werden hier besprochen, weil sie formal intradurale, extramedulläre Tumoren sind. 3Epidemiologie. Unter den Kaudatumoren steht das Ependymom an erster Stelle. Es ist in dieser Lokalisation eine weich-glasige Geschwulst, die an den Kaudafasern oder in einer Längsausdehnung bis zu 10 cm am Filum terminale sitzt. Weiter kommen Neurinome der Wurzeln, Metastasen und ganz selten Meningeome vor. 3Symptome. Die Symptomatik setzt meist erst in der zweiten Hälfte des Lebens ein. Unter Schmerzen entwickeln sich langsam, über Jahre hin fortschreitend, eine schlaffe Lähmung der Beine, Reithosenhypästhesie und Blasenstörungen. Der Verlauf kann auch Remissionen zeigen, die auf wechselnder Behinderung der Blutzirkulation beruhen. 3Diagnose. Der Liquor enthält in der Regel, obwohl er oberhalb des Tumors entnommen wird, eine leichte Eiweißvermehrung bis zu 0,5–0,7 g/l. Tumorzellen können zytologisch nachgewiesen werden. MRT und Myelo-CT sichern die Diagnose.

4 die funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28.1), 4 die chronische, zervikale (7 Kap. 31.7.3) oder vaskuläre Mye-

lopathie, 4 spinale Angiome (7 Kap. 10) und 4 die chronische spinale Verlaufsform der Multiplen Sklerose (7 Kap. 22). 4 Durch EMG und NLG kann eine Polyneuritis der Cauda equina (Elsberg-Syndrom, 7 Kap. 32.5) ausgeschlossen werden. 4 Auch das Syndrom des engen lumbalen Spinalkanals hat Gemeinsamkeiten mit dem Kaudasyndrom. 12.3.3 Intramedulläre Prozesse Ependymome 3Epidemiologie und Ätiologie. Mehr als die Hälfte der intramedullären Geschwülste sind Ependymome (. Abb. 12.3). Sie wachsen zystisch oder solide im Hinterstrangfeld des Rückenmarks (dorsale Schließungsrinne) in einer Längsausdehnung von mehreren Segmenten. Auch die pilozytischen Astrozytome können ein ähnliches Wachstum haben. Wir sprechen in diesen Fällen vom »Stiftgliom«. Die übrigen Gliome, z.B. Astrozytom oder Glioblastom, sind im Rückenmark sehr selten. Die intramedullären Gliome und Paragliome finden sich vor allem in den zervikalen und thorakalen Segmenten. 3Symptome und Therapie. Die Symptome setzen meist im frühen Erwachsenenalter ein. Da die Geschwülste sich horizontal und vertikal im Rückenmark ausdehnen, ergibt sich neurologisch kein einheitliches Bild. Die Diagnose wird durch MRT oder Myelo-CT gestellt. Die Liquoruntersuchung ist unergiebig. In-

346

Kapitel 12 · Spinale Tumoren

9 . Abb. 12.3. Spinales Ependymom im MRT. Zwei ausgedehnte zystische Läsionen im zervikalen Rückenmark (Pfeile). Unterhalb der kaudalen Tumormasse sieht man ein ausgedehntes Ödem. (B. Kress, Heidelberg)

tramedulläre Tumoren sollen, wenn nach Lokalisation und Ausdehnung möglich, operiert werden. Ependymome können nach Spaltung des Rückenmarks in der Medianebene oft entfernt werden. Gelingt das nicht vollständig oder tritt später ein Rezidiv ein, ist Strahlentherapie angezeigt. 3Differentialdiagnose der intramedullären Tumoren. Die wichtigsten Differentialdiagnosen intraduraler extraaxialer Tumoren sind vergleichbar den o.g. bei den intraduralen Tumoren.

In Kürze Diagnostik spinaler Tumoren

12

Komplette Querschnittslähmung durch Unterbrechung oder Drosselung der Blutzufuhr zum Rückenmark durch Tumor. Diagnostik durch neurologische Untersuchung und technische Hilfsmitteln. MRT: Darstellung größerer Gefäßmissbildungen, genaue, topographische Zuordnung; Spinale Angiographie: Exakte Diagnose der Gefäßmissbildungen; Myelo-CT: Darstellung extraduraler Läsionen; Liquor: Eiweißvermehrung bei normaler Zellzahl, stärke Eiweißerhöhung bei kompletter Querschnittsläsion; EMG: Aufdeckung peripherer Nervenläsionen.

Therapie Chirurgische, Strahlen-, Chemo-, bei Spätdiagnose Schmerz-, antispastische Therapie.

Spinale Tumorformen Extradurale Tumoren. Extradurale Metastasen gehen von Primärgeschwülsten in Lunge, Mamma, Prostata, Uterus, Magen, Niere und Schilddrüse aus. Metastasierung hämatogen. Symptome: Hartnäckige, therapieresistente Schmerzen, Paresen. Diagnostik: CT, MRT, Liquor. Therapie: Zytostatika, Strahlen-, Hormontherapie, Behandlung mit radioaktivem Jod.

Bösartige, primäre Wirbelprozesse: Solitärer Herd in Wirbeln, multipler Befall von Wirbeln oder ausgedehnte Osteoporose. Diagnostik: Laborbefunde noch unverdächtig. Therapie: Zytostatika, Strahlen-, Schmerztherapie. Meningeale Tumoren führen rasch zur Querschnittslähmung. Therapie: Strahlentherapie, Zytostatika. Differentialdiagnose: Bandscheibenvorfall, orthopädische Krankheiten der Wirbelsäule. Extramedulläre, intradurale Tumoren. Neurinome: Langsames, Nervengewebe verdrängendes Wachstum von hinteren Wurzeln aus, im oberen, mittleren Halsmark und oberen Brustmark. Symptome: Einseitige, radikuläre Schmerzen, asymmetrische Querschnittslähmung. Diagnostik: MRT, Liquor. Therapie: Gut operabel. Meningeome: Spinale Meningeome am Hals-, oberen und mittleren Brustmark. Symptome: Langsam fortschreitende Paraspastik mit Gefühlsstörungen in Händen und Fingern. Diagnostik: MRT, Myelo-CT, SEP. Therapie: Operabel mit schlechterer Prognose. Lipome sitzen dorsal, meist in Höhe thorakaler, lumbosakraler Segemente. Symptome: Langsam fortschreitende Paraspastik. Therapie: Operabel mit schlechterer Prognose.

347 12.3 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen

Kaudatumoren: Weich-glasige Geschwulst an Kaudafasern oder Filum terminale. Symptome: Schmerzen, schlaffe Beinlähmung, Reithosenhypästhenie, Blasenstörungen. Diagnostik: MRT, Myelo-CT, Liquor. Therapie: Gut operabel, bei Rezidiven Nachbestrahlung. Differentialdiagnose: u.a. funikuläre Spinalerkrankung, chronische, zervikale oder vaskuläre Myelopathie, spinale Angiome, chronisch, spinaler Verlauf der MS.

Ependymome. Zystisches oder solides Wachsen im Hinterstrangfeld des Rückenmarks. Symptome: Durch horizontales und vertikales Ausbreiten der Geschwülste kein einheitliches Bild. Diagnostik: MRT, Myelo-CT. Therapie: Operation, Bestrahlung bei Rezidiv oder nicht vollständiger Entfernung. Differentialdiagnose: Chronische, zervikale oder vaskuläre Myelopathie, spinale Angiome, chronische spinale Verlaufsform der MS, spinale Durchblutungsstörung.

12

13 Paraneoplastische Syndrome 13.1 Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD) – 349 13.2 Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS) – 349 13.3 Paraneoplastische Enzephalomyelitiden – 350 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4 13.3.5

Limbische Enzephalitis – 351 Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom, POM) – 351 Paraneoplastische Myelitis – 351 Paraneoplastische, amyotrophische Lateralsklerose (ALS) – 351 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom – 351

13.4 Subakute, sensorische Neuropathie (SSN) – 352 13.5 Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis – 352

349 13.2 · Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS)

> > Einleitung Die Fortschritte in der Behandlung maligner Tumoren erfolgen zwar langsam, aber stetig. Heute werden wir auch in der Neurologie, mit Tumorfolgekrankheiten konfrontiert, die man früher nicht kannte, da die Patienten bislang die Tumorkrankheit selbst nicht überlebten. In diesem Kapitel werden Krankheiten beschrieben, die als Folgeerscheinungen von systemischen Malignomen am Nervensystem manifest werden. In vielen Fällen ist der Primärtumor bekannt und wird behandelt und dann tritt die – vermutlich immunologisch bedingte – Beteiligung des Nervensystems ein. In anderen Fällen kommt es vor, dass sich ein neurologisches Syndrom entwickelt und beim Versuch der Aufklärung der Krankheit ein maligner Tumor bzw. Antikörper aufgedeckt werden, die typisch für eine malignomassoziierte, immunologisch vermittelte, paraneoplastische Krankheit sind. Diese Krankheiten werden häufiger und vielfältiger. Einige davon, die man heute schon gut kennt und charakterisiert hat, werden in diesem Kapitel besprochen.

Vorbemerkungen 3Definition. Paraneoplastische Syndrome sind definiert als erworbene Autoimmunerkrankungen. Sie entstehen infolge einer gegen sog. »onkoneurale« Antigene gerichteten humoralen Immunreaktion. Hierbei erzeugt eine primär gegen den Tumor gerichtete Antikörperantwort durch Kreuzreaktion mit neuronalen Antigenen eine Dysfunktion des Nervensystems. Paraneoplastische Funktionsstörungen am Nervensystem können lange vor dem auslösenden Neoplasma manifest werden. 3Diagnose. Die Diagnose eines paraneoplastischen Syndroms wird durch den Nachweis distinkter Autoantikörper im Serum (. Tabelle 13.1) erleichtert. Zur Tumorsuche bei antikörperpositiven Patienten ist die Ganzkörper-Fluordesoxyglucose (FDG)-PET sinnvoll. 13.1

Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD)

3Epidemiologie. Die mit diesem Syndrom assoziierten Malignome sind bei Frauen, die insgesamt etwas häufiger betroffen sind, überwiegend gynäkologische Tumoren, während bei Männern Lungenkarzinome, kolorektale Karzinome und Lymphome im Vordergrund stehen. 3Pathologie und Pathophysiologie. Pathologisch-anatomisch findet man: Verlust der Purkinje-Zellen, Atrophie des Nucl. dentatus und Gliaproliferation. Der Prozess kann das Kleinhirn zur Brücke und zum Rückenmark hin überschreiten. Pathophysiologisch liegt ein Autoimmunprozess gegen die Purkinje-Zellen des Kleinhirns zugrunde, der zu einem nahezu vollständigen Verlust dieser Zellen führt.

13

3Symptome und Verlauf. Die Patienten entwickeln im mittleren Lebensalter akut oder subakut das Syndrom, das in Kap. 24 für die sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde beschrieben ist: 4 Extremitätenataxie, an den Beinen mehr als an den Armen ausgeprägt, 4 Rumpfataxie mit Vorwärts- und Rückwärtsschwanken, 4 Gangataxie und Standataxie, 4 Nystagmus, okuläre Dysmetrie und Störungen der okulären Folgebewegungen, 4 Dysarthrie. Zusätzliche klinische Symptome wie Spastik, Motoneurondegeneration, Demenz und Polyneuropathie können hinzutreten. 3Diagnose. Diagnostisch ist der Nachweis von Purkinje-ZellAntikörpern (anti-yo) charakteristisch. Anti-Yo-Antikörper sind nahezu immer mit gynäkologischen Tumoren assoziiert. Im Liquor sind Eiweiß und oft Zellen leicht vermehrt. Oligoklonale Banden und Zeichen autochthoner IgG-Produktion sind möglich, da die antineuronalen Antikörper häufig intrathekal produziert werden. 3Differentialdiagnose. Demenz und Polyneuropathie können die Unterscheidung von einer Alkoholschädigung schwierig machen, Hirnstammsymptome lenken den Verdacht auf eine Heredoataxie. Eine Verwechslung mit einem Kleinhirntumor ist kaum möglich (keine Kopfschmerzen, keine Stauungspapille). Im Zweifelsfall schließt das MRT diese Differentialdiagnose aus. 3Therapie und Prognose. Immunsuppressive Maßnahmen haben bislang keine überzeugende Wirksamkeit in der Behandlung des Syndroms gezeigt. In Assoziation mit Lymphomen ist die Gesamtprognose etwas besser, insgesamt ist die Prognose jedoch sehr schlecht und die therapeutische Beeinflussbarkeit gering. 13.2

Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS)

3Epidemiologie. Das Lambert-Eaton-Syndrom tritt meist (über 80%) beim kleinzelligen Bronchialkarzinom auf. Etwa 2% der Patienten mit kleinzelligen Bronchialkarzinomen haben Symptome eines Lambert-Eaton-Syndroms. Die Patienten haben häufig noch andere Autoimmunkrankheiten. Die Assoziation an andere Karzinome ist weitaus seltener. Das Lambert-Eaton-Syndrom kann in jedem Lebensalter auftreten, findet sich aber bevorzugt im mittleren Lebensalter. 3Pathophysiologie. LEMS-Patienten haben, anders als Patienten mit Myasthenia gravis, keine Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren. Acetylcholin wird normal gespeichert. Die

350

Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

Facharzt

Anmerkungen zu den Antikörpertests* Ziel der Autoantikörperdiagnostik ist eine optimale diagnostische Spezifität und Sensitivität unter ökonomischen Gesichtspunkten. Daher sollte bei der Diagnostik antineuronaler Autoantikörper Folgendes berücksichtigt werden: Jedes Serum sollte mittels Immunhistochemie sowie mit Western Blot untersucht werden. In der Immunhistochemie sollten Schnitte aus z.B. Rattenkleinhirn, Hirnstamm (beides mit zentralen Neuronen), Plexus myentericus (mit peripheren Neuronen, z.B. zur Differenzierung von anti-Hu und anti-Ri) verwendet werden. Im Western Blot sollten ein Neuronenextrakt aus Kleinhirn oder die einzelnen verfügbaren rekombinanten Proteine verwendet werden. Ein Screening mittels Immunhistochemie allein wird aufgrund des teils sehr schwierig zu interpretie-

Aktivität des synthetisierenden Enzyms Acetylcholinesterase und die Zahl der postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren sind normal. Dem Syndrom liegen Antikörper gegen spannungsgesteuerte Kalziumkanäle am präsynaptischen motorischen Terminal zugrunde. Es kommt zur verminderten Freisetzung von Acetylcholin und zur damit verbundenen Muskelschwäche. Häufig ist auch die vegetative, cholinerge Übertragung gestört.

13

3Symptome. Das LEMS beginnt mit myasthener Ermüdbarkeit der Beckengürtelmuskulatur, während Ptose, Doppeltsehen und Schluckstörung, wenn überhaupt, erst später auftreten. Hierdurch lässt sich bereits klinisch eine Abgrenzung gegen die Myasthenia gravis pseudoparalytica (7 Kap. 34) treffen. Die Muskelschwäche bleibt auch später überwiegend proximal an den Extremitäten lokalisiert. Bulbäre Symptome sind möglich. Die Augenmuskeln sind praktisch nie beteiligt. Auffällig ist, dass die Muskelschwäche bei kurzdauernder Übung deutlich besser wird, bei längerer Belastung jedoch wieder abnimmt. Vegetative Symptome schließen Mundtrockenheit und Potenzstörungen, vermindertes Schwitzen, Verstopfung, Harnverhalt ein. Eigenreflexe sind meist verschwunden, können aber nach leichter Belastung kurzzeitig wiederkehren. Parästhesien können vorkommen. Die myasthenen Symptome gehen in der Regel der Manifestation des zugrunde liegenden Tumors voraus. Die Diagnose eines LEMS macht die Suche nach einer zugrunde liegenden Tumorkrankheit erforderlich. Das LEMS kommt aber auch als nichtparaneoplastische Autoimmunerkrankung vor. 3Diagnose. Charakteristisch ist der Befund im StimulationsEMG: Bei niedrigen Stimulationsfrequenzen nehmen die schon ohnehin niedrigen Muskelantwortpotentiale an Amplitude weiter ab (Dekrement), während sie bei hochfrequenter Stimulation (40–50 Reize je Sekunde) nach kurzem, initialen Dekrement wieder deutlich an Amplitude zunehmen (Fazilitierung, . Abb. 13.1).

renden Färbeverhaltens z.B. die anti-Ma und anti-Ta Reaktivität übersehen, umgekehrt zeigt beispielsweise die anti-Tr Reaktivität keine Bande im Routine-Western-Blot. Viele der auf ihre klinische Relevanz hin gut charakterisierten Antikörperreaktivitäten sind erst seit kurzem beschrieben. Daher sind die Tests oft noch nicht kommerziell verfügbar (z.B. für Ma1). Jedes Testergebnis sollte mit einem zweiten Test anderer Methodik bestätigt werden. Die Verwendung unterschiedlicher Testsysteme erschwert die Vergleichbarkeit der Ergebnisse.

* Nach den Leitlinien der DGN, 2005

Der Tensilon-Test ist, wenn überhaupt, nur leicht positiv. Serologisch kann die Diagnose durch den Nachweis von Antikörpern gegen den spannungsgesteuerten Kalziumkanal nachgewiesen werden. Bei sehr vielen Patienten lässt sich HLA-B 8 nachweisen. 3Therapie. Neben der kausalen Therapie, der Behandlung der zugrunde liegenden Tumorkrankheit, ist eine symptomatische Besserung möglich: 4 Steigerung der neuromuskulären Überleitung: Die Kraft kann mit 3,4-Diaminopyridin (1–2 mg/kg KG, 4- bis 6-mal/ Tag) durch verstärkte Acetylcholinfreisetzung aus den präsynaptischen Vesikeln verstärkt werden. Da diese Substanz toxisch ist, müssen Leber-, Nieren- und Knochenmarkfunktionen überwacht werden. Es besteht eine hohe Empfindlichkeit gegen Curare, jedoch bessern Neostigmin und Edrophonium-Hydrochlorid das Syndrom nicht. Pyridostigmin (Mestinon® als reversibler Cholinesterasehemmer) hilft, wenn überhaupt, nur wenig. 4 Immunsuppression: Hier kommen Prednisolon (40–80 mg initial, danach auf Erhaltungsdosis reduzierend), Plasmapherese (häufige Zyklen erforderlich) und möglicherweise Immunglobuline in Frage. 13.3

Paraneoplastische Enzephalomyelitiden

Die paraneoplastische Enzephalomyelitis erzeugt in unterschiedlichen Regionen des Gehirns und Rückenmarks eine neuronale Dysfunktion und geht in unterschiedlicher Ausprägung mit limbischen, rhombenzephalen, zerebellären und spinalen Symptomen einher.

13

351 13.3 · Paraneoplastische Enzephalomyelitiden

. Abb. 13.1a–c. Repetitive, supramaximale Reizung des N. ulnaris mit niedriger (links) und hoher (rechts) Frequenz. a Normal, b Myasthenia gravis, c Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom. (Aus Ludin 1987)

a

2 mV

b

2 mV

c

2 mV

500 ms

13.3.1 Limbische Enzephalitis

13.3.3 Paraneoplastische Myelitis

Die limbische Enzephalitis kommt bei Bronchialkarzinom, M. Hodgkin und Hodenkarzinom vor.

Subakute Vorderhorndegeneration, besonders im Zervikalmark, mit vorwiegend distalen Muskelatrophien und Reflexverlust. Das Krankheitsbild (nicht Erkrankungsalter und Verlauf!) ist der progressiven, spinalen Muskelatrophie vom Typ Duchenne-Aran ähnlich (7 Kap. 33.2). Es gibt auch eine paraneoplastische akute Querschnittsmyelitis, die unter dem Bild einer rasch aufsteigenden sensiblen und motorischen Lähmung mit Blasenstörungen in Tagen bis Wochen zum Tode führt. Schließlich kommt eine kombinierte spinale Strangdegeneration vor, die dem Bild der funikulären Spinalerkrankung, aber ohne B12-Resorptionsstörung, entspricht.

3Symptome. Starkes Nachlassen der Merkfähigkeit, rasch progrediente Demenz, Verhaltensstörungen: Angst, Aggressivität, sexuelle Enthemmung, auch depressive Verstimmung bzw. paranoid-halluzinatorische Psychose. Vereinzelt wurden auch Krampfanfälle beobachtet. 3Diagnose und Therapie. Liquor: leichte Pleozytose. EEG: Allgemeinveränderung, fakultativ temporaler Herdbefund. Es gibt keine gezielte Therapie. Neben der Tumortherapie können verschiedene Immuntherapien versucht werden, eine überzeugende Wirksamkeit ist aber nicht beschrieben. 13.3.2 Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus-

Myoklonus-Syndrom, POM) Bei Erwachsenen sind Mamma- und Bronchialkarzinom die häufigsten assoziierten Tumoren, der typische Indextumor im Kindesalter ist das Neuroblastom. Bei Patienten mit zugrunde liegendem Mammakarzinom finden sich oft anti-Ri-Antikörper (ANNA2, . Tabelle 13.2). Das Syndrom ist bei Erwachsenen selten. Lähmungen der kaudalen Hirnnerven, bei Befall der Brücke auch Blickparese, und Störung der Bewegungskoordination, und Aktionsmyoklonien stehen im Vordergrund. Hochfrequente, spontane, konjugierte Augenbewegungen (Opsoklonus) sind bei Kindern mit Neuroblastom charakteristisch. Kortison und Therapie des Primärtumors können das Syndrom zum Stillstand bringen.

13.3.4 Paraneoplastische, amyotrophische

Lateralsklerose (ALS) Eine symptomatische ALS mit Beteiligung der bulbären Hirnnervenkerne und ihrer supranukleären Bahnen soll bei Neoplasmen der verschiedensten Art vorkommen. Diese Form soll einen milderen Verlauf haben als die essentielle Form der Krankheit (7 Kap. 33.4). Im Liquor findet man häufig eine Eiweißerhöhung bei Schrankenstörung. Immunsuppressiva werden eingesetzt, ohne dass es einen Beweis für ihre Wirksamkeit gibt. 13.3.5 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom Symptomatische, tumorassoziierte Variante des Stiff-personSyndroms (SPS) (7 Kap. 23; vgl. auch Fallbeschreibung am Ende dieses Kapitels).

352

Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

. Tabelle 13.1. Paraneoplastische Syndrome: serologische Tests

Antikörper

Klinischer Bezug

Gerichtet gegen

1. VGCC.AK

LEMS Kleinzelliges Bronchialkarzinom

Spannungsgesteuerter Ca2+-Kanal

2. Anti-Yo AK (PCA1)

PZD Gynäkologische Tumoren

Purkinje-Zellen

3. Anti-Hu AK (ANNA1)

PEM, limbische Enzephalitis, SSN kleinzelliges Bronchialkarzinom

Neuronale Nuklei

4. Anti-Ri AK (ANNA2)

POM, PZD Mammakarzinom

Neuronale Nuklei

5. Anti-Ma2 AK (Ta)

Limbische Enzephalitis, Hirnstammenzephalitis, PZD Hodentumor, Bronchialkarzinom

ZNS/Testis-spezifisches Protein

6. Anti-CV2 AK (CRMP5)

PEM, SSN, limbische Enzephalitis, PZD Mammkarzinom, kleinzelliges Bronchialkarzinom

Oligodendrozytenprotein

7. Anti-Amphiphysin AK

Stiff-person-Syndrom Mammakarzinom. kleinzelliges Bronchialkarzinom

Synapsenprotein

8. Anti Tr AK

PZD M. Hodgkin

Unbekannt

9. Anti-Jo1 AK

Polymyositis, Dermatomyositis Verschiedene Tumoren

Histidyl-transfer RNA-Synthetase

VGCC, voltage-gated calcium channel; ANNA, antineuronale nukleäre Antikörper.

13.4

13

Subakute, sensorische Neuropathie (SSN)

3Pathophysiologie. Diesem Syndrom liegen liegen anti-HuAntikörper (ANNA1) zugrunde, die speziell die Spinalganglien, möglicherweise auch die autonomen Ganglienzellen angreifen. Auslöser sind meist kleinzellige Bronchialkarzinome. Pathologisch-anatomisch findet man in den peripheren Nerven die sensiblen Axone und Markscheiden degeneriert, jedoch sind regelmäßig auch Spinalganglien, Hinterstränge und Tractus spinocerebellaris betroffen. 3Symptome. Die SSN ist eine häufige paraneoplastische Komplikation. Sie befällt die Beine mehr als die Arme und äußert sich vor allem in Parästhesien, Gangunsicherheit infolge sensibler Ataxie und Reflexabschwächung. Lähmungen sind möglich, treten aber im Krankheitsbild zurück. Die progrediente, sensible Symptomatik, die oft asymmetrisch verläuft, wird durch autonome Symptome (Anhidrose, orthostatische Hypotonie, Impotenz) und auch zentrale Symptome (Persönlichkeitsveränderungen, Demenz) verstärkt. 3Diagnose. Die Diagnose erfolgt durch serologischen Nachweis von Anti-Hu. Der Liquor zeigt eine Eiweißvermehrung in der Größenordnung von 0,50–1,00 g/l. Eine intrathekale IgGSynthese und/oder OKB können vorhanden sein.

3Therapie. In den meisten Fällen ist die Krankheit einer Therapie nicht zugängig. Auch eine Behandlung des zugrunde liegenden Tumors führt nur sehr selten zu einer Stabilisierung. 13.5

Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis

Das Vollbild der Dermatomyositis und der remittierend verlaufenden Polymyositis ist bei Männern über 50 Jahren in 60% der Fälle durch ein Malignom ausgelöst. Symptomatik und Therapie sind in . Kap. 34.9.1 ausführlich beschrieben. Ein häufig zu findender Antikörper (ca. 20%) ist Anti-jo-1. Dieser findet sich besonders häufig bei Patienten mit interstitiellem Lungenkarzinom. ä Der Fall Die Patientin wurde uns zugewiesen, um die Diagnose eines »Stiffperson«-Syndroms zu bestätigen und eine entsprechende Behandlung einzuleiten. Die Symptome waren ungewöhnlich: Zwar hatte diese Patientin eine spontane und bewegungsabhängige, massive Tonuserhöhung der Muskulatur, aber weniger an den Beinen als an den Armen. Die Arme waren adduziert, vor dem Brustkorb übereinandergeschlagen, und die Kraft, die diese nahezu kontinuierliche Muskelspannung auf den Rumpf ausübte, war so stark, dass mehre-

6

353 13.5 · Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis

Leitlinien Paraneoplastische Syndrome* Tumorbehandlung. Die Behandlung der meisten Patienten mit einem paraneoplastischen Syndrom, vor allem des zentralen Nervensystems, ist jedoch schwierig und sollte rasch erfolgen. Die onkologische Behandlung des Tumors ist die Hauptsäule der Behandlung auch der neurologischen Symptome. Diese sollte primär durch den Onkologen erfolgen. Alle therapeutischen Versuche müssen vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass der natürliche Verlauf des paraneoplastischen Syndroms fluktuieren kann. Außerdem wurden eine spontane Besserung der neurologischen Symptome und sogar eine spontane Tumorregression beschrieben. Immuntherapien 4 Sensible Neuropathie oder limbische Enzephalitis reagieren eher auf eine Behandlung (Tumortherapie und/oder Immunmodulation) als z.B. die Kleinhirndegeneration (C). 4 Die Immunmodulation oder -suppression bei Erkrankungen der Peripherie (z.B. LEMS, MG, Myositis, Neuromyotonie) erfolgt nach etablierten Kriterien wie bei nichtparaneoplastischer Ätiologie dieser Syndrome. Nur für die Verwendung von Immunsuppressiva wie Azathioprin besteht eine relative Kontraindikation (C). 4 Auch bei den Erkrankungen des ZNS erscheint eine immunmodulatorische oder immunsuppressive Behandlung aufgrund der Hinweise für eine Autoimmunpathogenese indiziert. Für das Stiff-person-Syndrom ist eine Behandlung mit ivIg

re Rippen auf beiden Seiten frakturiert waren. Auch reagierte sie nicht, wie andere Patienten mit Stiff-person-Syndrom, auf hochdosierte Tranquilizer vom Diazepamtyp. Der Liquor war leicht entzündlich verändert und zeigte eine deutliche, autochthone Immunglobulinproduktion. Wie immer in solchen Fällen, begannen wir mit einer ausführlichen Tumorsuche und wurden fündig: Ein hormonaktives Mammakarzinom wurde gefunden und entsprechend behan-

indiziert. Leider zeigen die bisher verfügbaren Therapieoptionen nur wenige Effekte bei der Mehrheit der Patienten. Deutliche Erfolge bei einzelnen Patienten sind jedoch möglich (C). 4 Prinzipiell gilt: Je früher die immuntherapeutischen Maßnahmen begonnen werden, desto eher haben sie Aussicht auf Erfolg. Ein Argument gegen immunsuppressive Therapie ist der mögliche negative Effekt auf das Tumorwachstum. Eine Tumorprogression unter Immuntherapie wird jedoch bei der Mehrzahl der Patienten nicht beobachtet (C). 4 Eine Vielzahl von Immuntherapien ist bisher versucht worden: Steroide, Protein-A-Absorption, i.v.-Immunglobuline, Cyclophosphamid, Plasmapherese. Aufgrund des Mangels an guten evidenzbasierten Daten kann ein Zyklus Steroidtherapie wie bei der Multiplen Sklerose (3-mal 1000 mg Methylprednisolon i.v.) durchgeführt werden. Sollte sich hierunter eine Stabilisierung oder gar Besserung der neurologischen Symptome ergeben, kann diese Behandlung alle 6–8 Wochen wiederholt werden. Bei fehlendem Erfolg kann dann im Einzelfall eine Plasmapherese oder eine Behandlung mit Cyclophosphamid (z.B. 750 mg i.v./m2 KOF alle 4 Wochen) erwogen werden. Als Erfolg ist bereits eine Stabilisierung der Progression anzusehen (C). * Leitlinien der DGN 2005

delt; die Symptomatik bildete sich, wenn auch nicht vollständig, zurück. Die Patientin war wieder in der Lage, ihre Hände und Arme sinnvoll einzusetzen, und der massive Druck auf den Brustkorb ließ nach. Es gelang nicht, im Serum spezifische Antikörper zu isolieren, aber der Verdacht liegt sehr nahe, dass es sich um ein paraneoplastisches Syndrom gehandelt hat.

In Kürze Paraneoplastische Syndrome Mit Tumoren assoziierte Funktionsstörungen des zentralen und peripheren Nervensystems, der neuromuskulären Überleitung und Muskulatur, nicht metastatisch oder durch direkte Tumorinvasion entstanden. Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD). Epidemiologie: Bei Frauen als gynäkologische Tumoren, bei Männern als Lymphome, Lungen- und kolorektale Karzinome. Symptome: Extremitäten-, Rumpf-, Gang-, Standataxie, Nystag-

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mus, okuläre Dysmetrie, Dysarthrie, Spastik, Motoneurondegeneration, Demenz, Polyneuropathien. Diagnostik: Liquor: Eiweißund Zellvermehrung. Therapie: Sehr schlechte Prognose, geringe therapeutische Beeinflussbarkeit. Differentialdiagnose: Alkoholschädigung, Heredoataxie. Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS). Epidemiologie: Beim kleinzelligen Brochialkarzinom, häufig weitere Autoimmunerkrankungen vorhanden, mittleres Alter bevorzugt. Symptome:

13

354

Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

Myasthene Ermüdbarkeit der Beckengürtelmuskulatur, Schluckstörungen, Ptose, Doppeltsehen, fehlende Eigenreflexe, vegetative Störungen wie vermindertes Schwitzen. Diagnostik: Stimulations-EMG. Therapie: Durch Primärtumortherapie symptomatische Besserung. Paraneoplastische Enzephalomyelitiden. Erzeugen in unterschiedlichen Regionen des Gehirns und Rückenmarks neuronale Dysfunktion. Limbische Enzephalitis bei Bronchialkarzinom, M. Hodgkin und Hodenkarzinom. Symptome: Nachlassen der Merkfähigkeit, rasch progrediente Demenz, Verhaltensstörungen. Diagnostik: Liquor, EEG. Therapie: Primärtumortherapie. Bulbäre Enzephalitis: Bei Erwachsenen Mamma- und Bronchialkarzinom, bei Kindern Neuroblastom. Symptome: Blickparese, Bewegungskoordinationsstörungen, Aktionsmyoklonien, spontane, kunjugierte Augenbewegungen bei Kindern.

13

Therapie: Primär- und medikamentöse Tumortherapie. Weitere Formen: Paraneoplastische Myelitis mit distalen Muskelatrophien und Reflexverlust; Paraneoplastische, amytrophische Lateralsklerose (ALS) mit Beteiligung der bulbären Hirnnervenkerne und supranukleären Bahnen; Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom. Subakute, sensorische Neuropathie (SSN). Durch meist kleinzellige Bronchialkarzinome, sensible Axone und Markscheiden in peripheren Nerven degeneriert. Symptome: Parästhesien, Gangunsicherheit durch sensible Ataxie und Reflexabschwächung, autonome Symptome wie Anhidrose, Impotenz, zentrale Symptome wie Demenz. Diagnostik: Liquor. Therapie: Krankheit ist Therapie meist nicht zugängig. Weitere Syndrome. Myopathie, Polymyositis, Dermatomyositis.

IV Krankheiten mit anfallsartigen Symptomen 14

Epilepsien

15

Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen – 389

16

Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

17

Schwindel und Tetanie

– 356

– 415

– 399

14 Epilepsien 14.1 Diagnostik – 360 14.1.1 Elektroenzephalographie – 360 14.1.2 Computertomographie und Magnetresonanztomographie – 360 14.1.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik – 361

14.2 Fokale (partielle) Anfälle – 361 14.2.1 Einfach fokale (partielle) Anfälle – 361 14.2.2 Komplex partielle (psychomotorische) Anfälle – 362

14.3 Generalisierte Anfälle – 364 14.3.1 Altersgebundene kleine Anfälle – 364 14.3.2 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall – 367

14.4 Status epilepticus – 368 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4

Grand-mal-Status – 368 Absencenstatus – 371 Status psychomotoricus – 371 Status partieller motorischer Anfälle (Epilepsia partialis continua)

– 371

14.5 Konservative Therapie – 371 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.5.6

Notfalltherapie – 371 Allgemeine Lebensführung – 372 Antiepileptische Medikamente – 372 Antiepileptische Dauerbehandlung – 374 Therapieresistenz – 378 Therapie des Status epilepticus – 379

14.6 Chirurgische Therapie – 382 14.7 Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte der Epilepsien – 384 14.7.1 14.7.2 14.7.3 14.7.4 14.7.5 14.7.6

»Epileptische Wesensänderung« und Demenz – 384 Verstimmungszustände – 384 Postparoxysmaler Dämmerzustand – 384 Epileptische Psychose – 385 Psychogene Anfälle – 385 Therapie der psychischen Störungen – 385

14.8 Sozialmedizinische Aspekte – 385 14.8.1 Berufseignung – 385 14.8.2 Fahrtauglichkeit – 385

357 14 · Epilepsien

> > Einleitung In diesem Kapitel werden wir uns mit der Epilepsie, früher als Morbus sacer, die heilige Krankheit bezeichnet, beschäftigen. Sie gehört zu den am längsten bekannten Krankheiten der Menschheitsgeschichte. Sie betraf Propheten und Heilige, die Wahrsagerin von Delphi, Personen, die als Besessene verbrannt wurden und bedeutende Herrscher, wie Alexander der Große, Gajus Julius Cäsar und Napoleon Bonaparte. Die Römer setzten bereits Provokationsmethoden für die Diagnose ein: Bei der Musterung mussten die Rekruten durch ein sich drehendes Wagenrad in die Sonne blicken. Wer dabei einen epileptischen Anfall erlitt, wurde ausgemustert. In der Literatur wurden die rätselhaften Phänomene der Epilepsie wiederholt beschrieben. Ein bekanntes literarisches Beispiel ist Dostojewskijs »Idiot«. Grundsätzlich ist jedes Gehirn krampffähig, wenn es einem genügend starken physikalischen (Elektrokrampf ) oder pharmakologischen Reiz ausgesetzt wird. Die Krampffähigkeit ist keine spezifische Reaktionsweise des menschlichen Gehirns, sondern ist schon früh in der phylogenetischen Entwicklung zu finden. Die Semiologie der Anfälle ist vielfältig, wenn auch der große epileptische Anfall in seiner Ausprägung unverwechselbar und einzigartig ist. Viele andere Anfallsformen sind dagegen oft subtil, manchmal auch bizarr in ihrem Erscheinungsbild, so dass der Gedanke an einen epileptischen Anfall manchmal nicht nahe liegt. Der Arzt wird die Anfälle meist nicht selbst beobachten können, sondern darauf angewiesen sein, sie aus der Schilderung des Patienten und seiner Angehörigen zu diagnostizieren. Hierfür muss er eine genaue Kenntnis der verschiedenen Anfallsarten haben. Wir unterscheiden den epileptischen (Einzel-)Anfall, auch Gelegenheitsanfall genannt von der Krankheit Epilepsie. Für die Diagnose einer Epilepsie entscheidend ist das wiederholte Auftreten von Anfällen. Auch heute noch hat die Diagnose »Epilepsie« gravierende psychologische und soziale Konsequenzen für Berufswahl und Fahrtauglichkeit, obwohl die Behandlungsmöglichkeiten immer besser werden.

Vorbemerkungen Wir unterscheiden Gelegenheitsanfälle von Anfällen als Ausdruck einer Epilepsie. Grundsätzlich kann jedes Gehirn mit epileptischen Anfällen reagieren. Es besteht ein Spektrum von dem Extrem einer spontanen Manifestation von Anfällen (zum Beispiel bei einer genuinen Epilepsie) über eine latente Krampfbereitschaft, die durch zusätzliche Gehirnschädigung manifest wird (symptomatische Epilepsie), bis zur einmaligen oder seltenen epileptischen Entgleisung unter der Wirkung besonderer funktioneller Belastung (Gelegenheitskrämpfe) und schließlich solchen Patienten, die trotz schwerer Hirnkrankheiten fast keine Anfälle oder toxischen Schäden bekommen. Gelegenheitsanfälle Gelegenheitsanfälle treten z.B. als Fieberkrämpfe bei Infektionskrankheiten im Kindesalter auf. Bei Jugendlichen und Er-

14

wachsenen sind die auslösenden Ursachen meist übermäßiger Alkoholgenuss (s. aber auch die häufigen Krämpfe im beginnenden Alkoholentzugsdelir), Schlafentzug, exzessive körperliche Anstrengungen mit Dehydratation, metabolische Entgleisungen (Hypoglykämie, Thyreotoxikose, Hyponatriämie), Drogen (Kokain, Crack, Ecstasy, Amphetamine), seltener auch bestimmte Psychopharmaka, z.B. Amitriptylin. Im höheren Alter sind einzelne oder wiederholte epileptische Anfälle bei vaskulärer Enzephalopathie und degenerativer Hirnkrankheit zu beobachten. Die Prognose der Gelegenheitskrämpfe bei Kindern wurde früher für durchweg gut gehalten. Tatsächlich bekommen aber etwa 15% dieser Kinder später eine Epilepsie. Die Gefahr ist besonders groß bei erblicher Belastung mit Anfällen oder organischer Hirnschädigung, z.B. durch Geburtstrauma oder Enzephalitis. Die Entwicklung einer Epilepsie ist auch dann zu befürchten, wenn ein Kind mit Fieberkrämpfen im EEG epileptische Aktivität aufweist oder wenn gehäufte und länger dauernde Fieberkrämpfe zu einer Hirnschädigung führen. Die Entscheidung, ob sich nur ein Gelegenheitskrampf ereignet hat oder ob sich eine chronische Epilepsie entwickelt, hat große praktische Konsequenzen, denn nur im zweiten Fall wird man eine antiepileptische Behandlung einleiten. Anfälle bei Epilepsien 3Ätiologie. Ätiologisch sind symptomatische (Epilepsie als Ausdruck einer identifizierbaren strukturellen Grunderkrankung), kryptogene (mutmaßlich symptomatische Epilepsie ohne Nachweis der Grunderkrankung) und idiopathische (Epilepsie aus vermuteter oder nachgewiesener genetischer Disposition) Epilepsien zu unterscheiden. Mit Verbesserung der Diagnostik durch die bildgebenden Verfahren, vor allem die Magnetresonanztomographie (MRT), werden vormals kryptogene Epilepsien zunehmend als symptomatische erkannt. Häufige Ursachen symptomatischer Epilepsien sind kortikale Entwicklungsstörungen, Tumoren, Enzephalitiden, Schädelhirntrauma, zerebrovaskuläre Prozesse, metabolische Erkrankungen, perinatale Schäden und immunologische Erkrankungen; seltener sind Vaskulitiden sowie Intoxikationen. Bei der idiopathischen Epilepsie lassen Anamnese und Befund keine organische oder metabolische Hirnkrankheit erkennen, die man zur Auslösung der Anfälle in Beziehung setzen könnte. > Bei epileptischen Anfällen und Epilepsien mit Beginn

nach dem 25. Lebensjahr muss zunächst immer eine symptomatische Ursache ausgeschlossen werden.

3Epidemiologie. Epilepsien sind häufige Krankheiten: In Deutschland gibt es rund 400.000 Anfallskranke (0,5%). Man rechnet mit Neuerkrankungen von 20–50 Menschen pro 100.000 Einwohner und Jahr, besonders hoch ist die Rate bei Kindern und Jugendlichen. Bei etwa 10% aller Menschen besteht eine erhöhte Krampfbereitschaft, die sich z.B. in EEG-Veränderun-

358

Kapitel 14 · Epilepsien

Exkurs Internationale Klassifikation der Epilepsien Die Einteilung der epileptischen Anfälle ist ein verwirrendes Thema. Aufgrund der Häufigkeit, der Vielzahl von Ursachen und der großen Bandbreite der epileptischen Symptome gibt es eine Reihe von Einteilungsmöglichkeiten. Je neuer die Einteilungen sind, desto weniger anschaulich werden sie, vor allem seit die Internationale Liga gegen Epilepsie uns in regelmäßigen Abständen mit neuen Klassifikationen verwöhnt. Die Besprechung der einzelnen Anfallsformen richtet sich in unserer Darstellung nach einer älteren, aber anschaulichen

gen oder in einer abnorm leichten Ansprechbarkeit auf zentrale Krampfgifte äußert. Vermutlich 5% aller Menschen erleiden einmal im Leben einen epileptische Gelegenheitsanfall. Weltweit leiden wenigstens 1% aller Menschen an wiederholten, epileptischen Anfällen. Nur 1/4 von ihnen wird je in einer Klinik untersucht und auch nur etwa die Hälfte einem Facharzt vorgestellt.

Klassifikation, die die Liga 1981 vorgeschlagen hat. In . Tabelle 14.1 sind diese Klassifikation und die revidierte Klassifikation aus dem Jahr 1989 nebeneinander gestellt. Bei einzelnen Anfallstypen benutzen wir gerne noch die klassische Terminologie, wenn diese die Charakterisierung der Anfallsform besonders gut wiedergibt (z.B. »psychomotorische Anfälle«, »Impulsiv-petitmal«), auf eine tageszeitliche Bindung (»Aufwach«-Grand-mal) oder ein typisches Erkrankungsalter (»altersgebundene, epileptische Anfälle«) eingeht.

Genetische Faktoren. Bei Kindern von Patienten mit genuiner Epilepsie müssen wir (bei Krankheit eines Ehepartners) mit einer Erkrankungswahrscheinlichkeit von 4% rechnen. Das Risiko ist demnach gegenüber der allgemeinen Population auf das Achtfache erhöht. Aber auch bei symptomatischer Epilepsie liegt oft neben der Hirnschädigung noch eine anlagebedingte, erhöhte Krampfbereitschaft vor, damit sich ein Anfallsleiden manifestiert.

. Tabelle 14.1. Internationale Klassifikation der Epilepsiena

Einteilung 1981 (gekürzt)

Einteilung 1989 (deutlich gekürzt)

I. Partielle (fokale) Anfälle A. Einfach partielle Anfälle (»mit elementarer Symptomatik«) 1. mit motorischen Symptomen (Sonderform: Jackson-Anfall) 2. mit sensiblen Symptomen (Sonderform: Jackson-Anfall) 3. mit vegetativen Symptomen 4. mit anderen Symptomen B. Komplex partielle Anfälle (Synonym: Psychomotorische Anfälle) C. Partielle (fokale) Anfälle mit sekundärer Generalisierung 1. bei einfach partiellen Anfällen 2. bei komplex partiellen Anfällen

1. Fokale Epilepsien und Syndrome 1.1. Idiopathische Anfälle (mit speziellem Erkrankungsalter) Benigne Epilepsie des Kindesalters (Rolando) Lese-Epilepsie 1.2.Symptomatische Anfälle Temporallappenepilepsie Frontallappenepilepsie Okzipitallappenepilepsie Parietallappenepilepsie Supplementär-motorische Epilepsie 1.3.Kryptogenetische fokale Epilepsie

II. Generalisierte Anfälle A. Absencen B. Myoklonische Anfälle C. Klonische Anfälle D. Tonisch-klonische Anfälle (Grand mal) E. Atonische Anfälle

2. Generalisierte Epilepsien und Syndrome 2.1. Idiopathische Anfälle (mit speziellem Erkrankungsalter) Benigne, myoklonische Epilepsie des Kindesalters Absencen des Kindes- und Jugendalters Myoklonische Epilepsie des Jugendalters Epilepsie mit Grand-mal-Anfällen 2.2. Kryptogenetisch oder symptomatisch West-Syndrom (infantile Spasmen) Lennox-Gastaut-Syndrom Myoklonisch-astatische Anfälle 2.3. Symptomatische Anfälle (Fieberkrämpfe?)

14

III. Nicht klassifizierbare Epilepsien

3. Unklassifizierbare Epilepsien 4. Spezielle Syndrome 4.1. Situationsabhängige Anfälle Fieberkrämpfe Gelegenheitsanfälle Anfälle bei Intoxikationen oder metabolischen Störungen

a

In Anlehnung an die Vorschläge der Kommission für Klassifikation und Nomenklatur der Internationalen Liga gegen Epilepsie (1981 und 1989).

359 14 · Epilepsien

14

Exkurs Pathophysiologie im Detail Auf molekularer Ebene sind Veränderungen in Membraneigenschaften einzelner Neurone zu beobachten, die aufgrund spontaner Depolarisation zu Entladungsserien fortgeleiteter Nervenimpulse führen. Oft sind die physiologischen GABA-ergen Hemmungsvorgänge zwischen den Zellen abgeschwächt, oder exzitatorische Transmittersubstanzen (Glutamat) werden vermehrt freigesetzt. Die spontane Depolarisation einer Zelle breitet sich aufgrund der mangelnden Inhibition zu weiteren Zellen in der Nachbarschaft, später auch über größere Distanzen, aus. Wenn genügend Neurone in die synchrone Übererregung einbezogen sind, kommt es zu epileptischen Symptomen, und im EEG können dann epileptische Potentiale abgeleitet werden.

Deshalb ist auch unter den Nachkommen und Geschwistern von Patienten mit symptomatischer Epilepsie die Epilepsiehäufigkeit höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Kinder und Erwachsene mit Gelegenheitskrämpfen haben in 20% der Fälle eine familiäre Belastung. Der Erbgang ist nicht einheitlich. In der Mehrzahl der Fälle nimmt man eine additive Wirkung mehrerer genetischer Faktoren an. Ungeklärt ist noch, welcher Art die Funktionsstörung ist, die vererbt wird. Diese Unsicherheit beruht darauf, dass die biochemischen und molekularen Ursachen der epileptischen Krampfbereitschaft noch nicht hinreichend bekannt sind. Untersuchungen an eineiigen Zwillingen haben gezeigt, dass die Konkordanz für die Art der Anfälle bei genuiner Epilepsie nur bei 60% liegt. Auch bei genuiner Epilepsie haben äußere Faktoren eine große Bedeutung. Diese Befunde zeigen, dass wir keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der sog. genuinen und der symptomatischen Epilepsie sehen dürfen. Als einfache Faustregel kann man sich merken: Wenn ein Elternteil eine Epilepsie hat ist, besteht eine 5%ige Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder betroffen sind. Handelt es sich um eine idiopathische Epilepsie, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit auf 10%. Sind beide Elternteile betroffen, steigt die Wahrscheinlichkeit auf 20% oder mehr. Genetische Beratung. Die Frage, ob ein Anfallskranker Kinder haben kann und soll, ist nicht einheitlich zu beantworten. In den seltenen Fällen, in denen beide Partner eine genuine Epilepsie haben, wird man von Nachkommen abraten. Sonst muss das Urteil der Schwere des Krankheitsfalles und der sozialen Situation der Patienten angepasst werden. Zur Häufigkeit von kindlichen Fehlbildungen unter Behandlung mit Antiepileptika s.u. Allerdings haben auch ohne antiepileptische Behandlung Kinder epilepsiekranker Frauen (und Männer) ein 1,2- bis 2fach erhöhtes Fehlbildungsrisiko.

3Pathogenese. Für die Pathophysiologie der epileptischen Aktivität des Gehirns sind zwei Mechanismen entscheidend, die

Biochemisch lässt sich im epileptischen Fokus eine Reihe von Veränderungen nachweisen: Die paroxysmale Depolarisation ist durch vermehrten Kalzium- und Natriumeinstrom in das Zellinnere charakterisiert. Eine spätere Hyperpolarisation entsteht durch Kaliumeinstrom und Natriumausstrom. Die Ionenkanäle für Kalzium sind aktiviert, zum Teil als Folge der erhöhten extrazellulären Glutamat- und Aspartatkonzentration. Der durch Glutamat aktivierte NMDA-Rezeptor, der einer der Transporter für Kalzium in das Zellinnere ist, soll stärker exprimiert sein. Glutamat wird verzögert abgebaut. Das GABA-erge inhibitorische System ist weniger aktiv. Das Anfallsende wird nicht durch Sauerstoffmangel, sondern durch inhibitorische Mechanismen eingeleitet.

4 pathologische Erregung in Gruppen von Nervenzellen und

die 4 fehlende Erregungsbegrenzung, die eine Ausbreitung der pathologischen Entladungen ermöglicht.

Die epileptische Erregung kann in der Rinde oder in subkortikalen Strukturen entstehen. Neurophysiologisch setzt die epileptische Erregung der Nervenzellen mit einer Labilisierung der Membranen und partiellen Depolarisation ein. Die pathologische Erregungsproduktion kann viele Ursachen haben. Für die genuine Epilepsie wird eine genetisch determinierte Störung des Zellstoffwechsels vermutet. Nicht weniger wichtig für die Entstehung von epileptischen Anfällen ist ein Mangel an Hemmungsfähigkeit, durch den die pathologische Aktivität sich auf benachbarte Hirnabschnitte oder auf das ganze Gehirn ausbreiten kann. Für einige Epilepsien ist eine Verminderung der durch Gamma-Aminobuttersäure (GABA, A für acid) vermittelten Hemmung der neuronalen Aktivität nachgewiesen. Die physiologische Erregungsbegrenzung garantiert, dass verschiedene Hirnabschnitte voneinander unabhängig in differenzierter Weise tätig sein können. Bei der Ausbreitung der epileptischen Entladungen kommt es zu einer abnormen Synchronisation der Aktivität von Neuronen, die normalerweise asynchron tätig sind. Diese Synchronisation, die wir klinisch im rhythmischen Ablauf des tonisch-klonischen Krampfanfalls beobachten können, ist ein wichtiges Charakteristikum der epileptischen Aktivität im EEG. Bei vielen Menschen kann man eine Synchronisierung der EEG-Grundaktivität mit der Frequenz von Lichtblitzen finden, die von Unwohlsein und Übelkeit während der Stimulation begleitet sein kann. Dies ist nicht krankhaft, zeigt aber eine erhöhte Synchronisationsbereitschaft an. Fokale und generalisierte Entladungen. Geht diese Aktivität von einem umschriebenen, lateralisierten Fokus aus, ist auch die epileptische Aktivität im EEG fokal, und die neurologischen Symp-

360

Kapitel 14 · Epilepsien

Facharzt

Provokationsverfahren im EEG Wenn beim klinischen Verdacht auf eine Epilepsie das EEG im Intervall unauffällig ist, bedient man sich verschiedener Provokationsverfahren: Hyperventilation. Hierbei kommt es durch Abatmen saurer Valenzen zur Alkalose. Die Hyperventilation hilft bei primär generalisierten Anfällen, insbesondere vom Aufwachtyp und bei Absencen. Sie ist wenig ergiebig beim Schlaf-GM, bei Herdanfällen und psychomotorischen Anfällen. Photostimulation. Hier verwendet man die Stimulation durch intermittierende Lichtreize. Die Photostimulation provoziert epilepsietypische Potentiale bei primär generalisierten Epilepsien, insbesondere bei Absencen, beim Aufwach-Grand-mal

tome, die der Krampfaktivität entsprechen, sind lateralisiert. Wenn die epileptische Aktivität in tiefen, mittelliniennahen Strukturen beginnt und sich nach bilateral ausbreitet, finden wir im EEG bilaterale, synchrone Krampfaktivität. Die Anfälle sind generalisiert und mit Bewusstseinsstörung verbunden. Für die hoch synchronisierten, bilateralen, rhythmischen epileptischen Entladungen, die man z.B. bei der Absencenepilepsie sieht, nimmt man an, dass der Schrittmacher im aktivierenden Teil der Formatio reticularis liegt und bilateral kortikale Neurone synchron aktiviert werden. Die sekundäre Generalisierung von fokaler epileptischer Aktivität entsteht durch Ausbreitung über die Balkenfasern zur anderen Hemisphäre oder durch sekundäre Erregung von mittelliniennahen Hirnabschnitten.

14

Auslöser von Anfällen. In seltenen Fällen geben sensible oder sensorische Reize regelmäßig den Anstoß zum epileptischen Anfall: Bei der photogenen Epilepsie werden durch intermittierende Lichtreize vor dem Fernsehschirm, in der Diskothek oder beim Befahren baumbestandener Alleen bei tiefstehender Sonne Anfälle ausgelöst. Andere Formen sind die audiogene oder musikogene Epilepsie: epileptische Anfälle nach bestimmten akustischen oder musikalischen Reizen, die Leseepilepsie, die wahrscheinlich nicht durch Afferenzen aus den Augen- oder Sprechmuskeln, sondern durch neuronale Vorgänge im rückwärtigen Anteil des Sprachzentrums ausgelöst wird und die Anfallsprovokation durch sensible Hautreize.

und bei primär generalisierten, myoklonisch-astatischen Anfällen. Bei fokalen Anfällen dagegen sind durch Photostimulation nur selten steile Potentiale zu provozieren. Das so genannte photic driving ist eine Aneinanderreihung von visuell evozierten Potentialen und zeigt eine gesteigerte zerebrale Synchronisationsbereitschaft an. Schlaf-EEG. Besonders aussagekräftig ist die Ableitung im Schlaf nach vorangegangenem Schlafentzug (Schlaf- und Schlafentzugs-EEG). Der Informationszuwachs beträgt etwa 50%, wobei der Schlafentzug beim Aufwach-Grand-mal und beim ImpulsivPetit-mal anfallsfördernd ist, während der Schlaf bei BNS-Krämpfen, bei psychomotorischen Anfällen und beim Schlaf-Grand-mal provozierend wirkt.

Häufig ist, bei Erwachsenen mehr als bei Kindern, das EEG bei einer Ableitung unter Standardbedingungen normal oder nur unspezifisch verändert. Epilepsiespezifische Potentiale findet man oft erst bei wiederholter EEG-Untersuchung. Besonders ergiebig ist die EEG-Untersuchung während oder unmittelbar nach einem Anfall, nach Provokation durch Hyperventilation, Photostimulation oder Schlafentzug (s.u.), bei der 24 h mobilen Langzeitableitung oder zusammen mit Videoaufzeichnung, besonders wenn hierunter ein Anfall klinisch und elektrophysiologisch dokumentiert werden kann. Wir unterscheiden epilepsietypische Potentiale (Spitzenpotentiale, Spitze-Wellen-Komplexe, scharfe Wellen, abnorm rhythmisierte Potentiale) und andere abnorme EEG-Elemente, wie fokale oder intermittierende dysrhythmische Gruppen, oder andere Herdbefunde, die bei entsprechender Anamnese den Verdacht auf eine Epilepsie nahe legen. Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen iktalen, also während eines Anfalls auftretenden, und interiktalen, im Intervall auftretenden pathologischen Potentialen. Bis zu 40% der gesunden Verwandten von Epilepsiekranken haben »epilepsietypische« EEG-Veränderungen. > Ein normales oder nur unspezifisch verändertes EEG

schließt eine Epilepsie nicht aus. Andererseits sind selbst »epilepsietypische« Potentiale kein Beweis für eine Epilepsie.

14.1.2 Computertomographie und Magnet-

resonanztomographie 14.1

Diagnostik

14.1.1 Elektroenzephalographie Das EEG ist das wichtigste Hilfsmittel in der Diagnostik der Epilepsie. Technik der Ableitung und normale Wellenformen7 Kap. 4.2.6.

Bei den meisten fokalen Epilepsien, mit Ausnahme der psychomotorischen Epilepsie, finden sich morphologische Hirnveränderungen. In der Akutsituation, nach dem ersten (sekundär) generalisierten Anfall und bei ersten fokalen Anfällen reicht zunächst ein

361 14.2 · Fokale (partielle) Anfälle

14

Exkurs Magnetenzephalogramm (MEG) Das Ganzkopf-MEG (7 Kap. 4.2.7) mit 64–148 Kanälen kann, wie auch das Vielkanal-EEG mit 32–64 Kanälen, interiktale epileptische Hirnaktivität räumlich umfassend ableiten. Durch Quellenberechnung werden Hirnregionen, in denen epileptische Aktivität entsteht, lokalisiert und die Region mit der frühesten Spike-Aktivität bestimmt. Die Verrechnung der MEG-Dipolloka-

CT, auch zum Ausschluss einer direkten Verletzung als Folge des Anfalls. Ist der Befund im CT negativ, ist danach eine MRT-Untersuchung angezeigt. Eine MRT-Kontrolle nach 3–6 Monaten ist sinnvoll, wenn das erste MRT negativ war. Da man nach generalisierten, großen Anfällen nicht sicher sein kann, ob eine fokale Läsion zugrunde liegt, ist man immer gut beraten, wenn man ein MRT anfertigen lässt. Anders ist die Situation bei Patienten mit bekannter Epilepsie. Wenn die Ursache früher schon gründlich abgeklärt wurde, muss nicht jedes Mal wieder ein CT oder MRT angefertigt werden. Man soll aber darauf bestehen, die alten Aufnahmen selbst zu sehen, um deren Qualität (spezielle Temporallappendarstellung, Kontrastmittelgabe?) zu prüfen. Wenn der Patient sich beim Anfall verletzt hat oder wenn eine wesentliche Änderung des Anfallscharakters eingetreten ist, wird man ein neues CT veranlassen: Auch Patienten mit einer genuinen Epilepsie können einen Tumor, einen Abszess, eine subdurale Blutung (häufig nach Stürzen) oder eine Meningoenzephalitis entwickeln! Für die Abklärung einer Temporallappenepilepsie ist immer eine MRT mit Gadolinium und besonderer, koronarer Darstellung des Temporallappens erforderlich (. Abb. 14.5). 14.1.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik Für die operative Behandlung der Epilepsie (7 Kap. 14.6) kommen in Deutschland einige Tausend Anfallskranke in Frage, die therapieresistent sind. Zur Vorbereitung der Operation muss der Herd, von dem die epileptische Aktivität ausgeht, elektrophysiologisch lokalisiert werden, besonders wenn im MRT mit spezieller Darstellung des Temporallappens keine morphologische Ursache für die Anfälle gefunden wurde. Dies ist nur selten mit der konventionellen EEG-Untersuchung mit Oberflächenelektroden möglich. Nützlich ist die Video-Doppelbildaufzeichnung, die gleichzeitig den Anfallsablauf und die bioelektrische Hirntätigkeit dokumentiert. Semi-invasive Ableitungen mit Nasopharyngeal-, Sphenoidal- und Foramen-ovale-Elektroden erfassen die Aktivität mediobasaler, limbischer Strukturen. An einigen Zentren werden Mehrfachelektroden stereotaktisch in die Tiefe des Gehirns oder während der Operation Elektrodengitter mit multiplen Elektroden auf dem Kortex platziert.

lisation mit dem MRT projiziert den Ort der funktionellen Störung in die morphologische Darstellung des Gehirns (. Abb. 14.4) und ermöglicht so eine bessere nichtinvasive Diagnostik, z.B. zur genaueren Planung von evtl. notwendigen Tiefenableitungen und operativen Eingriffen.

Die MEG hat in der präoperativen Epilepsiediagnostik eine erste praktische Anwendung gefunden. 14.2

Fokale (partielle) Anfälle

3Definition. Fokale (partielle) Anfälle können ohne Bewusstseinsstörung (einfach-partielle Anfälle) oder mit Bewusstseinsstörung (komplex-partielle Anfälle) auftreten. Fokale Anfälle sind in der Mehrzahl symptomatisch, d.h. Ausdruck einer lokalisierbaren organischen Hirnschädigung. Tumoren, Traumen, Gefäßmissbildungen, Fehlbildungen und Entzündungen sind die häufigsten Ursachen symptomatischer Anfälle. In etwa 80-90% der Fälle lässt sich eine entsprechende Läsion im CT oder MRT nachweisen. Die Ursache kann aber auch morphologisch-makroskopisch nicht erkennbar sein, wie dies bei manchen komplex-partiellen Anfällen der Fall ist. Bei den meisten Herdanfällen ist das Bewusstsein erhalten oder nur wenig getrübt, weil die epileptische Erregung auf ein rindennahes Areal begrenzt bleibt. Generalisieren sich die epileptischen Entladungen durch Absteigen zur Formatio reticularis von Hirnstamm und Thalamus mit anschließender symmetrischer Ausbreitung über beide Hemisphären, so kommt es zur Bewusstlosigkeit und sekundären Generalisierung (symptomatischer Grand-mal-Anfall). > Partielle Anfälle sind durch folgende Elemente charakterisiert: 4 In der Regel besteht keine Bewusstlosigkeit und nur selten Amnesie für den Anfall. 4 Motorische Symptome sind unilateral und meist auf nur einzelne Körperregionen beschränkt. 4 EEG-Veränderungen sind herdförmig und nicht über beiden Hemisphären abzuleiten.

14.2.1 Einfach fokale (partielle) Anfälle Je nach Lokalisation des epileptischen Fokus können einfach fokale Anfälle motorische Symptome (Zuckungen einer Extremität oder des Gesichtes), sensible Symptome (anfallsartige, auf einzelne Körperregionen bezogene Missempfindungen), vegetative Symptome (Schwitzen, Rötung einer Extremität, Tachykardie),

362

Kapitel 14 · Epilepsien

optische Symptome (Lichtblitze, Skotome) und aphasische Symptome (Sprachhemmung, speech arrest) verursachen. Am leichtesten werden die Anfälle diagnostiziert, wenn sie mit motorischen Symptomen verbunden sind. Das Bewusstsein ist praktisch immer erhalten. Einfach fokale Anfälle mit motorischer Symptomatik Diese Anfälle entstehen im motorischen Kortex. Sie können, je nach Lage des Fokus, durch Unfähigkeit zu Sprechen (speech arrest), durch Vokalisation von einzelnen Silben, klonische oder tonische Krämpfe einer Gesichtshälfte, einer Hand, eines Arms oder eines Beins gekennzeichnet sein. Der Mastikatoriusanfall ist ein fokaler Anfall der kontralateralen Kaumuskulatur. Eine forcierte Blickwendung vom epileptischen Fokus weg (Differenzierung zur Blickwendung bei zentraler Lähmung: »Der Patient blickt den Herd an«) kommt bei fokalen, motorischen Anfällen, die das Gesicht und den Arm betreffen, häufig vor. Nach dem Anfall können Lähmungen (Todd-Parese) der zuvor krampfenden Extremität gefunden werden. Adversivanfälle Die fokalen Anfälle des Frontallappens sind nicht so leicht zu erkennen. Die Symptomatik ist ausgesprochen variationsreich, Störungen des Antriebs, komplexe Bewegungsmuster mit Wende(Versiv-)bewegungen und posturalen Elementen (Fechterstellung) sind typisch. Bei den Adversivanfällen führt der Patient für Sekunden eine schnelle Seitwärtsbewegung der Augen und tonische Drehung des Kopfes aus, selten auch einmal eine leichte Drehbewegung des Rumpfes. Manchmal hebt er dabei den Arm, den er anblickt. Das Bewusstsein bleibt in der Regel erhalten. Ursache ist eine lokale Irritation der Hirnrinde in der lateralen oder medialen Frontalregion der Seite, von der sich Kopf und Augen abwenden (frontales Adversivfeld und supplementärmotorische Region).

14

Einfach fokale Anfälle mit sensibler oder visueller Symptomatik Fokale sensible Anfälle äußern sich mit Kribbelparästhesien, Elektrisierungsgefühl, manchmal auch dem Gefühl von Steifigkeit und Kälte. Auch Schmerzen können auftreten. Die Fehlwahrnehmung einer Eigenbewegung oder eine Drehbewegung der Umgebung (vertiginöse Epilepsie) kommt bei Parietallappenanfällen vor. An visuellen Symptomen treten Skotome, Hemianopsien, Flackern, Blitze oder Farbwahrnehmungen auf. Auch visuelle Halluzinationen können im kontralateralen Gesichtsfeld auftreten. Objekte können verzerrt erscheinen, doppelt wirken, sich in ihrer Größe verändern oder ihre Form verändern (Metamorphopsie). Szenische Halluzinationen sind selten. Jackson-Anfälle Jackson-Anfälle sind fokale Anfälle, bei denen sich tonische bzw. klonische Zuckungen (motorische Jackson-Anfälle) oder Miss-

empfindungen (sensible Jackson-Anfälle) von einer Körperregion auf benachbarte Bezirke ausbreiten. Die Zuckungen oder Missempfindungen breiten sich an den Armen oder Beinen meist in Richtung von distal nach proximal aus. Sie können auch im Gesicht beginnen und dann auf Hand und Arm überspringen. Die Rumpfmuskeln werden kaum ergriffen. Selten gehen die Zuckungen auch auf die andere Körperhälfte über, wo sie sich dann spiegelbildlich ausbreiten. Dies geschieht aber erst, nachdem sie auf der zuerst ergriffenen Seite ihren Höhepunkt erreicht haben. Jackson-Anfälle können auch in Extremitäten auftreten, die für Willkürbewegungen komplett gelähmt sind. Das Bewusstsein bleibt erhalten, sofern der Jackson-Anfall nicht in einen generalisierten Krampfanfall mündet. In den betroffenen Extremitäten kann nach dem Ende des Anfalls eine postparoxysmale Parese bestehen. Diese beruht nicht auf Erschöpfung der Nervenzellen, da sie auch nach sensiblen Jackson-Anfällen und selbst dann auftritt, wenn man den Anfall im Beginn durch sensible Stimuli unterbricht. Sie muss also Ausdruck eines aktiven Hemmungsmechanismus mit Hyperpolarisation der Zellmembranen sein. Zugrunde liegt immer eine umschriebene Hirnschädigung der Zentralregion. In erster Linie muss man an einen Hirntumor (Meningeom, Gliom) oder an ein arteriovenöses Angiom denken, weiter kommen Hirnverletzungen, frühere Infarkte oder Blutungen und perinatale Hirnschädigung in Frage. > Nicht jeder fokale oder gar jeder traumatisch epilepti-

sche Anfall darf als Jackson-Anfall bezeichnet werden: entscheidend ist die Ausbreitung der Krämpfe oder Missempfindungen (march of convulsion).

Einfach partielle Anfälle mit aphasischer Symptomatik Diese Anfälle können sich mit Unterbrechung der Sprache (speech arrest) und mit repetitiven, kurzen, meist gleichförmigen Silben, Wortfragmenten äußern. Nach Beendigung des Anfalls kann eine Aphasie weiterbestehen, analog zu einer postparoxysmalen Lähmung. Nur das EEG erlaubt die Differenzierung von Anfall mit aphasischen Symptomen von der postparoxysmalen Aphasie. 14.2.2 Komplex partielle (psychomotorische)

Anfälle Bei diesen Anfällen ist das Bewusstsein verändert. Die Patienten sind zwar nicht bewusstlos, wirken aber verhangen und abwesend. Für den Anfall besteht anschließend eine Amnesie. Motorische Symptome (stereotype Bewegungen, szenische Handlungen, Versivbewegungen), Geruchs- und Geschmacksmissempfindungen und vegetative Symptome (Blässe, Speichelfluss, Tachykardie) gehören zu diesen Anfällen. Oft erscheint den Patienten die Umwelt verändert, entfernt oder verzerrt. Das alte Synonym Unzinatusanfälle wurde benutzt, weil sich die epileptische Erregung oft vom basalen Temporallappen (Gyrus uncinatus) ausbreitet.

363 14.2 · Fokale (partielle) Anfälle

14

Facharzt

»Temporale« Epilepsien Psychomotorischen Anfällen liegen epileptische Entladungen zugrunde, die von Strukturen des Temporallappens ausgehen. Dieser Anfallstyp wird deshalb auch als temporale Epilepsie bezeichnet. Im Temporallappen unterscheiden wir die entwicklungsgeschichtlich ältere mediale (engl. auch mesial) Region, in die auch Hippocampus und Amygdala eingeschlossen sind und die zum limbischen System gehört, sowie die laterale, neokortikale Region. Die Epilepsien der beiden Regionen unterscheiden sich in ihren Symptomen: Die mediale Temporallappenepilepsie neigt zur Generalisierung. Epigastrische oder gustatorisch-olfaktorische Auren (Riechhirn) und vegetative Symptome, verbunden mit Ängstlichkeit und Erregung, gehen dem Anfall voraus. Initial ist die Bewusstseinsstörung gering, oft wirkt das Bewusstsein nur verändert. Eine Amnesie für den Anfall liegt praktisch immer

3Ablauf des Anfalls. Die psychomotorischen Anfälle haben einen komplexen Ablauf. Im typischen Fall lassen sich 3 Stadien erkennen: 4 Der Anfall wird durch eine eine Aura eingeleitet (Aura = Hauch, Anfangsstadium eines epileptischen Anfalls). Für alle Auren gilt, dass der Patient sie oft nur unscharf beschreiben kann, obwohl die Empfindung für ihn so charakteristisch ist, dass er das Nahen eines epileptischen Anfalls sofort daran erkennt. Sehr häufig ist die epigastrische Aura: ein Wärme- oder Beklemmungsgefühl, das aus der Magengegend zum Hals aufsteigt. Seltener sind halluzinatorische Wahrnehmungen von unangenehmem Geruch oder Geschmack (gustatorische und olfaktorische Auren). Optische Auren beginnen mit Farb- und Bildwahrnehmungen. Auch psychische Erlebnisse können als Aura auftreten (dreamy state): ein Gefühl der Entfremdung (jamais-vu) oder unbestimmten Vertrautheit (déjà-vu) gegenüber der Umgebung. Das Gefühl, schon einmal an einem Ort gewesen zu sein, eine bestimmte Situation schon einmal erlebt und wahrgenommen zu haben, sind charakteristisch. Übrigens haben auch viele Gesunde hin und wieder Déjà-vuErlebnisse, die, wenn sie nicht immer in der gleichen Form und mit gleichem Inhalt ablaufen, kein Risiko für das Entstehen einer Epilepsie mit psychomotorischen Anfällen darstellen. Manchmal empfinden die Patienten eine Dehnung oder Raffung des Zeiterlebens oder eine Stimmungsveränderung, Angst oder ängstliche Erregung. Es kommt auch zu Veränderungen der Sinneswahrnehmung: die Umgebung erscheint entfernt, abgeblasst oder verkleinert. In anderen Fällen wirkt sie näher, leuchtender oder vergrößert. Geräusche werden überlaut, leise oder qualitativ verändert wahrgenommen. Manche Patienten erleben eine Szene aus ihrer Vergangenheit anschaulich, während sie gleichzeitig die Umgebung real wahrnehmen (mental diplopia).

vor. Die Aura wird hingegen gut erinnert. Schmatzen und Schlucken, aber auch komplexere Handlungsabläufe und Gesten sind typische Automatismen des medialen Temporallappens. Neben Tumoren oder Gefäßmissbildungen des medialen Temporallappens sind Entwicklungsstörungen des Hippocampus und die »mesiale Sklerose oder Gliose« nach Geburtstraumen häufige Ursachen dieser Anfallsform. Reine Unzinatusanfälle, d.h. solche Anfälle, die nur in einer Geruchs- oder Geschmacksaura bestehen, zeigen meist einen Schläfenlappentumor an. Bei psychomotorischen Anfällen sind wiederholte EEG- und neuroradiologische Untersuchungen angezeigt. Bei den Epilepsien des lateralen Temporallappens (neokortikale Anfälle) ist eine auditive oder visuelle Aura häufiger. Vegetative Symptome treten v. a. dann auf, wenn die Inselrinde betroffen ist. Orale Automatismen sind seltener, motorische Anfallssymptome häufiger.

Auffälligerweise haben die Auraerlebnisse meist unangenehmen Charakter. Wohltuende Sinneswahrnehmungen oder Glücksgefühle werden fast nie erlebt. Isolierte Furcht kann ein Symptom der psychomotorischen Epilepsie sein, wenn die Erregung auf die vordere Temporalregion beschränkt bleibt. Sehr charakteristisch ist der Crescendocharakter der Erlebnisse. Strenggenommen sind Auren einfach partielle Anfälle, da sie ohne Bewusstseinsverlust bleiben. Da aber häufig Bewusstseinsverlust und psychomotorischer Anfall folgen, wurden sie hier besprochen. 4 Im zweiten Stadium kommt es zur Bewusstseinstrübung. Diese ist weniger tief als bei Absencen, so dass die Patienten eine gewisse Reaktionsfähigkeit behalten. Sie dauert aber länger, über Minuten. Die zeitliche Ausdehnung ist ein differentialdiagnostisches Kriterium gegenüber Absenzen mit Automatismen (s.o.). Der Patient führt währenddessen stereotyp bestimmte Bewegungen oder objektbezogene Handlungsabläufe aus. Am häufigsten sind orale Automatismen: Bewegungen des Kauens, Schluckens, Schmatzens, Lecken der Lippen, auch von Grunzen, Rülpsen und Brummen begleitet. Oft nestelt der Patient auch an sich oder auf dem Tisch herum, knöpft seine Jacke auf und zu, räumt Gegenstände hin und her, trommelt rhythmisch mit den Fingern oder mit beliebigen Gegenständen auf einer Unterlage. Dieses Stadium ist von vegetativen Symptomen begleitet: Pupillenerweiterung, Blässe oder Rötung des Gesichtes, Speichelfluss, Veränderung der Frequenz von Atmung und Herzschlag, Harndrang. Die Patienten werden nicht bewusstlos und stürzen nicht zu Boden, sondern bleiben stehen, treten von einem Fuß auf den anderen, laufen ziellos im Zimmer hin und her und finden sich hinterher an Orten, ohne zu wissen, wie sie dahin gelangt sind.

364

Kapitel 14 · Epilepsien

frontal

rechts links

präzentral

parietal

rechts links

rechts links

okzipital rechts links gegen gleichseitiges Ohr

100µV

100µV 1s

1s

a

14

b

. Abb. 14.1a,b. Epilepsie mit psychomotorischen Anfällen. EEG im Anfallsintervall. (Aus Meyer-Mickeleit 1953). Ableitung von beiden Hemisphären jeweils gegen das gleichseitige Ohr (a). In allen linksseitigen Ab-

leitungen treten in regelmäßigen Abständen intermittierend synchrone, steile Wellen auf. Der Pfeil markiert einen Lidschlag

4 Am Ende des Anfalls hellt sich das Bewusstsein langsam auf. Die motorischen Automatismen lassen nach, setzen ganz aus, und der Patient nimmt wieder eine geordnete Beziehung zur Umwelt auf. Dabei muss er sich erst mühsam wieder reorientieren. Für den Anfall besteht Amnesie.

> Generalisierte Anfälle sind durch folgende Elemente definiert: 4 Sie sind immer von Bewusstseinsverlust begleitet. Es besteht Amnesie für das Anfallsereignis. 4 Motorische Symptome sind immer bilateral und 4 EEG-Veränderungen sind ebenfalls über beiden Hemisphären abzuleiten.

3Diagnostik. EEG: Im Intervall ist eine paroxysmale Dysrhythmie oder ein Herd träger, scharfer bzw. steiler Wellen, einseitig oder doppelseitig über der Temporalregion (. Abb. 14.1). Ein bilateraler EEG-Fokus schließt einen einseitigen Tumor nicht aus. 14.3

Generalisierte Anfälle

Die Symptomatik der verschiedenen generalisierten Anfälle ist sehr vielfältig. Sie reicht vom tonisch-klonischen Grand-mal-Anfall bis zu kurz dauernden Störungen des Bewusstseins ohne irgendwelche motorischen Entäußerungen. Eine Reihe generalisierter Anfälle tritt typischerweise in einem bestimmten Lebensalter erstmalig auf. Sie werden als altersgebundene kleine Anfälle (Petit-mal) bezeichnet. Generalisierte Anfälle können genuin sein (Absencen, Impulsiv-Petit-mal, primär generalisiertes Grand-mal), aber auch symptomatisch Ausdruck einer schweren, pränatalen oder frühkindlichen Hirnschädigung sein (Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, Lennox-Gastaut-Syndrom). Letztere sind Krankheiten, die in der Kinderneurologie behandelt werden.

14.3.1 Altersgebundene kleine Anfälle ä Der Fall Ein 10-jähriges Mädchen wird von der Schule zum schulpsychologischen Dienst geschickt, da es durch zunehmende Unaufmerksamkeit und Abfall der früher guten schulischen Leistung aufgefallen ist. Die Eltern berichten der Psychologin, dass ihre Tochter die meiste Zeit des Tages sehr interessiert, lebhaft und aufgeweckt sei, dass es dann aber kurze Phasen von Unaufmerksamkeit und Abwesenheit gäbe. Zum Beweis bringen sie ein Schulheft mit, in dem ein Diktat mit über 30 Fehlern zu finden ist. Im gleichen Heft, einige Monate vorher, ist ein ähnlich schweres Diktat fast ohne Fehler geschrieben worden. Bei dem Gespräch ist das Kind interessiert, aktiv, bestätigt, was die Eltern erzählen, und wirkt gar nicht auffällig. Die Psychologin beschäftigt sich etwas genauer mit dem Diktatheft und stellt fest, dass die Mehrzahl der Fehler keine Recht-

6

365 14.3 · Generalisierte Anfälle

14

Exkurs Andere generalisierte Anfälle des Kindesalters Neugeborenenkrämpfe. Diese sind zu 90% Ausdruck einer sehr schweren Hirnschädigung des Neugeborenen. Ursachen sind hypoxische Hirnschädigungen, intrakranielle Blutungen und metabolische Störungen. Die Prognose ist schlecht. Fieberkrämpfe sind Gelegenheitsanfälle und wurden bereits zu Beginn des Kapitels besprochen. Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe (infantile Spasmen, West-Syndrom). Im ersten Lebensjahr, meist um den 6. Monat, treten die Blitz-Nick-Salaam-(BNS-) Krämpfe auf. Der Anfallsablauf ist durch eine brüske Vorwärtsbewegung charakterisiert, die Kopf und Rumpf betrifft oder von einem Anheben der Beine und des Rumpfes und Einschlagen der Arme begleitet ist. Der einzelne Anfall dauert nur wenige Sekunden. Währenddessen besteht eine Bewusstseinstrübung. Typischerweise treten diese BNS-Krämpfe in Serien bis zu 50 Anfällen auf. Sie können auch mit Grand-mal-Anfällen kombiniert sein. Das EEG zeigt ein sehr charakteristisches Bild, das die Diagnose meist auch ohne Kenntnis des klinischen Befundes erlaubt (»diffuse, gemischte Krampfpotentiale« oder »Hypsarrhythmie«). Sie werden mit Vigabatrin behandelt, einem Antiepileptikum, das sonst kaum noch eingesetzt wird. Prognose: Ohne Behandlung entwickelt sich im weiteren Verlauf eine schwere geistige und körperliche Entwicklungs-

schreibfehler, sondern Auslassfehler sind, manchmal fehlen ganze Wörter, manchmal Teile von Worten und Satzverbindungsstücke. Die schwierigeren Wörter in dem Diktat sind, wenn sie ausgeschrieben sind, fehlerfrei. Ob das Kind schon bei einem Arzt, vielleicht bei einem Kinderneurologen, gewesen sei, fragt sie. Nein, man sei auf Empfehlung der Schule sofort zum schulpsychologischen Dienst gegangen. Die Psychologin empfiehlt die Vorstellung bei einer Neurologin. Aufgrund des Berichts der Psychologin wird ein EEG angefertigt. Wie von Psychologin und Ärztin vermutet, ist das EEG pathologisch: Kurze Gruppen von 3/s Spike-wave-Komplexen, die synchron auftreten, dominieren das Hirnstrombild. Die Diagnose einer Absencen-Epilepsie, in diesem Fall noch nicht durch große, generalisierte Anfälle kompliziert, wird gestellt, und eine Behandlung mit Valproinsäure eingeleitet. Nach wenigen Tagen sistieren die Absencen, und die Schülerin kehrt auf ihren vorherigen Leistungsstand zurück.

Absencenepilepsie des Kindes- und Jugendalters (pyknoleptisches Petit-mal) Der Krankheitsbeginn liegt zwischen 4 und 14 Jahren mit einem Gipfel zwischen 6 und 10 Jahren. Die Anfälle treten, wie der Name sagt (griech. pyknos, dicht), meist in großer Häufigkeit, unbehandelt bis zu hundert Male am Tage auf und werden

hemmung und später auch Demenz. Um das 5. Lebensjahr setzen die BNS-Krämpfe aus. Später bekommen die Kinder fokale und generalisierte Anfälle. Sie treten hin und wieder auch ohne schwere Hirnschädigung auf und haben dann eine deutlich bessere Prognose. Myoklonisch astatische Epilepsie (Lennox-Gastaut-Syndrom). Mit den BNS-Krämpfen verwandt sind die myoklonisch-astatischen Anfälle. Das Lennox-Gastaut-Syndrom entsteht in etwa der Hälfte der Fälle symptomatisch als Folge einer schweren prä- und perinatalen Hirnschädigung. Manchmal entwickelt es sich aus BNS-Krämpfen. Die Anfälle treten meist um das 4. Lebensjahr auf. Eine genetische Vorbelastung findet sich bei etwa einem Viertel der Patienten. Das idiopathische Lennox-Gastaut-Syndrom hat eine bessere Prognose als das symptomatische. Tonische Anfälle überwiegen, Arme und Beine werden plötzlich gebeugt oder tonisch angehoben. Durch einen plötzlichen Tonusverlust stürzen die Kinder wie vom Blitz getroffen zu Boden. Häufig kommt es davor zu Beugemyoklonien der Arme, Zuckungen der Gesichtsmuskulatur oder oralen Automatismen. Die Anfälle treten bevorzugt nach dem Erwachen aus dem Nacht- oder Mittagsschlaf auf. Sie können sich statusartig häufen. Daneben haben die Kinder tonische, große Krampfanfälle. Im EEG finden sich ähnliche Veränderungen wie bei BNS-Krämpfen, manchmal auch 2/s-Krampfwellen-Varianten.

leicht durch seelische Erregung und Hyperventilation provoziert. 3Symptome. Der Anfall dauert wenige Sekunden. Der Ablauf der Anfälle entspricht nicht selten der indifferenten Absence: Das Kind wird etwas blass, bekommt einen starren Blick, hält in seiner Tätigkeit inne, ohne hinzustürzen und reagiert nicht auf Anruf (»seelische Pause«). Häufig enthält die Absence auch gewisse rhythmische, motorische Elemente: Lidmyoklonien, nystaktische Augenbewegungen nach oben, ruckartiges Rückwärtsneigen des Kopfes, leichtes Zucken mit den Armen im Rhythmus der Krampfwellen im EEG. Selten führen die Kinder orale und andere Automatismen, ähnlich denen beim psychomotorischen Anfall (s.o.) aus. Absencen mit Automatismen sind aber von psychomotorischen Anfällen dadurch gut zu unterscheiden, dass sie plötzlich, ohne Aura, einsetzen und ebenso plötzlich wieder aufhören. Psychisch sind die Kinder lebhaft und aufgeweckt, deshalb hatte man früher geglaubt, die Pyknolepsie von der Epilepsie abtrennen zu können. Die Pyknolepsie gehört zu den genetisch bedingten Epilepsien. Die Kombination mit Grand-mal ist häufig. 3Diagnostik. Das EEG zeigt im Anfall immer und im Intervall sehr häufig typische 3/s-spikes und waves (. Abb. 14.2a).

366

Kapitel 14 · Epilepsien

frontal

rechts links

rechts präzentral links

parietal

rechts links

okzipital

rechts links

gegen gleichseitiges Ohr

100µV

a

2 4

1 3

6 8

5 7

1s

14 150 µV

b

1s

. Abb. 14.2. a EEG-Ableitung einer Absence bei Pyknolepsie. (Aus Jung 1953). Kleiner Anfall von 7 s Dauer, 3/s-spikes und waves von 500 μV über allen Hirnregionen (7-jähriges Kind, bis zu 15 Anfälle am Tag),

b Status myoklonischer Anfälle. Fast kontinuierliches, generalisiertes Polyspike-Wave-Muster

Myoklonische Epilepsie des Jugendalters (Impulsiv-Petit-mal) In die Pubertät, meist zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr, fällt die erste Manifestation der kleinen Anfälle vom Typ des Impulsiv-Petit-mal (IPM; Synonyme: myoklonisches Petit-mal, bilateral massiver Myoklonus, Janz-Syndrom).

lich die Schultern und Arme betreffen und jeweils nur 2–3 s dauern. Die Jugendlichen stürzen dabei nicht hin. Das Bewusstsein ist nur leicht getrübt. Die IPM-Anfälle treten besonders morgens kurz nach dem Erwachen auf. Sie sind genetisch bedingt. Da sie von vielen Patienten und ihren Angehörigen nicht als Anfälle gewertet werden, muss man speziell danach fragen, ob der Kranke etwa häufig unwillkürlich die Zahnbürste oder den Kamm wegschleudert oder ob ihm beim Frühstück die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Die IPM können vor generalisierten

3Symptome. Die Anfälle äußern sich in einzelnen oder salvenartigen, bilateralen, myoklonischen Stößen, die hauptsäch-

367 14.3 · Generalisierte Anfälle

14

Facharzt

Epilepsien mit Myoklonien Epilepsien, bei denen Myoklonien im Vordergrund stehen, sind das Impulsiv-Petit-mal (juvenile Myoklonusepilepsie), fokale motorische Anfälle und einige generalisierte Anfälle des Kindesalters. Eine Sonderform der Epilepsien sind die progressiven Myoklonusepilepsien, die meist im Kindes- und Jugendalter auftreten. Hier kommt es neben der Epilepsie mit Myoklonien fast immer zu einer erheblichen Demenz. Oft sind Stoffwechselkrankheiten oder Mitochondriopathien die Ursache für diese seltenen Syndrome. Allen gemeinsam ist die durch nichts zu verhindernde Progredienz der meist genetisch bedingten

Krampfanfällen vom Typ des Aufwach-Grand-mal auftreten. Wie diese, werden die IPM durch vorangegangenen Alkoholgenuss und Schlafentzug provoziert. Eine intellektuelle Beeinträchtigung tritt nicht ein. 3Diagnostik. Das EEG zeigt häufig, wenn auch nicht so regelmäßig wie bei den Absencen, ein typisches Bild mit Polyspikewave-Abläufen (. Abb. 14.2b). 14.3.2 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall Generalisierte tonisch-klonische Grand-mal-(GM-)Anfälle können isoliert, als Komplikation einer anderen, generalisierten Epilepsie mit kleinen Anfällen, oder sekundär generalisiert mit partiellen Epilepsien kombiniert sein. Auch Gelegenheitsanfälle äußern sich meist als GM. Eine GM-Epilepsie kann grundsätzlich in jedem Lebensalter einsetzen. Das Prädilektionsalter liegt bei der genuinen Epilepsie zwischen dem Schulalter und dem 25. Lebensjahr. Vor dieser Zeit beginnende Grand-mal-Epilepsien beruhen meist auf perinataler oder früh erworbener Hirnschädigung (Residualepilepsie). Nach dem 25. Lebensjahr muss immer ein Tumor oder eine andere Hirn- oder Hirngefäßkrankheit ausgeschlossen werden. Psychomotorische Anfälle können bei längerem Bestehen einer GM-Epilepsie manifest werden und zeigen dann die sekundäre Krampfschädigung des Temporallappens an. Epilepsie mit tonisch-klonischem Aufwach-GM Etwa ein Drittel aller GM-Anfälle treten in den ersten Stunden nach dem Aufwachen, unabhängig von der Tageszeit auf. Nicht selten sind diese Aufwach-GM-Anfälle mit anderen primär generalisierten Anfällen, Absencen oder Impulsiv-Petit-mal verbunden. Das Aufwach-GM beginnt typischerweise im Jugendoder frühen Erwachsenenalter. Die Anfälle werden durch Schlafentzug provoziert. Etwa 10% der Patienten sind genetisch mit Epilepsie belastet. Beim Schlaf-Grand-mal und diffusem Grandmal ist die genetische Prädisposition deutlich niedriger. SchlafGM und diffus über den Tag verteilte GM können in jedem Le-

Abnormität. Fast immer treten auch andere Symptome wie Ataxie, Neuropathie und metabolische Störungen hinzu. Genannt, aber nicht näher besprochen, seien die progrediente Myoklonusepilepsie vom Typ Unverricht-Lundborg, die Zeroidlipofuszinose und Sialidose, die MERRF (Myoklonusepilepsie mit ragged-red fibers, s. Kap. 28.7.3) in der Muskelbiopsie, die Lafora-Einschlusskörperchen-Krankheit und die progrediente Myoklonusataxie, das Ramsey-Hunt-Syndrom. Dieses Syndrom hat eine bessere Prognose, eine Demenz ist oft nicht vorhanden, epileptische Anfälle sind selten, dagegen steht die Ataxie im Vordergrund.

bensalter erstmalig auftreten. Sie sind häufig symptomatisch und können fokal beginnen. 3Ablauf des Anfalls. 4 Aura: Der große epileptische Krampfanfall kann von einer Aura eingeleitet werden oder den Patienten plötzlich, ohne Vorboten, als elementares Ereignis überfallen. Die Qualität der Aura hat diagnostische Bedeutung, da man daran gelegentlich erkennen kann, aus welcher Hirnregion die epileptische Entladung stammt: In manchen Fällen lässt sich der Ausgangsherd an einer postparoxysmalen Parese erkennen. 4 Anfallsbeginn: Häufig stößt der Patient zu Beginn des Anfalls einen Initialschrei aus. Dieser kommt mechanisch durch Kontraktion der Atemmuskeln bei fast geschlossener Stimmritze zustande. Der Patient stürzt dann zu Boden. Dabei verletzt er sich gelegentlich. Die Augen bleiben meist geöffnet. Die Bulbi sind nach oben oder zur Seite verdreht, die Pupillen reagieren nicht auf Licht. 4 Tonisch-klonisches Stadium: Der Körper des Kranken streckt sich jetzt im tonischen Krampfstadium, in dem die Beine überstreckt und die Arme gestreckt oder gebeugt sind. Das Gesicht wird durch Apnoe zyanotisch. Nach wenigen Sekunden setzen rhythmische klonische Zuckungen ein. Diese dauern für etwa 1–5 min ununterbrochen an. Danach werden sie seltener, können noch ein- bis zweimal für Sekunden aufflammen und setzen dann ganz aus. Im Krampf beißt sich der Patient häufig seitlich auf die Zunge, so dass der Schaum, der vor den Mund tritt, blutig gefärbt ist. Oft, aber keineswegs immer, kommt es zur Enuresis, viel seltener auch zu Stuhlabgang. Während des Krampfstadiums sind als Folge der schweren Funktionsstörung im Zentralnervensystem pathologische Reflexe der Babinski-Gruppe auszulösen, jedoch hat man in der Praxis nur selten Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Der Blutdruck ist vorübergehend stark erhöht. Die Atmung sistiert in der tonischen Phase, die Pupillen reagieren nicht. 4 Nach dem Anfall: Der Kranke liegt mit röchelnder, schwerer Atmung schlaff da und verfällt in einen Terminalschlaf, der Mi-

368

Kapitel 14 · Epilepsien

nuten bis Stunden dauert. Beim Erwachen fühlt sich der Patient, entsprechend der überstandenen schweren körperlichen Anstrengung, müde und zerschlagen. Eine postparoxysmale Verwirrtheit kann Stunden, manchmal Tage dauern. Differentialdiagnostisch ist, auch zur Abgrenzung gegen psychogene Anfälle, der Anstieg der CPK sowie, wenn man die Möglichkeit des Nachweises hat, von Plasmakortisol und Prolaktin auf das 10- bis 20fache der Norm von Bedeutung. 3Komplikationen. Durch die plötzliche, gewaltige Muskelkontraktion der langen Rückenstrecker kann es zu Deckplatteneinbrüchen, Vorderkantenabsprengung, selten auch Kompressionsfrakturen in Höhe der unteren BWS und oberen LWS kommen (Röntgenaufnahme bei schmerzhafter Bewegungseinschränkung!). Auch Schulterluxationen und Unterkieferfrakturen werden beobachtet. 3Diagnostik. Im EEG tritt unmittelbar vor einem großen Anfall erst eine Abflachung ein, gefolgt von Spike-Potentialen und Muskelartefakten. Der tonischen Phase entspricht eine Serie hochfrequenter Spitzenpotentiale. Während der klonischen Phase sind die steilen Potentiale von langsameren Nachschwankungen gefolgt (. Abb. 14.3). Nach einem Grand-mal ist das EEG für variable Perioden von langsamen Wellen beherrscht oder jedenfalls im Grundrhythmus verlangsamt. Wenn unmittelbar nach einem Anfall das EEG normal ist, spricht dies gegen Epilepsie. Nach einem synkopalen Anfall ist das EEG innerhalb von 2–3 min normal. Nach dem ersten Grand-mal ist immer eine neuroradiologische Abklärung angezeigt. Dies gilt auch bei Kopplung mit anderen generalisierten Anfallsformen. 14.4

14

Status epilepticus

3Definition. Einen epileptischen Status nennt man ununterbrochene oder sich ständig wiederholende epileptische Anfälle für länger als 30 min. Beim Status generalisierter Anfälle wird zwischen den Anfällen das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Der Status fokaler Anfälle kann ohne Bewusstseinsverlust ablaufen. Auch psychogene Status sind nicht ungewöhnlich, aber gut vom epileptischen Status zu unterscheiden. 14.4.1 Grand-mal-Status Die Bezeichnung Grand-mal-Status ist nur gerechtfertigt, wenn tonisch-klonische GM-Anfälle so dicht aufeinanderfolgen, dass der Patient dazwischen nicht mehr das Bewusstsein erlangt. Wird der Kranke zwischen zwei Anfällen wieder ansprechbar, liegt kein Status vor, sondern eine Häufung von Krampfanfällen, auch Grand-mal-Serie genannt. Der Grand-mal-Status ist lebensbedrohlich.

3Ursachen. Ein Status epilepticus tritt bei 3–8% aller Anfallskranken auf. In 2/3 der Fälle handelt es sich um symptomatische Epilepsien. Unter diesen wird der Status am häufigsten bei Gehirntumoren beobachtet, in erster Linie bei Astrozytomen, etwas seltener bei Glioblastomen, dagegen kaum bei Meningeomen. An zweiter Stelle stehen offene Hirnverletzungen, die weit mehr als gedeckte zum Status disponieren. Seltenere Ursachen sind akute Enzephalitis, Schlaganfall, degenerative Hirnprozesse, interkurrente Infekte, Alkoholdelir. Manchmal ist der Status die Erstmanifestation einer Epilepsie, häufiger ist aber vorher schon eine Epilepsie bekannt. Bei vorbestehender Epilepsie sind unregelmäßige Medikamenteneinnahme, Änderung der Medikation oder gleichzeitiger Alkoholentzug oft die Ursache eines Status. Weitere Ursachen für die Erstmanifestation einer Epilepsie als Status können metabolische Störungen wie Hypoglykämie oder Hyponatriämie und Intoxikationen (Kokain, Ecstasy) und Drogen und Entzug von Alkohol, Tranquilizern oder Barbituraten sein. Auch bei genuiner Epilepsie liegen fast immer besondere Umstände vor, die zur Auslösung des Status führen, z.B. unzureichende Behandlung oder plötzliches Absetzen der Medikamente. Der pathophysiologische Mechanismus ist hier ähnlich wie bei den Entziehungsdelirien nach längerem Alkoholabusus oder den Entziehungskrämpfen nach abruptem Absetzen von chronisch eingenommenen Barbituraten. 3Pathophysiologie. Beim Status epilepticus versagt der Hemmmechanismus, der üblicherweise einen einzelnen Anfall beendet. Es kommt zur kontinuierlichen Freisetzung von exzitatorischen Aminosäuren und zur Steigerung des Gehirnmetabolismus um 200–300%. Die Hirngefäße erweitern sich, es entwickelt sich eine systemische Hypertension, und ein Ungleichgewicht zwischen dem metabolischen Verbrauch des Gehirns und der Substratzufuhr entsteht. Früher war man der Meinung, dass eine zunehmende Hypoxie zur Beendigung des Status epilepticus führe und damit günstig sei. Dies geschieht aber nur auf Kosten eines wahrscheinlich irreversiblen Neuronenuntergangs. Die Patienten sind durch Aspiration, Azidose, Hypoxie, Rhabdomyolyse, Hypothermie, Frakturen und Lungenödem gefährdet. 3Diagnostik. Im EEG sind kontinuierliche, epileptische Entladungen festzustellen, die im tiefen Koma von periodischen, rhythmischen Entladungen mit Kurvenabflachung (Burst-suppression-Muster) gefolgt werden. Selbstverständlich ist, dass alle Patienten, besonders mit bis dahin unbekannter Epilepsie, auch im CT oder MRT untersucht werden, sobald die akute Phase des Status epilepticus überwunden ist. Medikamentenspiegel und Drogenscreening sowie Alkoholspiegel werden im Blut bestimmt. 3Verlauf und Prognose. Gelingt es nicht, den Status zu unterbrechen, entwickelt sich innerhalb von Stunden ein Hirnödem. Die Körpertemperatur steigt an, und der Patient stirbt am zentralen Herz- und Kreislaufversagen. Diese Entwicklung wird verständ-

369 14.4 · Status epilepticus

. Abb. 14.3. Grand mal (fortlaufende Registrierung). Von 17; bis 18; doppelte Registriergeschwindigkeit. Grand-mal-Status. (Aus Christian 1982)

14

370

14

Kapitel 14 · Epilepsien

371 14.5 · Konservative Therapie

lich, wenn man die energetischen Vorgänge berücksichtigt, die schon den einzelnen Krampfanfall begleiten. Wir behandeln alle Patienten mit einem Grand-mal-Status auf der Intensivstation. Die Patienten werden kardiovaskulär überwacht, viele Patienten werden intubiert und beatmet. Häufige Blutgasanalysen sind notwendig. Auch heute noch hat der Grand-mal-Status eine Mortalität von um die 10%. Leider sind Rückfälle häufig, da manche Patienten die gleichen Fehler immer wieder begehen. Es gibt alkoholkranke Patienten, die etwa einmal im Jahr bei Alkoholentzug und unregelmäßiger Medikamenteneinnahme mit einem Status epilepticus in die Klinik kommen. Nach lange dauernden, therapieresistenten Grand-mal-Anfällen und auch nach häufigen epileptischen Status kommt es zur kortikalen neuronalen Schädigung durch Exzitotoxizität. 14.4.2 Absencenstatus Der Absencenstatus ist viel seltener als der GM-Status und weit weniger gefährlich. Kinder und manchmal Erwachsene um das 50. Lebensjahr sind plötzlich nicht mehr ansprechbar, nesteln, wirken abwesend. Im EEG zeigt sich eine 3/s-Spike-wave-Aktivität. Dies ist eine wesentliche Unterscheidung zum klinisch ähnlichen Status psychomotorischer Anfälle, bei dem kein generalisiertes Spike-wave-Muster, sondern meist lateralisierte, rhythmische, hoch gespannte Wellen temporal gefunden werden. Bei älteren Erwachsenen kann der Absencenstatus nach 20 oder 30 Jahren Anfallsfreiheit ohne Medikation auftreten. 14.4.3 Status psychomotoricus Die Symptome sind vielfältig. Man unterscheidet den kontinuierlichen vom diskontinuierlichen Status psychomotoricus. Die Pa9 . Abb. 14.4. Spontane Magnetfeldaufzeichnung bei einem Patienten mit Astrozytom in der rechten Parietalregion. Oben ist ein MEGAusschnitt (Dauer 800 ms) mit einer paroxysmalen Entladung dargestellt. Die 122 MEG-Signale des Neuromag-Systems sind in Meridianansicht von oben gezeigt. Die jeweils übereinander gezeichneten 2 Signale zeigen die beiden tangentialen Gradienten des Magnetfelds an einem der 61 planaren Gradiometer (genaue Lage s. Mitte). Durch diese Gradienten-Messtechnik erscheint das Spike-Maximum genau über der Tumorregion. Während des Spikes trat eine rhythmische Hintergrundsaktivität in der linken Temporo-Okzipitalregion auf. Mit Hilfe von zwei äquivalenten Dipolen lassen sich beide Aktivitäten trennen und lokalisieren. In der Mitte werden die in die Sensorebene projizierten äquivalenten Stromdipole zusammen mit den rekonstruierten Magnetfeldlinien dargestellt (durchgezogene Linien Magnetfeldaustritt aus dem Kopf; gestrichelte Linien Eintritt). In den Schichtbildern des MRT (unten) können der Schwerpunkt und die Richtung des Stromdipols, der den Spike modelliert, dargestellt werden. Die funktionelle Lokalisation weist auf einen Ursprung der epileptischen Aktivität in der Tumorrandzone hin, die der klinischen Symptomatik der Epilepsia partialis continua entspricht. (M. Scherg, Heidelberg)

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tienten können abwesend wirken, nesteln und schmatzen, aber auch komplexe, zielgerichtet wirkende Aktionen ausführen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Es gibt (allerdings seltene) Fälle, in denen Patienten Hunderte von Kilometern mit dem Auto fahren (unfallfrei, wohlgemerkt), dann irgendwo aufgegriffen und in die Psychiatrie eingewiesen werden, wo man im EEG den Status psychomotorischer Anfälle diagnostiziert. Dass es in einem psychomotorischen Status zu kriminellen Handlungen kommt, wie manchmal postuliert wird, soll jedoch extrem selten sein. Hier handelt es sich meist um eine Schutzbehauptung. 14.4.4 Status partieller motorischer Anfälle

(Epilepsia partialis continua) Dieses Syndrom ist mit dem Eigennamen Kojevnikow verbunden. Symptome sind klonische Zuckungen, die auf einen umschriebenen Körperbezirk, etwa die Mundregion oder einen Finger, beschränkt bleiben (»partialis«) und stunden- oder tagelang ununterbrochen ablaufen (»continua«). Ursache ist meist eine kortikale Läsion (z.B. Tumor, Enzephalitis, Infarktnarbe). Eine weitere, wichtige Ursache ist die nichtketotische, hyperosmolare Hyperglykämie (»entwässernde« Infusionen kontraindiziert!). Die Patienten sind fast immer bei Bewusstsein und erleben die kontinuierliche, epileptische Aktivität in der betroffenen Extremität oder im Gesicht als ausgesprochen quälend, manchmal auch schmerzhaft. Die Myoklonien können bei jeder Ätiologie selbst im Schlaf bestehen bleiben. Die Diagnose ist einfach zu stellen, hierzu braucht man nicht einmal ein EEG. Das EEG kann bei diesem Typ fokaler epileptischer Anfälle ausnahmsweise normal sein, wenn über dem Ort der Erregungsproduktion keine Elektrode sitzt. Im MEG lässt sich dieser Befund leichter nachweisen (. Abb. 14.4). 14.5

Konservative Therapie

14.5.1 Notfalltherapie ä Der Fall Ein etwa 30-jähriger Mann stürzt in einem Kaufhaus plötzlich zu Boden. Beim Sturz stößt er einen Schrei aus und schlägt mit dem Kopf auf einen Verkaufstisch. Auf dem Boden liegend, verkrampft er, die Augen sind offen, er atmet nicht und ist am ganzen Körper steif. Nach etwa 30 s beginnt der Patient an Armen und Beinen rhythmisch zu zucken. Speichel, der blutig gefärbt ist, tritt aus dem Mund. Die Umstehenden sprechen den Mann an, aber er reagiert nicht. Eine Angestellte ruft den Notarzt. Nach 1–2 min enden die Zuckungen. Der Patient beginnt tief zu atmen, er ist bewusstlos, die Augen sind jetzt geschlossen. Mit der Zeit wird er unruhig, bewegt sich, öffnet die Augen und reagiert unwirsch auf Ansprache. Einige Minuten später kommt der Notarzt.

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372

Kapitel 14 · Epilepsien

Er lässt sich das Ereignis schildern, greift in seine Tasche und zieht nacheinander 2 Ampullen mit Medikamenten auf. Der Patient, noch immer müde, verhangen und desorientiert wirkend, wehrt sich gegen die Injektion in die Vene, woraufhin der Notarzt ein weiteres Medikament hervorzaubert und schnell injiziert. Der Patient wird sichtlich ruhiger, schlaffer, und die Atmung wird flach. Der Notarzt greift zum Intubationsbesteck und »zieht« das Laryngoskop. In der Klinik muss der Patient zunächst auf die Intensivstation, um aus dem iatrogenen Koma herauszukommen. Am nächsten Morgen kann er nach Hause gehen. Er hat Glück gehabt – manche Patienten haben schon diese völlig unnütze notärztliche Intervention teuer bezahlt.

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Behandlung des epileptischen Einzelanfalls? Für den Beobachter ist der große Anfall ein beängstigendes, elementares Erlebnis, und es wird praktisch immer sofort der Notarzt gerufen. Wenn dieser erscheint, ist der Anfall in der Regel zu Ende. Der Patient ist im Terminalschlaf oder wacht gerade auf. Hierbei kann er noch verwirrt und desorientiert sein. Obwohl der Anfall beendet ist, glauben viele Ärzte, dass sie noch behandeln sollen, aber sie tun genau das Falsche: Sie geben hohe Dosen Valium, manchmal zusammen mit Barbituraten oder Dephenylhydantoin. Weil der Patient so schwer atmet, meinen sie, den Patienten intubieren zu müssen. Dieser wehrt sich dann dagegen, und er wird noch weiter sediert. Sehr oft muss dieser Patient anschließend stationär aufgenommen werden – nicht wegen seines Grand-mal-Anfalls, sondern wegen der iatrogenen Intoxikation. Der Anfall beendet sich selbst und ist praktisch immer beim Eintreffen des Arztes beendet. Viel wichtiger wäre es jetzt, wenn möglich, eine vernünftige Anfallsbeschreibung (fokaler Beginn, hat der Patient eine Aura berichtet?) oder eine Fremdanamnese (vorbestehende Epilepsie, Operationen in der letzten Zeit, andere neurologische Krankheiten?) zu erhalten. Sinnvoll ist es auch, sofort einen venösen Zugang zu legen und Blut zu asservieren, aus dem dann die Serumspiegel der gängigen Antiepileptika bestimmt werden können, sowie eine Kochsalz- oder Ringerlösungs-Infusion zu geben. Die Gewinnung von Blut für Serumspiegel der Antiepileptika (s.u.), Blutzuckerbestimmung und Alkoholspiegel ist wichtig. Die Mehrzahl der Patienten mit einem Grand-mal-Anfall hat eine bekannte Epilepsie, und häufig liegt ein zu niedriger Serumspiegel der verordneten Medikamente vor. Da es manchmal schwierig ist, herauszufinden, wie die Patienten bisher behandelt wurden, ist es günstig, über den Nachweis von Restsubstanzen im Blut herauszufinden, welches Medikament man zur Weiterbehandlung einsetzt. Tritt ein weiterer Grand-mal-Anfall auf, ist es völlig berechtigt, Valium® 10–20 mg i.v. zu geben, ggf. den Patienten zu intubieren und sofort in ein Krankenhaus mit Intensivstation zu transportieren. Man sollte nicht versuchen, den Patienten beim Anfall zu fixieren oder festzuhalten. Die Kraft, die im Anfall produziert wird, ist enthemmt, und Luxationen sind die Folge. Auch sollte man nicht versuchen, mit Gewalt irgendwelche Dinge zwischen die Zähne zu pressen. Besonders Gummikeile sind hier

gefährlich, da bei dem massiven Druck, den die Kaumuskulatur ausübt, der unterschiedliche Winkel zu Frakturen der Mandibula führen kann. Nur wenn die Zunge so weit vorsteht, dass bei einem Zungenbiss ein Drittel der Zunge durch den Zungenbiss amputiert würde, muss versucht werden, die Zähne auseinander zu bekommen. Hierzu kann eine kurzzeitige Muskelrelaxation notwendig werden. Im Übrigen ist es unmöglich, einen Patienten zu intubieren, während er krampft. Auch im Status epilepticus muss man eine Phase abwarten, in der die klonische Krampfaktivität weniger hoch ist. Der einzelne epileptische Anfall bedarf keiner Therapie. Wenn es in Anwesenheit des Notarztes zu einem weiteren Anfall kommt, muss von einem beginnenden Status epilepticus (7 Kap. 14.4) ausgegangen werden. 14.5.2 Allgemeine Lebensführung Grundlage jeder antiepileptischen Therapie ist das Befolgen allgemeiner Lebensregeln, die bestimmte anfallsauslösende Mechanismen verhindern sollen. Viele Epilepsien sind an den Schlafoder Wachrhythmus gebunden. Deshalb ist es wichtig, dass die Anfallskranken auf einen regelmäßigen Nachtschlaf achten und Schlafentzug vermeiden. Akuter Alkoholentzug wirkt anfallssteigernd. Man sollte davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Anfallspatienten weiter Alkohol trinkt, und es ist daher besser, ihnen geringe Mengen zu gestatten, als sie zu einer, wahrscheinlich nicht durchhaltbaren, völligen Abstinenz zu drängen. Regelmäßige Medikamenteneinnahme ist entscheidend. Extrembelastungen (hiermit sind nicht normale, sportliche Belastungen oder eine normale Berufstätigkeit gemeint) sollen vermieden werden. Normale, vitaminreiche Ernährung und das Vermeiden von individuell anfallsprovozierenden Reizen (Stroboskop) sollten selbstverständlich sein. 14.5.3 Antiepileptische Medikamente Allgemeines Nicht in jedem Fall von Epilepsie wird man eine medikamentöse Behandlung einleiten. Bekommt ein Kranker im jüngeren oder mittleren Lebensalter 1- bis 2-mal im Jahr einen Anfall aus dem Schlaf heraus, ist das EEG auch nach Provokationsmaßnahmen normal, der psychische Befund unauffällig und besteht keine hereditäre Belastung, so kann man ohne Therapie die weitere Entwicklung beobachten (Ausnahme: traumatische Epilepsie). Dies ist auch deshalb gerechtfertigt, weil es neben prozesshaften Verläufen auch akute epileptische Reaktionen und Spontanheilungen gibt. Nur in einem von acht Fällen folgen nach einem epileptischen Anfall weitere Anfälle. Auch dysrhythmische Abläufe im EEG, selbst Spike-Potentiale allein, sind kein Grund zur antiepileptischen Behandlung. Bestimmte pathologische Wellenformen im EEG sind ein eigenes genetisches Merkmal, das zwar hoch,

373 14.5 · Konservative Therapie

aber keineswegs absolut mit dem Merkmal »Anfälle« korreliert ist. »Kurvenkosmetik« ist deshalb nicht zu verantworten. Die Diagnose einer »latenten Epilepsie« aufgrund leichter, unspezifischer Abnormitäten im EEG ist sinnlos. Ein Patient hat eine manifeste Epilepsie oder er hat sie nicht. Behandelt wird nur das manifeste Anfallsleiden. Entschließt man sich zur medikamentösen Behandlung, soll die Dosierung ausreichend hoch sein: Von 1 oder 1/2 Tablette Phenytoin am Tag darf man sich keinen greifbaren Effekt erhoffen. Der häufigste Fehler in der Behandlung der Epilepsie ist die zu niedrige Dosierung. Man soll versuchen, wenn irgend möglich, nur mit einem Medikament zu behandeln (Monotherapie). Mehrere Medikamente sollen nur dann kombiniert werden, wenn auch bei hohem Serumspiegel (s.u.) durch ein Medikament allein keine Anfallsfreiheit oder entscheidende Verminderung zu erreichen ist. Sekundär generalisierte Anfälle sind schwerer als primär generalisierte zu behandeln. Die erste Gruppe ist durch Auren, fokalen Beginn, Seitenbetonung der Krämpfe, Herdbefund im EEG und/ oder eine CT-Läsion abzugrenzen.

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Einteilung der Antiepileptika Es gibt sehr viele antiepileptische Medikamente und noch mehr Handelsnamen. Wir benutzen im Folgenden überwiegend die internationalen Freinamen und nennen eine subjektive Auswahl von Handelsnamen (Übersicht: . Tabelle 14.2). Details sind auch den Exkursen zu entnehmen. 4 Zu den klassischen Antiepileptika gehören Carbamazepin (CBZ), Valproinsäure (VPA), Phenytoin, Diphenylhydantoin (DPH), Phenobarbital (PHB), Ethosuximid (ETX) und Benzodiazepine 4 Zu den neueren Medikamenten gehören Lamotrigin (LTG), Topiramat (TOP), Felbamat (FBM), Gabapentin (GBP), Oxcarbazepin (OCZ), Levetiracetam (LEV), Pregabalin (PGA) und Tiagabin (TGB). Die Medikamente der ersten und zweiten Wahl bei verschiedenen Anfallsformen sind in den . Tabellen 14.2 und 14.3 zusammengefasst. Der folgende Exkurs gibt detaillierte Informationen zu den einzelnen Medikamentengruppen. Aus der Gruppe der sog. neueren Antiepileptika stehen zur Monotherapie bzw. Erst-

. Tabelle 14.2. Antiepileptisch wirksame Medikamente

Name

Darreichungsform, HWZ-

Handelsname (z.B.)

Übliche Dosierung

Wirksam bei

Carbamazepin CBZ

per os; HWZ 20 h

Tegretal, CBZgen

600–2400 mg, auch retardiert

1. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Diphenylhydantoin (DPH)

per os; i.v.; HWZ 20 h Kurzinfusion

Phenhydan, DPH gen

300–500 mg Zur Schnellsättigung 2- bis 3-mal750 mg

2. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Valproinsäure (VPA)

per os, i.v.; HWZ 10 h

Ergenyl, VPA gen

600–2000 auch retardiert Zur Schnellsättigung i.v., 3-mal 400 mg/30 min

1. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Phenobarbital (PHB)

per os; HWZ 100 h Auch i.v. zur Statusbehandlung (7 Text)

Luminal

50–200

3. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Primidon

per os; HWZ 10 h

Mylepsinum

500–1500 mg

2. Wahl: fokale Anfälle

Ethosuximid (ETX)

per os, HWZ 30 h

Petnidan

500–1500 mg

2. Wahl: fokale Anfälle

Lamotrigin (LMT)

per os, HWZ 30 h

Lamictal

100–800 mg

fokale Anfälle, in Kombination

Gabapentin (GBP)

per os, HWZ 6 h

Neurontin

1200–2400 mg

1. Wahl fokale Anfälle, auch in Kombination

Pregabalin (PGB)

per os, HWZxx

Lyrika

150–600 mg

Add on für generalisierte und fokale Anfälle

Tiagabin (TGB)

per os, HWZ 8 h

Gabitril

15–60 mg

Add-on fokale Anfälle, in Kombination

Oxcarbazepin (OCB)

per os, HWZ 12 h

Trileptal

600–2400 mg

1. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Topiramat (TPM)

per os, HWZ 20 h

Topamax

100–800 mg

2. Wahl: fokale und generalisierte Anfälle

Levepiracepam (LVP)

per os, HWZ 8 h

Keppra

1000–3000 mg

1. Wahl Add-on fokale Anfälle

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Kapitel 14 · Epilepsien

Tabelle 14.3. Reihenfolge der Wahl von Antiepileptika bei häufigen Formen der Epilepsien des Erwachsenenalters

Anfallstyp

Substanzen

Übliche Dosierung

Einfach fokale oder komplex partielle Anfälle

1. Carbamazepin (CBZ) 2. Phenytoin (Diphenylhydantoin (DPH) 3. CBZ oder DPH plus Vigabatrin (VGB) plus Valproinsäure (VPA) plus Lamotrigin (LTG) plus Gabapentin (GBP)

3-mal 200 mg – 3-mal 400 mg ret/Tag 3- bis 5-mal 100 mg/Tag oral 2- bis 3-mal 1 g/Tag 3-mal 300 bis 4-mal 500 mg/Tag oral 4- bis 10-mal 50 mg/Tag 3- bis 4-mal 300 mg/Tag

Sekundär generalisierte fokale Anfälle

1. CBZ 2. DPH 3. DPH oder/plus CBZ plus VPA, LMT oder VGB 4. Phenobarbital (PHB)

Primär generalisierte Epilepsie Grand-mal-Anfälle

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Details s. Tabelle 14.5

Status

1. Benzodiazepine (BDZ) 2. DPH 3. VPA

Intervall

1. VPA 2. PB 3. VPA plus LTG

Absenzen

1. VPA 2. Ethosuximid (ETX) 3. VPA plus ETX, evtl. plus LTG

750 mg/Tag

Myoklonische Anfälle

1. VPA oder Primidone PRM 2. VPA

600 mg/Tag

behandlung inzwischen Gabapentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin und Topiramat zur Verfügung. Lamotrigin und Topiramat können auch zur Behandlung generalisierter Epilepsien empfohlen werden. Die neueren Antiepileptika sind mindestens zur Behandlung fokaler Epilepsien gleich wirksam wie die klassischen Wirkstoffe Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin und Phenobarbital bei vermutlich besserer Verträglichkeit und damit besserer Effektivität, jedoch geringerer Erfahrung und Arzneimittelsicherheit. Schon von den klassischen Antiepileptika war bekannt, dass in Kombination die Serumspiegel der Medikamente veränderte. Dies gilt auch für einige der neuen Medikamente, hier ganz besonders für das Felbamat. Die wesentlichen Interaktionen sind in Tabelle 14.3 wiedergegeben. Eine Reihe weiterer antiepileptischer Medikamente ist zurzeit noch in der klinischen Erprobung und kann in den nächsten Jahren in Klinik und Praxis erwartet werden Hierzu gehören das Benzodiazepinpräparat Clobazam (Frisium®), das schon seit vielen Jahren für andere Indikationen zugelassen ist und bereits häufig empirisch als Zusatzmedikation eingesetzt wurde. Auch andere Medikamente mit antiexzitatorischer und proinhibitorischer

Wirkung, wie Losigamon, Remazemid oder Ganoxolon, werden getestet. 14.5.4 Antiepileptische Dauerbehandlung Wie bei der Besprechung der einzelnen Antiepileptika ausgeführt, sind manche Substanzen bei bestimmten Anfallsformen sehr wirksam, bei anderen unwirksam, manchmal sogar anfallsfrequenzverstärkend. . Tabelle 14.3 gibt eine Empfehlung zur Wahl der Medikamente bei bestimmten Anfallstypen. Es gibt viele solcher Empfehlungen, die sich bei den Medikamenten der ersten Wahl selten unterscheiden. Bei Medikamenten der zweiten und dritten Wahl bzw. bei der Komedikation variieren die Empfehlungen jedoch. Dies beruht mehr auf persönlicher Erfahrung als auf veröffentlichter Literatur. Alles in allem ist die medikamentöse Behandlung der Epilepsien heute sehr zufriedenstellend: Etwa 60% aller Patienten können mit einer Monotherapie eine »befriedigende« Reduktion, manchmal das Verschwinden der Anfälle erreichen. Von den verbleibenden 40% spricht die Hälfte dann auf das erste alternativ

375 14.5 · Konservative Therapie

Exkurs Klassische Antiepileptika Carbamazepin (CBZ) (Tegretal®, Timonil® und andere). Carbamazepin (CBZ) hat ein breites Indikationsspektrum. Der Wirkmechanismus ist nicht im Detail bekannt, vermutlich werden repetitive Entladungen an Neuronen verhindert. Bei fokalen Anfällen, sowohl bei einfach als auch bei komplex partiellen Anfällen, bei sekundär generalisierten Anfällen und bei primär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (dort neben Valproinsäure), ist CBZ als Medikament erster Wahl anzusehen. Es ist unwirksam bei primär generalisierten idiopathischen Epilepsien, wie Absencen oder Impulsiv-Petit-mal. Als Nebenwirkungen treten auf: Hautallergien bis zum LyellSyndrom, Anämien, Hepatotoxizität. Überdosierungssymptome: Schwindel, Nystagmus, Ataxie. CBZ ist ein starker Enzyminduktor und hat viele Wechselwirkungen mir anderen Medikamenten, besonders anderen Antikonvulsiva (. Tabelle 14.4). In der Regel langsame Aufdosierung, stationär innerhalb von 3–4 Tagen auf 600–800 mg/Tag, ambulant über 14 Tage (initiale Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Doppelbilder). Erhaltungsdosierung zwischen 600–1200 mg pro Tag, Retardpräparate stehen zur Verfügung. Valproinsäure (VPA) (z.B. Ergenyl® Orfiril® und andere). Valproinsäure wirkt durch Erhöhung der Konzentration des inhibitorischen Transmitters GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Er antagonisiert die Wirkung exzitatorischer Neurotransmitter. Valproinsäure ist das Medikament erster Wahl bei primär generalisierten idiopathischen Epilepsien, insbesondere bei Absencen, Impulsiv-Petit-mal und Aufwach-Grand-mal. Selbst bei fokalen Anfällen, besonders bei sekundärer Generalisierung, ist VPA dem CBZ in der Wirksamkeit vergleichbar. Als Nebenwirkung treten auf: Gleichgewichtszunahme, Tremor, Veränderung der Haare. Gravierend sind Pankreatitis und bei Kinder Hepatopathie und hepatische Enzephalopathie. In der Schwangerschaft besondere Teratogenität. Einschleichende Dosierung mir Steigerung um 300 mg jeden zweiten Tag (ambulant) oder in der Klinik, beginnend mit 3-mal 300 mg, innerhalb weniger Tage auf 1200–1500 mg/Tag steigern. Valproinsäure steht seit kurzem auch zur i.v.-Gabe zur Verfügung. Phenytoin (DPH, Diphenylhydantoin) (Phenhydan®, Zentropil® und andere). Wirkungsmechanismus über Membranstabilisierung und Verringerung spontaner, repetitiver Entladungen. DPH ist hochwirksam bei fokalen und sekundär generalisierten Epilepsien und stellt hier nach Carbamazepin das zweitwichtigste Medikament dar. Phenytoin macht zwar weniger müde, hat aber eine Reihe von Langzeitnebenwirkungen wie Gingivahyperplasie, Akneentwicklung, Knochenmarkveränderungen; es ist hepatotoxisch

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und bei Überdosierung neurotoxisch. Symptome: Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, Benommenheit. Langzeitfolgen sind Polyneuropathie und Kleinhirnatrophie. Allergien kommen vor. Systematisch sind noch Osteomalazien und Blutbildveränderungen zu erwähnen. Die Möglichkeit, Phenytoin intravenös schnell aufzusättigen, macht es zu einem wichtigen Medikament bei der Akutbehandlung von Anfallserien, wo es zusammen mit oder anstelle von Benzodiazepinen gegeben wird. DPH ist, wie CBZ ein starker Enzyminduktor und hat erhebliche Interaktionen mit anderen Medikamenten (. Tabelle 14.3). In der Regel ist keine einschleichende Dosierung nötig. Man beginnt oral mit 3-mal 100 mg/ Tag, i.v. Schnellaufsättigung mit Infusionskonzentrat. Phenobarbital (PHB) (Maliasin®, Luminal® und andere) und Primidon (Mylepsinum® und andere). Phenobarbital greift ebenfalls in den GABA-ergen Transmitterstoffwechsel ein und ist ein indirekter GABA-Agonist. Es wird bei fokalen und generalisierten tonisch-klonischen Anfällen als Mittel der zweiten bis dritten Wahl eingesetzt. Gut wirksam ist es bei Anfällen von Impulsiv-Petit-malTyp. Zwei häufig benutzte Substanzen, Barbexaclon (Maliasin) und Primidon werden zu 50–70% zu Phenobarbital umgewandelt. Die Behandlung mit diesen Medikamenten muss also über Serumspiegelbestimmung von PHB überwacht werden. Primidon selbst hat auch ein e eigene antiepileptische Wirksamkeit. Zu den Nebenwirkungen gehören Müdigkeit, Depression, Leistungsschwäche und Gedächtnisstörungen, Lebertoxizität, Allergien und als Langzeiteffekt Weichteilveränderungen, Interaktionen mit anderen Antiepileptika (. Tabelle 14.3). Barbexaclon, das wir zuerst geben, wird schnell aufdosiert, beginnend mit 2-mal 100 mg/Tag, Zieldosierung 3- bis 4-mal 100 mg/Tag. Bei Mylepsinum® zunächst 2-mal 250 mg/Tag, Zieldosierung 3-mal 250 mg, initiale Müdigkeit möglich. Ethosuximid (Petnidan®, Suxinutin® und andere). Ethosuximid ist ein Kalziumantagonist, der nur bei primär generalisierten kleinen Anfällen (Absencen) wirksam ist. Hier ist es das Medikament der zweiten Wahl nach Valproinsäure. Es wird im Allgemeinen im Kindesalter gegeben, besonders wenn bei Vorschädigung unter VPA Lebertoxizität befürchtet wird. Es ist relativ nebenwirkungsarm und hat keine wesentlichen Interaktionen. Dosierung: Zunächst 250–500 mg, langsam steigern. Benzodiazepine. Benzodiazepine werden heute kaum noch für die Dauerbehandlung eingesetzt. Ganz selten einmal findet Clonazepam (Rivotril®) noch Anwendung als orales Zusatzmedikament bei fokal und primär generalisierten Epilepsien. Die Stärke der Benzodiazepin-Abkömmlinge liegt in der Behandlung

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Kapitel 14 · Epilepsien

von Anfallserien und Anfallsstatus. Bei gehäuften, primär generalisierten Grand-mal-Anfällen beginnt man immer mit Benzodiazepinen i.v., entweder Diazepam (Valium®), Clonazepam (Rivotril®) oder Midazolam (Dormicum®). Die Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Atemdepressionen und Übersekretion von Speichel. Wir geben Benzodiazepine

zusammen mit Phenytoin und versuchen, die Gabe von Diazepam-Abkömmlingen so kurz wie möglich zu halten. DiazepamRektiolen sind sinnvoll bei Kindern und Jugendlichen mit Neigung zu Anfallsserien. Dosierung . Tabelle 14.2. Interaktionen mit anderen Medikamenten sind nicht bekannt.

Exkurs Neuere Antiepileptika Lamotrigin (LTG, Lamictal®). Lamotrigin wirkt über die Blockierung von Natriumkanälen in der präsynaptischen Membran und reduziert hierdurch die Ausschüttung der exzitatorischen Transmitter Glutamat und Aspartat. Das Medikament ist wirksam bei therapieresistenten einfachen und komplex fokalen Anfällen, für die es als zusätzliches Medikament (zusammen mit einem Medikament der ersten Wahl, CBZ oder DPH) gegeben wird. LTG hat auch eine gute Wirkung bei primär generalisierten Epilepsien. Ein Viertel der Patienten mit bis dahin therapierefraktären fokalen Epilepsien zeigt unter zusätzlicher Behandlung eine Anfallsreduktion von 50%. Als Nebenwirkungen sind Hautexantheme, Schwindel, Doppelbilder und Ataxien zu nennen. Das Hautexanthem tritt in der Regel in den ersten drei Wochen auf und kann sehr gefährlich werden (Stevens-Johnson-Syndrom). Interaktionen bestehen mit CBZ, DPH und PHB, die alle einen schnelleren Abbau vom LTG bewirken, was eine Dosisanpassung nach oben erfordert. Bei Valproat muss dagegen muss die Dosis reduziert werden. Man beginnt mit einer sehr niedrigen Dosierung von 25 mg täglich mit langsamer Steigerung auf maximal 300 mg/ Tag. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht notwendig.

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Vigabatrin (VGB, Sabril®). Vigabatrin ist ein indirekter GABAAgonist, der die enzymatische Inaktivierung von GABA hemmt und so die Konzentration von GABA am Rezeptor erhöht. VGB ist als Zusatzmedikament bei einfachen und komplex partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung sowie bei symptomatischen generalisierten Anfällen wie dem West-Syndrom und dem Lennox-Gastaut-Syndrom einsetzbar. Die Substanz ist bei komplex partiellen Anfällen hoch wirksam. Etwa 50% der bis dahin schlecht behandelten Patienten haben unter Zusatzbehandlung mit Vigabatrin eine 50%ige Anfallsreduktion. Dagegen kann VGB primär generalisierte Anfälle verstärken. Benommenheit und Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität und Depressionen sowie Gewichtszunahme stehen als Nebenwirkungen im Vordergrund. Reversible Psychosen werden bei etwa 5% der Patienten beobachtet. Sie sind beson-

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ders häufig, wenn eine psychiatrische Vorgeschichte besteht oder die Patienten eine geistige Behinderung haben. Wesentliche Interaktionen sind nicht bekannt. Man beginnt mit einer Dosierung von 2 g pro Tag, Steigerung nur bis 3 g möglich. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht notwendig. Felbamat (FBM, Taloxa®). Felbamat hat keinen einheitlichen Wirkmechanismus. Es hemmt die Freisetzung von Glutamat durch Blockade präsynaptischer Natriumkanäle und die Glyzinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors und dadurch exzitatorische Transmitter. Zusätzlich soll es die Empfindlichkeit des GABARezeptors steigern und damit inhibitorisch wirken. Felbamat ist besonders wirksam bei elementar und komplex fokalen Anfällen und beim Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS). Nur für die Behandlung des LGS ist Felbamat zugelassen. Aufgrund der hohen Nebenwirkungsrate sollte der Gebrauch auf spezialisierte Zentren beschränkt werden. Besonders groß ist die Gefahr der aplastischen Anämie und das Risiko auch tödlicher Leberfunktionsstörungen. Übelkeit, Appetitabnahme und Schlaflosigkeit sind weitere Nebenwirkungen. Ein zusätzliches Problem ist die sehr starke Interaktion von Felbamat mit anderen Antiepileptika (. Tabelle 14.4). Man beginnt mit 600–1200 mg pro Tag, steigert um 600 mg pro Woche bis zu einer maximalen Dosierung zwischen 2400 mg und 3600 mg. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht notwendig. Gabapentin (GBP, Neurontin®). Der Wirkmechanismus von Gabapentin ist, obwohl seine chemische Struktur der GammaAminobuttersäure sehr ähnlich ist, noch unbekannt. Es wirkt nicht über eine Steigerung der GABA-Wirkung. Indiziert ist Gabapentin bei komplex fokalen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung. Unter den Nebenwirkungen, die meist wenig ausgeprägt sind, stehen Übelkeit, Ataxie, Müdigkeit und Schwindel im Vordergrund. Gabapentin wird als Komedikament zu den Mitteln der ersten Wahl bei fokalen Epilepsien gegeben. Aufgrund der guten Verträglichkeit wird es auch immer häufiger als Monotherapie

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eingesetzt. Der einzige Nachteil ist die relativ kurze Halbwertzeit, die eine sehr regelmäßige Einnahme, verteilt auf 3–4 Einzelgaben erforderlich macht. Interaktionen mit anderen Substanzen sind nicht nennenswert. Beginn mit 300–400 mg pro Tag, tägliche Steigerung um 300 mg bis auf 1200 mg. Höchstdosierung 2400 mg. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht notwendig. Tiagabin (TGB, Gabitril®). TGB ist ein GABA-Wiederaufnahmehemmer und erhöht so die Konzentration der erregungshemmenden Transmittersubstanz. Die Substanz ist als Zusatztherapie bei therapieresistenten fokalen Anfällen zugelassen und führt zu einer Halbierung der Anfallsfrequenz bei etwa einem Viertel der Patienten. Es sind keine wesentlichen Interaktionen bekannt. Dosierung: Langsam einschleichend, mit 5 mg pro Tag beginnend und langsam aufdosieren (etwa 10 mg/Woche). Höchstdosis etwa 3-mal 15 bis 3-mal 20 mg. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erforderlich. Topiramat (TPM, Topamax®). Topiramat ist eine Substanz, deren entscheidender Wirkmechanismus nicht sicher identifiziert ist. Es wirkt auf verschiedenen molekularen Ebenen: 4 Hemmung spannungsabhängiger Na und Ca-Kanäle 4 Hemmung von glutamaterger Aktivierung 4 Aktivierung von GABA-erger Transmission. Es wirkt bei vielen fokalen und generalisierten Epilepsien und ist sowohl als Monotherapie und als Add-on-Therapie einsetzbar. Nebenwirkungen: Diese Substanz hat leider eine Reihe von Nebenwirkungen, die eine breitere Anwendung begrenzen. Die wichtigsten sind: Müdigkeit, kognitive Einschränkungen, Ataxie, Tremor, Nierensteine und gastrointestinale Störungen. Interaktionen: Die DPH-Konzentration im Blut kann erhöht werden. Die langsame Aufdosierung beginnt mit 2-mal 25 mg, die dann pro Woche um 25 mg gesteigert werden bis zu einer individuellen Enddosis von 3-mal 50 mg bis 3-mal 100 mg. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erforderlich. Oxcarbazepin (OCB, Trileptal®). OCB ist chemisch eng mit CBZ verwandt und hat eine ähnliche Wirkung bei geringeren Ne-

gegebene Medikament an. Wiederum die Hälfte der dann noch verbleibenden Patienten spricht auf eine Kombinationstherapie an. Insgesamt bleibt bei 10% der Patienten die medikamentöse Einstellung unbefriedigend. Diese Aussage setzt natürlich voraus, dass für den jeweiligen Anfallstyp auch das richtige Medikament gewählt und eingenommen wurde. Wer Carbamazepin bei Absencen verordnet, wird keinen Behandlungserfolg erzielen.

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benwirkungen. Es wirkt bei generalisierten (nicht bei Absencen und Janz-Syndrom) und fokalen Anfällen Es muss etwa 1,5fach höher als CBZ dosiert werden Wegen der geringeren Nebenwirkungen kann es deutlich schneller als CBZ aufdosiert werden, was ebenfalls dazu beiträgt, dass OCB in der Klinik das CBZ zunehmend ablöst. Auch die Interaktionen sind geringer ausgeprägt als bei CBZ. Man beginnt mit 2-mal 300 mg und kann innerhalb weniger Tage in 600-mg-Schritten die individuelle Zieldosis erreichen. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erforderlich. Levetiracetam (LVT, Keppra®). LVT ist chemisch mit Piracetam verwandt, einer Substanz die lange in der Behandlung kognitiver Defizite eingesetzt wurde. Der Wirkmechanismus ist unbekannt. Es wird nur bei fokalen Anfällen als Add-on-Therapie gegeben. Nebenwirkungen sind sehr selten. Die Dosierung kann relativ zügig erfolgen. Man beginnt mit 2-mal 500 mg und kann bis auf 2-mal 2 g steigern.. Interaktionen sind nicht bekannt. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erforderlich. Pregabalin PGB (Lyrica®). Pregabalin ist chemisch mit Neurontin verwandt und verfügt über ähnliche Eigenschaften. Es bindet an spannungsabhängige Kalziumkanäle und verhindert so die Freisetzung erregender Neurotransmitter. Es ist zur Add-onTherapie fokaler und generalisierter Epilepsien zugelassen (Addon meist zu CBZ, seltener zu LMT) und führt in Studien zu einer Response-Rate von 40% gegen 6% Plazebo in Bezug auf eine mindestens 50%ige Anfallsreduktion. Hierbei handelt es sich um schwer einstellbare Patienten, also eher eine Gruppe, bei der weniger mit Effekten gerechnet werden kann. Die Ähnlichkeit mit GBP kommt auch in der guten Wirksamkeit auf neuropathischen Schmerz zum Ausdruck. Ab 300 mg treten die typischen Nebenwirkungen dieser Substanzgruppe, Benommenheit und Schläfrigkeit, auf. Andere unerwünschte Effekte sind zerebelläre Störungen, Gewichtszunahme, Potenzstörungen und Sehstörungen. Vorteilhaft ist, das PGB relativ schnell in eine wirksame Dosierung aufdosiert werden kann. Man beginnt mit 150 mg/Tag und steigert innerhalb einer Woche auf 300 mg. Dosen bis 600 mg/Tag werden aber oft gut toleriert. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht notwendig.

Die Erfolgsraten sind bei einzelnen Anfallsformen ganz unterschiedlich: Symptomatische, generalisierte Anfälle des Kindesalters, bei denen häufig eine Mehrfachbehinderung vorliegt, sind oft therapieresistent, und man muss 4 oder 5 Medikamente zusammen geben. Trotzdem krampfen die Patienten weiterhin mehrfach täglich. Auch bei manchen Erwachsenen mit partiellen, sekundär generalisierten Anfällen ist die medikamentöse

378

Kapitel 14 · Epilepsien

. Tabelle 14.4. Interaktionen zwischen einigen wichtigen Antiepileptika

Substanz

Interaktion mit

Effekt auf Serumspiegel

Diphenylhydantoin (DPH)

CBZ PB VPA

CBZ höher, DPH niedriger niedriges PHB: DPH niedriger hohes PHB: DPH höher DPH niedriger

Valproinsäure (VPA)

PHB CBZ DPH

PHB stark erhöht CBZ niedriger DPH niedriger

Carbamazepin (CBZ)

VPA DPH PB

CBZ stark erhöht CBZ höher, DPH niedriger CBZ niedriger, PB höher

Phenobarbital (PHB)

CBZ DPH VPA

CBZ niedriger, PB höher niedriges PB: DPH niedriger hohes PB: DPH höher PB stark erhöht

Lamotrigin LTG

CBZ, DPH, PB VPA

Alle etwas niedriger LTG stark erhöht

Vigabatrin (VGB)

DPH PHB

DPH deutlich niedriger PHB niedriger

Gabapentin (GBP)

Sehr geringe Interaktionen mit anderen Antiepileptika

a Bei Zugabe von FBM: Dosierung der anderen Substanzen um 20– 30% senken!

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Behandlung alleine nicht befriedigend. Hinzu kommt, dass Kombinationstherapien aufgrund von Medikamenteninteraktionen und aufgrund des erweiterten Nebenwirkungsspektrums oft nicht gut toleriert werden. In solchen Fällen soll eine operative Behandlung erwogen werden. Grundregeln bei der Einstellung auf Antikonvulsiva Man sollte es sich zur Regel machen, das gewählte Medikament bis zur oberen Grenze des therapeutischen Bereichs, manchmal sogar darüber hinaus (bis Nebenwirkungen auftreten) zu dosieren, bevor man es als unwirksam klassifiziert und zum nächsten greift. Dies wird oft anders gehandhabt. Man ist ungeduldig und wechselt schon nach wenigen Behandlungstagen bei vermeintlicher Ineffektivität zum nächsten Medikament. Die Patienten haben dann schon alle gängigen Medikamente, meist auch in Kombination, erhalten und sagen bei der Anamnese, dass bislang nichts geholfen habe. Es kostet in diesen Fällen sehr viel Geduld und Überzeugungskraft, bis die Patienten bereit sind, erneut einen Versuch mit einem Medikament zu wagen, das schon einmal als unwirksam klassifiziert wurde. Der Therapieerfolg kann nur dann kontrolliert werden, wenn die Patienten einen Anfallskalender führen und regelmäßig zur Untersuchung kommen.

Anlässlich von Operationen in Allgemeinnarkose kann die gewohnte antiepileptische Behandlung nicht eingehalten werden, weil der Patient nüchtern bleibt und viele Infusionen den Serumspiegel rasch senken. Phenobarbital kann in gewohnter Dosierung i.m., Phenytoin i.v., Valprot i.v. und Diazepam als Rectiole (Diazepam rektal zu 5 und 10 mg) gegeben werden (Cave: Atemdepression). Nebenwirkungen der Antiepileptika Die speziellen Nebenwirkungen sind bei der Vorstellung der einzelnen Medikamente (s.o.) genannt worden. Viele Antiepileptika können Osteomalazie verursachen, weil sie die Resorption von Vitamin D in den Darmepithelien vermindern und den Vitamin-D-Umsatz beschleunigen. Deshalb sollte alle 3 Monate die alkalische Phosphatase untersucht werden. Unter Umständen ist eine Vitamin-D-Behandlung mit 1000 IE pro Tag notwendig. Einen leichten Anstieg der »Leberenzyme« kann man tolerieren, solange die Syntheseleistungen der Leber gut sind (Cholinesterase, PTZ, Fibrinogen, Elektrophorese). Beendigung der antiepileptischen Therapie Nach 3-jähriger Anfallsfreiheit kann die Dosierung über einen Zeitraum von 6 Monaten bis zur Einstellung der Behandlung reduziert werden. Tritt ein Rückfall ein, muss die alte Therapie wieder einsetzen und führt gewöhnlich wiederum zur Anfallsfreiheit. 14.5.5 Therapieresistenz Etwa 10% der Epilepsiepatienten können trotz Mehrfachkombinationen und Ausdosierung nicht befriedigend eingestellt werden (s.o.). Die meisten leiden unter komplex partiellen Anfällen. Bei Jugendlichen und Kindern, die eine symptomatische generalisierte Epilepsie oder eine Residualepilepsie mit fokalen Anfällen haben, ist die Chance, eine befriedigende medikamentöse Einstellung zu erzielen, oft gering. Wenn ein Patient auf das Medikament der ersten Wahl für eine bestimmte Anfallsform nicht reagiert, ist er für diese Substanz therapieresistent. Wenn das erste Medikament nicht wirkt, gibt man ein zweites Medikament hinzu, wobei man auf Interaktionen zwischen beiden achten muss. Manchmal, z.B. bei fokalen Epilepsien, schleicht man auch das zuerst gegebene Medikament aus und versucht eine zweite Monotherapie. Auf die Notwendigkeit, die Medikamente, solange sie vertragen werden, aufzudosieren, wurde bereits hingewiesen. Bei der echten Therapieresistenz wirkt das Medikament bei diesem Patienten einfach nicht. Häufiger ist aber eine andere, vermeintliche Therapieresistenz: 4 Die Substanz ist zu niedrig dosiert, 4 der Patient nimmt das Medikament nicht in der verschriebenen Dosierung ein (Überprüfung über Serumspiegel) oder 4 die Klassifikation der Anfallsart war falsch und das gewählte Medikament nicht geeignet.

379 14.5 · Konservative Therapie

14

Leitlinien Behandlung der Epilepsien* Bei der Ersteinstellung einer Epilepsie ist der antiepileptische Wirkstoff aus den Gruppen der klassischen oder neueren Antiepileptika individuell nach zu erwartender Wirksamkeit, speziellem Nebenwirkungsprofil sowie zu erwartenden – erwünschten oder unerwünschten – Interaktionen mit Begleitmedikamenten und Gesundheitsrisiken (z.B. Osteoporose) auszuwählen. Aus der Gruppe der sog. neueren Antiepileptika stehen zur Monotherapie bzw. Erstbehandlung inzwischen Gabapentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin und Topiramat zur Verfügung (⇑⇑). Lamotrigin und Topiramat können auch zur Behandlung generalisierter Epilepsien empfohlen werden (⇑). Die neueren Antiepileptika sind zur Behandlung fokaler Epilepsien mindestens gleich wirksam wie die klassischen Wirkstoffe Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin und Phenobarbital bei vermutlich besserer Verträglichkeit und damit besserer Effektivität (⇑), jedoch geringerer Erfahrung und Arzneimittelsicherheit. Daher sollten nach individueller Abwägung bezüglich Epilepsiesyndrom und spezifischem Nebenwirkungsprofil bei manchen Patienten zur Ersteinstellung durchaus neuere Antiepileptika eingesetzt werden. 4 Für fokale Epilepsien kommen Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin, Phenobarbital, Phenytoin, Topiramat und Valproinsäure in Frage (A).

4 Für generalisierte Epilepsien werden Valproinsäure, aber auch Lamotrigin, Phenobarbital und Topiramat sowie Ethosuximid zur Behandlung von Absencen eingesetzt (A).

Serumspiegelbestimmung Wichtig für eine gute medikamentöse Einstellung ist die Bestimmung des Serumspiegels des Medikaments. Der Serumspiegel gibt einen Bereich vor, in dem eine Wirksamkeit des Medikaments erwartet werden kann, nicht aber erwartet werden muss. Für die meisten antiepileptisch wirksamen Pharmaka ist es möglich, den Serumspiegel zu bestimmen. Die Kontrolle des Serumspiegels lässt eine Unterdosierung (die häufigste Ursache der Therapieresistenz) leicht erkennen. Auch können Intoxikationen vermieden werden (bei hohem Serumspiegel kann schon eine geringfügige weitere Erhöhung der Dosis zur Intoxikation führen). Schließlich lässt sich die wechselseitige Beeinflussung der Antiepileptika bei einer Kombinationstherapie sowie zwischen Antiepileptika und anderen Medikamenten (etwa durch Verdrängung aus der Proteinbindung oder Enzyminduktion) leichter erkennen, wenn der Serumspiegel der Antiepileptika bestimmt ist. Durch routinemäßige Untersuchungen des Serumspiegels hat sich die Zahl der erfolgreich behandelbaren Patienten beträchtlich erhöht. Darüber hinaus können mehr Patienten als früher bei einer Monotherapie bleiben, weil man deren therapeutischen Bereich voll ausschöpfen kann. Die Serumspiegel der wichtigsten Antiepileptika zeigt . Ta-

> Epilepsien werden, je nach Anfallstyp, differenziert

belle 14.5.

Bei erfolgloser Erstbehandlung kann eine alternative Monotherapie oder – wahrscheinlich gleichwertig – eine Kombinationstherapie angestrebt werden. Die Wirkstoffauswahl erfolgt wiederum individuell unter zusätzlicher Berücksichtigung der mutmaßlichen Interaktionen zwischen den Wirkstoffen. Zur Kombinationstherapie sind zusätzlich zu den o.g. Wirkstoffen zu erwägen: Levetiracetam, Pregabalin, Tiagabin, in fernerer Wahl Benzodiazepine (B). Bei fokalen Epilepsien mit nachgewiesener Pharmakoresistenz (mindestens zwei konsequente, aber nicht erfolgreiche medikamentöse Therapien) sollte eine prächirurgische Abklärung mit der Frage einer operativen Therapieoption möglichst frühzeitig erfolgen, da der epilepsiechirurgische Eingriff bei gegebener Indikation die Therapie der Wahl darstellt (⇑/A) * Leitlinien der DGN 2005

medikamentös behandelt. Muss man mehr als ein Medikament geben, sind die Interaktionen durch Bestimmung der Serumspiegel zu kontrollieren.

14.5.6 Therapie des Status epilepticus Die Therapie muss frühzeitig und energisch durchgeführt werden. Verzettelte, kleine Dosen der Medikamente können den Verlauf nicht beeinflussen. Wurde der Patient bisher antiepileptisch behandelt, so bestimmen wir notfallmäßig den Serumspie-

. Tabelle 14.5. Grenzwerte für den Serumspiegel der wichtigsten Antiepileptika (Nach Fröscher 1980)

Substanz

Carbamazepin Clonazepam Ethosuximid Phenobarbital Phenytoin Valproat

»Therapeutischer Bereich« in µg/ml

in µmol/l

4–6 (–9) 0,03–0,06 (?) 40–80 (–100) 10–40 5–15 (–20) 60–100 (?)

17–25 (–38) 0,095–0,19 (?) 283–566 (–708) 43–172 20–59 (–79) 416–693 (?)

380

Kapitel 14 · Epilepsien

Exkurs Gynäkologische Aspekte der antiepileptischen Therapie Schwangerschaft Anfallshäufigkeit in der Schwangerschaft. In der Schwangerschaft nimmt bei höchstens einem Viertel der Patientinnen die Zahl der Anfälle zu, bei einem weiteren Viertel nimmt die Zahl der Anfälle ab. Die Verschlechterung bei einem Teil der Patientinnen hängt mit Veränderungen der Pharmakokinetik der Antiepileptika zusammen. So sinkt die Plasmakonzentration verschiedener Antiepileptika in der Schwangerschaft häufig ab, nicht zuletzt wegen der Erhöhung des Körpergewichts. Nicht selten werden die Medikamente auch nicht mehr regelmäßig oder nicht mehr in der verordneten Menge eingenommen. Dosisreduktion. Grundsätzlich ist eine Epilepsie keine Kontraindikation gegen eine Schwangerschaft. Viele antiepileptische Substanzen sind aber teratogen. Es ist sinnvoll, vor einer geplanten Schwangerschaft zu versuchen, das Medikament auf die niedrigste, effektive Dosierung einzustellen oder, wenn möglich, eine Umstellung auf ein Medikament mit einer geringeren Teratogenität vorzunehmen. Generalisierte Anfälle in der Schwangerschaft stellen ein nicht unbeträchtliches Hypoxierisiko für den Feten dar. Sie sollten daher mit allen Möglichkeiten verhindert werden. Bei allem Verständnis für die berechtigte Angst vor Antikonvulsiva-assoziierten Fehlbildungen, sollte die Dosierung nicht soweit reduziert werden, dass Grand-mal-Anfälle auftreten. Einzelne fokale Anfälle oder Absencen können dagegen toleriert werden. Wenn diese aber früher schon mit Grandmal verbunden waren, verbietet sich eine drastische Dosisreduktion.

14

Missbildungsrisiko. Wenn eine Mutter, die unter Antiepileptika steht, ein Kind austrägt, besteht ein etwa 2–3%iges Risiko für eine kindliche Missbildung, also etwa 4-mal häufiger als bei Kindern gesunder Mütter. Man beobachtet Herzfehlbildungen, Kiefer-, Lippen- und Gaumenspalten, Mikrozephalie, Anenzephalie, Spina bifida und Meningomyelozelen sowie Fehlbildungen des gastrointestinalen und urogenitalen Trakts. Neben solchen gravierenden Fehlbildungen findet man aber auch das fetale Antiepileptikasyndrom mit verringertem Kopfumfang und geringen Dysmorphien im Gesicht (Epikanthus, Ptose, auffällig geformte Ohren) sowie an den Endgliedern von Fingern und Zehen. Viele dieser Kinder haben ein leicht reduziertes Intelligenzniveau. Besonders ausgeprägt sind die teratogenen Effekte bei Phenytoin (Spaltbildung) und Valproinsäure (Störungen der

Entwicklung des Neuralrohrs mit Spina bifida, Meningomyelozele, Hydrozephalus, Anenzephalie). Diese Effekte können möglicherweise durch Gabe von Folsäure verhindert werden. Zur frühzeitigen Erkennung werden Ultraschalluntersuchungen sowie die Bestimmung von Alphafetoprotein im Serum und eventuell im Fruchtwasser empfohlen. Auch bei Carbamazepin sind solche Missbildungen beschrieben worden. Unter Diazepam sind Missbildungen vermutlich seltener, deshalb kann eine Umstellung auf solche Substanzen diskutiert werden. Die Substitution von Folsäure, 1 mg/Tag, wird empfohlen, speziell bei Kombinationsbehandlung mit Antiepileptika. Verlauf der Schwangerschaft und Geburt. Selbst beim Status epilepticus ist, wenn er kompetent behandelt wird, nur selten eine Unterbrechung der Schwangerschaft notwendig. Der Geburtsverlauf ist bei behandelten Anfallskranken nicht häufiger kompliziert als bei anderen Patientinnen. Eine operative Entbindung ist deshalb nicht grundsätzlich notwendig. Die perinatale Mortalität ist bei anfallskranken Frauen höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Post partum. Nach der Geburt haben gesunde Kinder von Müttern, die unter Antiepileptika entbunden haben, einige reversible Störungen: Da manche Antiepileptika Vitamin-K-Antagonisten sind, können Gerinnungsstörungen vorkommen. Die Kinder sind manchmal sediert und haben ein erhöhten Asphyxierisiko. Die Morbidität der Neugeborenen ist etwas erhöht. Das mittlere Geburtsgewicht und der mittlere Kopfumfang sind geringer als normal. Ob eine mit Antiepileptika behandelte Mutter stillen darf, wird kontrovers diskutiert. Will eine Mutter unter antiepileptischer Behandlung stillen, muss sie wissen, dass alle Antiepileptika in die Muttermilch übergehen. Antiepileptika und orale Verhütungsmittel Die Behandlung mit Carbamazepin, Phenytoin und Phenobarbital kann über Enzyminduktion den Abbau der Kontrazeptiva beschleunigen und so zu einem unvollständigen Schutz führen. Auch direkte Interaktionen an der Eiweißbindung sind möglich. Unter Valproinsäure ist diese Gefahr deutlich geringer. Umgekehrt beeinflussen orale Kontrazeptiva kaum die Plasmakonzentration der Antiepileptika oder die Anfallshäufigkeit.

381 14.5 · Konservative Therapie

14

Facharzt

Epileptische Anfälle am Ende der Schwangerschaft und im Wochenbett Wenn eine Frau am Ende der Schwangerschaft oder in den ersten Tagen nach der Geburt einen (fokal beginnenden) generalisierten Anfall erleidet, muss an folgende Komplikationen gedacht werden: Hirnvenensinusthrombosen. Diese treten im Wochenbett gehäuft auf und sind neben epileptischen Anfällen durch Kopfschmerzen, Antriebsminderung, Verlangsamung, später auch neurologische Herdsymptome gekennzeichnet (7 Kap. 7). Auch die postpartalen Sinusthrombosen werden mit i.v.Vollheparinisierung behandelt. Bei jedem epileptischen Anfall in der Wochenbettperiode ist eine MR-Tomographie mit MRAngiographie (ersatzweise auch CT-Angiographie) oder konventionelle DSA) durchzuführen. EPH-Gestose (Eklampsie). Diese kann auch monosymptomatisch, d.h. nur mit Hypertonus oder nur mit Ödembildungen auftreten. Epileptische Anfälle sind die wesentliche Komplikation. HELLP-Syndrom. Dies ist eine Komplikation in der Schwangerschaft, die eng mit der thrombotisch thrombozytopenischen

gel, um ein eventuelles Defizit in der Medikamentenmenge auszugleichen. Gleichzeitig wird ein venöser Zugang gelegt. Behandlungsschemata Fast jede Klinik hat ein eigenes, in manchen Punkten etwas unterschiedliches Behandlungsprotokoll für den Status epilepticus. Die Behandlungsschemata variieren noch stärker von Land zu Land. In . Tabelle 14.6 ist das Behandlungsschema dargestellt, das wir zur Zeit einsetzen.

Purpura (TTP) verwandt ist. Das Akronym HELLP steht für H – Hämolyse, EL – elevated liver enzymes und LP – low platelet count. Das HELLP-Syndrom tritt etwas früher als die Eklampsie auf, etwa um die 32. Schwangerschaftswoche. Bei einem Drittel der Patientinnen kann es sich auch postpartal manifestieren. Das Syndrom ist durch Mikrothrombosen charakterisiert. Epileptische Anfälle können komplizierend hinzutreten und manchmal einem noch mild ausgeprägten, beginnendem HELLP-Syndrom vorangehen. Labordiagnostisch können, wie bei der TTP, Fragmentozyten gefunden werden. In seiner schwer verlaufenden Variante ist das HELLP-Syndrom unbehandelt oft tödlich. Mit intensivmedizinischen Maßnahmen kann die Letalität auf 10–30% gesenkt werden. Therapeutisch werden Prednisolon und in schweren Fällen die Plasmapharese eingesetzt. Zur Behandlung der epileptischen Anfälle bei Präeklampsie und im HELLP-Syndrom ist die Gabe von Magnesium sicher wirksam. Viele Anästhesisten und Geburtshelfer beschränken sich daher auf die Behandlung mit Magnesium. Die meisten Neurologen ergänzen diese durch die übliche antiepileptische Therapie, z.B. mit Diphenylhydantoin oder Diazepamabkömmlingen.

4 Während die Gabe von Sauerstoff, gegebenenfalls Intubation und Beatmung unstrittig ist, ist unklar, ob und wie viel Glukose gegeben werden soll. 4 Wir geben Glukose nur, wenn eine Hypoglykämie vorliegt. Ansonsten wird die Flüssigkeitszufuhr mit isotoner Kochsalzlösung oder Ringerlösung vorgenommen. 4 Thiamin (100 mg i. v.) erhalten alle Patienten, bei denen die Möglichkeit einer alkoholassoziierten Statusform besteht.

. Tabelle 14.6. Stufenbehandlung des Status epilepticus 1. Benzodiazepine als Bolus

1–2 mg Clonazepam (Rivotril®) oder 10 mg Diazepam (Valium®) langsam i.v., falls kein venöser Zugang möglich, Diazepam 10 mg als Rectiole, alternativ (in USA bevorzugt) Midazolam (Dormicum®) 0,2 mg/kg Initialdosis

2. Nach fehlendem Erfolg der Bolusgabe von Benzodiazepinen

a) Phenytoin (Phenhydan®) initial 250 mg als Bolus über 5–10 min unter EKG-Überwachung, danach 10 mg/kg KG Infusionskonzentrat über 6 h als Dauerinfusion über separaten Zugang hinzu oder b) Clonazepam 4–16 mg/24 h als Dauerinfusion nach Bolusgabe von 1–2 mg oder Midazolam 0,1–0,4 mg/kg/Stunde oder c) Valproat initial 5–10 mg/kg über 3–5 min, anschließend Dauerinfusion bis zu einer Tagesdosis von 2400 mg

3. Bei Misserfolg von Phenytoin, Clonazepam, Midazolam oder Valproat

a) Intubation, Beatmung, ggf. Relaxierung, zentral-venöser Zugang, Fiebersenkung b) Thiopental initial 250 mg als Bolus, anschließend Dauerinfusion 6–10 g/Tag oder Phenobarbital (Nachteil: längere Halbwertszeit, Kumulationsgefahr) initial 200 mg langsam i.v., anschließend Dauerinfusion bis zu einer Tagesdosis 1400 mg/Tag

4. Bei Misserfolg der Schritte 1–3

Propofol, Lidocain, Clomethiazol, Isoflurane-Inhalation

382

Kapitel 14 · Epilepsien

Empfehlungen zur Behandlung des Status epilepticus * Der Grand-mal-Status als lebensbedrohlicher akuter neurologischer Notfall verlangt neben den Allgemeinmaßnahmen eine sofort einsetzende i.v.-Therapie, vor Eintreffen des Arztes ist eine rektale Benzodiazepingabe durch Laien sinnvoll (A). Zur Erstbehandlung des SGTKA sind Benzodiazepine einzusetzen. Lorazepam, Diazepam und Clonazepam sind im Wesentlichen gleich wirksam (⇑/A). In den ersten Minuten werden i.v. Benzodiazepine (Lorazepam, in zweiter Wahl Diazepam oder Clonazepam) eingesetzt, bei ausbleibendem unmittelbaren Erfolg (bzw. bei Nichtverwenden von Lorazepam obligatorisch nach ca. 10 min.) wird zusätzlich Phenytoin i.v. appliziert (A). Bei akuter Nichtwirksamkeit von Benzodiazepinen ist in der Mehrzahl der Fälle eine i.v.-Schnellaufsättigung mit Phenytoin geeignet, den Status zu unterbrechen (A). Alternativ kann Valproat eingesetzt werden, es ist für diese Indikation in Deutschland nicht zugelassen, und die Evidenz ist noch unzureichend (B). Bei fortbestehender Therapierefraktarität kommen – dann schon unter den Versorgungsbedingungen der Intensivmedizin

Bei ca. 75% der Patienten wird der Status mit den Medikamenten der ersten Stufe, bei weiteren 15% durch die Substanzen der zweiten und dritten Stufe unterbrochen. Die verbleibenden 10% müssen durch Dauernarkose behandelt werden. Pathophysiologisch ist der Status epilepticus auf das Versagen der GABA-Inhibition zurückzuführen. Deshalb sind Medikamente, die GABA-agonistisch wirken, wie Valproinsäure, Felbamat und indirekt Benzodiazepine sinnvoll.

14

Behandlung anderer Statusformen 4 Die Behandlung des Absencenstatus mit Clonazepam (Rivotril®) i.v. oder Valproinsäure i.v., am besten unter EEG-Kontrolle, führt fast immer zu einer sehr schnellen Unterbrechung des Status. Die weitere Behandlung erfolgt dann mit Valproinsäure. Der Absencenstatus kann in einen Status großer Anfälle übergehen. 4 Die Behandlung des psychomotorischen Status und des Status einfach-fokaler Anfälle erfolgt mit Phenytoin-Schnellaufsättigung, anschließend Weiterbehandlung mit Phenytoin, Carbamazepin oder Oxcarbazin. 4 Manchmal ist es besonders schwierig, den Status elementarpartieller Anfälle zu behandeln. Meist sind die Patienten schon mit einem oder zwei Medikamenten der ersten Wahl vorbehandelt, und trotz Dosiserhöhung, Zugabe von Tranquilizern etc. gelingt es nicht, den fokalen Status zu unterbrechen. Wir haben mit Barbituraten in einzelnen Fällen gute Erfolge erzielt, in anderen bleiben diese jedoch wirkungslos. Manche Patienten haben wir auf der Intensivstation wie einen generalisierten Status epilepticus behandelt, doch nach Aufwa-

– Barbiturate (Phenobarbital, Thiopental), Valproat, Midazolam oder Propofol zur Anwendung (B). Bei fortbestehender Therapieresistenz stehen schließlich Medikamente der ferneren Wahl wie Isofluran, Lidocain oder Chloralhydrat zur Verfügung (C). Andere Status: Fokale und Absence-Status sind nicht lebensbedrohlich, die Unterbrechung des Status erfolgt hier mit den Zielen der Wiederherstellung der Handlungskontrolle und dem Vermeiden von möglichen chronischen Folgeschäden. Auch hier sind Benzodiazepine i.v. (A) oder (bei Nichtverfügbarkeit eines i.v.-Zugangs und/oder individuell geringerem Zeitdruck) bukkal oder oral als Medikamente der ersten Wahl anzusehen (C). Bei ausbleibendem Erfolg kommen je nach Art des Status i.v.-Gaben von Phenytoin, Valproat oder Phenobarbital zur Anwendung (B). * Modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2005

chen der Patienten, kamen die Anfälle zurück. Möglicherweise helfen einige der neuen Medikamente besser bei diesen seltenen, therapieresistenten Statusformen. 14.6

Chirurgische Therapie

Wenn Anfälle auf medikamentöse Therapie mit Standardmedikamenten allein oder in Kombination und nach Zugabe neuer Substanzen nicht kontrollierbar sind, kann eine epilepsiechirurgische Behandlung sinnvoll sein. Durch verbesserte, präoperative Diagnostik, bessere neuroradiologische Verfahren und Fortschritte der Mikrochirurgie wird diese Behandlungsmöglichkeit bei immer mehr Patienten vorgeschlagen. Man sollte sich aber klar darüber sein, dass die operative Behandlung eines Hirntumors oder einer Gefäßmissbildung, die neben einer Blutung oder Lähmung auch Anfälle verursacht haben, keine epilepsiechirurgische Maßnahme ist. Weil diese Indikationen aber oft mitgezählt werden, gibt es sehr unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Patienten, die als Kandidaten für eine epilepsiechirurgische Behandlung angesehen werden. In den USA rechnete man 1990 mit 2000–5000 Patienten pro Jahr, davon wurden 500 Patienten operiert. In Deutschland werden zurzeit etwa 500 Patienten/Jahr in 5 epilepsiechirurgischen Zentren operiert, etwa die Hälfte hiervon an größten Zentren in Bonn, Erlangen und Bielefeld. Die Auswahl der Patienten und die Operation sollen in darauf spezialisierten Zentren erfolgen.

383 14.6 · Chirurgische Therapie

14

Facharzt

Seltenere Operationsverfahren Bei generalisierten Epilepsien mit schwersten Verläufen und häufigen generalisierten Anfällen (Lennox-Gastaut-Syndrom) kann eine Kallosotomie (Durchtrennung der vorderen zwei Drittel des Balkens), die Anfallsfrequenz reduzieren. Anfallsfrei werden nur wenige Prozent. Zu einer Anfallsreduktion kommt es bei fast 2/3 der Patienten, die meist eine schwere zusätzliche Hirnschädigung haben. Eine Hemisphärektomie wird bei Patienten mit schwerer, einseitiger Hemisphärenläsion und medikamentös unbehandelbaren fokalen Anfällen mit sekundärer Generalisierung diskutiert. Diese meist jugendlichen Patienten haben praktisch immer eine vorbestehende, hochgradige Halbseitenlähmung. Zwar ist es nicht erstaunlich, dass nach Hemisphärektomie die fokalen Anfälle, die in dieser Hemisphäre ihren Ursprung hatten, bei 2/3 der Patienten völlig sistieren. Überraschend ist aber, dass die Kinder hinterher oft ein geringeres neurologisches Defizit haben, speziell was sprachliche Funktionen angeht. Die Operation wird auch bei Läsionen der dominanten Hemisphäre

3Indikationen. Voraussetzungen für einen epilepsiechirurgischen Eingriff sind 4 die sichere Diagnose einer Epilepsie, 4 echte Therapieresistenz nach Behandlung mit Medikamenten der ersten Wahl in Monotherapie und Kombination, 4 eine inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz, 4 ein eingrenzbarer Epilepsiefokus, 4 keine zu schwere allgemeine Hirnschädigung (Ausnahme: Kallosotomie) und 4 eine zu erwartende Verbesserung der Lebensqualität nach dem chirurgischem Eingriff.

durchgeführt, da bei den Patienten vorher schon eine Verlagerung ihrer Sprachzentren nach kontralateral erfolgt ist. Die weniger invasive Vagusnervstimulation beruht auf der Hypothese, dass durch Stimulation des Vagusnerven eine Reduktion der exzitatorischen Aktivität bei medikamentös unbehandelbaren fokalen Epilepsien erreicht wird. Die Ergebnisse sind im Vergleich zur Temporallappenresektion nicht besonders überzeugend. Bei neokortikalen fokalen Epilepsien, deren Foki in der Nähe von sprachrelevanten oder primären motorischen Zentren liegen, kann die horizontale Ausbreitung epileptischer Aktivität durch parallele Unterschneidungen der grauen Substanz an einem Gyrus (subpiale Transsektion) verhindert werden. Dieses Verfahren ist noch in der Erprobung. Ob in Zukunft stereotaktische Verfahren die offenen Resektionen ersetzen können, ist noch nicht klar. Zurzeit wird die selektive Amygdala-Hippokampektomie meist offen, oft unter gleichzeitiger Wegnahme eines kleinen Teils des medialen Temporallappens durchgeführt (. Abb. 14.6).

4 Die Resektion des Fokus muss möglich sein, ohne wesentliche (sprach- und gedächtnisrelevante) Funktionen des Temporallappens zu schädigen. 5 Bei Temporallappenepilepsien wird etwa die Hälfte der Patienten nach Temporallappenresektion anfallsfrei, und ein weiteres Viertel der Patienten hat eine deutliche Anfallsreduktion.

Was versteht man unter »inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz«? Kein Zweifel, dass tägliche Anfälle mit Bewusstseinsverlust und Verletzungsgefahr durch sekundäre Generalisierung inakzeptabel sind. Aber was ist die noch akzeptable Frequenz von kurzen psychomotorischen Anfällen oder von partiell fokalen Anfällen? Hier spielt auch die Frage der Einschränkung von Berufstätigkeit und Fahrtauglichkeit eine Rolle. 3Methoden 4 Heute wird bei Temporallappenepilepsien meist die Resektion des vorderen Temporalpols oder die selektive AmygdalaHippokampektomie angestrebt (. Abb. 14.5). 4 Entscheidend für die Wahl der Methode und die Größe des Resektats ist die Eingrenzung des epileptischen Fokus durch prächirurgische Epilepsiediagnostik (s.o.). Die Evaluation von Patienten, die einem epilepsiechirurgischen Eingriff unterzogen werden sollen, muss in hierfür speziell geeigneten Zentren mit entsprechend großer Erfahrung durchgeführt werden.

. Abb. 14.5. Hippokampussklerose rechts. FLAIR-Sequenz mit hyperintensem Signal im medialen Temporallappen (Pfeile) bei einem Patienten mit typischer Temporallappenepilepsie. Beachte die Asymmetrie der Temporalhörner. (PD Dr. B. Kress, Heidelberg)

384

Kapitel 14 · Epilepsien

a

b

. Abb. 14.6a–c. Schematische Darstellung der drei häufigsten Operationsmethoden bei pharmakoresistenter Temporallappenepilepsie. a Selektive Amygdalo-Hippokampektomie (links), b Resektion des vorderen und medialen Anteils des Temporallappens mit und ohne Hip-

pokampus (Mitte), c Ausmaß einer sog. großen Standardresektion lateraler und medialer Temporallappenanteile einschließlich Hippocampus (rechts). (Nach Stefan u. Buchfelder 1995)

5 Besonders günstig sind die Erfolge, wenn kleine, lokale Ursachen der Epilepsie, wie Hamartome, mediale Sklerose (. Abb. 14.4) oder Kavernome als Ursache der Anfälle gefunden werden. 4 Wenn eine komplette Resektion nicht möglich ist, ist manch-

Die Wesensänderung korreliert mit der Häufigkeit und Schwere der Anfälle. Später kann dann auch, als Ausdruck der hirnorganischen Schädigung, eine Demenz hinzu treten. Die Wesensänderung ist vermutlich nicht allein Folge der Anfälle, da sie gelegentlich der Manifestation des Krampfleidens vorangeht oder schon bei dessen Beginn sehr ausgeprägt ist. Manchmal hat man den Eindruck, sie auch bei klinisch gesunden Verwandten von Anfallspatienten zu beobachten. Psychologische Faktoren spielen eine große Rolle: Dies zeigt sich darin, dass sich die psychische Verfassung eines Anfallskranken oft deutlich bessert, wenn er in ein günstigeres soziales Milieu kommt. Gar nicht selten führt Überdosierung der Antiepileptika zu einer chronischen Wesensänderung. Das EEG ist dann meist diffus verlangsamt. Psychopathologisch wirken die Kranken langsamer und haftend. Die Behandlung besteht in einer Reduzierung der Dosis, wenn möglich.

mal auch die nur teilweise Resektion nützlich, obwohl die Resultate nicht so gut sind. Am besten sind die Resultate bei Patienten mit medialen Temporallappenepilepsien (7 Kap. 14.2.2). 4 Sie profitieren sehr von der vorderen Temporallappenresektion oder der selektiven Entfernung von Amygdala und Hippokampus, wenn der Fokus im dominanten Temporallappen liegt: Etwa 2/3 der Patienten sind anschließend anfallsfrei. 4 Wenn es sich um neokortikale (laterale) Temporallappenepilepsien handelt oder wenn andere kortikale Foki entfernt werden, sind die Ergebnisse etwas schlechter (45% Anfallsfreiheit, erhebliche Anfallsfrequenzreduktion bei weiteren 40%).

14

c

3Risiken. Man sollte nicht vergessen, dass epilepsiechirurgische Eingriffe auch ein Risiko haben. Die postoperative Morbidität liegt bei Temporallappenresektionen um 5%, bei Kallosotomien bei 10% und bei Hemisphärektomien um 15%. Die Mortalität schwankt zwischen 0,5 und 3,6%. 14.7

Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte der Epilepsien

14.7.1 »Epileptische Wesensänderung«

und Demenz Manche Epilepsiepatienten wirken auffällig langsam und umständlich im Denken und Handeln und können sich nur schwer von einem geistigen Inhalt oder einer praktischen Tätigkeit auf eine andere umstellen. Im Gespräch sind sie weitschweifig. Affektiv wirken sie monoton. Aus dieser Einförmigkeit können sie aber bei realen oder vermeintlichen Kränkungen plötzlich außerordentlich gereizt werden.

14.7.2 Verstimmungszustände Anfallskranke neigen nicht nur zu akuten, überschießenden, affektiven Reaktionen, sondern auch zu stunden- oder tagelangen Verstimmungszuständen, in denen sie mürrisch, reizbar oder depressiv sind. In dieser Zeit sind sie einem Zuspruch kaum oder gar nicht zugängig. Diese Verstimmungszustände können gelegentlich forensische Bedeutung haben. Die Dynamik ihres Zusammenhanges mit dem epileptischen Prozess ist noch nicht genügend bekannt. Man behandelt sie mit Neuroleptika oder Antidepressiva. 14.7.3 Postparoxysmaler Dämmerzustand Das Leitsymptom ist, wie bei fast allen akuten, exogenen Psychosen, die Bewusstseinstrübung oder Bewusstseinseinengung. Ent-

385 14.8 · Sozialmedizinische Aspekte

sprechend sind die Kranken im Verhalten und in den Denkabläufen verlangsamt und in ihren Wahrnehmungen eingeschränkt. Häufig verkennen sie den Aufforderungscharakter einer Situation oder die Bedeutung von wahrgenommenen Objekten und zeigen überschießende Reaktionen auf einfache, grobe Reize, z.B. auf Berührung oder Bewegungen anderer Menschen. Sie erleben diese als bedrohlich und reagieren mit ängstlicher Flucht oder aggressiver Abwehr, die sich bis zum Amoklaufen steigern kann. Alleingelassen, zeigen die Patienten eine Ruhe und Rastlosigkeit, die sie sehr unangenehm erleben. Die Motorik ist im Dämmerzustand auffällig ungeschickt und undifferenziert. Der postparoxysmale Dämmerzustand kann nach einem einzelnen Krampfanfall oder einem psychomotorischen Anfall auftreten. Häufiger schließt er sich an Serien von Anfällen an. Er kann Stunden, Tage und in seltenen Fällen auch Wochen andauern. Nach seinem Abklingen besteht eine vollständige oder wenigstens partielle Amnesie (Erinnerungslücke). Im EEG zeigt sich während des Dämmerzustandes eine mittlere oder schwere Allgemeinveränderung mit diffusem Auftreten von Zwischenund Deltawellen über beiden Hemisphären. Periodisch können Krampfpotentiale auftreten. Mit der Aufhellung des Bewusstseins nimmt die Allgemeinveränderung ab und das EEG normalisiert sich.

14

14.7.5 Psychogene Anfälle Nicht selten ist die Frage, ob die Anfälle psychogen oder epileptisch sind, nach der Anfallsbeschreibung nicht zu entscheiden. Zudem bekommen manche Anfallskranke zusätzlich zu den epileptischen psychogene Anfälle, die natürlich auf Veränderungen in der medikamentösen Behandlung nicht reagieren. Für solche Fälle ist das mobile Langzeit-EEG über 24 h sehr nützlich, dessen Auswertung allerdings sehr aufwendig ist. 14.7.6 Therapie der psychischen Störungen Die Behandlung aller episodischen psychischen Störungen bei Epilepsie setzt eine genaue Analyse des psychopathologischen Befundes und des Zeitpunkts im Verlauf der Krankheit voraus, an dem die psychische Veränderung eingetreten ist. Hirnelektrische Kontrolluntersuchungen sind unerlässlich, auch muss die zurzeit gegebene Therapie berücksichtigt werden. Die Zuordnung zu einer der genannten Formen wird oft schwierig sein und sollte nur in Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Kollegen getroffen werden. 14.8

Sozialmedizinische Aspekte

14.7.4 Epileptische Psychose 14.8.1 Berufseignung Von großer praktischer und theoretischer Bedeutung sind die bewusstseinsklaren epileptischen Psychosen, die oft als »schizophrenieartig« charakterisiert werden. Die Kranken sind gespannt, ruhelos, ideenflüchtig, gelegentlich maniform erregt. Sie sind desorientiert, verkennen ihre Umgebung oft illusionär und haben akustische oder optische Halluzinationen und Wahneinfälle, d.h. produktive psychotische Symptome. Subjektiv fühlen sie sich besonders klar und wach: Verglichen mit der Bewusstseinstrübung im Dämmerzustand, befinden sie sich also am äußersten Gegenpol der Skala unterschiedlicher Bewusstseinshelligkeiten. Diese produktiven, luziden Psychosen können Tage bis Wochen andauern. Nach ihrem Abklingen besteht keine vollständige Amnesie. Bei diesen Psychosen wird das EEG, wenn es vorher allgemein oder spezifisch epileptisch verändert war, vorübergehend normal oder jedenfalls weit weniger pathologisch als sonst. Man spricht von einer forcierten Normalisierung des EEG und stellt sich vor, dass diesen Psychosen ein abnormes Überwiegen der Hemmungsvorgänge zugrunde liegt, die von der Formatio reticularis des Hirnstamms gesteuert werden. Für diese Auffassung spricht, dass die produktiven epileptischen Psychosen gerade dann manifest werden, wenn eine antiepileptische Behandlung zu rasch und zu energisch aufgebaut wird. Reduziert man die antiepileptischen Medikamente und gibt Neuroleptika, so klingt die Psychose wieder ab.

Anfallskranke sollen im Beruf nicht an ungeschützten Maschinen, nicht auf Gerüsten und nicht an Stellen arbeiten, die mit einem größeren Unfallrisiko verbunden sind. Von diesen Beschränkungen aus Sicherheitsgründen abgesehen, bedeutet eine Epilepsie prinzipiell keine schwere Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, es sei denn, der Beruf setzt Fahrtauglichkeit (s.u.) voraus. Die Krankheit wird durch Ruhe nicht gebessert und durch körperliche Arbeit nicht verschlechtert. Es ist aber psychologisch von großer Bedeutung, dass die Patienten sozial eingegliedert bleiben und, wenn irgend möglich, ihre Familie ernähren können. Auch nach vorübergehender Arbeitsunfähigkeit sollte man immer wieder versuchen, den Kranken medikamentös besser als zuvor einzustellen und ihn dann einer für ihn geeigneten Tätigkeit oder einer Umschulung auf einen modernen Beruf zuzuführen. Sportliche Aktivität ist sinnvoll. Abgesehen von einigen Extremsportarten und solchen mit erhöhtem Unfallrisiko, wenn ein Anfall auftritt, gibt es keine sportlichen Einschränkungen. Auch Schwimmen (in Begleitung) ist den meisten Patienten möglich. 14.8.2 Fahrtauglichkeit Die verbindliche juristische Regelung besagt, dass Anfallskranke nicht tauglich zum Führen von Kraftfahrzeugen sind, solange sie

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Kapitel 14 · Epilepsien

an Anfällen oder Auren leiden. Dies hat heute natürlich erhebliche Konsequenzen für die beruflichen Möglichkeiten. Dabei ist die Zahl der Unfälle, die durch einen epileptischen Anfall am Steuer verursacht werden, viel geringer als man erwarten würde. Man schätzt, dass von 10.000 Verkehrsunfällen höchstens 10 durch einen epileptischen Anfall, dagegen wenigstens 1000 durch Trunkenheit am Steuer verursacht wurden. Obwohl sich die Regelungen zur Fahruntauglichkeit ausdrücklich auch auf andere Krankheiten mit erhöhtem Risiko beziehen (man denke an Diabetiker mit häufiger Unterzuckerung, Adams-Stokes-Anfälle, Narkolepsie, Attackenschwindel, Lähmungen nach Schlaganfällen oder Parkinson-Syndrom mit Onoff-Phänomenen), werden sie nur bei Epilepsiekranken so strikt angewendet. Folgende Voraussetzungen müssen in der Regel erfüllt sein, bevor Fahrtauglichkeit bescheinigt werden kann: 4 Der Patient soll ein Jahre anfallsfrei sein (mit oder ohne Therapie) und 4 aufgrund des bisherigen Behandlungsverlaufes und des derzeitigen Befundes muss mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass auch in Zukunft keine Anfälle mehr auftreten werden. Natürlich darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass der Patient, wenn die Fahrerlaubnis auf dem Spiel steht, immer ob-

jektiv über Anfallsfreiheit berichten. Solange noch eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, ist die Fahrerlaubnis an die Auflage regelmäßiger fachärztlicher Kontrollen geknüpft. Meist wird hierbei ein EEG abgeleitet, obwohl epilepsietypische Potentiale im EEG kein Argument gegen Fahrtauglichkeit sind, wenn der Patient anfallsfrei ist. Bei nur im Schlaf auftretenden Anfällen und bei operativ geheilten Anfallskranken kann im Einzelfall eine kürzere Zeit angesetzt werden. In solchen Ausnahmefällen kann der Arzt die Fahrtauglichkeit früher bescheinigen, übernimmt dann aber auch die Verantwortung. Fährt ein Epilepsiekranker ohne Fahrtauglichkeit und ist (auch unschuldig und ohne Anfall) in einen Unfall verwickelt, entstehen gravierende straf- und zivilrechtliche Konsequenzen. Hat ein Patient aber noch keinen Unfall verursacht und ist er noch im Besitz seines Führerscheins, sind die Möglichkeiten, ihn zum Ausscheiden aus dem Straßenverkehr zu zwingen, gering. Epilepsie ist keine meldepflichtige Krankheit und sollte es aus psychologischen Gründen auch nicht sein, weil die Patienten ihre Krankheit sonst verheimlichen würden und sich damit der Behandlung entzögen. Der Kranke ist durch das Arztgeheimnis vor einer unbefugten Meldung durch den behandelnden oder untersuchenden Arzt geschützt, sofern nicht ein höheres Rechtsgut, etwa bei einem uneinsichtigen anfallskranken Busfahrer, die Meldung gebietet.

In Kürze Epileptische Anfälle und Epilepsien

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Funktionsstörungen des Gehirns mit anfallsweisen Muskelkrämpfen durch plötzlich entstehende elektrische Entladungen von Nervenzellengruppen und fehlender Erregungsbegrenzung. Inzidenz: 20–50/100.000 Einwohner/Jahr. Gelegenheitsanfälle: Durch Fieberkrämpfe bei Infektionen, übermäßigen Alkoholkonsum, Schlafentzug, exzessive körperliche Anstrengung mit Dehydration, vaskuläre Enzephalopathie. Symptomatische Epilepsien: Durch identifizierbare strukturelle Grunderkrankung wie kortikale Entwicklungsstörungen, Tumoren, Schädelhirntrauma, metabolische und immunologische Erkrankungen. Kryptogene Epilepsien: Mutmaßlich symptomatische Epilepsie ohne Nachweis der Grunderkrankung. Idiopathische Epilepsien: Aus vermuteter oder nachgewiesener genetischer Disposition, keine organische oder metabolische Hirnkrankheit als Auslöser.

Diagnostik EEG: Ergiebig während oder unmittelbar nach Anfall, sonst oft normal oder nur unspezifisch verändert. CT/MRT: In Akutsituation, nach ersten generalisierten und fokalen Anfällen, für

6

Ausschluss einer Verletzung als Anfallsfolge. Prächirurgische Epilepsiediagnostik: Elektrophysiologische Lokalisation des Epilepsieherdes als Vorbereitung zur Operation.

Fokale (partielle) Anfälle Ausdruck lokalisierbarer organischer Hirnschädigung mit oder ohne Bewusstseinsstörung durch Tumoren, Gefäßmissbildungen, Entzündungen, Traumen. Einfach fokale (partielle) Anfälle. Einfach fokale Anfälle mit motorischer Symptomatik: Unfähigkeit zu sprechen und einzelne Silbe zu vokalisieren, klonische oder tonische Krämpfe einer Gesichtshälfte oder Extremität, nach Anfall Lähmung der krampfenden Extremität. Adversivanfälle: Schnelle Seitwärtsbewegung der Augen, tonische Drehung des Kopfes. Einfach fokale Anfälle mit sensibler oder visueller Symptomatik wie Kribbelparästhesien, Elektrisierungsgefühl, Schmerzen, oder Skotome, Hemianopsien, Blitze. Jackson-Anfälle: Ausbreitung tonischer bzw. klonischer Zuckungen oder Missempfindungen von einer Körperregion auf benachbarte Bezirke evtl. mit postparoxysmaler Parese.

387 14.8 · Sozialmedizinische Aspekte

Einfach partielle Anfälle mit aphasischer Symptomatik: Unterbrechung der Sprache. Komplex partielle (psychomotorische) Anfälle. Stadien: Aura mit Wärme- oder Beklemmungsgefühl, Farb-, Bild-, unangenehmen Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen. Bewusstseinstrübung: Stereotype Bewegungsabläufe, vegetative Symptome wie Speichelfluss, Pupillenerweiterung, Blässe oder Rötung. Anfallsende mit Bewusstseinsaufhellung, Nachlassen motorischer Automatismen. Amnesie für den Anfall.

Generalisierte Anfälle Bewusstseinsverlust mit Amnesie für Anfall, bilaterale motorische Symptome, EEG-Veränderungen über beiden Hemisphären abzuleiten. Altersgebundene kleine Anfälle. Absencenepilepsie des Kindes- und Jugendalters: Genetisch bedingt. Symptome: Dauer wenige Sekunden; Blässe, starrer Blick, Lidmyoklonien, nystaktische Augenbewegungen nach oben, ruckartiges Rückwärtsneigen des Kopfes bis 100-mal/Tag, infolge seelischer Erregung und Hyperventilation. EEG: Im Anfall und Intervall 3/s-spikes und waves. Myoklonische Epilepsie des Jugendalters (Impulsiv-Petitmal): Symptome: Einzelne oder salvenartige, bilaterale, myoklonische 2–3 s dauernde Stöße, leichte Bewusstseinstrübung, infolge Alkoholgenuss, Schlafentzug. EEG: Häufig Polyspikewave-Abläufe Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall (GM). Isoliert, als Komplikation anderer, generalisierter Epilepsie mit kleinen Anfällen, oder sekundär generalisiert mit partiellen Epilepsien. Oft nach dem Aufwachen. Stadien: Krampfanfall mit Aura oder plötzlichem Anfallsbeginn: Initialschrei durch Atemmuskelkontraktion bei fast geschlossener Stimmritze, geöffnete Augen, verdrehter Bulbi nach oben oder zur Seite. Tonisch-klonisches Stadium: Beine und Arme überstreckt, danach rhythmische klonische Zuckungen, vorübergehend erhöhter Blutdruck, Atmung sistiert in tonischer Phase, keine Pupillenreaktion. Anfallsende: Röchelnde, schwere Atmung, schlaffer Tonus, minuten- bis stundenlanger Terminalschlaf. EEG: Abflachung, Spike-Potenziale, Muskelartefakte vor GMAnfall, dann Perioden langsamer Wellen.

Status epilepticus Ununterbrochene oder sich ständig wiederholende epileptische Anfälle >30 min.

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Grand-mal Status. Symptome: Abfolge tonisch-klonischer GMAnfälle mit Bewusstseinsverlust durch fehlenden, den einzelnen Anfall beendenden Mechanismus. Ohne Unterbrechung binnen Stunden Hirnödem, steigende Körpertemperatur, Tod durch Herz-Kreislaufversagen. Ursache: u.a. Gehirntumoren, offene Hirnverletzungen, unregelmäßige Medikamenteneinnahme. EEG: Kontinuierliche, epileptische, im Koma periodische, rhythmische Entladungen mit Kurvenabflachung. Absencenstatus. Plötzlich fehlende Ansprechbarkeit, Nesteln. EEG: 3/s Spike-wave-Aktivität. Status psychomotoricus. Abwesend wirken, Nesteln; komplexe, zielgerichtet wirkende Aktionen wie Auto fahren möglich. Status partieller motorischer Anfälle. Stunden- oder tagelang ablaufende klonische Zuckungen eines umschriebenen Körperbezirkes, klares Bewusstsein; durch kortikale Läsion, nichtketotische, hyperosmolare Hyperglykämie. EEG nicht notwendig, da Diagnose offensichtlich.

Konservative Therapie Einzelner epileptischer Anfall bedarf keiner Notfalltherapie, da er sich selbst beendet. Wichtig ist allgemeine Lebensführung wie regelmäßiger Nachtschlaf, kein Schlafentzug. Antiepileptische Medikamente als (möglichst hochdosierte) Monotherapie nur bei manifesten Anfallsleiden. Bei antiepileptischer Dauerbehandlung Medikament bis zur oberen Grenze des therapeutischen Bereichs oder darüber hinaus (bis zu Nebenwirkungen) dosieren, bevor als unwirksam klassifiziert und Medikamentenwechsel. Nach 3-jähriger Anfallsfreiheit: Reduzierung der Dosierung über Zeitraum von 6 Monaten bis zur Einstellung der Behandlung. Therapieresistenz bei Jugendlichen mit symptomatischer generalisierter Epilepsie oder Residualepilepsie mit fokalen Anfällen, bei zu niedriger Dosierung oder falscher Einnahme, bei falscher Klassifikation der Anfallsart, dadurch ungeeignetes Medikament. Serumspiegelbestimmung zur optimalen medikamentösen Einstellung, gibt Bereich vor, in der Wirksamkeit erwartet wird.

Chirurgische Therapie Voraussetzung: Sichere Epilepsiediagnose, echte Therapieresistenz, inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz, eingrenzbarer Epilepsiefokus, keine zu schwere allgemeine Hirnschädigung, dient der Verbesserung der Lebensqualität nach Operation. Methoden: Resektion des vorderen Temporalpols oder selektive Amygdala-Hippokampektomie. Entscheidend ist Eingrenzung des epileptischen Fokus durch prächirurgische Epilepsiediagnostik.

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388

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Kapitel 14 · Epilepsien

Psychiatrische und neuropsychologische Symptome bei Epilepsien

rientiertheit, Ruhelosigkeit, akustischen oder optischen Halluzinationen bei klarem Bewusstsein; Psychogene Anfälle.

Epileptische Wesensänderung durch Überdosierung der Antiepileptika korreliert mit Anfallshäufigkeit und -schwere; Demenz durch hirnorganische Schädigung; Postparoxysmaler Dämmerzustand mit Bewusstseinstrübung oder -einengung; Verstimmungszustände; Epileptische Psychosen mit Deso-

Sozialmedizinische Aspekte Berufseignung beschränkt durch Sicherheitsgründe wie Arbeiten an ungeschützten Maschinen oder auf Gerüsten. Voraussetzungen für Fahrtauglichkeit: ein Jahr anfallsfrei (mit oder ohne Therapie) und positive Prognose für zukünftige Anfallsfreiheit.

15 15 Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen 15.1 Synkopen – 390 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4

Vegetative und kardiale Synkopen – 390 Reflexsynkopen – 391 Synkopen bei neurologischen Krankheiten – 392 Andere Ursachen von Synkopen – 392

15.2 Schlafstörungen – 393 15.2.1 Narkolepsie und affektiver Tonusverlust – 393 15.2.2 Schlafapnoesyndrom – 395

15.3 Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA) – 396

390

Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

ä Der Fall Madame, Ihr Fläschchen … Im 18. und 19. Jahrhundert waren Ohnmachten bei Damen höherer sozialer Schichten wegen der modischen Forderung nach einer Wespentaille, die nur durch Korsagen bei erheblicher Einschränkung der Atmung und des venösen Rückflusses aus den Beinen zu erreichen war, an der Tagesordnung. So gehörten Riechflakons mit stechenden Flüssigkeiten, mit denen sie die kollabierten Schönheiten wieder ins Bewusstsein zurückholten, zur Standardausrüstung der Begleiter der Dame von Welt. Auch heute ist es gar nicht so selten, dass sonst gesunde Personen in bestimmten Situationen, z.B. inmitten einer extremen Ansammlung von Menschen, beim Stehen in schlechter Luft oder bei besonderer emotionaler Anspannung, das Gefühl des Schwarzwerdens vor den Augen erleben und fast oder tatsächlich bewusstlos werden. Jungen Ärztinnen sind besonders die kräftigen, durchtrainierten, selbstbewussten Männer, die beim Anblick einer Spritze kollabieren, in bleibender Erinnerung. Und manche Medizinstudenten sind bei der ersten Operation, der sie beiwohnen durften, oder der ersten pathologisch-anatomischen Demonstration kurzfristig »weggetreten«. Hyperventilation, emotionale Begeisterung, z.B. bei Teenagern in Popkonzerten, können ebenfalls Auslöser sein. Manche Männer bekommen Ohnmachten bei nächtlichem Wasserlassen im Stehen und stürzen bewusstlos zu Boden. Allerdings liegen manchen Ohnmachten auch ernst zu nehmende kardiale Krankheiten zu Grunde. Solche plötzlichen Ohnmachten nennt man Synkopen. Sie werden in diesem Kapitel behandelt. Seltener sind anfallsartige Störungen der Wachheit und des Schlafes. Eine interessante, ätiologisch nicht sicher geklärte attackenförmige Krankheit ist die transiente globale Amnesie oder amnestische Episode.

15.1

15

Synkopen

3Definition. Bei Synkopen kommt es zu einer kurzfristigen Bewusstlosigkeit (»es wird schwarz vor den Augen«), meist verbunden mit vegetativen Erscheinungen wie Schwindel, Schweißausbruch, Harndrang und gefolgt von Herzjagen, Zittern und Schwitzen. Oft realisieren die Patienten noch das Kommen der Synkope als ein komisches aufsteigendes Gefühl. Die Patienten stürzen meist hin, können sich dabei auch verletzen. Besonders schwierig wird die Einordnung, wenn es bei längerer Bewusstlosigkeit zu kurzen Zuckungen in Armen und Beinen kommt. Zungenbiss oder Urinabgang sind dagegen selten. Synkopen betreffen das Gebiet der Inneren Medizin und der Neurologie in gleichem Maß. Der anfallsartige Charakter der Ohnmachten führt die Patienten meist zum Neurologen, der eine Epilepsie ausschließen soll. Die Synkopen sind oft aber nur die zerebrale Manifestation einer Funktionsstörung des Herzens, eines zu niedrigen systemischen Blutdrucks oder einer metabolischen Störung, die erst bei internistischer Untersuchung festgestellt werden.

Allen Synkopen ist gemeinsam, dass es durch eine extrazerebrale Funktionsstörung zu einer Mangeldurchblutung oder einem Substrat-(Glukose-)mangel im Gehirn kommt. Beides äußert sich in einer Bewusstseinsstörung und gelegentlich auch in flüchtigen, neurologischen Reiz- und Ausfallsymptomen, die von vegetativen Erscheinungen begleitet sind. 15.1.1 Vegetative und kardiale Synkopen Adams-Stokes-Anfälle 3Pathophysiologie. Diese Synkopen treten bei plötzlichem Versagen der hämodynamisch wirksamen Förderleistung des Herzens, d.h. bei extremer Bradykardie von unter 20–30 Schlägen/min oder Asystolie, aber auch bei anfallsweiser Tachykardie von über 200 Schlägen/min auf. 3Symptome. Nach kurzem Schwindel verlieren die Kranken das Bewusstsein und erleiden eine tonische Verkrampfung der Extremitäten. Diese dauert aber nicht länger als etwa 10 s, da die Krampftätigkeit des Gehirns durch die Anoxie und den verminderten Abtransport der Metaboliten rasch »erstickt«. Die Pupillen sind weit und lichtstarr. Wenige Sekunden, nachdem die Herztätigkeit wieder eingesetzt hat, können erneut kurze Zuckungen der Gliedmaßen auftreten. 3Therapie. Internistisch. Bei der bradykarden Form akut kardiopulmonale Reanimation, später Indikation zur Implantation eines Schrittmachers. Wenn der Herzstillstand länger als 4–5 min dauert, besteht die Gefahr einer schweren, anoxischen Hirnschädigung. Vasovagale Synkopen Hier liegt eine zeitweilige Imbalance zwischen Parasympathikus und Sympathikus zugrunde. Die Synkopen können bei raschem Aufstehen (Versagen der sympathischen Gegenregulation) ausgelöst werden. 3Symptome. Fast alle Patienten verspüren zunächst die Symptome eines drohenden Vasomotorenkollaps: Blässe, Ausbruch von kaltem Schweiß, Schwindel, Flimmern, Schwarzwerden vor den Augen. Dann erst kommt es zu einer Bewusstseinsstörung, bis hin zur Bewusstlosigkeit. In der Regel verletzen sie sich nicht. Sie beißen sich nicht auf die Zunge und haben nur selten unwillkürlichen Urinabgang. Bei schwerem Kollaps kann dies allerdings doch der Fall sein. In der Bewusstlosigkeit liegen die Patienten schlaff da (einfache Ohnmacht). Es kann dann aber auch zu einem Streckkrampf der Extremitäten kommen, der von wenigen, klonischen Zuckungen begleitet ist. Diese Myoklonien treten erst einige Sekunden nach Einsetzen des Kreislaufversagens auf und dauern nicht länger als etwa 10 s (konvulsive Synkope). Meist kehrt das Bewusstsein nach kurzer Zeit wieder. Hält die Bewusstseinsstörung mehrere

391 15.1 · Synkopen

Minuten oder länger an, kann man nicht mehr die Diagnose eines unkomplizierten synkopalen Anfalls stellen, sondern muss eine Komplikation (etwa Commotio cerebri durch Sturz auf den Kopf), eine andersartige Bewusstseinsstörung (z.B. Subarachnoidalblutung) oder eine psychogene Ausgestaltung annehmen. 3Auslöser. Meist ist die auslösende Situation charakteristisch: Synkopale Anfälle treten nicht aus dem Schlaf, sondern fast immer bei einer orthostatischen oder einer geistig-seelischen Belastung bzw. Anspannung auf. Dies ist der Fall nach längerem Stehen, namentlich in geschlossenen Räumen, beim Knien in der Kirche, beim plötzlichen Aufstehen oder Aufrichten, bei der Miktion im Stehen (orthostatischer Kollaps), bei Hitzeeinwirkung und Sauerstoffmangel, bei plötzlichem Schmerz, Erschrecken, körperlicher oder geistig-seelischer Erschöpfung. Auch vestibuläre Reize (Karussell, Achterbahn) können zum Vasomotorenkollaps führen. Die orthostatische Belastung ist also keine notwendige Bedingung. Vasovagale Synkopen werden auch häufig in der Rekonvaleszenz nach schweren Allgemeinkrankheiten und gelegentlich nach Hirntraumen beobachtet. Vergleichende Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die vasomotorischen Anfälle bei nicht entschädigungspflichtigen Unfällen bald wieder zurückbilden, womit die Bedeutung der seelischen Verfassung deutlich wird. Dass die Anfälle in seelischen Krisensituationen besonders leicht auftreten, selbst wenn keine aktuelle orthostatische Belastung vorliegt, ist eine geläufige Erfahrung. 3Pathophysiologie. Bei den geschilderten Gelegenheiten kommt es zu einer vagotonen Umstellung des Kreislaufs und der Herzaktion. Das Blut versackt in der Peripherie: So nimmt die Blutmenge in der Muskulatur bis zum Dreifachen der Ruhedurchblutung zu. Die Herzfrequenz sinkt, und das Minutenvolumen nimmt wegen der Verminderung des venösen Blutangebots ab. Die Folge ist eine Ischämie des Gehirns. Sobald die kritische Mitteldruckgrenze von 50–60 mmHg unterschritten ist, versagt zusätzlich die zerebrale Gefäßregulation. Eine Ischämie der Retina erklärt das Augenflimmern. Der Blutmangel des Gehirns führt zur Bewusstseinsstörung. Die kurz dauernden Myoklonien erklären sich durch die Grundeigenschaft aller Nervenzellen, in Hypoxie zu depolarisieren. Die Myoklonien können nur von kurzer Dauer sein, da in der Krampftätigkeit der zerebrale Energiestoffwechsel um das Doppelte vermehrt ist, der Nachschub an O2 und Glukose im Kollaps aber mit diesem gesteigerten Bedarf nicht Schritt hält.

15

ihm die Prognose günstig stellen. Wiederholen sich die Anfälle mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ist eine Behandlung angezeigt. Diese besteht zweckmäßig in physikalischen Maßnahmen, wie Wechselbäder, Bürstenmassagen, Sport. Vorübergehend kann man kreislaufwirksame Präparate von adrenerger Wirkung verordnen, jedoch muss die medikamentöse Behandlung im Hintergrund bleiben, da man die konstitutionelle Reaktionsbereitschaft durch Medikamente nicht verändern kann. 3Differentialdiagnose. Zur Unterscheidung von epileptischen Anfällen dienen vor allem folgende Kriterien: 4 Wenn Krämpfe auftreten, setzen sie mit einer kurzen Latenz ein und dauern nur wenige Sekunden. 4 Das Gesicht ist blass und nicht zyanotisch. 4 Der Puls ist bradykard und flach. 4 Die Pupillen können lichtstarr sein, sind aber durch parasympathische Innervation eng und nicht, wie im epileptischen Anfall, maximal erweitert. 4 Nach dem Erwachen fühlt sich der Patient müde, jedoch nicht abgeschlagen, wie nach einer großen körperlichen Anstrengung. 15.1.2 Reflexsynkopen Hustensynkopen 3Symptome. Unter besonderen Bedingungen können Hustenstöße oder heftiges Lachen, selten einmal die Defäkation über einen Valsalva-Mechanismus zum Kollaps führen. Er tritt entweder als reiner, Sekunden dauernder Tonusverlust der Körpermuskulatur mit Blässe und Schwitzen auf, manchmal ist er auch für einige Sekunden von Bewusstlosigkeit und klonischen Zuckungen begleitet. Betroffen sind vor allem starke Raucher zwischen 40 und 50 Jahren. Das plötzliche Hinstürzen kann zu Verletzungen führen. 3Pathophysiologie. Peripherer, vasomotorischer Kollaps spielt keine Rolle. Druckmessungen haben gezeigt, dass der zentrale Venendruck nicht mit der plötzlichen Erhöhung des intrathorakalen Druckes Schritt halten kann. Deshalb kommt es zu einer plötzlichen, drastischen Verminderung des venösen Zustroms zum Herzen und als Folge davon zu einem Abfall der Förderleistung des Herzens. Dadurch sinkt die Hirndurchblutung vorübergehend unter die kritische Grenze. Zusätzlich steigt bei der Hustenattacke der Liquordruck an und überschreitet den intraarteriellen Blutdruck.

3Diagnostik. Das EEG ist im synkopalen Anfall diffus verlangsamt und kann vorübergehend isoelektrisch werden. Synchrone Entladungen oder Spike-Potentiale treten nicht auf.

3Therapie. Atemgymnastik mit Husten aus der Atemmittellage, Behandlung von bronchialen Infekten, Parasympatholytika.

3Therapie. Handelt es sich nur um ein einmaliges Ereignis unter einer außergewöhnlichen, exzessiven Belastung, ist keine Therapie erforderlich. Man wird den Patienten beruhigen und

Schlucksynkopen Pathophysiologisch beruhen sie auf vagovagalen Reflexen, die bei Krankheiten an beiden Endpunkten des Reflexbogens ausgelöst

392

Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

werden können. Sie treten also bei Krankheiten des Ösophagus, z.B. Divertikeln, und bei Krankheiten des Herzmuskels auf. Auch Synkopen bei Glossopharyngikusneuralgie gehören hierher. In Ausnahmefällen kann auch eine ephaptische Verbindung zwischen den afferenten und efferenten Vagusfasern das Auftreten der Schlucksynkopen begünstigen. Der afferente Stimulus ist eine Dehnung des Ösophagus, der efferente Effekt ist eine Hemmung des Herzschlags. Die medikamentöse Therapie erfolgt bei Schlucksynkopen, wie bei Hustensynkopen, mit Atropin oder anderen Parasympatholytika. Miktionssynkopen 3Symptome. Charakteristisch ist ein plötzlich eintretender, kurz dauernder Bewusstseinsverlust während der Miktion im Stehen, gewöhnlich nach dem Aufstehen in der Nacht. Betroffen sind Männer aller Altersgruppen. Die Betroffenen stürzen abrupt oder nach kurzem, unsystematischem Schwindel während der Miktion im Stehen zu Boden (wie ein gefällter Baum). Sie können sich dabei erheblich verletzen. Die Hautfarbe ist blass, der Puls im Augenblick der Vagotonie bradykard und weich. Dauer der Bewusstlosigkeit etwa 1 min. Amnesie besteht nur für die Bewusstlosigkeit, falls keine traumatische Schädigung beim Sturz eingetreten ist. 3Pathophysiologie. Die Pathophysiologie ist komplex: Vagotone Weitstellung der Gefäßperipherie, verminderter venöser Rückstrom im Stehen und parasympathische Aktivität bei der Miktion führen zu einer Synkope mit vorübergehender, zerebraler Ischämie. Synkopen aus kardialer Ursache sollten ausgeschlossen werden. Zur Vorbeugung wird die Miktion im Sitzen empfohlen. Die Defäkationssynkopen sind dagegen den durch ValsalvaManöver ausgelösten Synkopen (s.o.) zuzurechnen. Gleiches gilt für die koitalen und Orgasmussynkopen. > Es gibt orthostatische, Husten-, Schluck- und Miktions-

15

synkopen sowie Synkopen aus kardialer Ursache. Extrazerebrale Funktionsstörungen führen dabei zu rasch vorübergehender Hypoxie des Gehirns mit Kollaps, Bewusstseinsverlust und auch kurzdauernden Krämpfen.

15.1.3 Synkopen bei neurologischen Krankheiten Verschiedene Hirnstammkrankheiten und Stoffwechselstörungen, die medikamentöse Behandlung neurologischer Krankheiten und (Multi-)Systematrophien führen unter anderem ebenfalls zu Synkopen. Die meisten werden an anderer Stelle besprochen. Genannt werden sollen hier die folgenden, wichtigen Krankheitsgruppen: 4 Vaskuläre Krankheiten: Subklavia-Anzapf-Syndrom (7 Kap. 5.5.2), drop attacks bei vertebrobasilären Durchblutungsstörungen (keine wirkliche Bewusstlosigkeit!)

4 Stoffwechselstörungen: Mitochondriopathien, M. Wilson (selten, 7 Kap. 28), Hypophyseninsuffizienz (7 Kap. 11.1.2) 4 Medikamente: Parkinsonmedikamente, Psychopharmaka, Betablocker 4 Systematrophien: M. Parkinson (7 Kap. 23) 4 Multisystematrophien (MSA) 4 Polyneuropathien mit vegetativer Beteiligung

Die kataplektischen Anfälle bei Narkolepsie (7 Kap. 15.2.1) sind keine Synkopen. 15.1.4 Andere Ursachen von Synkopen Hypoglykämische Anfälle Diese äußern sich klinisch in verschiedenen Schweregraden von paroxysmalen, vegetativen Störungen (Unruhe, Schwitzen, Tachykardie, Blutdruckanstieg, Kollapsneigung, Angstgefühl, Schwindel, Kopfschmerzen, Hitzewallung) bis zu neurologischpsychiatrischen Symptomen: Bewusstseinstrübung, Dämmerzustand, Delir, Koma, Enthemmung primitiver, oraler Automatismen und Reflexe, extrapyramidale Hyperkinesen, und auch in epileptischen Krämpfen. Auftreten der Anfälle: häufig nachts. Sie werden durch Anstrengung und mangelhafte Nahrungszufuhr ausgelöst und bessern sich nach dem Essen. Als Ursache der hypoglykämischen Anfälle kommen Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens, M. Addison, Inselzelladenome des Pankreas und Insulinüberdosierung in Betracht. Sympathikotone Krisen Diese treten hauptsächlich durch Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung beim Phäochromozytom auf. Der Anfall setzt plötzlich mit Erblassen, Pulsbeschleunigung, Kopfschmerzen, Engegefühl, Übelkeit, Angst, Flimmern vor den Augen und Pupillenerweiterung ein. Die Extremitäten sind kalt und blass. Das Kardinalsymptom ist die plötzliche Steigerung des systolischen, aber auch des diastolischen Blutdrucks für Minuten bis Stunden. Flush-Syndrom Beim metastasierenden Dünndarmkarzinoid kommt es zu plötzlicher, flüchtiger Serotoninausschüttung ins Blut. Diese führt innerhalb von Sekunden zu einer Rötung von Gesicht, Hals und Thorax, während der Patient Hitzegefühl und brennende Schmerzen verspürt. Oft treten gleichzeitig Durchfälle und Atembeklemmung auf. Der Flush befällt bevorzugt Personen jenseits des 40. Lebensjahres. Er kann sich zu jeder Tages- und Nachtzeit, auch wiederholt, meist ohne erkennbaren äußeren Anlass einstellen. Seelische Erregung und Alkoholgenuss begünstigen ihn. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer dauernden, plethorischen Verfärbung der im Anfall betroffenen Hautpartien mit Teleangiektasien, beim Befall der Lungen auch zu einer Endo-

393 15.2 · Schlafstörungen

15

Exkurs Pathophysiologie Die Narkolepsie beruht auf einer mangelhaften Ausreifung der Schlaf-Wach-Regulation. Die schlafauslösenden Strukturen sind im kaudalen Hirnstamm, in dem relativ eng umschriebenen Raphesystem in der Gegend des Tractus solitarius lokalisiert. Die Strukturen für die Aufrechterhaltung des Wachzustandes finden sich weit ausgedehnt zwischen Hirnstamm und Hypothalamus im aufsteigenden, unspezifischen retikulären System. Der paradoxe Schlaf ist an die Integrität des Nucleus reticularis caudalis pontis gebunden. Der Muskeltonus wird

kardfibrose mit Lokalisation vorwiegend an der Trikuspidal- und Pulmonalklappe. In der Anamnese erfährt man von rezidivierenden Durchfällen. Die Diagnose wird durch den Nachweis einer vermehrten (über 25 mg pro 24 h) Ausscheidung des Serotoninabbauproduktes 5-Hydroxyindolessigsäure im Urin gesichert. Das Somatostatin-Analogon Sandostatin beseitigt die Darmsymptome und den Flush. Psychogene Anfälle Eine praktisch sehr wichtige Differentialdiagnose ergibt sich gegen psychogene Anfälle. Diese treten häufig, aber keineswegs immer, im Zusammenhang mit affektiv belastenden Situationen auf. Oft haben sie im Erscheinungsbild Ausdruckscharakter: wildes Umsichschlagen, Weinen, Selbstverletzung, »Arc de cercle« oder andere sexuelle Szenen. Die Augen sind meist geschlossen und werden beim Versuch, die Pupillenreaktionen zu prüfen, noch fester zugekniffen. Die Hände sind bald zu Fäusten verkrampft, bald in wechselnder Bewegung. Man kann sich nicht an einzelnen Symptomen orientieren: Zungenbiss (allerdings nicht seitlich, sondern an der Spitze), Verletzung beim Hinstürzen, Einnässen kommen auch bei psychogenen Anfällen vor, Enkopresis sogar häufiger als bei epileptischen Anfällen. Typisch ist vor allem der ungleichförmige Ablauf. 15.2

Schlafstörungen

Als Schlafstörungen bezeichnet man 4 Störungen des Einschlafens und Durchschlafens (Insomnien), 4 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und 4 vermehrte Schlafneigung (Hypersomnien). Wir werden hier nicht Schlafstörungen bei psychiatrischen Krankheiten (z.B. bei der Depression), durch Medikamente oder durch metabolische Krankheiten sekundär verursachte Schlafstörungen, Insomnien und Hypersomnien besprechen. Primäre Schlafstörungen, die auch in der Neurologie wichtig sind, sind die Narkolepsie und das Schlaf-Apnoe-Syndrom.

über die bulbopontine (absteigende) Formatio reticularis reguliert. In diesen Systemen muss die anfallsweise Funktionsstörung auftreten, die zu den oben beschriebenen Krankheitssymptomen führt. Die biochemischen Grundlagen sind noch nicht im einzelnen bekannt: Man weiß lediglich, dass der synchrone Schlaf durch Serotonin, der paradoxe Schlaf durch Noradrenalin gesteuert ist. Die engen anatomischen und physiologischen Beziehungen zwischen dem limbischen und dem retikulären System machen die affektive Auslösbarkeit der Kataplexie verständlich.

15.2.1 Narkolepsie und affektiver Tonusverlust Patienten mit einer Narkolepsie klagen darüber, dass sie Schwierigkeiten haben, tagsüber wach zu bleiben, obwohl sie ausreichenden Nachtschlaf hatten. Auch nach dem Nachtschlaf fühlen sie sich nicht erholt. Es dauert lange, bis sie morgens in Gang kommen, am Arbeitsplatz, beim Autofahren, in Gesellschaft kann es vorkommen, dass diese Patienten ungewollt kurz einschlafen. 3Definition. Die Narkolepsie ist bei voller Ausprägung durch 4 imperative Schlafanfälle, anfallsweisen Tonusverlust der Muskulatur, 4 hypnagoge Halluzinationen, 4 affektiven Tonusverlust (Kataplexie) und 4 Schlaflähmungen gekennzeichnet. Automatische Verhaltensweisen sowie eine starke Unregelmäßigkeit des Schlafrhythmus treten hinzu. Wir unterscheiden die monosymptomatische (lediglich Schlafanfälle) von der polysymptomatischen Form, dem Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom. 3Epidemiologie, Verlauf und Prognose. Die Prävalenz der Narkolepsie wird auf etwa bis 30 Patienten pro 100.000 Einwohner geschätzt. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt im 3. Lebensjahrzehnt. Die Erkrankung bleibt meist lebenslang bestehen, die Symptomatik schwächt sich aber oft im zunehmenden Lebensalter ab. Vollständige Remissionen sind selten. Genetische Belastung: Etwa 50% der Patienten haben eine familiäre Belastung mit Narkolepsie. Diese genetische Determinierung wird auch dadurch deutlich, dass etwa 80% der Narkolepsiepatienten HLA DR 2-positiv sind (Normalbevölkerung: 30%). Symptomatische Narkolepsien werden nach Hirnstammund Thalamusläsionen, bei Tumoren des dritten Ventrikels und nach Hirnstamminfarkten beschrieben.

394

15

Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

3Symptome 4 Monosymptomatische Narkolepsie: Der narkoleptische Anfall setzt akut mit einem unwiderstehlichen Schlafbedürfnis ein, das die Kranken zwingt, sich innerhalb von Minuten zu setzen oder hinzulegen und tief einzuschlafen. Sie sind aus diesem Schlaf erweckbar. Spontan erwachen sie nach wenigen Sekunden bis längstens 15 min und fühlen sich dann ausgeruht. Neurologisch und in seiner biologischen Wirkung erfüllt dieser kurze Schlummer alle Kriterien des natürlichen Schlafes, nur ist der Zeitablauf stark gerafft. Das imperative Einschlafen wird durch Dunkelheit oder monotone Tätigkeit begünstigt. Es kann die Patienten aber auch in einer anregenden Beschäftigung übermannen. Sehr intensive geistige Anspannung oder körperliche Beschäftigung verzögern das Einschlafen, verhindern es oft aber nicht. Bei etwa 40% der Narkoleptiker tritt die Vigilanzstörung nicht als Schlafanfall, sondern als länger dauernder Zustand verminderter Vigilanz auf. Diese Patienten haben tagsüber länger dauernde Zustände verminderter Wachheit, für die Amnesie besteht. Manche Patienten klagen deshalb auch nur über Gedächtnislücken. Andere führen während dieser Zustände automatische Handlungen aus, die der Situation nur teilweise oder gar nicht angemessen sind. 4 Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom: Beim affektiven Tonusverlust (Kataplexie) erschlafft die Körpermuskulatur plötzlich für wenige Sekunden unter der Einwirkung einer überraschenden Gemütsbewegung, ohne dass sich das Bewusstsein dabei verändert. Der Tonusverlust kann auf die Kopfmuskulatur beschränkt sein, so dass sich nur flüchtig die Augenlider schließen, der Unterkiefer herabsinkt oder der Kopf nach vorn fällt. Bei stärkerer Ausprägung gehen die Kranken blitzartig in die Knie oder stürzen zu Boden. Die Eigenreflexe sind währenddessen erloschen. Nach längstens 2 min sind die Patienten sofort wieder imstande, sich zu erheben. Oft ist die auslösende Gemütsbewegung ein plötzliches Lachen (»Lachschlag«). Auch freudige Erregung oder Schreck bei überraschenden Begegnungen, selbst unerwartetes Anrufen, können die Kataplexie auslösen. Sie kann von außen nicht unterbrochen werden. Isolierte, kataplektische Anfälle können einer Narkolepsie jahrelang vorausgehen. Manche Patienten erleiden auch Wachanfälle (oder Schlaflähmungen), die dem sog. dissoziierten Erwachen oder Einschlafen sehr ähnlich sind, das der Gesunde gelegentlich erlebt. Das Bewusstsein ist dabei klar, oft übermäßig hell, aber die willkürliche Beweglichkeit ist für Minuten aufgehoben. Diese Wachanfälle stellen sich vor allem beim Einschlafen oder Erwachen ein. Sie können sich aber auch an den affektiven Tonusverlust anschließen. Durch passive Bewegung der Extremitäten oder starke Sinnesreize werden sie unterbrochen. Der Zustand entspricht dem Anfangsteil einer sleep-onset REM period (s.u.), in der ein hohes Vigilanzniveau mit starker motorischer Hemmung kombiniert ist. Während der Wachanfälle können hypnagoge Halluzinationen von ängstlicher Färbung auftreten.

Viele Patienten leiden unter einer schweren Störung der normalen Schlafperiodik: Sie schlafen besonders im ersten Teil der Nacht flach und unruhig und werden von Träumen oder traumartigen Erlebnissen (hypnagoge Halluzinationen) im halbwachen Zustand geplagt, in denen Verfolgung, Bluttaten, aber auch bedrohliche Tiere eine beängstigende Rolle spielen. Psychisch sind Erwachsene oft durch Antriebsarmut und affektive Indifferenz auffällig, Jugendliche durch enthemmtes Verhalten mit Streunen, Diebstählen, Promiskuität, sehr viel seltener Aggressivität. > Narkolepsie-Syndrom: imperativer Schlafdrang am

Tag, »zerhackter« Nachtschlaf, affektiver Tonusverlust, Wachanfälle zur Nacht. Kataplexie: plötzlicher, affektiver Tonusverlust mit Hinstürzen. Narkolepsiepatienten dürfen, wie Epileptiker, nicht Autofahren.

3Diagnostik. Der neuroradiologische Befund ist, außer bei den seltenen symptomatischen Fällen, immer normal. Bei 80% der Narkolepsiekranken ist HLA DR 2 positiv. 4 EEG: Narkoleptiker haben insgesamt einen polyzyklischen, gleichsam zerhackten Schlaf mit seltenen und kurzen D- und EStadien, ähnlich wie Neugeborene und Säuglinge. Die Gesamtschlafzeit und die REM-Zeit sind vermindert. Viele Narkoleptiker schlafen schon im Beginn der EEG-Ableitung ein, auch wenn sie ausgeruht sind. Während einer Ableitung von 15–30 min wiederholt sich das Einschlafen mehrmals. 4 EEG bei monosymptomatischer Narkolepsie: Schlafdauer und Zahl der REM-Phasen sind reduziert. Bei der Tages-EEGAbleitung sind häufige Vigilanzstörungen, viele kurze Schlafattacken mit Schlafstadien A und D, die nur einige Sekunden bis eine halbe Minuten andauern, zu beobachten. 4 EEG bei Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom: Der Schlaf ist insgesamt gestört, die Patienten wachen häufig auf, der Schlaf ist extrem unruhig mit häufigen kurzen Schlafzyklen. Diese Patienten haben fast alle frühe REM-Phasen wenige Minuten nach Einschlafen (sleep-onset REM periods: frühe, nicht erst nach Durchlaufen der Stadien B bis E oder D auftretende REM-Phasen). Während des kataplektischen Anfalls kann ein REM-EEG abgeleitet werden. 3Medikamentöse Therapie 4 Modafinil (Vigil®) Dosierung 100–400 mg/Tag ist in der Behandlung der Narkolepsie gut wirksam. 4 L-Dopa unterdrückt den Tiefschlaf und normalisiert die Sequenz der Schlafstadien, außerdem unterdrückt es ebenfalls den REM-Schlaf. Es wirkt günstig auf die Schlafanfälle. Wenn nur Vigilanzstörungen oder seltene narkoleptische Attacken berichtet werden, gibt man zuerst L-Dopa (z.B. 3- bis 6-mal Madopar 125 mg/Tag). Der selektive MAO-B-Hemmstoff Selegilin, der aus der Parkinson-Therapie stammt, reduziert sowohl Zahl und Dauer narkoleptischer Attacken als auch die Zahl kataplektischer Stürze deutlich.

395 15.2 · Schlafstörungen

4 Analeptika hemmen ebenfalls den synchronisierten Schlaf

und unterdrücken die Schlafanfälle. Ephedrin (3-mal 25 mg/ Tag), Methylphenidat (z.B. Ritalin), Amphetamin (2- bis 3-mal 10 mg/Tag) und Phenmetrazin (z.B. Preludin, 3-mal 25 mg/Tag) werden verordnet. Die Suchtgefahr ist bei Narkolepsiepatienten nicht hoch. Auf die Tagesmüdigkeit soll auch Koffein wirken. Manche Autoren empfehlen auch den liquorgängigen Betablocker Propranolol (z.B. Dociton) in Dosen von 20–180 mg am Vormittag. 4 Imipramin oder Clomipramin (z.B. 3- bis 4-mal 25 mg/Tag Tofranil oder Anafranil) hemmen den paradoxen REM-Schlaf und unterbinden häufig die Kataplexie sowie die Wachanfälle/ Schlaflähmungen und die hypnagogen Halluzinationen. Sie sind aber ohne Wirkung auf die Schlafanfälle. In leichten Fällen mit seltenen Anfällen sind bei der guten Prognose lediglich Aufklärung und Beratung erforderlich. Ein regelmäßiger Mittagsschlaf kann hilfreich sein, Alkohol und sedierende Medikamente sollten in jedem Fall vermieden werden. 3Differentialdiagnose 4 Die Narkolepsie muss von der länger dauernden, nicht anfallsartig auftretenden Hypersomnie abgegrenzt werden, die sich bei Tumoren, Enzephalitis, nach traumatischer Schädigung des Hirnstamms und bei der Polioencephalopathia superior haemorrhagica (Wernicke) einstellt. 4 Kleine-Levin-Syndrom: periodenweise Schlafsucht für die Dauer von Tagen sowie gesteigertes Essbedürfnis bei jungen Männern. Während dieser Perioden sind die Patienten erweckbar, schlafen aber rasch wieder ein. 4 Eine Verwechslung mit Absencen oder psychomotorischen Anfällen ist bei genauer Anamnese oder Beobachtung nur bei den protrahierten Vigilanzstörungen mit automatischem Verhalten möglich. Diagnose über EEG. 4 Die paroxysmale hypo- und hyperkaliämische Lähmung (7 Kap. 34) setzt zwar auch oft in der Nacht ein und führt zur Unbeweglichkeit bei erhaltenem Bewusstsein. Der zeitliche Ablauf wird aber eine Abgrenzung gegen Wachanfälle immer gestatten. 4 Psychogene Anfälle dauern wesentlich länger und sind nicht an heitere Gemütsbewegungen gebunden. 15.2.2 Schlafapnoesyndrom 3Definition. Die Schlafapnoe wird auch als »obstruktives Schlafapnoesyndrom« bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch apnoische Schlafphasen, Schlafstörungen und sekundäre Folgeerkrankungen. Als Schlafapnoephasen werden Atemstillstände von mindestens 10 s definiert, die 10-mal oder häufiger pro Stunde Schlafzeit auftreten. Starke Schnarcher sind gefährdet. Interessant ist, dass man durch Veränderung der Schwellenwerte in der Definition die Prävalenz der Krankheit steigern kann. Dies ge-

15

schieht im Falle der Schlafapnoe gezielt. Seltene Unregelmäßigkeiten der Atmung im Schlaf sind physiologisch, können aber so zur Krankheit hochstilisiert werden. Die o.a. Frequenzen und Dauer der Apnoephasen sind allerdings unstrittig. 3Epidemiologie. Die Prävalenzschätzungen sind mit 1–2% bei Frauen und 2–4% bei Männern, jeweils im mittleren bis höheren Lebensalter, sehr hoch. 3Symptome. Die Kardinalsymptome sind: 4 Periodisch auftretende apnoische Pausen von 10–40 s Dauer während des Nachtschlafs. Sie sind von Zyanose und Bradykardie, auch von myoklonischen Zuckungen begleitet und werden jeweils von einigen unregelmäßigen, tiefen, schnarchenden Atemzügen unterbrochen. Das EEG zeigt einen periodischen Wechsel von mittlerer Schlaftiefe und Aktivierung, die auf einem CO2-Arousal-Mechanismus beruht. Der Weckeffekt des CO2 verhindert auch das Auftreten von Tiefschlafstadien. 4 Deutliches Übergewicht (in Kombination mit wiederholtem, kurzdauerndem Einschlafen über Tag, früher Pickwick-Syndrom genannt). 4 Häufige, kurze Schlafepisoden von 10–20 s Dauer bei gleichzeitiger apnoischer Pause. Sie treten bevorzugt bei körperlicher Ruhe auf. Während dieser Zustände ist das EEG abgeflacht und verlangsamt. Im EMG der Interkostalmuskulatur setzen die Aktionspotentiale aus. Röntgenkinematographisch hat man eine Atonie der Mundbodenmuskulatur und einen Pharynxkollaps mit frustranen Atembewegungen festgestellt. 4 Minderbelüftung des Alveolarraumes mit Hypoxie, Hyperkapnie und kompensatorischer Polyglobulie, Cor pulmonale mit konsekutiver Rechtsherzinsuffizienz. 4 Im Spätstadium entwickelt sich eine Enzephalopathie mit psychoorganischer Veränderung. Diese soll die Folge der häufigen, zerebralen Hypoxien sein. Nächtliche, lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen sind häufig. Die Inzidenz von Herzinfarkt und Schlaganfall ist bei den Patienten hoch. Fakultative Symptome sind morgendliche Abgeschlagenheit, Konzentrations- und Gedächtnisstörung, Depression und Libidoverlust. 3Pathophysiologie. Das Syndrom beruht auf einer koordinierten Störung der Regulation von Schlaf-Wach-Rhythmus und Atmung. Die physiologische Reduktion des Atemantriebs im Schlaf ist verstärkt. Es kommt entweder zum peripheren Kollaps der Strukturen der oberen Luftwege oder zur zentralen Fehlsteuerung des Atemablaufs. Häufig sind beide Mechanismen miteinander vermischt. Eine verminderte CO2-Empfindlichkeit der Atemzentren liegt nicht vor. Die mechanische Behinderung der Atmung durch die Fettsucht spielt eine gewisse, aber nicht die entscheidende Rolle, wie man unter anderem daran sehen kann, dass während der apnoischen Pausen die Atemmuskulatur nicht verstärkt ar-

396

Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

beitet, sondern atonisch wird. Prädisponierend für die Schlafapnoe sind primäre Verengung des pharyngealen Raums und genetische Faktoren. Alkohol und Sedativa verstärken das Syndrom.

Bei Narkolepsie findet man keine Fettsucht, Zyanose oder Atemstörung. Schlafapnoepatienten haben auch nicht die Veränderungen im Schlaf-EEG, die für Narkolepsie charakteristisch sind.

3Diagnostik. Die polygraphische Untersuchung im Schlaflabor umfasst mehrere EEG-Ableitungen (mit deren Hilfe Schlafdauer und Schlafstadien sowie der Anteil von Traumphasen erfasst werden), das Elektrookulogramm, mehrere EMG-Kanäle (je nach Fragestellung Gesichtsmuskeln, Atemmuskulatur, Extremitätenmuskulatur), das EKG, mehrere Kanäle mit Atemfunktion (nasaler Luftstrom, Atemexkursionen) und Oximetrie. Nicht selten werden die Untersuchungen über eine Nacht und einen Tag durchgeführt, um auch Phasen vermehrten Schlafes im Tagesverlauf zu erkennen. In den meisten Fällen wird der Patient während der Aufzeichnung mit Video überwacht. . Abbildung 15.1 gibt eine Teilanalyse einer solchen polygraphischen Ableitung bei Schlafapnoe wieder.

pausen im Schlaf, beendigt durch tiefes Schnarchen. Hypoxie, kompensatorische Polyglobulie, Hyperkapnie.

3Therapie. Zur Behandlung werden empfohlen: 4 Reglementierung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Gewichtsabnahme, Verzicht auf alkoholische Getränke. 4 Vermeidung von Betablockern, medikamentöse Behandlung der Hypertonie und der Herzrhythmusstörungen, Theophyllin (bis 750 mg/Tag). 4 In schweren Fällen Intubation und lebenslange nasale CPAPBeatmung während der Nacht. 3Differentialdiagnose. Zur Unterscheidung von Narkolepsie dienen folgende Kriterien: Schlafapnoekranke haben keine hypnagogen Halluzinationen und keinen affektiven Tonusverlust.

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. Abb. 15.1. Polygraphische Ableitung bei obstruktiver Schlafapnoe. Kanal 1 nasaler Luftfluss; Kanal 2 Thoraxexkursionen; Kanal 3 Abdomenexkursionen, untere Kurve Sauerstoffsättigung in Prozent. Während nasal kein Luftfluss gemessen werden kann, kommt es zu frustranen Thoraxexkursionen. Erst bei Abfall der Sauerstoffsättigung setzen nach Weckreaktionen des Patienten wieder verstärkte Abdomen- und Thoraxexkursionen mit einem nasalen Luftfluss ein. (R. Bieniek, Bonn)

> Schlafapnoe: Übergewicht, Tagesschläfrigkeit, Atem-

15.3

Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA)

3Definition und Epidemiologie. Die transiente globale Amnesie (TGA) ist durch eine akut einsetzende Störung aller Gedächtnisinhalte (visuell, taktil, verbal) für einen Zeitraum von 1 bis maximal 24 h, bei im Mittel 6–8 h gekennzeichnet. Während der Attacke ist die Behaltensspanne für neue Informationen auf 30–180 s reduziert (anterograde Amnesie), d.h., die Patienten sind nicht in der Lage, neue Gedächtnisinhalte zu speichern. Sie sind deshalb zu Zeit und Situation häufig nicht, zur Person jedoch immer orientiert. Die Inzidenz der TGA, die bei Männern und Frauen ungefähr gleich häufig auftritt, beträgt 5–10/100.000 Einwohner/Jahr, 75% der Attacken ereignen sich zwischen dem 50–70. Lebensjahr, nur wenige Fälle treten vor dem 40. Lebensjahr auf. 3Pathophysiologie. Die Ursache der transienten globalen Amnesie ist unbekannt. Aufgrund des klinischen Bildes wird von einer passageren Funktionsstörung mediobasaler Temporallappenanteile unter Einschluss der beiden Hippocampi ausgegangen, da diese Strukturen sowohl in die Gedächtniskonsolidierung

397 15.3 · Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA)

15

als auch den Abruf von Gedächtnisinhalten involviert sind. Man hatte die Episoden früher auf Durchblutungsstörungen im basalen Temporallappen zurückgeführt. Diese Hypothese wurde aber durch die Anatomie der zerebralen Blutversorgung nicht gestützt. Auch hat eine sehr gründliche Fall-Kontroll-Studie keine Beziehung zu ischämischen Ereignissen des Gehirns aufgezeigt. Die Patienten weisen auch keine vaskulären Risikofaktoren auf. Einige wenige Patienten bekommen später epileptische Anfälle. Für die Mehrzahl ist eine Beziehung zur Migräne theoretisch und empirisch gut zu begründen, obwohl die amnestischen Episoden viel seltener rezidivieren. Interessanterweise weisen 12–30% der TGA-Patienten eine positive Migräneanamnese auf. Bei ca. 10% der TGA-Patienten kommt es während oder unmittelbar nach der Attacke zu Kopfschmerzen.

vorausgehenden Stunden und Tage nicht oder nur unvollständig rekonstruieren können. Es besteht keine Vigilanzminderung, die Patienten sind bewusstseinsklar und kontaktfähig. Obwohl sie nicht in der Lage sind, die Gedächtnisstörung wahrzunehmen, können sie komplexe Tätigkeiten wie z.B. PKW-Lenken in bekannter Umgebung, Kochen oder Kartenspielen auszuführen. Die amnestischen Episoden bilden sich nach Stunden, längstens 1–2 Tagen wieder zurück und können rezidivieren. Sie hinterlassen eine Amnesie für die Dauer des krankhaften Zustands. Klinische Symptome, die über die Gedächtnisstörung und leichte vegetative Beschwerden hinausgehen, d.h. Somnolenz, starke Kopfschmerzen, Erbrechen, Verwirrtheit, neurologische Herdsymptome oder eine inkomplette Rückbildung nach mehr als 24 h sprechen gegen eine TGA.

3Symptome. Die Patienten zeigen in der 2. Lebenshälfte plötzlich eine Störung der Merkfähigkeit und eine Tage bis Wochen zurückreichende retrograde Amnesie. Dabei sind sie wach, auffällig ratlos, fragen ständig, was denn los sei, können sich aber die Antwort nicht merken Parallel dazu ist auch der Zugriff auf alte, vor der TGA erworbene Gedächtnisinhalten (retrograde Amnesie) gestört. Dies betrifft vor allem Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, z.B. Reisen. Die retrograde Amnesie führt auch zu Desorientiertheit, da die Betroffenen die Ereignisse der

3Diagnostik. Bei eindeutiger klinischer Symptomatik ist keine apparative Diagnostik erforderlich. Wenn CT, MRT oder EEG durchgeführt werden, findet man keine richtungsweisenden oder unspezifische Befunde. Neuropsychologisch lassen sich allerdings bei vielen Patienten nach klinischer Rückbildung der Symptome noch Störungen im nonverbalen Gedächtnis finden. Eine Therapie ist nicht erforderlich. Rezidive kommen vor, verlaufen aber ebenso benigne.

In Kürze Synkopen Kurzfristige, anfallsartige Bewusstlosigkeit mit vegetativen Erscheinungen wie Schwindel, Schweißausbruch, Harndrang, Herzjagen, Zittern. Ursache: Extrazerebrale Funktionsstörung bewirkt Mangeldurchblutung oder Substratmangel im Gehirn. Vegetative und kardiale Synkopen. Adams-Stokes-Anfälle durch Versagen der hämodynamisch wirksamen Förderleistung des Herzens. Symptome: Schwindel, Verkrampfung der Extremitäten, weite, lichtstarre Pupillen. Internistische Therapie, evtl. Schrittmacher. Vasovagale Synkopen durch Imbalance zwischen Parasympathikus und Sympathikus bei geistig-seelischer oder orthostastischer Belastung, Sauerstoffmangel. Symptome: Schwindel, Blässe, Bewusstseinstörung bis zur Bewusstlosigkeit. Diagnostik: EEG; keine Therapie erforderlich. Differentialdiagnose: Epileptische Anfälle. Reflexsynkopen. Hustensynkopen durch Hustenstöße, heftiges Lachen. Zentraler Venendruck bewirkt Erhöhung des intrathorakalen Drucks, dadurch Verminderung des venösen

6

Zustroms zum Herzen, Absinken der Herzförderleistung und Hirndurchblutung. Symptome: Sekundenlanger Tonusverlust der Körpermuskulatur mit Blässen und Schwitzen. Therapie: Atem-, medikamentöse Therapie. Schlucksynkopen. Durch vagovagale Reflexe bei Krankheiten des Ösophagus und Herzmuskels. Therapie: Medikamentöse Therapie. Miktionssynkopen. Ursache: Vagotone Weitstellung der Gefäßperipherie, verminderter venöser Rückstrom im Stehen und parasympathische Aktivität bei Miktion mit vorübergehender, zerebraler Ischämie bei Männern. Symptome: Plötzlich eintretender, kurz dauernder Bewusstseinsverlust während der Miktion im Stehen, blasse Hautfarbe, bradykarder, weicher Puls. Synkopen bei neurologischen Krankheiten. Hirnstammkrankheiten, medikamentöse Behandlung neurologischer Krankheiten, (Multi-)Systematrophien, Stoffwechselstörungen. Andere Ursachen von Synkopen. Hypoglykämische Anfälle durch Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens, M. Addison,

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Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

Inselzelladenome des Pankreas, Insulinüberdosierung. Symptome: Paroxysmale, vegetative Störungen, neurologisch-psychiatrische Symptome. Sympathikotone Krisen durch Adrenalin- und Noradrenalinausschüttung beim Phäochromozytom. Symptome: Blässe, Pulsbeschleunigung, Kopfschmerzen, Engegefühl. Flush-Syndrom durch plötzliche, flüchtige Serotoninausschüttung ins Blut beim metastasierenden Dünndarmkarzinoid. Symptome: Gesichts-, Halsröte, brennende Schmerzen, Durchfälle. Psychogene Anfälle durch affektiv belastende Situationen. Symptome: Weinen, sexuelle Szenen.

Schlafstörungen Störungen des Ein- und Durchschlafens, des Schlaf-WachRhythmus, vermehrte Schlafneigung. Narkolepsie und Kataplexie. Symptome: Imperative Schlafanfälle am Tag, affektiver Tonusverlust, Wachanfälle in der Nacht bei monosymptomatischer Narkolepsie; plötzlicher, affektiver Tonusverlust mit Hinstürzen bei Kataplexie. Diagnostik: EEG: Reduzierte Schlafdauer und Zahl der REM-Phasen

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bei monosymptomatischer Narkolepsie; gestörter, unruhiger Schlaf bei Kataplexie. Medikamentöse Therapie. Differentialdiagnose: Länger dauernde, nicht anfallsartig auftretende Hypersomnie, Kleine-Levin-Syndrom, Absencen oder psychomotorische Anfälle, psychogene Anfälle, paroxysmale hypo- und hyperkaliämische Lähmung. Schlafapnoesyndrom. Koordinierte Störung der Regulation von Schlaf-Wach-Rhythmus und Atmung mit Atemstillstände von mind. 10s, >10-mal/h Schlafzeit. Symptome: Hyperkapnie, Hypoxie, Übergewicht, Tagesschläfrigkeit, Konzentrationsstörungen, Depression, Libidoverlust. Diagnostik: EEG im Schlaflabor. Therapie: Reglementierung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Gewichtsabnahme, medikamentöse Therapie der Hypertonie und Herzrhythmusstörungen, u.U. Intubation, lebenslange nächtliche nasale CPAP-Beatmung. Differentialdiagnose: Narkolepsie.

Transiente globale Amnesie (TGA) Akut einsetzende Störung aller Gedächtnisinhalte (visuell, taktil, verbal) für 1–24 h. Symptome: Störung der Merkfähigkeit, retrograde Amnesie, Desorientiertheit, klares Bewusstsein, kontaktfähig. Apparative Diagnostik und Therapie nicht erforderlich, da benigner Verlauf mit klinischer Rückbildung der Symptome.

16 16 Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien 16.1 Migräne – 400 16.1.1 Migräne ohne Aura – 400 16.1.2 Migräne mit Aura – 400 16.1.3 Amnestische Episoden – 404

16.2 Trigeminoautonome Kopfschmerzen – 405 16.2.1 Cluster-Kopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz) – 405 16.2.2 Chronische paroxysmale Hemikranie – 405 16.2.3 SUNCT-Syndrom – 406

16.3 Spannungskopfschmerzen – 406 16.3.1 Episodischer Spannungskopfschmerz – 406 16.3.2 Chronischer Spannungskopfschmerz – 406

16.4 Andere Kopfschmerzformen – 407 16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4

Glaukomanfall – 407 Zervikogener Kopfschmerz (»Migraine cervicale«) – 407 Chronischer, medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz – 407 Posttraumatischer Kopfschmerz – 407

16.5 Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien – 408 16.5.1 Klassische Trigeminusneuralgie – 408 16.5.2 Symptomatische Trigeminusneuralgie – 411 16.5.3 Glossopharyngeusneuralgie – 412

16.6 Andere Gesichtsschmerzen – 412 16.6.1 16.6.2 16.6.3 16.6.4

Atypischer Gesichtsschmerz – 412 Zoster ophthalmicus – 412 Glossodynie – 412 Läsion des Nervus lingualis – 412

16.7 Arteriitis cranialis (Arteriitis temporalis) – 412 16.8 Karotidodynie – 413

400

Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

> > Einleitung Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten krank machenden Symptomen. Sie werden wahrscheinlich nur noch von Rückenschmerzen übertroffen. Es ist daher nicht ungewöhnlich, hin und wieder Kopfschmerzen zu haben. In diesem Kapitel sprechen wir nicht von diesen »normalen« Kopfschmerzen, sondern von rezidivierenden Kopfschmerzen, die als Krankheiten zu verstehen sind. Andere Schmerzsyndrome sind bestimmten Nerven zuzuordnen und werden deshalb als Neuralgien oder Neuropathien bezeichnet. Den ihnen zugrunde liegenden Scherzcharakter nennt man »neuropathischen Schmerz. Die wichtigsten, auf die Hirnnerven bezogenen Neuralgien, die Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien werden ebenfalls in diesem Kapitel besprochen. ä Der Fall Petra ist ein normales, 14-jähriges Mädchen, das in der Schule gut mitkommt, Sport treibt und mit vielen Freundinnen und Freunden gleiche Interessen teilt. Sie ist ganz zufrieden, bis sie in die Pubertät kommt. Es ist nicht die Pubertät, die sie stört, sondern die Tatsache, dass sie seit einigen Monaten – ganz genau kann sie nicht sagen, seit wann – unter Attacken von heftigsten, halbseitigen Kopfschmerzen leidet, die meist von einem Flimmern auf einem Auge sowie von massiver Übelkeit und Brechreiz begleitet sind. Wenn diese Kopfschmerzattacken kommen – sie sind meist nur auf eine Kopfhälfte, häufig links, beschränkt –, dann ist sie für einen halben Tag oder länger »außer Gefecht gesetzt«. Zum Neurologen kommt sie in Begleitung ihrer Mutter, die berichtet, dass sie selbst seit etwa ihrem 18. Lebensjahr unter ähnlichen Kopfschmerzen leide und dass auch der Großvater solche Beschwerden hatte. Zweifellos hat unsere Patientin die Neigung zur Migräne vom Großvater mütterlicherseits und der Mutter übernommen. Dass eine Migräne sich in der Pubertät manifestiert, ist nicht selten. Es gibt heute gute Möglichkeiten für die Akutbehandlung des Migräneanfalls und auch für die Prophylaxe der Migräne, so dass eine normale Lebensführung möglich ist, auch wenn unsere Patientin von ihrer Migräne nicht endgültig befreit werden kann.

16

16.1

Migräne

3Definition. Bei der Migräne kommt es attackenweise zu heftigen, periodisch auftretenden, häufig einseitigen pulsierend-pochenden Kopfschmerzen, die bei körperlicher Betätigung an Intensität zunehmen. Der Kopfschmerz ist von typischen vegetativen Störungen wie Appetitlosigkeit (fast immer), Übelkeit (80%), Erbrechen (40–50%), Lichtscheu (60%) und Lärmempfindlichkeit (50%) sowie Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen (10%) begleitet; bei manchen Patienten treten auch vorübergehende neurologische Reiz- und Ausfallsymptome (Aura) auf. Die Dauer der Attacken beträgt nach der Definition der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft zwischen 4 und 72 Stunden. In

der Klassifikation der Kopfschmerzen, die die Internationale Kopfschmerzgesellschaft erarbeitet hat, ist die Migräne mit 17 Untergruppen vertreten. Die wichtigsten davon werden hier nach den festgelegten operationalen Kriterien beschrieben. 3Epidemiologie. Migräne ist eine der häufigsten Kopfschmerzformen. Etwa 8% aller Männer, 15% aller Frauen und ca. 3–5% der Kinder (hier sind Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betroffen) leiden unter einer Migräne. Beginn der Migräne ist meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter mit einem Anfallsmaximum zwischen dem 3. und 5. Lebensjahrzehnt. Die höchste Inzidenz der Migräneattacken besteht zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr. In dieser Lebensphase sind Frauen dreimal häufiger betroffen als Männer. Migräne tritt oft familiär auf. Man nimmt eine genetische Komponente mit dominantem Erbgang bei variabler Penetranz an. Bei Frauen kann die Migräne eine feste Bindung an die Periode haben. Viele Patienten geben Faktoren an, die den einzelnen Schmerzanfall auslösen: Wetterwechsel, bestimmte Nahrungsmittel, z.B. Schokolade oder Käse; andere nennen Nahrungskarenz oder alkoholische Getränke, wieder andere Aufenthalt in schlecht gelüfteten Räumen oder in großer Höhe. Psychische Belastung soll gelegentlich eine Rolle spielen, allerdings ist die psychische Belastbarkeit vor einem Migräneanfall oft vermindert, so dass Ursache und Wirkung verwechselt werden könnten. Degenerative HWS-Veränderungen spielen in der Pathophysiologie keine Rolle. 16.1.1 Migräne ohne Aura 3Symptomatik. Im Anfall kommt es zu pulsierenden, mäßigen bis starken Kopfschmerzen, die meist einseitig sind (Hemikranie), sich über Minuten bis wenige Stunden entwickeln und mehr als 72 Stunden andauern können. Die Schmerzen werden durch körperliche Aktivität verstärkt. Sie sind von Übelkeit, manchmal auch von Erbrechen und Überempfindlichkeit gegen Geräusche und helles Licht begleitet. Viele Patienten ziehen sich deshalb in ein abgedunkeltes Zimmer zurück. Für die Diagnose wird verlangt, dass mindestens 5 dieser Attacken aufgetreten sind und dass der neurologische Untersuchungsbefund normal ist. Apparative Zusatzuntersuchungen sind dann nicht nötig. Trotzdem kommen viele Migränepatienten schon mit den Befunden der bildgebenden Diagnostik (CT, MRT mit MRA) zum Neurologen. Leitet man ein EEG ab, so ist dieses häufig innerhalb der Variationsbreite des Normalen dysrhythmisch. 16.1.2 Migräne mit Aura 3Symptomatik. Über eine Zeit von 5–20 min entwickelt sich eine Vielzahl neurologischer Symptome, die auf die Großhirnhemisphären oder die Retina zu beziehen sind.

401 16.1 · Migrände

16

Exkurs Pathophysiologie der Migräne Kopfschmerzen. Nach heute gültiger Auffassung werden die Kopfschmerzen auf eine neurogen vermittelte, sterile, perivaskuläre Entzündung an den Piagefäßen zurückgeführt, die über Stimulation afferenter C-Fasern des N. trigeminus die Schmerzen auslöst. Es wird diskutiert, dass dem Migräneanfall ein kurzfristiger Ausfall von Zentren im Hirnstamm, die die Schmerzempfindung unterdrücken, zugrunde liegt. Der Kopfschmerz entsteht durch die Freisetzung von vasoaktiven Transmittern wie Serotonin, Histamin, Substanz P und CGRP (calcitonin gene-related protein). Zentral für die Freisetzung der Peptide sind offenbar spontane Entladungen im Trigeminuskerngebiet, über die die Innervierung der Gefäßwände der intra- und extrakraniellen Gefäße durch Freisetzung der o.g. Neuropeptide erfolgt. Die spontanen Entladungen sind auf eine genetisch determinierte Störung in einem Ionenkanal zurückzuführen. Die bei der Migräne wirksamen Medikamente hemmen die Freisetzung der Neuropeptide dadurch, dass sie an präsynaptische Rezeptoren (5HT1b/d) in der Gefäßwand binden (5-HT1B/1D-Agonisten). Der Vorgang wird als trigeminovaskulä-

rer Reflex bezeichnet. Diese Auffassung wird gestützt durch die Wirksamkeit von Serotoninagonisten, Substanzen also, die die 5-HT-Rezeptoren besetzen, so dass Neuropeptide vermindert freigesetzt werden. Aura. Für die Entstehung der Aura wird eine sich langsam über kortikale Strukturen ausbreitende Hemmung, (spreading depression, SD) angenommen. Mit einer Geschwindigkeit von wenigen Millimetern pro Sekunde wandert die SD über den Kortex und inaktiviert kurzfristig die Funktion der betroffenen Hirnareale. Dies führt zu den unten beschriebenen Aurasymptomen, die oft eine Sequenz von hintereinander auftretenden und wieder verschwindenden Symptomen aufweisen, die der Ausbreitung der SD entsprechen. Diese Verminderung der neuronalen Aktivität führt zur Abnahme der Durchblutung in den entsprechenden Regionen, die also Folge und nicht Ursache der kortikalen Funktionsstörungen ist. Die SD kannte man bis vor kurzen nur aus Tierexperimenten. Erst in den letzten Jahren wurde die Existenz der SD auch beim Menschen mit funktionellen Methoden (PET) bewiesen.

Facharzt

Sonderformen der Migräne Bei der Basilarismigräne beziehen sich die Aurasymptome auf eine Funktionsstörung im Hirnstamm: dysarthrische Sprechstörung, Doppeltsehen, Ohrgeräusche, Hörminderung, vestibulärer Schwindel, beidseitige Missempfindungen in den Händen, Ataxie, beidseitige Paresen, selten Bewusstseinsstörungen. Familiäre hemiplegische Migräne. Diese seltene dominant vererbliche Form der Migräne tritt mit dramatischen, zum Teil lange anhaltenden neurologischen Symptomen (Hemiplegie!) auf, die von einem schweren Schlaganfall nicht zu unterscheiden sind. Manche Patienten werden bewusstlos und müssen auf der Intensivstation behandelt werden, und es gibt seltene Varianten, bei denen diese Patienten nach harmlosen Schädel-

traumen komatös werden und im unkontrollierten Hirndruck versterben. Die hemiplegische Migräne löst sich ansonsten nach einigen Tagen folgenlos wieder auf. Ischämische Läsionen sind möglich, aber extrem selten. Die hemiplegische Migräne ist von wissenschaftlichem Interesse, da über sie die genetische Ursache der Migräne klarer wird. Sie entsteht durch eine Mutation in den Chromosomen 1 und 19, in einer Region, die für einen Ca2+-Ionenkanal kodiert, In der Nähe ist auch der Genlokus für die episodische Ataxie, die ebenfalls auf einen Ionenkanaldefekt zurückzuführen ist. Schließlich erklärt der Genlokus auch die Beziehung zu CADASIL (7 Kap. 15), bei der es oft zu einem Auftreten von Migräne kommt.

Hierzu zählen:

> Die Kardinalsymptome der Migräne sind Kopfschmer-

4 Augenflimmern, wandernde, binokulare Skotome mit flim-

merndem und gezacktem Rand (Flimmerskotome), 4 homonyme Hemianopsie, 4 Aphasie, besonders Wortfindungsstörungen, 4 vorübergehende Halbseitenlähmung und 4 halbseitige Parästhesien in den Extremitäten (7 Kap. 14.2). Diese Symptome dauern bis zu einer Stunde an. Danach schließt sich mit einem variablen, freien Intervall die oben beschriebene Kopfschmerz- und vegetative Symptomatik an. Der neurologische Befund ist nach Abklingen des Anfalls normal. Bei bekannter Migräne sind bildgebende Verfahren nicht indiziert.

zen und vegetative Funktionsstörungen. Migräne kommt familiär gehäuft vor. Sie ist eine häufige, oft verkannte, meist lebensbegleitende, in der Regel gutartige Funktionsstörung.

3Komplikationen 4 komplizierte Migräne: länger als 1 Woche persistierende Aurasymptome, aber kein Nachweis einer ischämischen Läsion; 4 Status migraenosus: Trotz Behandlung dauern die Kopfschmerzen länger als 72 Stunden an, oder sie wiederholen sich nach Pausen von weniger als 4 Stunden mehrmals. Therapie wie bei schwerer Migräne (7 u.);

402

Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Exkurs 5-HT1B/1D-Agonisten (Triptane) Es gibt inzwischen eine Vielzahl von 5-HT1B/1D-Agonisten. Sie sind im Vergleich zu Ergotaminen und Aspisol sehr teuer. Sumatriptan (Imigran®) war die erste Substanz auf dem Markt, und zwar zunächst als subkutane Form (Imigran® s.c. 6 mg: besonders schneller Wirkeintritt innerhalb von 10 min). Verschiedene Triptane können auch per os, als Suppositorien (Imigran Supp® 25 mg), sublingual (Zolmitriptan (Ascotop®) Schmelztablette, Rizatriptan (Maxalt lingua®) 5 oder 10 mg) oder als Nasenspray (Imigran nasal® 10 oder 20 mg) verabreicht werden. Außer in der s.c.- Darreichungsform ist der Wirkeintritt der verschiedenen Triptane relativ langsam. Sumatriptan, Zolmitriptan und Almotriptan brauchen etwa 90 min, bis die Attacke unterbrochen ist. Etwas schneller, d.h. weniger als eine Stunde bis zum Wirkeintritt, sind die oralen Triptane Eletriptan

4 migränöser Infarkt: Bei jüngeren Frauen mit bekannter Mig-

räne mit Aura bilden sich die Aurasymptome manchmal nicht innerhalb von 7 Tagen völlig zurück. Mit bildgebenden Verfahren stellt sich dann ein Territorialinfarkt dar. Definierte Ursachen für einen Hirninfarkt sind nicht erkennbar. Diese Komplikation ist selten. Migränepatientinnen haben ein um das Dreifache erhöhtes Schlaganfallrisiko, besonders bei Übergewicht, Kontrazeptivaeinnahme und Nikotingebrauch.

16

3Therapie im Schmerzanfall. Die Behandlung orientiert sich an der Intensität des Kopfschmerzes. 4 Bei leichteren Schmerzanfällen mit vegetativen Reizsymptomen werden Analgetika mit Antiemetika kombiniert. 4 Metoclopramid (10–20 mg oral oder 20 mg rektal) oder Domperidon (10 mg oral) werden empfohlen, gegen die Kopfschmerzen Acetylsalicylsäure (mindestens 1000 mg als Brausetablette zur besseren Resorption, nicht bei Gravidität!), Paracetamol 1 g als Brausegranulat oder mindestens 600 mg Ibuprofen, etwa 10–20 min nach den Antiemetika, was die Resorption im Darm fördert, der zunächst in der vegetativen Phase eine drastisch reduzierte Aktivität aufweist. Eine Übersicht über die Migränemedikamente gibt . Tabelle 16.1. 4 Bei schweren Schmerzanfällen werden Triptane eingesetzt, z.B. Sumatriptan (Imigran®), das als 5-HT1B/1D-Agonist die neurogene, perivaskuläre Entzündung hemmt (7 o.). Triptane haben auch eine deutliche antiemetische Wirkung sowie eine relativ kurze Halbwertzeit, so dass es nicht ungewöhnlich ist, dass bei einem lange andauernden Migräneanfall der Kopfschmerz wiederkehrt. Dies ist dann kein Versagen der Therapie, sondern die Migräne hat lediglich länger gedauert als die Wirkung des Triptans. Eine erneute Gabe des Triptans ist dann nötig. Alle Triptane haben eine vasokonstriktorische Wirkung. Sie sollen nicht in der Aura, sondern erst beim Kopfschmerz gegeben werden. Sie sind kontraindiziert bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit und bei Schwangerschaft.

(Relpax® 20 oder 40 mg) und Rizatriptan (Maxalt® 5 oder 10 mg). Sie sind in ihrer Wirksamkeit auch dem oralen Sumatriptan überlegen. Alle Triptane wirken aber umso besser, je früher sie bei einer Migräneattacke eingenommen werden (Burstein 2004; Dowson 2004). Um der Entwicklung eines medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes vorzubeugen, kann eine frühe Einnahme nur empfohlen werden, wenn die Attacken nicht zu häufig sind (10-mal pro Monat) kann selbst Dauerkopfschmerzen auslösen. Sie sind kontraindiziert in der Schwangerschaft.

3Intervallbehandlung. Siehe auch . Tabelle 16.2. 4 1. Wahl: Betarezeptorenblocker in hoher Dosis p.o., vor allem Propranolol (3-mal 20 bis 4-mal 40 mg/Tag) oder Metoprolol (100–200 mg/Tag), beide bei Asthma kontraindiziert; 4 2. Wahl: Flunarizin als Calciumantagonist und Dopa-Agonist (10–15 mg/Tag p.o.), kann allerdings zu extrapyramidalmotorischen Symptomen führen; 4 Valproinsäure in aufsteigender Dosierung (bis etwa 1200 mg/ Tag) ist ebenfalls prophylaktisch wirksam, obwohl die Zulassung in dieser Indikation bislang fehlt (off-label). Unkonventionelle Verfahren, z.B. Akupunktur, sollen in Einzelfällen nützlich sein. Entspannungsübungen können ergänzend verordnet werden. Wichtig ist eine konsequente Führung der Patienten: zuhören, fragen, untersuchen, erklären, beruhigen, behandeln, wieder erklären, den Patienten begleiten. 3Migränetherapie in der Schwangerschaft und Stillzeit. In der Schwangerschaft sind die Therapieoptionen eingeschränkt. 4 Als Mittel der ersten Wahl der Akuttherapie gilt Paracetamol 1 g p.o. oder als Suppositorium. 4 Der Einsatz von 1 g Acetylsalicylsäure (z.B. ASS-Brause) sollte lediglich als Alternative und nur im 2. Trimenon vorbehalten bleiben.

403 16.1 · Migrände

Tabelle 16.1. Therapie der akuten Migräneattacke mit 5-HT-Agonisten (Aus Diener 2005)

Substanzen

Dosis

Nebenwirkungen

Kontraindikationen

Sumatriptan (Imigran®, Imigran T®)

50–100 mg p.o.

Engegefühl im Bereich der Brust und des Halses, Parästhesien der Extremitäten, Kältegefühl

6 mg s.c. (Autoinjektor)

Lokalreaktion an der Injektionsstelle

Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Angina pectoris, Myokardinfarkt in der Vorgeschichte, M. Raynaud, arterielle Verschlusskrankheit der Beine, TIA oder Schlaganfall, Schwangerschaft, Stillzeit, Kinder, schwere Leber- oder Niereninsuffizienz, multiple vaskuläre Risikofaktoren

Zolmitriptan (AscoTop®)

2,5–5 mg p.o. 2,5–5 mg Schmelztablette 5 mg Nasenspray

wie Sumatriptan

wie Sumatriptan

Naratriptan (Naramig®)

2,5 mg p.o.

etwas geringer als Sumatriptan

wie Sumatriptan

Rizatriptan (Maxalt®)

10 mg p.o. oder als Schmelztablette

wie Sumatriptan

wie Sumatriptan, Dosis 5 mg bei Einnahme von Propranolol

Almotriptan (Almogran®)

12,5 mg p.o.

etwas geringer als Sumatriptan

wie Sumatriptan

Eletriptan (Relpax®)

20, 40 mg p.o.

wie Sumatriptan

wie Sumatriptan

Frovatriptan (Allegro®)

2,5 mg p.o.

etwas geringer als Sumatriptan

wie Sumatriptan

25 mg Supp. 10–20 mg Nasenspray

a

bei Unwirksamkeit von 40 mg können auch 80 mg Eletriptan gegeben werden.

Tabelle 16.2. Substanzen zur Migräneprophylaxe (Aus Diener 2005)

Substanzen

Dosis

Nebenwirkungen

Kontraindikationen

Metoprolol (Beloc-Zok®)

50–200 mg

H: Müdigkeit, arterielle Hypotonie, G: Schlafstörungen, Schwindel

A: AV-Block, Bradykardie, Herzinsuffizienz, SickSinus-Syndrom, Asthma bronchiale R: Diabetes mellitus, orthostatische Dysregulation, Depression

Propranolol (Dociton®)

40–240 mg

S: Hypoglykämie, Bronchospasmus, Bradykardie

Bisoprolol (Concor®)

5–10 mg

Magen-Darm-Beschwerden, Impotenz

Flunarizin (Sibelium, Natil N®)

5–10 mg

H: Müdigkeit, Gewichtszunahme G: gastrointestinale Beschwerden, Depression S: Hyperkinesen, Tremor, Parkinsonoid

A: fokale Dystonie, Schwangerschaft, Stillzeit, Depression R: M. Parkinson in der Familie

Valproinsäure (z.B. Ergenyl chrono®) off-label use

500–600 mg

H: Müdigkeit, Schwindel, Tremor G: Hautausschlag, Haarausfall, Gewichtszunahme S: Leberfunktionsstörungen

A: Leberfunktionsstörungen, Schwangerschaft (Neuralrohrdefekte), Alkoholmissbrauch

Topiramat (Topamax®)

25–100 mg

H: Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Gewichtsabnahme, Parästhesien G: Geschmacksveränderungen, Psychosen S: Engwinkelglaukom

A: Niereninsuffizienz, Nierensteine, Engwinkelglaukom

Amitriptylin (z.B. Saroten®)

50–150 mg

H: Mundtrockenheit, Müdigkeit, Schw!indel, Schwitzen G: Blasenstörungen, innere Unruhe, Impotenz

A: Engwinkelglaukom, Prostataadenom mit Restharn

Nebenwirkungen gegliedert in H: häufig; G: gelegentlich; S: selten Kontraindikationen gegliedert in A: absolut, R: relativ

16

404

Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Leitlinien Therapie der Migräne* 4 Die 5-HT1B/1D-Agonisten (in alphabetischer Reihenfolge) Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan sind die Substanzen mit der besten Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken (A). 4 Ergotamin ist bei Migräne wirksam. Allerdings ist die Wirksamkeit in prospektiven Studien schlecht belegt (B). 4 Nichtopioidanalgetika und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sind bei der Behandlung der Migräne wirksam (A). 4 Die Wirksamkeit nichtmedikamentöser Verfahren wurde in kontrollierten Studien kaum untersucht (C) 4 Bei häufigen Migräneattacken sollte eine Migräneprophylaxe begonnen werden (A). 4 Migräneprophylaktika der ersten Wahl sind die Betablocker (A) Metoprolol und Propranolol, der Calciumantagonist

4 Bei therapierefraktären Situationen kann i.v. Methylpredni-

solon (allerdings nach Rücksprache mit dem Gynäkologen) verabreicht werden. 4 Triptane und Ergotamin sind in der Schwangerschaft nicht zugelassen.

16

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass für das erste Triptan, Sumatriptan, bereits direkt nach der Zulassung ein Schwangerschaftsregister eingerichtet wurde, in dem alle Fälle von Triptaneinnahme während der Schwangerschaft erfasst wurden. Eine Auswertung ergab, dass offensichtlich keinerlei bedenkliche Nebenwirkungen auftraten. Als Prophylaxe kann Magnesium in einer Dosierung von 2-mal 300 mg/Tag zum Einsatz kommen. In der Schwangerschaft ist auch eine Prophylaxe mit Metoprolol möglich. In der Stillzeit sollten Medikamente zum Einsatz kommen, die in der Muttermilch nicht oder nur in geringen Mengen nachzuweisen sind. Beim Einsatz von Betablockern sei an die Milchgängigkeit gedacht, die bei Säuglingen zu ausgeprägten Bradykardien führen kann. Bewährt hat sich hierbei Valproinsäure als Prophylaxe. 3Migräneprophylaxe. Eine medikamentöse Migräneprophylaxe sollte eingeleitet werden, wenn 4 3 oder mehr Migräneattacken/Monat auftreten, 4 die Migräneattacken regelmäßig länger als 3 Tage anhalten, 4 die Attacken nicht regelmäßig oder nicht ausreichend auf die Standardtherapie ansprechen, 4 eine komplizierte Migräne mit langanhaltender Aura auftritt. Durch die Prophylaxe sollen Attackenfrequenz und -schwere reduziert werden. Frequenz, Schwere und Medikamentenver-

Flunarizin (A) sowie die Antikonvulsiva Valproinsäure (A) und Topiramat (A). 4 Migräneprophylaktika der zweiten Wahl sind Acetylsalicyclsäure (C) und Amitriptylin (B). 4 Die medikamentöse Therapie sollte durch nichtmedikamentöse Verfahren der Verhaltenstherapie (A) und durch Ausdauersport (B) ergänzt werden. 4 Patienten mit einer episodischen oder mit einer hochfrequenten Migräne (≥3 Attacken/Monat) können alternativ einer psychologischen Therapie zugeführt werden (A). * Leitlinien der DGN 2005

brauch müssen in einem Kopfschmerztagebuch über mehrere Monate dokumentiert sein. Folgende therapeutische Möglichkeiten bestehen: 4 Betablocker sind gesichert wirksam. Am besten untersucht sind die nichtselektiven Betablocker Propranolol und Metoprolol, die in der Regel bis auf 200 mg/Tag aufdosiert werden müssen (Nebenwirkungen: Müdigkeit, Hypotonie, Schwindel). 4 Der Calciumantagonist Flunarizin ist in Dosierungen von 5–10 mg/Tag wirksam (Nebenwirkungen: Müdigkeit, Gewichtszunahme, Parkinsonoid). 4 Die Antikonvulsiva Valproat (600–800 mg/Tag) und Topiramat (25–100 mg/Tag) senken ebenfalls Anfallsfrequenz und -schwere (Nebenwirkungen 7 Kap. 14.5.3). 4 Aspirin in niedriger Dosierung hat eine leicht prophylaktische Wirkung. 4 Amitriptylin, ein trizyklisches Antidepressivum (Dosis 50150 mg/Tag; Nebenwirkungen: Müdigkeit, Mundtrockenheit) wirkt vor allem, wenn neben der Migräne noch ein Spannungskopfschmerz besteht. Bei zyklusgebundener Migräne können perimenstruell Ibuprofen (400–600 mg/Tag) oder Naproxen (2 × 250 mg/Tag) eingesetzt werden. 16.1.3 Amnestische Episoden In jüngerer Zeit werden amnestische Episoden (transient global amnesia, TGA) mehrheitlich der Migräne zugerechnet. Allerdings fehlt bei ihnen das Symptom Kopfschmerz. Dieses Syndrom wurde in Kapitel 15 besprochen.

405 16.2 · Trigeminoautonome Kopfschmerzen

16.2

Trigeminoautonome Kopfschmerzen

16.2.1 Cluster-Kopfschmerz

(Bing-Horton-Kopfschmerz) 3Definition. Der Cluster-Kopfschmerz ist ein anfallsartig auftretender, streng einseitiger Kopfschmerz, der mit vegetativen Symptomen wie Nasenlaufen, konjunktivaler Injektion eines Auges oder Tränenfluss verbunden ist. Er wird seit wenigen Jahren zusammen mit der episodischen oder chronischen Hemikranie und dem SUNCT Syndrom (short-lasting unilateral neuralgiform headache with conjuctival injection and tearing) in der Diagnosegruppe der trigeminoautonomen Kopfschmerzen zusammengefasst. Alle 3 Formen haben die unilateralen Kopfschmerzattacken und die autonomen Begleiterscheinungen gemeinsam. Wir besprechen hier nur den Cluster-Kopfschmerz ausführlich. 3Epidemiologie. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 20 und 40 Jahren. Die Prävalenz wird auf 1:1000 geschätzt. Männer überwiegen gegenüber Frauen im Verhältnis 5 bis 8:1. Die Kopfschmerzen treten bevorzugt im Frühjahr und im Herbst auf, dann für mehrere Wochen bis Monate (Cluster). Selten ist ein chronischer (Cluster-)Kopfschmerz, bei dem es keine freien Intervalle mehr gibt. Familiäre Häufung zeigt eine gewisse genetische Komponente an, die aber weit geringer ist als bei Migräne. Etwa 40% der Betroffenen geben Alkoholkonsum als Auslöser an, andere nennen Sauerstoffmangel oder Flackerlicht. Nitroglyzerin und Histamin lösen die Attacken regelmäßig aus. 3Symptome. Der streng einseitige, seitenkonstante Kopfschmerz tritt akut oder subakut auf. Er wird von den Patienten als bohrend oder brennend, in jedem Fall als unerträglich heftig beschrieben wird, so »als würde das Auge aus dem Kopf herausgedrückt« oder »als müsse man mit dem Kopf gegen die Wand schlagen«. Die Schmerzen sind in der Augenhöhle, hinter dem Auge und/oder in der Stirn- und Schläfenregion lokalisiert. Er dauert zwischen 10 min und mehreren Stunden an und endet meist so abrupt, wie er begonnen hat. Die Schmerzen sind von weiteren, ipsilateralen Symptomen begleitet: Miosis, auch Ptosis, Tränenfluss, konjunktivale Injektion, Kongestion der Nase oder Absonderung von Nasensekret, periorbitales Ödem. Sie sind im Liegen am stärksten und lassen beim Aufstehen oder Herumgehen geringfügig nach. Deshalb sind die Patienten – im Unterschied zu Migränepatienten, die Ruhe und Abgeschiedenheit suchen – motorisch unruhig. Manche Patienten berichten, wie bei der Migräne, von Lichtscheu und Überempfindlichkeit gegen Geräusche. Die Schmerzen setzen bei der Mehrzahl der Patienten über Wochen praktisch täglich stets zur gleichen Stunde ein, meist 1–2 h nach dem Einschlafen oder in den frühen Morgenstunden. Eine Attacke dauert 30–180 min. Nach dem Abklingen besteht

16

eine Refraktärperiode, aber die Attacken wiederholen sich 1- bis 3-mal in 24 h oder häufiger. Bei lange andauernden Clustern können die Patienten suizidal werden. Mit oder ohne Therapie ist dieser Kopfschmerz eine lebenslange Funktionsstörung, deren Cluster sich in Abständen von Monaten, auch Jahren wiederholen. 3Diagnostik. Die bildgebende Diagnostik (MRT von Schädelbasis und Orbita) ist notwendig, um Differentialdiagnosen wie Schädelbasistumore oder Sinus-cavernosus-Thrombosen und -Fisteln auszuschließen. Ansonsten ist bei typischer Klinik oder beim Rezidiv keine Diagnostik indiziert. 3Therapie. Periphere und zentrale Analgetika, einschließlich Morphinderivate, helfen nicht oder nur sehr verzögert. 4 Wirksam ist dagegen bei vielen Patienten die Inhalation von reinem Sauerstoff über Gesichtsmaske (6–10 l/min über 15– 20 min in aufrechter Haltung). 4 Auch die nasale Instillation von Lidocainlösung (4%) bei zurückgelegtem und leicht zur betroffenen Seite gedrehtem Kopf sowie Sumatriptan (6 mg s.c., s.o.) können in der Attacke helfen. 4 Zur Unterbrechung des Clusters wird eine Stufentherapie empfohlen: 5 An erster Stelle steht die Kortisonbehandlung (z.B. 100 mg Methylprednisolon über 1 Woche, danach ausschleichend dosieren). 5 Wird der Cluster hierdurch nicht unterbrochen, werden Verapamil (3- bis 6-mal 80 mg/Tag p.o., kardiale Kontraindikationen beachten!) oder 5 Lithiumpräparate wie Quilonum retard p.o. bis zu einem Serumspiegel von 0,8–1,2 mmol/l gegeben (der Patient muss über unerwünschte Wirkungen, wie Tremor aufgeklärt werden). Auch der Serotoninantagonist Methysergid soll wirksam sein, wird aber wegen der beachtlichen Nebenwirkungen (Gefahr der retroperitonealen Fibrose) selten bzw. nicht länger als 3 Monate gegeben. Valproinsäure (1500–2000 mg p.o.) oder Topiramat sollen ebenfalls wirksam sein. > Der Cluster-Kopfschmerz ist durch Attacken von einsei-

tigen, unerträglichen Augen-, Stirn- und Schläfenkopfschmerzen charakterisiert, die in regelmäßigem Rhythmus für Tage bis Wochen (»Cluster«) jeweils zur gleichen Stunde, meist in den frühen Morgenstunden auftreten. Die Attacken sind von parasympathischen Symptomen begleitet.

16.2.2 Chronische paroxysmale Hemikranie Die chronische paroxysmale Hemikranie ist eine seltene Kopfschmerzvariante, die oft mit einer Migräne oder einem ClusterKopfschmerz verwechselt wird. Die Attacken treten paroxysmal auf, sind sehr stechend, halbseitig, oft reproorbital, manchmal in Stirn oder Ohr lokalisiert. Sie dauern einige Minuten bis zu einer

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Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Leitlinien Behandlung des Cluster-Kopfschmerzes* 4 Die parenteral wirkenden 5-HT1B/1D-Agonisten Sumatriptan (6 mg s.c.) und Zolmitriptan (5-10 mg nasal) sind die Substanzen mit der besten Wirksamkeit in der akuten Cluster-Kopfschmerzattacke (A). Die orale Applikation eines Triptans ist nur bei langen Attacken sinnvoll (B). 4 Die Inhalation von 100% Sauerstoff über Gesichtsmaske (7–15 l/min über 15–20 min) ist bei 60–70% der Clusterpatienten wirksam (A). 4 Kortikoide sind wirksam, sollten in der Regel aber nur kurzfristig (< 14 Tage) verwendet werden (A).

halben Stunde, rezidivieren allerdings 10- bis 20-mal am Tag. Wie beim Cluster-Kopfschmerz können Augenrötung, Tränenfluss, Miosis und Nasenlaufen hinzutreten. Frauen sind häufiger betroffen (3:1). 3Therapie. Die Therapie ist gleichzeitig eine diagnostische Hilfe: Das Syndrom spricht hervorragend und exklusiv auf Indometacin an (3-mal 25 mg, bis max. auf 3-mal 75 mg p.o. steigern), so dass über den Therapieerfolg auch die Diagnose gesichert ist. Allerdings wird Indometacin häufig nicht gut vertragen: Blutungsneigung, Leber- und Nierenfunktionsstörungen sowie Übelkeit sind häufig. Protonenpumpenhemmer und Antiemetika sollten komediziert werden. 16.2.3 SUNCT-Syndrom 3Symptome. Die Symptome ergeben sich aus dem Akronym: short-lasting unilateral neuralgiform headache with conjuctival injection and tearing. Die Schmerzattacken sind sehr kurz, aber äußerst heftig. Vom Cluster-Kopfschmerz unterscheidet sich SUNCT durch die höhere Attackenfrequenz (50–100/Tag). Ausgeschlossen werden muss die Trigeminusneuralgie, die keine autonomen Begleiterscheinungen hat.

16

3Therapie. Sauerstoffgabe, Triptane und Indometacin sind unwirksam. Moderne Antiepileptika wie Lamotrigin, Gabapentin oder Oxcarbazepin sollen wirksam sein, sind aber noch nicht durch größere Studien belegt. 16.3

Spannungskopfschmerzen

16.3.1 Episodischer Spannungskopfschmerz Dieser wurde früher vasomotorischer Kopfschmerz genannt und ist so häufig, dass wahrscheinlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal unter solchen Attacken leidet. Sie sind gekenn-

4 Verapamil ist die Substanz der ersten Wahl in der prophylaktischen Behandlung (A). 4 Lithium und Topiramat sind Mittel der 2. Wahl in der prophylaktischen Behandlung (B). 4 Mittel der ersten Wahl in der Behandlung der episodischen und chronischen paroxysmalen Hemikranie ist Indomethacin (A). 4 Mittel der Wahl in der Behandlung des SUNCT-Syndroms ist Lamotrigin (A). * Leitlinien der DGN 2005

zeichnet durch dumpfe und drückende, holozephale oder bifrontale Kopfschmerzen, die keine vegetativen Begleitsymptome haben und wenige Stunden bis maximal 1–2 Tage anhalten. Übergänge zu Migräne sind bekannt. Therapeutisch helfen Aspirin oder Ibuprofen (z.B. 600 mg p.o.). Kombinationspräparate sollten nicht gegeben werden. 16.3.2 Chronischer Spannungskopfschmerz 3Epidemiologie. Treten die Symptome eines episodischen Spannungskopfschmerzes gehäuft auf, leitet dies über zum chronischen Spannungskopfschmerz. Etwa 2% der Menschen leiden darunter. Die Diagnose wird gestellt, wenn über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten an wenigstens 15 Tagen im Monat ein dumpf-drückender oder ziehender holozephaler Kopfschmerz von mäßiger Intensität auftritt, der sich nicht bei körperlicher Aktivität verstärkt. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Vegetative Symptome sind selten. 3Pathophysiologie. Diese ist völlig unklar. Man kann nur sagen, was pathophysiologisch nicht zugrunde liegt: Die Halswirbelsäule, die Nackenmuskeln und die Durchblutung des Kopfes haben keine ursächliche Bedeutung. Auch sind selten depressive Symptome zu eruieren, die unserer Auffassung nach eher die Reaktion auf einen chronischen Schmerz als eine Kausalität bedeutet. 3Diagnostik. Der neurologische Befund ist normal. Bildgebende Verfahren sind nicht indiziert, außer aus psychologischen Gründen, wenn Tumorangst besteht. 3Therapie. Trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin (50–100 mg/Tag), möglicherweise auch das gemischt serotonerg/adrenerg-wirkende Mirtazapin sind meist besser als Schmerzmittel. Antiemetika, Paracetamol oder nichtsteroidale Antirheumatika sollten von den Patienten nicht häufiger als 2-mal/Woche

407 16.4 · Andere Kopfschmerzformen

eingenommen werden. Trotzdem tun dies viele Patienten, die dann Gefahr laufen, zusätzlich einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz zu entwickeln. Verhaltenstherapien und übende Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation können empfohlen werden. Gelegentlich spüren Patienten durch Akupunktur eine Linderung. Botulinumtoxin ist beim chronischen Spannungskopfschmerz nicht wirksam. 16.4

Andere Kopfschmerzformen

16.4.1 Glaukomanfall Heftigste, halbseitige Schmerzen im Auge und in der Schläfe werden auch durch einen akuten Glaukomanfall ausgelöst. Auch dabei ist die Konjunktiva injiziert. Durch Vagusreiz kann Erbrechen auftreten. Diagnostisch wichtig ist jedoch, dass die Pupille weit und reaktionslos ist. Der Augapfel ist, besonders im Vergleich mit der anderen Seite, palpatorisch hart, die Hornhaut glanzlos, der Patient klagt über schlechtes Sehen. 3Therapie. Acetacolamid (Diamox® 500 mg i.m.) und 2%ige Pilocarpin-Augentropfen. 16.4.2 Zervikogener Kopfschmerz

(»Migraine cervicale«) Als zervikogene Migräne wird von manchen Ärzten ein Hinterkopfschmerz nach HWS-Distorsion bezeichnet. Er hat allerdings eine ganz andere Pathophysiologie. Man sollte auf diesen Begriff verzichten, da er verschwommen ist und von einer genauen differentialdiagnostischen Aufklärung der Hinterkopfschmerzen mit neurologischen Symptomen ablenkt. 16.4.3 Chronischer, medikamenteninduzierter

Dauerkopfschmerz 3Definition. Es handelt sich um Dauerkopfschmerzen, die nach längerer Einnahme von Kopfschmerzmitteln auftreten. Ursprünglich litten die Patienten unter Migräne oder Spannungskopfschmerz. 3Epidemiologie. Die Prävalenz beträgt etwa 10% aller Patienten, die über Kopfschmerzen klagen. 80% von diesen sind Frauen im mittleren Lebensalter. 3Pathophysiologie. Diese ist nicht bekannt. Man diskutiert die Veränderung der Schmerzschwelle, wodurch physiologische Phänomene bereits als schmerzhaft empfunden werden. Andererseits findet man dieses Syndrom nicht bei Patienten, die wegen

16

anderer Schmerzen chronisch Schmerzmedikamente einnehmen. 3Ursachen. Einnahme von Analgetika, meist Mischpräparate, besonders solche mit Koffein oder Ergotamin, Auch Triptane können den medikamenteninduzierten Kopfschmerz auslösen, seltener sind Aspirin und nichtsteroidale Antiphlogistika die Ursache. 3Symptome. Der Schmerz äußert sich dumpf-drückend, tritt täglich auf und ist in der Region von Stirn, Schläfe oder Hinterkopf lokalisiert. Der Schmerz weckt den Patienten in der zweiten Nachthälfte oder ist beim Aufwachen vorhanden. Oft glauben die Patienten an eine Verschlimmerung der vorbestehenden Kopfschmerzen und nehmen noch mehr Analgetika ein. 3Therapie. Zur Behandlung empfiehlt sich am besten ein stationärer Entzug in einer Abteilung, die mit solchen Situationen Erfahrung hat und neben einer unterstützenden, medikamentösen Behandlung auch verhaltenstherapeutische Hilfen anbieten kann. 4 Der Entzug kann mit Clonodin erträglicher gestaltet werden. Wir geben in dieser Phase ausschließlich Ibuprofen. 4 Trizyklische Antidepressiva erleichtern den Verzicht auf Schmerzmittel. Die Rückfallquote wird mit 30% angegeben. 16.4.4 Posttraumatischer Kopfschmerz 3Definition und Symptome. Der Kopfschmerz tritt mit Latenz nach einem leichten oder mittelgradigen Schädeltrauma auf. Er wird chronisch, wenn er länger als 8 Wochen besteht. Er kontrastiert in seiner Dramatik oft mit dem relativ milden Trauma. Besonders häufig tritt der Schmerz auf, wenn ärztlicherseits nach dem Trauma eine inadäquate Immobilisation verordnet wird. Die Aussicht auf eine finanzielle Entschädigung trägt ebenfalls zur Chronifizierung bei. Gleiches gilt für zusätzlich geklagte Beschwerden wie Konzentrationsschwäche, Schwindel oder Gedächtnisstörungen, die sich meist der objektiven Bestätigung entziehen. Eine Ähnlichkeit mit dem chronischen Schleudertrauma-Beschwerdekomplex, der oft parallel besteht, ist nicht zu übersehen. 3Pathophysiologie. Diese ist unbekannt. 3Therapie. Kurzfristig nach dem Trauma Ibuprofen oder Paracetamol, keine Dauertherapie. Bei Chronifizierung erfolgt die Behandlung wie beim chronischen Spannungskopfschmerz.

408

Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Facharzt

Andere Kopfschmerzformen Eiscreme-Kopfschmerz. Dieses Syndrom ist gar nicht selten: Beim Schlucken eines größeren Brockens von Eiscreme oder nach einem großen Schluck eines eiskalten Getränks (bestes Beispiel: Frozen Margarita) kommt es mit Latenz von wenigen Sekunden zu einem sehr intensiven stechenden Scherz in der Stirn oder hinter einem Auge. Der Schmerz sistiert nach längstens einer halben Minute, kann aber rezidivieren (obwohl er in der Regel so stark war, das niemand auf die Idee kommt, ihn noch mal zu provozieren. Eine Therapie erübrigt sich und die Prophylaxe ist ziemlich offensichtlich.

extremer körperlicher Aktivität (Marathon, Gewichtstraining) auftritt.

Koitaler (Orgasmus-)Kopfschmerz. Er tritt als heftiger, holozephaler oder bifrontaler Kopfschmerz gegen Ende des Verkehrs fast ausschließlich bei Männern, auf. Er ist oft so stark, dass die Betroffenen in die Notaufnahme gebracht werden und alles getan wird, um eine Subarachnoidalblutung (SAB) auszuschließen, die nach dem Geschlechtsverkehr auch nicht selten auftritt. Der Schmerz dauert manchmal 1–2 h an und kann mit Ibuprofen behandelt werden. Die Pathophysiologie ist nicht bekannt. Auch dieser Kopfschmerz kann rezidivieren, aber sicher nur ganz selten. Daher wird hier auch nicht vom Patienten erwartet, dass er in Zukunft den Auslöser meidet.

Katerkopfschmerz. Für diesen Kopfschmerz sind Auslöser, Symptomatik und vegetative Begleiterscheinungen besonders jungen Männern bestens bekannt. Auch ist die Prävention klar und wird von den Betroffenen am Morgen nach dem auslösenden Ereignis auch wortreich beschworen: »Nie wieder werde ich einen Tropfen Alkohol trinken«! Leider endet der Vorsatz meist am gleichen Abend, vor allem, wenn man gemerkt hat, wie gut 600–800 mg Ibuprofen hilft (falls man es vor Übelkeit überhaupt schlucken kann). Ein Hinweis, der über den Inhalt eines Lehrbuchs hinausgeht und eher in die Rubrik »Lebenserfahrung« gehört: Wenn man absehen kann, dass der Abend heftig werden könnte, wirkt Ibuprofen präventiv, wenn man es während des Abends oder vor dem Einschlafen nimmt.

»Exercise-headache«. Ähnlichen Charakter wie der o.g. Kopfschmerz hat auch dieser Schmerztyp, der während

16.5

16

Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien

Diese Neuralgien werden hier und nicht bei den Krankheiten des peripheren Nervensystems besprochen, da ihr wichtigstes Kriterium das anfallsartige Auftreten ist. Im Intervall ist in dem betroffenen Areal meist keine Sensibilitätsstörung festzustellen. Nach der aktuellen Klassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) unterscheidet man zwischen der klassischen (früher idiopathischen) Trigeminusneuralgie und der symptomatischen Trigeminusneuralgie. 16.5.1 Klassische Trigeminusneuralgie 3Definition. Die klassische (idiopathische) Trigeminusneuralgie ist als blitzartig einschießender, extrem heftiger, elektrisierender und stechender Schmerz im Versorgungsgebiet eines oder mehrerer Trigeminusäste definiert. Die Attacken halten typischerweise Sekunden, selten auch länger (50 erste Stunde, 4 neuer Kopfschmerz, 4 Druckdolenz der A. temporalis, 4 positive Histologie.

Der Erfolg von Methotrexat und Azathioprin zur Einsparung von Cortison im Langzeitverlauf wird kontrovers diskutiert. Die zusätzliche Gabe von Immunsuppressiva, z.B. MTX, bei hohem Kortikoidbedarf kann erwogen werden.

Wenn 3 dieser 5 Kriterien erfüllt sind, kann die Diagnose mit hoher Sicherheit (Sensitivität und Spezifität über 90%) gestellt werden. Laborbefunde: BSG (oft >80 m/h), C-reaktives Protein (CRP) erhöht (Anstieg in >90%, als Verlaufsparameter sensitiver als die BSG). Zusätzliche Erhöhung der alpha-1- und alpha-2Globuline, des Fibrinogens und Ferritins sowie Veränderungen des Blutbildes (Anämie, Leukozytose, Thrombozytose). Biopsie der Schläfenarterie: Biopsiert wird ein mindestens 3 cm langes Segment, da segmentaler Befall möglich ist. Das Biopsieergebnis ist hochspezifisch, aber nur wenig sensitiv (bis zu 70% negative Befunde, je nach Indikationsstellung). Farbduplexsonographie der Temporalarterien: Man findet eine Wandverdickung (echoarmer »Halo«), Stenosen, Kalibersprünge und eine verminderte Wandpulsation. Ein positiver Befund bei typischer Klinik reicht wahrscheinlich zur Diagnosestellung ohne zusätzliche Biopsie.

3Symptome. Die Karotis ist einseitig druckschmerzhaft, Schluckbewegungen schmerzen und die Kopfdrehung ist erschwert. Ein Horner-Syndrom oder Hirnnervenlähmungen sprechen gegen die Diagnose.

16.8

Karotidodynie

3Definition. Hierbei handelt es sich um eine spontan auftretende (idiopathische) schmerzhafte Druckempfindlichkeit im vorderen Halsdreieck, die sich speziell auf die A. carotis communis und die Karotisgabel bezieht. Es ist umstritten, ob es sich bei diesem Syndrom um eine eigenständige Erkrankung handelt. Die neueste Klassifikation der Kopfschmerzen enthält diese Diagnose nicht mehr, was auch vernünftig ist, da es sich nicht um einen Kopfschmerz handelt.

3Diagnose. Laborwerte sind unauffällig, keine BSG- oder CRP-Erhöhung, normale Vaskulitisparameter. Die Ultraschalldiagnostik, die immer zum Ausschluss einer Dissektion durchgeführt werden muss, ist meist normal, kann aber auch eine unilaterale, echoarme Wandverdickung zeigen. Weitere Untersuchungen wie CT oder MRT sind nicht erforderlich. 3Therapie. Nichtsteroidale Antiphlogistika und Analgetika werden empfohlen, helfen allerdings nur in einem Teil der Fälle. Steroide wie bei Arteriitis cranialis (s.o.) sollen wirksam sein. Die Beschwerden sistieren spontan nach 1–2 Wochen. Rezidive sind möglich.

414

Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

In Kürze Kopfschmerz Migräne. Besonders häufige Form von periodisch auftretenden, dumpf-drückenden oder pulsierenden Kopfschmerzen, die entweder halbseitig (Hemikranie) empfunden werden oder sich doppelseitig über vordere Kopfhälfte ausbreiten; kommt bei 5–10% der Durchschnittsbevölkerung vor. Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen und vorübergehende neurologische Reiz- und Ausfallsymptome wie Appetitlosigkeit, Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit. Formen: »Migräne ohne Aura«: Halbseitiger Kopfschmerz oft mit Übelkeit, wenn keine ophthalmologischen oder neurologischen Symptome vorausgehen. Treten Flimmerskotome, andere Sehstörungen, Aphasie, Hypaesthesie oder Lähmungen vor der Kopfschmerzattacke auf, liegt »Migräne mit Aura« vor. Therapie: Medikamentöse Therapie, Akupunktur, Entspannungsübungen. Cluster-Kopfschmerz. Befällt überwiegend Männer, äußert sich in Attacken von heftigsten, halbseitigen Schmerzen, meist im Auge oder in Schläfenregion lokalisiert, wechselt fast nie die Seite. Tritt im regelmäßigen Rhythmus für Tage bis Wochen (cluster) jeweils zur gleichen Stunde auf. Zwischen zwei Perioden kann Pause von Monaten oder Jahren liegen. Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen wie Tränenfluss, Nasensekretion sowie Gesichtsröte, Hyperämie der Konjunktiven. Therapie: Medikamentöse Therapie, O2-Inhalation. Spannungskopfschmerz. Dumpfer und drückender halozephaler oder bifrontaler Kopfschmerz, dauert wenige Stunden bis max. 1–2 Tage. Tritt bei fast jedem im Laufe des Lebens auf und hat keine vegetativen Begleiterscheinungen. Therapie: Medikamentöse Therapie; bei chronischen Spannungskopf-

16

schmerzen Antidepressiva, Akupunktur, Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen. Weitere Kopfschmerzformen. Glaukomanfall, zervikogener Kopfschmerz, posttraumatischer Kopfschmerz sowie medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz.

Gesichtsneuralgien Trigeminusneuralgie. Anfallsartig auftretender heftigster, brennender Schmerz im Versorgungsgebiet eines Trigeminusastes oder in zwei benachbarten Arealen, hält wenige Sekunden, selten einige Minuten an. Auslöser: Reizung bestimmter Hautoder Schleimhautbezirke (Triggerzonen oder Triggerpunkte). Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen wie Tränenfluss, Nasensekretion sowie Kontraktion der mimischen Muskulatur, Hautrötungen. Therapie: Jannetta-Operation, transkutane und medikamentöse Therapie, radiochirurgische Behandlung.

Weitere Neuralgieformen. Glossopharyngeusneuralgie: Anfallsartiger, selten andauernder Schmerz in Tonsillengegend, im Zungengrund oder Mittelohr. Dauerschmerz im Gesicht: Oft mit fassbarem, organischem Krankheitsprozess, z. B. Nasennebenhöhlenentzündung, Karzinom der Schädelbasis. Arteriitis cranialis: Starke, oft pulssynchrone Kopfschmerzen mit bohrend-stechender Qualität. Karotidodynie: Spontan auftretende (idiopathische) schmerzhafte Druckempfindlichkeit im vorderen Halsdreieck.

17 17 Schwindel und Tetanie 17.1 Schwindel – 416 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.1.6 17.1.7

Benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungsschwindel (BPPV) – 416 Neuritis vestibularis (akuter Labyrinthausfall) – 419 Phobischer Attackenschwankschwindel – 420 Menière-Krankheit – 420 Vestibularisparoxysmie – 422 Vestibuläre Migräne – 422 Schwindelformen mit gesteigerter Empfindlichkeit gegenüber physiologischen Wahrnehmungen – 422

17.2 Tetanie – 423

416

Kapitel 17 · Schwindel und Tetanie

> > Einleitung Schwindel als Symptom, oder besser, als Wahrnehmung, ist sehr häufig und vieldeutig. Genauere Häufigkeitsangaben sind schwer zu erhalten. Oft wird der Begriff Schwindel als synonym für eine allgemeine Befindlichkeitsstörung mit Unwohlsein und dem Gefühl der Instabilität (den Boden unter den Füßen verlieren, Schwanken, unsicher sein«), aber auch bei präsynkopalen Zuständen gebraucht. Schwindel im allgemeinen medizinischen Sinn ist weit verbreitet. Er gehört neben Kopfschmerzen zu den häufigsten Beschwerden, die Patienten zum Arzt führen. Die Häufigkeit von Schwindel steigt mit dem Lebensalter: Mehr als 30% aller Menschen, die älter als 65 Jahre sind, klagen über Schwindel, und bei Patienten von 75 Jahren an ist Schwindel das häufigste Symptom. Schwindel ist keine Krankheitseinheit, sondern umfasst fächerübergreifende multisensorische und sensomotorische Syndrome unterschiedlicher Ätiologie und Pathogenese. Als häufigste Schwindelform werden wir hier den gerichteten Schwindel besprechen, der vom Gleichgewichtsorgan ausgelöst wird. Dieser ist gekennzeichnet durch eine akute Drehwahrnehmung, oft mit Übelkeit oder Erbrechen verbunden und sehr belastend sowie angstauslösend. Auch der psychisch bedingte, meist phobisch besetzte Schwindel wird erörtert. Im Englischen wird sprachlich zwischen einer unsystematischen Unsicherheit mit Unwohlsein (dizziness) und gerichtetem Schwindel mit Wahrnehmung einer Scheinbewegung (vertigo) unterschieden. Im Deutschen wird auch kurzfristiges oder länger dauerndes Unwohlsein, Schwanken oder das Gefühl »als ob der Boden unter den Füßen versinkt« Schwindel genannt. Es ist deshalb sehr wichtig, eine anschauliche Beschreibung der Schwindelphänomene in der Anamnese zu erhalten.

17.1

Schwindel

3Definition. Schwindel ist eine Ansammlung von multisensoriellen Syndromen unterschiedlicher Ätiologie. Schwindel-

17

Dauerschwindel Typ I Labyrinthitis akuter, peripherer Vestibularisausfall Zoster oticus Felsenbeinfraktur

Akuter, heftiger, langsam abnehmender Schwindel (peripher bedingt)

wahrnehmung ist eine kortikale Leistung, die auf der Detektion widersprüchlicher Meldungen von optischen, vestibulären oder tiefensensiblen Afferenzen beruht. Schwindel wird nach Beginn, Auslöser, Dauer, Rückbildung, Gerichtetsein, zusätzliche Symptome wie Nystagmus oder Fallneigung definiert. Die wichtigsten Formen des Schwindels, unter Einschluss des »zerebralen« Schwindels, sind in . Abbildung 17.1 illustriert. 17.1.1 Benigner, paroxysmaler (peripherer)

Lagerungsschwindel (BPPV) 3Epidemiologie. Dies ist der häufigste organisch bedingte Schwindel. Man schätzt, dass mehr als 10% der Menschen im Laufe ihres Lebens eine solche Schwindelattacke erleben. Die Attacken sind nach dem 50. Lebensjahr besonders häufig mit einem Maximum in der 6. bis 7. Lebensdekade. Etwa ein Drittel aller über 70-Jährigen hat ihn schon mindestens einmal erlebt. Er ist mit 20% das häufigste Schwindelsyndrom. Mehr als 90% aller Fälle sind idiopathisch (Frauen:Männer = 2:1). Symptomatische Fälle sind am häufigsten auf ein Schädeltrauma oder eine Neuritis vestibularis zurückzuführen. Er soll auch nach längerer Bettruhe, z.B. beim Mobilisieren nach Operationen auftreten. Rezidive sind häufig. 3Pathogenese. Der Schwindel beruht auf einer Canalolithiasis. Es lagern sich traumatisch oder spontan abgelöste, anorganische, schwere Partikel der Utrikulusotolithen der Cupula in der darunter liegenden Ampulle des hinteren Bogengangs ab. Die Teilchen haften nicht an der Cupula an, sondern sind frei im Bogengang beweglich und bilden Pfropf. Dieser übt bei der Lagerung einen Sog aus. Dieses Modell zum Pathomechanismus des BPPV erklärt alle typischen Eigenschaften wie Latenz, Dauer, Richtung und Richtungsumkehr des Nystagmus, Ermüdbarkeit und Mechanismus des Befreiungsmanövers: Der Pfropf kann durch rasche Kopflagerung zur Gegenseite aus dem Bogengang herausbewegt werden.

Dauerschwindel Typ II Multiple Sklerose Kleinhirnbrückenwinkeltumor Syringobulbie Hirntumoren

Anhaltender, wechselnd starker Schwindel (vorwiegend zentral bedingt)

Attackenschwindel Morbus Meniere

Minuten bis Stunden, selten Tage dauernder, unregelmäßig auftretender Schwindel von wechselnder Stärke (peripher bedingt)

. Abb. 17.1. Die drei wichtigsten Arten des Schwindels (ohne Lagerungsnystagmus). (Nach Stenger 1967)

417 17.1 · Schwindel

4 4 4 4

Typische Auslöser sind: Hinlegen oder Aufrichten im Bett, Herumdrehen im Bett mit Lagerung auf das betroffene Ohr, Bücken, Kopfreklination.

3Symptome. Die Patienten berichten über kurz dauernde Schwindelanfälle, meist mit einer rotierenden Scheinbewegung, die von Übelkeit, oft Schweißausbruch und Angstgefühl, aber nicht von Ohrgeräuschen oder Hörstörung begleitet sind. Die Attacken dauern wenige Sekunden bis Minuten, danach klingen sie schnell ab, es bleibt aber ein unsicheres Gefühl und die Furcht vor der nächsten Attacke. Die Patienten haben oft eine Vermeidungsstrategie entwickelt, in der sie die schwindelauslösende Lage instinktiv möglichst selten einnehmen. Dennoch erfährt man durch gezieltes Befragen, dass es immer ein und dieselbe Kopfbewegung ist, die den Schwindel auslöst, z.B. Bücken nach vorn bei der Hausarbeit oder beim Schuhezubinden, Rückwärtsneigen oder Seitwärtsdrehen des Kopfes, oft auch Lagewechsel im Liegen. Der Schwindel kann den Patienten aus dem Schlaf erwecken. ä Der Fall Am frühen Morgen, kurz vor dem Aufstehen, wird der 65-jährige Pensionär durch eine plötzliche, massive Schwindelattacke aus dem Schlaf gerissen. Er hatte sich kurz zuvor im Schlaf auf die rechte Seite gedreht, und jetzt ereilt ihn ein heftiger, wenige Sekunden anhaltender Drehschwindel. Er hat das Gefühl, dass sich der gesamte Körper, der Kopf und die Augen zur rechten Seite drehen, Übelkeit kommt auf, er kann das Erbrechen gerade unterdrücken, der Schwindel lässt langsam nach, und es bleiben Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern der Hände und die Furcht, so etwas noch einmal erleben zu müssen. Vorsichtig steht er auf. Dabei hat er das Gefühl, leicht zur rechten Seite abzuweichen. Er fühlt sich abgeschlagen, unsicher und verängstigt. Er sucht sofort einen HalsNasen-Ohrenarzt auf, der noch einen leichten Nystagmus zur rechten Seite findet, aber sonst keinen pathologischen Befund: Eine Lagerungsprüfung nimmt er nicht vor. Zum Ausschluss einer neurologischen Ursache dieser Schwindelattacke wird der Patient zum Neurologen überwiesen. Dieser führt einen Lagerungsversuch durch, bei dem er den Patienten aus dem Sitzen sehr schnell auf die rechte Seite legt. Prompt kommt es zu einem erneuten, wenn auch nicht ganz so schweren Schwindelanfall wie am Morgen. Der Neurologe beobachtet einen Nystagmus nach oben mit rotatorischer Komponente zu rechten Seite. Beim Lagerungsversuch zur Gegenseite kommt es zu einer ganz kurz dauernden Schwindelempfindung, dann zur anderen Seite und auch der Nystagmus schlägt kurz nach links. Die apparativen Zusatzuntersuchungen sind allesamt unauffällig. Unser Patient hat einen typischen, gutartigen, paroxysmalen Lagerungsschwindel erlebt. Bei dem Lagerungsversuch mit Bewegung auch zur Gegenseite, den der Neurologe durchgeführt hat, ist

6

17

gleichzeitig schon die bestmögliche Therapie eingesetzt worden. Trotzdem muss der Patient damit rechnen, dass bei bestimmten, schnellen, auch unwillkürlichen Bewegungen im Wachen oder Schlafen, erneut ein Lagerungsschwindel auftritt. Dieser ist und bleibt gutartig und kann auch in der Zukunft durch Lagerungstraining wieder günstig beeinflusst werden (s.u.).

3Diagnose. Die Patienten haben gewöhnlich schon viele Ärzte aufgesucht, ohne dass die richtige Diagnose gestellt wurde. Sie kann aber meist schon nach der Anamnese gestellt werden. Die Untersuchung des bewegungs-/lageninduzierten Nystagmus muss unter der Frenzelbrille vorgenommen werden. Vor Beginn der Seitwärtslagerung muss der Kopf für die Untersuchung (und auch für die spätere Behandlung) des rechten, hinteren Bogenganges um 45° nach links gewendet werden und in dieser Wendung während der Lagerungsübung verbleiben. Man legt den Patienten in die vermutete Schwindel auslösende Lage. Dies ist gewöhnlich die Seitwärtslage (rechtes oder linkes Ohr unten), seltener die Kopfhängelage oder das Vorwärtsbücken. Diese Varianten werden nicht im Detail besprochen. Der Patient darf die Augen nicht schließen, wenn der Schwindel auftritt. Nach Einnahme der auslösenden Lage tritt mit einer Latenz von wenigen Sekunden ein rasch vorübergehender, vertikal nach oben schlagender Nystagmus mit rotatorischer Komponente auf, der von heftigem Schwindel begleitet ist. Er dauert 20 s bis 1 min. Beim Aufrichten zum Sitzen folgt ein gegenläufiger, schwächerer Nystagmus mit geringerem Schwindel. Bei wiederholten Versuchen nimmt der periphere, paroxysmale Lagerungsschwindel ab und setzt dann ganz aus (. Abb. 17.2). Mit Ausnahme des beschriebenen Schwindels und Nystagmus ist der neurologische Status normal. Da nur eine paroxysmale Störung vorliegt, hat die Vestibularisprüfung ein normales Ergebnis. Dasselbe gilt für alle Zusatzuntersuchungen. Meist hat der Patient schon eine völlig überflüssige Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule erhalten, auf der degenerative Veränderungen fälschlich als kausal bewertet wurden. Dabei ist die Existenz eines

. Abb. 17.2a, b. Lagerungsprüfung zur Auslösung des peripheren paroxysmalen Lagerungsschwindels. Die Pfeile geben die Schlagrichtung des rotierenden Nystagmus an. (Nach Brandt 1998)

418

Kapitel 17 · Schwindel und Tetanie

Exkurs Schwindel, »Durchblutung« und die Halswirbelsäule Die weit verbreitete Annahme, diese Schwindelanfälle seien Zeichen von Durchblutungsstörungen der A. vertebralis (Durchblutungsstörungen wo? im Hirnstamm? im Gleichgewichtsorgan?) ist unzutreffend. Indirekte Hinweise gegen diese Hypothese sind das oft frühe Manifestationsalter, das Fehlen von Risikofaktoren und das Ausbleiben einer Entwicklung zu anderen Symptomen von Durchblutungsstörungen im hinteren Hirnkreislauf. Direkte Hinweise dagegen sind die Ergebnisse von Strömungsmessungen mit der Ultraschall-Dopplersonographie. Selbst bei Menschen mit erheblichen degenerativen Veränderungen an der HWS traten bei starker bis maximaler Rotation des Kopfes weder Schwindel noch andere infratentorielle Reiz- oder Ausfallsymptome auf. Wenn in der ipsilateralen A. vertebralis die

zervikalen Schwindels beim Menschen höchst fraglich. Oft wird ein CT oder MRT veranlasst, obwohl anfallsartiger Schwindel kein Frühsymptom des Kleinhirnbrückenwinkeltumors ist. 3Therapie und Verlauf. Die dauerhafte Verordnung von Medikamenten ist nicht sinnvoll, weil alle antivertiginös wirkenden Medikamente allgemein sedierend wirken und zudem die mechanische Auslösung der Schwindelattacken nicht verhindern können. Entgegen der Erwartung der Patienten und vieler Ärzte sollen die Patienten gerade nicht die provozierende Kopf- und Körperposition vermeiden, sondern ein physikalisches Lage-

Durchströmung während der Rotation vorübergehend unterbrochen war, trat in der kontralateralen Vertebralarterie eine kompensatorische Flusserhöhung ein. Es gibt keine theoretische oder empirische Grundlage für die Hypothese, dass eine Drosselung der Durchströmung in einer Vertebralarterie eine Mangeldurchblutung in einer vorderen oder hinteren A. vestibularis aus der A. auditiva interna (oder A. labyrinthi) auslösen könne, die ihrerseits der A. cerebelli inferior anterior entstammt (. Abb. 17.3). Die Halswirbelsäule spielt in der Pathogenese weder über neurale Afferenzen, deren Rolle beim Menschen sehr kontrovers diskutiert wird, noch über eine Flussminderung in einer A. vertebralis eine Rolle. Bei Halsdrehtests werden natürlich die Bogengänge stimuliert.

rungstraining ausführen. Dabei sitzen sie mit geschlossenen Augen und nehmen dann die Kopf- und Körperlage ein, die den Schwindel auslöst. Sie verbleiben in dieser Stellung, bis der Schwindel nachlässt. Durch rasche Kopflagerung zur Gegenseite kann dann versucht werden, das Otokonienmaterial wieder aus dem betroffenen Bogengang zu entfernen (Deliberationsmanöver). Für dieses Deliberationsmanöver stehen mehrere Varianten zur Verfügung: 4 Die am einfachsten zu erlernende und gleichzeitig meist effektivste Variante ist das Semont-Manöver, bei dem aus der auslösenden Position im Liegen unter Beibehaltung der um 45° zur

Canalis semicircularis anterior A. vestibularis anterior der A. labyrinthi Cochlea

Vv. vestibulares

Vv. labyrinthi

Vv. aquaeductus vestibuli

Area cochleae

17

A. cochlearis der A. labyrinthi V. scalae vestibuli = vordere Spiralvene

V. scalae tympani = hintere Spiralvene

V. aquaeductus cochleae N. vestibularis

Ductus endolymphaticus

A. spiralis modioli

. Abb. 17.3. Blut- und Nervenversorgung des Gehör- und Gleichgewichtsorgans der rechten Seite, Ansicht von medial. (Aus Tillmann 2005)

419 17.1 · Schwindel

17

Exkurs Bilaterale Vestibulopathie Leitsymptome sind: 4 Gangunsicherheit, vor allem in Dunkelheit oder auf unebenem Grund 4 Oszillopsien mit Unscharfsehen bei Kopfbewegungen oder beim Gehen 4 Störung von Raumorientierung Die Patienten klagen darüber, dass sie beim Gehen oder Laufen Scheinbewegungen der Umwelt empfinden und z.B. Straßen-

Gegenseite gedrehten Kopfposition mit einer raschen Ganzkörperkippung über 180° zur Gegenseite gelagert wird. 4 Für die seltene horizontale Bogengangsvariante mit horizontalem Lagerungsnystagmus in Seitenlage werden Befreiungsmanöver mit sukzessiven 90°-Drehungen um die Körperlängsachse weg von der betroffenen Seite durchgeführt. Durch Deliberationsmanöver kann bei etwa 70% der Patienten der Schwindel beseitigt werden. Der Verlauf ist gutartig: Meist beobachtet man spontanes Abklingen innerhalb weniger Wochen und Monate. Manchmal wird auch Persistenz über mehrere Jahre berichtet. Rezidive sind allerdings häufig, aber nicht vorhersehbar. Eine phobische Entwicklung (»Angst vor dem nächsten Schwindel«) mit besonderer Aufmerksamkeit auf alles, was mit Schwindel zu tun haben könnte, ist nicht selten. Durch die Erwartungshaltung wird die Wahrnehmungsschwelle noch zusätzlich herabgesetzt, und die Patienten erleben häufige »Fast-Schwindelanfälle«, die sie extrem verunsichern. > Der periphere, paroxysmale Lagerungsschwindel ist

lästig, sehr unangenehm, aber harmlos. Er wird nicht medikamentös, sondern mit Lagerungsübungen behandelt.

17.1.2 Neuritis vestibularis

(akuter Labyrinthausfall) 3Definition und Pathogenese. Dieser Schwindel ein akut oder subakut einsetzender, peripher bedingter Schwindel mit der Symptomatik des einseitigen Labyrinthausfalls. Man nimmt an, dass die Krankheit eine entzündliche Genese hat. Die Hypothese einer Durchblutungsstörung in der A. vestibularis ist nicht gut fundiert (s. folgenden Exkurs). 3Symptome. Die Patienten klagen über schweren Drehschwindel, der von Fallneigung und Übelkeit mit Brechreiz begleitet ist. Bei der Untersuchung findet man einen lebhaften, horizontal rotierenden Spontannystagmus zum gesunden Ohr, Rumpfataxie mit Fallneigung zur betroffenen Seite, aber keine

schilder nicht mehr sicher erkennen können. Im Verlauf der bilateralen Vestibulopathie können beide Labyrinthe und/oder Vestibularisnerven gleichzeitig oder sequenziell betroffen sein. Es gibt akute aber auch langsam progrediente Symptome. Die bilaterale Vestibulopathie kann auch mit Hörstörungen verbunden sein. Therapie: Lagerungstraining und Versuch mit Corticosteroiden.

Zeigeataxie. Kochleäre Reiz- oder Ausfallsymptome fehlen in der Regel. Das betroffene Labyrinth ist kalorisch unter- oder unerregbar. 3Therapie und Prognose 4 Gesichert wirksam ist die Behandlung mit Methylprednisolon in einer initialen Dosis von 80–100 mg i.v. über 5–7 Tage, danach ausschleichend. Durchblutungsfördernde Maßnahmen wie Infusionen mit Vasodilatatoren oder rheologischen Substanzen, wie oft in der HNO verordnet, haben keine wissenschaftliche Begründung. 4 Symptomatisch führen während der ersten 3–5 Tage Antivertiginosa eine Besserung der Beschwerden herbei. Sie wirken allerdings stark sedierend. Empfohlen wird z.B. 5 Dimenhydrinat (z.B. Vomex A) 50 mg als Zäpfchen alle 6 h oder 1 Ampulle à 65 mg langsam i.v. (Cave: Müdigkeit, orthostatische Regulationsstörung), 5 Sulpirid (z.B. Dogmatil, Suppositorien à 50 mg alle 6 h) oder mehrmals 100 mg i.m. (gleiche unerwünschte Wirkungen wie Vomex A). Die Wirkung dieser Medikamente beruht auf der kompetitiven Hemmung von Acetylcholin, der Überträgersubstanz an den Synapsen der Vestibulariskerne. Die Medikamente sollen nur wenige Tage gegeben werden, weil sie die zentrale Kompensation verzögern. Vom 3. Tag an wird eine Übungsbehandlung zur Verbesserung der zentralen Kompensation empfohlen. Voraussetzung ist, dass sich die Übelkeit zurückgebildet hat. Man beginnt mit kontrollierten Augenbewegungen, beispielsweise willkürlichen Sakkaden und exzentrischer Fixation in liegender und sitzender Position. Ferner werden Folgebewegungen auf einen bewegten Gegenstand geübt, ebenso Kopfdrehungen bei Fixation des Blicks auf ein Objekt in 1 m Entfernung. Dann soll der Patient die Übungen zu einem Gleichgewichtstraining steigern: Sitzen, Stehen und Gehen. Vom Ende der 1. Woche an kann Gleichgewichtstraining unter der Anleitung von Krankengymnasten ausgeführt werden. Der Verlauf ist gutartig: Die Symptome lassen in wenigen Tagen nach und setzen nach Tagen, selten nach Wochen ganz aus.

420

Kapitel 17 · Schwindel und Tetanie

Dies beruht entweder auf der Herstellung der normalen Labyrinthfunktion oder auf zentraler Kompensation. 17.1.3 Phobischer Attackenschwankschwindel 3Symptome. Die Patienten erleiden Attacken von Benommenheit und Schwankschwindel mit Stand- und Gangunsicherheit, die anfangs nur Bruchteile von Sekunden oder wenige Sekunden andauern. Sie werden aber als bedrohlicher und länger anhaltender Zustand erlebt, der eine ängstliche Erwartungshaltung herbeiführt. Der Schwindel wird durch situative Reize der verschiedensten Art ausgelöst, so Überqueren von Brücken, Gehen auf Treppen, Autofahren, aber auch Durchqueren leerer Räume oder die Gegenwart vieler Menschen, die auch andere Formen von phobischen Reaktionen verursacht. Auffällig ist, dass die Patienten ihren Attackenschwindel schließlich mit einer Vernichtungsangst erleben, diese jedoch rasch wieder verdrängen, so dass sie ihre geplante Tätigkeit wieder aufnehmen können. Dies ist ein wichtiges differentialdiagnostisches Kriterium zur Unterscheidung von organischen Schwindelformen. Der Verlauf ist phasenhaft mit Remissionen. Man findet den organischen Befund in jeder Hinsicht normal. Die psychiatrische Exploration deckt oft eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur mit hohem Leistungsanspruch oder einer Angststörung auf. Manchmal kann in der Anamnese ein organisches Schwindelereignis eruiert werden, auf das sich der phobische Schwindel aufgebaut hat. 3Therapie. Dem Vorschlag einer Psychotherapie gegenüber sind die Patienten gewöhnlich nicht aufgeschlossen. 4 Trotzdem wird eine Verhaltenstherapie empfohlen. 4 Wichtig ist auch die Aufklärung über die krankmachende auslösende Situation: die Übersensibilisierung auf das eigene Körpergleichgewicht. 4 Aufgrund der Ähnlichkeit mit Panikattacken kann auch der Versuch einer Therapie mit modernen Antidepressiva (SSRITyp) versucht werden.

17

17.1.4 Menière-Krankheit 3Definition. Die Krankheit ist durch Hörverlust, Ohrgeräusche und anfallsweisen Schwindel charakterisiert. Die meisten Patienten haben vestibuläre und kochleäre Symptome, jedoch können beide Symptomgruppen getrennt vorkommen oder erst in längerem Abstand voneinander auftreten. Bei 50% der Kranken werden über eine Periode von 5–10 Jahren beide Ohren befallen. 3Epidemiologie. Die Prävalenz wird auf 50–80 Patienten/100.000 Einwohnern geschätzt. Männer erkranken etwas

häufiger als Frauen. Die Menière-Krankheit setzt meist erst in der zweiten Lebenshälfte ein. Die Bedeutung von Körperhaltung, Kopfdrehung und Kreislaufbelastung für die Auslösung der Anfälle ist gering. 3Symptome. Der einzelne Anfall setzt ohne Vorboten als akuter Drehschwindel ein, der von Ohrensausen, Brechreiz oder Erbrechen, Schweißausbruch, Bradykardie und Kollapsneigung begleitet ist. Seltener sind Schwank- oder Liftschwindel. Die Kranken können meist nicht mehr gerade stehen oder gehen. Sie fühlen sich zur Seite des betroffenen Labyrinths hinübergezogen und müssen sich oft festhalten oder hinlegen, um nicht zu stürzen. Anheben oder Drehen des Kopfes verstärkt die Symptome. Die meisten Patienten legen sich auf die kranke Seite. Viele empfinden ein Druck- oder Völlegefühl in dem befallenen Ohr. Während des Anfalls besteht immer ein lebhafter, horizontaler Spontannystagmus, meist mit rotierender, nie dagegen mit vertikaler Komponente. Die raschen Ausschläge sind initial gewöhnlich zur Herdseite gerichtet (Reiznystagmus). Die Richtung kann während des Anfalls aber auch wechseln (Ausfallnystagmus). 3Diagnose. Im Anfall ist nicht nur die schon spontan zu beobachtende Fallneigung, sondern auch ein gerichtetes Vorbeizeigen beim Barany-Zeigeversuch und ein einseitiges Überschießen beim Rebound-Versuch festzustellen (s.u. Pathogenese). Das Gehör ist im Anfall vermindert. Das Bewusstsein ist in der Regel ungestört. Das betroffene Labyrinth ist im Anfall experimentell übererregbar. Der einzelne Anfall dauert Minuten bis Stunden, seltener mehrere Tage. Meist klingt der Schwindel nur langsam ab. Viele Patienten behalten danach ein einseitiges Ohrensausen, das sich später jeweils bei Wiederholung des Schwindels verstärkt. Im Intervall entwickelt sich, langsam fortschreitend, eine einseitige Schwerhörigkeit, die auch schon Jahre vor dem Schwindel einsetzen kann. Auch diese nimmt bei späteren Anfällen vorübergehend zu, kann aber während einer Attacke zeitweise besser werden. Außerhalb der Anfälle ist die Gleichgewichtsregulation subjektiv und klinisch meist intakt, und man stellt keinen Nystagmus fest. Nach längerem Bestehen der Krankheit ist auch im Intervall ein charakteristischer, otologischer Befund festzustellen, der zusammen mit der Anamnese die Diagnose sichert: 4 »Pankochleäre« Innenohrschwerhörigkeit mit »wannenförmiger« Senke im Tonaudiogramm, 4 besonders schlechtes Sprachgehör, weil die Cochlea die akustischen Impulse nicht mehr regulär zur Weiterleitung im Hörnerven kodieren kann, 4 fluktuierende Hörleistungen von einer Untersuchung zur anderen und 4 positives Recruitment (Lautheitsausgleich), wie es für eine Haarzellschädigung bei intaktem N. cochlearis charakteristisch ist (siehe im Gegensatz dazu negatives Recruitment bei Akustikusneurinom mit geschädigtem Cochlearnerven). 4 Vestibulär besteht Unter- bis Unerregbarkeit.

421 17.1 · Schwindel

17

Exkurs Pathogenese des M. Menière Die Ursache der Krankheit ist nicht endgültig geklärt. Man diskutiert einen endolymphatischen Hydrops, der durch mangelhafte resorptive Kapazität des häutigen Labyrinths entsteht. Wenn der Innendruck der Endolymphe die Elastizität des häutigen Labyrinths überschreitet, kommt es zu Einrissen im Ductus cochlearis, im Sakkulus, Utrikulus oder den Bogengangsampullen. Durch diese Risse tritt Endolymphe in den Perilymphraum über. Dies führt zu einer kaliuminduzierten Depolarisierung des N VIII mit passagerer Überregbarkeit und anschließendem Leitungsblock. Die kochleären Symptome werden teils mechanisch, teils biochemisch erklärt. Im Anfall wird durch die Ruptur im endo-

lymphatischen System das gesamte Corti-Organ in Erregung versetzt. Das Ergebnis ist ein starkes Rauschen in allen hörbaren Frequenzen. Die Durchmischung der Endo- und Perilymphe beeinträchtigt den Stoffwechsel der Sinneszellen des CortiOrgans. Diese Stoffwechselstörung äußert sich als Schwerhörigkeit beim oder nach dem Anfall. Sie ist zunächst rückbildungsfähig, bei längerem Bestehen der Krankheit irreversibel. Nach der Ruptur kollabiert das häutige Labyrinth wieder, die Defekte heilen zu, und der Prozess beginnt von neuem. Wenn es zu einer länger dauernden oder permanenten Fistelbildung kommt, tritt eine Remission ein, oder die Anfälle bleiben ganz aus.

Exkurs Differentialdiagnose des M. Meniere 4 Die verschiedenen Formen der Labyrinthitis führen zu andauerndem Schwindel mit Brechreiz und Erbrechen, Schallperzeptionsstörung mit Herabsetzung der oberen Tongrenze und Spontannystagmus. 4 Der akute Hörsturz ist eine plötzliche, längstens innerhalb eines Tages einsetzende Taubheit oder Innenohrschwerhörigkeit, hauptsächlich bei Menschen im mittleren Lebensalter. Er tritt ganz überwiegend einseitig auf. Im Initialstadium können Ohrgeräusche und Druck auf dem befallenen Ohr bestehen. Der Vestibularapparat bleibt meist verschont. Die Ursache ist ungeklärt. Viele Ärzte geben auf »empirischer Basis« Infusionen von Plasmaexpandern und Vasodilatatoren, obwohl ihre Wirksamkeit umstritten ist. Ohrenärzte wenden oft Grenzstrangblockaden an, obwohl der Halssympathikus die Innenohrgefäße nicht innerviert. Die Spontanprognose ist sehr gut. Das erschwert die Beurteilung von Therapiemaßnahmen. 4 Die toxische, vor allem durch Antibiotika verursachte, häufig beidseitige Schädigung des VIII. Hirnnerven ist meist aus

3Therapie. Der Anfall ist selbstbegrenzend. Schwindel und Übelkeit können durch Antiemetika und Antivertiginosa gemildert werden. 4 Hierzu zählen Antiemetika wie Domperidon (Motilium), Dimenhydrinat (z.B. Vomex A® langsam i.v. oder als Suppositorium) oder Trifluorpromazin (Psyquil), Sulpirid (z.B. Dogmatil®) 3-mal 50 mg, Kalziumantagonisten wie Flunarizin 10 mg oder die Steroidbehandlung (in Analogie zur Fazialisparese). 4 Bei unbeeinflussbarem Erbrechen hilft auch Odansetron (Zofran) 4 mg i.v. Sedierung mit Diazepam-Abkömmlingen ist initial wichtig. 4 Die oft von HNO-Ärzten verordneten mehrtägigen Infusionen von durchblutungsfördernden Substanzen sind unwirksam.

der Anamnese zu diagnostizieren. Sie äußert sich ebenfalls nicht in Anfällen, sondern in vestibulären, in schweren Fällen auch kochleären Dauersymptomen mit Stand- und Gangunsicherheit vor allem in Dunkeln. Experimentell besteht vestibuläre Untererregbarkeit. 4 Die Symptomatik der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren lässt sich anamnestisch und im Befund leicht von der Menière-Krankheit abgrenzen, Einzelheiten 7 Kap. 11.10.1. 4 Beim Zoster oticus (7 Kap. 19) sind Schwindel, Ohrensausen und Hörminderung fast immer mit Trigeminusschmerzen und Fazialislähmung, nicht selten auch mit Lähmungen anderer, benachbarter Hirnnerven verbunden. Das akute Auftreten dieses Syndroms und der Liquorbefund sichern die Diagnose, während der charakteristische Bläschenausschlag in der Tiefe des Gehörgangs oft übersehen wird.

Ziel der prophylaktischen Behandlung ist es, den Endolymphhydrops zu vermindern. Bei wiederholten Drehschwindelattacken sind deshalb indiziert: 4 Betahistin, 3-mal 2 Tbl./Tag à 12–24 mg über 4–12 Wochen mit Dosisreduktion je nach Verlauf. 4 Bei unzureichender Besserung kann zusätzlich zu Betahistin ein Therapieversuch mit Hydrochlorothiazid plus Triamteren erfolgen. Selten ergibt sich bei medikamentös therapieresistenten häufigen Menière-Attacken mit oder ohne Innenohrschwerhörigkeit die Indikation für eine intratympanale Instillation ototoxischer Antibiotika (1–2 ml mit einer Konzentration von 20–40 mg/ml Gentamycin) in mehrwöchigem Abstand.

422

Kapitel 17 · Schwindel und Tetanie

Seit die früher allerorten übliche Sakkotomie, zunächst als Shunt-Operation gedacht, schließlich als Plazeboeingriff erkannt wurde und heute obsolet ist, kommen nur noch deutlich weniger als 1–3% der Patienten für operative Maßnahmen in Betracht. Dabei wird die Durchschneidung des N. vestibularis in der mittleren Schädelgrube oder die Labyrinthektomie ausgeführt.

cken sehr variabel sein. Während der Migräneattacke sind die Patienten besonders empfindlich gegenüber Bewegungen. Viele Patienten mit vestibulärer Migräne haben im Intervall zentrale Okulomotorikstörungen und Nystagmus.

3Prognose. Viele Patienten werden im Laufe der Krankheit, zumal unter dem Einfluss des quälenden Ohrensausens und die Schwerhörigkeit, reizbar, misstrauisch, und ängstlich, so dass die Behandlung auch psychologische oder psychiatrische Probleme stellt. Die Menière-Krankheit kann aber, genau wie die Migräne, nicht als psychosomatisch bedingt angesehen werden. Die Menière-Krankheit geht nicht in ein anderes organisches Leiden des Zentralnervensystems über. Die typischen Anfälle sind kein Frühsymptom des Kleinhirnbrückenwinkeltumors. Mit dem Eintreten der Taubheit setzt das Ohrensausen meist aus, und auch die Schwindelanfälle lassen nach.

Empfindlichkeit gegenüber physiologischen Wahrnehmungen

17.1.5 Vestibularisparoxysmie 3Definition und Leitsymptom. Leitsymptome der Vestibularisparoxysmie sind kurze, Sekunden bis wenige Minuten anhaltende Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit oder ohne Ohrsymptome (Tinnitus und Hörminderung), die bei manchen Patienten von bestimmten Kopfpositionen abhängig sind und sich gelegentlich durch Hyperventilation provozieren lassen. Sie treten mit einer Häufigkeit von 1- bis 30-mal am Tag bis 1-mal im Monat auf. 3Pathophysiologie und Diagnostik. Es wird ein pathologischer Nerv-Gefäß-Kontakt ähnlich wie bei der Trigeminusneuralgie und dem Spasmus hemifacialis angenommen. Im Intervall können Hörminderung und Tinnitus bestehen bleiben. Eine MRAngiographie kann die Diagnose nicht eindeutig sichern oder sie ausschließen 3Therapie. Carbamazepin (300–1800 mg/Tag) ist sehr gut wirksam, was die Hypothese stützt. Auch wurden einige erfolgreiche Janetta-Operationen publiziert.

17

17.1.6 Vestibuläre Migräne Alle Altersgruppen können betroffen sein, am häufigsten sind Patienten zwischen 30 und 50 Jahren betroffen. Die Diagnose episodischer Schwindelattacken bei Migräne liegt nahe, wenn wiederholt reversible Attacken mit Schwindel, Sehstörungen, Stand- und Gangataxie sowie meist okzipital betontem Kopfschmerz bei familiärer Migränebelastung auftreten. Diese Migräneform wird auch als Basilarismigräne bezeichnet. Allerdings können die Attacken bei 30% der Patienten auch ohne Kopfschmerzen auftreten. Auch kann die Dauer der Atta-

17.1.7 Schwindelformen mit gesteigerter

Kinetose (Bewegungskrankheit) Das Phänomen kennt jeder: Man sitzt im Zug, am Nachbargleis steht auch ein Zug mit entgegengesetztem Ziel. Und plötzlich bewegt sich etwas... Ist es der Zug in dem man sitzt, oder der andere. Man spürt keine Beschleunigung, nur aus dem Augenwinkel nimmt man eine Bewegung war. Schließlich ist klar, es ist der Zug auf dem anderen Gleis, der losfährt. Die kurze Unsicherheit hat für die meisten Menschen nur eine bewusste Steigerung der Aufmerksamkeit auf ein sonst unbewusst arbeitendes Kontrollsystem zur Folge, für manche ist dieses Erleben aber unangenehm und kann sogar zur Kinetose überleiten. Die Bewegungskrankheit ist nicht selten. Viele Menschen werden seekrank, vertragen Autofahrten schlecht und sind mit einem Besuch auf einem Jahrmarkt mit Achterbahnen und Karussells schon beim Zuschauen gestraft. Interessant ist, dass bei einer Gruppe von Menschen die Stimulation des Gleichgewichtssinns zu krank machenden und die Lebensqualität einschränkenden Symptomen führt, während es für andere einen angenehmen Nervenkitzel darstellt, der allerdings in bestimmten Situationen (z.B. nach Alkoholgenuss oder reichlichem Essen) ins Gegenteil umschlagen kann. Ursache der Kinetose ist ein subjektiv wahrgenommenes Ungleichgewicht zwischen den vestibulären, optischen und somatischen Afferenzen. Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch, Herzklopfen und Blässe. Man kann die Kinetosen z.T. unterdrücken, indem man den optischen Input verstärkt, z.B. einen Punkt am Horizont fixiert. Unter Deck gehen bei der Schiffreise hilft nicht, sondern macht alles nur schlimmer. Beim Autofahren hilft es oft, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Lesen oder Computerarbeit beim Fahren verschlimmern das Syndrom bzw. löst es erst aus. Dann suggeriert das Auge Ruhe, und das Vestibularorgan Bewegung: Es entsteht das Mismatch zwischen zwei Afferenzen. Der Blick in die Ferne, oder schon aus dem Fenster hilft schnell: Im peripheren Gesichtsfeld, dessen Rezeptoren als Bewegungsrezeptoren angelegt sind, wird Bewegung wahrgenommen, und das System stimmt wieder überein. Interessant ist, dass die Kinetose nicht auftritt, wenn ein Betroffener selbst Auto oder Fahrrad fährt, rudert oder einen anderen Sport treibt, also die Kontrolle hat, ein Phänomen, das unterstreicht, wie sehr Aufmerksamkeit, Erwartung und Konzentration auf die Afferenzen im Vordergrund stehen. Medikamentös nimmt man vor auslösenden Situationen (Flugreise, Schiffreise, lange Auto- oder Busfahrt) Scopolamin

423 17.2 · Tetanie

17

Exkurs Zeichen der gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit 4 Chvostek-Zeichen: Klopfen auf den Fazialisstamm bzw. die Aufzweigungen des Nerven vor dem Kiefergelenk löst als mechanischer Reiz Zuckungen der gesamten mimischen Muskulatur aus. Eine leichte Zuckung nur am Mundwinkel reicht nicht zur Diagnose aus, sondern zeigt lediglich vegetative Labilität an. 4 Fibularisphänomen: In gleicher Weise ist Beklopfen des N. peronaeus (Fibularis) hinter dem Wadenbeinköpfchen von einer kurzen Hebung und Pronation des Fußes gefolgt. Schwach positiver Chvostek und Fibularisphänomen finden sich auch bei vegetativ labilen Personen. Die übrigen Versuche sind bedeutsamer für die Diagnose der Tetanie.

Hautpflaster (Scopoderm TTS 0,5 mg). In den USA sind auch Scopolamin-haltige Kaugummis erhältlich. Höhenschwindel Manche Menschen sind »schwindelfrei«, man denke an Dachdecker oder die Indianer in den USA, die typischerweise die Stahlkonstruktionen von Wolkenkratzern zusammenbauen und in luftiger Höhe ungesichert von einem Stahlbalken zum anderen steigen oder zusammen mit ihren Kollegen das Frühstück genießen. Für andere Personen ist schon das Bild oder nur der Gedanke daran unangenehm und angsterweckend. Höhenschwindel mit Unsicherheit, Schweißausbruch und Herzklopfen tritt oft auf, wenn man vermeintlich ungesichert eine steile Wand oder einen Abgrund herunterschaut. Interessant ist es, dass es oft einen Unterschied macht, ob ein Fenster dazwischen ist oder nicht. Auch ein Geländer hilft. Keine Höhenangst wird dagegen in Aufzügen oder Flugzeugen empfunden. Auch hier liegt ein Mismatch verschiedener Sinnesafferenzen zugrunde. So ist ein typischer Auslöser von Höhenschwindel, wenn man sich auf einen transparenten Untergrund (Glas, Metallgitter, Hängebrücke) über einen Abgrund bewegen soll. Beim Blick in einen tiefen Abgrund nimmt man die propriozeptiven Impulse des Haltungsapperates wahr, während das visuelle System Tiefe, aber nicht Bewegung signalisiert. Übrigens, mit Logik kann man dem Syndrom nicht beikommen Verhaltenstherapeutische Methoden helfen in gewissem Umfang. Man kann dies selbst feststellen, wenn man sich einer höhenschwindelprovozierenden Situation bewusst mehrere Male nähert – die Toleranz steigt. Allerdings werden sie nicht aus einem Menschen mit Höhenangst einen Dachdecker machen können. 17.2

Tetanie

3Pathophysiologie. Hypokalzämie und Alkalose führen zu einer Steigerung der Erregbarkeit des Nervengewebes. Bei Alkalose kommt es zu einer vermehrten Bindung von freiem Ca2+ an

4 Trousseau-Zeichen: Abschnüren der Blutzirkulation am Oberarm führt distal davon nach 3 min zu den Parästhesien und motorischen Symptomen des spontanen tetanischen Anfalls. 4 Hyperventilationsversuch: Maximales Durchatmen über 5 min löst über eine respiratorische Alkalose einen tetanischen Anfall aus. Beim Gesunden kommt es nur zu perioralen und distalen Parästhesien. 4 Verlängerung der QT-Dauer = Verzögerung der Erregungsrückbildung im EKG. Diese ist nicht für Tetanie spezifisch, sondern zeigt nur Mangel an Ca2+ an.

Plasmaeiweiße, so dass eine funktionelle Hypokalzämie bei normaler Serum-Ca2+-Konzentration vorliegt. Bei Mangel an Ca2+ erhöht sich die Permeabilität der Nervenmembranen für Na+. Infolgedessen kommt es zu abnormen Spontanentladungen. Dies erklärt die gruppierten Mehrfachentladungen der Muskelfasern, die spontan und nach elektrischem Einzelreiz im Elektromyogramm nachweisbar sind. Die Anfälle treten bei der seltenen hypokalzämischen Tetanie auf, d.h. bei Ausfall oder Insuffizienz der Nebenschilddrüsen und bei enterogenem und nephrogenem Mangel an ionisiertem Kalzium. Weit häufiger finden wir aber die normokalzämische Tetanie. Hier ist der Ca2+-Spiegel im Blut normal, und die tetanischen Anfälle werden durch eine vorübergehende Alkalose nach – meist psychogener – Hyperventilation oder nach längerem Erbrechen mit metabolischer Alkalose ausgelöst. Für Einzelheiten muss auf die Lehrbücher der Inneren Medizin verwiesen werden. Hier ist nur noch ein Hinweis angebracht: Bei psychisch labilen Personen kann sich der Hyperventilationsmechanismus so bahnen, dass schon wenige Atemzüge genügen, um den Anfall auszulösen. 3Symptome. Oft bekommen die Patienten eine Atembeklemmung, die sie zu verstärkter Atmung veranlasst. Hierdurch werden die tetanischen Symptome verstärkt. In schweren Fällen treten schmerzhafte, tonische Krämpfe in der distalen Extremitätenmuskulatur und im Gesicht auf. Dabei haben die Hände eine »Geburtshelferstellung« (Finger adduziert, im Grundgelenk gebeugt, in den Interphalangealgelenken gestreckt, Daumen eingeschlagen) oder »Pfötchenstellung« (dabei Arme adduziert, im Ellenbogengelenk gebeugt, Handgelenk maximal gebeugt). An den Füßen stellen sich Karpopedalspasmen ein: maximale Plantarflexion, leichte Supination des Fußes. In der mimischen Muskulatur kommt es zum Lidkrampf und zu einer tonischen Vorstülpung des Mundes (»Fischmaul«). Größe und Reaktion der Pupillen sind im Anfall nicht verändert. Das Bewusstsein bleibt klar. Nur ganz selten ist es leicht getrübt.

424

Kapitel 17 · Schwindel und Tetanie

3Diagnose. Epileptische Anfälle gehören nicht zum Syndrom. Sie werden nur in Ausnahmefällen beobachtet, in denen gleichzeitig eine gesteigerte, zerebrale Krampfbereitschaft besteht. Das EEG ist normal oder unspezifisch allgemein verändert. Häufig ist das Kurvenbild durch Muskelpotentiale entstellt, die auch beim Gesunden eintreten, wenn er die Masseteren und Temporalismuskeln anspannt. Im Elektromyogramm mit konzentrischen Nadelelektroden findet man manchmal schon in der Ruhe, stets aber nach lokaler Ischämie und/oder Hyperventilation gruppierte Mehrfachentladungen, die eine spontane Erregungsbildung im Nerven anzeigen (Doubletten, Tripletten). Wenn diese nach i.v.-Injek-

tion von Kalzium nicht mehr durch die standardisierten Provokationsverfahren (s.o.) auslösbar sind, spricht das für hypokalzämische Tetanie. 3Therapie. Eine Therapie ist nur selten nötig. Nur in Fällen von postoperativer hypokalzämischer Tetanie muss Dihydrotachysterin (AT 10) verordnet werden. Die unbesonnene Verschreibung des Präparats bei normalen Elektrolytverhältnissen kann zu schweren Verkalkungen vor allem in den Arterien und in den Nieren führen. Normokalzämische Tetanie soll mit Psychotherapie behandelt werden.

In Kürze Schwindel Ansammlung multisensorieller Syndrome unterschiedlicher Ätiologie. Schwindelwahrnehmung als kortikale Leistung, beruht auf Detektion widersprüchlicher Meldungen optischer, vestibulärer oder tiefensensibler Afferenzen. Benigner, paroxysmaler Lagerungsschwindel. Traumatisch oder spontan abgelöste, anorganische, Otolithenteilchen lagern an »falscher« Stelle im Gleichgewichtsorgan, liefern Gehirn Fehlinformationen, die nicht mit Lageempfinden und Sehen übereinstimmen; es entsteht ein Schwindel. Auslöser: Hinlegen, Aufrichten oder Herumdrehen im Bett mit Lagerung auf betroffenes Ohr, Kopfreklination. Symptome: Kurz dauernde Schwindelanfälle mit rotierender Scheinbewegung, Nystagmus, Übelkeit, Angstgefühl, Schweißausbruch. Diagnose: Wiederholtes Provozieren des Schwindels bis zum Aussetzen. Normaler neurologischer Status. Therapie: Physikalisches Lagerungstraining, keine medikamentöse Dauertherapie, da Schwindel harmlos.

17

Neuritis vestibularis. Akut oder subakut einsetzender, peripher bedingter Schwindel mit Symptomatik des einseitigen Labyrinthausfalls mit gutartigem Verlauf. Symptome: Drehschwindel mit Fallneigung und Übelkeit mit Brechreiz, lebhafter, horizontal rotierender Spontannystagmus zum gesunden Ohr. Therapie: Medikamentöse Therapie, Übungen zur Verbesserung der zentralen Kompensation, Gleichgewichtstraining. Phobischer Attackenschwankschwindel. Ausgelöst durch situative Reize wie Überqueren von Brücken, Gehen auf Treppen, Auto fahren. Phasenhafter Verlauf, normaler organischer Befund. Symptome: Attacken von Benommenheit, Schwankschwindel mit Stand- und Gangunsicherheit. Therapie: Verhaltenstherapie, Aufklärung über auslösende Situation, Antidepressiva. Menière-Krankheit. Symptome: Akuter Drehschwindel, Hörverlust, Brechreiz, Schweißausbruch, Bradykardie, lebhafter,

horizontaler Spontannystagmus, Fallneigung, ungestörtes Bewusstsein. Diagnose: »Pankochleäre« Innenohrschwerhörigkeit, fluktuierende Hörleistungen, schlechtes Sprachgehör, positives Recruitment, vestibuläre Unter- bis Unerregbarkeit. Therapie: Anfall ist selbstbegrenzend, prophylaktische medikamentöse Therapie zur Verminderung der Endolymphhydrops. Vestibularisparoxysmie. Symptome: Sekunden- bis minutenlange Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit oder ohne Ohrsymptome, treten 1- bis 30-mal am Tag bis 1-mal im Monat auf. Diagnose: Pathologischer Nerv-Gefäß-Kontakt. Therapie: Medikamentöse Therapie, Jannetta-Operation. Vestibuläre Migräne. Symptome: Schwindelattacken, Sehstörungen, Stand- und Gangataxie, okzipital betonter Kopfschmerz, zentrale Okulomotorikstörungen, Nystagmus. Kinetose (Bewegungskrankheit). Subjektiv wahrgenommenes Ungleichgewicht zwischen vestibulären, optischen und somatischen Afferenzen wie bei Seekrankheit, beim Achterbahnfahren. Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch, Herzklopfen, Blässe. Therapie: Prophylaktische medikamentöse Therapie. Höhenschwindel. Mismatch verschiedener Sinnesafferenzen. Symptome: Unsicherheit, Schweißausbruch, Herzklopfen. Therapie: Verhaltenstherapeutische Methoden.

Tetanie Durch vorübergehende Alkalose nach Hyperventilation oder nach längerem Erbrechen mit metabolischer Alkalose. Symptome: Atembeklemmung mit verstärkter Atmung, »Geburtshelferstellung«, »Fischmaul«, »Pfötchenstellung«, klares Bewusstsein. Diagnose: EEG: Normal oder unspezifisch allgemein verändert; Elektromyogramm: Gruppierte Mehrfachentladungen, spontane Erregungsbildung im Nerven. Therapie: Selten nötig.

V Entzündungen des Nervensystems 18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute – 426 19 Virale Entzündungen und Prionkrankheiten 20 Entzündungen durch Protozoen, Würmer und Pilze – 477 21 Spinale Entzündungen 22 Multiple Sklerose

– 489

– 484

– 452

18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute 18.1 Akute, eitrige Meningitis – 427 18.2 Tuberkulöse Meningitis – 434 18.2.1 Andere Infektionen mit Mykobakterien – 436

18.3 Andere bakterielle Meningitisformen – 436 18.3.1 Traumatische Meningitis – 436 18.3.2 Listerienmeningitis – 436

18.4 Hirnabszesse – 438 18.5 Embolisch-metastatische Herdenzephalitis – 441 18.6 Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose – 441 18.6.1 Lues – 441 18.6.2 Neuroborreliose – 444

18.7 Clostridieninfektionen – 445 18.7.1 Tetanus – 446 18.7.2 Botulismus – 448

18.8 Andere bakterielle Infektionen – 448 18.8.1 18.8.2 18.8.3 18.8.4 18.8.5 18.8.6

Rickettsiosen: Fleckfieber-Enzephalitis – 448 Leptospirose – 448 Neurobruzellose – 448 Aktinomykose und Nokardiose – 448 Legionellose – 449 Zerebraler M. Whipple – 449

427 18.1 · Akute, eitrige Meningitis

> > Einleitung Das Gehirn, das Rückenmark und deren Häute sind trotz der Barriere, die die Blut-Hirn-Schranke darstellt, Zielorgane einer Vielzahl unterschiedlicher Erreger. Die Infektion erfolgt meist hämatogen, seltener direkt nach Traumen oder Übergreifen einer Infektion aus den Nasennebenhöhlen. Die bakterielle Meningitis mit ihren verschiedenen Erregern und Verlaufsformen führt zu hohem Fieber und Nackensteifigkeit. Nicht selten entwickeln sich Symptome einer Meningoenzephalitis mit epileptischen Anfällen, neurologischen Herdsymptomen und Bewusstseinsstörung. Die tuberkulöse Meningitis wird wieder häufiger. Sie war früher ein besonderes diagnostisches Problem, das heute durch molekularbiologische Untersuchungen leichter gelöst werden kann. Trotzdem bleibt sie in Entwicklungsländern, zusammen mit Unterernährung und den Durchfallskrankheiten, der Grund für die hohe Kindersterblichkeit. Die Neurolues, die man beherrscht glaubte, nimmt wieder an Häufigkeit zu. Die Neuroborreliose ist eine andere Treponemeninfektion mit charakteristischen Krankheitsstadien und guten Therapiemöglichkeiten.

18.1

Akute, eitrige Meningitis

3Definition. Die eitrige Meningitis ist eine Leptomeningitis, d.h. eine bakterielle Entzündung von Pia mater und Arachnoidea. Bei bestimmten Formen ist mehr die Konvexität des Gehirns, bei anderen mehr die Hirnbasis befallen. Grundsätzlich sind aber die weichen Häute von Gehirn und Rückenmark in ihrer ganzen Ausdehnung erkrankt. Der Subarachnoidalraum ist mit seröseitrigem Exsudat gefüllt. Die Entzündung ergreift regelmäßig auch die Ependymauskleidung der Ventrikel. Häufig ist die oberflächliche Hirnrinde entzündlich infiltriert (Meningoenzephalitis). Die Hirnnerven und Rückenmarkswurzeln, die den Subarachnoidalraum durchziehen, sind vielfach ebenfalls ergriffen. 3Epidemiologie. In Mitteleuropa rechnet man mit einer Inzidenz von etwa 5–10 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Die Häufigkeit ist etwas zurückgegangen, vor allen Dingen durch die Einführung der Haemophilus-influenzae-Impfungen im Kindesalter. Dort war dieser Keim bis vor wenigen Jahren die bei weitem häufigste Ursache der Meningitis. In Entwicklungsländern ist die Meningitis, besonders auch die epidemisch auftretende Meningokokkenmeningitis, weitaus häufiger geworden und gehört bei Kindern zu den häufigsten Todesursachen überhaupt. 3Pathogenese. Die Erreger können hämatogen, fortgeleitet von Entzündungen in benachbartem Gewebe und durch offene Hirnverletzung in die Meningen gelangen. 4 Die hämatogene Meningitis entsteht bei der Generalisierung einer bakteriellen Infektion (z.B. Meningitis epidemica) oder durch Streuung aus einem chronischen Eiterherd. Die Erreger können oft in der Blutkultur nachgewiesen werden.

18

4 Die fortgeleitete Meningitis geht meist vom Mittelohr, dem Mastoid oder den Nasennebenhöhlen aus. Im Verlauf einer akuten oder chronischen Otitis media, Mastoiditis oder Nebenhöhlenentzündung dringen die Erreger per continuitatem oder über eine eitrige Thrombophlebitis in den Subarachnoidalraum vor (Symptomatik der septischen Sinusthrombose 7 Kap. 7). 5 Ein weiterer Infektionsweg ist bei Schädel- und Schädelbasisfrakturen gegeben, v.a. wenn die Dura eingerissen ist, besonders an der Hinterwand der Stirnhöhle, die die rostrale Begrenzung der vorderen Schädelgrube ist, der Lamina cribriformis des Siebbeins und des Felsenbeins. Die Häufigkeit von Infektionen wird mit 10–30% bei frontobasalen Frakturen angegeben. Bei diesen Verletzungen sind es Pneumokokken, die das Mittelohr und die Nebenhöhlen besiedeln und in den Subarachnoidalraum einwandern. 5 Bei offener Hirnverletzung gelangen Eitererreger direkt in die Liquorräume und führen sofort oder innerhalb der ersten 2 Wochen zur Hirnhautentzündung.

3Erregerspektrum. Viele Bakterien können eine Meningitis auslösen. In bestimmten Altersgruppen sind manche Keime besonders häufig, andere relativ selten. Im Erwachsenenalter stehen Pneumokokken und Meningokokken im Vordergrund. Zunehmend häufig werden Staphylokokken und Listerien nachgewiesen. Gramnegative Enterobakterien sind relativ selten. Eine Übersicht über die häufigsten Keime in den verschiedenen Altersgruppen gibt . Tabelle 18.1. Auch manche Vorerkrankungen prädestinieren zur Meningitis mit bestimmten Keimen: Bei Hals-NasenOhren-ärztlichen Infektionen (Sinusitis, Tonsillitis, Otitis media oder Mastoiditis) ist eine Infektion mit Pneumokokken sehr wahrscheinlich. Meningokokken sind hier seltener. Nach Schädeltraumen mit offener Verletzung sind Pneumokokken, Staphylokokken und Haemophilus influenzae die häufigsten Erreger. Bei immunsupprimierten Patienten liegen oft Listerien oder Enterokokken vor. Patienten nach Milzentfernung sind für eine Pneumokokkenmeningitis prädestiniert. Bei Alkoholismus kommt es oft zur Listerienmeningitis. Vorangegangene Hautinfektionen oder Abszesse führen hämatogen zur Staphylokokkenmeningitis. Pneumonien können in bis zu 10% der Fälle von Meningitiden kompliziert werden. 3Symptome. Auf eine detaillierte Beschreibung einzelner Meningitisformen und -verläufe wird hier verzichtet, da das klinische Bild in aller Regel keine ätiologische Differenzierung gestattet, sondern, mit wenigen Ausnahmen, für alle Formen der bakteriellen Meningitis sehr ähnlich ist. 4 In vielen Fällen beginnt die Meningitis mit einem Prodromalstadium von wenigen Stunden oder Tagen: Die Kranken fühlen sich matt und abgeschlagen, frösteln, klagen über Kopfweh und Gliederschmerzen und haben eine leichte Temperaturerhöhung. 4 Mit dem Ausbruch der vollen, meningitischen Symptomatik setzen heftigste Kopfschmerzen ein. Rasch entwickelt sich Nacken-

428

Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

. Tabelle 18.1. Bakterielle Meningitis: Erregerspektrum, Erkrankungsalter und prädisponierende Faktoren in Mitteleuropa (Mod. nach Pfister u. Roos, in Hacke et al. 1994; nach Pfister, in Brandt et al. 1996)

Erkrankungsalter Altersgruppe

Erreger

Säuglinge, bis 1. Lebensjahr

1. Enterobakterien (E. coli) 2. Streptokokken (B) seltener: Klebsiellen, Proteus, Pseudomonas, Listerien, Enterobacter

Kinder, 1.–6. Lebensjahr

1. Haemophilus influenzaea 2. Meningokokken 3. Pneumokokken seltener: Streptokokken, Staphylokokken, Pseudomonas, Listerien

Schulkinder, Jugendliche

1. Meningokokken 2. Pneumokokken 3. Haemophilus influenzaea seltener: Streptokokken, Pseudomonas, Listerien

Erwachsene

1. Pneumokokken 2. Meningokokken seltener: Streptokokken, Staphylokokken, Listerien

Prädisponierende Faktoren

18

Vorerkrankung oder besondere Situation

Erreger

HNO-Infektion

1. Pneumokokken 2. Meningokokken

Offenes Schädeltrauma, Durafistel

1. Pneumokokken 2. Staphylokokken 3. H. influenzae

Nach neurochirurgischen Eingriffen, Ventrikelkatheter

1. Staphylokokken 2. Pseudomonas

Endokarditis

1. Staphylokokken 2. Streptokokken 3. Enterokokken

Immunsuppression

1. Listerien 2. Staphylokokken und viele andere

Alkoholismus

1. Pneumokokken 2. Listerien

Drogenabusus (i.v.)

Staphylokokken

Sammelunterkunft (Heim, Kaserne, Kindergarten)

Meningokokken!

a Durch Schutzimpfung gegen H. influenzae Typ b hat die Häufigkeit stark abgenommen.

steifigkeit, oft mit Opisthotonus (griech. opisthen, rückwärts). Bei der Untersuchung sind die Dehnungszeichen nach Lasègue, Kernig und Brudzinski stark positiv. Der Leib der Kranken ist eingezogen. Oft liegen sie in Seitenlage mit gebeugten Armen und Beinen im Bett. Die Haut ist, besonders am Rumpf, so hyperpathisch, dass schon leichte Berührungen sehr starke Schmerzen auslösen. Auch Sinnesreize werden als quälend empfunden. 4 Das Bewusstsein ist oft getrübt, die Patienten sind verwirrt oder delirant. In schweren Fällen vertieft sich die Somnolenz zum Koma. Gewöhnlich besteht Konjunktivitis mit Lichtscheu. 4 Häufig entwickelt sich auch ein febriler Herpes labialis, der für schwere Meningokokken- und Pneumokokkeninfektionen charakteristisch ist. Die Temperatur ist auf über 39 °C erhöht. Das Fieber verläuft septisch oder als Continua. 4 Manchmal ist, besonders bei jüngeren Patienten mit Pneumokokkenmeningitis, der Verlauf so foudroyant, dass innerhalb von 24 h trotz sofortiger Behandlung der Tod durch maximale Hirnschwellung eintritt. 3Komplikationen. Bei manchen Patienten findet man petechiale Hautblutungen, besonders bei Meningokokken-, seltener bei Pneumokokkeninfektion. Das Waterhouse-FriderichsenSyndrom, das bei Meningokokkensepsis vorkommt, ist durch eine disseminierte, intravasale Gerinnung, Sepsis und ausgeprägte Hautveränderungen gekennzeichnet. Wenn die Meningitis oder besser Meningoenzephalitis als Folge einer septisch streuenden Endokarditis entstanden ist, können auch in anderen Körperregionen in der Haut septische Embolien gefunden werden. Ein Lungenversagen (ARDS, adult respiratory distress syndrome) ist bei schwerer Meningitis häufig. Die Infektion prädestiniert zu Venenthrombosen und Lungenembolien. > Nackensteifigkeit, Kopfschmerzen und Fieber sind die

Leitsymptome der bakteriellen Meningitis. Nicht selten treten auch enzephalitische Begleitsymptome, wie Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung, manchmal auch eine akute Psychose hinzu.

3Diagnostik. . Abbildung 18.1 zeigt ein Stufendiagramm der Diagnostik bei V.a. eitrige Meningitis, das sich an den Leitlinien der DGN (2005) orientiert. Serologie: Die BSG ist stark beschleunigt. Im Blutbild findet sich eine erhebliche Leukozytose mit Linksverschiebung. Beim Verdacht auf eine eitrige Meningitis muss versucht werden, den Erreger durch Blutkulturen (mehrfach abnehmen, besonders im Fieberanstieg) zu identifizieren. Sie sind bei 30–50% der Patienten positiv. Liquordiagnostik: Eine Liquoruntersuchung zum Zweck der Diagnosesicherung und Erregeridentifizierung sollte bei nicht bedrohlichem Verlauf in der Regel vor der Antibiose erfolgen. Die Liquoruntersuchung kann zurückgestellt werden, wenn der Verlauf schnell ist, die Diagnose klinisch hochwahrscheinlich ist und eine höhergradige Bewusstseinsstörung, petechiale Blutungen oder Zeichen der Sepsis vorliegen. Der Liquor steht unter

429 18.1 · Akute, eitrige Meningitis

18

konventionelle Röntgenaufnahmen des Schädels geeignet. Große Einschmelzungsherde des Mastoids oder eine Pneumatisationshemmung eines Warzenfortsatzes (chronische Mastoiditis) sind auf diese Weise ebenfalls zu erkennen. Im CT sind auch die Komplikationen der Meningitis, wie Hydrozephalus, Abszess oder Empyem erkennbar. Bei hydrozephaler Ventrikelerweiterung, besonders früh an der Erweiterung der Temporalhörner erkennbar, liegt meist eine Verklebung der Arachnoidea mit mangelhafter Liquorresorption vor. Im Kindesalter ist aber auch eine Aquäduktstenose infolge einer Ependymitis nicht selten. Auf ein CT wird man verzichten, wenn der oben beschriebene foudroyante Verlauf bei Pneumokokken oder Meningokokkenmeninigitis vorliegt. Hier wird auch auf den initialen Liquor verzichtet und sofort antibiotisch behandelt. Im MRT, das bei Verdacht auf Meningitis in der Regel nicht notwendig ist, stellt sich die entzündliche Verdickung der Meningen gut dar (. Abb. 18.4).

. Abb. 18.1. Diagnostisches Vorgehen bei Meningitis

erhöhtem Druck. Er ist trübe bis eitrig und enthält massenhaft segmentkernige Leukozyten (3000–20.000, . Abb. 18.2c).Initial findet sich eine vorwiegend gemischtzellige Zellvermehrung auf 1000–2000/μl, im späteren Verlauf jedoch überwiegen Granulozyten (mehrere 10.000/μl, . Abb. 18.1b,c). Eine apurulente Meningitis mit sehr niedriger Zellzahl findet sich bei immunsupprimierten Patienten, bei denen auch seltene Keime eine bakterielle Meningitis auslösen können. Der Liquorzucker ist unter ein Drittel der Serumglukose abgesunken, d.h. auf ca. 1,2 mmol/l oder weniger, während das Laktat stark erhöht ist. Fallende Laktatspiegel zeigen eine Besserung, erneuter Anstieg ein Rezidiv an. Eine starke Eiweißvermehrung aufgrund der Blut-Hirn-Schrankenstörung ist typisch. Oligoklonale Banden oder intrathekale IgG-Vermehrung gehören nicht zum Bild der bakteriellen Meningitis, zumindest nicht in der Anfangsphase. Bakteriologie: Bei jedem Verdacht auf eine bakterielle Meningitis, selbst wenn das Punktat nicht eitrig ist, soll vor der Behandlung Liquor zur bakteriologischen Diagnostik entnommen werden. Die Erregeridentifikation ist mikroskopisch oder kulturell möglich. Nur bei etwa 50% der Patienten mit eitriger Meningitis gelingt der direkte Erregernachweis (. Abb. 18.3a–c), kulturell gelingt der spätere Nachweis bei 60–70%. Diese geringe Ausbeute kann durch antibiotische Vorbehandlung bedingt sein. > Die gesicherte, bakterielle Meningitis ist, wie viele

andere entzündliche Krankheiten des Nervensystems, meldepflichtig (. Tabelle 18.2).

Neuroradiologie: Ein CT wird praktisch immer vor der LP durchgeführt. Zur Beurteilung von Kieferhöhlen, Stirnhöhlen und Siebbeinzellen ist die Computertomographie weit besser als

3Therapie. Bei eitriger Meningitis leitet man unmittelbar nach der Liquorentnahme eine intravenöse, antibiotische Behandlung ein, die später entsprechend der speziellen Empfindlichkeit der Erreger variiert wird (. Tabelle 18.3a,b). 4 Begonnen wird die Antibiose in der Regel erst, wenn Blutkulturen und Liquor abgenommen sind. 4 Dies gilt allerdings nicht für Fälle, in denen ein so akuter Verlauf der Meningitis vorliegt, dass die Patienten sehr schnell komatös werden. Dann behandelt man auch ohne vorherige Liquoruntersuchung. 4 Die Wahl der Antibiotika richtet sich nach dem vermuteten Keim. Man wird nicht so lange warten, bis ein Keimnachweis erfolgt ist. Eine Ausnahme ist gegeben, wenn bei eindeutiger Vorgeschichte mikroskopisch Diplokokken (Pneumokokken oder Meningokokken) im Ausstrich nachgewiesen werden. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Penicillin-G-Behandlung (4-mal 10 Mega-IE/Tag in Kurzinfusionen) allein ausreichend ist, sehr hoch. Antibiotikakombinationen: Es werden verschiedene Therapieschemata empfohlen, angefangen von der Zweierkombination eines Cephalosporins mit einem Aminoglykosid oder mit Ampicillin (wegen der steigenden Zahl von Listerienmeningitiden) über eine Dreierkombination, mit der auch penicillinasebildende Keime erfasst werden, bis schließlich zu einer Viererkombination, mit der auch seltenere Problemkeime, z.B. Staphylokokken und Listerien, erfasst werden. 80% der üblichen Keime im Erwachsenenalter sind durch Penicillin gut behandelbar. Dennoch wird man bei noch unklarem Erreger die abgestufte Kombinationsbehandlung beginnen und später modifizieren (. Tabelle 18.3). Therapie der Meningokokkensepsis: Wenn sich bei der Meningokokkensepsis ein Waterhouse-Friderichsen-Syndrom einstellt, muss unter Kontrolle der entsprechenden Laborparameter die Verbrauchskoagulopathie behandelt werden. Dies geschieht mit Heparin, Substitution von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten.

430

Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Facharzt

Resistenzen In manchen europäischen Ländern sind inzwischen penicillinresistente Pneumokokken in über 50% der Fälle nachgewiesen. Wenn sich dies auch in Mitteleuropa entwickelt, wird man in Zukunft die Therapie auf ein modernes Cephalosporin umsetzen müssen. Ansonsten richtet man sich bei der Auswahl der Antibiose nach einigen Regeln, wie sie in . Tabelle 18.3 wiedergegeben sind: Zusammengefasst bedeutet dies, dass man jüngere Patienten, die von zu Hause kommen und keine gravie-

18

renden Vorerkrankungen haben, mit Penicillin G behandeln könnte. In der Praxis wird dies allerdings meist nicht getan, sondern mindestens eine Zweierkombination (s.u.) eingesetzt. Vermutet man eine Immunschwäche oder kommt der Patient aus einem anderen Krankenhaus, wo er eine nosokomiale Infektion erlitten haben kann, behandelt man mit einer Dreierkombination. Andere Regeln sind der Tabelle zu entnehmen.

a

b

c

d

. Abb. 18.2a–d. Liquorbefunde. a Liquorzytozentrifugenpräparat, May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Lymphomonozytäre Pleozytose mit kleinen, monomorphen Lymphozyten und einzelnen Monozyten, b Lymphomonozytäre Pleozytose mit kleinen, monomorphen Lymphozyten, transformierten Lymphozyten und Plasmazellen, einzelne Mono-

zyten, c Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit überwiegend neutrophilen Granulozyten und wenigen Lymphozyten und Monozyten, d Tuberkulöse Meningitis mit zahlreichen eosinophilen Granulozyten, Lymphozyten, Plasmazellen und Monozyten. (B. Storch-Hagenlocher, B. Wildemann, Heidelberg)

431 18.1 · Akute, eitrige Meningitis

18

. Tabelle 18.2. Meldepflichtige Infektionskrankheiten des Nervensystems Meldung bei Krankheitsverdacht 5 Botulismus 5 Fleckfieber 5 Poliomyelitis 5 Tollwut 5 Virusbedingtes, hämorrhagisches Fieber 5 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit Meldung bei Erkrankung oder Tod Außer den oben aufgeführten 5 Angeborene Zytomegalie 5 Listeriose 5 Lues 5 Toxoplasmose 5 Bruzellose 5 Leptospirose 5 Trichinose 5 Malaria 5 Meningitis/Enzephalitis – Meningokokkenmeningitis – Andere bakterielle Meningitiden – Virusmeningoenzephalitis 5 Tuberkulöse Meningitis

Chirurgische Therapie: Bei fortgeleiteter Meningitis (Stirnhöhle, Siebbein, Mastoid, Mittelohr) muss sofort operativ der Herd ausgeräumt werden. Anders ist dies bei traumatischen und posttraumatischen Meningitisformen, wo man wartet, bis die Meningitis gut ausgeheilt ist, bevor man die plastische Deckung eines Duradefekts durchführt. Nach frontobasalen Verletzungen mit Liquorrhoe ist plastische Deckung des Defekts nötig, auch wenn scheinbar eine Spontanheilung eingetreten ist (Gefahr der aszendierenden Spätinfektion). Hirnödembehandlung: Ein großes Problem stellt die Hirnschwellung bei Meningitis dar. Möglicherweise kommt sie dadurch zustande, dass sowohl vom entzündeten Gewebe als auch von den absterbenden Bakterien toxische Zytokine freigesetzt werden, die eine Entzündungskaskade mit Ödembildung in Gang setzen. Dies könnte der Grund für besonders schwere und letale Verläufe bei frühbehandelten, jungen Patienten sein. Daher wird heute diskutiert, ob neben der konventionellen Hirnödembe9 . Abb. 18.3a–c. Keime im Liquor. a Liquorzytozentrifugenpräparat, Gramfärbung. Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit Granulozytose und massenhaft, überwiegend extrazellulär liegenden, lanzettförmigen, grampositiven Diplokokken (Streptokokkus pneumoniae), b Liquorzytozentrifugenpräparat, May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit Granulozytose und traubenförmig in Haufen liegenden Kokken (in Kultur Nachweis von Staphylokokken), c Liquor in Fuchs-Rosenthal-Zählkammer, Tuschefärbung. Kryptokokkus neoformans mit dicker, ungefärbter Kapsel. (B. StorchHagenlocher, B. Wildemann, Heidelberg)

432

Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

. Abb. 18.4. Ausgedehnte Kontrastanhebung der Meningen bei bakterieller Meningitis (MRT, T1-gewichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung). (K. Sartor, Heidelberg)

handlung mit Osmotherapie, Normothermie, Hyperventilation und Analgosedierung nicht gleichzeitig Kortison adjuvant hinzugegeben werden sollen. Steroide sind zwar bei der kindlichen, bakteriellen Haemophilus-influenzae-Meningitis wirksam, bei Erwachsenen waren sie lange umstritten. Sowohl in einer Metaanalyse, wie auch in einer großen europäischen Studie konnte ein günstiger Effekt einer adjuvanten Dexamethosangabe bei der bakteriellen Meningitis nachgewiesen werden. Diess gilt vor allem für die Pneumokkokenmeningitis Zusammengefasst kann aufgrund der Ergebnisse der klinischen kontrollierten Therapiestudien und der Daten der Metaanalysen die Gabe von Dexamethason bei erwachsenen Patienten mit V.a. bakterielle Meningitis (d.h. klinischer Verdacht plus trüber Liquor, Nachweis von Bakterien im Liquor in der Gramfärbung oder einer Liquorleukozytenzahl von >1000/µl) empfohlen werden: 4 Dexamethason (Fortecortin) sollte in einer Dosis von 10 mg i.v. unmittelbar vor Gabe des Antibiotikums verabreicht werden. 4 Daraufhin wird mit 10 mg Dexamethason alle 6 h für insgesamt 4 Tage behandelt. Die Nebenwirkungsrate (z.B. gastrointes-

. Tabelle 18.3. Antibiose bei bakterieller Meningitis (In Anlehnung an die Leitlinien der DGN)

Bei unbekanntem Erreger Hinweise aus Vorgeschichte

Behandlungsschema initial

Bislang gesund, nicht immunsupprimiert

Penicillin G initial (Dosierung wie unten) oder Cephalosporin (3. Generation z.B. Cefotaxim 3-mal 2 g) plus Ampicillin (3-mal 5 g)

Nosokomial, nach OP, nach Trauma

Vancomycin (2 g/Tag alle 6–12 h) plus Meropenem (3-mal 2 g i.v.) oder Vancomycin(2 g/Tag alle 6–12 h) plus Ceftazidim (3-mal 2 g)

Immungeschwächt, Alkoholismus

Cephalosporin (3. Generation z.B. Cefotaxim 3-mal 2 g) plus Ampicillin (3-mal 5 g)

Bei bekanntem Erreger

18

Erreger

Antibiotikum

Dosierung/Tag

Meningokokken

Penicillin G oder Ampicillin oder Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder Rifampicin®

4-mal 6–10 Mega 3-mal 5 g i.v. 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)

Pneumokokken – empfindlich

Penicillin G oder Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder Ampicillin

4-mal 6–10 Mega 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 3-mal 5 g i.v.

Pneumokokken – intermediärempfindlich

Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder Meropenem oder

3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 3-mal 2 g i.v.

Pneumokokken – Penicillinresistent

Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) plus Vancomycin alternativ: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) plus Rifampicin

3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 2 g/Tag (alle 6–12 h) 3mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)

H. influenzae

Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) alternativ: Ampicillin plus Chloramphenicol

3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 3-mal 5 g i.v.

433 18.1 · Akute, eitrige Meningitis

18

. Tabelle 18.3 (Fortsetzung)

Bei bekanntem Erreger Erreger

Antibiotikum

Dosierung/Tag

Listeria monocytogenes

Ampicillin plus Gentamycin oder Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder Meropenem oder Cotrimoxazol

3-mal 5 g i.v. 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG) 3-mal 2 g i.v. 2-mal 960 mg i.v.

Staphylokokken (Methicillin-empfindlich)

Flucloxacillin alternativ: Vancomycin oder Fosfomycin oder Rifampicin oder Cefazolin

4- bis 6-mal 2 g. i.v. 2 g/Tag i.v. (alle 6–12 h 0,5–1 g) 3-mal 5 g i.v. 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg) 3- bis 4-mal 2–3 g i.v. (max. 12 g/Tag)

Staphylokokken (Methicillin-resistent)

Vancomycin oder Rifampicin® oder Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder Fosfomycin

2 g/Tag i.v. (alle 6–12 h 0,5–1 g) 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)

Ceftazidim plus Aminoglykosid alternativ: Meropenem plus Aminoglykosid alternativ: Cefepim plus Aminoglykosid Ciprofloxacin

3-mal 2 g i.v.

Anaerobier z.B. Bacteroides fragilis

Metronidazol Meropenem

2- bis 4-mal 500 mg (max. 2 g/Tag) 3-mal 2 g i.v.

Gruppe B Streptokokken

Penicillin G plus Gentamycin alternativ: Ampicillin plus Gentamycin alternativ: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) plus Gentamycin Ceftriaxon Vancomycin

4-mal 6–10 Mega 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG) 3-mal 5 g i.v. 1-ml 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG) 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG) 3-mal 2 g i.v. 2 g/Tag i.v. (alle 6–12 h 0,5–1 g)

Gramnegative Darmbakterien

Ceftriaxon (oder Cefotaxim) plus Aminoglykosid Meropenem plus Aminoglykosid

3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.) 3-mal 2 g i.v.

Pseudomonas aeruginosa

tinale Blutung) scheint unter Dexamethason im Vergleich zu Plazebo nicht erhöht zu sein. 4 Es wird eine Behandlung mit Magenschutzmitteln (z.B. Pantoprazol) empfohlen. 4 Low-dose-Heparinisierung zur Thromboseprophylaxe. 4 Wenn Dexamethason verabreicht wird sollte Rifampicin (in Kombination mit Ceftriaxon) der Vorzug vor Vancomycin gegeben werden. 3Prognose und Verlauf. Schnelle Entwicklung der Meningitis, Bewusstseinsstörungen innerhalb der ersten 24 h, apurulenter Verlauf, höheres Lebensalter, ein vorbestehender Immundefekt und Komplikationen, wie Vaskulitis, Ventrikelempyem und Hydrozephalus sind prognostisch ungünstige Faktoren. Nach Einführung der ersten Antibiotika vom Penicillintyp konnte die bis dahin etwa 80% betragende Meningitissterblich-

3-mal 5 g i.v.

3-mal 2 g i.v. 3-mal 400 mg i.v.

keit auf ca. 20% gesenkt werden. Trotz der großen Fortschritte in der Antibiotikatherapie ist in den letzten Jahren eine weitere Senkung der Mortalität nicht mehr gelungen: Noch immer rechnet man mit einer 10–20%igen Mortalität bei erwachsenen Patienten mit bakterieller Meningitis. Natürlich spielen das steigende Lebensalter und der zunehmende Anteil von Patienten mit schwerer verlaufenden Meningitiden und selteneren Keimen hierbei eine Rolle. Manche Patienten überleben heute schwere Krankheiten, die später zu einer Meningitis prädestinieren. Nach dem Abklingen der akuten Erscheinungen bleiben allgemeine Beschwerden, wie Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit und Schwindel für einige Wochen und Monate bestehen. Der N. acusticus kann bleibende Schäden erleiden. Rezidive oder ein Ausgang mit schweren Defekten sind oft die Folge unzureichender Dosierung oder zu kurzer Dauer der Therapie.

434

Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Leitlinien Behandlung der bakteriellen Meningitis* 4 Bei erwachsenen Patienten mit V.a. bakterielle Meningitis (keine Bewusstseinsstörung, kein fokalneurologisches Defizit) soll unmittelbar nach der klinischen Untersuchung die lumbale Liquorpunktion angeschlossen werden. Nach Abnahme von Blutkulturen werden sofort Dexamethason (10 mg) (⇑⇑) und Antibiotika i.v. verabreicht (A) 4 Bei schwer bewusstseinsgestörten Patienten und Patienten mit fokalneurologischem Defizit (z.B. Hemiparese), bei denen der Verdacht auf eine bakterielle Meningitis besteht, sollen bereits unmittelbar nach der Blutentnahme (für das Anlegen einer Blutkultur) Dexamethason und Antibiotika i.v. gegeben werden; anschließend werden ein Schädel-Computertomogramm und – wenn der CT-Befund nicht dagegen spricht – eine Liquorpunktion durchgeführt (C). 4 Die initiale empirische Antibiotikatherapie bei der ambulant-erworbenen bakteriellen Meningitis im Erwachsenenalter beinhaltet eine Kombination aus Ampicillin und einem Cephalosporin der 3. Generation (z.B. Ceftriaxon) (A)

4 Es muss eine rasche Fokussuche erfolgen, insbesondere eine HNO-ärztliche Konsiliaruntersuchung und Suche nach einem parameningealen Entzündungsherd im CT (z.B. Sinusitis) (A). 4 Bei fehlender klinischer Besserung innerhalb von 2 Tagen nach Beginn der Antibiotikatherapie müssen vor allem folgende Ursachen bedacht werden: Auftreten von intrakraniellen Komplikationen, persistierender infektiöser Fokus, inadäquate Antibiotikatherapie (A). 4 Bei Vorliegen eines erhöhten intrakraniellen Drucks müssen hirndrucksenkende Maßnahmen durchgeführt werden, (z.B. Oberkörperhochlagerung (30°), Osmotherapie, externe intraventrikuläre Liquordrainage bei Vorliegen eines Hydrozephalus (A). 4 Für die arteriellen zerebralen Gefäßkomplikationen (Arteriitis, Vasospasmus) gibt es bislang keine gesicherten Therapieoptionen. 4 Die Antikoagulation mit PTT-wirksamem intravenösem Heparin ist bei septischen Sinus-sagittalis- oder Sinus-cavernosusThrombosen oder kortikalen Venenthrombosen zu empfehlen (C). * Leitlinien der DGN 2005

Exkurs Prophylaxe und Behandlung von Kontaktpersonen Angehörige und Pflegepersonal, die engen Kontakt mit Patienten mit Meningokokkenmeningitis haben, werden mit Rifampicin oral, 2-mal 600 mg/Tag über 2 Tage, behandelt. Für Kinder beträgt die Tagesdosis 20 mg/kg KG. Alternativen

18.2

18

Tuberkulöse Meningitis

3Epidemiologie. Während die tuberkulöse Meningitis in Mitteleuropa relativ selten geworden war, stellt sie immer noch eine der häufigsten Krankheiten in Entwicklungsländern dar. Inzwischen ist aber auch in den USA und in Mitteleuropa die Inzidenz der tuberkulösen Meningitis wieder angestiegen, z.T. wegen veränderter sozialer und ökonomischer Bedingungen, Einwanderern aus Endemiegebieten und in Verbindung mit HIV-Infektionen. Weil die initialen Symptome der tuberkulösen Meningitis unspezifisch sind, dauert es manchmal lange, bis die Diagnose gestellt wird. Die Krankheit tritt bei Kindern und Erwachsenen auf. 3Pathogenese. Die Meningen werden sekundär hämatogen von einer Organtuberkulose aus befallen. Bei Erwachsenen gelingt es häufig nicht, den Primärherd zu finden. Die Diagnose darf deshalb nicht von einem positiven Lungenbefund abhängig gemacht werden. Pathologisch-anatomisch findet man die schwersten Veränderungen an den Meningen der Hirnbasis und des Rückenmarks.

sind einmalige Gaben von Ciprofloxacin (500 mg als Einzeldosis p.o.) oder Ceftriaxon (Erwachsene und Kinder >15 Jahre 250 mg i.m. als Einzeldosis, Kinder Einleitung Vor 25 Jahren war AIDS noch unbekannt. Vor etwas mehr als 15 Jahren wusste man, dass es sich wahrscheinlich um eine Viruskrankheit handelt, die durch sexuellen Kontakt oder durch Blut übertragen werden kann. Die Krankheit wurde in ihren Verlaufsformen schnell bekannt und die Identität des Virus, seine speziellen Eigenschaften und seine Struktur schnell aufgedeckt. Schon nach wenigen Jahren standen die ersten Medikamente zur Verfügung, die den Verlauf der Krankheit leicht modifizieren konnten. Inzwischen kennt man Patienten, die trotz HIV-Infektion nie das Vollbild von AIDS entwickelt haben, und man ist dabei, die genetische Ursache hierfür zu identifizieren. Zwar ist die Hoffnung auf einen Impfstoff noch immer nicht erfüllt, aber neue, virustatische Medikamente haben das Bild von AIDS jetzt schon entscheidend geändert. Manche Forscher sprechen jetzt von einer chronischen, aber nicht mehr von einer zwangsläufig tödlich verlaufenden Krankheit. Dies gilt für die westliche Welt. Hier ist auch die Zahl der Infizierten hinter den Schätzungen zurückgeblieben, nicht zuletzt aufgrund zunächst erheblicher Änderungen im Sexualverhalten. In der Dritten Welt, wo auch viele heterosexuelle Personen an AIDS erkranken, nimmt die Epidemie dagegen weiter ihren Lauf. Allein in Zentralafrika rechnet man mit vielen Millionen Infizierten. Die Aufklärungskampagnen laufen dort ins Leere, und die mit erheblichem Geld- und Forschungseinsatz entwickelten Medikamente sind unbezahlbar. Und inzwischen hat auch in Mitteleuropa und den Vereinigten Staaten die Sorge vor der todbringenden Krankheit wegen der guten Therapiemöglichkeiten nachgelassen: Alte Sorglosigkeit greift um sich und die jüngere Generation kennt die Epidemie von vor 15 Jahren nicht mehr. Folge: Die Zahl der Neuerkrankten steigt wieder. Prione sind in doppelter Hinsicht besondere – ja was eigentlich: Moleküle – oder doch Keime? Es sind die ersten, nicht lebenden, aber biologischen Strukturen, die infektiös sind und von Mensch zu Mensch oder von Tier zu Tier, dort auch über die Artgrenzen hinaus, übertragen werden können. Ihre Biochemie und Pathophysiologie scheint aufgeklärt, vor wenigen Jahren erhielt der Neurobiologe und Neurologe Stan Prusiner für die Aufdeckung des (nicht unumstrittenen) Infektionsweges den Nobelpreis. Zum anderen finden wir bei den Prionkrankheiten aber auch ein bemerkenswertes Lehrstück in Panikmache, Presse- und Massenhysterie, medizinpolitischer Ahnungslosigkeit, von windigen Beratern und falschen epidemiologischen Propheten und schließlich auch unbestritten exzellenten Wissenschaftlern, die gerne ein Problem etwas größer reden, um an plötzlich in erstaunlichem Maße zur Verfügung stehende Fördermittel zu gelangen. Die Rede ist vom Auftauchen der heute noch jedem Laien bekannten BSE (bovinen spongiformen Enzephalopathie) -Epidemie in England, mit Millionen von befallenen Tieren (und in deutlich geringerem Maße in Deutschland und den EU-Ländern). Kurz danach kamen die Berichte von traurigen Fällen einer neuen Variante der

6

19

seit langem bekannten Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, die, ebenfalls in England, viele jugendliche Menschen betraf und zu einer neuen Epidemie mit armageddonartiger Ausprägung hochstilisiert wurde. Die Rede war von zehntausenden Fällen in England und tausenden Patienten, die wir in Deutschland zu erwarten hätten. Die Presse nahm das Thema auf, auch die Politiker, und besonders jene, die immer schon gewusst hatten, dass die moderne Tierhaltung ein Gesundheitsrisiko sei, hatten exzellente Medienpräsenz. Die Aufdeckung der Quelle der BSE, vermutlich die Verfütterung von tierischem Proteinmehl (unter anderem auch mit Gehirnanteilen von Schafen) an vegetarische Kühe und der denkbare Link zur neuen Variante der Creutzfeld-Jakob-Krankheit-(nvCJK-)Endemie in England führte praktisch über Nacht zu Einbrüchen im Rindfleischverzehr von über 50% (würde die Bevölkerung doch nur auch so konsequent auf die seit Jahrzehnten bekannten und bewiesenen mehreren 100.000 Toten pro Jahr, die durch Zigarettenrauchen umkommen, reagieren!). Die Erkrankungszahlen stiegen zum Glück nicht einmal annähernd so an, wie prophezeit worden war. Eigentlich stiegen sie gar nicht an, sondern nehmen seit Jahren deutlich ab. Gute Wissenschaft wurde mit den kurzfristig zur Verfügung gestellten Mitteln gemacht, denn zum ersten Mal gab es eine Förderung zur Erforschung einer Krankheit, die es in Deutschland noch immer nicht gibt. Trotzdem, als ich zur Hochphase der BSE-Krise in England war, habe ich auf das angebotene Rinderfilet und die Beef-and-KidneyPie dankend zugunsten von Fisch verzichtet ...

19.1

Virale Meningitis (akute, lymphozytäre Meningitis)

3Epidemiologie. Alle Altersstufen können betroffen sein, eine Bevorzugung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist aber deutlich. Vermutlich gehen viele virale Infektionen mit einer leichten Begleitmeningitis einher, die aber nicht diagnostiziert wird, weil meist keine Liquoruntersuchung ausgeführt wird. Die ätiologische Diagnose ist schwierig, weil die Krankheitsbilder nicht für bestimmte Ursachen charakteristisch sind: Verschiedene Erreger können eine ganz ähnliche neurologische Symptomatik hervorrufen, andererseits kann derselbe Erreger zu einem breiten Spektrum von Krankheitsverläufen führen, die bald dem Bild einer Meningitis, bald dem einer Enzephalitis oder Meningomyelitis entsprechen. Die Virusmeningitis ist wesentlich häufiger als die eitrige Meningitis. > Die virale, lymphozytäre Meningitis ist die häufigste

entzündliche Krankheit des Nervensystems.

3Erreger. Die Erreger werden in zwei Gruppen unterschieden: 4 Primär neurotrope Viren können außer zu den bekannten, charakteristischen Krankheitsbildern, die weiter unten beschrie-

454

Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

ben sind, auch nur zu einer akuten oder subakuten, lymphozytären Meningitis führen: Zoster-, Arboviren, FSME-Virus und das sehr seltene Virus der lymphozytären Choriomeningitis. 4 Nicht primär neurotrope Viren befallen fakultativ im Generalisationsstadium die Meningen: im Spätsommer und Herbst besonders Echo- und Coxsackie-Viren, ferner sehr häufig (in etwa 30–50% der Krankheitsfälle) das Mumps-Virus, seltener die Viren von Varizellen und Masern, der Erreger der infektiösen Mononukleose und einige Adenoviren. Die Artdiagnose hängt ganz von eingehenden, serologischen Untersuchungen ab, wenn auch allgemeine klinische Symptome gewisse Anhaltspunkte geben können. Wir werden deshalb auch hier Symptomatik und Verlauf zusammenfassend beschreiben. Die wichtigsten Fakten für die Differentialdiagnose sind in . Tabelle 19.1 zusammengestellt, die anschließend kurz erläutert wird. 3Symptome. Die Meningitis setzt mit oder ohne Prodromalerscheinungen ein. Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit und Nervendehnungszeichen sind schwächer ausgeprägt als bei eitriger Meningitis. Das Bewusstsein kann getrübt sein, ist aber oft voll erhalten. Anfälle und zerebrale oder spinale Herdsymptome sind nicht selten, da die Entzündung häufig auf Gehirn oder Rückenmark übergreift. Die Temperatur ist erhöht, erreicht aber nicht die maximale Fieberhöhe wie bei eitriger Meningitis. Der für Viruskrankheiten sonst typische, zweigipflige Temperaturanstieg

ist häufig nicht zu erkennen. Das schwere Krankheitsstadium dauert nur einige Tage, dann klingen die akuten Symptome rasch wieder ab. Danach können noch für einige Wochen leichtere Kopfschmerzen und allgemeine Leistungsschwäche bestehen bleiben. 3Diagnostik. Die BSG ist normal oder nur mäßig beschleunigt. Das Blutbild ist normal oder zeigt Leukopenie und relative Lymphozytose. Der Liquor ist klar, höchstens leicht getrübt, nie eitrig. Die Pleozytose bewegt sich zwischen Werten von etwa 20–30 und mehreren 1000 Zellen. Es gibt sichere Virusmeningitiden mit Werten über 3000 Zellen, im Allgemeinen liegt aber die obere Grenze bei 1500. In den ersten Tagen überwiegen polynukleäre Zellen, später Lymphozyten (. Abb. 18.1a). Das Eiweiß ist häufig normal, seltener auf Werte bis zu 0,7–1,0 g vermehrt. Der Liquorzucker ist nicht erniedrigt. Oft bestehen große Diskrepanzen zwischen der Schwere der klinischen Symptome und dem Liquorbefund. Die Liquorpleozytose geht rasch zurück. Manchmal ist eine geringe Zellvermehrung aber noch für mehrere Wochen nachweisbar. Die Eiweißwerte kehren in der Regel im Laufe einer Woche zur Norm zurück. Die Identifizierung des Virus erfolgt durch ELISA-Technik (enzyme-linked immunosorbent assay) und setzt die Feststellung eines Titeranstiegs über zwei Stufen voraus. Die erste Untersuchung soll möglichst früh erfolgen. Für den Nachweis der akuten Erkrankung werden IgM-Antikörper gefordert. Für manche Viren steht heute die PCR-Diagnostik zur Verfügung.

. Tabelle 19.1. Akute, virale, lymphozytäre Meningitis

19

Erreger

Besondere klinische Symptome (neben der Meningitis)

Echoviren

Bauchschmerzen, Durchfall, Konjunktivitis, Exanthem, gutartige Meningoenzephalitis; gutartige, polioähnliche Lähmungen

Coxsackie A

Fieberhafte Herpangina = Bläschen auf Tonsillen, vorderen Gaumenbögen, weichem Gaumen, Uvula, Zunge, mit Schluckstörungen, Appetitlosigkeit, Leibschmerzen, Erbrechen, gutartige, polioähnliche Lähmungen

Coxsackie B (Bornholm-Krankheit)

Fieber, Muskelschmerzen, Pleurodynie = attackenweiser, thorakaler Muskelschmerz beim Atmen, Husten, Lachen, Pressen

Myxovirus parotidis

Befall anderer Organe: Parotitis (kann asymptomatisch sein), Orchitis, Pankreatitis (Amylasebestimmung!), auch: Meningoenzephalitis, Pleozytose im Liquor kann wochenlang andauern. Später häufig Verhaltensstörungen und EEG-Veränderungen

Epstein-Barr-Virus (infektiöse Mononukleose)

Fieber, Lymphknoten- und Milzschwellung, Gliederschmerzen, Angina, flüchtige Exantheme. Blutbild: starke Vermehrung monozytoider Zellen, auch: Enzephalitis und Guillain-Barré-Syndrom

Polio

7 Kap. 19.3.7

Herpes Zoster

7 Kap. 19.3.2

Arboviren

Zeckenbiss meist Juni-August. Zweiphasiger Verlauf, ähnlich der Polio. Hirnstammenzephalitis und/oder Vorderhornbefall mit schlaffen Lähmungen

Lymphozytäre Choriomeningitis (sehr selten)

Stets sporadisch, durch Hausmäuse übertragen. Langes Prodromalstadium: Müdigkeit, Muskel-, Kreuz-, Halsschmerzen, lange Rekonvaleszenz, auch: schwere Meningoenzephalitis mit Bewusstseinstrübung und Myoklonien

Adenoviren

Fieber, Pharyngitis, Rhinitis, Konjunktivitis, Keratoconjunctivitis epidemica, Lymphknotenschwellung, Exantheme, atypische Pneumonie

455 19.2 · Chronische, lymphozytäre Meningitis

19

Facharzt

Hirnhautreizungen anderer Genese Nach Punktionen und operativen Eingriffen am ZNS findet man gewöhnlich für 1–3 Wochen eine leichte Reizpleozytose ohne besondere Beschwerden. In manchen Fällen kommt es darüber hinaus zu einer akuten, abakteriellen, lymphozytären Meningitis mit stärkerer Pleozytose bis zu einigen 1000 Zellen und leicht erhöhten Eiweißwerten. Diese Reiz- oder Fremdkörpermeningitis führt auch zu Nackensteife, Krankheitsgefühl und leichter Temperaturerhöhung. Die Diagnose ergibt sich aus dem zeitlichen Zusammenhang. Die Reaktion klingt innerhalb 2–3 Wochen wieder ab. Im MRT kann man nach Lumbalpunktionen diese unspezifische Reizung an der Kontrastmittelaufnahme der Meningen erkennen.

Eine enzephalitische Beteiligung ist oft an EEG-Veränderungen zu erkennen (Allgemeinveränderung und Herdbefunde). Die Prognose korreliert nicht mit der Schwere der EEG-Veränderungen, sondern mit deren Dauer im Krankheitsverlauf. Neuroradiologische Untersuchungen dienen nur zum Ausschluss einer anderen Ursache der Beschwerden, in CT und MRT findet man bei schweren Verläufen eine Hirnschwellung, aber keine Parenchymläsionen. 3Therapie und Prognose. Bei der einfachen Virusmeningitis ist eine spezielle Behandlung nicht möglich. Die Patienten halten Bettruhe ein und nehmen bei Bedarf Analgetika ein. Die Prognose der unkomplizierten Verläufe ist gut. 19.2

Chronische, lymphozytäre Meningitis

Eine chronische, lymphozytäre Meningitis wird meist durch nichtvirale Erreger ausgelöst, die an anderen Stellen detailliert besprochen werden. Hierzu zählen 4 Pilze (z.B. Kryptokokkus, 7 Kap. 20.3), 4 Protozoen (Toxoplasmen, Zystizerken; 7 Kap. 20.1), 4 die Tuberkulose (7 Kap. 18.2), 4 Leptospiren (7 Kap. 18.8.2), 4 M. Whipple (7 Kap. 18.8.6) 4 M. Boeck (7 Kap. 19.2.1), 4 M. Behçet (7 Kap. 22.9).

Bei entzündlichen Prozessen in unmittelbarer Nachbarschaft der Liquorräume tritt eine abakterielle Hirnhautreizung auf, die man als sympathische Meningitis bezeichnet. Sie kann akut oder schleichend einsetzen. Die Pleozytose (polynukleäre und Lymphozyten) beträgt höchstens einige 100 Zellen, das Eiweiß ist normal. Erreger lassen sich im Liquor nicht nachweisen. Die meningitischen Zeichen sind nur gering ausgeprägt. Der Verdacht auf sympathische Meningitis ist immer dann gegeben, wenn meningitische Zeichen bei einem Patienten auftreten, der einen entzündlichen Prozess im Mittel- oder Innenohr oder in den Nasennebenhöhlen hat. Immer muss aber eine fortgeleitete, eitrige Meningitis ausgeschlossen werden.

und myelitische Symptome auf. Diese Symptome beruhen teils darauf, dass der entzündliche Prozess auf das Nervenparenchym übergreift, teils auf ischämischen Gewebsschäden durch endarteriitische Veränderungen. Nackensteife und Nervendehnungszeichen sind nur gering ausgeprägt. Die Temperatur ist normal oder nur wenig erhöht. Die übrigen internistischen Befunde werden von der Grundkrankheit bestimmt. Oft sind sie unauffällig. Der Verlauf ist chronisch fortschreitend mit wiederholten Exazerbationen. 3Diagnostik. Der Liquor enthält eine lymphozytäre Pleozytose von einigen 100, seltener 1000 Zellen. Das Eiweiß ist oft vermehrt. Eosinophile Zellen kommen bei manchen Erregern vor. Der Liquorzucker ist bei vielen Formen vermindert. Dies beruht teils auf Veränderungen der Blut-Liquor-Schranke, teils auf der Gegenwart von Mikroorganismen. Auch verhält sich der Zuckerabfall proportional zur Zellzahl im Liquor, besonders zur Zahl der polynukleären Zellen. Das EEG zeigt häufig eine Allgemeinveränderung mit Herdbefunden. 3Therapie. Gelingt auch nach eingehender Suche kein Erregernachweis, behandelt man längerfristig mit Kortikoiden. Die Dosierung ist wie bei der Vaskulitis. 19.2.1 Morbus Boeck

Viele Fälle bleiben auch bei eingehender klinischer, bakteriologisch-serologischer und selbst pathologisch-anatomischer Untersuchung unaufgeklärt.

Die Boeck-Sarkoidose führt in manchen Fällen zu einer basalen Meningoenzephalitis. Die Granulome, die immer um Blutgefäße angeordnet sind, finden sich in den basalen Meningen und im Höhlengrau des III. Ventrikels.

3Symptome. Beschwerden und Symptomatik entwickeln sich schleichend. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche und allgemeine Leistungsminderung. Regelmäßig treten Hirnnervenlähmungen oder enzephalitische

3Symptome. Entsprechend sind die führenden Symptome: Hirnnervenlähmungen, Visusstörungen durch Optikusbefall und Hydrozephalus. Gelegentlich kommt es zum Diabetes insipidus oder zu anderen, hypothalamisch-hypophysären Funk-

456

Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Exkurs Viruslatenz und -persistenz Viruslatenz und -persistenz sind für einige neurotrope Viren charakteristisch: Das Varizella-Zostervirus bleibt nach der ursprünglichen Varizelleninfektion latent in den Spinalganglien bzw. im Ggl. Gasseri inaktiv erhalten, bis es unter dem Einfluss nicht bekannter Stimuli zur manifesten Infektion führt. Das Virus wandert dann zentrifugal entlang des Nerven in die Haut, wo die typischen Effloreszenzen entstehen, sowie fakultativ zentri-

tionsstörungen. Kortikale Lokalisation mit Anfällen und Paresen ist äußerst selten. Die Krankheit verläuft meist chronisch mit Remissionen. 3Diagnostik. Die Diagnose ist nicht schwierig, wenn gleichzeitig die typischen Manifestationen in Lunge, Milz, Haut, Augen (Uveitis, Chorioretinitis) und Knochen vorliegen. Im CT und MRT sieht man ventrikel- und schädelbasisnahe, kontrastmittelaufnehmende Granulome. Es gibt aber auch eine isolierte Meningoenzephalitis beim M. Boeck, die schwer zu diagnostizieren ist. Das gilt ebenso für die seltene, vorwiegend sensible Polyneuropathie. Die Diagnose kann durch Lymphknotenbiopsie, unter Umständen nach Mediastinoskopie, erhärtet werden. 3Therapie. Zur Behandlung gibt man Kortikoide für wenigstens 6 Monate. 19.3

19

Akute Virusenzephalitis

3Pathogenese. Viren können in das Zentralnervensystem entweder entlang der peripheren Nerven und Nervenwurzeln, entlang des N. und Tr. olfactorius, in den meisten Fällen aber hämatogen eintreten. Dabei überwinden sie entweder die BlutLiquor-Schranke in den Plexus chorioidei oder die Bluthirnschranke in kleinsten Kapillaren. Die Überwindung der Schranken setzt eine durch das Virus immunologisch vermittelte Verletzung der Kapillarwände voraus. Es müssen viele Faktoren zusammenkommen, damit die häufigen Virusinfektionen zu den seltenen ZNS-Infektionen führen. Im Gehirn breiten sich die Viren in den Nervenzellen und/ oder in der Glia aus, deren Aufgabe der Transport von Substanzen zu den Nervenzellen ist. Die selektive Aggressivität und Vulnerabilität, die von Virus zu Virus und in einzelnen Immunitätslagen des Individuums unterschiedlich ist, entscheidet darüber, ob eine Enzephalitis umschrieben und gutartig oder ausgedehnt und letal verläuft. Die Zellschädigung mit Untergang von Nervenzellen erfolgt durch direkten Virusbefall, durch Zerfallsprodukte der Viren oder durch immunologische Reaktionen des Wirtsorganismus.

petal ins ZNS, wo eine Meningitis oder Enzephalitis hervorgerufen wird. Die Bevorzugung der Trigeminus- und der thorakalen Areale entspricht dem dort bevorzugten Befall mit Varizellen. Auch das Herpes-simplex-Virus Typ I bleibt latent im Ggl. Gasseri, von wo es unter noch nicht bekannten Bedingungen zentripetal das Nervensystem mit bevorzugter Lokalisation im Hirnstamm erreichen kann.

3Erregerspektrum. Die wichtigsten Viren, die das ZNS befallen, sind 4 die Enteroviren (Echo-, Coxsackie- und Poliovirus), 4 die Paramyxoviren (Mumps-, Masern-, Parainfluenzaviren), 4 das Virus der lymphozytären Choriomeningitis, 4 die Gruppe der Arboviren und 4 die Gruppe der Herpesviren. Zu den neurotropen und humanpathogenen Viren der Herpesgruppe gehören das Herpessimplex-Virus Typ I (HsV), das Varizella-Zostervirus (VZV), das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das Zytomegalie-Virus (CMV). 3Symptome und Verlauf. Wie bei der Meningitis, lässt sich aus der klinischen Symptomatik nur in seltenen, weiter unten gesondert beschriebenen Fällen eine ätiologische Diagnose stellen. Ein zweiphasiger Verlauf, in dem sich ein Prodromalstadium mit allgemeinen Krankheitssymptomen, ein kurzes Intervall und ein subakuter Ausbruch der enzephalitischen Symptomatik abgrenzen lässt, ist häufig nicht zu beobachten oder zu erfragen. In vielen Fällen setzen die Symptome akut aus voller Gesundheit ein und erreichen bereits am ersten Tag ihren Höhepunkt. Nackensteifigkeit fehlt oder ist nur gering. Die Körpertemperatur ist meist erhöht. Bei einigen Arten bestehen initial katarrhalische Erscheinungen, Exantheme oder Gelenkschwellungen. Psychopathologische Veränderungen: Die Mehrzahl der Kranken ist bewusstseinsgetrübt. Dabei werden alle Schweregrade von leichter Verhangenheit oder Benommenheit bis zum Koma beobachtet. In fast der Hälfte der Fälle tritt im akuten Krankheitsstadium eine exogene Psychose auf. Diese kann zu Anfang das Krankheitsbild so beherrschen, dass die Verdachtsdiagnose einer Enzephalitis nicht gestellt wird. Die Patienten sind bald erregt, expansiv, motorisch unruhig und, unter Verkennung der Umgebung, aggressiv; bald sind sie still, verwirrt und desorientiert. Halluzinationen sind selten. Auch ohne schwere Bewusstseinsstörung oder Psychose sind die Kranken durch Verlangsamung, Antriebsmangel, affektive Gleichgültigkeit oder Verstimmbarkeit psychisch auffällig. Neurologische Herdsymptome: Diese werden vom lokalisatorischen Schwerpunkt des entzündlichen Prozesses bestimmt: 4 Ist mehr der Hirnmantel befallen, treten Mono- oder Hemiparesen, kortikale Blicklähmungen, Sprachstörungen, Apraxie und ähnliche neurologische Störungen auf.

457 19.3 · Akute Virusenzephalitis

4 Bei Hirnstammenzephalitis sind einseitige oder doppelsei-

tige Myoklonien besonders charakteristisch. Sie sind von zerebellären oder extrapyramidalen Bewegungsstörungen, Nystagmus, Blicklähmungen oder Blickkrämpfen begleitet. 4 Gelegentlich besteht primär ein akinetisches Parkinson-Syndrom. 4 Auch Rückenmarksyndrome der verschiedensten Art (7 Kap. 3) können vorkommen. Die Vorderhornzellen und die Spinalganglien können befallen werden, bei manchen Erregern (Poliomyelitis) sogar bevorzugt. 4 Fokale oder generalisierte Anfälle sind ein häufiges Initialsymptom. Sie können sich zum Status epilepticus steigern. 3Diagnostik. Blutbild und BSG können normal sein. Der Routinestatus des Liquors (Zellen, Gesamteiweiß, Zucker und Laktat) kann normal sein. Häufig besteht eine leichte Pleozytose um 10–30 Zellen und geringe bis mäßige Eiweißvermehrung bis etwa 0,70 g/l. Stärkere entzündliche Veränderungen sind selten. Oft ist der Liquorzucker erhöht. Die Ursache dafür ist nicht bekannt. Um so wichtiger ist die Untersuchung auf Immunglobuline, besonders der IgM-Klasse. Die PCR aus dem Liquor wird bei Herpes-simplex-Virus, Varizella-Zostervirus und Zytomegalievirus heute schon routinemäßig eingesetzt. Mit Sicherheit wird sich diese Liste noch erweitern. Selbst bei wiederholter, sorgfältiger serologischer Untersuchung gelingt es aber oft nicht, den Erreger zuverlässig nachzuweisen. Das EEG ist im akuten Stadium immer pathologisch. Entsprechend der fluktuierenden Bewusstseinstrübung findet man eine wechselnd schwere Allgemeinveränderung, bei der Hälfte der Fälle Herdbefunde, gelegentlich auch epilepsieverdächtige Abläufe. Im CT und MRT gibt die Enzephalitis einen uncharakteristischen Befund. Man findet oft ein diffuses, seltener lokales Hirnödem. Eine wichtige Ausnahme ist die Herpes-simplex-Enzephalitis (s.u.). 3Differentialdiagnose. Folgende Krankheiten können dem Bild der akuten Virusenzephalitis ähneln: Die Sinusthrombose (7 Kap. 7) ist klinisch und selbst im CT schwierig, im MRT weit besser abzugrenzen. Bei subakutem Verlauf und geringeren psychischen Veränderungen muss, zumal bei Beginn mit Anfällen im mittleren Lebensalter, ein Tumor ausgeschlossen werden. Eine Intoxikation lässt sich durch die schwere, auch herdförmig betonte EEG-Veränderung, durch den entzündlichen Liquor und oft durch den Verlauf ausschließen. Bei entsprechendem Verdacht werden Blut und Urin auf Pharmaka untersucht. Stehen psychische Symptome im Vordergrund, reicht die Skala der differentialdiagnostischen Möglichkeiten von psychogenen Verhaltensweisen bis zur akuten Schizophrenie. Die psychopathologische Abgrenzung kann hier nicht erörtert werden. Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale sind die Bewusstseinstrübung und die begleitenden körperlichen Symptome.

19

19.3.1 Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE) 3Epidemiologie. Die HsE ist die häufigste Form der akuten Virusenzephalitis. Man rechnet mit knapp 1 Neuerkrankung im Jahr pro 100000 Einwohner. Sie wird durch das HsV Typ I verursacht. Es dringt vermutlich über die Riechschleimhaut und den N. und Tr. olfactorius in das Zentralnervensystem ein. Bei Kindern entsteht die HsE auch hämatogen. Pathologisch-anatomische Befunde: Die Entzündung erstreckt sich zunächst auf limbische Strukturen des basalen Temporal- und Frontallappens, und zwar zunächst einseitig, später doppelseitig. Dann dehnt sie sich auch auf nichtlimbische Bezirke des Temporal- und Frontallappens aus. Neben den Zeichen der hämorrhagischen Entzündung findet man ein ausgedehntes Ödem mit Zisternenverquellung. 3Symptome und Verlauf. Die Krankheit beginnt mit einem unspezifischen Prodromalstadium von Allgemeinsymptomen, das 1–4 Tage dauert. Danach setzen neurologische und vor allem neuropsychologische Herdsymptome ein. Viele Patienten werden aphasisch, da die HsE mehr den linken als den rechten Schläfenlappen befällt. Die Patienten bekommen leichte Halbseitenlähmungen und fokale oder generalisierte epileptische Anfälle (Häufigkeit 60%). Das Bewusstsein trübt sich, und unter Temperaturanstieg bildet sich Nackensteifigkeit aus. Unbehandelt, entwickelt sich ein Koma, und 70% der Patienten sterben durch Hirndruck. 3Diagnostik. Im Liquor findet man eine Pleozytose von über 400 Zellen/μl, anfangs Granulozyten, später Lymphozyten, Plasmazellen und einige Erythrozyten. Das Gesamteiweiß ist auf Werte um 1,0–1,5 g/l erhöht. Es besteht eine Störung der Blut-LiquorSchranke. Etwa vom 10. Tag an ist eine lokale Produktion von Immunglobulinen im Liquor nachweisbar (IgG, IgA und IgM), vom etwa 7. Tag an lassen sich HsV-spezifische Antikörper im Liquor nachweisen (Vergleich mit dem Serum). Während dieser Nachweis für eine Therapie zu spät kommt, ist heute mit der PCR ein schneller Nachweis von Virus-DNA möglich (. Abb. 18.4). In einem frühen Stadium findet man im EEG einen einseitigen, temporalen Herd langsamer Wellen. Dann treten in vielen Fällen rhythmische, triphasische Wellen sowie fokale, epileptische Aktivität und Allgemeinveränderung hinzu. Etwa 6–8 Tage nach Beginn der Symptomatik treten oft periodische Komplexe auf, die dann auch über beiden Temporalregionen nachweisbar sind (. Abb. 19.1). Man darf diese periodischen EEG-Veränderungen aber nicht in allen Fällen erwarten. Bis zu 3 Tagen nach Auftreten der ersten neurologischen Symptome ist das CT normal. Der Kontrast zu dem schweren klinischen Befund und den deutlichen EEG-Veränderungen ist bereits sehr verdächtig auf HsV-Enzephalitis. Ab 4.–5. Krankheitstag sind hypodense Areale nachzuweisen, die sich erst in einem (meist dem linken), dann im anderen Temporallappen und im paramedianen, basalen Frontallappen ausdehnen. Ferner finden sich die Zeichen der Zisternenverquellung. Die entspre-

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Exkurs Aciclovir Aciclovir ist teuer. Bei der frühen Therapie »auf Verdacht«, die sehr sinnvoll ist, behandelt man auch viele Patienten mit einer harmlosen Enzephalitis. Bei uns hat nur etwa jeder 10. Patient,

der anbehandelt wird, tatsächlich eine HsE. Man kann die Kosten niedrig halten, wenn man, wie oben beschrieben, die Therapie beendet, sobald klar ist, dass keine HsE vorliegt.

. Abb. 19.1. Periodische Komplexe im EEG eines 48-jährigen Patienten mit Herpes-simplex-Enzephalitis. Im CCT zu dieser Zeit bitemporale Läsionen

19

chenden MRT-Veränderungen treten etwa 2–3 Tage früher auf (. Abb. 19.2a,b). Krankheitsverlauf und typische Befunde sind in . Abbildung 19.3 dargestellt.

man Phenytoin i.v. Um die Gefahr einer Nierenschädigung zu vermindern, soll der Patient so viel Flüssigkeit erhalten, dass er pro 1 g Aciclovir 1 l Urin ausscheidet.

3Therapie und Prognose 4 Man gibt schon bei begründetem Verdacht (enzephalitisches Syndrom, entzündlicher Liquor, EEG-Herd und normales CT) Aciclovir (z.B. Zovirax®) 3-mal 10 mg/kg KG i.v. Bei Niereninsuffizienz erfolgt eine Dosisanpassung. 4 Wenn sich die Diagnose bestätigt, Behandlung über 14 Tage. Bleibt die PCR zweimal negativ und entwickeln sich im MRT keine temporalen Läsionen, wird die Therapie früher abgesetzt. Neue Virustatika sind in Entwicklung. Diskutiert wird eine Steroidbehandlung, um sekundäre neuroimmunologische Verschlechterung, die tierexperimentell nachgewiesen ist, zu unterdrücken. 4 Weitere Virustatika, die zur Behandlung der HsE zugelassen sind, sind Famicyclovir und Valaciclovir. Das Letztere hat eine sehr gute Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe und wird im Körper zu Aciclovir umgewandelt. Äquivalenzdosis: 2-mal 1000 mg Valaciclovir oral entsprechen 3-mal 5 mg/kg Acilovir i.v. 4 Antiödematös behandelt man mit Glycerol 10% 5–20 ml/kg KG oder mit Mannit 20%. Zur antikonvulsiven Behandlung gibt

Unter dieser Behandlung kann die Letalität auf etwa 20% gesenkt werden. Über die Hälfte der Patienten bleibt bei früh einsetzender Therapie ohne gravierende neurologische Defekte. Allerdings gibt es auch heute noch viele Patienten, die mit massiven Gedächtnisstörungen zu leben haben. Wir haben in den letzten Jahren keinen Patienten mit HsE mehr verloren ä Der Fall Eine 40-jährige Patientin wird nach einem plötzlich aufgetretenen, fokal eingeleiteten, generalisierten Anfall in die Notambulanz der Klinik gebracht. Die Angehörigen berichten, dass die Patientin seit einigen Tagen unter Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und leichtem Fieber gelitten habe. Bei der neurologischen Untersuchung ist außer einer amnestischen Aphasie kein Herdbefund feststellbar. Es liegt eine leichte Nackensteifigkeit vor. Die Temperatur beträgt 38,5°C. Das Computertomogramm ist regelrecht, im EEG zeigt sich ein ausge-

6

459 19.3 · Akute Virusenzephalitis

19

a

b . Abb. 19.2. a Frühe Veränderungen im linken Temporallappen und der linken Inselrinde bei Herpes-simplex-Enzephalitis (CT, vierter Krankheitstag). Durch die Hirnschwellung ist die Rindenzeichnung linkshirnig verstrichen und der linke Seitenventrikel imprimiert. (H. Brückmann, München), b MRT bei Herpes-simplex-Enzephalitis, dritter Krankheitstag. In der koronaren Darstellung zeigt sich Kontrastmit-

telaufnahme im basalen Temporallappen beidseits in der Inselrinde (links mehr als rechts). Die T2-betonten Aufnahmen zeigen eine deutliche Hyperintensität im medialen Anteil des linken Temporallappens, in der linken Inselrinde und angedeutet auch in der rechten Inselrinde. (K. Sartor, Heidelberg)

dehnter, links hemisphärischer, temporal betonter Herd mit hochgespanntem, zum Teil rhythmischen Entladungen. Im Liquor ist eine Pleozytose von 200/3 Zellen bei noch normalem Eiweiß festzustellen. Entzündlicher Liquor, normales CT und neurologische Herdbefunde legen den dringenden Verdacht auf eine Herpesenzephalitis (HsE) nahe. Die Behandlung mit Aciclovir wird sofort begonnen. Die Herpes-PCR ist am nächsten Tag positiv. Im Kernspintomogramm zeigt sich eine linkstemporale, im T2-Bild hyperintense, nicht kontrastmittelaufnehmende Zone in der Inselrinde und im benachbarten Temporallappen. Unter zusätzlicher antikonvulsiver Behandlung

bilden sich die Symptome nach wenigen Tagen bis auf eine geringe, verbleibende amnestische Aphasie zurück. Nach 14-tägiger Aciclovir-Behandlung erholt sich die Patientin vollständig.

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19.3.2 Zosterinfektionen

(Varizella-Zoster-Virus, VZV) Das VZV verursacht verschiedene neurologische Krankheiten. Neben der Zosterenzephalitis sind die Zostermyelitis, die Zosterradikulitis/-neuritis (Gürtelrose) und die hiermit oft verbundene Zostervaskulitis zu nennen:

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

. Abb. 19.3. Klinische, apparative und liquordiagnostische Befunde bei der Herpes-simplex-Enzephalitis. (Nach Hacke u. Zeumer 1985)

Klinik : Kopfschmerzen ; Fieber ; Erbrechen

Wernicke - Aphasie ; zunehmende geringe Hemiparese ; Bewußtseinstrübung ; Somnolenz ; Hemiparese fokale, sekundär generalisierte Anfälle

Q Alb U

MN

Liquor - Aktivität spezifischer Antikörper

100

500

Serum - Aktivität spezifischer Antikörper [U] Mononukleäre Zellen (MN) Q - Albumin (Q Alb) PCR

50

PCR nach erstem 10 Tage neurologischem Herdsymptom

0 5 CT: MRT:

bis 3. Tag 2. Tag

4 - 6. Tag 4. Tag

normal

unilaterale temporale hypodense Läsion

EEG : temporaler Herdbefund ; epileptische Aktivität ; zunehmende Allgemeinveränderung (AV)

4 Die Zosterenzephalitis ist selten. In ihren Symptomen ist sie

von der Herpes-simplex-Enzephalitis kaum zu unterscheiden. Im CT und im MRT halten sich die Läsionen nicht so streng an das limbische System. Therapie und Prognose sind wie bei HsE. 4 Die Zostermyelitis ist an wechselnden Strangsymptomen des Rückenmarks, vor allem an Reflexdifferenzen, pathologischen Reflexen, Paresen, querschnittartigen Sensibilitätsstörungen und Blasenstörungen zu erkennen. Sie ist praktisch nicht von einer anderen Querschnittsmyelitis zu unterscheiden. Im Folgenden wird schwerpunktmäßig die Zosterneuritis, Herpes zoster (Gürtelrose) behandelt.

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3Epidemiologie und Pathogenese. Der Zoster ist eine vom Varizella-Zoster-Virus ausgelöste Krankheit, die sporadisch und vorwiegend bei Erwachsenen auftritt. Die Häufigkeit des Zoster nimmt mit dem Lebensalter zu. Es handelt sich um eine Allgemeininfektion mit lokaler Manifestation in den sensiblen Ganglien und der Haut. Das Virus ist mit dem Varizellenvirus identisch. Varizellen zeigen die Erstinfektion des voll empfindlichen Individuums an, Zoster die Zweiterkrankung durch verbliebene oder neu eingedrungene Erreger bei partieller Immunität. Bei

ab 7. Tag ab 5. Tag

bitemporale u. bifrontobasale Läsion mittelschwere bis schwere AV; periodische Komplexe (fokal, multifokal generalisiert)

Kindern führt lokale Inokulation von Zostervirus in die Haut zu typischen Varizellen, von denen andere Kinder mit einer Inkubationszeit von etwa 2 Wochen angesteckt werden können. Die Kinder sind danach gegen Varizellen resistent. Erwachsene bekommen nach Kontakt mit Varizellenkindern nicht selten Zoster. Haben sie in der Kindheit Varizellen durchgemacht, können sie später aber dennoch einen Zoster bekommen. 3Symptome. Die Inkubationszeit beträgt 7–14 Tage. Die Krankheit beginnt mit Allgemeinerscheinungen, wie Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen, leichte Temperaturerhöhung und gelegentlich Nackensteifigkeit. Im Versorgungsgebiet des betroffenen, sensiblen Ganglions treten dumpfe oder ziehende Schmerzen auf. Am 3.–5. Tag schießen die typischen Hauteruptionen auf: Gruppen von Bläschen, die segmental angeordnet sind. Die Lokalisation ist meist einseitig. Am häufigsten ist eines der Thorakalsegmente betroffen (»Gürtelrose«). Weitere Lokalisationen sind die unteren Zervikalsegmente (Schulter-Arm-Region), das Gebiet des 1. Trigeminusastes (Zoster ophthalmicus), seltener der anderen Trigeminusäste (Befall des Ggl. semilunare) oder die Ohrregion bei Befall des Ggl. geniculi (Zoster oticus). In dem betroffenen Hautareal lässt sich gewöhnlich eine Sensibilitätsstörung nachweisen.

461 19.3 · Akute Virusenzephalitis

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Exkurs Sonderformen des Zoster Symptomatischer Zoster. Er kann bei traumatischen oder destruierenden Wirbelläsionen oder bei schweren, malignen Allgemeinkrankheiten auftreten, namentlich bei HIV-Infektion, Karzinomen, Plasmozytom, Leukämie, Lymphogranulomatose. Der Verdacht ist besonders dringlich, wenn mehrere Segmente betroffen sind. Auch in diesen Fällen handelt es sich aber um echte Zoster-Infektionen. Hier ist die Gefahr der Generalisierung durch Steroidtherapie besonders groß. Zoster ophthalmicus. Er äußert sich in einseitigem Befall der Stirnhaut unter Beteiligung von Konjunktiva und Kornea, die lebhaft injiziert sind. Dabei entwickeln sich oft auch Keratitis, Iritis, Neuritis nervi optici und Augenmuskellähmungen, diese infolge einer begleitenden basalen Meningitis. Bei Virusinvasion der Gefäße sind ipsilaterale Hirninfarkte möglich. Der Zoster ophthalmicus kann, wie Zoster überhaupt, auch ohne die typischen Hauteruptionen auftreten. Die Diagnose muss dann nach den lokalisierten Schmerzen mit Hautrötung, Injektion des Auges und entzündlichen Liquorveränderungen gestellt werden. Neben der systemischen Aciclovir-Behandlung gibt man lokal Aciclovir-Augensalbe zur Verhinderung von Korneanarben. Zoster oticus. Die initialen Schmerzen bei Zoster oticus sind im Ohr, im seitlichen Gesicht oder Nacken lokalisiert. Die Bläschen schießen auf der Ohrmuschel, dem Ohrläppchen, oft aber versteckt in der Tiefe des äußeren Gehörgangs und auf dem Trommelfell auf. Sie können auch seitlich am Hals, auf der

Nach wenigen Tagen lassen die Schmerzen langsam nach, die Bläschen verschorfen und fallen ab. Sie hinterlassen meist kleine, weißliche Narben oder bräunliche Pigmentverschiebungen. Sie können auch nekrotisch zerfallen (Zoster gangraenosus). Es gibt auch motorische Ausfälle: Reflexabschwächung und Lähmung in den betroffenen Segmenten. Selten wird der Grenzstrang befallen, und man findet eine Anhidrose. 3Verlauf. Bei jüngeren Personen heilt der Zoster klinisch folgenlos ab. Bei älteren Patienten kann sich eine sehr hartnäckige Zosterneuralgie anschließen. Sie äußert sich in ziehenden, bohrenden oder brennenden Dauerschmerzen, die durch Analgetika kaum zu beeinflussen sind. Es ist oft sehr schwierig, den rein organischen und den reaktiv-seelischen Anteil dieses Krankheitszustands richtig einzuschätzen. 3Pathologie. Pathologisch-anatomisch ist beim unkomplizierten Zoster meist nur ein Spinalganglion oder das Ggl. Gasseri bzw. Ggl. geniculi betroffen. Mikroskopisch bestehen entzündliche, lymphoplasmazelluläre Infiltrationen mit hämorrhagischen

Zunge und am weichen Gaumen lokalisiert sein. Das befallene sensible Ganglion ist das Ggl. geniculi. Regelmäßig tritt in der 1. oder 2. Krankheitswoche eine Fazialislähmung auf, oft mit halbseitiger Geschmacksstörung und Beeinträchtigung der Speichelsekretion. Weitere, fakultative Hirnnervensymptome sind: Ohrensausen, Hörminderung, Drehschwindel, Übelkeit und Brechreiz, Sensibilitätsstörung, vor allem im N. trigeminus, Abduzenslähmung, Hypoglossuslähmung und Parese des motorischen N. vagus. Ein Reizsymptom des Vagus ist der Singultus. Der Liquor ist praktisch immer akut entzündlich verändert. Fazialislähmung und Hörstörung bilden sich oft nur unvollständig wieder zurück. Die übrigen Symptome haben eine gute Prognose. Zoster-Zerebellitis. Eine weitere Komplikation ist die ZosterZerebellitis, die im Anschluss an einen Zoster oticus auftreten kann und akute Symptome einer Entzündung des Neozerebellums hervorrufen kann. Es handelt sich um eine parainfektiöse Entzündung (s. Kap. 19.5). Die Prognose ist in der Regel gut. Differentialdiagnose nach systemischem Zoster: Paraneoplastische, zerebelläre Degeneration, Diagnose über den Nachweis von Purkinje-Zell-Antikörpern (7 Kap. 13). Zostervaskulitis. Eine weitere parainfektiöse, immunmediierte Folge einer lokalen Zosterinfektion ist eine umschriebene Arteriitis (Zostervaskulitis), die zu sekundären, ischämischen Symptomen führen kann. Behandlung mit Steroiden.

Nekrosen. Die benachbarten, sensiblen Spinalnerven und -wurzeln sind entmarkt. Bei Zostermyelitis ergreift ein analoger Prozess auch das Rückenmark, besonders die Hinterhornregion. Manchmal werden auch die Vorderwurzeln betroffen. 3Diagnostik. Im Liquor findet man eine lymphozytäre Pleozytose um 20–70 Zellen bei normalen Eiweißwerten. Entwickelt sich eine ausgedehnte Zostermeningitis, besteht klinisch ein schwerer Krankheitszustand mit hohem Fieber, Nackensteifigkeit und Bewusstseinstrübung. Die Zellvermehrung kann dann bis auf mehrere 1000 ansteigen. In diesem Fall ist auch das Eiweiß auf Werte um 0,70–1,00 g/l erhöht. Leichte, entzündliche Liquorveränderungen bleiben noch für Wochen nachweisbar. 3Therapie. Eine antivirale Therapie sollte innerhalb von 72 h nach Auftreten der Effloreszenzen begonnen werden. 4 Die orale Behandlung mit Valaciclovir (3-mal 1 g für 7 Tage) ist der oralen Therapie mit Aciclovir (5-mal 800 mg für 8 Tage) überlegen aufgrund der 3- bis 5fachen besseren Bioverfügbarkeit gegenüber Aciclovir.

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

4 Die Dauer der Zoster-assoziierten Schmerzen (akuter Zos-

terschmerz wie auch postherpetischer Zosterneuralgie) wird durch Valaciclovirgabe deutlich verkürzt. 4 Bei immunsupprimierten Patienten wird derzeit die orale Gabe von Aciclovir empfohlen (5-mal 800 mg/Tag). 4 Während früher von Kortikoiden abgeraten wurde, weil sie eine Generalisierung des Zoster begünstigen sollten, schreibt man heute der begleitenden, frühzeitigen Kortikoidbehandlung (30–60 mg Prednisonäquivalent) den Effekt zu, einer Zosterneuralgie entgegenzuwirken, möglicherweise durch Unterdrückung einer Angiitis. 4 Dermatologische Behandlung, bei Superinfektionen: Antibiotikasalben, Schmerzmittel, eventuell kombiniert mit Amitriptylin, 2- bis 3-mal 25 mg oral oder als Infusion.

sich das Virus in den Lymphknoten. In den Endemiegebieten sind bis zu 5% der Zecken Träger des Erregers. Die Krankheit ist endemisch in Österreich, Tschechien, Slowakien und in Süddeutschland. Hier breitet sie sich langsam aber sicher weiter nach Norden aus. 3Symptome. Nach einer Inkubationszeit von 1–2 Wochen kommt es im Stadium der Virämie zu allgemeinem Krankheitsgefühl, Fieber und Kopfschmerzen. Nach einem fieberfreien Intervall folgt eine Meningoenzephalitis, die auch auf das Myelon übergreifen kann. Schwer verlaufende Fälle mit Lähmungen, die an Poliomyelitis erinnern, kommen vor. Die Mortalität liegt unter 2%, Defektheilungen findet man bei etwa 10% der Patienten. 3Diagnostik. Nachweis von FSME-IgM im Serum und im Li-

19.3.3 Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) Die EBV-Meningoenzephalitis tritt häufig als Hirnstammenzephalitis mit Zerebellitis auf. Eine Polyneuritis kann hinzutreten. Eine Mononucleosis infectiosa (Pfeiffer-Drüsenfieber) mit ihren allgemeinen Symptomen ist meistens gleichzeitig vorhanden. Auch hier hilft die Behandlung mit Aciclovir. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, dennoch kommen auch schwer verlaufende Fälle vor. Dann steht therapeutisch noch das relativ toxische Foscarnet zur Verfügung. 19.3.4 Zytomegalie-Virus-Infektion (CMV) Die CMV-Meningoenzephalitis tritt häufig durch Reaktivierung eines früheren Infektes bei immunsupprimierten Patienten auf. Nicht selten werden auch andere Organe (Lunge, Herz, Leber) infiziert. Die CMV-Infektion bei immunsupprimierten, transplantierten Patienten kann zur Transplantatabstoßung führen. Auch ein polyneuritischer Verlauf der Infektion ist bekannt. 3Therapie. Bei Transplantatempfängern und bei Patienten, die aus anderen Gründen immunsupprimiert sind, kann eine Hyperimmunglobulinprophylaxe gegen CMV (Cytotect R) erfolgen. Die akute CMV-Meningoenzephalitis wird mit Ganciclovir (Cymeven®), einem weiteren Nukleosidanalogon, das gegen verschiedene Viren der Herpesgruppe wirksam ist, behandelt. 19.3.5 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)

19

3Erreger und Pathogenese. Weltweit sind Arboviren die Ursache für eine Vielzahl von Enzephalitiskrankheiten, die meist über Moskitos oder Zecken verbreitet werden. In Mitteleuropa ist die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) von Bedeutung. Sie wird, wie die Borreliose, von Zecken der Art Ixodes ricinus übertragen. Nach Infektion durch einen Zeckenbiss vermehrt

quor. Im Liquor findet man meistens eine sehr deutliche, lymphozytäre Pleozytose bei mäßiger Eiweißerhöhung. 3Therapie. Eine spezifische Therapie existiert nicht. Die passive Immunisierung mit IgG-Antikörpern nach Kontakt wird nicht mehr empfohlen, da es hierunter zu Exazerbationen des Krankheitsverlaufs kam, derzeit ist in Deutschland deshalb auch kein Präparat mehr auf dem Markt erhältlich. Die Chance, eine FSME zu bekommen, ist sehr gering und dürfte nicht viel höher liegen als das Risiko, eine Komplikation der IgG-Behandlung (Serumkrankheit) zu bekommen. Die aktive Immunisierung von Personen, die in Endemiegebieten leben und ein besonderes Risiko der Infektion haben, wird empfohlen. 19.3.6 Coxsackie- und Echovirus-Meningitis 3Epidemiologie und Pathogenese. Beide entstehen durch hämatogene Aussaat bei einer systemischen Infektion. Coxsackieviren befallen häufig auch das Herz, die Echoviren häufig die Leber. Der primäre Infekt erfolgt meist oral, seltener über die Lunge. Infektionen treten gehäuft im Sommer und Frühherbst auf. Die Inkubationszeit beträgt meist 5–10 Tage. 3Symptome. Hohes Fieber und allgemeine Zeichen einer Virusinfektion (Grippe) mit Rhinitis, Pharyngitis, Erbrechen, Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen und Lymphdrüsenschwellung sind die Allgemeinsymptome. Später entwickeln sich Zeichen einer Meningoenzephalitis. Bei Coxsackieinfektionen der Gruppe B entsteht die Bornholm-Krankheit mit Pleuraschmerz und Interkostalneuralgie. Sie kann durch Myokarditis kompliziert sein. Neben den typischen Zeichen der Virusmeningitis können Anfälle und myelitische Symptome auftreten. 3Diagnose. Der Liquor zeigt eine variable Zellzahlerhöhung, meist mononukleärer Zellen. Das Eiweiß kann leicht erhöht sein,

463 19.3 · Akute Virusenzephalitis

der Zucker ist meist normal. Serologisch weist man den Infekt über spezifische IgG und IgM Antikörper nach. 3Therapie. Eine spezifische Therapie existiert nicht. Bei Patienten mit B-Zell-Schwäche oder Agammaglobulinämie gibt man Gammaglobuline, Gleiches gilt auch für die Infektion von Neugeborenen. Trotz der schweren und in der Akutphase manchmal lebensbedrohlichen Symptomatik ist die Prognose insgesamt günstig, wenn nicht ein Immundefekt zugrunde liegt. 19.3.7 Poliomyelitis acuta anterior (Polio) 3Epidemiologie und Pathogenese. Seit Einführung der Polioschutzimpfung ist die Inzidenz dieser Krankheit, die früher zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen gehört hat, dramatisch gesunken. In Deutschland werden jährlich nur noch wenige Fälle gemeldet. In Entwicklungsländern mit fehlendem Impfprogramm ist die Krankheit immer noch ein sehr großes Problem. Nachlassende Impfbereitschaft führt auch hier wieder zu einem leichten Anstieg. Nach serologischen Kriterien werden drei Virustypen unterschieden, von denen Typ 1 die letzten größeren Epidemien verursachte. Die Übertragung erfolgt von Mensch zu Mensch, in erster Linie durch Schmutz- und Schmierinfektion. Das Virus wird per os aufgenommen und vermehrt sich zunächst in der Schleimhaut des Pharynx oder Darms. In der ersten Woche nach der Infektion kommt es zur Virämie. Die Inkubationszeit beträgt 3–14 Tage. An diese schließt sich bei einem kleinen Prozentsatz der Infizierten ein Befall des ZNS oder der Meningen an. Das Virus gelangt hämatogen in das Zentralnervensystem und befällt bevorzugt die graue Substanz und hier besonders die Vorderhornzellen im Rückenmark und die Kerne der motorischen Hirnnerven. Die Bedingungen für das Auftreten manifester Krankheitssymptome sind nicht bekannt. Traumen, Allgemeinkrankheiten, körperliche Anstrengungen haben darauf keinen Einfluss. Lediglich die Tonsillektomie im Inkubationsstadium begünstigt das Eindringen der Viren ins Nervensystem. Pathologisch-anatomisch findet man bei Poliomyelitis, gleich welcher Ätiologie, entzündliche Infiltrate mit Untergang von Ganglienzellen und reaktiver Gliawucherung. Die Veränderungen sind in der Vorderhornregion des Rückenmarks, in der Formatio reticularis und den motorischen Hirnnervenkernen von Medulla oblongata und Brücke sowie in der vorderen Zentralwindung der Hirnrinde lokalisiert 3Symptome. Die Infektion bleibt meist asymptomatisch (was wiederum zur Verbreitung der Infektion führen kann). Von den klinisch symptomatischen Patienten haben viele nur eine benigne, aseptische Meningitis mit allgemeinen Krankheitssymptomen, wobei aber andauernde Immunität gegen den aufgenommenen Virustyp durch Bildung neutralisierender Antikörper erworben wird.

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Nur wenige Patienten entwickeln die Symptome des Vollbildes einer Poliomyelitis durch Befall von Rückenmark und Hirnstamm. Dann kommt es zur asymmetrischen, oft proximal betonten Lähmung und Atrophie verschiedenster Muskelgruppen und Hirnnerven, manchmal auch der Atemmuskeln. Etwa 10% der Patienten mit Poliomyelitis müssen beatmet werden, und auch tödliche Verläufe sind heute noch möglich. Die paralytische Phase führt in wenigen Tagen zur schlaffen, asymmetrischen Lähmung, die an den Beinen meist stärker ausgeprägt ist als an den Armen. Interkostalmuskeln und Zwerchfell können beteiligt sein. Die Hirnnervenlähmungen führen zu Schluckstörung und Aspirationsrisiko. Wenn Anfälle oder eine höhergradige Bewusstseinsstörung auftreten, ist die Prognose schlecht. In einzelnen Fällen wurde mit Latenz von Jahren und Jahrzehnten eine fortschreitende Vorderhorndegeneration mit zunehmenden, segmentalen Lähmungen nach Poliomyelitis beschrieben (Postpoliosyndrom). Der immer wieder postulierte Übergang der Polio in eine ALS ist nicht bewiesen. 3Diagnostik. Die Zellzahl im Liquor ist auf 100–200 Zellen erhöht, im Verlauf entwickelt sich ein lymphozytäres Zellbild. Das Protein ist leicht erhöht, die Glukose normal. Der Erregernachweis erfolgt aus dem Stuhl. Liquor- und Blutkulturen sind selten positiv. 3Therapie 4 Poliokranke werden isoliert und müssen Bettruhe einhalten. 4 Spezifische Medikamente gibt es nicht, deshalb wird die Krankheit durch intensivmedizinische Behandlung der Komplikationen kontrolliert. Hierzu gehört vor allem die Unterstützung der Atmung. Historisch interessant ist, dass die Poliomyelitis die Krankheit ist, mit der die Ära der künstlichen Beatmung – zunächst mit einer eisernen Lunge – begonnen hat. Vermeidung von Aspiration, Überwachung der kardiovaskulären Funktion und Behandlung von Komplikationen, wie epileptischen Anfällen sind selbstverständlich. 4 Nach Überstehen der akuten Infektion erholen sich die Patienten zunächst recht gut. Lähmungen, die nach 6 Monaten noch vorliegen, bilden sich aber meist nicht mehr zurück. Differentialdiagnostisch müssen das Guillain-Barré-Syndrom, andere Polyradikulitissyndrome nach Zeckenbiss oder Tollwut und Botulismus ausgeschlossen werden. Gleichartige Symptome werden auch durch andere Viren hervorgerufen, namentlich Echo-, Coxsackie-, FSME-, EBV-und bestimmte Arboviren. 19.3.8 Myxoviren Von den Myxoviren verursachen das Influenza-A- und -B-Virus, das Mumpsvirus und das Parainfluenzavirus eine Meningitis bzw. Meningoenzephalitis. Der Verlauf kann bei Influenza-

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

infektionen manchmal schwer sein, sonst sind die Krankheiten weniger gefährlich und selbstlimitierend. Das Masernvirus verursacht eine parainfektiöse Enzephalitis (7 Kap. 19.5). 19.3.9 Rabies (Lyssa, Tollwut) 3Epidemiologie und Pathogenese. Die Tollwut ist weltweit verbreitet und in Entwicklungsländern immer noch eine häufige Krankheit. In Mitteleuropa und in den USA ist sie sehr selten. Einige Staaten, wie die Britischen Inseln, Japan oder Australien sind tollwutfrei. Die Infektion erfolgt durch direkten Kontakt mit Speichel oder anderem infektiösem Material, fast immer durch Bissverletzungen. Füchse, Fledermäuse, Nager, Hunde und verschiedene andere Tiere können infizierte Überträger sein. Das Tollwutvirus breitet sich retrograd neurogen aus, vermehrt sich in den Spinalganglien und gelangt danach in das ZNS. Die Inkubationszeit ist relativ lang und liegt im Mittel zwischen 20 und 90 Tagen. Bei großen Verletzungen kann sie kürzer sein. Pathologisch-anatomisch findet man enzephalitische Herde in der Mittellinie des Gehirns, im Hypothalamus, in der Substantia nigra, um den Aquädukt, dorsal in der Brücke und Medulla oblongata und auch im Rückenmark. Weitere Herde, die auch die charakteristischen intrazellulären Einschlüsse (Negri-Körperchen) enthalten, liegen im Hippokampus und Kleinhirn. Besonders stark ist das limbische System betroffen, woraus sich die meisten Symptome erklären.

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3Symptome. Die Symptome beginnen mit lokalen Schmerzen und Parästhesien, es folgt eine Phase mit allgemeinem Krankheitsgefühl, Fieber und Reizbarkeit. Hierauf folgen die Zeichen der Beteiligung des zentralen Nervensystems. Schließlich gelangt das Virus wieder in die Peripherie des Körpers, vor allem in die Speicheldrüsen. Die Symptomatik wird in 3 Stadien eingeteilt: 4 Im Prodromalstadium bestehen allgemeines Krankheitsgefühl, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und gedrückte Stimmung. Charakteristisch sind eine starke Empfindlichkeit der Bissstelle mit ausstrahlenden Missempfindungen und eine Überempfindlichkeit gegen Sinnesreize, die sich durch massive, spastische Verkrampfungen der Gesichts-, Rumpf- und Zwerchfellmuskulatur bemerkbar macht. Das Gesicht ist verzerrt (Risus sardonicus). Allmählich werden die Kranken schlaflos, unruhig, ängstlich und bemerken starken Speichel- und Tränenfluss. 4 Ähnlich wie bei infizierten Hunden, bildet sich dann ein Erregungsstadium aus. Das wichtigste Symptom sind schmerzhafte Krämpfe der Schlundmuskulatur, besonders beim Versuch, Flüssigkeiten aufzunehmen. Um dies zu vermeiden (»Hydrophobie«), lassen die Patienten sogar ihren Speichel aus dem Munde tropfen. Weiter können hemmungslose Wutanfälle mit Aggressivität, auch sexuelle Übererregung und vegetative Störungen (Schwitzen, Atemlähmung, Pulsbeschleunigung) auftreten. 4 Im Endstadium lösen Sinnesreize tonisch-klonische Krämpfe aus. Der Tod tritt dann nach wenigen Tagen ein, manchmal

unter Lähmung der motorischen Hirnnerven und der Stammund Extremitätenmuskulatur. 3Diagnostik. Am besten ist es, wenn eine histologische Untersuchung vom Zentralnervensystem des Tieres, von dem die Infektion stammt, durchgeführt werden kann. Die höchste Sensitivität hat der Nachweis von Antikörpern im Liquor. Eine Pleozytose mit einigen 100 Lymphozyten/μl fehlt selten. Antikörper gegen Tollwut erscheinen etwa 7 Tage nach Beginn der Symptome. 3Therapie 4 Nach Wundreinigung und Desinfektion chirurgische Wundversorgung ohne Naht. 4 Dann schnellstmögliche aktive Immunisierung (z.B. HDCVaccine – z.B. Rabivac® – 1 ml i.m.) Erste Impfung sofort, dann am 3., 7., 14. und 30. Tag nach Verletzung. 4 Passive Immunisierung: humanes oder equines Antirabiesserum, z.B. Berirab®, 20–30 IE/kg KG. Aktive und passive Immunisierung müssen früh erfolgen, d.h. noch vor Auftreten erster Symptome, da das Vollbild der Rabies nicht überlebt wird und die Patienten trotz Intubation, Beatmung und Sedierung sterben. Eine Therapie der manifesten Tollwut ist nicht möglich. Ein Bericht über eine angebliche Heilung einer Patientin in den USA, die mit einem Virustatikum behandelt wurde, hat in Deutschland im Zusammenhang mit der tragischen Transplantation von Organen einer unbemerkt an Tollwut erkrankten Spenderin für falsche Hoffnung gesorgt. Liest man den veröffentlichten Fall, so muss man die Diagnose bezweifeln: Die wichtigste Differentialdiagnose ist der Tetanus, der ebenfalls nach Verletzungen, auch nach Bisswunden auftritt. Er hat eine kürzere Inkubationszeit, kein asymptomatisches Intervall, dagegen einen Trismus, der bei Rabies so nicht auftritt. Hierum dürfte es sich bei oben genanntem Fall gehandelt haben. 19.4

HIV-Infektion

3Erreger und Pathogenese. Das erworbene Immundefektsyndrom (AIDS; acquired immune deficiency syndrome) wird durch ein Retrovirus ausgelöst, das als HIV (human immunodeficiency virus) bezeichnet wird. Das HI-Virus infiziert T4-Lymphozyten und Makrophagen. Eine besondere Affinität besteht auch zum ZNS. 3Epidemiologie. Während die Erkrankungshäufigkeit in den USA und Mitteleuropa hinter den ursprünglich prognostizierten Zahlen zurückbleibt, sind jetzt in der Dritten Welt, vor allem in Zentralafrika, Südostasien und den Ballungszentren in Südamerika stark steigende Erkrankungszahlen gemeldet worden. In Europa und Nordamerika sind noch immer Männer viel

465 19.4 · HIV-Infektion

19

Exkurs Meldepflicht und Aufklärungspflicht bei HIV Im Gegensatz zu vielen anderen entzündlichen Krankheiten des Nervensystems werden AIDS-Fälle aufgrund politischer Scheinargumente nur anonym gemeldet. HIV-Tests bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Patienten. Bei Notfällen verzögert diese unsinnige Regelung die Diagnostik. Dies ist bei der Suche nach anderen infektiösen Krankheiten nicht der Fall, z.B. auch nicht bei Lues oder Tuberkulose. Das Erlangen dieser

Zustimmung kann in Einzelfällen eine psychologische Barriere darstellen oder eine solche begründen. Manchmal ist es auch hilfreich, zuerst auf das Verhältnis von T-Helfer- und T-Suppressorzellen zu achten. Diese Regelung ist auch ein nicht zu unterschätzendes Problem für die mit solchen Patienten beruflich umgehenden Schwestern, Pfleger und Ärzte.

Exkurs Behandlung nach Stichverletzungen bei medizinischem Personal Das Risiko der Infektion durch Verletzung mit Instrumenten, die vorher bei HIV-infizierten Personen eingesetzt waren (z.B. Kanüle), ist sehr gering und liegt bei unter 0,5%. Wundreinigung und Vorstellung in einer berufsgenossenschaftlichen Ambulanz sind erforderlich. Eine sofortige Prophylaxe mit Retrovir, täglich 2-mal 250 mg/Tag über 2–4 Wochen, plus Epivir® (Lamivudin,

häufiger betroffen. Dies gilt in den genannten Entwicklungsländern nicht mehr. Auch in Osteuropa steigen die Infektionsraten massiv an. So rechnet man 2005 mit etwa 1,5 Millionen Erkrankten in den früheren Ländern des Ostblocks. Die Zahl der HIV-positiven Patienten ist im vergangenen und diesen Jahr weiter leicht angestiegen, die Zahl der AIDS-Patienten beträgt in Deutschland im Jahr 2004 22.000. Man rechnet in Deutschland jährlich mit 1500 bis 2500 neuinfizierten Patienten. Im Jahre 1990 betrug die Zahl der in Deutschland HIV-positiven Personen ca. 50.000. Die Ansteckung erfolgt durch Geschlechtsverkehr, gemeinsame Benutzung von intravenösen Spritzen, erregerhaltiges Blut oder Blutprodukte und perinatal. Eine Übertragung durch Tröpfcheninfektion oder Berührung von Gegenständen ist bislang nicht gesichert. 3Stadien der Infektion. Die HIV-Infektion wird in vier klinische Stadien eingeteilt: 4 Asymptomatisches Stadium: Die Person ist HIV-positiv, aber gesund. 4 Lymphadenopathiesyndrom (LAS): Der Patient weist eine persistierende Vergrößerung von extrainguinalen Lymphknoten auf; dieses Stadium führt über in den 4 AIDS-related complex (ARC), bei dem Gewichtsverlust, Diarrhö, Fieber und allgemeines Krankheitsgefühl auftreten. 4 Manifestes AIDS liegt vor, wenn entweder eine AIDS-definierende opportunistische Infektion, ein AIDS-definierendes Malignom, wie das Kaposi-Sarkom oder das B-Zell-Lymphom, oder die HIV-Enzephalopathie aufgetreten sind. 3Diagnostik. HIV-Antikörper werden 1–3 Monate nach Infektion nachweisbar. Als Suchtest setzt man einen ELISA-Test

3TC), 2-mal 150 mg/Tag, sollte durchgeführt werden. Bei sehr hohem Ansteckungsrisiko kann zusätzlich Indinavir (Crixivan®) 3-mal 800 mg/Tag verabreicht werden. Auch Viramune® (Nevirapin) 1- bis 2-mal 200 mg/Tag als drittes Kombinationspräparat scheint äußerst schnell wirksam zu sein.

ein, bei positivem Suchtest erfolgt der bestätigende Westernblotoder Immunfluoreszenztest. In der meningitischen Phase finden sich entzündliche Liquorveränderungen, meist eine mäßige lymphomonozytäre Pleozytose. Zellzahl und Gesamteiweiß sind später im Liquor häufig leicht vermehrt. Die Untersuchung der Immunglobuline zeigt eine autochthone IgG-Produktion im Liquor an. Die PCR in Serum und Liquor kann früh positiv sein. In Einzelfällen ist das Retrovirus im Liquor und autoptisch auch im Gewebe des ZNS nachgewiesen worden. Liquorspezifische, oligoklonale Banden und positiver Nachweis von Virusmaterial durch PCR können einer HIV-Enzephalopathie vorausgehen. Etwa 60–80% der ARC-Patienten haben entzündliche Liquorveränderungen. 3Therapieprinzipien 4 Die Hemmung der Reproduktion der HI-Viren wurde zunächst durch das Medikament Zidovudin (Retrovir®), einen Hemmer der reversen Transkriptase, erreicht. 4 Das Medikament konnte die Überlebenszeit der HIV-infizierten Patienten verlängern. 4 Es ergaben sich auch Hinweise darauf, dass bei einem frühzeitigen Einsatz von Retrovir® der AIDS-Dementia-Komplex aufgehalten werden kann. 4 Es folgten weitere reverse Transkriptasehemmer wie Lamivudin (3TC), Zalcitabin (ddC) und Didanosin (ddI), die in Mehrfachkombinationen einen besonders günstigen Verlauf ermöglichen. Inzwischen sind viele weitere reverse Transkriptaseinhibitoren eingeführt worden. 4 Hochintensivierte Kombinationstherapien haben eine starke Veränderung des Spontanverlaufs gebracht, bewirken allerdings keine Heilung.

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

19.4.1 Direkte Folgen der HIV-Infektion Neurologische Beteiligung bei HIV-Infektion Etwa 50% der Erwachsenen und etwa 75% der an AIDS erkrankten Kinder entwickeln neurologische Auffälligkeiten. Das Spektrum der neurologischen Symptome ist in . Tabelle 19.2 wiedergegeben. Die verschiedenen neurologischen Symptome bei HIV-Infektion treten typischerweise in bestimmten HIV-Stadien auf. Einige neurologische Krankheiten kommen nur im AIDS-Stadium vor, bzw. ihr Auftreten definiert das Vollbild AIDS. (. Tabelle 19.2). Aseptische Meningitis Diese benigne, meist ohne Behandlung ausheilende Meningitis tritt mit den typischen Zeichen einer viralen Meningitis in frühen Krankheitsstadien, manchmal in Zusammenhang mit der Serumkonversion auf. Meist wird sie nicht speziell aufgeklärt und bleibt unbehandelt. Die Behandlung hat keinen Einflus auf die weitere Prognose der HIV-Infektion. Akute Polyradikulitis Etwa zur gleichen Zeit können selten auch akute, einem GuillainBarré-Syndrom (GBS) zum Verwechseln ähnlich sehende Symptome einer Polyradikulitis auftreten. Häufiger ist eine langsam progrediente, initial leicht verlaufende, sensomotorische Poly-

neuropathie. Therapeutisch wirken Plasmapherese oder Immunglobuline bei rascher Progression der Paresen. Die Gesamtprognose ist gut, Spontanremissionen sind möglich. HIV-assoziierte Myopathie Sie manifestiert sich mit schmerzhaften, proximalen Paresen. Die Lähmungen sind nur langsam progredient. Die CK ist meist erhöht. Mikroskopisch sind überwiegend Typ-II-Muskelfasern betroffen. Eine wichtige Differentialdiagnose zur HIV-Myopathie ist die durch antiretrovirale Medikation ausgelöste Myopathie, die bei 15–30% aller mit Zidovudun (Retrovir®), Didanosin (Videx®), Zalcitabin (Hivid®) und Stavudin (Zerit®) behandelten Patienten auftritt. Steroide werden versuchsweise gegeben. HIV-Enzephalopathie und AIDS-Demenz-Komplex Die HIV-Enzephalopathie ist durch anfänglich sehr wenig eindrucksvolle, psychopathologische Veränderungen von Antrieb, Stimmung und Konzentration gekennzeichnet. In dieser Phase ist es schwer, dies Syndrom von einer (nachvollziehbaren) reaktiven Depression zu unterscheiden. Später treten kognitive Störungen in den Vordergrund: Gedächtnis, Konzentration und psychomotorisches Tempo lassen nach. Hieraus entwickelt sich eine fortschreitende Demenz, die unbehandelbar zum Tode führt. Ataxie, Myoklonien, akinetischer Mutismus und okulomotori-

. Tabelle 19.2. Neurologische Manifestationen bei HIV

Art

Direkter Virusinfekt

19

Krankheit

Häufigkeit

Stadium HIV+

LAS

ARC

AIDS

+ + +

+ +

+ +

+ + +

Meningitis Polyradikulitis Myopathie Neuropathie AIDS-Demenz-Komplexa

+ + + ++ +++

Opportunistische Infektionen

Toxoplasmosea Kryptokokkenmeningitisa Progressive, multifokale Leukenzephalopathie (PML)a Zytomegalievirus (CMV) Enzephalitisa

+++ ++ + +

+ + + +

Sehr selten:

Herpesenzephalitisa tuberkulöse Meningitisa andere Mykobakterien Listeriose, andere Pilze andere Protozoen

Tumoren

Primäres ZNS-Lymphoma Sekundäres Lymphoma

++ +

+ +

Sehr selten!

Intrazerebrale Kaposi-Sarkoma

Andere

Vaskulitis

Sehr selten

Blutungen, Hypophyseninfarkt

a

AIDS-definierende Krankheit.

+

+

+

467 19.4 · HIV-Infektion

sche Störungen leiten diese Terminalphase ein. Selten sind auch spinale Zentren betroffen. Retrovir® (Zidovudin) kann gegeben werden, ist aber wahrscheinlich nach Ausbruch der Symptome nicht mehr wirksam. 19.4.2 Opportunistische ZNS-Infektionen bei AIDS Aus der Vielzahl der möglichen, opportunistischen Infektionen besprechen wir die ZNS-Toxoplasmose, die Zytomegalieinfektion, die Kryptokokkenmeningitis und die progressive, multifokale Leukenzephalopathie. ZNS-Toxoplasmose 3Symptome. Bei HIV-positiven Patienten, die mit Kopfschmerzen, Fieber und plötzlich aufgetretenen neurologischen Herdsymptomen (Hemiparese, Bewusstseinsstörung, epileptische Anfälle) in die Klinik kommen, ist die Ursache meist eine ZNS-Toxoplasmose (7 auch Kap. 20.1.1). 3Diagnostik. Zeigen CT bzw. MRT (. Abb. 19.4) multiple, kontrastmittelaufnehmende Herde, so trifft diese Verdachtsdiagnose sehr wahrscheinlich zu. Die Herde sind von Ödem umgeben und finden sich in allen Hirnanteilen, besonders aber im Marklager. Der Liquor ist meist entzündlich verändert, IgG-Antikörper lassen sich im Serum und Liquor nachweisen. 3Therapie. Man behandelt schon auf Verdacht: 4 Zunächst Gabe von Pyrimethamin (z.B. Daraprim®) 100 mg oral für 2 Tage, danach 50 mg/Tag, Folinsäure 5–10 mg/Tag und und Sulfadiazin (Fansidar), 4–6 g/Tag.

19

4 Sulfadiazin kann alternativ durch Clindamycin, 2,4–4,8 g/ Tag ersetzt werden. 4 Die Vorbehandlung mit Zidovudin sollte abgebrochen werden, wenn eine Neutropenie auftritt. Wie bei jeder hochdosierten Sulfonamidtherapie, ist reichliche Flüssigkeitszufuhr erforderlich, da sonst ausfallende Kristalle leicht die Nierentubuli verstopfen. Die Behandlung kann sich nur gegen freie Toxoplasmen richten. In den Zysten und Pseudozysten werden die Erreger von den heute verwendeten Mitteln nicht erreicht.

In den meisten Fällen sprechen die Patienten schnell auf die Therapie an. Auch die CT-Veränderungen sind schnell rückläufig. Eine Dauertherapie mit Pyrimethamin 50 mg/Tag, kombiniert mit Sulfadoxin 500 mg/Tag, ist notwendig. Kryptokokkenmeningitis 3Symptome. Diese Patienten haben viel seltener neurologische Herdsymptome und kommen mit Meningismus, Kopfschmerzen, Fieber und Bewusstseinsstörung in die Klinik. 3Diagnostik. Der Liquor ist entzündlich verändert. In den meisten Fällen sind das Tuschepräparat und die Kultur im Liquor positiv (. Abb. 18.2c). Kryptokokkenantigen kann im Serum bestimmt werden. CT und MRT helfen nicht entscheidend weiter. Der Krankheitsverlauf ist meist langsamer und weniger akut als bei der Toxoplasmose. 3Therapie 4 Die Therapie erfolgt mit Amphotericin B 0,3–0,6 mg/kg KG i.v. oder über Infusion und mit Flucytosin (z.B. Ancotil R) 150 mg/kg KG pro Tag in 4 Dosen i.v. 4 Eine Erhaltungstherapie mit Fluconazol (z.B. Diflucan) 100– 200 mg/Tag oder Amphotericin B 1-mal 100 mg/Woche i.v. ist empfehlenswert. Rezidive sind häufig. Zytomegalieinfektion Das Zytomegalievirus (7 auch Kap. 19.3.4) ist in latenter Form bei vielen, gesunden Erwachsenen vorhanden, etwa die Hälfte der Bevölkerung ist seropositiv. Bei Reinfektion kommt es bei immunkompetenten Patienten nur zu einer milden Meningitis. Bei immunsupprimierten Patienten können eine lebensbedrohliche Enzephalitis, eine akute Polyradikulitis (Guillain-BarréSyndrom) und eine chronisch progrediente Enzephalopathie entstehen.

. Abb. 19.4. Zerebrale Toxoplasmose bei HIV-Infektion. Man erkennt zwei z.T. ringförmig kontrastmittelaufnehmende Läsionen in den Stammganglien rechts und parietookzipital links

3Therapie. Man gibt heute die Kombination von 4 Foscarnet (2-mal 90 mg/kg KG und Tag) mit Ganciclovir (z.B. Zymeven®) 10 mg/kg KG i.v. über 14 Tage zur Verfügung. 4 Unter Ganciclovir werden Leukopenien beobachtet. Foscarnet ist nierentoxisch. Alternativ: Cidofovir i.v. 5 mg/kg KG und Woche.

468

Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Facharzt

Andere Besonderheiten bei AIDS 4 HIV-positive Patienten haben nicht selten eine aggressive Form der Neurosyphilis. 4 Opportunistische Infektionen nehmen wegen des Immundefekts einen schweren und häufig tödlichen Verlauf. 4 Vaskuläre Läsionen entstehen vor allem bei Knochenmarkschädigungen mit Gerinnungsstörungen, aber auch bei Meningitis und oft ohne erkennbare Ursache.

Bei immunsupprimierten Patienten ist die Prognose trotz dieser Behandlungsmöglichkeiten nicht besonders gut, Rezidive sind häufig. Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) 3Epidemiologie. Die Infektion mit dem Jc-Virus, einem Papovavirus, setzt akut oder subakut im mittleren oder höheren Lebensalter bei abwehrgeschwächten Kranken ein (Durchschnittsalter: Mitte 5. Lebensjahrzehnt). Patienten nach Chemotherapie, mit Tumoren des lymphoretikulären Systems und HIV-Patienten sind am häufigsten betroffen. 3Pathologie. Pathologisch-anatomisch liegt ein herdförmig disseminierter Entmarkungsprozess vor, der im Marklager der Großhirnhemisphären, im Hirnstamm, im Zerebellum und Rückenmark lokalisiert ist. Auffällig sind Gliawucherungen mit Einschlusskörperchen und perivaskulären Rundzellinfiltraten. 3Symptome. Die Krankheit äußert sich durch eine Kombination verschiedener zerebraler Herdsymptome: zentrale Halbseitenlähmung, auch Tetraparese, zerebelläre oder extrapyramidale Störungen der Bewegungskoordination, Dysarthrie, Aphasie, Visusverlust, aber auch Krampfanfälle. Psychopathologisch besteht eine organische Veränderung mit Desorientiertheit, Verwirrtheit und Demenz. Der Tod tritt nach 3–20 Monaten ein. 3Diagnostik. Der Liquor ist gewöhnlich normal oder nur geringfügig verändert. Jc-Virus-DNA kann mit der PCR in Liquor und Urin nachgewiesen werden. Im CT und MRT findet man hypodense bzw. hypointense (T1) Demyelinisierungsherde, meist bilateral, aber oft asymmetrisch im Marklager gelegen, die kein Kontrastmittel aufnehmen. Der Verlauf ist unaufhaltsam progredient.

19

3Therapie 4 Man gibt Cidofovir (zusammen mit hochdosierter, antiretroviraler Therapie bei AIDS-Patienten). 4 Bei Transplantatempfängern sollten immunsuppressive Maßnahmen vermindert oder ausgesetzt werden. Eine transplantierte Niere muss entfernt werden.

4 Durch direkten Befall des ZNS kommt es zu einer Enzephalitis, einer Meningitis mit Hirnnervenlähmungen und einer Myelitis mit spastisch-ataktischer Paraparese und Inkontinenz. 4 Vaskulitis, Hirnblutungen und zentrale, pontine Myelinolyse kommen vor.

HIV-assoziiertes ZNS-Lymphome Bei HIV-Infektionen treten neben der intrazerebralen Manifestation des Kaposi-Sarkoms vor allem das primäre ZNS-Lymphom (meist B-Zell-Lymphom) und das systemische Non-HodgkinLymphom mit sekundärem Befall des ZNS auf. 3Symptome. Klinisch sind die Symptome des ZNS-Lymphoms oft nicht von einer Toxoplasmoseenzephalitis zu unterscheiden. Anfälle, Bewusstseinstrübung und Halbseitenlähmung sind häufig. 3Diagnostik. Im CT und MRT sind die Läsionen oft etwas größer, konfluierender und nehmen stärker Kontrastmittel auf als bei der Toxoplasmose. Eine ganz sichere Unterscheidung ist aber nicht möglich, zumal bei manchen Patienten Toxoplasmose und Lymphom gemeinsam auftreten können. Wenn die Therapie bei Verdacht auf eine Toxoplasmose nicht zu klinischer und neuroradiologischer Befundverbesserung führt, muss ein ZNS-Lymphom gegebenenfalls durch Biopsie ausgeschlossen werden. Im Liquor können Lymphomzellen nachgewiesen werden, was die Therapieentscheidung erleichtert. HIV-assoziierte ZNS-Lymphome sind praktisch immer EBV-assoziiert, daher ist der EBVDNA-Nachweis im Liquor eine große diagnostische Hilfe. 3Therapie. Die Therapie besteht, anders als beim primären zerebralen Lymphom ohne Immunsupression in der primären Bestrahlung. Beim Rezidiv gibt man Dexamethason (7 Kap. 11). Methotrexat kann dikutiert werden. ä Der Fall Ein 25 Jahre alter, HIV-positiver, drogenabhängiger Patient wird mit Fieber, Zeichen einer Meningoenzephalitis und zunehmender Halbseitenlähmung rechts sowie mit einer Hemianopsie nach links in die neurologische Klinik eingewiesen. Im Computertomogramm sieht man einen Befund ähnlich wie in . Abb. 19.4. Im Liquor finden sich Antikörper gegen Toxoplasmen. Unter dem Verdacht auf eine Toxoplasmoseenzephalitis bei AIDS wird mit der spezifischen Therapie begonnen. Die Halbseitenlähmung bessert sich in den nächsten Tagen deutlich, auch der Allgemeinzustand des Patienten bessert sich.

6

469 19.5 · Parainfektiöse Enzephalomyelitis

Das Fieber geht zurück, der Patient ist wieder mobil. Bei der Kontrolluntersuchung nach 2 Wochen zeigt sich, dass sich die meisten Herde deutlich zurückgebildet haben, auch das Hirnödem ist rückläufig. Lediglich der okzipitale Herd, der die Hemianopsie erklärt, hat an Größe zugenommen. Der Liquor zeigt jetzt eine Erhöhung der Zellzahl bei geringer Eiweißerhöhung. Liquorzytologisch lassen sich atypische Lymphozyten nachweisen, die aber nicht dem typischen Bild eines Lymphoms entsprechen. Die Hirnbiopsie beweist die Verdachtsdiagnose eines zusätzlichen ZNS-Lymphoms. Unter Bestrahlung nimmt auch dieser Herd ab. Nach wenigen Monaten kommt es aber zum Lymphomrezidiv, an dessen Folgen der Patient verstirbt.

19.5

Parainfektiöse Enzephalomyelitis

3Epidemiologie. Nach Virusinfektionen wie Masern, Windpocken, Herpes zoster, Mumps, Influenza, Röteln oder infektiöser Mononukleose und auch nach Pocken und Tollwutschutzimpfung können akute Enzephalopathien auftreten. In Anbetracht der Häufigkeit einiger dieser Kinderkrankheiten sind Inzidenzen dieser para-/postinfektiösen Enzephalitiden zwischen 1:1000 und 1:5000 zu beachten (vgl. auch SSPE und Rötelnpanenzephalitis, s.u.). 3Pathogenese. Das Auftreten der parainfektiösen Enzephalomyelitis hängt nicht von der Schwere der Grundkrankheit ab. Auch bei tödlich verlaufenden Fällen hat man Viren im ZNS nicht nachweisen können. Die regelhafte, zeitliche Bindung an den Ausbruch der Grundkrankheit und die pathologisch-anatomischen Befunde haben zu der Auffassung geführt, dass diesen zentralnervösen Komplikationen eine immunpathologische Reaktion zugrunde liege. Einzelheiten über die Art des Antigens oder

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den Mechanismus der Reaktionen sind noch nicht bekannt, obwohl die Ähnlichkeit der experimentell allergischen Enzephalomyelitis mit der akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) eine ähnliche Pathogenese, d.h. einen zellvermittelten Autoimmunprozess nahe legt. 3Pathologische Befunde. Wenn die Krankheit länger als 3 Tage gedauert hat, bietet sie das charakteristische Bild einer perivenösen Enzephalitis vorwiegend der weißen Substanz. Subkortikal in den Großhirnhemisphären, im Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark finden sich disseminiert kleine Entmarkungsherde, die jeweils um erweiterte Venen oder Kapillaren angeordnet sind und mononukleäre Zellen enthalten. Reaktiv kommt es zur Gliawucherung. Die Gliazellen sind, als Zeichen der Phagozytose, mit Lipoidsubstanzen beladen. Die generalisierte Schädigung des Gefäßendothels führt über diese geweblichen Reaktionen hinaus zum Hirnödem. Die Befunde zeigen gewisse Ähnlichkeiten mit der multiplen Sklerose. Deshalb wird die akut demyelinisierende Enzephalomyelitis bei der MS (7 Kap. 22.8) besprochen. 3Allgemeine Symptome und Diagnostik. Mit erneutem Fieberanstieg, epileptischen Anfällen und den allgemeinen Zeichen einer Enzephalitis werden die Kinder oder Erwachsenen nach durchgemachtem Virusinfekt wieder auffällig. Diagnostisch ist der Liquorbefund nicht von dem einer direkten Virusenzephalitis zu unterscheiden. Das CT und das MRT zeigen eine Hirnschwellung, im weiteren Verlauf multiple kleine Marklagerläsionen, selten Einblutungen. Der Verlauf kann in einzelnen Fällen ausgesprochen schwer sein. . Tabelle 19.3 fasst einige der Charakteristika wichtiger parainfektiöser und postvakzinaler Enzephalitiden zusammen.

. Tabelle 19.3. Parainfektiöse Enzephalomyelitis Ursache

Latenz

Besondere Symptome und Prognose

Masern

3.–4. Tag nach Exanthem (auch 2–10 Tage und länger)

Häufigkeit 1:1000 Fälle. Letaler Ausgang am 1. bis 3. Tag in etwa 10%, etwa 50% Defektheilungen

Röteln

2.–5. Tag nach Exanthem (selten 19.–33. Tag)

Letaler Ausgang am 1.–4. Tag in 6–10%, sonst gute Prognose

Windpocken

3.–4. Tag nach Hauteruptionen (selten 5.–15. Tag)

Gute Prognose

Pfeiffersches Drüsenfieber

Vor, mit oder kurz nach den Drüsenschwellungen

Gute Prognose

Pockenschutzimpfung

11.–12. Tag nach der Impfung (8–15 Tage)

Häufiger bei Erstimpfung, besonders vor dem 1. und nach dem 2. Lebensjahr. Häufigkeit 1:30.000. Symptome: Meningoenzephalitis, Myelitis, Polyradikulitis. Letalität um 50%, Defektsymptome in 10% Letalität um 50%, Defektsymptome in 10%

Rabies-Schutzimpfung

13.–15. Tag nach der Injektion

Allgemeine Prodromi, dann Meningomyelitis, auch LandryVerlauf (7 Kap. 19.3.9). Letalität ca. 25%

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Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Facharzt

Slow-virus-Infektionen Zu der Gruppe der chronischen Virusinfektionen des Zentralnervensystems gehören Krankheiten, die als Folge einer Infektion mit dem Jc-Virus (SV40-PML-Virus), dem Masernvirus oder dem Rötelnvirus (Rötelnenzephalopathie) entstehen. Subakut-sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) 3Epidemiologie und Pathogenese. Diese Krankheit tritt bei Kindern nach Maserninfektionen auf. Knaben erkranken wesentlich häufiger als Mädchen. Die SSPE ist sehr selten. Eine familiäre Häufung ist nicht beobachtet worden. Die Virusätiologie ist belegt durch 4 hohe Titer komplementbindender Masernantikörper im Serum und Liquor der Kranken, 4 Nachweis von Masernantigenen in Gewebekulturen aus Hirnbiopsien SSPE-kranker Kinder und 4 erfolgreiche Übertragung der Krankheit auf Versuchstiere durch intrazerebrale Inokulation. Es scheint, dass alle Patienten, die eine SSPE bekamen, vorher manifeste Masern hatten. 3Symptome. Die Krankheit beginnt mit rasch fortschreitender Demenz, Nachlassen von Merkfähigkeit und Gedächtnis sowie Verarmung der Sprache. Gleichzeitig oder bald darauf verändert sich das affektive Erleben und Verhalten der Kranken: Sie werden stumpf und gleichgültig oder reizbar-aggressiv und schrecken geängstigt aus dem Schlaf auf. Verhaltensauffälligkeiten, neurologische Herdsymptome, Myoklonien, komplexe extrapyramidale Hyperkinesen, Bewusstseinsstörung und Koma entwickeln sich langsam über Monate bis Jahre. Oft treten generalisierte Anfälle auf. Im weiteren Verlauf kommt es zu vegetativen Krisen mit Hyperthermie, Tachykardie, Hyperventilation, profusem Schwitzen und

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Erbrechen. Später wird eine parkinsonartige Haltung in fast völliger Bewegungslosigkeit fixiert. Die Krankheitsdauer nimmt mit steigendem Erkrankungsalter linear zu. Mit 5 Jahren beträgt sie etwa 6 Monate, mit 16 Jahren über 30 Monate. Im Endstadium besteht eine Dezerebration mit apallischem Syndrom. 3Diagnostik. Das EEG ist stets pathologisch. Die Veränderungen sind sehr bezeichnend: In allen Ableitungen treten synchron alle 5–8 s Gruppen von hohen δ-Wellen auf, die von rhythmischen Hyperkinesen begleitet sind. Der Liquor ist in vielen Fällen charakteristisch verändert: Bei normaler Zellzahl und normalem oder nur gering erhöhtem Gesamteiweiß findet man die IgG-Fraktion durch eine autochthone IgG-Produktion im ZNS deutlich erhöht. Der Antikörpertiter gegen Masern ist regelmäßig erhöht. Im CT und MRT findet man eine rasch progrediente Abnahme des Hirnvolumens. 3Therapie. Eine wirksame Therapie ist nicht bekannt. Auch auf Behandlung mit Immunsuppressiva und Immunglobulinen tritt keine Besserung ein. Rötelnpanenzephalitis Nach Rötelninfektion kann bei Kindern ein ähnliches Krankheitsbild, die progressive Rötelnpanenzephalitis, entstehen. Die Einzelheiten zu Pathogenese, Klinik und Therapie ähneln denen der SSPE. Die PML wurde bei den opportunistischen Infektionen besprochen.

19.5.1 Impfenzephalitis

19.5.2 Bickerstaff-Enzephalitis

Impfenzephalitisfälle sind heutzutage selten geworden. Nach Pockenschutzimpfung kann es mit einer Latenz von etwa 1–2 Wochen bei Kleinkindern zu einer Meningoenzephalitis mit Myelitis und Polyradikulitis kommen, die eine hohe Mortalität (40–50%) hat. Von den Überlebenden bleiben 10–20% behindert. Man muss mit etwa 3 Fällen auf 100.000 Impfungen rechnen. Auch etwa 2 Wochen nach einer Tollwutschutzimpfung kann eine Meningoradikulitis auftreten, die eine Mortalität von 25% haben soll. In den letzten Jahren haben sich Verdachtsfälle auf eine Meningoenzephalitis nach FSME-Impfung gehäuft. Von den Herstellern der Seren wird dieser Zusammenhang für unwahrscheinlich gehalten, aber dies allein ist natürlich kein Beweis. Schwierig ist es allerdings, zwischen einer erregerbedingten Meningoenzephalitis und einer mit den gleichen Symptomen auftretenden Impfkomplikation zu unterscheiden.

Dies ist keine Krankheitseinheit, sondern beschreibt die Verlaufsform einer Enzephalitis unbekannter Ätiologie. Im Gegensatz zu den meisten infektiösen oder parainfektiösen Enzephalitiden ist hier vorwiegend der Hirnstamm befallen. Die Krankheit ergreift bevorzugt Personen unter 25 Jahren. 3Symptome. Nach einem uncharakteristischen Vorstadium mit Krankheitsgefühl über 1–3 Wochen trübt sich das Bewusstsein. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen und entwickeln Lähmungen der motorischen Hirnnerven vom N. oculomotorius abwärts bis zum N. hypoglossus. Entsprechend sind Ptose, Doppelbilder, Nystagmus, Blickparesen, motorische Trigeminuslähmung, dysarthrisches Sprechen und Schluckstörung die führenden Symptome, die zusammen mit der Bewusstseinsstörung den Eindruck eines lebensgefährlichen Krankheitszustands hervor-

471 19.6 · Prionkrankheiten

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Exkurs Eigenschaften der Prionen Das Prionprotein ist eine natürlich vorkommende Gruppe von Proteinen. Prionen entstehen durch Konversion von physiologischem, zellulären Prionprotein unter Veränderung von dessen Tertiärstruktur und können diese Konversion im Wirtsorganismus induzieren. Prionen können, anders als konventionelle Erreger, nicht durch die üblichen hygienischen Maßnahmen inaktiviert werden. Sie sind relativ resistent gegen Hitze, ionisierende und ultraviolette Strahlen und Chemikalien, die normalerweise Viren inaktivieren. Sie sind auch resistent gegen Nukleasen, denn sie enthalten keine DNA oder RNA. Sie rufen keine Immunreaktion hervor. Das pathogene Protein hat die gleiche Aminosäurensequenz wie seine Isoform, das physiologisch vorkommende zelluläre Prionprotein, dessen Funktion noch nicht bekannt ist. Das Prionproteingen ist beim Menschen auf dem kurzen Arm von Chromosom 20 lokalisiert worden. Durch einen Prozess,

rufen. Auf Atemlähmung oder Störung der nervalen Herzregulation, gibt es bisher keinen Hinweis. Es kommt nicht zu Extremitätenlähmungen und nur zu geringfügigen Gefühlsstörungen. Die Symptomatik entwickelt sich fortschreitend über eine oder mehrere Wochen. In aller Regel bilden sich die Lähmungen dann über Wochen, ganz selten über Monate wieder zurück. In der Rückbildungsphase kann für etwa 2 Wochen ein Parkinson-Syndrom auftreten, das sich spontan wieder zurückbildet. 3Diagnostik. Im Liquor findet man eine leichte Pleozytose in der Größenordnung von 15 Lymphozyten und eine leichte Eiweißvermehrung auf 0,6–0,8 g/l. Der Liquor kann aber auch normal sein. 3 Therapie. Die Behandlung ist symptomatisch und auf Vermeidung von Komplikationen ausgerichtet. Eine Rückbildung ist immer zu erwarten. Sekundäre Infektionen der Luftwege werden antibiotisch behandelt. Glukokortikoide können nützlich sein. Die Prognose ist gut. 19.6

dessen Ursache und Mechanismus noch nicht aufgeklärt sind, wird sehr selten das zelluläre in das pathogene Prionprotein umgewandelt. Dabei verändert sich die α-Helixstruktur zu einer β-Faltblattstruktur. Das pathogene Prionprotein hat die Fähigkeit, die Umwandlung, durch die es selbst erzeugt wurde, im ZNS des Wirtsorganismus zu induzieren. Dadurch werden die spongiformen Gewebsveränderungen im Gehirn mit Verlust von Neuronen hervorgerufen. Es gibt kein serologisches Nachweisverfahren des pathologischen Prionproteins. Der immunologische Nachweis mit monoklonalen α-Prionprotein-Antikörpern kann nur post mortem oder nach Hirnbiopsie im Hirngewebe geführt werden. Dieser Antikörpertest ist für Prionkrankheiten spezifisch und ist bei anderen neurologischen Krankheiten, z.B. Alzheimer-Krankheit, negativ.

und das Agens, ein Glykoprotein, unterscheidet sich von allen bekannten mikrobiellen Erregern. Es wurde als Prion (proteinaceous infectious particle) bezeichnet. Die Übertragung vom Menschen auf Tiere ist nur möglich, wenn Hirngewebe von Kranken in das Gehirn von Tieren inokuliert wird. (Zur Übertragung von Mensch zu Mensch 7 Besprechung der einzelnen Krankheiten.) Prionkrankheiten treten sporadisch, d.h. durch Mutation bedingt, dominant erblich oder durch Übertragung auf. Von diesen wird die Creutzfeldt-Jacob-Krankheit eingehend besprochen, weil nur sie allgemeine Bedeutung hat. Die übrigen Krankheiten dieser Gruppe werden nur kurz charakterisiert. > Prionkrankheiten führen nach sehr langer Inkubations-

zeit in einem relativ kurzen Krankheitsverlauf zum Tode. Eine Übertragung von Prionkrankheiten vom Tier auf den Menschen ist bisher nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen worden, auch wenn die Häufung von Patienten mit der CJK-Variante in England suggestiv und der Zusammenhang des bovinen Befalls nach Fütterung mit Tiermehl bewiesen ist.

Prionkrankheiten

3Definition. Unter Prionkrankheiten (syn. übertragbare spongiforme Enzephalopathien) wird eine Gruppe von Krankheiten zusammengefasst, die bei Tieren und Menschen auftreten und folgende Merkmale gemeinsam haben: Pathologisch-anatomisch findet man Verlust von Neuronen, reaktive Gliose und spongiforme (schwammartige) Gewebsveränderungen ohne Entzündung. Die Symptome treten nach sehr langer Inkubationszeit auf, die bis zu einer Dekade und länger dauern kann. Die Symptomatik verschlechtert sich langsam, über Monate bis Jahre, bis zum tödlichen Ausgang. Die Krankheiten sind übertragbar,

19.6.1 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit (CJK) 3Definition. Die CJK wird zu einer Gruppe von Erkrankungen gezählt, die neuropathologisch durch spongiforme Veränderungen, astrozytäre Gliose, Neuronenverlust und Ablagerung der abnormen Form des Prionproteins charakterisiert sind. Weitere Synonyme sind übertragbare spongiforme Enzephalopathie oder auch Prionerkrankung. Die Prionerkrankungen des Menschen kommen übertragen, genetisch oder sporadisch vor.

472

Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Facharzt

Tierische Prionkrankheiten Scrapie. Sie wird im Deutschen Traberkrankheit genannt und ist seit mehr als 250 Jahren bekannt. Die Krankheit ist relativ wenig kontagiös. Der Übertragungsweg ist nicht im Einzelnen bekannt. Ein möglicher Infektionsweg besteht darin, dass die Schafe auf der Weide die Nachgeburt erkrankter Tiere fressen. Die Krankheit äußert sich in sensorischen, motorischen und Verhaltensstörungen. Bovine, spongiforme Enzephalopathie BSE (Rinderwahnsinn). Dies ist eine relativ neue Krankheit, die bei Rindern vor-

3Epidemiologie. Die Inzidenz liegt in Mitteleuropa konstant bei 0,5–1 pro 1 Mio. Einwohner pro Jahr. Sie hat in den letzten 10 Jahren nicht zugenommen, egal ob in den Ländern BSE häufig, selten oder gar nicht beobachtet wurde. Das Auftreten scheint, wie bei vielen anderen Krankheiten auch, genetisch determiniert zu sein. Frauen erkranken im Verhältnis 1,5:1 häufiger als Männer. Wegen der kurzen Krankheitsdauer ist die Prävalenz gleich der Inzidenz. Das Erkrankungsalter liegt zwischen >30 und > Einleitung Spinale Entzündungen werden durch die gleichen Erreger ausgelöst, die auch das Gehirn und die Hirnhäute befallen können. Die Symptomatik hingegen unterscheidet sich aufgrund anatomischer und physiologischer Fakten stark: Während bei den Entzündungen des Gehirns und der Hirnhäute Nackensteifigkeit, Schmerzen und psychoorganische Veränderungen im Vordergrund stehen, sind lokale Rückenschmerzen und subakut entstehende Querschnittsyndrome die typischen Initialsymptome einer spinalen Entzündung. Das Querschnittsyndrom entwickelt sich meist innerhalb einiger Tage, es kann aber auch relativ akut innerhalb weniger Stunden auftreten. Von den in diesem Kapitel besprochenen Ursachen spinaler Entzündungen sind heute der spinale, epidurale Abszess und die raumfordernde Spondylodiszitis von besonderer Bedeutung. Der epidurale Abszess wird meist durch Staphylokokken ausgelöst. Nicht selten findet man in der näheren Vorgeschichte des Patienten Injektionen, Zahnbehandlungen oder einen entzündeten venösen Zugang. Wenn Initialsymptome lokale Rückenschmerzen, Störungen beim Wasserlassen und eine fortschreitende Querschnittssymptomatik nicht ernstgenommen werden, droht die komplette Querschnittslähmung, die dann selten rückbildungsfähig ist. Antibiotische Behandlung und neurochirurgische oder orthopädische Intervention können, wenn der Abszess rechtzeitig erkannt wird, die Erkrankung ohne Folgeerscheinungen ausheilen lassen.

21.1

Spinale Abszesse

3Lokalisation. Spinale Abszesse können, wie andere spinale, raumfordernde Läsionen, epidural, extramedullär und intramedullär liegen. Ausgangspunkt für die Entzündung kann die hämatogene Aussaat im Rahmen einer Sepsis sein, aber auch die lokale Ausbreitung eines Abszesses, z.B. nach intramuskulärer Injektion oder paravertebraler Injektion. Am häufigsten sind 4 epidurale Abszesse (. Abb. 21.2) und 4 die Spondylodiszitis (. Abb. 21.1), die wir etwa 5- bis 10-mal pro Jahr sehen, wenn Patienten mit unklarer Querschnittssymptomatik in die Neurologische Klinik überwiesen werden. Epidurale Abszesse finden sich bevorzugt im thorakolumbalen Übergang. Zervikale und obere, thorakale Abszesse sind seltener 4 Intradural-extramedulläre Entzündungen sind selten. Sie kommen bei Mitbeteiligung des spinalen Arachnoidalraums bei bakterieller Meningitis und bei meist iatrogener Infektion durch spinale Katheter, Injektionen oder Operationen vor. Sie sind praktisch nicht raumfordernd. 4 Auch intramedulläre Abszesse sind selten, kommen aber bei multipler Abszedierung einer bakteriellen Endokarditis vor. Protozoen und Parasiten können auch das Rückenmark befallen (Toxoplasmose), manche Parasiten bevorzugen sogar das Rückenmark (Toxocara canis), 7 Kap. 20.

3Ätiologie und Pathogenese. Der häufigste Keim ist Staphylococcus aureus, der in 2/3 der Fälle nachgewiesen werden kann. Auch Streptokokken und Enterokokken sowie, heute sehr selten, Tuberkelbakterien können die Ursache sein. Epidurale Abszesse können sowohl im Gefolge einer Sepsis auftreten, aber auch selbst Ausgangspunkt einer Sepsiswerden. Diabetiker und abwehrgeschwächte Patienten sind prädisponiert. Nicht selten sind bei bakteriellen Infektionen Spritzenabszesse oder lumbale Katheter die Ursache Selten entwickelt sich eine Spondylodiszitis nach einer Bandscheibenoperation. Die Spondylitis tuberculosa (. Abb. 21.3) unterscheidet sich von den Metastasen und dem Plasmozytom der Wirbelsäule klinisch durch Gibbusbildung und auf der Röntgenaufnahme durch Zerstörung der Zwischenwirbelscheibe. Häufig kommt es auch etwa gleichzeitig mit den Rückenmarksymptomen oder kurz davor zum Senkungsabszess. 3Symptome. Klinisch beginnt die Symptomatik meist mit stärksten Schmerzen, die auch radikulär ausstrahlen können. Hierbei kommt es zu Fieber und leichter Nackensteifigkeit. Schon in diesem Stadium ist eine deutliche Leukozytose, BSG und CRPErhöhung feststellbar. Danach entwickelt sich subakut ein Querschnittssyndrom, das längere Zeit inkomplett bleiben kann. Der Querschnitt entwickelt sich über einige Tage bis zwei Wochen. Sehr akute Verläufe deuten eine zusätzliche, vaskuläre Kompression an. 3Diagnostik. Schon im Nativröntgen kann die Entzündung der Wirbelkörpers mit Destruktion oder das Zusammensinken eines Bandscheibenfachs bei Diszitis gesehen werden. Allerdings sollte das Nativröntgen bei derartiger Konstellation nicht durchgeführt werden und sofort die Schnittbilddiagnostik eingesetzt werden. CT und MRT weisen Diszitis und Abszesse in eindrucksvoller Weise nach (. Abb. 21.1 bis Abb. 21.3). Wenn die Läsionshöhe klinisch bekannt ist, ist die spinale MRT heute der erste diagnostische Schritt. Wenn die Läsionshöhe nicht ganz sicher ist, wird eine Myelographie mit Myelo-CT oder eine ausgedehnte MRTDiagnostik des gesamten Spinalkanals durchgeführt. Bei der Myelographie gewinnt man auch Liquor, der fast immer eine gemischtzellige Pleozytose mit vielen Leukozyten und hohem Eiweißgehalt zeigt und zur mikrobiologischen Untersuchung weitergeschickt wird. Manchmal gelingt die Anzüchtung des Erregers, der dann gezielt antibiotisch behandelt wird. Auch ein Stopp-Liquor kann vorkommen. Bei Verdacht auf einen lumbalen, epiduralen Abszess ist die Lumbalpunktion kontraindiziert, da hierbei der Abszess penetriert wird und Erreger in den Liquorraum gelangen können. Nicht selten ist eine Spondylodiszitis Ausgangspunkt eines epiduralen Abszesses. 3Therapie. Die Therapie ist chirurgisch und antibiotisch. 4 Nach Laminektomie und Drainage des Eiters wird lokal und systemisch antibiotisch behandelt.

486

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Kapitel 21 · Spinale Entzündungen

. Abb. 21.1. Zervikale Spondylodiszitis und epiduraler Abszess. Im T2-Bild hyperintense Wirbelkörper C5 und C6 mit flächiger Signalintensität in Projektion auf das Myelon, das verdrängt ist (Pfeil). Nach KM unregelmäßige, ausgedehnte Kontrastmittelaufnahme ventral des Rückenmarks und in den betroffenen Wirbelkörpern. Auch Teile des Wirbelkörpers C7 und die Bandscheibe C6/C7 reichern randsständig an. (M. Hartmann, Heidelberg)

4 Die Kombination bei noch unklaren Erregern besteht

aus einem Staphylokokkenpenicillin (z.B. Oxacillin 12 g/Tag i.v.), einem Cephalosporin der dritten Generation (Cefotaxim 6 g/Tag i.v.) und einem Aminoglykosid (Tobramycin 240 mg/Tag). 4 Gegen resistente Staphylococcus-aureus-Stämme wird Vancomycin 2 g pro/Tag i.v. gegeben. Steroide sind nicht indiziert. 3Prognose. Wenn eine fortgeschrittene Paraparese vorliegt, ist mit einer völligen Wiederherstellung kaum noch zu rechnen. Die heute mögliche frühe Diagnose mit Hilfe der MRT lässt hoffen, dass Patienten in einem fortgeschrittenen Stadium des spinalen Abszesses immer seltener werden. Früh behandelt, ist die Prognose relativ günstig. Eine Paralyse, die länger als zwei Tage angedauert hat, bildet sich kaum noch zurück. Die Spondylodiszitis kann durch einen epiduralen, raumfordernden Abszess kompliziert werden. ä Der Fall Die 65-jährige Diabetikerin ist seit Wochen wegen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule in ärztlicher Behandlung. Nachdem Krankengymnastik und Medikamente nicht geholfen haben, entschließt sich der Arzt zu einer kombinierten intramuskulären und paravertebralen Injektionsbehandlung mit einem kortisonhaltigen Mischpräparat. Nach einigen Tagen entwickelt sich eine schmerzhafte Schwellung in einem Glutäus. Unter Behandlung mit einem Tetrazyklin geht die Schwellung etwas zurück, danach aber entwickelt

6

die Patientin Schüttelfrost und hohes Fieber. Sie klagt weiterhin über Rückenschmerzen, die sich jetzt auch beim Husten und Pressen verstärken. Nach Einweisung in die Klinik fällt dort auf, dass die Patientin urininkontinent ist, sie erhält einen Blasenkatheter. Dass die Muskeleigenreflexe fehlen, schreibt man dem Diabetes zu, ebenfalls die Schwäche der Beine. Die Blutkulturen sind negativ, und man behandelt mit Cephalosporinen. Nach wenigen Tagen werden die Rückenschmerzen immer stärker, und die Patientin kann die Beine kaum noch bewegen. Der Neurologe wird hinzugezogen und stellt ein schlaffes Querschnittssyndrom fest. Ein MRT und eine Lumbalpunktion werden veranlasst. Das MRT zeigt eine extradurale, lumbale raumfordernde Läsion mit nahezu vollständiger Verlegung des Spinalkanals. Der Liquor war eitrig. Staphylococcus epidermidis konnte angezüchtet werden. Die Patientin wurde sofort operiert und lokal und systemisch mit einem Staphylokokken-Penicillin behandelt. Unklar blieb, ob der epidurale Abszess lokal als Folge der paraspinalen Injektion entstanden und Ursache der Sepsis war oder ob er hämatogen durch eine Sepsis bei Glutäalabszess entstanden war.

21.2

Andere, spinale Infektionen

Einige Infektionen, die den Spinalkanal betreffen, wurden schon in den vorangegangenen Kapiteln besprochen: Die Poliomyelitis infiziert die Vorderhornzellen, manche Parasiten und Protozoen

487 21.2 · Andere, spinale Infektionen

. Abb. 21.2. T1-gewichtetes MRT der HWS. Der epidurale Abszess zeigt sich als isointense ventrale raumfordernde Läsion von C1–C3 mit deutlicher Kompression des Rückenmarks (Pfeile)

. Abb. 21.3. Tuberkulöse Spondylodiszitis (3 Jahre altes Kind mit progredienter Paraparese). Das MRT (T1 vor und nach Kontrastmittelgabe) zeigt ein extraspinal liegendes, raumforderndes Gewebe, das die gesamte Wirbelsäule umgibt. Die in der Nähe liegenden Wirbelkörper sind zerstört, die raumfordernde Läsion dringt in den Spinalkanal ein. Nach Kontrastmittelgabe zeigen sich septierte Zysten, deren Randgewebe stark Kontrastmittel aufnimmt. Auch im Gewebe vor und hinter der Wirbelsäule kommt es zur langgestreckten Kontrastaufnahme. Der Befund entspricht multiplen Abszessen, ausgehend von einer tuberkulösen Spondylodiszitis, mit nahezu kompletter Kompression des Rückenmarks durch den intraspinalen Tumoranteil. (Aus Hacke 1994)

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Kapitel 21 · Spinale Entzündungen

Facharzt

Andere entzündlich-raumfordernde Prozesse Polyarthritis mit Densbefall Bei Patienten mit fortgeschrittener Polyarthritis ist die entzündliche Infiltration der Axis-Atlas-Region mit Verdickung und Auflösung des atlantodentalen Bandapparats und Densdislokation eine mögliche Ursache eines hohen Querschnittssyndroms mit Atemstörung. 3Therapie. Die transorale Resektion des Entzündungsgewebes und Stabilisierung des Dens sind lebensrettend. Myelitis 3Ursachen und Symptome. Manchmal kann eine akute virale, parainfektiöse (z.B. nach Varizella-Zoster, EBV-Infektion) oder autoimmune Myelitis (bei MS) einen raumfordernden Charakter annehmen. Das Rückenmark kann stark anschwellen

befallen bevorzugt das Rückenmark, z.B. Toxocaracanis. Jede Meningitis erfasst, mehr oder weniger ausgeprägt, auch die Häute des Rückenmarks. Zur Diagnostik sind Liquoruntersuchung, spinale MRT, manchmal Myelo-CT und die neurophysiologischen Techniken,

und wie ein Tumor wirken. Ein schnell entstehendes Querschnittssyndrom (Myelitis transversa) ist charakteristisch. (Zur akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) 7 Kap. 22.) Auch HIV-Manifestationen betreffen das Myelon 3Diagnose. Im Myelogramm ist die Myelitis nicht von einem intramedullären Tumor zu unterscheiden. Der Liquor ist gewöhnlich entzündlich verändert. Oligoklonale Banden und intrathekale IgG-Erhöhung bei ADEM. Entwicklung spezifischer Antikörper gegen die zugrundeliegende Virusentzündung. 3Therapie. Virustatisch, wenn möglich. Hochdosiertes Kortison, z.B. 3-mal 1000 mg Methylprednisolon.

wie evozierte Potentiale und transkranielle, motorische Stimulation, wichtig. Die Therapie richtet sich nach den Regeln, die für die einzelnen Ätiologien besprochen wurden.

In Kürze Spinale Abzesse Lokalisation: Epidural, extramedullär und intramedullär. Ausgangspunkt für Entzündung ist die hämatogene Aussaat im Rahmen einer Sepsis oder lokale Ausbreitung eines Abszesses. Symptome: Stärkste, auch radikulär ausstrahlende Schmerzen, Fieber, leichte Nackensteifigkeit, subakutes und längere Zeit inkomplett bleibendes Querschnittssyndrom. Diagnostik: Nativröntgen: Darstellung der Wirbelkörperentzündung mit Destruktion oder Zusammensinken eines Bandscheibenfaches bei Diszitis; CT/MRT: Nachweis von Diszitis und Abszessen; Liquor: Gemischtzellige Pleozytose mit Leukozyten und hohem Eiweißgehalt.

Therapie: Medikamentöse Therapie mit Antibiotika, chirurgische Therapie. Günstige Prognose bei früher Behandlung, bei fortgeschrittener Parese keine vollständige Wiederherstellung.

Andere spinale Infektionen Poliomyelitis infiziert die Vorderhornzellen; Befall des Rückenmarks durch Parasiten und Protozoen; jede Meningitis erfasst in unterschiedlicher Ausprägung auch die Rückenmarkhäute. Diagnostik: Liquor, spinale MRT, Myelo-CT. Medikamentöse Therapie.

22 22 Multiple Sklerose 22.1 Epidemiologie – 490 22.2 Ätiologie und Pathogenese – 490 22.3 Verlaufsformen und Prognose – 492 22.3.1 Diagnosekriterien – 492 22.3.2 Verlaufsformen – 492

22.4 Symptome – 494 22.4.1 Typische Symptomkombinationen – 495

22.5 Diagnostik – 496 22.5.1 Liquor – 496 22.5.2 Elektrophysiologie – 497 22.5.3 Bildgebende Verfahren – 497

22.6 Therapie – 498 22.6.1 Therapie des akuten Schubs – 498 22.6.2 Prophylaktische Therapie – 499

22.7 Sonderformen der MS – 503 22.7.1 Encephalitis pontis et cerebelli – 503 22.7.2 Devic-Syndrom – 505 22.7.3 Konzentrische Sklerose – 505

22.8 Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) – 505 22.9 Stiff-person-Syndrom (SPS) – 506

490

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

> > Einleitung

22

Die Multiple Sklerose (MS) wurde im 19. Jahrhundert von dem großen französischen Neurologen Charcot beschrieben. Wenn er in dem Pariser Armenkrankenhaus La Salpêtrière Visite machte, fiel ihm auf, dass manche Patienten, wenn sie ihn seitwärts anblickten, einen Nystagmus bekamen. Wenn sie ihm die Hand reichten, zeigten sie einen Intentionstremor, und ihre Sprechweise legte auf jede Silbe eine »skandierende« Betonung. Diese Symptomkombination wurde später als Charcot-Trias bezeichnet. Bei der Autopsie solcher Patienten fand man multiple, gliöse Herde im ZNS, und die »Sclérose en plaques« wurde eine der am besten bekannten Nervenkrankheiten. Dennoch blieb ihre Ätiologie – nicht die Pathogenese – bis heute unbekannt, und zur Behandlung wurden sehr viele Methoden angewendet, die heute nur Verwunderung hervorrufen können. Eine davon war die Quecksilberschmierkur, bei deren Anwendung die Fenster des Zimmers geschlossen werden mussten, damit die Quecksilberdämpfe nicht entweichen konnten. Heute weiß man um die autoimmune Genese der MS, die auch oft als Enzephalomyelitis disseminata (ED) bezeichnet wird. Es werden Therapieverfahren eingesetzt, die in den pathogenetischen Mechanismus eingreifen. Dennoch ist man noch immer weit davon entfernt, die Krankheit heilen zu können.

22.1

Epidemiologie

Die Multiple Sklerose ist eine der häufigsten, organischen Krankheiten des Nervensystems. Die Inzidenz wird in Mitteleuropa mit 3–7 Erkrankten, die Prävalenz mit 30–60 pro 100.000 Einwohner angegeben. Etwa 8% der Patienten, die in einer Neurologischen Klinik in unseren Breitengraden behandelt werden, leiden an MS. Frauen erkranken doppelt so häufig an der schubweisen Verlaufsform wie Männer (s.u.), aber gleich häufig an chronisch progredienter MS. Erkrankungsalter Das Prädilektionsalter für die Erkrankung an MS ist die Zeit zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die MS kann schon in der Zeit der Pubertät auftreten. Nach dem 45. Lebensjahr sinkt die Häufigkeit von Neuerkrankungen kontinuierlich ab. Die obere Grenze liegt um 55–60 Jahre. Diese Zahlenangaben spiegeln aber nur die erste Manifestation neurologischer Symptome, nicht das tatsächliche Erkrankungsalter mit »stummen« Herden wider, das etwa 10 Jahre früher anzunehmen ist. Mitteilungen über erste Schübe von MS unter 10 Jahren gehören zu den absoluten Seltenheiten. Geographische Verteilung Die Erkrankungshäufigkeit nimmt bei Angehörigen der weißen Rasse auf der nördlichen Halbkugel mit wachsender Entfernung vom Äquator zu. In Europa ist die MS oberhalb des 46. Breitengrades häufiger als darunter. In den nördlichen Bundesstaaten

der USA oberhalb des 38. Breitengrades ist sie stärker als in den Südstaaten vertreten. In südlichen Breitengraden ist die Prävalenz der Krankheit sehr gering. Der Grund für diese geographische Verteilung ist nicht bekannt. Australien hat eine Häufigkeit von etwa 10, Afrika nur von 0–4 auf 100.000 Einwohner. In Ägypten, Südafrika, Südamerika, allerdings auch in Sibirien, ist die Krankheit selten. Auch in Japan kommt sie nicht häufig vor. Einwanderer, die ihr Geburtsland im frühen Kindesalter verlassen, tragen das Erkrankungsrisiko ihres neuen Heimatlandes. Wechseln sie den Wohnort nach der Pubertät, nehmen sie das Risiko ihres Geburtslandes mit. In der 2. Generation verwischt sich dieser Unterschied. Ob diese geographische Verteilung mit der Exposition an bestimmte Infektionen oder mit den Bedingungen der Ernährungs- und Lebensweise zusammenhängt, ist nicht endgültig geklärt. 22.2

Ätiologie und Pathogenese

Genetische Faktoren Die Ursache der MS ist nicht bekannt. Wie bei vielen Krankheiten, sind auch bei der MS genetische Faktoren in der Prädisposition wirksam, wobei mehrere Gene beteiligt sein müssen. Die Konkordanzrate ist bei monozygoten Zwillingen 25%, bei dizygoten 3%. Am besten gesichert ist die Assoziation mit HLA DR 2. Umwelteinflüsse Definierte, exogene Faktoren haben im Erwachsenenalter auf Manifestation und Verlauf der MS keinen erkennbaren Einfluss. Ob ein Patient kurz vor der Erkrankung schwer körperlich arbeitete oder eine sitzende Beschäftigung hatte, ob er sich ausreichend oder nur mangelhaft ernähren konnte, ob er Temperatureinflüssen, allgemeinen Strapazen oder einem Trauma mit Beteiligung des ZNS ausgesetzt war, spielt, soweit wir jetzt wissen, keine Rolle für den Ausbruch der MS. Selbst während der Bettruhe und Kortikoidbehandlung können akute Schübe auftreten. MS ist nicht infektiös. Pathologische Anatomie Die MS gehört zu den Entmarkungskrankheiten. Sie befällt deshalb ganz vorwiegend die weiße Substanz des gesamten ZNS. Herdförmig kommt es zu einer Schädigung oder Auflösung der Markscheiden. Ohne intakte Markscheiden ist die Nervenleitung erschwert bis unmöglich. Schon früh entstehen allerdings auch axonale Schäden. Größere Herde führen deshalb, je nach ihrer Lokalisation, zu Funktionsstörungen. Kleinere Herde in »stummen Regionen« können jedoch klinisch unerkannt bleiben. Im CT, mehr noch im MRT und auch bei der Sektion, findet man das ZNS stets schwerer befallen als klinisch zu vermuten war. Die Entmarkungsherde (Plaques) sind in wechselnder Größe, vom Durchmesser eines Stecknadelkopfes bis zu dem eines Markstücks, über das ZNS verteilt. Sie sind um größere Venen oder an diesen entlang angeordnet und können, besonders in der

491 22.2 · Ätiologie und Pathogenese

Facharzt

Pathophysiologisches Modell und immunpathogenetische Subtypen. Zur Pathophysiologie gibt es folgende Vorstellungen, die in . Abb. 22.1 erläutert sind. Autoreaktive T-Lymphozyten werden, z.B. durch einen Virusinfekt, in der Peripherie des Körpers aktiviert. Sie docken an bestimmten Rezeptoren von Endothelzellen an und wandern unter chemotaktischen Einflüssen durch die Blut-Hirn-Schranke ins Hirngewebe. Hier kommt es zu einer klonalen Proliferation der T-Zellen, die nach erneuter Aktivierung bestimmte Strukturen des ZNS irrtümlich als Antigene erkennen. Unter diesen Strukturen ist besonders das basische Myelinprotein zu nennen, eine Komponente des Myelins. Aber auch andere Proteine, das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), Myelin-assoziiertes Glykoprotein (MAG), Proteolipoprotein (PLP) sind in den Prozess eingebunden. Die Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen aktiviert andere zelluläre Bestandteile des Immunsystems, z.B. Makrophagen. Ferner werden B-Zellen aktiviert. Das Zusammenwirken von T- und B-Zellen führt zu der entzündlichen Markscheidenschädigung, die neben der gliösen Vernarbung (»Sklerose« ) das Charakteristikum der MS ist.

1. Periphere Aktivierung

T

In den MS-Läsionen lassen sich mit immunhistochemischen und molekularbiologischen Methoden vier verschiedene immunpathogenetische Subtypen differenzieren (. Tabelle 22.1). Typ I und II zeigen große Ähnlichkeiten mit T-Zell- oder T-Zell-/Antikörper-mediierten autoimmunen Enzephalomyelitiden (EAE) der Maus bzw. der Ratte, dem Tiermodell der MS. Der primäre Oligodendrozytenschaden der Subtypen III und IV ähnelt virus- oder toxininduzierten demyelinisierten Läsionen in anderen Tiermodellen der Maus oder Ratte. In allen Mustern finden sich Makrophagen und T-Zellen. Immunglobulin- und Komplementablagerungen lassen sich nur in Muster II nachweisen. Während in Muster III zumindest noch ein Teil der Oligodendrozyten im Plaque erhalten ist, zeichnet sich Muster IV durch einen vollständigen Oligodendrozytenverlust aus. Beim individuellen Patienten findet sich zu einem Zeitpunkt in allen Läsionen dasselbe Muster. Unklar ist, ob sich das Muster im Verlauf der Zeit ändert.

. Tabelle 22.1. Charakteristika der verschiedenen immunpathogenetischen Muster

T

Muster

Charakteristika

Muster I

Oligodendrozytenerhalt T-Zell- und Makrophageninfiltration Schnelle und fast vollständige Remyelinisierung

Muster II

Oligodendrozytenverlust T-Zell- und Makrophageninfiltration Plasmazellen Immunglobulin- und Komplementablagerung Rekrutierung von oligodendroglialen Vorläuferzellen

Muster III

Oligodendrozytendystrophie, apoptotische Oligodendrozyten Schwächere T-Zellinfiltration Gestörte Myelinexpression: selektiver Verlust von MAG, Überexpression von MOG

Muster IV

Primäre Degeneration von Oligodendrozyten in der weißen Substanz Vollständiger Oligodendrozytenverlust im Plaque T-Zell- und Makrophageninfiltration

2. Penetration der Blut - Hirnschranke

Blut

T 3. Lokale Antigenpräsentation und Stimulation TNF

Blut

T

Micr.

IFN - γ As.

Oligo.

Myelin

M

Myelin

Axon M

Makrophage Antikörper

9 . Abb. 22.1. Schematische Darstellung einzelner Teilschritte in der Pathophysiologie der MS. 1. Aktivierung autoreaktiver T-Lymphozyten in der Peripherie, 2. Durchwanderung der Blut-Hirn-Schranke, 3. Lokale Antigenpräsentation durch Mikroglia (Micr.) oder Astrozyten (AS). Produktion entzündungsfördernder Zytokine wie Tumornekrosefaktor (TNF) und Interferon-γ (IFN-γ); Oligo Oligodendrozyt, 4. Myelinschädigung. AK Antikörper; M Makrophage

4. Myelinschädigung durch • Zytokine • Entzündungsmediatoren • zytotoxische Zellen • Autoantikörper

22

492

22

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

Umgebung der Seitenventrikel, zu größeren Herden konfluieren. Im frühen Stadium sind die Markscheiden an umschriebenen Stellen rötlich geschwollen und aufgelockert. Die Plaques sind – je nach Alter – durch entzündliche Infiltrate mit Demyelinisierung, durch Verlust von Axonen und gliotische Narben charakterisiert. Die Infiltrate bestehen aus Lymphozyten und Monozyten. Frische und sklerotische Herde werden im ZNS bunt nebeneinander angetroffen. Prädilektionsstellen für die Lokalisation der Plaques sind: Sehnerven, Balken, Hirnstamm, insbesondere Brücke mit Augenmuskelkernen, Kleinhirn und Kleinhirnstiele, die Pyramidenbahn, der Boden des IV. Ventrikels, Hinterstränge des Rückenmarks. Seltener sind Hirnrinde, Basalganglien und Rückenmarksgrau betroffen. 22.3

Verlaufsformen und Prognose

a

b

c

d

e

f

g

h

22.3.1 Diagnosekriterien Die Diagnose ist klinisch sicher zu stellen, wenn wenigstens zwei Schübe aufgetreten sind, die sich auf multilokuläre Läsionen im ZNS zurückführen lassen, oder wenn multifokale Symptome mehr als ein Jahr chronisch progredient waren. Ein positiver Liquorbefund unterstützt die Diagnose. Positiv ist der Liquorbefund, wenn lokale IgG-Produktion im ZNS, oligoklonale Banden und/oder geringe, lymphomonozytäre Pleozytose und leichte Eiweißvermehrung nachgewiesen sind. Häufig findet man noch die alte Einteilung der Diagnosekriterien nach Poser, die die Kategorien »klinisch sichere MS« , »laborunterstützte MS« und »klinisch wahrscheinliche MS« unterschied. Sie wurde inzwischen durch die McDonald-Kriterien ersetzt. Man unterscheidet jetzt 4 sichere MS, 4 mögliche MS, 4 keine MS (7 Tabelle 22.2). Diese Kriterien tragen der Bedeutung der MRT-Befunde (s.u.) Rechnung. Gleichzeitig wird die Diagnose einer »primär chronisch progredienten MS« besser berücksichtigt. Die Diagnosekriterien zusammengenommen ergeben 8 Subgruppen, Subgruppe 1–4 entspricht der Diagnose »sichere MS« , Subgruppe 5–8 der Diagnose »mögliche MS« . In den neuen Diagnosekriterien wird ausdrücklich auf die Forderung hingewiesen, dass die vorliegenden neurologischen Symptome durch »nichts besser als durch das Vorliegen einer MS« erklärt werden können.

. Abb. 22.2a–h. Schematische Darstellung der wichtigsten Verlaufsformen der MS. a Schubweiser Verlauf mit vollständigen Remissionen, b schubweiser Verlauf mit unvollständigen Remissionen: zwischen zwei Schüben kein Fortschreiten der Symptomatik, aber im Zeitverlauf nimmt die Behinderung zu, c primär fortschreitender Verlauf ohne Schübe und Remissionen, d primär fortschreitender Verlauf mit Perioden von Stillstand und/oder gelegentlicher Besserung; e sekundär fortschreitender Verlauf: nach wenigen Schüben stellt sich ein chronisch fortschreitender Verlauf ein, f nach einigen Schüben chronisches Fortschreiten mit gelegentlichen Schüben und leichten Remissionen, g fortschreitend schubweiser Verlauf: von der ersten Manifestation an chronische Verschlechterung mit dazwischen auftretenden Schüben und Remissionen, h ähnlicher Verlauf wie g, aber keine vollen Remissionen. (Nach Lublin et al. 1996)

4 den schubförmigen Verlauf, 4 den schubförmig-progredienten Verlauf, 4 den primär progredienten Verlauf und den aus den schubför-

migen Verläufen entstehenden 4 sekundär progredienten Verlauf.

22.3.2 Verlaufsformen

Schübe entwickeln sich akut oder subakut innerhalb von wenigen Tagen oder 1–2 Wochen. Nach einigen Tagen bis Wochen tritt eine Rückbildung (Remission) der Symptome ein, die vollständig oder unvollständig ist. Das Intervall zwischen zwei Schüben variiert stark und lässt sich nur in Ausnahmefällen nach dem Verlauf vorhersagen.

Die wichtigsten Verlaufsformen der MS sind in . Abb. 22.2 erläutert. Wir unterscheiden

3Schubförmiger Verlauf. Klinisch beginnt die MS bei über 80% der Patienten mit einem schubförmigen Verlauf. Häufige

493 22.3 · Verlaufsformen und Prognose

22

. Tabelle 22.2. McDonald-Diagnosekriterien

Subgruppe

Diagnosekriterien

Erläuterung

Sichere Multiple Sklerose 1

Mindestens zwei klinische Schübe und zwei oder mehr objektive Läsionen.

Somit ist eine räumliche und zeitliche Dissemination klinisch nachgewiesen

2

Mindestens zwei klinische Schübe und nur eine objektive Läsion.

Somit ist nur eine zeitliche Dissemination klinisch nachgewiesen. Die räumliche Dissemination muss zusätzlich durch ein »positives« MRT (nach den oben genannten McDonald Kriterien) nachgewiesen werden oder es müssen ein »MS-typischer« Liquor und zwei, mit MS vereinbare Läsionen im MRT vorhanden sein.

3

Nur ein klinischer Schub und zwei oder mehr objektive Läsionen.

Somit ist nur eine räumliche Dissemination klinisch nachgewiesen. Die zeitliche Dissemination muss im MRT (Verlaufsuntersuchungen mit einem mindestens dreimonatigen Abstand) nachgewiesen werden oder ein weiterer klinischer Schub

4

Keine Schübe, von Beginn an Progression und eine objektive Läsion d.h. primär progrediente MS.

Somit müssen räumliche und zeitliche Dissemination durch Zusatzuntersuchungen nachgewiesen werden. Das heißt, im MRT (durch Verlaufsuntersuchungen im mindestens dreimonatigem Abstand) nachgewiesene zeitliche Dissemination oder Progression über ein Jahr und räumliche Dissemination im MRT oder »positives« MRT und VEP und typische Liquorbefunde

5

Mindestens zwei klinische Schübe und nur eine objektive Läsion

Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose sichere MS.

6

Nur ein klinischer Schub, zwei oder mehr objektive Läsionen

Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose sichere MS.

7

Nur ein klinischer Schub und eine objektive Läsion

Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose sichere MS.

8

Kein Schub, von Beginn Progression.

Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose sichere MS. Spricht für mögliche spinale Verlaufsform

Mögliche MS

Frühsymptome sind die einseitige Optikusneuritis, Sensibilitätsstörungen oder eine belastungsabhängige Schwäche der Beine. Bei den meisten Patienten bilden sich die Symptome eines Schubes innerhalb der ersten 6–8 Wochen zurück. Beim natürlichen Verlauf der unbehandelten Erkrankung liegt die Schubrate initial bei etwa 2 Schüben pro Jahr und nimmt dann in den Folgejahren kontinuierlich ab. Eine hohe Anzahl von Schüben innerhalb der ersten beiden Krankheitsjahre ist oft mit rascherer Progredienz verbunden. Der zweite Schub tritt bei 25–50% der Patienten innerhalb des ersten Jahres, bei 60% innerhalb von 3 Jahren ein. Bei 50% der Kranken kommt es innerhalb von 10 Jahren zum Übergang in eine der progredienten Verlaufsformen (. Abb. 22.2) Selten kommen foudroyante Schübe vor, in denen die Patienten wenige Wochen nach der ersten Manifestation der Krankheit sterben. Solche Verläufe sieht man eher in jüngeren Jahren. Die Lebenserwartung wird durch die Krankheit kaum verkürzt. 1/3 der Patienten haben über eine sehr lange Zeit keine und 1/3 nur eine geringe Behinderung.

3Primär progredienter Verlauf. Etwa 10% der Patienten haben von Beginn an keine abgrenzbaren Schübe, sondern verschlechtern sich langsam progredient. Dies wird als primär progredienter Verlauf bezeichnet. Es findet sich dann häufig eine über Jahre zunehmende spastische Gangstörung, seltener auch ein progredientes zerebelläres Syndrom. 3Prognose. Eine individuelle Prognose ist am Anfang der Krankheit nicht zu stellen. Nach einem Schub oder wenigen Schüben kann eine Remission von vielen Jahren eintreten, in denen der Patient fast unbehindert lebt und arbeitet. Deshalb waren wir in der Vergangenheit zurückhaltend damit, den Kranken die Verdachtsdiagnose früh zu nennen. Viele Patienten sehen sich, wenn die Diagnose gestellt wird, in naher Zukunft im Rollstuhl. Dennoch hat sich die Situation geändert: Da bei sicherer Diagnose und Nachweis einer Krankheitsaktivität die sofortige Einleitung einer Schubprophylaxe indiziert ist, muss die Diagnosenennung bei Diagnosestellung erfolgen.

494

22

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

3MS und Schwangerschaft. Während der Gravidität ist die Schubrate statistisch geringer als bei Kontrollpersonen. Nach der Entbindung ist sie statistisch 2- bis 3-mal höher. Die Frage, ob die MS ein Grund zur Schwangerschaftsunterbrechung ist, kann nur nach den Bedingungen des Einzelfalles, möglichst unter Berücksichtigung früherer Schwangerschaften, beantwortet werden. Bei Abwägung aller Faktoren wird man dem Wunsch der Frau nach Schwangerschaftsunterbrechung meist entsprechen. > Die MS hat oft eine bessere Prognose als häufig ange-

nommen wird. Medikamentöse und krankengymnastische Behandlung können Schübe abkürzen und Symptome bessern.

22.4

Symptome

Für die Entwicklung der Symptome lassen sich keine festen Regeln aufstellen. Deshalb besprechen wir zunächst die wichtigsten Symptome im Einzelnen und erst danach einige typische Kombinationen, die den Verdacht auf MS lenken müssen. Optikus- und Retrobulbärneuritis Die Sehnervenneuritis kann einseitig oder doppelseitig den ganzen N. opticus ergreifen, so dass die Patienten vorübergehend erblinden oder trübe sehen, wie durch Milchglas oder durch einen Schleier. Am Augenhintergrund besteht dabei oft eine Anschwellung der Sehnervenpapille. Bildet sich die Neuritis N. optici ganz zurück, haben die Patienten nach wenigen Wochen wieder ihren vollen Visus. Oft aber kommt es zu einer bleibenden Entmarkung und sekundären Sklerose. Das betroffene Auge bleibt dann amblyop. Am Augenhintergrund findet man eine unscharf begrenzte Sehnervenpapille als Zeichen einer sekundären Optikusatrophie. Noch typischer ist die retrobulbäre Optikusneuritis, bei der nur das zentral gelegene papillomakuläre Bündel erkrankt. In diesen Fällen leidet das zentrale Sehen, und die Patienten können z.B. kleine Druckschrift nicht mehr lesen. Die Sehstörungen treten manchmal nur für kurze Dauer nach Anstrengungen oder bei Temperaturerhöhung auf. Im akuten Stadium ist die Papille unauffällig. Bei Defektheilung bleibt ein Zentralskotom bestehen Jetzt kann man ophthalmoskopisch eine temporale Abblassung der Sehnervenpapille feststellen. Diese Lokalisation beruht darauf, dass die makulopapillären Fasern im temporalen Sektor der Papille gelegen sind. In 20% findet sich in der Peripherie des Augenhintergrundes eine Periphlebitis retinae. > Bei der akuten Retrobulbärneuritis sieht der Patient

»nichts« (Visusverlust), und auch der Arzt sieht nichts (normaler ophthalmoskopischer Befund).

Der Befall des N. opticus kann sich wiederholen. Beide Nn. optici werden nicht selten in größerem Zeitabstand nacheinander ergriffen. Auch bei scheinbar vollständiger Remission lässt sich

die überstandene Optikus- oder retrobulbäre Neuritis bei den meisten Patienten durch eine Latenzverzögerung der visuell evozierten Potentiale (VEP) nachweisen. Retrobulbäre Neuritis ist in etwa 30% der Fälle, d.h. keineswegs immer, ein Erstsymptom der MS. Das Risiko, später an MS zu erkranken, ist umso größer, je jünger die Patienten sind. Andere Ursachen sind: Diabetes, Alkoholabusus, Nebenhöhlenentzündung. Viele Fälle bleiben unaufgeklärt. Wenn eine MS sich anschließt, geschieht das in den ersten 4, ausnahmsweise 6 Jahren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Patienten mit Optikusneuritis im Alter von 45 Jahren oder älter später noch eine MS bekommen. Okulomotorikstörungen Charakteristisch sind flüchtige Augenmuskellähmungen mit Doppelbildern, die ohne Kopfschmerzen auftreten. Besonders häufig ist der N. abducens betroffen, etwas seltener der N. trochlearis und, stets nur inkomplett, der N. oculomotorius. Sein parasympathischer Teil bleibt meist frei. Die Lähmungen sind meist einseitig und nie symmetrisch. Es können auch mehrere Augenmuskelnerven ergriffen werden. Die internukleäre Ophthalmoplegie wird bei Multipler Sklerose häufig beobachtet. Sie tritt oft doppelseitig auf. Funktionsstörung der übrigen Hirnnerven. Während die kauda-

len Hirnnerven fast immer frei bleiben, werden der N. facialis und der sensible Trigeminus befallen. Die MS kann Ursache einer Trigeminusneuralgie sein. Diese Form ist häufiger als die »idiopathische« Trigeminusneuralgie (7 Kap. 16). Hemifaziale Myokymie ist für MS sehr typisch. Andere Ursachen (Brücken- oder Kleinhirnbrückenwinkeltumoren) sind viel seltener. Manchmal sieht man auch die Symptomkombination: halbseitige Gefühlsstörung im Gesicht und auf der Zunge mit halbseitiger Geschmacksstörung. Paresen Zentrale Paresen sind sehr häufig. Die distalen Gliedabschnitte sind stärker als die proximalen betroffen. Man beobachtet alle Abstufungen der spastischen Lähmung von der Beeinträchtigung der Feinmotorik und Steifigkeit des Ganges bis zur kompletten Para-, Tetra- oder Hemiplegie. Die Muskeleigenreflexe sind meist gesteigert. Spastische Tonuserhöhung und Kloni treten im Verlauf hinzu. Die Spastik kann extreme Ausmaße annehmen und den Patienten funktionell unbeweglich machen. In 70% der Fälle sind die BHR abgeschwächt oder erloschen. Dies ist ein wichtiges Frühsymptom. Ein weiteres Frühsymptom ist eine allgemeine Mattigkeit und rasche Ermüdbarkeit. Die Ursachen dafür sind im Einzelfall nicht immer aus dem neurologischen Untersuchungsbefund abzuleiten. Dennoch ist das Symptom häufig frühzeitig anzutreffen und begrenzt die Leistungsfähigkeit der Kranken stark.

495 22.4 · Symptome

Exkurs MS-Skalen für Studien und Dokumentation (7 Anhang) EDSS (Encephalomyelitis-disseminata-Symptom-Skala). Die EDSS-Skala erfasst auf 11 Stufen von 0–10 den Grad der Behinderung von MS-Patienten. Sie ist stark auf die motorischen Funktionen, vor allem das selbstständige Gehen gewichtet. Der Skalenwert 1 beschreibt einen fast normalen Befund, der Wert 10 den Tod. Dazwischen liegen Graduierungen von leich-

Sensibilitätsstörungen Die Patienten klagen über andauernde Missempfindungen, über Taubheit, Pelzigkeit oder Kribbeln, vor allem in Händen und Füßen. Schmerzen sind sehr selten. Bei der Untersuchung findet man die Berührungsempfindung vermindert. Selten ist das Tasterkennen aufgehoben. Durch Beeinträchtigung der Lageempfindung kommt es zur sensiblen Ataxie. Dadurch wird auch die Feinmotorik erheblich gestört. Schmerz- und Temperaturempfindung sind meist intakt. Die Gefühlsstörungen sind an Armen und Beinen handschuh- und strumpfförmig, am Rumpf querschnittsartig angeordnet. Es kommen aber auch fleckförmige Sensibilitätsstörungen an den Extremitäten vor. Häufig ist das Nackenbeugezeichen nach Lhermitte positiv. Blasenstörungen Diese sind häufig (20%) und äußern sich als Retention oder als Dranginkontinenz (Urge-Inkontinenz), die, auch im Hinblick auf die Therapie, urologisch weiter differenziert werden müssen. Der Restharn kann mit einer Ultraschall-B-Mode-Technik gemessen werden. Lähmungen des M. sphincter ani kommen kaum vor. Kleinhirnfunktionsstörungen Der Befall des zerebellären Systems zeigt sich als Charcot-Trias: Nystagmus, Intentionstremor, skandierendes Sprechen. Unter den verschiedenen Formen des zentralen Nystagmus sind der horizontale, besonders der dissoziierte und der vertikale Blickrichtungsnystagmus für MS besonders charakteristisch. Außer der Charcot-Trias kommen alle weiteren, zerebellären Bewegungsstörungen vor, die im Abschnitt über das Kleinhirn beschrieben sind. Funktionell besonders behindernd ist manchmal ein sehr ausgeprägter, zerebellärer Tremor. Hierher gehört auch die Blickdysmetrie: überschießende Blickbewegungen mit anschließenden Korrekturrucken. Kognitive Veränderungen und psychische Veränderungen Bei etwa 50–70% der Patienten findet man in Abhängigkeit vom Verlaufstyp kognitive Beeinträchtigungen. Vor allem Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefizite sowie Beeinträchtigungen der kognitiven Flexibilität sind häufig und können auch schon in der Frühphase der Erkrankung messbar vorhanden sein. Im weiteren Verlauf kann es zu einer allgemeinen intellektuellen Nivellierung

22

ten Symptomen über begrenzte Gehstrecke, Benötigen von Gehstützen, Rollstuhlpflichtigkeit bis hin zu völliger Abhängigkeit und Bettlägerigkeit. MS-functional-composite Skala. Diese, berücksichtigt die Fingerfeinmotorik und kognitive Symptome.

kommen. Einzelne kognitive Teilleistungsstörungen sind dabei durch die Wirkung von Läsionen in für diese Leistungen wichtigen kortikalen Arealen zu erklären (so genannte »strategische Läsionen« ). Eine allgemeine intellektuelle Beeinträchtigung ist dagegen eher die Folge der kumulierten Wirkung kortexnaher Läsionen. Man spricht hier von einem multiplen Diskonnektionssyndrom, das auftritt, sobald eine gewisse quantitative Schwelle an Läsionen überschritten ist. Im psychischen Befund sind Kranke, die an MS mit zerebraler Lokalisation leiden, oft durch eine Euphorie auffällig. Diese äußert sich nicht immer als durchgehend heitere Grundstimmung. Häufiger ist das Fehlen einer Betroffenheit über die Krankheit, eine optimistische Einstellung, selbst wenn der Verlauf bisher chronisch fortschreitend war. Mit der ausgeprägten Euphorie bzw. Anosognosie gehen eigentlich immer ausgeprägte kognitive Defizite (vor allem auch exekutiver Funktionen) einher, so dass man diese »Wesensänderung« als Ausdruck einer komplexeren neuropsychologischen Syndroms begreifen sollte und nicht als isolierte Symptomatik. In schweren Fällen reagieren die Patienten auf jede Zuwendung mit flacher Heiterkeit und Lachen, selbst dann, wenn sie durch ihre Ataxie das Gleichgewicht verlieren. Die Euphorie tritt besonders gemeinsam mit einer zerebellären Bewegungsstörung auf (»wer wackelt, lacht« ). Im späteren Verlauf entwickeln sich, wie bei allen organischen Hirnkrankheiten, kognitive Einbußen bis zur Demenz. 22.4.1 Typische Symptomkombinationen Grundsätzlich können alle diese Symptome ganz wahllos miteinander auftreten. Es gibt aber doch einige typische Kombinationen, die häufiger wiederkehren und die Diagnose wahrscheinlich machen: 4 Gefühlsstörungen an den Händen und spastische Paraparese der Beine, 4 spastisch-ataktischer Gang mit Missempfindungen und Blasenstörungen, 4 inkomplettes Querschnittssyndrom mit Nystagmus und skandierendem Sprechen, 4 rezidivierende, flüchtige Lähmungen wechselnder Augenmuskelnerven.

496

22

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

Pathognomonisch für Multiple Sklerose ist das Syndrom paroxysmale Dysarthrie und Ataxie: täglich mehrmals einsetzende Anfälle von bulbärer Dysarthrie und schwerer Ataxie, die bis zu 15 s dauern und manchmal von Gefühlsstörungen im Trigeminusgebiet begleitet sind. Es werden auch halbseitige, tonische Anfälle beobachtet, ferner flüchtige Doppelbilder, paroxysmale Akinese, paroxysmale Gefühlsstörungen und Schmerzen. Diese intermittierenden Funktionsstörungen beruhen darauf, dass bei einem beginnenden Entmarkungsprozess die Axone in ihrer Funktion labil sind. Ihre Leitfähigkeit ist gerade noch erhalten, kann aber bei Veränderungen des inneren Milieus vorübergehend zusammenbrechen. Die Leitfähigkeit der zentralen Nervenbahnen bei MS hängt übrigens stark von der Temperatur ab (Uhthoff-Phänomen). Wärme führt zu einer Verschlechterung, Abkühlung zu einer Besserung der Symptome. 22.5

finden sich isoliert im Liquor als Ausdruck einer autochthonen IgG-Produktion oligoklonale Banden. Das parallel untersuchte Serum zeigt ein normales polyklonales Muster. Bei der MS liegt eine polyspezifische Immunreaktion vor mit einer Vermehrung verschiedener Antikörperspezies. Eine besondere Position nimmt die Kombination der Vermehrung der Antikörper gegen Masern, Röteln und Herpes zoster (MRZ) ein, die bei ca. 90% der MS-Patienten nachgewiesen werden kann (MRZ-Reaktion). Die beschriebenen Liquorveränderungen sind oft auch während der klinischen Remission nachzuweisen. Dies zeigt deutlich, dass der Krankheitsprozess auch bei scheinbarem Stillstand weiter abläuft.

Diagnostik

R 1 mV

22.5.1 Liquor

10 ms

Liquorzytologie Der Liquor ist in mehr als 90% der Fälle pathologisch verändert. Man findet eine leichte Vermehrung der Lymphozyten auf 10–20, selten bis zu 30 Zellen pro µl. Weiter ist das Auftreten von Plasmazellen, die sich beim Gesunden im Liquor nicht finden, für MS charakteristisch, aber nicht pathognomonisch. Sie kommen auch bei anderen entzündlichen Krankheiten des ZNS, seiner Häute und der Nervenwurzeln vor. Lokale IgG-Produktion und Oligoklonale Banden Das Gesamteiweiß kann auf Werte zwischen 0,60–0,80 g/l erhöht sein. Bei höheren Zell- und Eiweißwerten muss man an der Diagnose zweifeln. Oft ist die Gesamtmenge des Eiweiß aber normal, und es besteht nur eine relative Vermehrung der IgG-Fraktion. Die IgG-Vermehrung im Liquor wird durch den Eiweißquotienten (. Abb. 4.2) erfasst. Sehr nützlich ist die zusätzliche, graphische Darstellung der Liquorproteinprofile, die es erlaubt, Schrankenstörungen und autochthone IgG-Produktion in Kombination oder isoliert zu erfassen. Ein Quotient über 0,8 zeigt eine lokale IgG-Produktion im ZNS an und ist bei entsprechender klinischer Symptomatik ein starker Hinweis auf MS. Es muss berücksichtigt werden, dass auch andere Krankheiten, wie SSPE, chronische Virusenzephalitis, entzündliche Polyradikulitis, Borreliose des ZNS und Neurosyphilis zu einer autochthonen IgG-Produktion im ZNS führen. Die Differentialdiagnose ist aber klinisch und mit Labormethoden gut möglich. Mit der Methode der isoelektrischen Fokussierung lässt sich qualitativ eine vermehrte IgG-Produktion nachweisen in Form eines oligoklonalen Banden-Musters (OKB). Die Sensitivität dieser Methode liegt bei Patienten mit MS bei ca. 98%. Bei ihnen

24,2

L

29

a 4,16 10 ms

+ 0,32 µV –

4,54

b . Abb. 22.3. a Pathologisch verzögerte Muskelantworten aus der linken Thenarmuskulatur nach kortikaler Magnetstimulation. Rechts Normalbefund. Patientin mit Multipler Sklerose, bei der die neurologische Untersuchung keine Pyramidenbahnschädigung aufdeckte, b Registrierung der frühen akustischen Hirnstammpotentiale (FAHP) bei einer Patientin mit gesicherter MS. Obere Ableitung: Stimulation von rechts, normales Potential. Untere Ableitung: Stimulation von links, pathologisch verzögertes Potential

497 22.5 · Diagnostik

Prognostische Marker Die Aktivität von Anti-MOG (Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein) und Anti-MBP (basisches Myelin-Protein) scheint eine prognostische Einordnung zu erlauben. Sind beide Marker in der Frühphase positiv, so ist der Übergang in eine MS mit 80% Wahrscheinlichkeit in den nächsten 12 Monaten zu erwarten, während bei Erstmanifestationen ohne diese Marker das Risiko bei etwa 20% liegen soll. Diese Befunde müssen an größeren Patientengruppen bestätigt werden.. > Die oligoklonalen Banden sind zwar sehr empfindliche,

aber wenig spezifische Indikatoren. Sie lassen sich bei vielerlei Infektionen des ZNS, bei Vaskulitis und auch ohne erkennbare Beziehung zu einem Krankheitsprozess nachweisen.

22.5.2 Elektrophysiologie Mit Hilfe der sensiblen und sensorischen Reaktionspotentiale, des Blinkreflexes sowie der transkraniellen Magnetstimulation lassen sich subklinische Läsionen oft erkennen (. Abb. 22.3). Dies gilt vor allem für den Nachweis verzögerter VEP bei Patienten, die nicht über aktuelle oder frühere Sehstörungen klagen. Die elektrophysiologische Untersuchung schließt neben den VEP den Blinkreflex, akustischen und sensiblen evozierten Potentiale und die motorischen Potentiale nach kortikale Magnetstimulation ein. Sie hat große Bedeutung für den Nachweis multipler Läsionen im ZNS.

a

22

22.5.3 Bildgebende Verfahren CT Während das CT bei der Differentialdiagnose hilfreich sein kann, muss betont werden, dass es keinen die Diagnose beweisenden CT-morphologischen Befund gibt. Das CT hat keine diagnostische Bedeutung bei der MS-Abklärung. Im CT findet man am häufigsten eine über die Altersnorm hinausgehende Minderung des Hirnvolumens. Oft sind schon bei 30-Jährigen verschmälerte Rindenwindungen und verbreiterte Furchen sichtbar. Die Entzündungsherde bei Multipler Sklerose vernarben gliös, und nur wenige sind computertomographisch als hypodense, kleine Defekte im Marklager neben den Ventrikeln zu erkennen. Frische Herde können durch Schrankenstörung eine intensive Kontrastmittelaufnahme zeigen. Auch große Läsionen bilden sich in einigen Wochen, meist mit sehr geringen morphologischen Residuen, wieder zurück. MRT Entscheidende diagnostische Bedeutung kommt heute der MRT zu. Mit der MRT konnte gezeigt werden, dass die Aktivität der MS in jedem Stadium weit größer ist als man nach dem neurologischen Status annehmen würde. Beispiele für MRT-Befunde bei MS gibt . Abbildung 22.4. Auch den Befall des Sehnerven kann man darstellen (. Abb. 22.5) Mit KM lassen sich Schrankenstörungen in Entzündungsherden nachweisen. Frische Läsionen nehmen für eine Zeit von 3 Wochen bis 3 Monaten Kontrastmit-

b

. Abb. 22.4a,b. Multiple Sklerose mit typisch lokalisierten Herden im Marklager der Großhirnhemisphären, im Hirnstamm und im Rückenmark (zwei Beispiele). MRT, T2-gewichtet

498

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

u.a. die (nichtpathologischen) perivaskulären Virchow-RobinRäume und vaskuläre Läsionen bei zerebraler Mikroangiopathie.

22 22.6

Therapie

Da die Ätiologie der MS nicht sicher bekannt ist, gibt es zur Zeit keine kausale Therapie. 22.6.1 Therapie des akuten Schubs

. Abb. 22.5. Sehnerv. Retrobulbärneuritis rechts in koronarer Darstellung nach Kontrastmittelverstärkung. (B. Kress, Heidelberg)

tel auf (. Abb. 22.6). Läsionen ohne KM-Aufnahme sind wahrscheinlich durch ein vasogenes Ödem entstanden. Auch länger bestehende Läsionen können im Verlauf wieder KM aufnehmen. Bei Patienten mit primär progredienter MS sind die MRT-Läsionen seltener als bei schubweisem Verlauf. Eine unmittelbare Beziehung zwischen den abgebildeten Läsionen und dem neurologischen Befund besteht nicht, aber dennoch erlaubt der MRT-Befund (»Läsionslast« )anlässlich der ersten Manifestationen eine grobe Voraussage auf den zu erwartenden Krankheitsverlauf Die Erfahrung lehrt, dass kleinere multilokuläre Herde und größere Bezirke veränderter Signalintensität, die nach Lokalisation und formalen Charakteristika nicht für MS sprechen, häufig irrtümlich als MS-Herde angesprochen werden. Hierzu gehören

Kortikoide Im akuten Schub sind Kortikoide die Mittel der ersten Wahl. Das gilt besonders für die Optikusneuritis. 4 Sie verkürzen die Dauer der Schübe, allerdings nur in Form der hochdosierten Pulstherapie (je 1000 mg Methylprednisolon über 3 Tage oder je 500 mg über 5 Tage). 4 Manchmal wird anschließend über mehrere Wochen mit oralem Kortison ausschleichend weiterbehandelt. Die bekannten Kautelen bei Kortikoidbehandlung sind zu berücksichtigen (Magenschutz). 4 Initiale orale Dosen von 100 mg pro Tag haben auf die Schübe keine bessere Wirkung als Plazebo. Der Wirkmechanismus ist komplex. Im Vordergrund stehen die Stabilisierung der Blut-Hirn-Schranke und die Verminderung der Reaktivität von Lymphozyten gegenüber aktivierenden Stimuli. Chronische Verlaufsformen werden weniger beeinflusst, auch hat die Behandlung keine andauernde Wirkung auf das Immunsystem. Cyclophosphamid Bei sehr schweren, lebensbedrohlichen Schüben, die auf Steroide nicht ansprechen, geben wir

. Abb. 22.6a,b. MS Herd vor und nach Gadoliniumgabe mit deutlicher Kontrastmittelaufnahme. (B. Kress, Heidelberg)

a

b

499 22.6 · Therapie

22

Leitlinien Diagnostik und Therapie der MS* 4 Gemäß den neuen Diagnosekriterien kann bei objektiviertem initialen Schubereignis durch Nachweis der zeitlichen und örtlichen Dissemination im MRT nach ≥3 Monaten die Diagnose MS gestellt werden (A). 4 Im akuten Schub intravenöse Methylprednisolon-Hochdosistherapie möglichst innerhalb 3–5 Tagen nach Beginn der klinischen Symptomatik mit einer Dosierung von 1 g an 3 bis max. 5 aufeinander folgenden Tagen unter Magenschutz und Thromboseprophylaxe beginnen (A). Während der Therapie sind Blutdruck und Blutzucker und Elektrolyte engmaschig zu kontrollieren. Erneute quantitative neurologische Untersuchung 2 Wochen nach Beendigung der Kortikosteroidtherapie. Bei ungenügender Besserung erfolgt eine erneute intravenöse Pulstherapie ggf. auch mit erhöhter Dosis von bis zu 5-mal 2 g Methylprednisolon (Durchführung wie oben) 4 Bei funktionell beeinträchtigenden Schüben, die nicht ausreichend auf hoch dosierte Kortisonstoßtherapien ansprechen, lässt sich durch eine Plasmapherese bei knapp der Hälfte der Patienten doch noch eine Rückbildung der Schubsymptome erreichen. (B). 4 Die Frühtherapie mit s.c. oder i.m. IFN-β1a nach dem ersten Schub ist bei hoher Läsionslast (≥9 T2-Läsionen im MRT) am wirksamsten (B) 4 In der Basistherapie der MS mit Schüben werden drei rekombinante Beta-Interferon-Präparate (Avonex®, Betaferon®,

4 Endoxan®, entweder als Stoßtherapie (1-mal 1 g i.v.) oder

kontinuierlich (50–100 mg/Tag). Die Stoßtherapie erfolgt monatlich bis zur Befundstabilisierung über 3–6 Monate. 4 Regelmäßige Kontrollen von Blutbild, Infektparameter und Urinstatus sind unter der Therapie unbedingt erforderlich. Plasmapherese In verzweifelten Fällen mit schwerster, lebensbedrohlicher Symptomatik wird manchmal eine Plasmapherese (5 Zyklen) eingesetzt. Mitoxantron Alternativ zu Cyclophosphamid kann auch 4 Mitoxantron, 20 mg i.v. in Kombination mit 1000 mg Methylprednisolon gegeben werden. Die Therapie wird monatlich über 6 Monate durchgeführt. Dies stellt schon den Übergang zur Langzeittherapie dar. Die Substanz ist potentiell kardiotoxisch, weshalb eine Gesamtdosis von 120 mg/qm Körperoberfläche nicht überschritten werden sollte.

Rebif®) und Glatirameracetat (Copaxone®) als erste Wahl eingesetzt (A). 4 IVIG und Azathioprin stehen als Reservemittel bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen zur Verfügung (A). 4 Der therapeutische Nutzen der immunmodulatorischen Therapie kann klinisch frühestens nach ca. 6 Monaten abgeschätzt werden (B). 4 Die quantitative Erfassung klinischer Befunde anhand etablierter Scores (EDSS und MSFC) sollte unter der Therapie in den ersten beiden Jahren alle 3 Monate und bei Stabilisierung im weiteren alle 6 Monate erfolgen (B). 4 Patientenschulung, Injektionstraining und konsequente Behandlung von Nebenwirkungen der Basistherapie verbessern die Compliance (B). 4 Bei nicht ausreichendem Ansprechen auf die Basistherapie kann Mitoxantron als erstes Präparat der Eskalationstherapie eingesetzt werden (B). 4 Kernspintomographische Kontrollen sollten nur nach standardisiertem Protokoll als ergänzende Untersuchung bei V.a. Therapieversagen durchgeführt werden (B). 4 Ein besseres funktionelles Outcome kann bei der Schubtherapie mit Kortisonstoß durch begleitende mulitdisziplinäre, symptomangepasste Rehabilitationsverfahren erreicht werden (B). * Leicht modifiziert und gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2005

22.6.2 Prophylaktische Therapie Schubprophylaxe bei schubförmigem Verlauf In der Schubprophylaxe bei noch schubförmig verlaufender MS gibt man Interferone, Glatirameracetat, selten noch Azathiopren und auch Immunglobuline. Die Auswahl der geeigneten Prophylaxe ist ein langwieriger Prozess zwischen Arzt und Patient, der sinnvollerweise in einer Spezialambulanz mit fester Zuordnung der Patienten zu den einzelnen Ärzten stattfinden sollte. Applikationsform und Nebenwirkungen bestimmen die Wahl. Interferone. In mehreren, multizentrischen Doppelblindstudien

an MS-Patienten mit schubweisem Krankheitsverlauf ist die Wirksamkeit von Interferon, einem gentechnisch in Bakterien hergestellten Zytokin mit immunmodulierenden Eigenschaften, nachgewiesen worden. Voraussetzungen waren Lebensalter unter 50 Jahre und Fehlen einer schweren Gehbehinderung. 4 Interferon β-1b (Betaferon®) wird in Dosen von 8 Mio. IE s.c. alle 2 Tage für die Dauer von 2 Jahren gegeben und reduziert nach einer Latenz von 2 Monaten Zahl und Schwere der Schübe und Anzahl der aktiven Läsionen im MRT.

500

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

Leitlinien Beginn und Dauer der immunmodulatorischen Therapie*

22

Schubförmiger Verlauf: Mindestens zwei funktionell relevante Schübe in den letzten beiden Jahren oder Auftreten eines schweren Krankheitsschubes mit schlechter Remissionstendenz (B). Beginn der Therapie bereits nach dem ersten Schub, wenn bei Nachweis intrathekaler IgG Synthese und subklinischer Dissemination im Kernspintomogramm nach Ausschluss anderer Ursachen a) sich eine funktionell deutlich beeinträchtigende Schubsymptomatik unter Kortison-Hochdosistherapie innerhalb von 2 Monaten nicht ausreichend zurückbildet oder

4 Die Interferon β-1a Präparate Avonex® (22 μg i.m. 1-mal/

Woche) und Rebif® 22 μg/44 μg s.c. 3-mal/Woche haben einen vergleichbaren Effekt. Unerwünschte Wirkungen waren vor allem »grippale« Beschwerden und Depressivität bis zur Suizidgefährdung. In der Schwangerschaft darf die Behandlung nicht gegeben werden. In letzter Zeit kommt der Induktion von neutralisierenden Antikörpern gegen das Interferon eine zunehmende Bedeutung zu. Neutralisierende Antikörper (NAB) gegen IFN-β finden sich in zunehmender Häufigkeit bei Avonex®, Rebif® und Betaferon®. Bei anhaltend hochtitrigen NAB treten wieder vermehrt Schübe auf. Die niedrigste AK-Rate hat Avonex. Antikörper verhindern die Wirksamkeit der betreffenden Substanz. Ein Wechsel auf Copaxone oder Mitoxandron ist dann notwendig Glatiramiracetat. Alternativ wird Glatiramiracetat (Copaxone®),

täglich 20 mg s.c. eingesetzt. Seine prophylaktische Wirkung gleicht der von β-Interferonen. Details siehe Exkurs Immunmodulatorische Substanzen. Immunglobuline. Neben rekombinanten IFN β-1a senken

auch intravenöse Immunglobuline (IVIG) die Wahrschein-

. Tabelle 22.3. Prognostische Faktoren für den Übergang einer Neuritis nervi optici (ON) in eine klinisch sichere MS Hohes Risiko

– MRT: mehr als 3 Läsionen – ON-Rezidive – Erhöhter IgG-Index oder oligoklonale Banden im Liquor – ON im Winter DR-2-positiv – Weibliches Geschlecht – Frühes Erwachsenenalter – Frühere unspezifische Symptome

Geringes Risiko

– Normales MRT – Gleichzeitig bilaterale ON – ON im Kindesalter oder nach dem 50. Lebensjahr

b) eine hohe Läsionslast (≥6 Herde) im kraniellen MRT vorhanden ist oder c) aktive Entzündungsherde (Gadoliniumaufnahme oder eindeutige Zunahme der T2-Läsionen im kraniellen Kernspintomogramm) in einer Folgeuntersuchung innerhalb von 6 Monaten nachweisbar sind) (B). * Leitlinien der DGN 2005

lichkeit des Auftretens neuer Schübe nach klinisch isoliertem Syndrom. Natalizumab. Natalizumab (Tysabri®) ist ein neues Medikament,

das in den USA zugelassen war. Es ist ein rekombinanter humanisierter, monoklonaler Antikörper, der Adhäsionsmoleküle (α4β1- und α4β7-Integrin) auf der Oberfläche von Immunzellen bindet. 4 Natalizumab verhindert effektiv die Einwanderung von Entzündungszellen aus dem Blutstrom in das ZNS. 4 Es senkt die Schubrate um über 70% verglichen mit Plazebo und um mehr als 50% in Kombination mit Avonex, verglichen mit Avonex-Monotherapie. Aufgrund von 2 Berichten über eine PML (7 Kap. 19.4) bei Patienten, die mit Natalizumab behandelt wurden, ist zurzeit noch nicht klar, ob und wann die Zulassung in Deutschland erfolgen wird. Weitere Substanzen in der klinischen Entwicklung. Weitere Antiadhäsionsmoleküle sind Xaliproden (entzündungshemmend und neuroprotektiv) und FTY720, ein Sphingosin-Rezeptorblocker mit sehr interessanten vorklinischen Resultaten. Es unterdrückt die Migration von Lymphozyten. Kosten. Die Prophylaxe ist sehr teuer. Monatsbehandlungskosten

liegen bei über 1000 € pro Patient, und das für eine prophylaktische Therapie, deren Effektgröße sicher noch verbessert werden kann. Der Markt ist entsprechend heiß umkämpft, und die Hinweise auf gewisse Vorteile der einen oder anderen Substanz sind mit Vorsicht zu beurteilen. Andererseits führt diese Konkurrenz auch zu positiven Effekten. Verbesserte Injektionsbestecke zur Selbstbehandlung und Schwesternschulungen gehören hierzu. Näheres zu den Medikamenten zeigt der nachfolgende Exkurs und die . Tabelle 22.4a,b.

501 22.6 · Therapie

Exkurs Immunmodulatorische Substanzen zur Schubprophylaxe der Multiplen Sklerose* Betainterferone. Der Wirkmechanismus beruht auf der Antagonisierung von Interferon-induzierten proinflammatorischen Effekten. Darüber hinaus wirken sie möglicherweise über eine Induktion antiinflammatorischer Zytokine, Hemmung der T-Zell-Proliferation, Steigerung der T-Suppressorzell-Aktivität und Blockade der Metalloproteinasen und Chemokine. Die Wirksamkeit von 3 verschiedenen Betainterferonen ist durch Studien belegt. Schubfrequenz, die Progression des Behinderungsgrades und die kernspintomographische fassbare Krankheitsaktivität werden positiv beeinflusst. Indikationen für eine Behandlung mit Betainterferonen ist ein schubförmiger Verlauf der MS bei noch erhaltener Gehfähigkeit. Avonex®, gentechnisch hergestelltes Interferon Beta 1a, 30 μg (6 Mio. Einheiten), wird einmal pro Woche intramuskulär injiziert. Die lokale Verträglichkeit ist sehr gut. Betaferon®, gentechnisch hergestelltes Beta 1b, 250 μg (8 Mio. Einheiten) wird jeden zweiten Tag subkutan gespritzt. Zu Beginn der Behandlung treten an der Injektionsstelle häufig lokale Hautreaktionen (Rötung, Induration) auf, im weiteren Verlauf nimmt die Häufigkeit etwas ab. Selten (bis zu 3%) kommt es zu Hautnekrosen. Rebif ®, gentechnisch hergestelltes Interferon Beta 1a, ist in 2 Dosierungen erhältlich, 22 μg (6 Mio. Einheiten) und 44 μg (12 Mio. Einheiten). Rebif wird 3-mal in der Woche subkutan appliziert. Die lokalen Hautreaktionen sind weniger ausgeprägt. Hautnekrosen sind wesentlich seltener. Die Nebenwirkungen sind bei den drei Substanzen ähnlich, treten meist nur zu Beginn der Therapie auf und sistieren innerhalb der ersten Wochen. Sie bestehen in grippeähnlichen Symptomen mit Glieder- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Schüttelfrost und leichter Temperaturerhöhung. Weitere Nebenwirkungen sind eine Transaminasenerhöhung und eine leichte Lymphozytopenie, die meist keine Änderung der Therapie erfordern. Betainterferone können Depressionen auslösen, Depressionen in der Vorgeschichte stellen daher eine relative Kontraindikation dar. Menstruationsstörungen treten in bis zu 20% auf. Wegen der noch nicht sicher auszuschließenden teratogenen Wirkung der Betainterferone oder Auswirkungen auf die Embryonalentwicklung wird eine wirksame Kontrazeption unter dieser Therapie empfohlen. Vergleichende Untersuchung der drei Betainferone zur klinischen Wirksamkeit sind sehr widersprüchlich und Gegenstand subtiler Subgruppenanalysen, und Detaildiskussionen, die oft stark emotional und parteiisch geführt werden. Es lassen sich keine Empfehlungen für oder gegen die eine oder andere Substanz geben. Aus Betaferon®- und Rebif®-Studien ist eine dosisabhängige Steigerung der Wirksamkeit erkennbar, so dass eine der Krankheitsaktivität angepasste Dosierung rational begründbar ist.

6

Glatiramiracetat (Copaxone®). Glatiramiracetat ist ein synthetisches Polypeptid aus den L-Aminosäuren Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin (GLAT). Aufgrund der Homologien zu dem basischen Myelinprotein nimmt man an, dass Glatiramiracetat über eine Interaktion mit HLA-Molekülen auf der Oberfläche von antigenpräsentierenden Zellen die Aktivierung GLAT-reaktiver Zellen induziert, die ihrerseits myelinreaktive T-Lymphozyten blockieren. Glatiramiracetat supprimiert auch T-Zellklone mit Spezifität für Proteolipidprotein und OligodendrozytenGlykoprotein und induziert spezifische T-Suppressorzellen. Die Behandlung mit Copolymer 1, ist vergleichsweise gut verträglich. Hautreaktionen an der Einstichstelle kommen vor. Mehrere Studien haben bewiesen, dass die Substanz bei schubförmig verlaufender MS etwa gleich wirksam ist wie die Interferone Die klinische Wirksamkeit hinsichtlich Schubreduktion, Progression der Behinderung und kernspintomographischer Krankheitsaktivität ist durch große, randomisierte Studien belegt. Der positive Effekt von Glatiramiracetat verstärkt sich mit der Dauer der Gabe und ist bei Patienten mit geringer Behinderung am größten. Glatiramiracetat wird täglich subkutan injiziert (1 ml = 20 mg/Tag). Lokale Hautreaktionen an der Einstichstelle sind häufig (Rötung, Entzündung, Papeln, Juckreiz), Hautnekrosen sind nicht beschrieben. Änderungen der Laborparameter treten nicht auf. Systemische Nebenwirkungen sind selten und bestehen in gelegentlich auftretender »systemischer Postinjektionsreaktion«, bei der unmittelbar nach der Injektion Dyspnoe, Tachykardie, Thoraxengegefühl und Gesichtsrötung auftreten. Diese Reaktion klingt nach 20–30 min folgenlos ab. Natalizumab (Tysabri®). Rekombinanter humanisierter, monoklonaler Antikörper, der Adhäsionsmoleküle (α4β1- und α4β7Integrin) auf der Oberfläche von Immunzellen bindet. Diese Adhäsionsmoleküle sind für die Bindung von Lymphozyten an die Endothelzellen der Blutgefäße wichtig. Natalizumab stört diese Interaktion und verhindert damit effektiv die Einwanderung von Entzündungszellen aus dem Blutstrom in Gewebe, auch in das ZNS. Dieser Wirkmechanismus erzielte in Phase II und nach den bislang ausgewerteten 1-Jahresdaten der Phase-III-Studien einen drastischen Rückgang neu aufgetretener oder sich vergrößernder Läsionen im MRT und eine Schubreduktion von 66%. Die Substanz hat keinen Effekt auf einen bereits vorhandenen Schub. Auch liegen noch keine Daten vor über den Einfluss auf die Behinderungsprogression oder den Effekt auf eine primär chronisch progrediente MS. Aufgrund der Auswertung der Einjahresdaten wurde die Substanz in den USA im November 2004 für die schubförmige MS zugelassen. Die Europäische Zulassungsbehörde wartet für ihr Votum die Auswertung der Zweijahresdaten ab. Natalizumab wird in einer festen Dosis von 300 mg

22

502

22

Kapitel 22 · Multiple Sklerose

alle 4 Wochen intravenös gegeben. Die Verträglichkeit der Substanz war innerhalb der Einjahresbeobachtung gut. Die häufigsten schwerwiegenden Nebenwirkungen waren Infektionen (2,1% vs. 1,3% bei Plazebo), Hypersensitivitätsreaktionen (1,3%) und Depression (0,8%) einschließlich Suizidversuch (0,5%) und Cholelithiasis (0,8%). Auch die Applikation von Natalizumab kann zur Antikörperbildung führen. Bei 10% der Patienten in den bisherigen Studien wurden zumindest einmal Antikörper nachgewiesen, bei 6% persistierten sie. Klinisch führt das Vorhandensein von Antikörpern zu einem erheblichen Wirkungsverlust und zu einer höheren Häufigkeit von Infusionsreaktionen. Anaphylaktische Reaktionen traten in Einleitung Jeder angehende Neurologe, eigentlich auch jeder Medizinstudent sollte den Oscar-gekrönten Film »Awakenings« (»Zeit des Erwachens« ) gesehen haben. In ihm wurde eindrucksvoll gezeigt, wie eine postinfektiöse Bewegungsstörung, das enzephalitische Parkinson-Syndrom, und die daran gekoppelte Verlangsamung aller motorischen und expressiven psychischen Abläufe durch eine medikamentöse Behandlung mit einem Vorläufer der defizienten Transmittersubstanz gebessert werden kann. Der Film endet tragisch: die wiedergewonnene geistige und körperliche Aktivität verschwindet wieder, und der stuporöse, akinetische Zustand kehrt, jetzt unwiderruflich, zurück. Weitaus positiver ist die Entwicklung von Diagnose und Therapie des M. Parkinson und anderer Bewegungsstörungen in der Folgezeit gewesen: Parallel zur Aufklärung der Funktion der Basalganglien in der Regulation der Motorik (7 Kap. 3) sind Genetik, Pathophysiologie und Therapie auch anderer Bewegungsstörungen intensiv erforscht worden. Den Patienten können heute differenzierte Behandlungsprogramme angeboten werden, die die Prognose gegenüber der jüngeren Vergangenheit erheblich verbessern. Dies schließt sogar die elektrische Stimulation von extrapyramidalen Kernen (z.B. Ncl. subthalamicus) und die Transplantation fetalen Gewebes in die Stammganglien ein.

23.1

Parkinson-Syndrome

3Leitsymptome. Ein Parkinson-Syndrom liegt vor, wenn eine Akinese/Bradykinese mit mindestens einem der folgenden Symptome auftritt: Ruhetremor (4–8 Hz), Rigor und Haltungsinstabilität (posturale Störung). Fakultative Begleitsymptome sind sensorische Symptome (Dysästhesien und Schmerzen), vegetative Symptome (Störungen von Blutdruck, Temperaturregulation, Harnblasenfunktion und sexuelle Funktionen), psychische Symptome (vor allem Depression) und kognitive Symptome (frontale Störungen, in fortgeschrittenen Stadien Demenz). 3Klassifikation. Parkinson-Syndrome (PS) werden in drei Gruppen klassifiziert: 4 idiopathische Parkinson-Syndrom (IPS) (ca. 75% aller PS), 4 symptomatische (sekundäre) Parkinson-Syndrome 4 atypische Parkinson-Syndrome (Parkinson-Syndrome im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen) Symptomatische Parkinsonsyndrome können vaskulär bedingt sein (subkortikale vaskuläre Enzephalopathie), bei Normdruckhydrozephalus, posttraumatisch, metabolisch, medikamentenoder toxininduziert und entzündlich bedingt sein. Atypische Parkinson-Syndrome treten metabolisch (z.B. M. Wilson, Hypoparathyreoidismus), bei Multisystematrophie (MSA) vom Parkinson-Typ (MSA-P), bei progressiver supra-

23

nukleärer Blickparese (PSP), kortikobasaler Degeneration (CBG), Demenz vom Lewy-Körper-Typ und einigen Formen spinozerebellärer Atrophien auf. 23.1.1 Idiopathische Parkinson-Krankheit 3Epidemiologie und Genetik. Die Prävalenz der ParkinsonKrankheit nimmt mit dem Lebensalter zu. Sie ist mit 100-200 Kranken/100.000 Einwohnern eine der häufigsten neurologischen Krankheiten. Bei 60-Jährigen beträgt die Prävalenz 0,2%, bei über 80-Jährigen etwa 2,5%. Sie hat in den letzten 30 Jahren nicht zugenommen. Weltweit hat man keine Häufung der Krankheit in bestimmten Regionen gefunden. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Das Erkrankungsalter liegt jenseits des 40. Lebensjahres, meist zwischen 40 und 60 Jahren. Etwa 20–25% der Patienten haben wenigstens einen Verwandten I. Grades, der ebenfalls die Parkinson-Krankheit hat. Es gibt Familien, in denen der Parkinsonismus autosomal-dominant oder auch rezessiv vererbt wird. Für die Mehrzahl der Kranken nimmt man einen polygenen Erbgang an. Es sind derzeit 9 Genloci beschrieben (Park1–9) die autosomal vererbt werden und häufig mit einem frühen Erkrankungsbeginn und/ oder Demenz vergesellschaftet sind. Insgesamt ist Erblichkeit kein starker Faktor bei der Entstehung der Parkinson-Krankheit. 3Ätiologie. Die Ätiologie ist noch unbekannt. Es gibt keine Befunde, die eine immunologische oder virale Ursache darlegen. Alter selbst ist kein ursächlicher Faktor. Die Krankheit ist nicht kontagiös. Sie tritt selbst bei jahrzehntelanger Lebensgemeinschaft nicht häufiger als zu erwarten beim gesunden Partner auf. Umweltgifte spielen, wie oben dargelegt, keine ätiologische Rolle. Kopftraumen lösen die Parkinson-Krankheit nicht aus. Eine Ausnahme wird nach sehr häufigen, rasch aufeinanderfolgenden schweren Kopftraumen unterstellt, wenn diese zum Krankheitsbild der Boxerenzephalopathie mit Parkinson und Demenz führen. > Bei der Parkinson-Krankheit tritt das Parkinson-Syn-

drom als Ausdruck eines degenerativen Prozesses der kleinen, dopaminergen Zellen in der Substantia nigra auf.

3Pathophysiologie. Im Zentrum der Pathophysiologie steht der Dopaminmangel an den striären Rezeptoren. Er beruht auf der Degeneration der dopaminergen, melaninhaltigen Zellen in der Substantia nigra. Außerdem sind bei der Krankheit auch andere Neurotransmitter vermindert: Noradrenalin und Serotonin im Raphekern, Acetylcholin im Nucleus basalis Meynert und GABA. Die motorischen Symptome beruhen auf dem Dopaminmangel. Der Acetylcholinmangel soll mit Demenz, der Serotoninmangel mit Depression assoziiert sein. Die Verschaltung der

512

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Exkurs Pathologisch-anatomische Befunde

23

Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom entwickelt sich eine fortschreitende, zunächst asymmetrische Degeneration vor allem der kleinen, melaninhaltigen Zellen in der Pars compacta der Substantia nigra. Zelluntergang und Gliose finden sich auch in dem noradrenergen Locus coeruleus, im dorsalen Vaguskern und in der cholinergen Substantia innominata sowie im serotonergen Raphekern. Gleichzeitig treten in den überlebenden Nervenzellen sog. Lewy-Körper auf (runde, eosinophile, konzentrische, zytoplasmatische Einschlüsse). Sie unterscheiden sich nach Struktur und Zusammensetzung von den neuronalen Einschlüssen bei anderen degenerativen Krankheiten. Ihr Nach-

Stammganglien ist in . Abbildung 23.1 und 23.2 in stark vereinfachter Form wiedergegeben. 3Symptome: Frühsymptome: Die Krankheit beginnt oft mit Schmerzen in den Extremitäten. Sie werden anfangs oft irrtümlich mit Abnutzungsvorgängen an der Wirbelsäule in Zusammenhang gebracht, die im mittleren Lebensalter häufig als Nebenbefund vorliegen. In vielen Fällen zeigen sich bereits in diesem Stadium depressive Verstimmungen, die für die psychische Verfassung der Patienten während des weiteren Verlaufs sehr charakteristisch sind. Langsam fortschreitend, entwickelt sich

weis in dieser Lokalisation ist Voraussetzung für die histopathologische Diagnose der Krankheit. Lewy-Körper sind auch an anderen Orten, im Hirnstamm und auch in der Hirnrinde beschrieben worden. Sie finden sich auch bei 10% der gesunden älteren Menschen und bei anderen Gehirnkrankheiten. Sie sind also ein quantitatives, nicht ein qualitatives Merkmal der Parkinson-Krankheit. Jedoch findet sich im Sektionsgut bei fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung nicht selten diffus verteilte Lewy-Körper. Dies stellt wahrscheinlich ein fließender Übergang zur Lewy-Körperchen-Krankheit dar.

dann das Parkinson-Syndrom mit Tremor, Verarmung der Ausdrucks- und Mitbewegungen, Erschwerung der intendierten Bewegungen, rigider Erhöhung des Muskeltonus, typischer Körperhaltung (. Abb. 23.3a) und vegetativen Begleitsymptomen. Die Symptome sind anfangs meist asymmetrisch, später ergreifen sie die Extremitäten beider Körperseiten. Die Stimme wird leiser und auch heiser (Hypophonie) und in der Lautstärke monoton, die Schluckmotorik verlangsamt sich. Weil das reflektorische Schlucken beeinträchtigt ist, läuft der Speichel aus dem Mund. Viele tägliche Verrichtungen, wie Hinsetzen, Aufstehen, An- und Auskleiden, Gebrauch des Bestecks

Kortex

indirekter Pfad

direkter Pfad

Glutamat

Globus pallidus Pars lateralis

GABA/ Enkephalin

Striatum (Azetylcholin)

Dopamin

Caudatum Thalamus

GABA

Glutamat

Substantia nigra Pars compacta

GABA/ Substanz P

subthalamische Kerne Substantia nigra

subthalamische Kerne

Pars medialis Putamen Globus pallidus: Pars lateralis

Glutamat

Globus pallidus Pars medialis

Substantia nigra Pars reticulata

GABA

Thalamus

supplementärer Kortex . Abb. 23.1. Modell der Verschaltung der Basalganglien unter Berücksichtigung der Transmitter. Offene Pfeile: exzitatorisch; gefüllte

Pfeile: hemmend. Links: Lage der Basalganglien im menschlichen Gehirn. (Nach Dudel, Menzel, Schmidt 2001)

513 23.1 · Parkinson-Syndrome

23

Hirnrinde

Striatum GABA

GABA

GABA

GABA

NST DA SNc

Glut SNr

GABA GPe

GABA

GPi GABA

Ventrolateraler Thalamus . Abb. 23.2. Die Basalganglien mit ihren afferenten und efferenten Verbindungen. Die Projektionswege vom Corpus striatum auf die Ausgangskerne der Basalganglien unterscheiden sich durch die Transmittersysteme. Das Diagramm baut die verschiedenen Kerne in die Projektionen ein und gibt die wesentlichen Transmittersysteme (blau) an. GABA Gammaaminobuttersäure; Glut Glutamat; DA Dopamin; SNc Substantia nigra, pars compacta; SNr Substantia nigra, pars reticulata; Cs Colliculus superior; NST N. subthalamicus; GPe Globus pallidus, pars externa; GPi Globus pallidus, pars interna. Die blauen Wege sind aktivierend, die schwarzen hemmend. (Nach Illert 1993)

beim Essen werden langsamer ausgeführt oder nach einem verzögerten Beginn nicht zu Ende geführt. Die Schrift wird kleiner, besonders am Ende längerer Wörter, wie »Zusammenhang« oder »Sonnenuntergang« (Mikrographie, . Abb. 23.3b). In späteren Stadien haben die Patienten Start- und Umkehrschwierigkeiten, bleiben plötzlich stehen und trippeln auf der Stelle, z.B. wenn sie durch eine geöffnete Tür gehen wollen. Beim Stehen und Gehen nehmen die Kranken eine starre, vornüber geneigte Körperhaltung mit adduzierten und im Ellenbogengelenk gebeugten Armen sowie gebeugten Hüft- und Kniegelenken ein. Rigor zeigt sich bei der Untersuchung als ein wächserner Widerstand gegen passive Bewegungen, der für Beugung und Streckung sowie in jedem Augenblick der Bewegung gleich ist. Eine völlige Entspannung der vom Rigor betroffenen Muskeln ist nicht möglich. Der Rigor beginnt oft in proximalen Muskelgruppen und kündigt sich dort durch ziehende Schmerzen an, die oft fehlgedeutet werden. Der Tremor nimmt bei Anspannung und Erregung an Amplitude, aber nicht an Frequenz zu. Dies gilt für alle Tremorformen, ist also kein Kriterium für die Unterscheidung gegenüber seelisch bedingtem Tremor. Wenn man den Tremor an einer Ex-

. Abb. 23.3. a Typische Körperhaltung bei Parkinson-Syndrom, b Längere Schriftprobe mit Mikrographie bei Parkinson-Syndrom

tremität durch Festhalten unterdrückt, verstärkt er sich an einer anderen. Der Parkinson-Tremor nimmt bei Willkürbewegungen der betroffenen Extremität ab oder setzt ganz aus. Im weiteren Verlauf der zugrunde liegenden Krankheit kann zusätzlich zum Ruhetremor ein Haltetremor auftreten, dessen Frequenz höher als 6/s ist. Die Störung gleichgewichtserhaltender Reflexe zeigt sich, wenn der Patient im Gehen plötzlich stehen bleiben will oder wenn man ihm von vorne, hinten oder von der Seite einen leichten Stoß versetzt. Der Patient geht dann, z.B. an einer roten Ampel, einige Schritte weiter oder kann nach dem Stoß die Auslenkung nicht durch Gegeninnervationen ausgleichen, so dass er

514

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Facharzt

Klinische Skalen

23

Hoehn-Yahr-Skala. Die Schwere der Behinderung durch das Parkinson-Syndrom lässt sich anhand der 5-Punkte-Skala von Hoehn und Yahr dokumentieren: 1. keine sichtbaren funktionellen Krankheitszeichen, 2. einseitige Symptomatik, 3. leichte bis mäßige Behinderung, 4. schwere Behinderung, 5. an den Rollstuhl gefesselt oder bettlägrig,

umzufallen droht (Pro-, Retro- und Lateropulsion). Bei Patienten, die bereits in einer frühen Phase vordergründig eine Standunsicherheit aufweisen, muss differentialdiagnostisch an eine progressive supranukleäre Lähmung (PsP, P für engl. palsy) gedacht werden. Nichtmotorische Symptome: Unter diesen stehen Stimmungsveränderungen und kognitive Leistungsminderungen im Vordergrund. Depressivität ist in der Frühphase häufig und wird nicht als Reaktion auf die motorische Behinderung aufgefasst. Neuropsychologische Leistungsmängel werden als Störungen im planenden Denken und als Schwierigkeiten beobachtet, die Aufmerksamkeit von einer Anforderung auf eine andere zu wenden. Ferner klagen viele Kranke über Schmerzen und Parästhesien in den betroffenen Extremitäten. Schließlich beobachtet man vegetative Regulationsstörungen besonders des Blutdrucks und der Blasenentleerung. Psychische Symptome: Demenz und affektive Nivellierung bilden sich nur bei etwa 30–40% der Patienten aus. Die meisten Patienten erleben ihr Schicksal leidend und bei voller Einsicht, zumal Depression die motorischen Symptome in einem hohen Prozentsatz begleitet. Bei aufmerksamer Beobachtung lässt sich die erhaltene geistige Beweglichkeit am lebhaften Spiel der Augen ablesen, deren Motorik weniger von der Akinese betroffen wird. Verlaufsformen des idiopathischen Parkinsonsyndroms Das idiopathische Parkinson-Syndrom wird entsprechend der Ausprägung der klinischen Symptome in folgende Verlaufsformen eingeteilt: 4 akinetisch-rigider Typ, 4 Äquivalenztyp, 4 Tremordominanztyp, 4 monosymptomatischer Ruhetremor (seltene Variante). Tremordominanter Typ: Bei einer Untergruppe steht der Tremor, vor allem der Supinatoren und Pronatoren, im Vordergrund. Die Verlangsamung der Motorik also die Bradykinetische ist hierbei weniger stark ausgeprägt. Diese Patienten sind bei Krankheitsbeginn oft jünger, sie haben häufiger eine positive Familienanamnese und bleiben lange frei von psychischen Veränderungen.

Unified Parkinson‹s Disease Rating Scale. Diese sehr aufwändige Skala wird heute oft in Parkinson-Therapiestudien benutzt. Sie erfasst das Syndrom multidimensional, ist aber zu detailliert, als dass sie hier vorgestellt werden könnte (7 Anhang).

Akinetischer Typ: Bei anderen Fällen ist die Symptomatik von Akinese und Rigor beherrscht. Zuerst verarmen die Bewegungen, v.a. unbewusste Mitbewegungen, z.B. das Mitschwingen der Arme beim Gehen. Die Körperhaltung ist vornüber gebeugt, mit hängenden Schultern. Die Schritte werden langsam, die Schrittlänge kürzer, die Stimme leise und monoton (Hypophonie), Folgebewegungen der Arme werden träge (Bradykinese). Bald schränken Pulsionsphänomene die Beweglichkeit der Kranken so ein, dass sie es nicht mehr wagen, das Haus zu verlassen, weil sie im Straßenverkehr nicht mehr in der Lage wären, plötzlich stehen zu bleiben. Anderseits tritt manchmal akut vor plötzlichen motorischen Anforderungen der sog. freezing effect auf, eine Sekunden dauernde Immobilität, die den Kranken etwa daran hindert, durch eine Tür zu gehen. Die start hesitation kann das Losgehen erschweren. Diese Phänomene dürfen nicht mit den länger dauernden und erst später unter Therapie auftretenden On-Off-Perioden verwechselt werden (s.u.). Später fällt es den Patienten immer schwerer, sich auch nur vom Stuhl zu erheben, sich an- und auszukleiden oder die Speisen zum Mund zu führen. Durch die Erstarrung ihrer Motorik geraten viele Patienten in einen äußerlich verwahrlosten Zustand. Hypersalivation wird oft nur durch Akinese für Schluckbewegungen vorgetäuscht. Der Äquivalenz Typ enthält Aspekte beider Subtypen in etwa gleichem Ausmaß. Übergänge vom z.B. Tremor-dominanten Typ in den Äquivalenz Typ sind möglich. 3Verlauf. Mehrere Jahre vor Krankheitsbeginn kommt es zu einem Geruchsverlust, dem bereits diagnostische Bedeutung zukommt. Der Krankheitsverlauf ist in den ersten Jahren rascher, nach etwa 9 Jahren langsamer progredient. Durchgehende rasche Progredienz wird v.a. bei hohem Erkrankungsalter und akinetischer Symptomatik mit Demenz beobachtet. Im fortgeschrittenen Stadium treten Gleichgewichtsstörungen auf. Die 10-Jahres-Mortalität lag bei etwa 35%, die Überlebenszeit bei etwa 13 Jahren (2–32 Jahre). Dank einer wirksamen Therapie mit L-Dopa und anderen Substanzen ist die Mortalität deutlich zurückgegangen. Einige Studien fanden sogar eine normale Lebenserwartung beim M. Parkinson (DATATOP-Studie). Alle anderen neurodegenerativen Krankheiten haben weit kürzere

515 23.1 · Parkinson-Syndrome

23

Exkurs L-Dopa-Test Das Ansprechen auf L-Dopa gehört zu den bestätigenden diagnostischen Kriterien für eine idiopathische ParkinsonErkrankung. Dies kann durch optimale Einstellung auf L-Dopa innerhalb weniger Tage oder durch den L-Dopa-Test geprüft werden. Der L-Dopa-Test (oder der seltener durchgeführte Apomorphin-Test) werden als spezielle neurologische Funktionstests bei Parkinson-Patienten eingesetzt, um festzustellen, ob ein Symptom L-Dopa-sensitiv ist und daher auf die nigrostriatale Funktionsstörung zurückgeht. Er kann zur Frühdiagnose und in jedem Stadium der Erkrankung indiziert sein, wenn unklare oder atypische Symptome auftreten. Durchführung des L-Dopa-Tests (oder des ApomorphinTests). Vorbehandlung mit Domperidon 3-mal 20 mg (nicht Metoclopramid) über 24 h, mindestens aber 30 mg ca. 1 Stunde vor der L-Dopa-Gabe. Gabe der 1,5fachen Morgendosis L-Dopa plus DDCI (DopaDecarboxylase-Inhibitor) p.o., bei De-novo-Patienten 200 mg LDopa.

Alternativ ist die Gabe von Apomorphin möglich (50–150 µg/ kg KG s.c.) was wegen z.T. erheblicher Nebenwirkungen jedoch besondere Erfahrungen des Arztes voraussetzt. Bewertung des L-Dopa-Tests oder des Apomorphin-Tests. Als Messparameter wird der Teil III der »Unified Parkinson’s Disease Rating Scale« (UPDRS) vor und eine halbe Stunde nach Medikamenteneinnahme (am besten zum Zeitpunkt des besten »ON« (nach Meinung von Patient und Arzt) herangezogen. Hinweise zur Interpretation. Ein positiver Test (>30% Verbesserung der UPDRS-III-Scores) stützt, beweist jedoch nicht die klinische Diagnose eines IPS. Bei sehr ausgeprägter Verbesserung (>50%iger Verbesserung) ist mit größter Wahrscheinlichkeit von einer idiopathischen Parkinson-Krankheit auszugehen Das Symptom Tremor muss nicht auf den L-Dopa-Test ansprechen, obwohl ein IPS vorliegen kann Trotz eines negativen Tests kann sich bei einem Teil zuvor unbehandelter Parkinson-Patienten eine L-Dopa-Langzeitbehandlung als effektiv erweisen.

Facharzt

Fakultative Zusatzdiagnostik Autonome Testung. Bei V.a. MSA oder klinischen Symptomen, die für eine autonome Störung sprechen, ist die Durchführung spezieller Tests indiziert. Eine posturale Hypotension lässt sich mit dem SchellongTest nachweisen. Pathologisch ist ein systolischer Blutdruckabfall von mehr als 20 mmHg im Stehen. Bei speziellen Problemen kann eine Untersuchung mit dem Kipptisch sinnvoll sein. Urodynamische Untersuchungen sind bei klinisch manifesten Blasenstörungen bei allen Parkinson-Syndromen indiziert. Weitere Untersuchungen, die der Quantifizierung von einzelnen Symptomen dienen, sind:

Überlebenszeiten. Der Tod tritt meist durch Pneumonie infolge Aspiration bei Dysphagie oder Bettlägerigkeit ein. 3Diagnostik. Das Parkinson-Syndrom ist eine klinische Diagnose. Sie wird unterstützt durch den L-Dopa-Test (7 Exkurs) und apparative Zusatzdiagnostik. Beim L-Dopa-Test wird die klinische Beeinflussung der Symptome nach einmaliger Gabe einer sicher wirksamen L-Dopa-Gabe beurteilt. Computertomographisch findet man in 60–80% der Fälle eine Volumenminderung des Gehirns, die stärker ist als dem Lebensalter entspricht. Das EEG bleibt normal. Im PET findet man eine verminderte Aufnahme von 18-Flurodopa in der Substantia nigra, bei halbseitiger Symptomatik kontralateral betont.

4 olfaktorische Untersuchung (Nachweis der Riechstörung), 4 quantitative Tremormessung (Tremoranalyse), 4 Habituation des Blink Reflex (ist bei Parkinsonsyndrom aufgehoben), 4 Habituation der auditorischen Schreckreaktion (ist bei Parkinsonsyndrom aufgehoben), 4 sympathische Hautantwort (SSR) (ist bei Parkinsonsyndrom mit vegetativer Beteiligung verlängert).

Funktionelle bildgebende Verfahren (SPECT): Die Kombination prä- und postsynaptischer SPECT-Tracer kann eine ätiologische Zuordnung eines Parkinson-Syndroms im Frühstadium erleichtern. Es kann bei besonderen diagnostischen Problemen und nach Durchführung eines L-Dopa-Tests indiziert sein und sollte von spezialisierten Neurologen indiziert werden. Mehrere nuklearmedizinische Untersuchungen stehen zur Verfügung, die an den membranständigen Dopamin-Transporter (z.B. DAT-SCAN®) binden und somit ein Maß für die Anzahl der präsynaptischen dopaminergen Neurone darstellt. Hiermit lässt sich z.B. der essentielle Tremor vom tremordominanten PS abgrenzen oder eine Lewy-Körperchen-Demenz von der Alzheimer-Demenz. Andere kommerziell verfügbare radioaktive Tracer binden an den postsynaptischen D2-Rezeptor (z.B. IBZM-

516

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Spect), was ein Maß für die postsynaptische Rezeptordichte ist und damit hilft, die idiopathische Parkinson-Erkrankung von Multisystematrophien abzugrenzen (7 Abb. 4.22). Elektrophysiologie: Mit der Tremoranalyse im EMG kann in unklaren Fällen der Tremor besser klassifiziert werden.

23

3Therapie. Die Therapie der Parkinson-Krankheit sollte rechtzeitig und altersgerecht beginnen. Es gibt heute eine Reihe von Medikamente mit verschiedenen Ansätzen in der pathophysiologischen Störung beim Parkinsonsyndrom (. Abb. 23.4). Hierzu zählen: 4 Dopamin Präkursoren: Vorstufen des defizienten Transmitters Dopamin. Dopamin selbst dringt nicht durch die Blut-HirnSchranke. Daher nimmt man L-Dopa, das wegen der starken systemischen Wirkungen mit einem peripher wirksamen Dekarboxylasehemmer kombiniert wird. 4 COMT-Inhibitoren: Der Abbau von L-Dopa zu seinem Metaboliten 3-Methyl-Dopa kann durch Inhibitoren des inaktivierenden Enzyms verhindert werden, was zur Verlängerung der Wirkung von L-Dopa führt. 4 Dopaminagonisten sind direkte Stimulatoren der postsynaptischen Dopamin-Rezeptoren 4 Anticholinerge Medikamente sind inzwischen weniger bedeutsam, werden aber immer noch adjuvant gegeben. 4 Amantadin, eigentlich als Virustatikum entwicklt, ist ein NMDA-Antagonist, der glutamaterge Neurone im Nucl. subthalamicus hemmen soll. 4 Monoaminooxidase-B-Hemmer erhöhen die Verfügbarkeit von Dopamin im Striatum. Therapieschema: 4 Bradykinese: Die initiale Therapie sollte vom Alter des Pa-

tienten und damit von der Wahrscheinlichkeit, an motorischen Spätkomplikationen zu leiden, abhängig gemacht werden. »Junge« Patienten (unserer Auffassung nach jünger als 65 Jahre bei

. Abb. 23.4. Dopa-Stoffwechsel. (M. Krause)

Erkrankungsbeginn) sollten primär mit einem Dopaminagonisten (DA) behandelt werden. Cabergoline ist derzeit Marktführer. Wegen der langen Halbwertszeit muss Cabergoline nur 1- bis 2mal pro Tag eingenommen werden. Man dosiert Cabergoline mit einer Startdosis von 1 mg wöchentlich um 1 mg höher bis zu einer maximalen Dosis von zunächst 6 mg pro Tag. Welchen DA man wählt hängt von dem Nebenwirkungsprofil, der Compliance des Patienten, Begleiterkrankungen und nicht zuletzt von der eigenen Erfahrung ab. Die sehr kurzwirksamen Dopaminagonisten Lisurid und Apomorphin haben unserer Ansicht nach nur selten eine Indikation. Uns liegen gute Erfahrungen neben Cabergoline mit Pergolid, Ropinirol und Pramipexole, weniger auch mit αDHC vor. Bromocriptin ist in einzelnen Studien etwas geringer wirksam gewesen als modernere Dopaminagonisten, jedoch wesentlich billiger. Sollte diese Therapie nicht mehr hinreichend wirksam sein, so ist eine Kombinationstherapie von DA und L-Dopa indiziert. Bei älteren Patienten, oder wenn schnell eine Wirksamkeit gefordert ist (z.B. bei Erhalt der Berufsfähigkeit), sollte eine initiale Therapie mit L-Dopa erfolgen. Diese ist vor allem am Anfang (»Honeymoon-Phase« ) sehr gut verträglich und schnell wirksam. 4 Tremor stellt bei der medikamentösen Therapie häufig ein Problem dar. Anticholingerika wie aber auch dopamimetische Substanzen können initial eine Wirkung zeigen. Budipin galt lange Zeit als wirksamstes Tremormittel, ohne dies je in prospektiven, randomisierten Studien unter Beweis gestellt zu haben. Wegen des Auftretens von Torsade-de-point-Tachykardien wurde die Verordnung eingeschränkt. Dem atypischen Neuroleptikum ® Clozapin (Leponex ) wird eine gute Wirkung auf den Tremor zugeschrieben. Dauerhaft ist der Tremor jedoch oft nicht befriedigend mit Medikamenten zu behandeln (7 Kap. 23.6 und . Tab. 23.6). Fluktuationen: Im fortgeschrittenen Krankheitsstadium stellen Fluktuationen die Hauptkomplikation dar. Dieser ist durch langwirksame Substanzen (z.B. Dopaminagonisten) oder durch Substanzen zu begegnen, die die Halbwertszeit von Dopamin verlängern wie z.B. COMT- oder MAO-B-Inhibitoren. Auch Amantadin hat einen Effekt auf Hyperkinesien und Fluktuationen. Ebenfalls kann es wegen seiner psychotropen Wirkung Einsatz finden. Behandlung der Begleitdepression: Eine Depression findet man im Mittel bei 40% aller Parkinsonpatienten. Es besteht keine klare Korrelation zwischen dem Grad der motorischen Störung und der Ausprägung der Depression. Die depressive Symptomatik kann somit auch nach Einleiten einer dopamimetischen Therapie fortbestehen. Häufig wird eine zusätzliche antidepressive Therapie notwendig: 4 Trizyklische Antidepressiva: Morgens: antriebssteigerndes Antidepressivum, z.B. Imipramin (25 mg). Abends: sedierende Medikamente wie Amitriptylin (25–150 mg) oder Doxepin (10– 100 mg). Cave: Trizyklische Antidepressiva können wegen der anticholinergen Nebenwirkung schlecht verträglich sein

517 23.1 · Parkinson-Syndrome

Exkurs Parkinsonmedikamente im Detail (. Tabelle 23.1 und 23.2.) L-Dopa Die größte Bedeutung in der Behandlung der Parkinson-Erkrankung kommt dem Dopamin zu, auch wenn die Spätkomplikationen dieser Therapie den frühen Einsatz von Dopamin in den Hintergrund drängen. 3Pharmakologie. Dopamin selbst dringt nicht durch die Blut-Hirn-Schranke. Man verabreicht deshalb einen Dopaminvorläufer L-Dopa, der die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann L-Dopa wird allerdings fast zu 99% bereits in der Peripherie durch Decarboxylierung und Meythylinisierung verstoffwechselt. Daher gibt man einen nur peripher wirksamen Decarboxylase-Inhibitor (Benserazid oder Carbidopa), um die Bioverfügbarkeit von L-Dopa auf 5–10% zu steigern. Gibt man zusätzlich einen Catechol-o-Methyltransferaseinhibitor (COMT-Inhibitor, Entacapone oder Talcapone, s.u.) hinzu, kann die Verfügbarkeit von Dopamin im Gehirn auf etwa 20–25% gesteigert werden. 3Präparate. L-Dopa steht als Kombinationspräparaten mit Benzerazid (Madopar® als 62,5, 125 oder 250) zur Verfügung (Cave: beinhaltet jeweils nur 50 mg, 100 mg oder 200 mg L-Dopa pro Tablette) oder mit Carbidopa (z.B. Isicom®, Nacom®, u.v.m.) oder mit Carbidopa und Entacapone (Stalevo®). Inzwischen stehen auch schnell anflutende Präparate (z.B. Madopar LT®) und Retard-Tabletten (z.B. Nacom ret®) zur Verfügung. Die orale Einnahme von L-Dopa soll nicht mit proteinreichen Mahlzeiten zusammenfallen, weil Proteine die Bioverfügbarkeit von L-Dopa verringern. 3Nebenwirkungen. Als Nebenwirkung einer Langzeitbehandlung mit L-Dopa treten choreatiforme Überbewegungen (Hyperkinesen) auf, die solche Ausmaße annehmen können, dass Patienten infolge dessen keine normalen Bewegungen mehr durchführen können. Besonders häufig sind choreatische Hyperkinesen vorwiegend der Gesichts-, Hals- und Schultermuskulatur. Sie sind sozial sehr auffällig, werden aber von den Patienten selbst erstaunlich gut toleriert. Schließlich stellen sich bei vielen Patienten sog. On-Off-Perioden ein: Ein- oder zweimal am Tag fällt der Kranke für Stunden in einen akinetischen Zustand zurück, der häufig von trauriger Verstimmung begleitet ist und der dem Zustand eines unbehandelten ParkinsonPatienten gleicht. Eine weitere Nebenwirkung einer Langzeitbehandlung mit L-Dopa sind so genannte Fluktuationen. Diese On-Off-Phasen zunächst jeweils am Ende der Dosiswirkung lassen die Beweglichkeit des Erkrankten unberechenbar werden. Aus einem OnZustand, in dem der Patient sich gut bewegen kann, verfällt er teilweise innerhalb von Sekunden in einen akinetisch-rigiden Zustand, ohne die Fähigkeit, eine Bewegung zu initiieren. Die-

6

ser Zustand kann ebenso schnell wieder in einen beweglichen On-Zustand »fluktuieren«. Im fortgeschrittenen Stadium treten diese Fluktuationen unabhängig vom Wirkspiegel auf (so genannte random fluctuations). Hyperkinesen zwingen zur Reduktion der Dosis. On-OffPerioden können durch Verteilung der Gesamtdosis auf viele kleine Dosen (Tabletten zu 50 mg L-Dopa) oft nicht befriedigend ausgeglichen werden. Wie auch die anderen Medikamente, kann L-Dopa psychotische Episoden mit Halluzinationen, Unruhe, Angst und Aggressivität auslösen, die ebenfalls manchmal eine Dosisreduktion erforderlich machen. Da man in der großen Mehrzahl der Fälle mit diesen drei unerwünschten Wirkungen nach Langzeitbehandlung mit L-Dopa rechnen muss, soll die Therapie sorgfältig, auch unter Berücksichtigung anderer Stoffklassen, aufgebaut werden. Dopaminagonisten (DA) Diese Wirkstoffe stimulieren postsynaptisch die Dopaminrezeptoren, haben aber auch eine präsynaptische Wirkung auf die D2Rezeptoren. 3Pharmakologie. Man unterscheidet Ergotamin-Abkömmlinge wie Bromocriptin, Pergolid, Dihydroergocriptin und Cabergolin von Nonergot-Derivaten wie Ropirinol und Pramipexol. Dopaminagonisten binden kompetitiv an die verschiedenen Dopaminrezeptoren (D1–D5). Es gibt experimentelle Hinweise auf eine neuroprotektive Wirkung der Dopaminagonisten; bisher konnte diese Protektion am Menschen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. 3Präparate. Es stehen 8 Dopaminagonisten (5 Ergot- und 3 Non-ergot-Derivate) zur Verfügung (. Tabelle 23.2). Die Dopaminagonisten unterscheiden sich v.a. durch ihre Halbwertszeit und die Rezeptoraffinität sowie nicht zuletzt durch den Preis. 3Nebenwirkungen. Dopaminagonisten verursachen seltener motorische Komplikationen (Fluktuationen, Hyperkinesien) im Vergleich zu Dopamin und können auch in einer Kombinationstherapie mit L-Dopa diese verringern. Dopaminagonisten sind etwas weniger wirksam als L-Dopa und haben häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen oder induzieren Psychosen. Die Hoffnung, dass die non-ergolinen DA weniger Nebenwirkungen aufweisen als die älteren ergolinen DA hat sich nicht bestätigt. Bei den ergotbasierten DA sind retroperitoneale und pleuropulmonale Fibrosen eine sehr seltene, aber ernste Nebenwirkung. Aktuell erregt die Beobachtung einer Häufung von Herzklappenveränderungen Aufsehen. Regelmäßige kardiologische Untersuchungen mit TTE sind erforderlich.

23

518

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

. Tabelle 23.1. Substanzgruppen zur Therapie des M. Parkinson

Substanz

HWZ [h]

Startdosis

Steigerung [mg/Woche]

Zieldosis [mg/Tag]

Kosten [€/Tag]

Handelsname

Bemerkung

L-Dopa

1–2

3-mal 50 mg

Alle drei Tage um 50 mg steigern

Enddosis individuell bis ca.:1000 mg/ Tag

0,30*

Madopar Nacom Isicom u.v.m

Einnahme ½ h vor oder ½ h nach den Mahlzeiten

Bromocriptin

6

1,25 mg

1,25–5 mg

7,5–30

7,9*

Pravidel Kirim u.v.m.

billigster DA

Cabergolin

65

0,5–1,0 mg

1 mg

3–9

13,95*

Cabaseril

Längste HWS

α-DHC

10–16

2-mal 5 mg

5 mg

60–120

14,2*

Almirid Cripar

Geringe NW

Lisurid

2

0,1 mg

0,1–0,2 mg

1,2–3

12,85*

Dopergin Cuvalit

kurze HWS

Pergolid

7–14

0,05

0,05 mg

1,5–6

12,45*

Parkotil

Rezeptoraffinität ähnlich L-Dopa

Pramipexol

8–12

3mal 0,088 mg

2. Woche: 3-mal 0,18 mg 3. Woche: 3-mal 0,35 mg usw.

1,05–4,5

16,55*

Sifrol

Ceiling-Effekt bei etwa 4,5 mg hohe D3 Affinität

Ropinirol

6–9

1 mg

1 mg

6–24

16,55*

Requip

hohe D2-Affinität

Apomorphin

0,5

3–10 mg

Nach Bedarf und NW

30–100 mg

12,5–48,5*

ApoGo u.a.

nur s.c. als Pen oder Pumpe

6,18**

Comtess

häufig Diarrhoe Urinverfärbung

23 Ergoline DA

Non-ergoline DA’s

COMT-Inhibitor Entacapon

1–2

200 mg zu jeder L-DopaGabe

MAO-B-Hemmer Selegilin

Wochen

5 mg

5–10 mg

0,58**

Antiparkin Movergam u.v.m.

Cave: Interaktion

Biperiden

2-mal 1 mg

6–10 mg

0,56**

Akineton

neg. psychotrop

Bornaprin u.v.m.

1-mal 2 mg

8–12 mg

0,82**

Sormodren

neg. psychotrop neg. psychotrop

AnitACH

NMDA- Antagonisten Amantadin

9–15

100 mg

tgl. 100 mg

300–600 mg/d

1,11**

Budipin

31

3-mal 10 mg

2 Woche 3-mal 20 mg

60 mg

3,13**

nicht abends –

QT-Zeit-Verlängerung

* Die Kosten sind berechnet für einen mittleren Dosisbereich von 500 mg L-Dopa jeweils in der größten und günstigsten Packungseinheit, die noch teilbar ist. Die Dopaminagonisten sind in Äquivalenzdosen (. Tabelle 23.2) angegeben, entsprechend 500 mg L-Dopa. ** Kosten entsprechen einem mittleren therapeutischen Bereich.

519 23.1 · Parkinson-Syndrome

Patienten mit vorbestehenden Herzklappenkrankheiten sollten nicht mit ergolinen Agonisten behandelt werden. Im Gegenzug schränken die nonergolinen DA wegen des Auftretens von so genannten Schlafattacken die Fahrfähigkeit ein. Das Auftreten von Schlafattacken ist wahrscheinlich jedoch ein krankheitsimmanentes Phänomen. Mit der Kombinationstherapie von Levodopa+Carbidopa+ Entacapon in einer Tablette steht ein für die Tabletteneinnahme des Patienten vereinfachtes Therapieregime bei fluktuierenden Parkinson Patienten zur Verfügung Amantadin Bei diesem Virustatikum wurde die Wirkung auf das ParkinsonSyndrom zufällig entdeckt. Zum Mechanismus gibt es die Hypothese, dass Amantadin als NMDA-Antagonist glutamaterge Neurone im Nucl. subthalamicus hemmt.. Es soll auch eine geringe anticholinerge Wirkung haben. In Dosen zwischen 100 mg/Tag und 300 mg/Tag wirkt es, wenn auch schwächer als Levodopa, auf Rigor und Akinese. Amantadin-Sulfat (z.B. Pk-Merz®) scheint besser verträglich zu sein als Amantadin-Hydrochlorid. Sie wird ohne Verstoffwechselung durch die Nieren ausgeschieden. Vor allem spielt Amantadin wegen der intravenösen Applikationsform (200–600 mg in Infusionen von 500–1000 ml) eine wichtige Rolle bei der Behandlung der akinetischen Krise. Amantadin unterscheidet sich lediglich durch eine Methylgruppe von Memantin und weist daher auch einen psychotropen Effekt auf. Dies kann nützlich bei einem demenziellen Syndrom sein, kann aber auch als unerwünschte Nebenwirkung in Form von Psychosen auftreten. Auch dem Amantadin wird eine protektive oder sogar lebensverlängernde Wirkung nachgesagt, was bisher jedoch nicht hinreichend belegt ist. COMT-Inhibitoren 3Pharmakologie. Die Catechol-o-Mythyltransferase metabolisiert alle Katecholamine, also auch L-Dopa zu 3-OMethyl-Dopa (3 OMD) und Dopamin zu 3-Methoxytyramin (3-MT). Somit hemmen periphere COMT-Inhibitoren nur den Abbauschritt von L-Dopa zu 3OMD, hingegen zentralwirk-

same COMT-Inhibitoren zusätzliche den Abbau von Dopamin zu 3-MT. 3Präparate. In Deutschland ist nur der peripher wirksame COMT-Inhibitor Entacapone (Comtess®) erhältlich. Die Einnahme erfolgt mit jeder L-Dopa-Gabe, maximal 2000 mg/Tag. 3Nebenwirkungen. Als Nebenwirkungen treten häufig Dyskinesien, gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe sowie eine rötlich-braune Urinverfärbung auf. Entacapone kann nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden und hemmt daher nur die periphere COMT. Das in der Schweiz und in den USA zugelassene Tolcapone (Tasmar®) wurde von der EuPharm wegen der höheren Lebertoxizität vom Markt genommen. Tolcapone führt zu einer effektiveren Hemmung der COMT im Vergleich zu Entacapone und ist liquorgängig, so dass auch die zentrale COMT inhibiert wird. Monoaminooxidase-B-Hemmer 3Pharmakologie. Selegelin ist ein selektiver, irreversibler Inhibitor der Monoaminooxidase B (die MAO-B muss neu synthetisiert werden). Hierdurch wird die Bioverfügbarkeit von Dopamin verlängert. Selegelin wird in der Leber u.a. zu Amphetamin verstoffwechselt und hat daher einen geringen psychotropen Effekt. Selegilin, in der Dosis von 10 mg pro Tag, hat eine ähnliche Wirkung wie Levodopa. Es soll die Verfügbarkeit von Dopamin im Striatum erhöhen. Selegilin ist als Monotherapie am Anfang der Behandlung bei Patienten geeignet, die nicht stark behindert sind. Später wird es zur Kombinationstherapie verwendet. Anticholinerge Medikamente Diese Substanzgruppe hat nur noch untergeordnete Bedeutung. Medikamente wie Bornaprin (Sormodren), Trihexiphenidyl (Artane®) oder Metixen (Tremarit®) werden manchmal hinzugegeben, wenn der Tremor durch die Dopabehandlung nicht ausreichend beeinflusst wird. Auch Budipin, eine Substanz, die über anticholinerge und NMDA-antagonistische Aktivität verfügt, ist bei Tremor gut wirksam. Anticholinergika haben einen negativen psychotropen Effekt und verschlechtern die kognitive Leistungsfähigkeit.

Empfehlungen Diagnose und Therapie des M. Parkinson* Die Diagnose der Parkinson Krankheit wird klinisch gestellt (A). Mindestens einmal sollte eine strukturelle zerebrale Bildgebung (CT oder MRT) im Rahmen der Basisdiagnostik erfolgen (B). Neue Zusatzuntersuchungen erlauben eine präzisere Abgrenzung von den nichtidiopathischen Erkrankungen. Parkinson-Patienten unter 70 Jahre ohne wesentliche Komorbidität: Therapieeinleitung der ersten Wahl ist die Mono-

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therapie mit einem Dopaminagonisten (A). Bei unzureichender Wirkung einer Monotherapie mit Dopaminagonisten oder Unverträglichkeit, bevor eine ausreichende Dosis erreicht wurde, wird zur weitergeführten Agonistentherapie eine Kombinationstherapie mit L-Dopa eingeleitet (A). Parkinson-Patienten über 70 Jahre oder multimorbide Patienten: Therapieeinleitung der ersten Wahl ist die Mono-

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Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

therapie mit Levodopa (A). Bei älteren und multimorbiden Patienten sollte eine Monotherapie mit L-Dopa fortgesetzt werden, solange keine Wirkungsfluktuationen oder andere Therapiekomplikationen auftreten (A). Bei Patienten, die neu auf eine Therapie mit einem ErgotDopaminagonisten eingestellt werden, ist eine kardiovaskuläre Untersuchung durch einen Kardiologen, einschließlich transthorakaler Echokardiographie, durchzuführen. Hierdurch soll

eine bereits vorbestehende Herzklappenerkrankung ausgeschlossen werden (A). Patienten unter einer Therapie mit Ergot-Dopaminagonisten sollten halbjährlich einer körperlichen Untersuchung mit Auskultation des Herzens und der Lunge, jährlich einer transthorakalen Echokardiographie unterzogen werden (B). * Nach den Leitlinien der DGN 2005

Facharzt

Kosten der Parkinsontherapie Die Kosten einer modernen medikamentösen Parkinsontherapie belaufen sich auf ca. € 12,– pro Tag. In den USA verursachte die Erkrankung 1997 bereits Therapiekosten in Höhe von 25 Mrd. US$. Die Vergleichpreise sind allenfalls Anhaltspunkte, da keine Studien zu Äquivalenzdosen der Dopaminagonisten und L-Dopa existieren. Die in . Tabelle 23.2 angegebenen Äquivalenzdosen spiegeln unsere Erfahrung wider und stimmen weitgehend mit den Angaben einer Expertenkommission des Kompetenznetzes Parkinson überein. Da einzelne Dopaminagonisten keine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung haben, sind die Äquvalenzdosen in niederen therapeutischen Bereichen anders als in hohen. So konnte in der Dosisfindungsstudie für Pramipexol von 1997 (Parkinson Study Group) keine Dosis-

4 Selektive Serotonin-Re-uptake-Inhibitoren (SSRI): Fluo-

xetin, Cipralopram oder Paroxetin können gegeben werden. SSRI besitzen keine anticholinergen Nebenwirkungen: 4 Bei schlechter Verträglichkeit der genannten Stoffgruppen: Mirtazapin (bis 45 mg oder Edronax (bis 8 mg) Als Ultima Ratio hat sich vor allem bei wahnhaften Depressionen die Elektrokrampftherapie als wirksam erwiesen. Behandlung der dopamininduzierten Psychose: Zunächst werden Anticholinergika, Amantadin und Dopaminagonisten deutlich reduziert. Man gibt L-Dopa, möglichst auch in reduzierter Dosis weiter, um eine akinetische Krise bzw. ein Dopa-Entzugs. Tabelle 23.2. Äquivalenzdosen der Dopaminagonisten

Äquivalenzdosen

Einzeldosis

L-Dopa Apomorphin Bromocriptin Cabergolin α-Dihydroergocriptin Lisurid Pergolid Pramipexol Ropinirol

100 mg 3–5 mg (40–50 µg/kg) 10–15 mg 2 mg 20–40 mg 1 mg 1 mg 0,7–1 mg (freie Base) 3–5 mg

Wirkungs-Beziehung nachgewiesen werden. Dem widerspricht jedoch die klinische Erfahrung. Grundsätzlich ist eine Behandlung mit Dopaminagonisten etwa 25- bis 100-mal teurer als eine Behandlung mit L-Dopa. Non-ergoline Dopaminagonisten sind 20–30% teurer als ergoline Dopaminagonisten. Die Spitzenposition wird von Apomorphin eingenommen, das als Pen mit Tageskosten von etwa € 48,– zu Buche schlägt Als Pumpe sind die Kosten geringer, hierbei sind aber die Kosten für Bedarfsmaterial und die Pumpemimplantation hinzuzurechnen. Allen Kostenberechnungen liegt der öffentliche Apothekenpreis von 2004 zugrunde.

syndrom (s.u.) zu vermeiden. Die klassischen Neuroleptika sind parkinsonverstärkend. Deshalb gibt man zunächst Clozapin (Leponex®, Sonderrezept nötig! Cave Agranulozytoserisiko), 12,5– 50 mg. Quetiapin (Seroquel®) scheint ebenfalls keine relevante Verstärkung der Parkinsonsymptomatik zur Folge zu haben. Bei medikamentös nicht beherrschbaren Psychosen hat sich ebenfalls die Elektrokrampftherapie als wirksam erwiesen. Chirurgische Therapie Bei der neurochirurgischen Behandlung des Parkinson-Syndroms unterscheidet man läsionelle Verfahren, die tiefe Hirnstimulation und die Transplantation fetalen Gewebes. Die tiefe Hirnstimulation (tHS) hat die funktionelle neurochirurgische Behandlung von Bewegungsstörungen revolutioniert. Bei den ersten beiden Verfahren kommen drei Zielgebiete in betracht: 4 Teile des Thalamus vor allem der ventrale intermediärer Thalamuskern (VIM), 4 der mediale Teil des Globus pallidus internus (GPi), 4 der Nucleus subthalamicus (STN). Läsionelle Verfahren der ersten beiden Lokalisationen sind schon lange bekannt. Sie können aber in der Regel nur einseitig und hauptsächlich gegen das Symptom Tremor eingesetzt werden. Operative Komplikationen und Nebenwirkungen, vor allem die Sprechstörung, sind häufiger als bei der tiefen Hirnstimulation

521 23.1 · Parkinson-Syndrome

und vor allem irreversibel. Seit Einführung der tiefen Hirnstimulation werden die läsionellen Verfahren nur noch für Sonderindikationen durchgeführt. Der VIM hat sich als bevorzugtes Zielgebiet für Tremorerkrankungen erwiesen. So kann damit der medikamentös meist unbefriedigende behandelbare Tremor gut supprimiert werden. Dies trifft sowohl für den Parkinson-Tremor wie auch für den essentiellen Tremor (s.u.) zu. Weniger gut spricht der zerebelläre Tremor auf diese Behandlung an. Das GPi als Zielgebiet von stereotaktischen Operationen fand zunächst vor allem bei Parkinson-Erkrankungen Anwendung, da hiermit die Dopamintoleranz deutlich erhöht werden und Hyperkinesen gut kontrolliert werden konnten. Darüber hinaus zeigte es sich als das bevorzugte Zielgebiet bei Dystonien Bei den Ausschaltungsoperationen (Pallidotomie und Thalamotomie) soll die gestörte Balance der Transmittersysteme, die durch den Dopaminmangel entsteht, durch Läsion der beim Patienten überwiegenden GABA-Seite auf einem niedrigeren Niveau ausgeglichen werden. Obwohl diese Operationen, besonders die Thalamotomie bei Tremor, gute Erfolge zeigten, besteht das Risiko, dass eine ungewollte Verletzung der Pyramidenbahn zu einer zentralen Lähmung führt. Diese Verfahren wurden durch die nebenwirkungsarme stereotaktische Implantation von Stimulationssonden (Stimulation des ventralen Intermediärkerns (VIM) des Thalamus bei Tremor und des inneren Pallidums bei Akinese) ersetzt. Die funktionelle Inhibition des Ncl. subthalamicus führt zu einer deutlichen Besserung aller Parkinson-Symptome, so dass er heute zum Zielgebiet der ersten Wahl in der operativen Behandlung der Parkinson-Erkrankung wurde. Bei der tiefen Hirnstimulation werden Elektroden stereotaktisch implantiert, die mit einem unter dem Schlüsselbein implantierten Stimulator zur reversiblen und individuell anpassbaren elektrischen Stimulation verbunden werden. Alle vier motorischen Kernsymptome der Parkinson-Krankheit können durch die tiefe Hirnstimulation beeinflusst werden. Es handelt sich um eine der potentesten Behandlungsmethoden des fortgeschrittenen Stadiums der Parkinson-Krankheit. Das Ausmaß der Besserung der Off-Symptome liegt bei etwa 50–70% und erreicht die Wirkungsstärke von L-Dopa. Der Hauptvorzug liegt darin, dass die Wirkung über 24 h anhält. Die Wirkungsfluktuationen lassen unter der Behandlung nach oder verschwinden. Einzelsymptome wie ein Freezing oder eine Parkinson-Dysarthrie sprechen manchmal schlechter an. Das Verfahren ist für die Behandlung der Parkinson-Krankheit zugelassen. Alle operativen Verfahren haben das Risiko einer ernsten Komplikation wie Hirnblutung, Lungenembolie oder Entzündungen. Die tiefe Hirnstimulation ist vom Risiko mit etwa 2,5% pro Seite am niedrigsten. Es können damit bis zu 50% der Parkinson-Medikamente eingespart werden und eine gleich bleibend gute Beweglichkeit den ganzen Tag über erzielt werden. Vorraussetzung für eine erfolgreiche Operation ist das Vorliegen eines dopaminresponsiven Parkinson-Syndroms (s.o.). Aufgrund des Operationsrisi-

23

kos sollten nur Patienten mit medikamentös unbefriedigend einstellbarem M. Parkinson, vor allem mit Fluktuationen und Hyperkinesien für die Operation ausgewählt werden. Fortgeschrittene kognitive Störungen und Depression sind Kontraindikationen. Die Transplantation fetaler Substantia-nigra- und Nebennierenmarkzellen ist rein experimentell. Die Überlebensraten dieser Zellen nach Transplantation liegen derzeit bei nur 10%. Zudem wirft die Entnahme von fetalem Gewebe ethische Fragen auf. Die Transplantation fetaler dopaminerger Stammzellen erbrachte in zwei großen prospektiven, plazebokontrollierten Studien sehr enttäuschende Ergebnisse. Zwar gelang es diese Nervenzellen, ins Striatum zu transplantieren, auch überlebt ein Teil der Zellen, jedoch scheinen diese Zellen sich nicht sinnvoll in das neuronale Netzwerk zu integrieren. Sie setzen Dopamin offensichtlich nicht bedarfgerecht frei und führen hierdurch zu so genannten Off-Hyperkinesen. Abgesehen davon wirft die Transplantation fetaler Stammzellen viele ethische Fragen auf. Interessante neue Entwicklungen sind immortalisierte, adulte, dopaminerge Stammzellen aus der Retina, die in einer gelatineartigen Verpackung ins Striatum implantiert werden sollen und dort angeblich Dopamin kontrolliert freisetzten. Studien müssen deren Wertigkeit zeigen. Krankengymnastik: Jede medikamentöse Therapie muss durch Krankengymnastik ergänzt werden: passive Bewegungen der Extremitäten zur Verhinderung sekundärer Gelenkversteifung, aktive Übungen mit dem Ziel, die Akinese wenigstens teilweise durch intendierte Motorik zu ersetzen, und Spiele oder handwerkliche Übungen, die der Patient gemeinsam mit einem Gesunden ausführt. 3Komplikationen. Wenn ein behandelter Parkinson-Patient

wegen einer interkurrenten Krankheit in ein Krankenhaus kommt, wird manchmal unwissentlich die Dosis der dopaminergen Substanzen abrupt reduziert. Dabei kann es zu zwei Komplikationen kommen: Akinetische Krise Die Kranken, die unter der Behandlung halbwegs beweglich waren, werden vollständig akinetisch, entsprechend bettlägerig, schlucken nicht mehr, und ihre Atemexkursionen werden flach. Sie geraten bald in einen Zustand der Exsikkose. Es bildet sich eine hypostatische oder eine Aspirationspneumonie aus. Selbst wenn nach einigen Tagen unter intensivmedizinischen Maßnahmen die Parkinson-Therapie mit Amantadin-Infusionen wieder einsetzt, gelingt es manchmal nicht mehr, den Kranken zu retten oder gar die frühere Mobilität wieder herbeizuführen. Therapeutisch gibt man 4 Amantadin-Infusionen 200–600 mg/Tag, L-Dopa über Magensonde, 4 subkutane Dauerinfusionen von Apomorphin 30–100 mg/ ® Tag z.B. mit ApoGo Pumpe (ggf. zusammen mit Antiemetikum Domperidon 20 mg).

522

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Exkurs Primäre, orthostatische Hypotension (Shy-Drager-Syndrom)

23

Obwohl diese Diagnose jetzt in der MSA-Gruppe untergegangen ist, besprechen wir das Syndrom getrennt, da es in der Klinik immer noch häufig genannt wird. Das Erkrankungsalter liegt bei 35–75 Jahren, Männer sind häufiger als Frauen betroffen. 3Symptome. Beim Aufrichten schon in die 45-Grad-Position sinkt der Blutdruck bedrohlich ab, während weder Herzfrequenz noch Schlagvolumen zunehmen. In schleichendem Verlauf erlöschen ferner das thermoregulatorische Schwitzen und die Potenz, und es stellen sich Harn- und Stuhlinkontinenz ein. Atemstörungen während des Schlafes sind häufig. Schließlich entwickelt sich ein akinetisches Parkinson-Syndrom.

4 Schließlich kann auch L-Dopa zur Infusion über die interna-

tionale Apotheke bestellt werden, wie auch i.v. gängiges Lisurid über den Hersteller bezogen werden. Dopa-Entzugssyndrom In seltenen Fällen tritt das sog. maligne Dopa-Entzugssyndrom auf, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der malignen Hyperthermie nach Gabe von Anästhetika und Muskelrelaxanzien und mit dem malignen neuroleptischen Syndrom nach Gabe oder Steigerung von Neuroleptika hat. Die Leitsymptome sind Hyperthermie, Rigor, Akinese, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, Erhöhung der CK und der Transaminasen sowie Leukozytose ohne Erregernachweis. Die Behandlung erfolgt mit Amantadin, L-Dopa und Apomorphin wie bei der akinetischen Krise, zusätzlich gibt man Dantrolen-Na (besonders bei deutlicher CK-Erhöhung). Dosierung: 2,5 mg/kg Startdosis i.v., danach 5–10 mg/kg/Tag als Dauerinfusion. 23.1.2 Multisystematrophien mit Parkinson-

Symptomen 3Definition. Parkinson-Symptomatik gehört zum Bild verschiedener neurodegenerativer Krankheiten vom Typ der Multisystematrophie. Unter Multisystematrophie (MSA) werden die früher verwendeten Diagnosen »striatonigrale Degeneration«, »Olivo-ponto-zerebelläre Atrophien« und »Shy-Drager-Syndrom« zusammengefasst. Da bei allen MSA-Typen die autonome Dysregulation im Vordergrund steht, hat man den Begriff der Shy-Drager-Erkrankung aufgegeben. Die Einteilung berücksichtigt neben diesem Hauptkriterium derzeit noch das prädominate Nebensymptom. So wird die prädominante Parkinson-Variante der autonomen Dysregulation als MSA-P (vormals striatonigrale Degeneration) bezeichnet und diejenige mit hauptsächlich zere-

3Diagnostik und pathologisch-anatomische Befunde. Im MRT findet man im T2-gewichteten Untersuchungsmodus bilaterale Hypodensität im Putamen. Pathologisch-anatomisch findet man Nervenzellschwund in der Substantia nigra und in der intermediolateralen Säule des Rückenmarks (dem Kerngebiet der präsynaptischen, sympathischen Neurone) und im Nucleus dorsalis des Vagus. 3Therapie. Zur Behandlung werden adrenerge Substanzen, wie Isoproterenol und Methoxamin, in Ergänzung auch L-Dopa mit Benserazid und Hydrocortison empfohlen, diätetisch kochsalzreiche Ernährung. Die Überlebensdauer beträgt durchschnittlich 7–8 Jahre. Im Endstadium können auch pyramidale, zerebelläre Symptome und Zeichen der Vorderhornschädigung hinzutreten.

bellärer Störung als MSA-C (vormals olivo-ponto-zerebelläre Atrophie) Bei diesen Krankheiten ist die Parkinson-Symptomatik rascher progredient als bei »idiopathischem« M. Parkinson. 3Diagnostische Kriterien. Folgende Kriterien (. Tabelle 23.3) erlauben die Diagnose und Einteilung der MSA. Die vegetativen Symptome sind obligat, die anderen fakultativ. Eine MSA gilt danach als möglich, wenn ein Kriterium erfüllt ist und zwei Symptome aus einer anderen Domäne vorliegen. Wahrscheinlich liegt eine MSA vor, wenn das Kriterium für die autonome Störung erfüllt ist, also entweder eine orthostatische Hypotension vorliegt oder eine Blaseninkontinenz und ein Parkinson-Syndrom, das nicht auf L-Dopa anspricht, oder eine zerebelläre Dysfunktion. Die Diagnose ist unwahrscheinlich, wenn der Beginn der Symptomatik vor dem 30. Lebensjahr liegt, eine positive Familienanamnese besteht und Halluzinationen, die nicht in Bezug zur Medikation stehen oder eine Demenz auftreten. 3Epidemiologie und pathologische Anatomie. MSA sind relative selten mit einer Prävalenz von etwa 4,4 pro 100.000. Der Erkrankungsbeginn ist meist in der 6. Lebensdekade. Die mittleren Überlebenszeiten liegen knapp unter 10 Jahren bei einer sehr hohen Varianz. Die Todesursache sind meist krankheitsimmanente Begleiterkrankungen wie Pneumonien. Bei diesen ätiologisch unbekannten, sporadisch auftretenden und chronisch progredienten Erkrankungen findet sich histologische gliale zytoplasmatische Einschlüsse in den Basalganglien, in den Olivenkernen und zerebellären Purkinje-Zellen sowie in den autonomen Kerngebieten. Man fand sowohl α-Synuclein als auch Tau- und Ubiquitin-positive Einschlusskörperchen. Eine definitive Diagnose kann nur post mortem histologisch erfolgen.

523 23.1 · Parkinson-Syndrome

23

Facharzt

Andere Parkinson-Syndrome Enzephalitischer Parkinsonismus. Ein Parkinson-Syndrom kann das führende Symptom einer akuten Virusenzephalitis sein. Diagnose 7 Kap. 19. Postenzephalitisches Parkinson-Syndrom. Der postenzephalitische Parkinsonismus als Nachkrankheit der Encephalitis lethargica (von Economo) spielt heute keine Rolle mehr. Nach Enzephalitis anderer Ätiologie, z.B. nach postvakzinaler oder Fleckfieberenzephalitis, ist er äußerst selten. Medikamentös-toxisch induziertes Parkinsonsyndrom. Viele Psychopharmaka, besonders Neuroleptika, führen zu einem vorwiegend akinetischen Parkinson-Syndrom. Einzelheiten 7 Kap. 30. MPTP, ein Bestandteil von so genannten Designerdrogen, hat in den 70er Jahren zu einer Endemie von Parkinson-Syndromen bei jungen Drogenabhängigen, vor allem in Kalifornien geführt. Diese Substanz schädigt selektiv die nigra-

len, dopaminergen Zellen und wird seither tierexperimentell zur Auslösung eines Parkinson-Modells benutzt. Posthypoxisches Parkinson-Syndrom. Ein akinetisches Parkinson-Syndrom kann sich nach akuter, globaler Mangeldurchblutung des Gehirns einstellen, z.B. nach Narkosezwischenfällen oder nach Strangulation. Weitere Ursachen sind die CO- und die Manganvergiftung. Dabei kommt es zu hypoxisch bedingten, symmetrischen Erweichungen im Pallidum, die man computertomographisch gut nachweisen kann. Das Parkinson-Syndrom tritt erst einige Wochen nach der Hypoxie auf. Anstelle des ParkinsonSyndroms können sich aber auch choreatische und ballistische Symptome oder ein posthypoxischer Myoklonus (Lance-AdamsSyndrom) entwickeln. Parkinsonähnliche Bewegungsstörungen treten im Anfangsstadium der hepatolentikulären Degeneration auf (7 Kap. 28.2).

. Tabelle 23.3. Domänen, Symptome und Kriterien der MSA

Domänen

Symptome

Kriterien

I

Autonome Störung

RR Abfall > 20 mmHg systolisch oder >10 mmHg diastolisch

RR Abfall > 30 mmHg systolisch oder >15 mmHg diastolisch

Blasen-Inkontinenz oder inkomplette Blasenentleerung

Blasen-Inkontinenz und/oder erektile Dysfunktion

II

Parkinsonsyndrom

Bradykinese Rigor Posturale Störung Tremor

Bradykinese und zwei von folgenden: Rigor Posturale Störung Tremor

III

Zerebelläre Symptome

Gangataxie Dysarthrie Rumpfataxie Anhaltender Blickrichtungsnystagmus

Gangataxie und zwei der folgenden: Dysarthrie Rumpfataxie Blickrichtungsnystagmus

IV

kortikospinale Symptome

Babinski Hyperreflexie

Keine

3Klinische Einteilung 4 Olivopontozerebelläre Atrophie (MSA-C): Im Vordergrund stehen zerebelläre Funktionsstörungen. Ein akinetisches Parkinson-Syndrom ist häufig. Später kommt es zur Demenz. Charakteristisch ist das fehlende Ansprechen auf L-Dopa. 4 Striatonigrale Degeneration (MSC-P): Im Vordergrund steht die Parkinson-Symptomatik mit starker orthostatischer Dysregulation. Die Wirkung der klassischen Parkinson-Medikamente ist begrenzt, ein L-Dopa-Test sollte allerdings immer erfolgen. 3Verlauf. Die Lebensqualität stark einschränkend ist vor allem die orthostatische Hypotension. Dieser kann durch eine aus-

reichende Flüssigkeitssubstitution, kleine Mahlzeiten (Reduktion der postprandialen Hypotension) und Kompressionsstrümpfe oder -Anzüge entgegengewirkt werden). Pharmakologisch kommen Sympathikomimetika bis hin zur Noradrenalinpumpe zum Einsatz sowie Mineralkortikoide. Die Parkinson-Symptomatik kann initial bei etwa einem Drittel der Patienten durch L-Dopa gebessert werden, teilweise soll dies aber zu einer Verschlechterung der autonomen Dysfunktion führen. Für zerebelläre Symptomatik existiert derzeit keine wirksame Therapie.

524

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23.1.3 Parkinsonsyndrome bei anderen

neurodegenerativen Erkrankungen

23

Vorbemerkung. Dieser Bereich ist einem starken Wandel unterzogen. Einige der hier besprochenen Entitäten wurden noch vor kurzem als MSA klassifiziert, passen aber in die neuen Klassifikationsmodelle nicht mehr hinein. Sie werden allerdings klinisch weiterhin als Differentialdiagnose wichtig bleiben. Supranukleäre Lähmung 3Symptome. Die progressive supranukleäre Ophthalmoplegie (Steele-Richardson-Syndrom) setzt gewöhnlich mit einer Blickparese nach unten ein. Langsam fortschreitend, entwickelt sich eine akinetische Parkinson-Symptomatik, eine Versteifung der Rumpfmuskulatur, und es kommt auch zu Beeinträchtigungen in der Merkfähigkeit und im psychomotorischen Tempo. Weitere neuropsychologische Symptome sind: Störung des Abstraktionsvermögens, verminderte verbale Flüssigkeit und Frontalhirnzeichen. 3Therapie. Die Studienlage zur Therapie der PSP ist ausgesprochen mangelhaft. Fallserien berichten über ein geringes Ansprechen auf eine dopaminerge Therapie. Die Nebenwirkungsrate dieser Therapie war gering, so dass ein Therapieversuch mit L-Dopa gerechtfertig erscheint. Ebenfalls wird von trizyklischen Antidepressiva eine geringe Wirkung berichtet. Kortikobasale Degeneration 3Symptome. Die seltene kortikobasale Degeneration hat einige Gemeinsamkeiten mit dem Steele-Richardson-Syndrom, lässt sich aber neurologisch und neuropathologisch davon unterscheiden. Die Symptomatik ist durch hypokinetische ParkinsonSymptome, Tremor (Frequenz 6/Sekunde), Dysarthrie und Schluckstörung, Apraxie, fokale Reflexmyoklonien (ähnlich wie bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, 7 Kap. 19.6.1), Demenz, dystone Haltungen der Extremitäten und eine kortikale, sensible Deafferentierung gekennzeichnet, die dazu führt, dass die eigene Hand als fremd empfunden wird (alien hand). 3Therapie. Eine Therapie ist nicht bekannt. 23.2

Choreatische Syndrome

Bei einer choreatischen Bewegungsstörung handelt es sich um unwillkürliche, plötzliche, rasche, unregelmäßige und nicht vorhersehbare Bewegungen der Extremitäten, des Gesichtes, des Halses und des Rumpfes. Die Bewegungen können sowohl in Ruhe als auch während willkürlicher Bewegungen auftreten (7 Kap. 1.5.1). Unter besonders starker seelischer Erregung können sie sich zum « choreatischen Bewegungssturm« steigern, der die Kranken völlig überwältigt und jede geordnete Motorik unmöglich macht. Im Schlaf oder in der Narkose setzen die Hyper-

kinesen aus. Die choreatischen Hyperkinesen wirken auf den Beobachter wie Bruchstücke von intendierten oder von gestischen und mimischen Ausdrucksbewegungen. Anfangs gelingt es den Patienten auch, die unwillkürlichen motorischen Impulse in Verlegenheits- oder Zielbewegungen einzufügen, so dass zunächst nur der Eindruck einer allgemeinen Nervosität oder psychomotorischen Unruhe entsteht. In fortgeschrittenen Fällen beeinträchtigen die ständig einschießenden Impulse die Motorik aber so sehr, dass die Patienten hilflos werden können. Besonders stark ist das Gehen erschwert. 23.2.1 Chorea Huntington 3Epidemiologie und Genetik. Die 1872 von Huntington beschriebene Chorea der Erwachsenen ist nicht selten: Sie tritt mit einer Prävalenz von 2 bis 10 Fällen pro 100.000 Einwohner auf. Nur in Finnland, China und Japan ist sie mit 0,5 auf 100.000 auffällig selten. Der Grund dafür ist nicht bekannt. Das Leiden ist autosomal-dominant erblich. Die Erbanlage hat volle Penetranz. Das Gen ist auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 lokalisiert worden und besteht aus einer abnormen Vermehrung eines CAG-Triplet-Repeats. Diese Region kodiert für ein Protein, das Huntingtin genannt wird. Kinder von Genträgern haben ein Krankheitsrisiko von 50%. Männer und Frauen werden gleich häufig betroffen. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 30 und 50 Jahren mit einem Gipfel um das 45. Lebensjahr. Ein Beginn in der Jugendzeit oder Kindheit ist sehr selten. Antizipation, d. h. frühere Manifestation bei den Nachkommen, ist nicht üblich. Genetische Beratung: Huntington-Kranke sollten wegen der hohen Penetranz der Erbanlage (bei jeder Schwangerschaft besteht eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, dass das Kind erkranken wird), aber auch wegen der individuell schlechten Prognose auf Nachkommen verzichten. Wegen der zu erwartenden psychischen Belastung darf die genetische Beratung bei (noch) nicht erkrankten Familienmitgliedern nur durch ein erfahrenes Team mit gleichzeitiger neurologischer und psychotherapeutischer Betreuung erfolgen. 3Pathologisch-anatomische Befunde und Pathophysiologie. Pathologisch-anatomisch ist das Gehirn im ganzen kleiner als normal und sehr untergewichtig. Das Corpus striatum (Caudatum und Putamen) ist geschrumpft. Mikroskopisch sind vor allem die kleinen Zellen betroffen. Halbseitiger Chorea entspricht eine Läsion im kontralateralen Striatum. Pallidum und Nucleus subthalamicus sind weniger ergriffen. Außerdem besteht eine deutliche Atrophie der Rinde, besonders des Stirnhirns. Der wichtigste pathologisch-anatomische Befund ist ein Ausfall der kleinen Zellen im Corpus striatum. Dies führt zur Verminderung GABAerger Projektionen auf Pallidum und Substantia nigra. Nicht nur klinisch, sondern auch pathologisch-anatomisch und biochemisch ist das choreatische Syn-

525 23.2 · Choreatische Syndrome

23

Empfehlungen Therapie der Chorea* Bislang ist keine neuroprotektive Therapie der HuntingtonErkrankung in Deutschland zugelassen. Empfehlungen zur symptomatischen Therapie beruhen auf offenen Studien, Kasuistiken und Expertenwissen (C). Behandlung der Hyperkinesen Hyperkinesen werden gebessert durch Antihyperkinetika (Tiaprid), klassische Neuroleptika und atypische Neuroleptika. Aufgrund der Nebenwirkungen ist ein sparsamer Einsatz aller Substanzen dringend zu empfehlen.

drom das Gegenbild zum Parkinson-Syndrom. Das gilt auch für die Therapie. 3Symptomatik und Verlauf. Das Leiden setzt gewöhnlich mit psychischen Veränderungen ein: Die Kranken werden reizbar und unverträglich, später haltlos, vor allem in sexueller Hinsicht. Sie wechseln häufig ihre Arbeitsstelle, arbeiten schließlich überhaupt nicht mehr regelmäßig und vernachlässigen Haushalt und Familie. In fortgeschrittenen Stadien werden sie affektiv so enthemmt, dass es zu Gewalttätigkeitsdelikten kommen kann. Nicht selten ist auch Verwahrlosung mit Landstreicherdelikten. Diese Choreophrenie kann sich auch in überwertigen oder paranoischen Ideen und selbst in symptomatischen, paranoiden Psychosen äußern. Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Demenz. Die Bewegungsstörung ist gröber und im Ablauf mehr dyston als bei den blitzartigen Hyperkinesen der Chorea minor (7 Abschn. 23.2.2). Besonders auffällig ist das Grimassieren der mimischen Muskulatur. Werden die Muskeln, die von kaudalen Hirnnerven versorgt sind, besonders stark betroffen, wird das Sprechen verwaschen, schließlich kaum noch artikuliert. Die Phonation wechselt stoßweise, Kaumuskulatur und Zunge sind in ständiger Bewegung, und die Patienten können nur noch mit größter Mühe breiige Nahrung zu sich nehmen, da ihnen die Koordination der Kau- und Schluckbewegungen fast unmöglich wird und unwillkürliche Zungenbewegungen die Nahrung immer wieder aus dem Munde stoßen. Hat die Hyperkinese an den Extremitäten halbseitig begonnen, dehnt sie sich später auf die gegenseitigen Gliedmaßen aus. Handfertigkeiten lassen nach, eine geordnete Motorik ist bei den hyperkinetischen Impulsen kaum noch möglich. Sehr charakteristisch ist die schwere Zunahme der Hyperkinese beim Gehen, so dass die Patienten bald gestützt werden müssen. Der Muskeltonus ist nicht so gleichmäßig herabgesetzt wie bei der Chorea minor. Häufig wechselt er unter dem Einschießen von Bewegungsimpulsen (Poikilotonus oder Spasmus mobilis). Bei 50% der Patienten liegen bereits im Frühstadium okulomotorische Störungen vor, beispielsweise vertikale Blickparese nach oben und Ausfall der schnellen, sakkadischen Augenbewegungen.

Behandlung von Verhaltensstörungen und psychiatrischen Symptomen 4 Depression: selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer; Sulpirid 4 Psychosen: Hochpotente Neuroleptika (z.B. Haloperidol), wobei eine längere Therapiedauer aufgrund der möglichen Spätdyskinesien vermieden werden sollte; atypische Neuroleptika 4 Angst/Schlafstörungen: Pflanzliche Mittel, Benzodiazepine, Benzodiazepinrezeptoragonisten * Nach den Leitlinien der DGN 2005

3Verlauf. Die Krankheit ist chronisch fortschreitend. Dabei können aber schubweise Verschlechterungen mit stationären Zwischenphasen wechseln. Remissionen kommen nicht vor. Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt 12–15 Jahre. Das gilt auch bei jungem Erkrankungsalter. Selten wird das 60. Lebensjahr erreicht. Im Endstadium kommt es auch zum Übergang in athetotische Bewegungen. Meist tritt Rigidität und Akinese mit Versteifung der Gelenke ein. Die Chorea bei Jugendlichen ist durch frühzeitig einsetzenden Rigor und durch epileptische Anfälle von diesem Krankheitsverlauf unterschieden. 3Diagnostik. Die pathologisch-anatomischen Veränderungen, die der Bewegungsstörung und der Choreophrenie zugrunde liegen, lassen sich auch im CT und im MRT erkennen: Atrophie des Nucleus caudatus und eine Verbreiterung der Rindenfurchen als Zeichen der Hirnatrophie. Mit der PET findet man bei Risikopatienten mehrere Jahre vor den neurologischen Auffälligkeiten und vor den CT-Veränderungen Stoffwechselminderungen im Nucleus caudatus und Putamen. Die Diagnose kann mit molekular-genetischen Verfahren gesichert werden. Diese sollen aber nur zusammen mit einer genetischen Beratung ausgeführt werden Die SEP sind oft früh pathologisch. Auch die sog. Long-loopReflexe, sensomotorische, elektrophysiologisch ausgelöste und registrierte Reflexe, die über supraspinale Relais-Stationen im ZNS geleitet werden, sind vor Manifestation des klinischen Syndroms ausgefallen. Schwermetallbestimmung (Quecksilber, Magnesium, Thallium) im Serum und/oder Urin, wenn molekulargenetisch keine Chorea Huntington vorliegt. 3Therapie. Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Die psychische Alteration ist auch durch Neuroleptika nur vorübergehend zu beeinflussen. 4 Die Hyperkinese spricht vorübergehend auf Tiaprid an, das die D2-Dopaminrezeptoren blockiert (Dosis 2- bis 3-mal 200 mg). 4 Eine Überaktivität des erregenden Neurotransmitters Glutamat kann über eine Vermittlung von sog. NMDA- und AMPARezeptoren, die mit Kanälen für Kationen gekoppelt sind, zur exzitotoxischen Zellschädigung führen.

526

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Deshalb wird zurzeit eine »neuroprotektive« Behandlung mit Glutamat-Antagonisten erprobt. Die medikamentöse Einstellung und Überwachung von Huntington-Patienten sollte nur durch einen Spezialisten oder eine erfahrene Klinik geschehen.

23

23.2.2 Chorea minor 3Epidemiologie. Die Chorea minor ist eine Manifestation des heute bei uns sehr selten gewordenen rheumatischen Fiebers im Kindes- und Jugendalter. In den Entwicklungsländern ist die Krankheit auch heute noch häufig. Die Krankheitsdauer beträgt wenige Wochen. 3Ätiologie und Pathogenese. Das rheumatische Fieber entwickelt sich wenige Wochen nach einer Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A. Ursache der Chorea sind Antikörper, die mit körpereigenen Antigenen in den Basalganglien reagieren. Pathologisch-anatomisch fand man in den wenigen Fällen, die während der Krankheit durch Herzinsuffizienz oder andere Komplikationen ad exitum kamen, perivaskuläre Infiltrationen, Endarteriitis und Zellschwund. Diese Veränderungen waren im Corpus striatum am stärksten ausgeprägt, fanden sich aber auch in der Großhirnrinde und im Kleinhirn. 3Symptome und Verlauf. In manchen Fällen bestehen zu Beginn allgemeine Krankheitserscheinungen und Fieber. Die Hyperkinesen werden von den Kindern anfangs in mimische und gestische Verlegenheitsbewegungen einbezogen. Die choreatische Bewegungsunruhe nimmt, wie alle extrapyramidalen Hyperkinesen, bei seelischer Erregung zu. Unter besonderer psychischer Belastung kann sie sich bis zum sog. choreatischen Bewegungssturm steigern. Oft sind die konjugierten Augenbewegungen gestört, so dass die Fixation und das Lesen beeinträchtigt sind. 3Diagnostik. CT und MRT sind unauffällig. Das EEG ist in 50–80% der Fälle unspezifisch verändert. Im EMG kann man abrupte hyperkinetische Aktivität auch in Muskeln nachweisen, die bei der Betrachtung ruhig und entspannt erscheinen. Im Serum findet man unspezifische Entzündungszeichen. Meist kann man die Gegenwart von hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A durch den Titeranstieg spezifischer Antikörper nachweisen. Der Liquor ist fast immer normal. 3Therapie und Prognose. Die Krankheit heilt klinisch folgenlos aus. Man muss aber damit rechnen, dass ein Drittel der Kinder einmal oder mehrmals ein Rezidiv bekommt. Für das spätere Leben ist die Prognose günstig. Die Krankheit disponiert zwar zur Schwangerschaftschorea, nicht aber zu anderen extrapyramidalen oder überhaupt zentralnervösen Störungen. Bettruhe und Abgeschiedenheit von der Außenwelt sind die ersten Vorbedingungen für eine erfolgreiche Behandlung. Peni-

cillin soll über die akute Krankheit hinaus mehrere Jahre prophylaktisch weitergegeben werden. 4 Zusätzlich werden die Kinder durch leichtere Sedativa, wie z.B. Diazepam (3-mal 2–15 mg) oder Chloraldurat gedämpft. 4 In schwereren Fällen kann man auch Neuroleptika geben, auch um der choreatischen Hyperkinese durch eine medikamentös bedingte parkinsonistische Akinese entgegenzuwirken. 4 Auch Valproat, das den hemmenden Transmitter GABA aktiviert, ist mit Erfolg verabreicht worden. 3Differentialdiagnose. In erster Linie muss eine psychogene Bewegungsstörung abgegrenzt werden. Wichtige Kriterien der Chorea sind der blitzartige, grimassierende oder schleudernde Charakter der Zuckungen, die im Schlaf sistieren und die ausgeprägte Hypotonie der Muskulatur (Chorea mollis). Fehlt die Muskelhypotonie, soll man an der Diagnose zweifeln. Ein sehr typisches Symptom ist die sog. Chamäleonzunge, seltener findet man das Gordon-Kniephänomen. Die oben genannten Laborbefunde stützen bzw. sichern die Diagnose. Chorea kann in jedem Alter auch Symptom einer akuten Enzephalitis sein. Besonders disponiert sind Patienten, bei denen extrapyramidale Bewegungsstörungen in der Familie vorkommen. Bei Enzephalitis ist eine klinische Untersuchung mit EEG, Liquorpunktion und die genaue Beobachtung des weiteren Verlaufs angezeigt. 23.2.3 Schwangerschaftschorea Die Schwangerschaftschorea, die besonders im 3.–5. Monat der Gravidität vorkommt, gleicht der Chorea minor des Kindesalters in Symptomatik und Ätiologie. Heute eine Rarität, tritt sie auch als Hemichorea auf. Bei wiederholten Schwangerschaften kann sie jeweils rezidivieren. Sie tritt auch unter Einnahme von Ovulationshemmern auf, ist also keine Gestose. Etwa die Hälfte der Frauen berichtet in der Anamnese über Chorea minor im Kindesalter. Meist findet man eine rheumatische Herzkrankheit. Nach der Entbindung klingt die Chorea ab. Nicht selten tritt jedoch eine Fehlgeburt ein. 23.3

Ballismus

Diese seltene Hyperkinese wird hauptsächlich nach Infarkten oder – seltener – Blutungen in den Nucleus subthalamicus (Luys) oder seine Verbindung mit dem Pallidum beobachtet. Auch Granulome oder Metastasen können sich in diesem Kern ansiedeln. 3Pathophysiologie. Pathologisch-anatomisch finden sich Läsionen im Nucl. subthalamicus (Corpus Luysii) oder in den Bahnverbindungen zwischen diesem Kern und dem Pallidum. Ballismus tritt nur auf, wenn diese Läsionen akut einsetzen. Die Manifestation der Hyperkinese hat zur Voraussetzung, dass das

527 23.4 · Dystonien

Pallidum internum, seine Verbindung zum Thalamus (Ansa lenticularis), die prämotorische Rinde und die Pyramidenbahn intakt sind. Man führt deshalb den Ballismus auf eine Enthemmung prämotorischer Rindenfelder zurück. 3Symptome. Der Ballismus ist meist halbseitig (Hemiballismus). Die Läsion ist dann kontralateral. Die unwillkürlichen Bewegungen setzen plötzlich ein, laufen rasch, aber nicht so blitzartig ab wie bei der Chorea und sind schleudernd, weit ausfahrend. (Beschreibung des Syndroms 7 Kap. 1.5.3). 3Therapie und Prognose. Die Behandlung ist konservativ: Man verordnet v.a. Neuroleptika (Butyrophenone) oder Tiaprid, einen Dopaminrezeptorenblocker. Mittel also, die als Nebenwirkung eine Akinese verursachen. Die Prognose ist uneinheitlich: In manchen Fällen bildet sich der Hemiballismus mit der Erholung der lokalen Durchblutung wieder zurück, in anderen Fällen bleibt er lebenslang bestehen. 23.4

Dystonien

3Definition und Einteilung. Der Begriff Dystonie wird für eine Reihe von Bewegungsstörung benutzt, die z.T. Ausdruck genetisch definierter Erkrankungen sind. Der Begriff hat in den letzten Jahren eine Ausweitung erfahren. So werden zunehmend auch athetotische und choreatiforme Bewegungsstörungen als Dystonien bezeichnet. Die Klassifikation erfolgt nach der Topologie (fokal, segmental, multifokal, generalisiert, Hemidystonie), dem Erkrankungsalter und der zugrunde liegenden Ursache (primär oder sekundär). 3Genetik und Pathophysiologie. Bei nahezu der Hälfte aller generalisierten Torsionsdystonien, die im Kindes-/Jugendalter beginnen, findet man eine Mutation im DYT-1-Gen. Mikroableitungen aus den Basalganglien bei Patienten mit generalisierten

und fokalen Dystonien erbrachte eine Desinhibition des Globus pallidus internus. Es konnte mittels PET-Untersuchungen bei Patienten mit Beschäftigungsdystonien eine Vergrößerung und teilweise Überlappung sensomotorischer Felder im Gehirn gefunden werden. Dies stützt das Konzept der Dystonie als eine fehlerhafte Ausweitung sensomotorischer Repräsentation im Gehirn als Folge von Übertraining begründet (z.B. Schreibkrampf, Golfer-Dystonie, Musiker-Dystonie). Eine normale Bewegung setzt eine aktive Inhibition benachbarter Muskelgruppen voraus, die nicht an der Bewegung beteiligt sind. Diese Inhibition ist bei Dystonikern vermindert oder fehlt. Die Bewegung ist gekennzeichnet durch eine Mitaktivierung von Muskelgruppen, die normalerweise bei diesen Bewegungen nicht beteiligt sind. 23.4.1 Fokale und segmentale Dystonien Die fokalen und segmentalen Dystonien stellen die am häufigsten auftretenden Formen von dystonen Bewegungsstörungen dar. Typischerweise liegt der Beginn der Erkrankung im mittleren Erwachsenenalter. Die Tendenz zu einer Generalisierung zeigt sich im Gegensatz zu den im Kindes- und Jugendalter beginnenden Dystonien nicht. In den meisten Fällen handelt es sich um kraniozervikale Dystonien, fokalen Dystonien der mimischen Muskulatur oder Beschäftigungsdystonien. Torticollis spasmodius (zervikale Dystonie) 3Definition. Der Torticollis spasmodicus, der auch als Schiefhals bezeichnet wird, ist eine segmentale Dystonie des Halsbereiches. Es wird unterschieden zwischen überwiegend tonischen (s.u.) und phasischen (tremolierendem) Tortikollis. Er setzt im mittleren Lebensalter zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr ein. Beide Geschlechter sind gleichmäßig betroffen. Der Beginn kann schleichend und ohne erkennbaren Anlass sein.

. Tabelle 23.4. Einteilung der Dystonien Nach Ätiologie 1. Primär (idiopathisch, hereditär) 2. Sekundär (symptomatisch)

sporadisch, hereditär degenerativ, vaskulär, medikamentös, metabolisch

Nach Erkrankungsalter 1. infantile Form 2. adolszente Form 3. adulte Form

0–12 Jahre 13–20 Jahre >20 Jahre

Nach Phänomenologie 1. fokal 2. segmental 3. multifokal 4. generalisiert 5. Hemidystonie

23

auf eine Körperregion begrenzt (Blepharospasmus) zwei benachbarte Körperregionen begrenzt (Tortikollis) mehrere Körperregionen mehrere nicht benachbarte Körperregionen einschließlich mindestens einer der unteren Extremitäten nur eine Körperseite an der unteren und oberen Extremität betroffen

528

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Exkurs Botulinumtoxin

23

Botulinumtoxin (Botox®, Dysport®) wird von dem anaeroben grampositiven Sporenbildner Clostridium botulinum gebildet. Botulinumtoxin bewirkt an motorischen Nervenendigungen eine Hemmung der Freisetzung von Acetylcholin durch Abspaltung eines membranständigen Proteins (SNAP 25). Da die

3Pathologische Anatomie. Selten findet man Läsionen in weit verstreuten Gebieten des ZNS: Corpus striatum, Substantia nigra, Nucleus dentatus des Kleinhirns, Medulla oblongata, graue Substanz des Rückenmarks. Mikroskopisch erkennt man Nervenzelldegenerationen und Anhäufungen von Lipochrom und eisenhaltigem Pigment. 3Symptome und Verlauf. Der Torticollis spasmodius äußert sich durch eine tonische oder ruckartige Drehbewegung oder Neigung des Kopfes (7 Kap. 1.5.4). Die Heftigkeit der Wendebewegungen verstärkt sich bei emotionaler Erregung, oft beim Gehen oder dann, wenn die Kranken unter Menschen sind. Viele Patienten können die dystone Bewegung des Kopfes durch bestimmte Hilfsgriffe mildern (. Abb. 23.5a,b). Im Verlauf der Wendebewegungen des Kopfes tritt bald eine Hypertrophie der beteiligten Muskeln ein. Die Extremitäten sind anfangs frei. Die Entwicklung der Krankheit kann von langen Remissionen unterbrochen sein, ist aber auf lange Sicht chronisch fortschreitend, kann aber auch über viele Jahre unverändert in der Schwere sein. In selten Fällen kommt es zu spontanen Remissionen. In fortgeschrittenen Fällen sind Kopf und Schultergürtel ständig in der beschriebenen Endstellung fixiert.

Nervenendigung irreversibel geschädigt ist, kommt es zur Aussprossung einer neuen Nervendigung mit Ausbildung einer neuen motorischen Endplatte. Die Folge ist eine Schwäche und Atrophie der betroffenen Muskeln.

3Ätiologie. Diese ist meist ungeklärt. Sehr selten kann auch eine fokale Dystonie Ausdruck einer Mutation sein (DYT 1–12). Hierbei herrschen generalisierte Formen vor. Selten werden symptomatische Ursachen gefunden, wie Stoffwechselerkrankungen (M. Wilson, Fettstoffwechselerkrankungen, M. Fahr) oder strukturelle Läsionen vor allem der Basalganglien (z.B. Tumoren, Schlaganfälle). 3Therapie 4 Der Tortikollis wird mit lokaler Injektion von Botulinumtoxin behandelt. Das Prinzip dieser Behandlung besteht in der funktionellen Denervierung und damit Verminderung der Überaktivität in den dyston aktiven Muskeln. Die Auswahl der zu injizierenden Muskeln wird bei komplexeren Formen aufgrund von EMG-Befunden getroffen. 4 Man verwendet ein kommerziell hergestelltes Präparat (z.B. Botox) und injiziert mit einer Tuberkulinspritze an mehreren Stellen in die betroffenen Muskeln. Unerwünschte Wirkungen bei der Behandlung der zervikalen Dystonie sind Schwäche der Nackenmuskeln oder Dysphagie. 4 Der Effekt tritt nach 1–2 Wochen ein. Über mehrere Wochen kommt es zu einer Reinnervation des gelähmten Muskels. So erklärt sich, dass die Wirkung nach 12–16 Wochen nachlässt und dann aussetzt. Die Injektion muss und kann dann wiederholt werden. Sofern sich keine Antikörper bilden, was sehr selten ist, kann man die Injektionen über Jahre mit gutem Erfolg wiederholen. 4 Bei der spasmodischen Dysphonie (s.u.) braucht man die Hilfe eines HNO-Spezialisten. Die Behandlung ist verständlicherweise um so wirksamer, je fokaler die Dystonie ist. Blepharospasmus Bilaterale, symmetrische, meist tonische, aber auch klonische Kontraktionen der Mm. orbiculares oculi sind das Charakteristikum des Blepharospasmus. Wenn die Abgrenzung gegenüber einem psychogenen Gesichtstic Schwierigkeiten bereitet, kann die Diagnose durch die Untersuchung des Blinkreflexes und das EMG des M. orbicularis oculi bestätigt werden, wie in . Abbildung 23.6 erläutert. Die Behandlung durch lokale Injektion von Botulinumtoxin ist sehr erfolgreich.

. Abb. 23.5a,b. Wirkung des Hilfsgriffs bei Laterocollis. a Dystone Seitwärtsbewegung, b geringere Ausprägung mit Hilfsgriff. (A. Ferbert, Kassel)

Beschäftigungsdystonien Diese Krankheiten zählen ebenfalls zu den fokalen Dystonien, sie sind aber aufgabenspezifisch (Schreiben, Musizieren, Handdystonie beim Golfer). Zu diesen rechnet man vor allem den Schreib-

529 23.4 · Dystonien

23

krampf (. Abb. 23.7). Bereits vor über 100 Jahren wurde das Auftreten von aufgabenspezifischen Dystonien bei Telegrafisten beschrieben. Selbst tierexperimentell lässt sich durch Übertraining einer bestimmten motorischen Aufgabe in einem gewissen Prozentsatz der Versuchstiere eine Dystonie induzieren. Es wird daher angenommen, dass neben einer Prädisposition die häufige Wiederholung immer gleicher Bewegungsabläufe ursächlich verantwortlich für die Erkrankung ist. Die Schwierigkeit einer Behandlung mit Botolinumtoxin liegt in der Mitbeteiligung von mehreren Muskelgruppen am Unterarm und an der Hand, was die Auswahl des Muskels erschwert. Meige-Syndrom 3Definition. Dies ist eine dystone Hyperkinese, die im Gesicht mit einem Blepharopasmus beginnt. Die Hyperkinese breitet sich dann zu symmetrischen, dystonen Kontraktionen der mimischen Muskeln, der Zunge, der Schlund- und der Phonationsmuskeln aus. Wenn dies der Fall ist, tritt eine spasmodische Dysphonie mit gepresster Stimmgebung hinzu, die auch als eigenständige Dystonie vorkommt. Elektrophysiologisch ist beim Meige-Syndrom ebenfalls die zweite Komponente des Blinkreflexes verlängert. Die genaue anatomische Lokalisation in den Basalganglien ist nicht bekannt.

a

100 µV

b

20 ms

. Abb. 23.6a,b. Blinkreflex bei Blepharospasmus (a) und bei einer gesunden Person (b). Die späte R2-Reflexkomponente ist bei dem Patienten mit Blepharospasmus deutlich verlängert. Kasuistik: 55-jähriger Patient, der durch den sehr häufig auftretenden Blepharospasmus funktionell blind geworden war. Durch lokale Injektion von Botulinumtoxin konnte der Patient jeweils für rund 4 Monate von dem Blepharopasmus befreit werden. (A. Ferbert, Kassel)

3Therapie. Die Behandlung ist schwierig. Versucht werden neben Botulinumtoxin Butyrophenon, Anticholinergika, Benzodiazepine, Baclofen (Lioresal) und Clonazepam (Rivotril). 3Differentialdiagnose 4 Beim Blepharospasmus und beim Meige-Syndrom muss ein psychogener Gesichtstic abgegrenzt werden, der auch bilateral ist. 4 Der Spasmus hemifacialis ist einseitig. 4 Ein torsionsdystonisches Syndrom mit Bevorzugung von Gesichts-, Schlund-, Zungen- und Halsmuskulatur kann akut infolge Überempfindlichkeit gegenüber verschiedenen extrapyramidal wirksamen Neuroleptika und Antivertiginosa einsetzen

M. abd. pollic brev. M. inteross. dors. I Handgelenksflexoren Handgelenksextensoren 500 µV 200 ms

. Abb. 23.7. Polygraphie bei Schreibkrampf mit Ableitung von 4 Muskeln der Hand und des Unterarms. Neben der tonischen Anspannung sieht man rhythmische, tremorartige EMG-Aktivität im M. abductor pollicis brevis. Kasuistik: Die tonischen Verkrampfungen traten bei die-

sem 38-jährigen Patienten nur beim Schreiben auf, bereits wenn er eine Unterschrift leisten musste. Schreiben von längeren Sätzen war ihm unmöglich. Feinmotorik für andere Verrichtungen nicht beeinträchtigt. (A. Ferbert, Kassel)

530

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23.4.2 Generalisierte Dystonien

bensjahr erreicht wird, ist die Wirbelsäule in skoliotischer und lordotischer Fehlstellung fixiert. Die Muskeln, die an der Hyperkinese am meisten beteiligt waren, sind hypertrophiert und die Gliedmaßen in bizarren Stellungen versteift. Symptomatische Formen werden nach perinataler Hirnschädigung, besonders Icterus neonatorum, Enzephalitis, bei hepatolentikulärer Degeneration und als akute Überempfindlichkeit gegenüber Psychopharmaka beobachtet.

3Formen und Verlauf. Es gibt eine idiopathische Form, die im Jugendalter beginnt und in wellenförmigem Verlauf langsam fortschreitet. Generalisierten Dystonien, deren Beginn in den ersten Lebensjahren liegt, sind in 90% der Fälle hereditär. Die Hälfte kann auf eine heterogene Mutation auf dem langen Arm von Chromosom 9 (9q34.1, DYT 1) zurückgeführt werden, die autosomal- dominant vererbt wird. Das klinische Erscheinungsbild ist durch eine sehr hohe Variabilität gekennzeichnet, was das Ausmaß der Betroffenheit als auch die familiäre Häufung betrifft. So können einzelne Familienmitglieder schwer erkrankt sein und ein Höchstmaß an Behinderung aufweisen, während Geschwister entweder asymptomatisch oder lediglich an einer fokalen Dystonie leiden. Das ist ein Hinweis für die geringe Penetranz und variable Expression der vorliegenden Mutation. Im Endstadium, das um das 50. Le-

3Therapie. Die Behandlung entspricht den Vorschlägen beim Torticollis spasmodicus. 4 Botulinumtoxin kann bei den am stärksten betroffenen Muskeln eingesetzt werden. 4 Manchmal sind L-Dopa-Präparate nützlich, oder auch Clonazepam (Rivotril® bis 4 mg/Tag) oder Trihexyphenidyl (Artane® 30 mg/Tag). 4 Atypische Neuroloptika wie Tiaprid und Tetrabenazin können in Einzelfällen eine Besserung bringen. Die Verordnung von Baclofen (auch als intrathekale Pumpe) vermindert den Muskeltonus ohne die Krankheit ursächlich zu bessern. 4 Bei Patienten mit generalisierten Dystonien und Versagen der medikamentösen Therapie ist die Implantation von Stimulationselektroden in den posteriolateralen GPi zwischenzeitlich Therapie der ersten Wahl (. Abb. 23.8) Die bisherigen Erfahrun-

(Frühdyskinesie). Zur Behandlung gibt man dann Biperiden (Akineton) i.v. oder Prothipendyl (Dominal) i.m. Diese medikamentös ausgelösten Hyperkinesen sind prinzipiell rückbildungsfähig, jedoch können sie das Absetzen des Medikaments wochenlang überdauern (terminale Hyperkinesen 7 Kap. 30.7).

23

. Abb. 23.8. Generalisierte Dystonie vor und 3 Monate nach Implantation einer Stimulationselektrode im GPi: Der Vater und der Bruder haben nur eine fokale Dystonie einer Extremität. (M. Krause, V. Tronnier, Heidelberg)

531 23.5 · Athetose

23

Leitlinien Therapie der Dystonien* Therapie der Wahl bei fokalen Dystonien (Blepharospasmus, zervikale Dystonie, u.a.) ist die selektive periphere Denervierung mittels Botulinumtoxin A oder B (A). Bei generalisierten Dystonien mit Beginn im Kindes- oder Jugendalter sollte das Ansprechen auf L-Dopa in einem chronischen L-Dopa-Test untersucht werden (B) Für das Anticholinergikum Trihexyphenidyl ist die Wirksamkeit bei idiopathischen generalisierten Dystonien gut belegt (A), die Effekte bei fokalen Dystonien sind jedoch schwächer und der Behandlung mit Botulinumtoxin unterlegen (B).

Bei schweren, medikamentös therapierefraktären Dystonien sollten operative Behandlungsmöglichkeiten (intrathekale Baclofengabe, selektive periphere Denervierung, tiefe Hirnstimulation) in einem Zentrum geprüft werden, das spezielle Erfahrung in der interventionellen Therapie von Bewegungsstörungen besitzt (C). * Leitlinien der DGN 2005

Exkurs Juvenile Dystonien Dopasensitive Dystonie (Segawa-Syndrom) Die Störung ist selten. Genaue Zahlen zur Inzidenz liegen nicht vor. Eine Geschlechtsbevorzugung ist nicht bekannt.

körperlicher Anstrengung stärker ausgeprägt ist. Das zweite diagnostische Merkmal ist das Ansprechen der Bewegungsstörung schon auf niedrige Dosen Levodopa.

3Molekulargenetische Befunde. Der Genlokus ist auf dem langen Arm des Chromosoms 14 lokalisiert, und der spezifische Gendefekt konnte als Mutation auf Chromosom 14q identifiziert werden. Die biochemischen Aspekte der Pathophysiologie werden hier nicht erörtert.

3Therapie. L-Dopa: Die Behandlung wird über Jahre ohne die unerwünschten Wirkungen toleriert, die aus der LevodopaBehandlung des Parkinson-Syndroms bekannt sind.

3Symptome und Verlauf. Die Bewegungsstörung setzt im ersten Lebensjahrzehnt, gelegentlich auch im Erwachsenenalter ein. Sie beginnt mit einer dystonen Flexions- und Einwärtsstellung der Füße. Im Verlauf der Krankheit kann sich diese Fußstellung fixieren, so dass das Gehen kaum mehr möglich ist. Es kann auch zu einem Parkinson-Syndrom kommen.

Halbseitige, durch Bewegung ausgelöste Dystonie Im Kindheits- oder Jugendalter setzen halbseitige, dystone Verkrampfungen der Extremitäten ohne Bewusstseinsstörung ein, die weniger als 5 min andauern, sich viele Male am Tag wiederholen können und in typischer Weise durch Bewegung der betroffenen Gliedmaßen ausgelöst werden. Das Auftreten ist häufig familiär (autosomal-dominant oder rezessiv erblich). Therapeutisch sind Antiepileptika wirksam, speziell Carbamazepin, auch Valproat, das die GABA-Rezeptoren aktiviert.

3Diagnostik. Ein diagnostisch wichtiges Merkmal ist, dass die Störung nach dem Nacht- oder Mittagsschlaf geringer, nach

gen mit der Tiefenhirnstimulation haben eine erhebliche postoperative Besserung bei durchschnittlich 70–90% der Patienten gezeigt. Über die Tiefenhirnstimulation bei sekundären Dystonien liegen nur einzelne Fallberichte vor, wobei die Ansprechrate sehr variabel ist. 23.5

Athetose

3Ursachen und Symptome. Die athetotische Bewegungsstörung (Beschreibung 7 Kap. 1.7.5) betrifft in reinen Fällen vor allem die Hände und Füße. Bei stärkerer Ausprägung sind auch proximale Muskelgruppen und Gesicht betroffen. Die Athetose tritt einseitig (Hemiathetose) oder doppelseitig auf (Athétose double). Sie ist selten das einzige neurologische Symptom. Meist ist sie mit spastischen Lähmungen, choreatischen oder torsions-

dystonischen Bewegungsstörungen kombiniert. Oft ist das Sprechen artikulatorisch schwer gestört. Hemiathetose: Sie kommt im frühen Kindesalter als Folge einer umschriebenen, perinatalen Hirnschädigung oder Infektionskrankheit mit zerebraler Beteiligung vor. Bei Erwachsenen kann sie sich im Abstand von Wochen oder Monaten an einen Linsenkerninfarkt mit Hemiplegie anschließen. Die Bewegungsstörung schreitet, wenn sie ihre volle Entwicklung erreicht hat, nicht fort, so dass die Lebenserwartung nicht vermindert ist. Athétose double: Meist Ausdruck einer perinatalen Hirnschädigung (Hypoxie, Kernikterus). Die Symptome setzen bereits im 1. Lebensjahr ein, sie bleiben dann aber oft noch unerkannt, da den Eltern vielfach der Unterschied zwischen der pathologischen und der normalen Motorik des Kleinkindes nicht bekannt ist. Erst am Ende des ersten Jahres fällt eine Verzögerung der motorischen Entwicklung der Kinder auf. Häufig bestehen epi-

532

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

leptische Anfälle. Viele Kinder zeigen einen geistig-seelischen Entwicklungsrückstand.

23

. Tabelle 23.5. Syndromale Klassifikation des Tremors (Movement Disorder Society 1998) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

3Therapie und Prognose. Die Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Die einzige erfolgversprechende Therapie ist die krankengymnastische Übungsbehandlung z.B. nach der BobathMethode: Es handelt sich dabei um Übungen, die die Enthemmung primitiver Bewegungsschablonen bei zentralen Motilitätsstörungen berücksichtigen. Die Prognose ist bei voller Ausbildung ungünstig. Viele Kinder sterben vor der Pubertät. Bei leichteren Formen können die Kranken dagegen einen Beruf erlernen und ein höheres Alter erreichen. Die Intelligenz ist in diesen Fällen nur wenig beeinträchtigt. 23.6

Tremor

3Vorbemerkung und Einteilung. Der Tremor gehört zu den häufigsten Bewegungsstörungen. Er ist definiert als rhythmische, unwillkürliche Bewegung eines Körperteils. Die Einteilung kann nach phänomenologischen Kriterien (7 Kap. 3) oder syndromal erfolgen. Phänomenologisch wird der Tremor nach seinem Auftreten als Halte-, Ruhe oder Zielbewegungstremor beschrieben. Seine Frequenz wird als nieder- (2–4 Hz, mittel- (4–7 Hz) oder hochfrequent (>7 Hz) angegeben. Seine Bewegungsamplitude, als grob- oder feinschlägig bezeichnet, beinhaltet auch einen Hinweis darauf, ob der Tremor durch wechselnde Aktivierung antagonistischer Muskeln (grobschlägig) oder Koinnervierung entsteht. Die in . Tabelle 23.5 wiedergegebenen syndromale Gliederung entspricht den Vorschlägen der Movement Disorders So. Abb. 23.9. Synopsis verschiedener Tremorformen und Tremorfrequenzen. (Nach Deuschl 1995)

Verstärkter physiologischer Tremor Klassischer essentieller Tremor Orthostatischer Tremor Dystoner Tremor Parkinsontremor Zerebellärer Tremor Holmes-Tremor Medikamentös induzierter und toxischer Tremor Tremor bei peripheren Neuropathien Psychogener Tremor

ciety von 1998. Bestimmte Tremorformen sind relativ typisch für bestimmte Krankheiten (z.B. Parkinsontremor, daher wurde in . Abbildung 23.9 die Phänomenologie mit der syndromalen Zuordnung zusammengeführt, was eine rasche Orientierung bei den verschiedenen Tremorformen erlaubt. 3Symptome. Die Tremorsyndrome, ihre Entstehung und Phänomenologie wurden in Kap. 1.8 vorgestellt. Wir besprechen hier ihre wesentlichen klinischen Charakteristika und die Therapie. 3Diagnostik. Elektrophysiologische Tremoranalyse: Eine gewisse diagnostische Hilfe kann bei der Differenzierung der einzelnen Tremorformen das EMG geben. In der kontinuierlichen Mehrkanaluntersuchung kann man Frequenz und Frequenzkonstanz des Tremors ebenso beurteilen wie das Vorliegen eines An-

Diagnose

Aktivierung

Frequenz

durch

Ruhe HalteZielinnervation bewegung

Physiologischer Tremor Verstärkter physiologischer Tremor Essentieller Tremor Klassischer essentieller Tremor Dystoner Tremor Orthostatischer Tremor

Tremor bei M. Parkinson Cerebellärer Tremor Myorhythmie 0 häufig vorkommende Frequenzen

5 selten vorkommende Frequenzen

10

15 Hz in der Regel vorhanden

kann vorkommen

23

533 23.6 · Tremor

tagonistentremors (mit oder ohne Lückenphänomene). Während leichter Willkürinnervation bleibt beim Parkinsontremor und beim essentiellen Tremor die Rhythmik zunächst der Willkürmotorik unverändert unterlagert. Dies ist beim psychogenen Tremor nicht der Fall. Beim essentiellen Tremor registriert man einen 6–12/s Halte- und Aktionstremor mit Koaktivierung antagonistischer Muskeln (. Abb. 23.10).

reose und bei Einnahme verschiedener Medikamente, die das (β-)adrenerge System stimulieren, verstärkt, da sie die Aktivität, nicht jedoch die Frequenz des zentralen Schrittmachers beeinflussen.

3Therapieprinzipien. Die therapeutischen Möglichkeiten für die Behandlung des Tremors sind vielfältig, leider aber auch nur in beschränktem Maße wirksam (s. Abb. 23.6). 4 Betablocker haben eine Wirksamkeit bei nahezu allen Tremorformen, bei denen eine adrenerge Auslösung oder Verstärkung vorliegt (verstärkter physiologischer Tremor, essentieller Tremor). 4 Primidon hat bei manchen Formen des essentiellen Tremors eine gute Wirksamkeit. Dosierung 2-mal 250 mg/Tag. 4 L-Dopa, das klassische Antiparkinsonmittel, wirkt auf die reine Tremorsymptomatik des Parkinson nur beschränkt. 4 Anticholinergika haben eine bessere Wirkung beim Parkinson-Tremor, sind jedoch mit erheblichen Nebenwirkungen belastet und können psychische Störungen auslösen. 4 Auch Botulinumtoxin ist bei Tremor, besonders zusammen mit Dystonien und ganz umschriebenen, essentiellen Tremorformen eingesetzt worden. 4 Sehr eindrucksvolle Ergebnisse erzielt man mit der stereotaktischen Stimulation der Thalamuskerne, eine Behandlung, die v.a. bei Parkinson-Tremor, schwerem essentiellen Tremor und symptomatischem Tremor, z.B. Bindearmtremor bei MS, in Frage kommt.

Der essentielle Tremor ist die häufigste Tremorform. Bei 50% der Betroffenen ist er familiär. Es gibt dominant-erbliche, aber auch sporadische Fälle. In der Mehrzahl der Fälle setzt der essentielle Tremor vor dem 20. Lebensjahr ein. Ein zweiter Gipfel liegt um das 60. Lebensjahr. Die Lebenserwartung ist nicht verkürzt.

23.6.1 (Verstärkter) physiologischer Tremor Der physiologische Tremor ist feinschlägig, oft asymptomatisch und besitzt keinen Krankheitswert. Er tritt individuell unterschiedlich stark auf und wird emotional verstärkt. Jeder Mensch kennt diesen Tremor bei Aufregung, Lampenfieber, bei und nach heftigen Auseinandersetzungen. Auch Hyperventilation verstärkt ihn. Der physiologische Tremor wird auch bei Hyperthy. Abb. 23.10. EMG beim essentiellen Tremor. Die Frequenz ist höher als beim M. Parkinson

M. ext. dig. com.

M. flex. carp. rad. M. inteross. dors. I M. abd. poll. brev.

23.6.2 Essentieller Tremor

3Symptome. In Ruhe liegt kein Tremor vor. Es handelt sich um ein kombiniertes Halte- und Intentionszittern in der Frequenz 6–12/s, hauptsächlich beider Hände, aber auch des Kopfes (als Ja-Ja- oder Nein-Nein-Tremor) und des Unterkiefers, das bei Erregung zu-, nach Alkoholgenuss abnimmt. An den Händen besteht er in alternierenden Beuge- und Streckbewegungen der Finger, im Gegensatz zum Supinations-Pronationstremor des Parkinson-Syndroms. Er macht sich besonders beim Schreiben, Trinken und Essen bemerkbar und ist sozial sehr diskriminierend, weil die Betroffenen oft für Trinker gehalten werden. Aufregung und Kaffee verstärken ihn, Der Verlauf ist nur manchmal progredient. 3Therapie. Der Tremor wird auf abnorme Empfindlichkeit betaadrenerger Rezeptoren zurückgeführt. Entsprechend ist zur Behandlung häufig Propranolol (Dociton®) 3-mal 40 mg/Tag wirksam, das die β-Rezeptoren-stimulierende Wirkung des körpereigenen Adrenalins blockiert. Propranolol kann Asthmaanfälle provozieren. Es sind auch Erfolge einer Behandlung mit dem kardioselektiven β-Blocker Metoprolol (100–200 mg/Tag) und mit Primidon berichtet worden (von 125 mg/Tag bis 750 mg/Tag, Cave: Müdigkeit). Die Wirksamkeit von Primidon spricht für die Beteiligung zentraler Mechanismen. Auch Gabapentin (bis 3-mal 400 mg) soll den essentiellen Tremor günstig beeinflussen. Bei Tremor der Nacken- und Halsmuskulatur kann eine Behandlung mit Botulinumtoxin helfen.

100 ms

534

Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Exkurs Weitere Tremorformen entsprechend der internationalen Einteilung

23

Orthostatischer Tremor Der orthostatische Tremor ist selten. Sobald die Patienten stehen, tritt ein Tremor der Beine mit einer Frequenz von 13–18/s auf, der dazu führt, dass die Patienten schwanken und bei starker Ausprägung zu Fall kommen. Diese Unsicherheit beim Stehen und manchmal beim Gehen führt den Patienten zum Arzt. In der Untersuchung können die Patienten nicht die Romberg-Stellung einnehmen und den Seiltänzergang ausführen. Man wird vergeblich nach einer zerebellären oder peripheren Läsion suchen. Der Tremor der Beine ist synchron. Der Tremor ist mit dem bloßen Auge meist nicht erkennbar. Er kann mit Oberflächenelektroden registriert werden. Zur Behandlung wird Clonazepam oder Gabapentin empfohlen. Dystoner Tremor Der dystone Tremor tritt nur in Verbindung mit einer im gleichen Körperabschnitt bestehenden Dystonie auf. Dieser Tremor, der meist fokal beginnt, weist häufig eine irreguläre Amplitude oder eine variable Frequenz unter 7 Hz auf. In der Regel besteht ein Halte- und Aktionstremor, der üblicherweise nicht in Ruhe beobachtet wird. Bei der Behandlung des dystonen Kopftremors hat sich in den letzten Jahren zunehmend die lokale Behandlung mit Botulinumtoxin durchgesetzt. Dabei erfolgt, eine auf die Größe des betroffenen Muskels abgestimmte Injektion. Der therapeutische Effekt hält für die Dauer von ca. 3–4 Monaten. Anschließend ist eine erneute Behandlung nötig. Eine etablierte Therapie des dystonen Tremors der Extremitäten gibt es darüber hinaus nicht. Bei dem Vorliegen einer komplexen Bewegungsstörung unter der Mitbeteiligung von vielen Muskelgruppen ist eine lokale Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin oft nicht möglich. In Einzelfällen kann ein Behandlungsversuch mit Clonazepam oder Anticholonergika durchgeführt werden. Parkinsontremor Er wurde in 7 Abschnitt 23.1 besprochen. Zerebelläre Tremorformen Sie werden bei den Krankheiten des Kleinhirns besprochen. Charakteristisch ist der Zieltremor (früher falsch als Intentionstremor bezeichnet): Je näher sich der Finger oder die Hand dem Ziel nähert, umso größer werden die groben Ausschläge des Tremors. Der Tremor ist in Ruhe nicht vorhanden. Der Haltetremor ist gering ausgeprägt und nimmt bei Zielbewegungen zu. Daher auch der Bezeichnung als Zieltremor. Er ist niederfrequent (etwa 5 Hz) und grobschlägig. Diese Tremorform tritt, wie der Name schon andeutet bei Kleinhirnerkrankungen auf. Die Kleinhirnschädigung kann entzündlich (z.B. Multiple Skle-

rose), degenerativ (z.B. MSA-C), ischämisch oder durch raumfordernde Prozesse verursacht sein. Der zerebelläre Tremor ist schwierig zu behandeln. Medikamentöse Behandlungsversuche mit Propranolol, Carbamazepin, Clonazepam, Physostigmin und Ondansetron haben nur eine geringe oder keine Wirkung gezeigt. Führt das Ausmaß des zerebellären Tremors zu einer erheblichen Behinderung, sollte ein stereotaktischer-neurochirurgischer Eingriff in Erwägung gezogen werden. Eine Tiefenhirnstimulation im Thalamus kann zu einer deutlichen Reduktion dieser Tremorform führen, ohne jedoch die anderen zerebellären Symptome zu bessern. Holmes-Tremor Der Holmes Tremor wird auch als rubraler oder Bindearmtremor bezeichnet, da er bei Läsionen im Bereich vom Nucleus ruber gefunden wird. Er ist sehr niederfrequent (3–5 Hz) und grobschlägig. Häufig besteht ein Ruhe- und Haltetremor, der bei Zielbewegungen zunimmt. Wenn eine umschriebene Hirnläsion identifiziert werden kann (z.B. Hirnstamminsult), dann findet sich zwischen der Läsion und dem Auftreten des Tremors typischerweise eine Latenz (4 Wochen bis 2 Jahre). Die Pharmakotherapie gestaltet sich ebenso schwierig wie die des zerebellären Tremors. In Einzelfällen können Dopaminergika, Trihexyphenidyl und Clonazepam wirksam sein. Führt die medikamentöse Therapie nicht zum gewünschten Erfolg und liegt eine schwere Behinderung vor, empfiehlt sich eine stereotaktische Behandlung (Tiefenhirnstimulation oder Thalamotomie). Medikamenteninduzierter Tremor Das Spektrum der klinischen Ausprägung eines medikamentös oder toxisch bedingten Tremors kann sehr heterogen sein und hängt von der Medikamentengruppe und den individuellen Dispositionen des Patienten ab. Die häufigste Form ist ein verstärkter physiologischer Tremor, der unter Einnahme von Sympathomimetika oder Antidepressiva auftritt. Eine weitere Tremorform, die nicht selten nach der Einnahme von Neuroleptika oder Dopaminrezeptorblockern auftritt, ist der klassische Parkinson-Tremor. Das Auftreten eines zerebellären Tremors kann z.B. nach einer Überdosierung von Lithium auftreten. Eine Sonderform des Tremors stellt der tardive Tremor dar, der nach langer Neuroleptika-Behandlung auftritt und sich als Haltetremor, aber auch als Ruhe- und Intensiontremor manifestieren kann. Tremor bei peripherer Neuropathie Bei dieser Art des Tremors handelt es sich um eine sehr seltene Variante, die im Rahmen von schweren peripheren Neuropathien auftritt. Die Ausbildung eines Tremors wurde gehäuft bei demyelinisierenden Polyneuropathien, bei IgM- Paraproteinämien und bei der HMSN Typ I beobachtet.

535 23.7 · Myoklonien

In schwer verlaufenden Fällen kann der essentielle Tremor allerdings so ausgeprägt sein, dass er den Patienten erheblich behindert und pflegeabhängig macht. Dann kann mit Stimulation des VIM-Kerns des Thalamus bei etwa 70% der Patienten eine dramatische Besserung erzielt werden. > Der essentielle Tremor ist die häufigste Tremorform. Er

wird meist als Alkohol- oder als Parkinson-Tremor fehldiagnostiziert und dann falsch behandelt.

26.6.3 Psychogener Tremor Der psychogene Tremor ist ein plötzlich einsetzender Halte- und Bewegungstremor von wechselnder Stärke, oft grob ausfahrend. Er ergreift häufig synchron verschiedene Muskelgruppen, setzt sich auch auf proximale Gliedabschnitte fort und hat vielfach Ausdruckscharakter. Er sistiert bei Ablenkbewegungen. Starke Schwankungen in der Ausprägung sind charakteristisch. Es gibt aber Fälle, in denen die Entscheidung über die diagnostische Zuordnung des Tremors erst nach der Beobachtung des weiteren Verlaufes möglich ist. Die folgenden Kriterien sprechen für einen psychogenen Tremor: 4 plötzlicher Beginn und plötzliche Remissionen, 4 Kombination verschiedener Tremorcharakteristika, 4 Sistieren bei Ablenkung, 4 Veränderung des Tremors bei kontralateralen Willkürbewegungen und 4 Koaktivierung antagonistischer Muskelgruppen. Die Behandlung des psychogenen Tremors ist schwer. Medikamentös kann höchstens eine antidepressive Begleittherapie ange-

boten werden. Die Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Störung ist auch für Psychiater und Psychotherapeuten nicht vorhersehbar. 23.6.4 Alkoholbedingte Tremorformen Eine Verwechslung mit dem unregelmäßigen groben Wackeln beim Delirium tremens ist nicht möglich, wenn man den zeitlichen Ablauf und die psychopathologischen und vegetativen Begleitsymptome beachtet. Hierbei handelt es meist um eine Asterixis, also einen Myoklonus, der bei metabolischen Syndromen vorkommt. Feiner Ruhe- und Intentionstremor ist ein regelmäßiges Symptom beim chronischen Alkoholismus, besonders, aber nicht ausschließlich, in der Entziehungssituation, z.B. morgens. Ein wichtiges diagnostisches Kriterium ist das Nachlassen dieses Tremors nach Alkoholgenuss im Laufe des Tages (s. aber auch essentieller Tremor). Auch dieser Tremor soll ein verstärkter physiologischer Tremor sein. 23.7

Myoklonien

3Definition. Myoklonien sind plötzlich auftretende unwillkürliche, kurzdauernde Muskelkontraktionen (meist 1 Jahr. Tourette-Syndrom. Multiple motorische und vokale Tics, meist negativ gefärbt, beginnen in Kindheit oder jungem Erwachsenenalter. Symptome: Zwangssymptome, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, soziale Auffälligkeit.

24 24 Degenerativ bedingte Ataxien 24.1 Nichterbliche, degenerative Ataxien – 542 24.2 Erbliche, degenerative Ataxien – 543 24.2.1 Friedreich-Ataxie – 543 24.2.2 Andere, autosomal-rezessive Krankheiten mit Ataxie – 544 24.2.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA) – 544

542

Kapitel 24 · Degenerative bedingte Ataxien

> > Einleitung

24

Bis vor wenigen Jahren wurden die degenerativen Ataxien nach neuropathologischen Gesichtspunkten klassifiziert und beschrieben. Drei Krankheiten wurden besonders herausgestellt: die spinozerebelläre Friedreich-Ataxie (. Abb. 24.1), die in der Klinik nach Nonne und Pierre Marie benannte zerebelläre Heredoataxie und die olivopontozerebelläre Atrophie. Diese Einteilung war sehr unbefriedigend: In einer Kategorie wurden ätiologisch und in Symptomatik und Verlauf unterschiedliche Krankheiten zusammengefasst. Innerhalb einer betroffenen Familie konnten unterschiedliche Syndrome und Verlaufsformen beobachtet werden. Aus Genetik und Molekulargenetik, in deren Folge auch neue diagnostische Methoden eingeführt wurden, ergibt sich heute eine ganz neue Einteilung der Ataxien.

. Abb. 24.2. CT eines Patienten mit zerebellärer Ataxie im Erwachsenenalter, Parkinsonismus und okulomotorischen Symptomen (olivopontozerebelläre Atrophie). (H. Zeumer, Hamburg)

Allgemeine Vorbemerkungen Die Leitsymptome der Ataxien sind in . Kap. 1 ausführlich beschrieben. Im Folgenden werden die Leitsymptome bei den einzelnen Krankheitsentitäten kurz wiederholt und auf besondere Symptomkonstellationen hingewiesen. 3Einteilung. Man unterscheidet zwischen den autosomal-rezessiven oder autosomal-dominanten erblichen und nichterblichen Ataxien. Die nichterblichen sind entweder symptomatisch bei bekannter Ursache (z.B. alkoholtoxisch), oder sie werden bis zur Aufklärung einer Ursache idiopathisch oder sporadisch genannt. Die nachfolgende Darstellung muss sich auf klinisch besonders wichtige Formen degenerativer Ataxien beschränken. . Tabelle 24.1 listet die sporadischen und erblichen degenerativen Ataxien auf. 3Diagnostik. Die verschiedenen Laboruntersuchungen, die bei der Ursachenforschung symptomatischer Ataxien sinnvoll sind, sind in . Tabelle 24.2 zusammengestellt. Die bildgebende Diagnostik mit CT und MRT ist ebenfalls unerlässlich zum Ausschluss anderer Kleinhirnkrankheiten. Oft sind CT oder MRT allerdings normal oder zeigen eine oft nicht einmal besonders eindrucksvolle Kleinhirnatrophie (. Abb. 24.2). 24.1

. Abb. 24.1. Friedreich-Fuß. Originalphotographie eines sog. »Friedreich-Fußes«, beschriftet von Erb 1903

Nichterbliche, degenerative Ataxien

Untergruppen Die wichtigsten und häufigsten symptomatischen Ataxien sind die Ataxien bei alkoholbedingter Kleinhirnatrophie (7 Kap. 29), die medikamentös-toxisch ausgelösten (7 Kap. 30) und die para-

543 24.2 · Erbliche, degenerative Ataxien

24

. Tabelle 24.1. Einteilung der degenerativen Ataxien (Auswahl) (Nach Klockgether 1995)

Gruppe

Unterform

Symptome

Besondere

Autosomal-dominante Ataxien

Spinozerebelläre Ataxien (SCA) SCA1 SCA2 SCA3 (Machado-Joseph) SCA6

Ataxie + O + S + PNP Ataxie + O + PNP Ataxie + EP + S + PNP Ataxie

CAG-Repeat im Ataxin-1-Gen CAG-Repeat im Ataxin-2-Gen CAG-Repeat im Ataxin-3-Gen CAG-Repeat im P/Q-Calciumkanal

Familiäre episodische Ataxie

Episodische Ataxie, Dysarthrie, Nystagmus

Mutation in Ionenkanälen

Zerebrotendinöse Xanthomatose

Ataxie + S + PNP + Katarakt + Diarrhoe

Cholestanol i.S. erhöht. Th: Chenodeoxycholsäure + Statin

Autosomal-rezessive Ataxien

Ataxie mit Teleangiektasien (Louis Bar)

Mutation im ATM-Gen

O Störung der Okulomotorik, S Spastik, PNP Polyneuropathie, EP extrapyramidale Symptome.

. Tabelle 24.2. Labordiagnostik bei degenerativen Ataxien (Nach Klockgether et al. 1995)

Krankheit

Laborparameter

Abetalipoproteinämie Ataxie bei Vitamin-E-Mangel Ataxie bei Malabsorptionssyndrom Akanthozytose M. Refsum Ataxie teleangiectasie Adrenoleukodystrophie GM2-Ganglosidosen Ataxie alkoholtoxischer Genese Ataxie bei Hypothyreose PCD Mitochondriale Zytopathien

Vitamin E; Lipide (β-Lipoprotein) Vitamin E Vitamin E Lipide (β-Lipoprotein) Phytansäure α-Feto!!protein Überlangkettige Fettsäuren Hexosaminidase A MCV, γ-GT, CDT Schilddrüsenwerte Anti-Yo Laktat (Serum, Liquor)

neoplastische zerebelläre Degeneration (7 Kap. 13). Die Ataxie bei Malabsorptionssyndrom mit Vitamin-E-Mangel ist selten und durch Bestimmung des Vitaminspiegels zu diagnostizieren. Die Verläufe sind bei diesen Formen ähnlich. Daneben gibt es noch eine Reihe von sporadischen zerebellären Atrophien, die vorläufig als idiopathisch bezeichnet werden. Sie treten mit rein zerebellärer Symptomatik, aber auch von nicht zerebellären Symptomen begleitet auf (Multisystematrophie, Kap. 23.1.2). 24.2

Erbliche, degenerative Ataxien

24.2.1 Friedreich-Ataxie 3Epidemiologie und Molekulargenetik. Die Prävalenz beträgt 1–2 auf 100.000 Neugeborene. Der Krankheit liegt der autosomal-rezessive Erbgang zugrunde. Das Auftretensrisiko für Geschwister eines Erkrankten beträgt 25%.

Das Gen für die Friedreich-Ataxie wurde auf Chromosom 9 lokalisiert. Bei 90% der Kranken liegt eine Repeat-Vermehrung eines im Intron 1 des X-25-Gens gelegenen GAA-Repeats auf das 20- bis 40fache vor. Diese Expansion vermindert oder verhindert die Synthese eines Proteins, das Frataxin genannt wurde. Frataxin spielt eine Rolle im mitochondrialen Eisenmetabolismus. Seine physiologische Funktion scheint in der Regulation von RedoxReaktionen zu liegen. 3Symptome. Die Diagnose der Friedreich-Ataxie stützt sich auf folgende Leitsymptome: 4 langsam fortschreitende Ataxie mit Beginn um die Pubertät, 4 Beeinträchtigung der Vibrationsempfindung, 4 Arreflexie der Beine und Fehlstellung der Zehen mit Überstreckung im Grundgelenk 4 Skelettdeformitäten und 4 Kardiomyopathie. Die ersten Symptome setzen früh in der Pubertät ein. Die volle Symptomatik entwickelt sich über mehrere Jahrzehnte. Die Krankheit beginnt mit einer sensiblen Ataxie, d.h. einer Gangunsicherheit, die sich besonders bei fehlender Augenkontrolle manifestiert. Die Muskulatur der Beine wird hypoton, die Eigenreflexe erlöschen. Distale Sensibilitätsstörungen sind strumpfförmig begrenzt. Das Vibrationsempfinden ist an den Beinen vermindert. Als Folge der Muskelhypotonie und der unphysiologischen Tonisierung der Muskulatur entwickeln sich Skelettdeformitäten: Hohlfuß mit Überstreckung im Grundgelenk und Beugung in den Interphalangealgelenken der Zehen, außerdem Kyphoskoliose infolge mangelhafter Stabilisierung der Wirbelsäule durch die Rückenmuskulatur. Im weiteren Verlauf wird die Ataxie immer mehr zerebellär: Über etwa 5 Jahre entwickeln sich Dysdiadochokinese, Intentionstremor, Nystagmus und Dysarthrie. Fakultativ findet man pathologische Reflexe, Optikusatrophie (bei etwa 50%), pathologische Glukosetoleranz, seltener Nystagmus oder Schwerhörigkeit.

544

Kapitel 24 · Degenerative bedingte Ataxien

Facharzt

Klinisch definierte Unterformen der SCA

24

Nach dem Vorliegen von zusätzlichen Symptomen können die Formen der SCA in drei Gruppen unterteilt werden 4 Autosomal-dominante Ataxie Typ I, bei der in variabler Weise verschiedene neuronale Systeme mit betroffen sind: SCA1, SCA2 und SCA3. Dies sind Plusformen der SCA. Bei den betroffenen Patienten treten etwa 4 Jahre nach Einsetzen der Ataxie okulomotorische Symptome, wie Verlangsamung der Sakkaden oder Augenmuskellähmungen auf, ferner fakultativ

Internistisch tritt bei 20% der Patienten ein Diabetes mellitus auf. Viele Kranke haben eine Kardiomyopathie und sterben an Herzversagen. Das Spektrum der Symptomatik ist also weit. Anderseits ist bei etwa 10% der molekulargenetisch (s.u.) nachgewiesenen Fälle der Katalog der Leitsymptome nicht erfüllt. 3Diagnostik. Elektrophysiologie: Während das EMG normal ist, finden sich in der sensiblen Elektroneurographie sehr niedrige und verzögerte Nervenpotentiale. Die motorische NLG bleibt lange Zeit normal. Im MRT stellt sich in einem fortgeschrittenen Stadium das Halsmark atrophisch dar. Molekulargenetische Diagnostik: Die Diagnose kann durch den molekulargenetischen Nachweis der Repeat-Verlängerung bestätigt werden. 3Therapie. Eine medikamentöse Behandlung ist nicht bekannt. 24.2.2 Andere, autosomal-rezessive Krankheiten

mit Ataxie In diese heterogene Gruppe von Krankheiten gehören rezessiv erbliche Stoffwechselkrankheiten, wie die Abetalipoproteinämie und die Refsum-Krankheit, die auf einer Störung des Phytansäurestoffwechsels beruht. Refsum-Krankheit Die Refsum-Krankheit ist aus therapeutischen Gründen wichtig: Phytansäurearme Diät und regelmäßige Plasmapheresen bessern die Symptome deutlich. Weitere stoffwechselbedingte, erbliche Ataxien sind in . Tabelle 24.1 und 24.2 aufgeführt.

pathologische Reflexe, Symptome einer Funktionsstörung der Basalganglien, Sensibilitätsstörungen. Bei manchen Kranken entwickelt sich eine Demenz 4 Autosomal-dominante Ataxie Typ II, die mit einer pigmentösen Retinadegeneration einhergeht: SCA7 4 Autosomal-dominante Ataxie Typ III, bei der keine anderen Symptome auftreten: z.B. SCA6

24.2.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre

Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA) Inzwischen kennt man eine Reihe von Unterformen der SCA, die alle durch die Lokalisation des Gendefekts definiert sind. In . Tabelle 24.1 sind 4 Unterformen erwähnt. Die Zahl der Unterformen steigt allerdings ständig an. 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome setzen meist nach dem 25. Lebensjahr ein. In einer Entwicklung über viele Jahre bis Jahrzehnte treten die Symptome einer zerebellären Ataxie auf, Gangstörung steht mehr im Vordergrund als die Standataxie. Die verschiedenen Unterformen der SCA unterscheiden sich im Ausmaß des Nystagmus und der dysarthrischen Sprechstörung, die neben der Artikulation auch Stimmgebung und Sprechatmung betrifft und sich durch raue und unkontrollierte Stimmgebung und Sprechen mit Luftverschwendung äußert. Die Muskulatur wird nicht hypoton, Nystagmus ist selten und dann nur gering ausgeprägt. 3Molekulargenetische Untersuchung. Bei den meisten Formen der spinozerebellaren Ataxie wurde das Krankheitsgen entdeckt und eine Expansion einer Trinukleotid-Repeatsequenz als Mutation identifiziert. Der molekulargenetische Nachweis einer Mutation ist heute ein wesentlicher Beitrag zur Diagnosestellung.

545 24.2 · Erbliche, degenerative Ataxien

In Kürze Nichterbliche, degenerative Ataxien Ataxien bei alkoholbedingter Kleinhirnatrophie, medikamentös-toxisch ausgelöste und paraneoplastische zerebelläre Degeneration.

niedrige und verzögerte Nervenpotenziale; MRT: Im fortgeschrittenen Stadium atrophisches Halsmark. Medikamentöse Therapie ist nicht bekannt. Differentialdiagnose: Hereditäre motorisch und sensible Neuropathie (HMSN).

Erbliche, degenerative Ataxien Friedreich-Ataxie. Prävalenz: 1–2/100.000 Neugeborene, durch autosomal-rezessive Vererbung. Symptome setzen in Pubertät ein, entwickeln sich über Jahrzehnte: langsam fortschreitende Ataxie, Beeinträchtigung der Vibrationsempfindung, Arreflexie der Beine und Fehlstellung der Zehen mit Überstreckung im Grundgelenk, Skelettdeformitäten, Kardiomyopathie, Optikusatrophie, pathologische Reflexe und Glukosetoleranz. Diagnostik: EMG ist normal; sensible ENG: sehr

Andere, autosomal rezessive Krankheiten mit Ataxie. Rezessiv erbliche Stoffwechselkrankheiten wie Abetalipoproteinämie und Refsum-Krankheit. Spinozerebelläre Ataxien (SCA). Treten nach dem 25. Lebensjahr auf. Entwicklung der Symptome über viele Jahre bis Jahrzehnte: Gangstörungen, Nystagmus, dysarthrische Sprechstörung. Diagnostik: Molekulargenetischer Nachweis. Therapie: Physiotherapie.

24

25 Demenzkrankheiten 25.1 Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT) – 548 25.2 Vaskuläre Demenz – 551 25.3 Pick-Komplex – 553 25.3.1 Pick-Syndrom – 553 25.3.2 Frontotemporale Demenz und primär progressive Aphasie – 554

25.4 Andere Formen degenerativer Demenzkrankheiten – 554 25.4.1 Lewy-Körper-Demenz – 554

25.5 Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans) – 555

547 25 · Demenzkrankheiten

> > Einleitung Die Menschen werden immer älter. In den letzten 30 Jahren ist die mittlere Lebenserwartung bei Männern wie Frauen um über 5 Jahre gestiegen. Heute 50-Jährige haben eine mittlere Lebenserwartung von 85 (Männer) und 90 Jahren (Frauen). Mit zunehmendem Alter nimmt die Inzidenz demenzieller Störungen zu. Ab dem 50. Lebensjahr verdoppelt sich die Häufigkeit mit jedem Jahrzehnt. Der zu erwartende große Zuwachs an über 90-Jährigen wird mit einer exponentiellen Steigerung der Demenzkranken in dieser Altersgruppe beantwortet. Nach Schätzungen sind 30–60% der über 90-Jährigen dement. Dies wird sich zu einem medizin-ökonomischen Problem ersten Ranges in den nächsten zwei Jahrzehnten entwickeln. Es ist seit langem bekannt, dass Demenzkrankheiten mit dem Lebensalter und mit bestimmten vaskulären Risikofaktoren assoziiert sind. Gegenwärtig hat sich die Forschung neben der Epidemiologie auf die molekularbiologischen Grundlagen verschiedener Formen von Demenz konzentriert. Dabei hat sich das Spektrum der degenerativen Demenzen erweitert. Andererseits erkennt man Gemeinsamkeiten zwischen den früher als streng gegensätzlich gesehenen großen Gruppen der vaskulären und degenerativen Demenzen. Den Fortschritten in der Diagnostik entsprechen zurzeit noch nicht die erhofften Fortschritte in der Therapie, wenngleich erfolgversprechende Medikamente in der Erprobung und teilweise auch in der Anwendung sind. Dazu gehört auch die Behandlung der nichtkognitiven Symptome, die die persönlichen und sozialen Auswirkungen der demenziellen Symptome im engeren Sinne verstärken.

Vorbemerkungen: Demenz 3Definition. Unter Demenzkrankheiten versteht man klinisch und pathologisch-anatomisch definierte Krankheiten, die durch ein Nachlassen kognitiver Leistungen gekennzeichnet sind, was die gewohnte Lebensführung beeinträchtigt. Bei Patienten mit einem Intelligenzmangel im mittleren und höheren Lebensalter muss entschieden werden, ob eine Debilität, d.h. ein angeborener, oder eine Demenz, d.h. ein erworbener Intelligenzdefekt vorliegt. Für die erste, grobe Unterscheidung orientiert man sich am Wissensbestand und an den schriftlichen Äußerungen. Ein Mensch mit angeborenem Intelligenzmangel hat seine Intelligenz nie voll entwickeln können. Seine Persönlichkeit ist oft undifferenziert, sein Wissensbestand eng und sein Interessenkreis auf die konkreten Bedürfnisse seines täglichen Lebens begrenzt. Satzbau und Orthographie sind mangelhaft. In der Demenz sind noch lange Zeit Reste der früheren Persönlichkeit mit ihren Interessen, ihrem Wissen und ihrem sozialen Verhalten zu erkennen. Die schriftlichen Äußerungen sind u.U. dysgraphisch entstellt, zeigen aber doch noch das frühere sprachliche Niveau an.

25

Normale Hirninvolution im Alter. Demenzkrankheiten müssen

von der normalen Hirninvolution des höheren Lebensalters unterschieden werden. Oberhalb eines gewissen, individuell variablen Alters nimmt bei allen Menschen neben der körperlichen auch die geistige Leistungsfähigkeit ab. Merkfähigkeit, Auffassung und intellektuelle Umstellungsfähigkeit lassen nach. Die Gemütsregungen werden flacher, und der Interessenkreis engt sich ein. Eine Erweiterung der inneren oder äußeren Liquorräume berechtigt nicht zu unmittelbaren Schlüssen auf Persönlichkeit und Intelligenz. Die Nervenzellen sind in großer, numerischer Überzahl vorhanden, so dass auch bei einem gewissen Grad von Hirnatrophie zunächst genügend Substanzreserve zur Sicherung der Leistungsfähigkeit vorhanden ist. Zudem haben neuere quantitative morphologische Untersuchungen gezeigt, dass die altersphysiologischen Verluste an kortikalen Nervenzellen geringer sind als bisher geglaubt wurde. Eine Korrelation zwischen CTBefund und Intelligenzleistungen lässt sich nicht nachweisen. Pathologisch-anatomisch findet man im höheren Lebensalter eine allgemeine Atrophie des Gehirns mit Ablagerung von Stoffwechselprodukten, die weiter unten bei der AlzheimerKrankheit besprochen werden. In diesen Fällen sprechen wir aber nicht von Demenz oder hirnatrophischem Prozess, zumal die pathologisch-anatomischen Veränderungen auch bei voller intellektueller Leistungsfähigkeit vorliegen können. 3Allgemeine Epidemiologie der Demenzkrankheiten. Man schätzt, dass in der westlichen Welt 5–10% der Menschen über 65 Jahre und 30–40% der Menschen über 80 Jahre durch Demenz in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind. Die Prävalenz, d.h. die Häufigkeit der Fälle zum Zeitpunkt einer Untersuchung, nimmt mit dem Lebensalter exponentiell zu, und es wird geschätzt, dass sie sich alle 4–5 Jahre verdoppelt. Für die Bundesrepublik schätzt man die gegenwärtige Prävalenz der Demenzkrankheiten auf 1,3 Mio. Personen. Die beiden wichtigsten Krankheitsgruppen, degenerative (speziell M. Alzheimer) und vaskuläre Demenz, kommen in den westlichen Ländern gleich häufig vor. Bei asiatischen Völkern soll die vaskuläre Demenz überwiegen. M. Alzheimer und zerebrale Mikroangiopathie kommen nach Autopsiebefunden in bis zu 18% der Fälle gemeinsam vor. Ob dies ein zufälliges Zusammentreffen von zwei häufigen Alterskrankheiten anzeigt oder auf gemeinsame, ätiologische Faktoren schließen lässt, wird gegenwärtig lebhaft diskutiert. Unter Berücksichtigung ihrer deutlich höheren Lebenserwartung erkranken Frauen, relativ gesehen, etwas seltener an Demenzkrankheiten, v. a. an M. Alzheimer. > Demenzkrankheiten nehmen mit dem Alter exponenti-

ell zu. Die wichtigsten Krankheiten sind die AlzheimerKrankheit und die vaskuläre Demenz. Beide Krankheiten können gemeinsam vorkommen und überlappen.

548

Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Exkurs Pathogenese und Immunologie Das Beta-A4-Protein besteht aus 39–43 Aminosäuren und wird aus dem Amyloid-Vorläuferprotein abgespalten, das bis zu 770 Aminosäuren enthält. Das Amyloid-Vorläuferprotein ist ein normaler Bestandteil von Zellmembranen. In den Plaques findet man auch Apolipoprotein E, ein Transportprotein, das die Aggregation von βA4-Protein zu neurotoxischem Amyloid stimuliert. In der Folge dieses Prozesses gehen in der Umgebung von Plaques Nervenzellen zugrunde.

25

Immunologische Aspekte. Neben den genannten Veränderungen findet man in den Plaques und im Randsaum von gro-

25.1

Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT)

3Definition. Mit diesem Namen bezeichnet man eine degenerative Hirnkrankheit, die zur Demenz führt. In der angloamerikanischen Literatur ist auch die Bezeichnung SDAT (senile Demenz vom Alzheimer-Typ) üblich. Epidemiologie. Das Erkrankungsalter streut zwischen dem 7.

und 8. Lebensjahrzehnt und darüber. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, aber nur, weil ihr Anteil an dieser Altersklasse viel größer als der der Männer ist. Die Krankheit nimmt meist einen raschen Verlauf und führt nach 4–5 Jahren zur schweren Demenz. Die seltene, familiäre Form hat ein jüngeres Erkrankungsalter. 3Pathologie. Makroskopisch findet man eine Atrophie der Hirnrinde, die besonders die Frontal-, Temporal- und Parietallappen betrifft, ferner in fortgeschrittenen Stadien auch eine Atrophie des Marklagers. Im CT stellen sich diese Veränderungen als globale äußere und innere Hirnvolumenminderung dar (. Abb. 25.1). Subkortikal findet sich regelmäßig eine Degeneration des Nucl. basalis Meynert, der breitgefächert cholinerge Neurone zur Rinde des Großhirns projiziert. Ferner sind das aus dem Locus coeruleus aufsteigende noradrenerge System und das serotonerge System geschädigt, das aus dem Nucl. raphe dorsalis unter anderem in den Hippocampus und den Neocortex projiziert. Diese Veränderungen sollen die nichtkognitiven Symptome erklären. Mikroskopisch sind die frühesten Veränderungen eine Abnahme der Synapsendichte, insbesondere im frontalen und temporoparietalen Assoziationscortex, im entorhinalen Cortex und im Hippocampus. Diese Veränderungen korrelieren mit den Einbußen an kognitiven Leistungen und mit einer Minderutilisation von Glukose, die sich in der Positronenemissionstomographie darstellen lässt.

ßen kortikalen Ganglienzellen Interleukin-6. Dieses ist im Gehirn von nichtdementen alten Menschen nicht nachzuweisen. Man sieht in diesem Befund einen Hinweis darauf, dass immunologische Prozesse in der Pathogenese der Alzheimer-Krankheit mitwirken. Impfung. Die ersten klinischen Anwendungen von Impfungen zur Unterdrückung der immunologischen Prozesse sind leider gescheitert: Enzephalitische Herde wurden beobachtet, und die Entwicklung der Impfung gegen Alzheimer ist zunächst in die experimentelle Phase zurückgedrängt.

In späteren Stadien findet man neurofibrilläre Degeneration und die Bildung von Plaques. Die Fibrillen liegen intrazellulär und bestehen aus dem Protein τ. Plaques sind extrazellulär im Hippocampus, im Cortex und in anderen Hirnregionen gelegene Ablagerungen, die neben anderen Proteinen βA4-Protein enthalten. Die neurofibrilläre Degeneration und die Bildung von Amyloidplaques treten auch bei der normalen Alterung auf. > Die intrazelluläre sog. Alzheimer-Fibrillenveränderung

und die extrazellulären Amyloidplaques sind in einer bestimmten, quantitativ noch nicht genau bestimmbaren Menge für die Alzheimer-Krankheit charakteristisch, aber nicht spezifisch.

3Molekulargenetik. Das Gen, das das Amyloid-Präkursorprotein (APP) kodiert, ist auf dem langen Arm von Chromosom 21 lokalisiert. Interessanterweise finden sich bei Patienten mit Down-Syndrom (Trisomie 21), wenn sie etwa 35 Jahre alt werden, ganz ähnliche histopathologische und histochemische

. Abb. 25.1. Morbus Alzheimer. Globale Hirnvolumenminderung im Computertomogramm. (H. Brückmann, München)

549 25.1 · Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT)

25

Exkurs Diagnosewahrscheinlichkeit bei DAT* Klinisch mögliche DAT: 4 Demenzielles Syndrom ohne alternative Ursache, aber mit Abweichen vom typischen klinischen Bild der DAT, 4 bei Vorliegen einer alternativen Ursache, die aber die Demenz nicht hinreichend erklärt. Klinisch wahrscheinliche DAT: 4 Progrediente kognitives Defizit 4 Aktuell Demenz mit Gedächtnisstörung plus Defizit in einem anderen kognitiven Bereich 4 Ausschluss alternativer Ursachen. 4 Unterstützung der Diagnose durch progredientes Defizit speziell von Sprache, Praxis und visueller Gnosis; Defizit von

Veränderungen wie bei der Alzheimer-Krankheit. Das Apolipoprotein-E4-Allel wird von einem Gen auf dem langem Arm von Chromosom 19 kodiert. Es hat eine Interaktion mit β-Amyloid und beschleunigt dessen Aggregation zu Plaques. Es ist auch mit bestimmten neurologischen Symptomen assoziiert, die sich bei Alzheimer-Patienten finden können. Bei Patienten mit familiärem M. Alzheimer (etwa 5–6%) finden sich Hinweise auf Mutationen im Gen des Amyloid-Vorläuferproteins auf Chromosom 21, im Presenilin-1-Gen auf Chromosom 14 oder im Presenilin-2-Gen auf Chromosom 1. 3Symptome. Die ersten Erscheinungen sind oft uncharakteristische Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel und allgemeine Leistungsschwäche. In diesem Stadium lässt sich noch keine Diagnose stellen. Bald setzen aber sehr charakteristische, neuropsychologische Ausfälle ein: Die Patienten werden vergesslich und verlieren den Überblick selbst über vertraute Situationen und Aufgaben. Sie bekommen Schwierigkeiten beim Rechnen, Lesen und Schreiben und fallen durch Wortfindungsstörungen auf. Bald sind sie nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben oder den Haushalt zu führen. Persönlichkeit, äußere Haltung und gemüthaftes Erleben bleiben in eindrucksvollem Gegensatz dazu lange erhalten. Auch Affektlabilität stellt sich nicht ein. Bei der Untersuchung findet man die Patienten meist zeitlich, oft auch örtlich, selten persönlich nicht voll orientiert. Sie haben eine hochgradige Störung der Merkfähigkeit. Auch die Auffassung und der Wechsel der Einstellung von einem Thema auf das andere sind erheblich vermindert. Die Kranken perseverieren stark, d.h. sie bleiben bei einem gedanklichen Inhalt, manchmal sogar bei einem Wort, hartnäckig haften. Andere neuropsychologische Störungen sind: 4 aphasische Sprachstörungen, 4 bilaterale Apraxie, 4 räumlich-konstruktive Störung und 4 räumliche Orientierungsstörungen.

Alltagsaktivitäten, Verhaltensänderungen, positive Familienanamnese, normaler Standardliquorbefund, normales oder unspezifisch allgemeinverändertes EEG, Hirnatrophie. Sichere DAT: 4 histologisch (Autopsie oder Biopsie) 4 im Falle autosomal-dominanter Vererbung: durch Mutationsanalyse * Nach Leitlinien der DGN 2005

Die Leistungen können in Situationen von unterschiedlicher affektiver Tönung erheblich wechseln. Im Laufe einer längeren Untersuchung ermüden die Patienten rasch und geraten in eine ratlos-traurige Verstimmung oder sogar in eine Katastrophenreaktion, in der keine Aufgabe mehr gelöst wird. Nicht kognitive Veränderungen werden häufig weniger berücksichtigt, obwohl sie einer Therapie besser zugängig sind als die kognitiven. Antriebsmangel findet man bei etwa 70% der Kranken, psychomotorische Unruhe mit Umherwandern, auch Rufen und Schreien bei etwa 60%, Schlafstörungen mit häufigem Aufwachen und nächtlichen Unruhezuständen bei 70%, Ängstlichkeit, auch Depressivität mit sozialem Rückzug bei etwa 40%, Wahnbildung bei etwa 30%, Halluzinationen bei 10% und Aggressivität selbst gegen Bezugspersonen bei 30–40%. Zum Teil lassen sich diese Arten des Erlebens und Verhaltens aus perzeptiven Mängeln und aus falschen Interpretationen erklären, die durch die Merkstörung begünstigt werden. Im Auftreten, in der Kleidung und im sozialen Kontakt wirken die Patienten gepflegt, »die Fassade ist gut erhalten« . Auch die emotionalen Reaktionen sind nicht grob gestört. Neurologisch findet man leichte Reflexdifferenzen und Zeichen von Parkinsonismus. Häufig kann man pathologische Hand-, auch Mundgreifreflexe auslösen. Epileptische Anfälle (einfach und komplex partielle Anfälle mit sekundärer Generalisierung) kommen vor. 3Diagnostik und Bildgebung. Das EEG ist uncharakteristisch. Im CT zeigt sich, je nach Stadium, eine Volumenminderung besonders der Hirnrinde (. Abb. 25.1). In der PET gibt es charakteristische Veränderungen des Glukosemetabolismus temporal und parietal (. Abb. 25.2). Das PET erzielt eine hohe Sensitivität in der Abgrenzung der Lewy-Körperchen-Demenz von DAT. In der Liquordiagnostik gelingt es heute über Spezialuntersuchungen auf Tau-Protein, Amyloid-Präkursor-Protein und andere assoziierte Proteine die Diagnose wahrscheinlicher zu

550

Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

. Abb. 25.2. FDG-(Fluor-DesoxyGlukose-)PET bei mäßig fortgeschrittener Demenz vom Alzheimertyp. Deutlich verminderte metabolische Aktivität temporal und parietal. (U. Haberkorn, Heidelberg)

25

machen. Man findet eine Erniedrigung von Amyloid-Peptid Aβ1–42, Erhöhung von Aβ1–40 sowie von phosphoryliertem und Gesamt-Tau-Protein. Die Bestimmung von Phospho-Tau soll zur Abgrenzung die frontotemporale Demenz dienen. Für die klinische Diagnose sind entscheidend: 4 Nachlassen des Gedächtnisses, 4 Beeinträchtigung anderer kognitiver Leistungen, z. B. Sprachfunktionen, Wahrnehmung, Praxie und räumliche Orientierung, 4 Schleichender Beginn und langsame Progredienz, 4 Ausschluss anderer Ursachen für Demenz.

3Therapie. Aufgrund der Hypothese, dass ein Mangel an Acetylcholin eine wichtige Rolle in der Pathogenese der kognitiven Symptome spielt, wurde eine Behandlung mit reversiblen Cholinesterasehemmern vorgeschlagen. Sie soll zu einer mäßigen Verlangsamung des kognitiven Abbaus führen, kann jedoch den zugrundeliegenden degenerativen Prozess nicht aufhalten. 4 Bei leichter bis mittelschwerer Demenz gibt man Donepezil (Aricept), Rivastigmin (Exelon) oder Galantamin (Reminyl), 4 bei schwerer Demenz den NMDA-Antagonisten Memantine, der auch mit einem Cholinesterasehemmer kombiniert werden kann.

3Verlauf. Der Verlauf ist unaufhaltsam progredient. Die Sprache verarmt immer mehr bis zu bestimmten Verfallsformen: stereotype Wiederholung von Redensarten oder Worten, Echolalie (automatenhaftes oder reflektorisches Wiederholen von Wörtern oder Sätzen, die der Kranke gehört hat), Neologismen bis zum Kauderwelsch und schließlich Logoklonien (rhythmisches, sinnloses Wiederholen einzelner Silben). Nach längerer Krankheitsdauer geht den Kranken auch das Sprachverständnis verloren. Selbst das sinnlose, rhythmische Gemurmel, das ein letzter Rest des expressiven Sprachvermögens war, kann völlig versanden. Manchmal führen die Patienten nur noch stumme, rhythmische Bewegungen der Sprechmuskulatur aus. Die stets gleichförmigen, automatenhaften Iterationen zeigen sich auch in der Motorik: Die Kranken führen im Endstadium stereotyp Wischbewegungen, Nesteln, Zupfen, Reiben, Pendelbewegungen des Kopfes, Kletterbewegungen aus, die man als freigesetzte, angeborene, motorische Schablonen auffasst (7 Kap. 4).

Die Verordnung von sog. psychotropen Medikamenten muss sehr genau überwacht werden, weil deren unerwünschte Wirkungen bei Alzheimer-Patienten stark ausgeprägt sind. Dies gilt besonders für Benzodiazepine. Nootropika (z.B. Piracetam bis 1200 mg/Tag), Kalziumantagonisten (z.B. Nimodipin bis 90 mg/ Tag) und sog. Neuroprotektiva (z.B. Vitamin-E-Präparate) werden ebenfalls empfohlen. 4 Gegen Depressivität gibt man SSRIs. Trizyklische Antidepressiva sind wegen ihrer anticholonergen Wirkung kontraindiziert. 4 Bei Unruhe können Clomethiazol (Distraneurin®, 25 mg), Butyrophenone oder atypische Neuroleptika eingesetzt. Viele dieser Substanzen werden allerdings von Alzheimerpatienten nicht gut vertragen. Zum sog. Gehirnjogging werden viele Methoden angeboten, bei denen die Patienten aber bestenfalls Items, nicht aber Strategien

551 25.2 · Vaskuläre Demenz

25

Leitlinien Prophylaxe und Therapie der DAT* Prophylaxe 4 Körperliche Aktivität bei Personen ohne kognitive Einschränkungen kann das Risiko des Auftretens eines demenziellen Syndroms signifikant senken (A). 4 Geistige Aktivität bei Personen ohne kognitive Einschränkungen kann das Risiko des Auftretens eines demenziellen Syndroms signifikant senken (A). 4 Kardio- bzw. zerebrovaskulären Risikofaktoren sollten konsequent vermieden bzw. behandelt werden (A). Symptomatische Therapie 4 Acetylcholinesterasehemmstoffe (in alphabetischer Reihenfolge: Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) sind evidenzbasierte Therapie der leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz (A). 4 Memantine ist evidenzbasierte Therapie der mittelschweren bis schweren Alzheimer-Demenz (A). 4 Kommt es bei schweren Stadien der Erkrankung zu einer stufenartigen Symptomprogression und findet sich keine interkurrente Erkrankung als Erklärung sollt ein Wechsel innerhalb der Substanzklasse, ggf. zwischen den Substanzklassen erwogen werden (B).

erlernen. Sinnvoller erscheint das Training von Alltagsfunktionen in der familiären Umgebung. Genauso wichtig wie eine Behandlung der Patienten wird mittlerweile eine Beratung und Training der Angehörigen erachtet. Wesentliches Ziel dabei ist es, die eingeschränkte Lebenswelt der Patienten verstehen zu lernen, um eine Überforderungen zu vermeiden und sinnvolle Tätigkeiten für die Patienten zu finden. 25.2

Vaskuläre Demenz

3Definition und Formen. Die häufigste Form ist die subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE) oder BinswangerKrankheit. Diese Mikroangiopathie ist die typische zerebrale Gefäßkrankheit infolge lange bestehender arterieller Hypertonie. Pathologisch-anatomisch sieht man eine ausgedehnte Demyelinisierung des Marklagers sowie lakunäre Infarkte (zur Mikroangiopathie 7 Kap. 5). Im Krankheitsverlauf erkennt man eine fortschreitende Demenz und Persönlichkeitsveränderung sowie wiederholte, oft ganz oder teilweise reversible Gefäßinsulte, meist mit motorischen Halbseitensymptomen. Die vaskuläre Demenz wird häufig als Multiinfarktdemenz bezeichnet. Es sind aber nicht die Lakunen (kleine Infarkte) in Strukturen mit motorischer oder sensibler Funktion, die zur Demenz führen. Eine naheliegende Hypothese führte die Demenz auf die ausgedehnte Demyelinisierung des Marklagers zurück, das zweite morphologische Kriterium der zerebralen Mikroan-

4 Nutzen der Therapie mit Acetylcholinesterasehemmstoffen ist um so größer je früher die Therapie beginnt und ist dosisabhängig (A). Jeder Patient sollte auf die maximal vertragene Dosis eingestellt werden (B). 4 Bei der mittelschweren bis schweren Demenz auftretende depressive und psychotische Symptome sind einer medikamentösen Therapie mit Acetylcholinesterasehemmstoffen zugänglich und sparen Thymoleptika und Neuroleptika ein. (B). Neuroprotektive und sonstige Therapien 4 Vitamin E zeigt einen leichten neuroprotektiven Effekt und sollte adjuvant zur Therapie mit Acetylcholinesterasehemmstoffen in einer Dosierung von 2000 I.E. eingesetzt werden (B). 4 Statine können zum jetzigen Zeitpunkt weder zur Prophylaxe degenerativer demenzieller Erkrankungen weder bei Gesunden noch bei Patienten, die bereits an der Alzheimer Erkrankung erkrankt sind, empfohlen werden (A). * Gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2005

giopathie (. Abb. 25.3). Dadurch sollten Assoziationsfasern geschädigt und so die »Kommunikation« zwischen kortikalen Assoziationsfeldern beeinträchtigt werden, die die Grundlage kognitiver Leistungen ist. Größere Untersuchungsreihen haben aber gezeigt, dass die Demenz bei Mikroangiopathie nicht mit der Marklagerschädigung, sondern mit Alzheimer-artigen neuropathologischen Veränderungen in der Hirnrinde korreliert ist. Das wirft die Frage auf, ob die vaskuläre Demenz eine eigenständige Form von Demenz oder ob sie Ausdruck eines Zusammentreffens von zwei häufigen Gehirnkrankheiten ist, der Alzheimer-Krankheit und der zerebralen Mikroangiopathie. Viel seltener ist eine Demenz bei multiplen kortikalen (territorialen) Infarkten. Sie kommt vor nach multiplen Embolien oder bei Vaskulitis. 3Verlauf und neurologische Symptome. Es besteht keine Parallelität zwischen dem Ausmaß der morphologischen Veränderungen und der Schwere der klinischen Erscheinungen. Die Krankheit setzt aus kaum merklichen Anfängen schleichend ein und schreitet schubweise fort. In manchen Fällen werden die ersten psychopathologischen Auffälligkeiten im Anschluss an ein äußeres Ereignis manifest, das den gewohnten Lebensgang unterbricht oder verändert; so kommt es nach einer körperlichen Krankheit, nach der Pensionierung, nach dem Tod des Ehepartners plötzlich oder innerhalb weniger Wochen zu einer »Dekompensation« , in der die psychopathologischen Veränderungen in rascher Entwicklung hervortreten.

552

Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Exkurs Vaskuläre Veränderungen bei DAT und DAT-Veränderungen bei vaskulärer Demenz (VD)

25

So streng, wie die Definitionen es suggerieren, lassen sich DAT und VD nicht von einander trennen. Viele Alzheimerpatienten haben vaskuläre Risikofaktoren, und bei vielen Patienten mit »typischer« vaskulärer Demenz und dem passenden Imaging-Befund lassen sich autoptisch Alzheimer-Veränderungen in großem Umfang nachweisen. Es gibt Mischformen, die etwa gleich viele Aspekte beider großen Demenzformen haben. Man neigt dazu, DAT und VD als die Pole eines Kontinuums der Demenzkrankheiten zu sehen.

Motorische Symptome. An erster Stelle der Symptome besteht fast immer ein Parkinsonismus, bei dem Rigor und Akinese überwiegen. Wenn Tremor vorliegt, ist er meist ein gemischter Ruhe- und Intentionstremor. Zusätzlich können, abhängig von der Lokalisation der Lakunen, neurologische Herdsymptome auftreten, unter denen zentrale Hemiparesen aus anatomischen Gründen an erster Stelle stehen. . Abb. 25.3. CT bei zerebraler Mikroangiopathie. Konfluierende Dichteminderung des Marklagers, die einer subkortikalen, arteriosklerotischen Enzephalopathie entspricht. Zusätzlich Nachweis multipler, liquorisodenser Formationen im Stammganglienareal bilateral, die lakunären Infarkten entsprechen. Die lakunären Infarkte weisen in Verbindung mit der subkortikalen Dichteminderung auf eine zerebrale Mikroangiopathie hin. (H. Zeumer, Hamburg)

Dazu kommt, das phänomenologisch und neuropsychologisch Gesunde in zum Teil erheblichem Maße neuropathologische Veränderungen beider Unterformen haben können, wie eine bemerkenswerte autoptische Studie aus England bei verstorbenen Altenheimbewohnern zeigte. Große Unterschiede bestanden nicht zwischen Ausmaß der Veränderungen bei Patienten, die zu Lebzeiten als demenzkrank diagnostiziert worden waren und solchen Bewohnern, die psychopathologisch als altersentsprechend galten.

Gedächtnisstörungen und Aphasie. Sehr auffällig sind die Störung der Merkfähigkeit bei besser erhaltenem Altgedächtnis und das Nachlassen von Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen. Die Patienten haben Schwierigkeiten, sich Namen, Zahlen und einzelne, verwechselbare Fakten und Vorhaben zu merken. Zur Unterscheidung zwischen generellen Merkstörungen und amnestischer Aphasie hilft folgende Faustregel: Bei am-

553 25.3 · Pick-Komplex

nestischer Aphasie fallen im spontanen Sprechen Wortfindungsstörungen auf, die im Benennungstest noch deutlicher werden. Bei genereller Merkstörung fehlt in der Spontansprache häufig das richtige Wort, bei Benennungstests sind die Leistungen jedoch gut. Die Kranken wenden sich immer mehr der Vergangenheit zu, deren Ereignisse ihnen jetzt oft weit besser erinnerlich sind als in jüngeren Jahren. Der Interessenkreis engt sich ein. Vorausschauendes Denken, Urteilskraft und Überschau versiegen. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf neue Situationen einzustellen und neue geistige Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten. Gewohnte Verrichtungen gelingen den Kranken dagegen noch flüssig, und sie verfolgen Routinearbeiten mit besonderer Ausdauer und Beharrlichkeit. Affektive Symptome. Gleichzeitig tritt eine sehr bezeichnende affektive Veränderung ein: Eine traurige Nachricht, etwa eine Todesanzeige in der Zeitung, die Erinnerung an ein betrübliches Ereignis in der Vergangenheit oder eine gefühlsbetonte Szene im Radio, Film oder Fernsehen lösen plötzlich eine solche Gemütswallung in den Patienten aus, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können. In schweren Fällen kann man diese Affektdurchlässigkeit (oder affektive Labilität) in der Exploration fast beliebig oft durch entsprechende Bemerkungen auslösen und sieht dann, dass den Patienten immer wieder für Sekunden die Augen feucht werden. Mangelnde Steuerung für heitere, affektive Regungen ist ungleich seltener. Diese Gemütsbewegungen setzen ganz abrupt ein, sind aber nur flach und durch Ablenkung rasch wieder zu unterbrechen. Im Ganzen verliert das emotionelle Leben an Tiefgang, wodurch sich auch die mitmenschlichen Beziehungen lockern. Weitere psychopathologische Symptome. In etwas weiter fortgeschrittenen Stadien wird die Grundstimmung häufig mürrisch oder depressiv, ohne dass dies ganz als Reaktion auf das Erleben der eigenen psychischen Veränderung zu verstehen wäre. In schweren Fällen entwickelt sich ein depressiver Versagenszustand, der hier nicht im Einzelnen besprochen wird. In der Persönlichkeit der Kranken spitzen sich bestimmte Charakterzüge zu, die früher nur angedeutet oder ausgewogen waren: Die Patienten werden starrsinnig, geizig, reizbar, herrschsüchtig u.Ä. Nicht wenige Kranke entwickeln eine Hypochondrie, in der gewisse, leichtere Altersbeschwerden oder Funktionsstörungen, besonders Kopfschmerzen, Ohrensausen u.Ä. mit unkorrigierbarer Gewissheit als Symptome von schweren körperlichen Krankheiten gedeutet werden. Im Extremfall kann sich die depressiv-hypochondrische Verstimmung bis zum nihilistischen Wahn steigern. In späteren Stadien können nächtliche Verwirrtheitszustände mit Unruhe, Desorientiertheit und Verkennung der Umwelt und delirante Episoden auftreten. Als Delir bezeichnet man ein Syndrom aus Bewusstseinstrübung, psychomotorischer Unruhe, Merkstörung und Denkstörung, häufig ängstlicher Erregung und illusionärer Verkennung der Umwelt oder halluzinatorischen Trugwahrnehmungen. In diesem Zustand drängen die Kranken

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aus dem Bett und können zu Fall kommen und sich verletzen oder Wohnung und Haus verlassen und sich im Freien gefährden. Im Endstadium sind die Patienten antriebslos, mit andauernder Desorientiertheit und Versiegen der Sprache. 3Diagnose. Im CT und MRT sind die ausgedehnte vaskuläre Demyelinisierung des Marklagers und die lakunären Infarkte zu erkennen (. Abb. 25.2). Wir zeigen hier mit Absicht ein CT, da im MRT die oft vorkommenden unspezifischen Altersveränderungen der weißen Substanz meist als Zeichen eines Multiinfarktsyndroms fehlinterpretiert werden. Das EEG trägt nicht zur Diagnose bei. 3Therapie. Die Therapie muss sich auf die Sekundärprävention weiterer ischämischer Ereignisse wie die Behandlung des Bluthochdrucks oder die Gabe von Statinen und damit auf die Vermeidung weiterer subkortikaler Läsionen richten. Einige vorläufige Studien deuten an, dass auch bei der vaskulären Demenz die Cholinesterasehemmer, speziell Donezepil, wirksam sind. Eine Zulassung ist allerdings noch nicht erfolgt. 25.3

Pick-Komplex

Die Pick Atrophie als auch die primäre progressive Aphasie werden mittlerweile – je nach Autor – unter die Gruppe der frontotemporalen Demenzen (FTD) oder zum sog. Pick-Komplex (nach Kertez und Munoz) gezählt. Zur FTD gehört auch noch die so genannte semantische Demenz, zum Pick-Komplex zählt man zusätzlich noch die kortikobasale Degeneration sowie Motoneuronerkrankungen mit Demenz. Die Pick-Atrophie ist also lediglich eine spezifische Form der FTD, die sich durch bestimmte pathophysiologische Veränderungen auszeichnet. Zum PickKomplex werden gezählt: 4 die frontotemporale Demenz (FTD) (medialer, dorsolateraler und orbitaler Frontallappen), 4 die primär progrediente Aphasie (PPA) (asymmetrische, links-frontolaterale Atrophie) und die semantische Demenz (SD) (Atrophie vor allem der Temporalpole li > re), 4 die kortikobasale Degeneration (CBD) (asymmetrische, den hinteren Anteil des Frontallappens und den Parietallappen betreffende Atrophie), 4 Motor Neuron Disease Dementia (FTD-MND). 25.3.1 Pick-Syndrom 3Epidemiologie und Ätiologie. Die Krankheit ist mit einem Anteil von 1–2% unter den Demenzkrankheiten sehr selten. Sie setzt im Präsenium ein, meist zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr. Die Krankheitsdauer beträgt im Mittel 7 Jahre (Extremwerte 1 Jahr und 15 Jahre). Die Ätiologie ist noch nicht genau bekannt. In einem kleinen Teil der Fälle lässt sich dominante Erb-

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Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

lichkeit nachweisen. Möglicherweise gehört die Krankheit zu der Gruppe der FTD (s. Lehrbücher der Psychiatrie).

25

3Pathologie. Makroskopisch ist die Rinde des Stirn- und oft auch des Schläfenlappens stark geschrumpft (»Walnussrelief«). Die Veränderungen betreffen den phylogenetisch und ontogenetisch spät reifenden frontalen und basalen Neokortex. Ein Teil der betroffenen Gebiete gehört zum limbischen System, woraus sich die affektiven Symptome erklären. Die Veränderungen sparen Projektionsareale aus. Mikroskopisch findet man einen primären Schwund des Nervenparenchyms mit argentophilen Einschlüssen (Pick-Körper) in Ganglienzellen, aber ohne Alzheimer-Fibrillenveränderung oder Plaques. 3Symptome und Verlauf. Das erste Symptom ist ein allgemeines Nachlassen der Leistungsfähigkeit. Die Patienten werden dadurch auffällig, dass ihnen Routineleistungen nicht mehr gelingen. Bald entwickelt sich eine Veränderung der Persönlichkeit: Die Patienten verlieren das Gefühl für soziales Verhalten. Bei läppisch-euphorischer oder mürrisch-verdrossener Grundstimmung verflachen ihre emotionellen Regungen. Ihre Persönlichkeit erscheint vergröbert und im Niveau gesenkt. Die Patienten vernachlässigen sich und ihre Familie, sie verlieren die vorausschauende und geordnete Initiative und leben nur noch für ihre elementaren Bedürfnisse. Bei größerer Ausdehnung des Prozesses werden pathologische Handgreifreflexe auslösbar. Auch Greifreflexe des Mundes (Ansperren, Schnappen, Saugen) treten oft auf. Von der Fresssucht als allgemeinem Enthemmungssymptom muss das zwanghafte Greifen und In-den-Mund-Stecken von beliebigen, auch nicht essbaren Gegenständen unterschieden werden, das ein Teil des Klüver-Bucy-Syndroms ist (7 Kap. 4). Diese orale Tendenz tritt auf, sobald beiderseits der mediobasale Schläfenlappen ergriffen ist. Im Endstadium entwickelt sich meist ein akinetisches Parkinson-Syndrom mit schwerer Demenz.

verstehen. Dabei bleibt die Sprache lange Zeit flüssig, gut artikuliert und syntaktisch korrekt, aber inhaltsleer. Im weiteren Verlauf ergreift die Störung auch die Schriftsprache. Im fortgeschrittenen Stadium werden auch visuell und taktil wahrgenommene Objekte nicht mehr erkannt. Das Gedächtnis für Ereignisse (episodisches Gedächtnis) und die räumliche Orientierung bleiben erhalten. Im Endstadium erlöschen Sprachproduktion und -verständnis. Emotionale Indifferenz und soziale Auffälligkeiten sind häufig. Eine Variante der FTD ist die primär progressive Aphasie. Langsam fortschreitend, entwickelt sich eine Aphasie mit nichtflüssiger Sprachproduktion, vielen phonematischen Paraphasien und agrammatischer Syntax. Das Einwortverständnis bleibt lange Zeit gut erhalten. Auch bleiben soziales Verhalten, räumliche Orientierung, episodisches Gedächtnis und Problemlösen lange intakt. Manche Patienten entwickeln parallel zum Sprachverlust künstlerische Aktivitäten. Bei beiden Formen der FTD kommt es im Verlaufe der Krankheit auch zum Nachlassen kognitiver Leistungen in anderen Bereichen. Die Aufzählung ist sicher unvollständig. Es gibt auch langsam fortschreitende Apraxie, visuokonstruktive Störungen, visuelle Agnosie, Gesichtsagnosie und Amusie (Störung des Musikerkennens). Seit die Untersucher ihr Augenmerk darauf richten und diese Patienten nicht einfach als atypische Alzheimer-Krankheit diagnostizieren, werden immer neue Beobachtungen mitgeteilt, aus denen sich ein ganzes Spektrum von degenerativen Krankheiten des Assoziationskortex ergibt, die fokal, d. h. monosymptomatisch, beginnen und sich erst spät generalisieren 3Diagnostik. Mit bildgebenden Verfahren wird eine meist linksseitige, inferotemporale Atrophie nachgewiesen. Im PET findet man in dieser Region eine Verminderung der Durchblutung und Glukoseutilisation.

3Therapie. Zur Therapie orientiert man sich an der Behandlung der DAT, allerdings sind die Erfolge hier noch weniger überzeugend.

3Therapie. Eine verlässlich wirksame Therapie gibt es nicht. An einigen Zentren werden neuropsychologische Trainingsmethoden erprobt. Man soll versuchen, durch körperliche Übung die Bettlägerigkeit so lange wie möglich hinauszuschieben. Wenn aber eine Beschäftigungsunruhe überhand nimmt, muss man die Kranken durch Prothipendyl (Dominal®, 20–80 mg), Clomethiazol (3–6 Dragees), Butyrophenon (Haldol®) oder ein ähnliches Mittel dämpfen. Mit dem Fortschreiten der Krankheit kann man oft die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung nicht umgehen.

25.3.2 Frontotemporale Demenz und primär

25.4

3Diagnostik. CT und MRT zeigen Atrophien der fontalen und temporalen Hirnlappen sowie eine innere und äußere Hirnvolumenminderung mit Hydrocephalus e vacuo.

progressive Aphasie 3Symptomatik und Verlauf. Es kommt zu einem fortschreitenden Verlust an semantischer Information, anfangs nur in den lautsprachlichen Modalitäten. Das heißt, die Patienten erkennen die Bedeutung von Nomina nicht mehr. Sie können weder Objekte noch Tatbestände benennen noch die entsprechenden Wörter

Andere Formen degenerativer Demenzkrankheiten

25.4.1 Lewy-Körper-Demenz 3Symptomatik und Verlauf. Dies ist die zweithäufigste Form degenerativer Demenz. Sie ist gekennzeichnet durch fortschreitendes Nachlassen kognitiver Leistungen, wobei visuokonstruk-

555 25.5 · Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans)

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Exkurs Differentialdiagnose der Demenzerkrankungen Demenzerkrankungen sind abzugrenzen gegen die Demenz bei 4 Normaldruckhydrozephalus, 4 Chorea Huntington, 4 M. Parkinson 4 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit und 4 dem AIDS-Demenz-Komplex.

tive Störungen stärker als Gedächtnisstörungen ausgeprägt sind. Charakteristisch ist ein Fluktuieren der Kognition mit häufigen luziden Intervallen. Ein zweites Merkmal sind komplexe, bedrohlich erlebte, visuelle Halluzinationen von Menschen und Tieren. Ohne stärkere emotionale Beteiligung entwickeln die Patienten systematisierte Wahnideen. Neurologisch stellen sich Bradykinese und Rigor ein. 3Neuropathologie und Diagnostik. Neuropathologisch findet man in der Hirnrinde, weniger in den Stammganglien, LewyKörper. Dies sind eosinophile, intraneurale Einschlüsse mit Immunoreaktion auf Ubiquitin.. CT- und MRT-Befunde sind unspezifisch. Liquorspezialdiagnostik hilft bislang nicht weiter. Die Diagnose wird bioptisch oder autoptisch bestätigt 3Therapie. Man gibt man Cholinesterasehemmstoffe. Viele Patienten haben eine starke, auch lebensbedrohliche Überempfindlichkeit gegen Neuroleptika. 25.5

Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans)

3Definition und Epidemiologie. Die Inzidenz wird auf etwa 2% bei Menschen über 65 Jahren geschätzt. Symptomatische Formen kommen nach SAB und Traumen sowie Meningitis vor. Unterschieden wird ein primärer oder idiopathischer (iNPH) und ein sekundärer Normaldruckhydrocephalus (sNPH). Während sich der erstere typischerweise ab der 6. Lebensdekade manifestiert, kann der sekundäre NPH in jedem Lebensalter auftreten. 3Pathophysiologie. Nicht ausreichende Resorption des Liquors führt zu Erweiterung des Ventrikelsystems. Hand in Hand hiermit gehen Diffusion von Liquor durch die Ventrikelwände (Liquordiapedese) mit periventrikulärer Ödembildung, Verschlechterung der lokalen zerebralen Blutversorgung im periventrikulären Marklager und schließlich Läsion von Fasern der Corona radiata. Der nur minimal erhöhte intraventrikuläre Druck führt zur langsame Kompression der oft ischämisch vorgeschädigten weißen Substanz und drückt den Cortex gegen die Kalotte. Hierdurch werden subkortikale Bahnen und Cortexfunktion (Blasenzentrum, Gangsteuerung) geschädigt. Eine andere Möglichkeit, die bei der Entstehung des idiopathischen NPH disku-

4 Auch Alkohol und andere Drogen können Demenz verursachen. 4 Stirnhirntumor: Der Verlauf ist rasch, oft ist das Bewusstsein leicht getrübt. Apathie und Antriebsminderung sind weit häufiger als flach-euphorische Enthemmung.

tiert wird, ist die primäre Affektion des periventrikulären und des tiefen Marklagers durch eine funktionelle Minderperfusion, insbesondere etwa 1 cm periventrikulär im Bereich der Wasserscheide zwischen menigialer Gefäßperfusion und dem Mediastromgebie. Sowohl Läsionen des tiefen als auch des periventrikulären Marklagers fanden sich bei MRT-Untersuchungen bei Patienten mit idiopathischem NPH weitaus häufiger als bei altersgleichen Kontrollkollektiven 3Symptome. Diese Krankheit, die überwiegend ältere Menschen betrifft, ist durch die Symptomtrias 4 Demenz, 4 Inkontinenz (frontales Blasenzentrum) und 4 Gangstörung gekennzeichnet. Sie ist oft mit einer zerebralen Mikroangiopathie verbunden. Das – sehr variable – mentale Defizit von NPH-Patienten ist eine subkortikalen Demenz mit Antriebsmangel, Verlangsamung, affektiver Indifferenz, fehlender Störungsreflexion sowie Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. Die Harninkontinenz ist nicht Ausdruck der beginnenden Demenz, sondern ein motorisches Symptom. Zu dem imperativen Harndrang gesellt sich die Gangbehinderung, die ein rasches Aufsuchen der Toilette erschwert. In späteren Stadien verhindert eine Frontallappeninkontinenz das Bewusstwerden des Harndranges. Stuhlinkontinenz findet sich nur in schweren Fällen. Der Gang ist kleinschrittig, schlurfend, langsam. Die Füße scheinen am Boden zu kleben. Anfangs kann nur eine leichte Unsicherheit vorliegen, die von den Patienten gelegentlich als Schwindel bezeichnet wird. Später entwickelt sich der typische »frontale Abasie/Astasietyp« mit Gleichgewichtsstörungen, verkürzter Schrittlänge, Start, Tonuserhöhung bis hin zur spastischen Paraparese. Ein vergeblicher Versuch des Starts, gait ignition failure, wird bei 30% von NPH Patienten gefunden, und ein freezing bei über 50%. Dagegen können die Patienten im Liegen die Beine glatt bewegen und auch komplexere Aufgaben (KnieHacken-Versuch, Zahlen schreiben) ausführen. Sie sind verlangsamt, schwer besinnlich, haben Gedächtnisstörungen und sind dement. 3Diagnostik. In CT und MRT sieht man eine Aufweitung der Seitenventrikel und eine Verminderung der Rindenfurchen-

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Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Leitlinien Therapie des NPH*

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Bei kompletter klinischer Trias und eindeutiger Bildgebung (Hydrocephalus mit engem Windungsrelief über der Mantelkante und keiner ausgeprägten subkortikalen vaskulären Enzephalopathie) ist die Indikation zur Shuntimplantation gegeben (A). Aufgrund der Einfachheit sollte der Spinal-tap-Test (einmalige/wiederholte Liquorpunktion und Entnahme von 30–50 ml Liquor) auch in dieser Konstellation großzügig indiziert werden. Im positiven Fall unterstützt er die Indikation zur Shuntimplantation, im negativen Fall ist er nicht weiter verwertbar (B). Bei unklarer Operationsindikation sollten ergänzend Langzeitliquordruckmessungen und/oder Liquorinfusionstests erfolgen (B).

zeichnung über den apikalen Hemisphärenanteilen. Es finden sich eine Ballonierung der Vorderhörner der Seitenventrikel, Ausweitung der Temporalhörner, fehlende apikale kortikaler. Oft sieht man periventrikuläre Hypodensitäten frontal betont, die wahrscheinlich durch transependymale Liquodiapedese und funktionelle Minderperfusion entstehen. Alle Ventrikel können betroffen sein, die im MRT deutlicher zu erkennen sind. Mikroangiopathische Veränderungen sind praktisch immer, oft sehr ausgeprägt vorhanden. Mit speziellen Sequenzen kann der Fluss im Aquädukt beurteilt werden, wenn der V.a eine Aquäduktstenose besteht. Nach einer ausgiebigen (>30 ml) Liquorpunktion oder lumbalen Liquordrainage kann sich die Symptomatik drastisch bes-

Bei Patienten mit zu hohem Operationsrisiko oder unklarer Operationsindikation sollten wiederholte therapeutische Lumbalpunktionen erfolgen (C). Grundsätzlich ist ein positiver Effekt vorwiegend auf die Gangstörung und die Urininkontinenz, weniger aber auf die Demenz zu erwarten (B). Verstellbare oder gravitationsgesteuerte Ventile sollten bevorzugt werden (B). * Leitlinien der DGN 2005

sern. Wir führen keine kontinuierlichen Liquordruckmessungen durch. Kontrastmitteluntersuchungen oder szintigraphische Untersuchungen zeigen eine Umkehr des Liquorflusses zurück in die Seitenventrikel, aber auch diese setzen wir nicht in der Diagnostik ein. 3Therapie. Die Kenntnis des Normaldruckhydrocephalus ist wegen der potentiellen Therapierbarkeit besonders wichtig. Wenn wiederholte Liquorpunktion eine Besserung der kognitiven Funktionen oder des Ganges bewirkt, wird eine ventrikuloperitoneale Shuntoperation durchgeführt. Sehr lange bestehende Symptome bessern sich oft nicht mehr gut.

In Kürze Demenzkrankheiten Klinisch und pathologisch-anatomisch definierte Krankheiten, gekennzeichnet durch Nachlassen kognitiver Leistungen bei längerem Beibehalten von Resten der früheren Persönlichkeit. Prävalenz nimmt mit zunehmenden Alter exponentiell zu. Differentialdiagnose: Normaldruckhydrocephalus, Chorea Huntington, M. Parkinson, Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, AIDSDemenz.

Demenz vom Alzheimertyp (DAT) Degenerative Hirnkrankheit mit raschem Verlauf führt nach 4–5 Jahren zur schweren Demenz. Symptome: Nachlassen des Gedächtnisses; Beeinträchtigung anderer kognitiver Leistungen wie Sprachfunktionen, räumliche Orientierung; Schleichender Beginn und langsame Progredienz.

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Diagnostik: EEG ist uncharakteristisch; CT: Volumenminderung der Hirnrinde; PET: Hohe Sensitivität in Abgrenzung zur LewyKörperchen-Demenz. Medikamentöse Therapie zur Verlangsamung des degenerativen Prozesses, Training von Alltagsfunktionen.

Vaskuläre Demenz Fortschreitende Demenz mit Persönlichkeitsveränderung sowie wiederholte, ganz oder teilweise reversible Gefäßinsulte, meist mit motorischen Halbseitensymptomen. Symptome: Schubweiser Verlauf von Parkinsonismus, zentrale Hemiparesen, Störung der Merkfähigkeit, Nachlassen von Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Versiegen von vorausschauendem Denken, affektive Veränderung, mürrische oder

557 25.5 · Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans)

depressive Grundstimmung, Zuspitzung bestimmter Charakterzüge. Später nächtliche Verwirrtheitszustände, delirante Episoden. Endstadium: Andauernde Desorientiertheit, Versiegen der Sprache. Diagnose: CT/MRT: Ausgedehnte vaskuläre Marklagerdemyelinisierung, lakunäre Infarkte. Therapie: Sekundärprävention weiterer ischämischer Ereignisse und subkortikaler Läsionen.

Pick-Komplex Pick-Syndrom. Starke Schrumpfung der Rinde des Stirn- und Schläfenlappens. Symptome: Allgemeines Nachlassen der Leistungsfähigkeit, Persönlichkeitsveränderung, Verflachen der emotionellen Regungen, pathologische Handgreifreflexe. Endstadium: Akinetisches Parkinson-Syndrom mit schwerer Demenz. Diagnostik: CT/MRT: Atrophien der frontalen und temporalen Hirnlappen, innere und äußere Hirnvolumenminderung mit Hydrozephalus e vacuo. Therapie: Medikamentöse Therapie, Training von Alltagsaktivitäten. Frontotemperale Demenz. Symptome: Fortschreitender Verlust an semantischer Information, Störung der Schriftsprache, im Endstadium Erlöschen von Sprachproduktion und -verständnis.

Primär progressive Aphasie. Symptome: Nichtflüssige Sprachproduktion, phonematische Paraphasien, agrammatische Syntax. Therapie: Keine wirksame Therapie, neuropsychologische Trainingsmethoden, mit Fortschreiten Unterbringung in geschlossener Abteilung.

Lewy-Körper-Demenz Symptome: Fortschreitendes Nachlassen kognitiver Leistungen, komplexe, bedrohlich erlebte, visuelle Halluzinationen von Menschen und Tieren; Bradykinese, Rigor.

Normaldruckhydrozephalus Symptome setzen nach SAB, Traumen, Meningitis ein: Subkortikale Demenz mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, Verlangsamung und Antriebsmangel, Gangstörung, Inkontinenz als motorisches Symptom, zerebrale Mikroangiopathie. Diagnostik: CT/MRT: Verminderung der Rindenfurchenzeichnung über apikalen Hemisphärenanteilen, Aufweitung der Seitenventrikel, Ballonierung der Vorderhörner der Seitenventrikel, Ausweitung der Temporalhörner. Therapie: Ventrikuloperitoneale Shuntoperation.

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VII Traumatische Schädigungen des Zentralnervensystems und seiner Hüllen 26

Schädel- und Hirntraumen

27

Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

– 560 – 575

26 Schädel- und Hirntraumen 26.1 Schädeltraumen – 561 26.1.1 Schädelprellung – 561 26.1.2 Schädelfraktur – 562

26.2 Hirntraumen – 563 26.2.1 Kommotionssyndrom (leichtes Schädel-Hirn-Trauma) 26.2.2 Kontusionssyndrom – 564 26.2.3 Offene Hirnverletzung – 571

26.3 Traumatische Hämatome – 571 26.3.1 26.3.2 26.3.4 26.3.5

Epidurales Hämatom – 571 Akutes Subduralhämatom (SDH) – 571 Traumatische Subarachnoidalblutung – 572 Intrazerebrales Hämatom – 572

26.4 Spätkomplikationen – 572 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5

Chronisches, subdurales Hämatom – 572 Spätabszess – 572 Traumatische Epilepsie – 572 Sinus-cavernosus-Fistel – 573 Traumatische arterielle Dissektionen – 573

– 563

561 26.1 · Schädeltraumen

> > Einleitung In diesem Kapitel wird die traditionelle Einteilung in Schädelprellung/Schädelbruch, Commotio und Contusio verlassen. Zu häufig gibt es Divergenzen zwischen Verlauf, neurologischem Befund und dem Befund im CT oder MRT. Die rein medizinische Diagnostik und Behandlung wird durch diese konzeptionellen Schwierigkeiten nicht berührt. Durch bildgebende Verfahren kann die morphologische Diagnose von traumatischen Substanzschädigungen des Großhirns in vivo ohne invasive Diagnostik getroffen werden, sofern die Untersuchung zu einem geeigneten Zeitpunkt erfolgt. Nicht jedes Kopftrauma führt zu andauernden Beschwerden und Funktionsstörungen. Da viele Unfälle entschädigungspflichtig sind, kann die Symptomatik durch nichtmedizinische Faktoren beeinflusst werden. Gute Behandlungsmöglichkeiten bestehen bei epi- und subduralen Hämatomen, während die schweren, multilokulären, intrazerebralen Kontusionen, v.a. die traumatischen Hirnstammläsionen, trotz der Fortschritte in der Akutversorgung am Unfallort und des schnellen Transports in ein Traumazentrum noch immer eine schlechte Prognose haben. Traumatische Dezerebration und dissoziierter Hirntod sind in diesem Kapitel behandelt. Elektrotrauma und Strahlenschäden des Nervensystems werden ebenso wie Folgen einer mechanischen Gewalteinwirkung auf Wirbelsäule und Rückenmark in 7 Kap. 27 besprochen.

Vorbemerkungen 3Epidemiologie. Man schätzt, dass sich in der BRD jährlich auf 100.000 Einwohner etwa 300 Hirntraumen aller Schweregrade ereignen. Von diesen Patienten erleidet etwa ein Drittel ein schweres Hirntrauma. Ein Zehntel der Patienten mit schwerem Hirntrauma verstirbt in den ersten 30 Tagen nach dem Trauma. 3Einteilung und Definitionen. Bei Kopftraumen unterscheiden wir zwischen Schädeltraumen, die nur den knöchernen Schädel betreffen (Schädelprellung, Schädelbruch) und Hirntraumen, die auch zu einer Funktionsstörung und/oder Substanzschädigung des Gehirns führen. Hirntraumen werden nach dem Schweregrad klassifiziert. Es gibt keine voll befriedigende Einteilung, die die Vorgeschichte, den neurologischen Befund und das Ergebnis der Untersuchung mit bildgebenden Verfahren gleichermaßen erfasst und dabei so deskriptiv ist, dass sie nicht sozialmedizinische Aspekte (Begutachtung) vorwegnimmt. Die alte Einteilung in Commotio cerebri (Gehirnerschütterung) und Contusio cerebri (Gehirnquetschung) ist heute überholt, weil sie Behauptungen über den morphologischen Befund einschließt, die durch die bildgebenden Verfahren nicht immer gestützt werden. Die von manchen Neurochirurgen bevorzugte Klassifizierung als Schädel-Hirn-Trauma 1., 2. Grades usw. schließt die Bewertung von Beschwerden und Verlaufskriterien mit ein und erscheint deshalb nicht gut brauchbar.

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Hier wird vorgeschlagen, den Kommotions- und Kontusionsbegriff rein syndromal zu verwenden. Die Einteilung ist demnach: 4 Hirntrauma mit Kommotionssyndrom: leichtes SchädelHirn-Trauma: Sofort einsetzende Bewusstlosigkeit von der Dauer bis zu einer Stunde, neurologisch kein krankhafter Befund am ZNS. 4 Hirntrauma mit Kontusionssyndrom: Sofort einsetzende, länger als eine Stunde dauernde, primäre Bewusstlosigkeit, neurologische Herdsymptome des Gehirns, traumatische Psychose nach dem Aufklaren, ggf. kurz nach dem Trauma einsetzender epileptischer Anfall. 5 Bei einem GCS-Score von >8 spricht man von einem mittelschweren Schädel-Hirn-Trauma 5 Bei einem GCS-Score von Schwindel, Übelkeit und Erbrechen nach einer Schädel-

prellung sind kein Beweis für eine Hirnbeteiligung.

3Diagnostik. Eine Röntgenaufnahme des Schädels wird meist aus Sicherheitsgründen zum Ausschluss von Schädelfrakturen durchgeführt.

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3Therapie 4 Die Behandlung besteht in einer kurzen Schonung von 1–2 Tagen, aber nicht Bettruhe (!), 4 gegebenenfalls unter Verordnung leichter Kopfschmerzmittel wie Ibuprofen 400 mg oder Paracetamol 500 mg mehrmals täglich. 4 Gegen Erbrechen und Übelkeit gibt man Domperidon (Motilium®) 2- bis 3-mal 15 Tropfen. Eine länger dauernde Ruhe ist nicht indiziert, sondern für die Rückbildung der Beschwerden psychologisch ungünstig. Krankenhausaufnahme ist in der Regel nicht erforderlich. Neurologische Dauerfolgen bleiben nicht bestehen. 26.1.2 Schädelfraktur Bei entsprechender Gewalteinwirkung kann es auch ohne Kommotionssyndrom zum Schädelbruch kommen. Je nach Art und Ort der Gewalteinwirkung sowie der altersabhängigen Elastizität liegt eine von drei Formen vor: 4 reine Kalottenfraktur (Impressions-, Biegungs-, Berstungsbruch), 4 Fortsetzung der Bruchlinie in die Schädelbasis und 4 reiner Schädelbasisbruch. Nichtimprimierte Frakturen der Kalotte erlauben, entgegen einer weit verbreiteten Meinung von Laien und Ärzten, keine Schlüsse auf die Schwere des Kopftraumas und kommen auch als Ursache für spätere, chronische Beschwerden nicht in Betracht. Die Heilungstendenz ist im Allgemeinen ausgezeichnet, und schon nach wenigen Wochen sind radiologisch keine Frakturlinien mehr zu erkennen. Impressionsfrakturen führen dagegen oft zu einer lokalen Substanzschädigung der Hirnrinde. 3Diagnostik. Nicht in allen Fällen ist unmittelbar nach dem Trauma eine Fraktur röntgenologisch nachweisbar. Namentlich Schädelbasisbrüche können oft nur aus klinischen Zeichen erschlossen werden: Brillen- oder Monokelhämatom, lageabhängiges Auslaufen von Flüssigkeit aus einem Nasengang (Liquorfistel), Hämatotympanon, Blutung oder Liquorabfluss aus dem äußeren Gehörgang. Manchmal dringt Luft aus den Nebenhöhlen

durch den Frakturspalt in die Schädelhöhle und lässt sich auf der Röntgennativaufnahme nachweisen. Im Computertomogramm sind Schädelbasisfrakturen meist gut zu erkennen. Bei frontobasalen Frakturen findet man bei frühzeitiger Untersuchung im CT blutiges Sekret in den Siebbeinzellen und Luftperlen im frontalen Subarachnoidalraum. Am besten kann man diese Region mit koronaren CT-Aufnahmen in Knochentechnik beurteilen. Bei Felsenbeinfrakturen findet man Luftperlen in der hinteren und mittleren Schädelgrube. Die nasale Liquorfistel muss frühzeitig operiert werden, ebenso die Querfraktur des Felsenbeins. Über die »wachsende Fraktur« mit Auseinanderdrängen des Frakturspalts durch einen HirnDura-Prolaps s. Lehrbücher der Kinderheilkunde. 3Komplikationen. Dennoch darf man auch bei scheinbar nur leichter Kopfprellung nicht auf eine radiologische Untersuchung des Schädels verzichten, da ein positiver Befund für die Diagnose von eventuellen Komplikationen sehr wichtig ist: 4 Bei Kalottenfrakturen kann die A. meningea media zerreißen, so dass ein epidurales Hämatom entsteht. 4 Bei Impressionsfrakturen bewirkt gelegentlich das eingedrückte Knochenfragment eine lokale Irritation der Hirnrinde und löst epileptische Anfälle aus (traumatische Frühanfälle). Sie erhöhen das Risiko einer traumatischen Spätepilepsie. 4 Nach Frakturen der Siebbeinplatte oder Stirnhöhlenhinterwand besteht die Gefahr aufsteigender Infektionen, die selbst nach Jahren noch zu rezidivierender Meningitis, Meningoenzephalitis und zum Hirnabszess führen können. Dieselben Komplikationen muss man auch bei Frakturen des Felsenbeins befürchten 4 Felsenbeinlängsfrakturen zerreißen meist das Trommelfell und führen, wenn auch die Dura verletzt ist, zum Liquorabfluss aus dem Ohr. Nach Querfrakturen kann der Liquor in die Tuba Eustachii übertreten, so dass eine »pseudonasale Liquorfistel« entsteht. In diesen Fällen sind Computertomographie, ohrenärztliche Untersuchungen, Konsultation eines Neurochirurgen und gegebenenfalls im weiteren Verlauf die Lumbalpunktion angezeigt. 4 Dissektionen der A. carotis interna (im Hals oder im knöchernen Karotiskanal). 4 Schädelbruch mit Hirnnervensymptomen. Die Hirnnervenausfälle werden oft irrtümlich auf eine Kontusion der orbitalen (basalen) Stirnhirnrinde oder des Hirnstamms zurückgeführt. Tatsächlich werden die Nerven in ihrem Verlauf (Subarachnoidalraum, Schädelbasis, Peripherie) geschädigt. Die Nn. oculomotorius und abducens können bei Schädelbasisbruch sowie der N. trochlearis bei Frakturen der medialen Orbitawand mit Dislokation der Trochlea peripher geschädigt werden. Eine posttraumatische Fazialislähmung zeigt immer eine Läsion im Felsenbein an. Hörstörungen kommen nach Kopftraumen mit und ohne Schädelbruch durch Innenohrverletzungen vor. In schweren Fällen sind dies Blutungen in das Innenohr, in leichteren Fällen kommt es zu Funktionsstörungen einzelner Abschnitte der äußeren Haarzellen mit einem Hörverlust in Form

563 26.2 · Hirntraumen

26

Exkurs Posttraumatische Anosmie Die posttraumatische Anosmie ist meist Zeichen einer peripheren Schädigung des I. Hirnnerven (Abriss der Fila olfactoria oder lokales Hämatom in der Gegend des Bulbus oder Tr. olfactorius). Kopftraumen mit Gewalteinwirkung auf das Hinterhaupt sind 5-mal so häufig von Anosmie gefolgt als wenn das Trauma die vordere Schädelhälfte trifft.

der C5-Senke, die durch einen hydrodynamisch bedingten Schaden im Transformationsgebiet der Frequenzen zwischen 4000 Hz und 6000 Hz entstehen soll. Auch der Vestibularapparat kann traumatisch geschädigt werden. Die kaudalen Hirnnerven werden fast nie betroffen. 26.2

Hirntraumen

26.2.1 Kommotionssyndrom

(leichtes Schädel-Hirn-Trauma) 3Definition. Das leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT) (Commotio cerebri; Schädel-Hirn-Trauma Grad I) wird durch nachstehende Kriterien definiert: 4 kurzzeitige Bewusstlosigkeit oder qualitative oder quantitative Veränderung der Bewusstseinslage Der Begriff »Durchgangssyndrom« ist eine unanschau-

liche Leerformel, mit der in der Praxis auch Defektzustände belegt werden. Er sollte vermieden werden.

. Abb. 26.3. Scherverletzungen. Ausgedehnte kontusionelle Läsionen und Scherverletzungen (Pfeile) subkortikal bei schwerem SHT. (B. Kress, Heidelberg)

können für Wochen und Monate oder sogar dauernd bestehen bleiben. Viele Kranke haben vorübergehend Fusionsstörungen oder eine Ermüdbarkeit bei längerem, angestrengten Sehen (kortikale Asthenopie). Nicht selten entwickelt sich bei schwerem Hirntrauma nach dem Erwachen aus der initialen Bewusstlosigkeit eine traumatische Psychose. Interessanterweise sind Psychosen nach Schädigung der sprachdominanten Hemisphäre weit häufiger als nach Läsion der nichtdominanten. Im Verlauf lassen sich drei Stadien unterscheiden: 4 initiales Koma, 4 delirantes Syndrom und 4 Korsakow-Syndrom. Das delirante Syndrom ist durch eine oft fluktuierende Bewusstseinstrübung und Desorientiertheit, psychomotorische Unruhe, ängstliche Erregung, Neigung zu illusionärer Verkennung der Umgebung und gelegentlich auch halluzinatorische Trugwahrnehmungen gekennzeichnet. Dieses Stadium kann Stunden, Tage und selbst Wochen andauern. Es macht die Zuziehung eines Neurologen oder Psychiaters und, wenn möglich, die Verlegung auf eine geschlossene Abteilung oder Intensivstation erforderlich. Klingt das akute, traumatische Delir ab, schließt sich oft das traumatische Korsakow-Syndrom an, bei dem der Patient bewusstseinsklar, aber wechselnd desorientiert ist und eine Störung der Merkfähigkeit hat. Im Gegensatz zum alkoholischen Korsakow ist die Suggestibilität der Kranken in der Regel nicht auffällig

Hirnstammkontusion. Eine schwere, primäre, traumatische Hirnstammschädigung wird oft nicht überlebt. Sie entsteht dadurch, dass Nervenfasern und kleine Blutgefäße Scherungsverletzungen erleiden, mit der Folge von Infarkten und Blutungen in der Haube von Mittelhirn und Brücke. Meist liegen gleichzeitig ausgedehnte Großhirn- und Kleinhirnkontusionen vor. Viele Patienten sind sofort bewusstlos und erreichen meist das Wachbewusstsein nicht wieder. Sie sterben gewöhnlich innerhalb der ersten 12 bis 24 Stunden. Neurologisch finden sich alle jene Symptome, die beim Dezerebrationssyndrom (7 Kap. 2.3) beschrieben sind. Ein prognostisch ungünstiges Zeichen ist das Fehlen der schnellen Komponente des kalorischen Nystagmus zur Gegenseite nach Spülung mit Eiswasser oder der völlige Ausfall der Reaktion. Der Kopf muss bei der Spülung um 45° gebeugt sein. Sekundäre Hirnstammkompression. Eine sekundäre, traumatische Hirnstammschädigung entwickelt sich in der Folge eines sehr ausgedehnten Hemisphärenödems oder eines intrazerebralen oder extrazerebralen Hämatoms (s.u.). Oft sind die Patienten schon vorher sediert und beatmet, so dass die klinische Untersuchung erschwert ist. Pupillenstörungen (oft wird die ipsilaterale Pupille zuerst weit, Erklärung 7 Kap. 11.2), Ausfall der Schutzreflexe und Streck- und Beugeautomatismen sind bei leichter Sedierung aber zu erfassen. Eine Hirnstammläsion lässt sich heute auch durch Registrierung der somatosensibel evozierten Potentiale und der akustischen Hirnstammpotentiale erfassen. Diese Untersuchungen geben auch im Frühstadium nach einem Trauma Anhaltspunkte für die Prognose einer Hirnstammläsion.

3Therapie 4 Alle Patienten mit einem Wert von 8 oder weniger auf der Glasgow-Skala werden intubiert und beatmet, sofern dies ohne zusätzliche Gefährdung möglich ist. 4 Bei Werten über 8 und zusätzlichen Verletzungen, die die Atmung gefährden können, sind Intubation und Beatmung ebenfalls indiziert. 4 Die Intubation erfolgt orotracheal in leichter Reklination des Kopfes, der durch einen Helfer fixiert wird. Anteflektion oder Seitwärtsdrehung sind zu vermeiden, da man bei 10% der Verletzten mit einer begleitenden Wirbelsäulenverletzung rechnen muss. Die HWS muss deshalb immobilisiert werden. Nicht intubationspflichtige Patienten erhalten O2. Die Sauerstoffsättigung soll mindestens 95% betragen.

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Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Facharzt

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Pathophysiologie der Hirnkontusion. Die traumatische Substanzschädigung des Gehirns wird oft als »Gehirnquetschung« bezeichnet. Pathophysiologisch spielt aber die direkte, mechanische Substanzschädigung des Gehirns durch den Aufprall der stumpfen Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. Experimentell ist nachgewiesen worden, dass der traumatischen Substanzschädigung des Gehirns einer von vier im folgenden geschilderten Mechanismen zugrunde liegt. Beschleunigungs- oder Verzögerungstrauma nach breitflächig auf den Schädel einwirkender Gewalt. Während die Knochenschale des Kopfes in der Stoßrichtung beschleunigt oder durch den Aufprall plötzlich gebremst wird, bleibt das Gehirn durch seine Massenträgheit zurück. Es drängt sich am Stoßpol zusammen: Hier entsteht ein momentaner Überdruck. An der gegenüberliegenden Seite entfernt es sich kurz von der Schädelinnenwand: Es entsteht ein kurz dauernder Unterdruck. Das durchblutete Gehirn lässt sich physikalisch als eine Flüssigkeit auffassen, in der sich Gas befindet. Beim Auftreten eines Sogs reißt die Flüssigkeit unter Bildung kleinster Gasblasen auf. Diese Gasbläschen drängen beim Erreichen einer kritischen Größe des Unterdrucks das Gewebe auseinander und sprengen die feinen Kapillaren. Auf diese Weise entstehen Substanzschäden, die wir unkorrekt mit dem eingebürgerten Namen Rindenprellungsherde (coup und contre coup) bezeichnen. Akuter Unterdruck ist auch die Ursache von Hirnstammläsionen und periventrikulären Scherverletzungen. Bei sagittal angreifender Gewalt liegt die Stoßrichtung im großen Schädeldurchmesser. Dabei wird die Schädelhöhle deformiert, die bitemporale Achse vergrößert sich. Die Ventrikel werden dadurch in seitlicher Richtung ausgeweitet, ihr Rauminhalt wird vergrößert. Während der kurzen Stoßzeit kann jedoch nicht genügend Liquor in die Gehirnkammern nachfließen. Es resultiert ein Unterdruck im Ventrikelsystem, der sich auf die ventrikelnahen Venen als tangentialer Zug auswirkt, so dass sie einreißen. Hauptsitz dieser primär traumatischen Blutungen sind ventrikelnahe Balkenanteile, die Umgebung der Seitenventrikel und der obere Hirnstamm. Umschriebener Stoß gegen den Schädel: Hierbei bleibt der Kopf in Ruhe, die Gewalt drückt an der Stoßstelle den Knochen ein. Der Knochen kehrt aber rasch wieder in seine Ausgangsposition zurück. Dabei bildet sich an dieser Stelle ein Unterdruck aus, der auf die oben geschilderte Weise zur umschriebenen Hirnrindenschädigung führt. Rotationstrauma: Wird der Schädel in eine Drehbewegung versetzt, kann das Gehirn durch seine Massenträgheit dieser Bewegung nicht rasch folgen. Durch Zug- und Scherkräfte reißen die verbindenden Blutgefäße zwischen Schädelinnen-

wand und Gehirn ein, so dass subdurale Hämatome (durch Einriss von Brückenvenen), Subarachnoidalblutungen und auch Gefäßeinrisse in den äußeren Schichten der Hirnrinde entstehen. Pathologie. Pathologisch-anatomisch findet man neben den primären, mechanisch bedingten Läsionen auch sekundäre, reaktive Gewebsschädigungen in Form von Diapedesisblutungen, Ödem, Parenchymnekrosen und anderen Gewebsalterationen. Anämische und hämorrhagische Nekrosen sind an vielen Stellen des Gehirns lokalisiert. Prädilektionsorte sind: Hirnrinde, Balken, Basalganglien, Hirnstamm und Kleinhirn. Die sekundären Gewebsschäden werden auf arterielle und venöse Zirkulationsstörungen zurückgeführt. Da die Läsionen ein unterschiedliches Entstehungsalter haben, darf man folgern, dass die Zirkulationsstörungen nach einem Hirntrauma für eine eng begrenzte Zeit protrahiert auftreten. Hierzu trägt intrazerebral das Ödem (s.u.) bei. Das traumatische Ödem bildet sich vor allem im Marklager aus. Wichtige, extrazerebrale Faktoren sind: Herzleistung, Systemblutdruck (z.B. bei Schock) und Sauerstoffsättigung des Blutes (mechanisch oder zentral behinderte Atmung). Nach neuen Untersuchungen sind etwa 80% der Hirnläsionen nach schweren Traumen ischämisch bedingt. In den ersten Stunden nach dem Trauma ist der zerebrale Blutfluss massiv reduziert. Mikrodialysedaten zeigen in dieser Phase einen starken Anstieg des exzitatorischen Transmitters Glutamat (7 Kap. 5). Pathophysiologie des traumatischen Hirnödems. Diese ist noch nicht genau bekannt. Es gibt jedoch viele Hinweise darauf, dass es sich hierbei vornehmlich um einen zytotoxischen und weniger um einen vasogenen Mechanismus handelt. Hieraus erklärt sich auch, dass Kortikosteroide bei traumatischem Ödem wirkungslos und deshalb nicht indiziert sind. Das Ödem komprimiert das Hirngewebe (s. Abb. 26.2) und führt so zur Hypoxie infolge Mangeldurchblutung. Dadurch aber wird die Ödemproduktion weiter angeregt, so dass sich ein Circulus vitiosus schließt. Nach etwa 6 Wochen ist ein morphologischer Defektzustand eingetreten. Das generalisierte Hirnödem führt oft zu einem ausgedehnten Markschwund, der sich im Computertomogramm als Hydrocephalus internus und Vergröberung vor allem der frontalen Rindenfurchen darstellt. Umgekehrt darf man aber aus einer Erweiterung der inneren oder äußeren Liquorräume ohne harte Kriterien einer traumatischen Substanzschädigung nicht auf die Schwere eines vorangegangenen Hirntraumas schließen, weil solche morphologischen Veränderungen unspezifisch sind und selbst angeboren oder frühkindlich erworben sein können.

569 26.2 · Hirntraumen

4 Eine sekundäre Hirnschädigung kann auch durch arterielle

Hypotonie zustande kommen. Man schätzt, dass 15–20% der Patienten mit einem akuten Hirntrauma eine Hypoxämie und 10– 15% eine Hypotonie haben. 4 Bei schwerem und mittelschwerem Hirntrauma werden zwei venöse Zugänge gelegt. Der mittlere, arterielle Blutdruck soll 90 mmHg betragen. Arterielle Hypertonie beruht meist auf unzureichender Analgesie bzw. Sedierung. Volumentherapie, Analgesie und Sedierung werden nach den Regeln der Intensivtherapie ausgeführt, Anamnese, Befunde und Maßnahmen werden – unter Angabe von Zeitpunkt und Beteiligten – auf Formblättern dokumentiert. 4 Die weitere Behandlung richtet sich in erster Linie gegen die Folgen der sekundären, gefäßbedingten Gehirnveränderungen nach den Regeln der Intensivmedizin. 4 Zur Kontrolle des intrakraniellen Drucks kann es nach Kopftraumen, aber auch bei Enzephalitis oder nach Subarachnoidalblutung notwendig werden, den intrakraniellen Druck kontinuierlich zu messen (sog. ICP-Monitoring). 5 Grundsätzlich ist die Anlage einer Ventrikelsonde wünschenswert, da hiermit neben der Möglichkeit einer Druckmessung gleichzeitig die einer Liquordrainage, so diese erforderlich wird, besteht. Allerdings ist häufig aufgrund des Schwellungszustandes des traumatisierten Gehirns eine Sondeneinlage in die Ventrikel nicht möglich, so dass alternativ eine Sondierung des Hirnparenchyms erfolgt. 5 Die Registrierung erleichtert die Beurteilung, ob die gegebene Behandlung wirksam ist oder nicht. Druckniveaus über 15 mmHg oder 20 mmHg kommen unter normalen Verhältnissen nicht vor. Je höher der Druck steigt, umso mehr ist der Patient durch eine weitere Druckzunahme gefährdet (Luftballonprinzip). Wenn der intrakranielle Druck den arteriellen Mitteldruck übersteigt, tritt der Hirntod ein. Die Indikation für eine intrakranielle Druckmessung ist bei jedem Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und pathologischem CCT-Befund gegeben. 5 Das pathophysiologisch relevante und damit vordringliche Ziel bei der Behandlung eines erhöhten intrakraniellen Drucks ist die Aufrechterhaltung eines zerebralen Perfusionsdrucks (CPP; CPP = mittlerer arterieller Blutdruck – ICP) von mindestens 70 mmHg. Hierzu kommt eine Volumenexpansion und gegebenenfalls zusätzlich eine vasopressorische Medikation mit Katecholaminen zum Einsatz. Ansonsten sind die Methoden zur Behandlung des erhöhten Hirndrucks, wie sie in Kap. 5.7.4 beschrieben wurden (Osmotherapie, THAM, Barbiturate, ggf. leichte Hyperventilation), auch beim Trauma einzusetzen. Eine therapeutisch induzierte, leichte (34 °C) Hypothermie kann zwar nachweislich den ICP senken, jedoch konnte bisher insgesamt kein Einfluss auf eine verbesserte Prognose der so behandelten Patienten gezeigt werden. Auch die Durchführung einer dekompressiven Kraniektomie wird in kontrovers diskutiert.

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3Prognose. Wenn Streckkrämpfe auftreten, beträgt die durchschnittliche Letalität 50%. Die Prognose ist ferner schlecht, wenn beiderseits reaktionslose, weite Pupillen länger als 4 h bestehen. Die Überlebensrate bei länger dauerndem Koma nimmt in Abhängigkeit vom Lebensalter rasch ab: Für 15-Jährige liegt die Grenze bei 20 Tagen Bewusstlosigkeit; 40-Jährige überleben gewöhnlich eine 12-tägige Bewusstlosigkeit nicht. Bei 50- bis 60Jährigen ist die Überlebensprognose nach 7 Tagen und bei über 60-Jährigen nach 5 Tagen schlecht. Jeder 7. Unfalltote, der am Unfallort oder auf dem Transport stirbt, geht an Erstickung zugrunde. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen ist die Aspiration von Blut oder Speiseresten eine wesentliche Mitursache des Todes. Mechanische Atemstörungen beeinträchtigen über die Hypoxämie auch die O2-Versorgung des Gehirns und verschlechtern dadurch die primär traumatische, zerebrale Schädigung. Wird eine Hirnstammkontusion überlebt, behalten die Patienten schwere Ausfallssymptome zurück, wie Dysarthrophonie, okulomotorische und Pupillenstörungen, Ataxie und Tremor. Die Prognose verschlechtert sich mit steigendem Lebensalter und zunehmender Dauer der Bewusstlosigkeit. Ein entscheidender Faktor ist die Dauer der Rehabilitationsbehandlung, die mit den üblichen 4–6 Wochen viel zu kurz bemessen wird. 3 Spätfolgen. Nach schwerer Substanzschädigung des Gehirns kann eine körperliche oder psychische Dauerschädigung zurückbleiben, die bei entschädigungspflichtigen Unfällen zu berücksichtigen ist. Keineswegs hat aber jede Hirnsubstanzschädigung eine andauernde, fassbare Funktionsstörung und andauernde Beschwerden zur Folge. Trotz pathologisch-anatomisch nachweisbarer Hirnläsion kann klinisch eine Restitutio ad integrum eintreten. Die Tatsache wird oft durch den Wunsch des Verletzten nach Bestrafung des Schuldigen und nach materieller Entschädigung überdeckt. Die Begutachtung verlangt deshalb eine sorgfältige Analyse von initialer Symptomatik, Verlauf, gegenwärtiger Symptomatik und eine kritische Prüfung, ob geklagte Beschwerden plausibel sind. Die weit verbreitete Meinung, Hirntraumafolgen seien beim alten Menschen generell schwerer und länger dauernd als in jüngeren Jahren, ist bisher durch exakte Untersuchungen nicht gestützt worden, ausgenommen nach Hirnstammkontusion mit tagelangem Koma. Das Syndrom der neuropsychologischen Dauerschädigung nach Substanzschädigung des Gehirns ist durch folgende Erscheinungen charakterisiert: 4 Erschwerte Umstellung und Schwierigkeiten der Bewältigung von komplexen Situationen, die zur generellen Leistungseinbuße und geringeren Belastbarkeit führen. 4 Verhaltensänderung, die sich im Extremfall als Stumpfheit, Antriebsarmut, affektive Nivellierung, Entdifferenzierung der Persönlichkeit mit Verlust individueller Züge und Feinheiten äußert. Dabei sind die Betroffenen oft reizbar. Expansive (manifor-

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Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Exkurs Traumatische Dezerebration Dezerebration 3Definition. Unter den Folgen von Hirntraumen nimmt die traumatische Dezerebration klinisch und pathophysiologisch eine Sonderstellung ein. Wie bereits im 7 Kap. 3 besprochen, wird als Dezerebration ein neurologisches Syndrom bezeichnet, bei dem durch Krankheitsprozesse verschiedener Art eine funktionelle Trennung von Hirnmantel und Hirnstamm eingetreten ist. Man spricht deshalb auch vom apallischen Syndrom (Pallium = Hirnmantel).

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3Pathogenese. Die Enthirnungsstarre kann unmittelbar nach einem Kopftrauma eintreten. Diese Fälle sind als primäre Hirnstammkontusion einzuordnen. Die sekundäre Enthirnungsstarre entwickelt sich mit wechselnder Latenz als Folge einer traumatischen, intrakraniellen Blutung oder einer schweren, bilateralen Schädigung des Marklagers. 3Pathologie. Ausgedehntere, akute Zerstörungen in Brücke und Mittelhirn werden nur wenige Stunden überlebt. Meist liegen multiple, sekundäre Gewebsschäden in den Basalganglien, im limbischen System, auf verschiedenen Ebenen des Hirnstamms und im Marklager der Hemisphären vor. Manchmal findet man lediglich kleine, petechiale Blutungen oder multiple, kleine Erweichungen in der Brücke und im Mittelhirn. Diese Läsionen werden durch die summierte Wirkung von Hirnödem und traumatischen Zirkulationsstörungen erklärt. Eine besondere Rolle spielen dabei die orokaudale Verschiebung des Hirnstamms mit Zerrung seiner versorgenden Gefäße und die Herniation mediobasaler Teile des Temporallappens in den Tentoriumschlitz mit Kompression des oberen Hirnstamms. Beides kommt durch supratentiorelle Volumen- und damit Druckvermehrung zustande. Wie bei Hirntumoren, kann es auch zur Einklemmung der Kleinhirntonsillen in das Foramen occipitale magnum mit Druck auf die Medulla oblongata kommen (7 Kap. 11.2.3). 3Symptomatik und Verlauf. Ein Teil der Patienten stirbt in den ersten Stunden und Tagen nach der Enthirnung. Andere bleiben bis zu mehreren Monaten im apallischen Syndrom oder

me) Zustände sind seltener. Es ist allerdings sehr schwer, hier psychoreaktive Verhaltensweisen von organisch bedingten zu differenzieren. 4 Meist lässt sich auch ein Nachlassen der kognitiven Leistungen feststellen, und zwar unterschiedlicher Leistungen bei Läsion unterschiedlicher Anteile der linken oder der rechten Hemisphäre. Diese müssen mit standardisierten Methoden testpsychologisch festgestellt und detailliert beschrieben werden. Die Diagnose »psychoorganisches Syndrom« verschleiert die tatsächlichen Befunde und sollte zugunsten einer differenzierten Analyse von

im « Locked-in-Syndrom« (7 Kap. 2.3.2) und kommen dann entweder rasch ad exitum oder in einen Zustand von chronischem geistigen und körperlichen Siechtum mit Pflegebedürftigkeit. Es werden aber auch Verläufe beobachtet, in denen sich das Dezerebrationssyndrom relativ rasch, selbst schon nach einigen Tagen wieder zurückbildet. Günstigere Verläufe werden besonders bei Jugendlichen beobachtet. In der Rückbildungsphase lassen sich zunächst mehrere Stadien der Wiederherstellung motorischer Leistungen unterscheiden: automatische Wälz- und Laufbewegungen, reflektorisches Gegenhalten, Greifen und Saugen, undifferenzierte Spontanbewegungen, wandernde Blickbewegungen und schließlich optisches Fixieren. Während das Sprachverständnis wieder zurückkehrt, bleibt lange Zeit ein traumatischer Mutismus bestehen, der auf fehlender motorischer Kontrolle über die Kehlkopfmuskeln beruht. Die Sprechfunktionen stellen sich dann über affektive Lautäußerungen und Flüstern wieder her. Nicht selten zeigen die Kranken ein Fluktuieren zwischen den einzelnen Restitutionsphasen, und bei interkurrenten Infekten kann die Entwicklung wieder rückläufig sein, so dass erneut eine Dezerebrationshaltung und tiefere Bewusstseinstrübung eintritt. Das in 7 Kap. 1.3.5 beschriebene »ocular bobbing« zeigt eine schlechte Prognose an. 3Therapie. Die Behandlung entspricht in groben Zügen der bei allen schweren Hirntraumen mit länger dauernder Bewusstlosigkeit. Die Streckkrämpfe werden nicht mit Phenytoin, sondern durch Injektion von Clonazepam (Rivotril, 3- bis 4-mal 1–2 mg/Tag) behandelt. Dissoziierter Hirntod Er ist in 7 Kap. 2. detailliert besprochen. Nach Traumen kommt er primär, d.h. nach massivster Zerstörung des gesamten Gehirns, nach schwerster Hirnstammschädigung mit sofortigem Ausfall der Spontanatmung und sekundär durch Hirnstammausfall infolge der transtentoriellen, seltener auch der transforaminalen Herniation (7 Kap. 11.2.3) zustande.

Leistungseinbußen und verbliebenen Leistungsmöglichkeiten verlassen werden. Auch neurologische Herdsymptome können zurückbleiben. Sie sind gewöhnlich geringer ausgeprägt als die psychopathologischen und kognitiven Veränderungen. Zur traumatischen Epilepsie als Spätfolge 7 26.4.3. Das Spätstadium einer traumatischen Substanzschädigung der Großhirnhemisphären lässt sich fast immer mit bildgebenden Verfahren erfassen. Verwertbar für die Diagnose eines Zu-

571 26.3 · Traumatische Hämatome

standes nach traumatischer Substanzschädigung des Großhirns ist v.a. der Nachweis eines oder mehrerer lokalisierter, nicht gefäßabhängiger Defekte in der Substanz der Hemisphäre und/oder einer lokalen Ausweitung des Ventrikelsystems. > Kognitive Folgen von Hirntraumen müssen neuropsy-

chologisch mit standardisierten Verfahren erfasst werden. Eindrucksurteile sind sehr unzuverlässig. Der Begriff der traumatischen Hirnleistungsschwäche sollte aufgegeben werden, weil er Eindrucksurteile und Vorurteile (was ist Hirnleistung?) widerspiegelt, nicht jedoch nachprüfbare Feststellungen.

26.2.3 Offene Hirnverletzung Hier ist nicht nur die Schädeldecke, sondern, als entscheidendes Kriterium, auch die Dura eröffnet. Diese Verletzungen sind in Kriegszeiten häufig, nach Unfällen seltener. Schussverletzungen und andere Verletzungen bei (versuchten) Tötungsdelikten führen auch zu offenen Hirnverletzungen. Im Frühstadium besteht durch Infektion die Gefahr einer Hirnphlegmone. Im weiteren Verlauf sind Spätabszesse und die Entwicklung einer traumatischen Epilepsie zu befürchten. Da jede offene Hirnwunde als infiziert angesehen werden muss, kann die Behandlung nur chirurgisch sein: Ausräumen der Wunde und Verschluss der Duralücke unter hohen Dosen von Antibiotika. Eine offene Hirnverletzung liegt auch bei Schädelbasisbrüchen mit Durazerreißung vor. Zu Einzelheiten s. Lehrbücher der Traumatologie und der Neurochirurgie. 26.3

Traumatische Hämatome

Wir unterscheiden epidurale, subdurale und intrazerebrale Hämatome. Traumatische Hämatome treten nach etwa 10% aller Schädeltraumen auf. Zu allen Formen sind besonders Alkoholkranke und Patienten disponiert, die unter Antikoagulanzienbehandlung stehen. 26.3.1 Epidurales Hämatom 3Pathologie. Das epidurale Hämatom ist eine arterielle, extradurale Blutung im Frühstadium nach einem Kopftrauma. Seine Ursache ist eine Zerreißung der A. meningea media oder eines ihrer Äste. Diese entsteht oft durch eine Fraktur der temporoparietalen Schädelkalotte. Das Hämatom tritt meist gleichseitig zur Fraktur auf. Das Fehlen eines Kalottenbruchs schließt aber ein epidurales Hämatom nicht aus. 3Symptome. Das auslösende Trauma kann gering sein und braucht nicht einmal zur Hirnbeteiligung zu führen. Man darf aber auch bei einem Trauma mit initial schwerer Symptomatik

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die Möglichkeit des epiduralen Hämatoms nicht außer acht lassen. Nicht wenige Patienten kommen ad exitum, weil bei ihrer schweren Bewusstseinsstörung neurologische Kontrolluntersuchungen versäumt werden, so dass das sich entwickelnde Hämatom unerkannt bleibt und nicht operativ entleert wird. War das Trauma leicht, schließt sich an die initiale Symptomatik zunächst ein symptomarmes, sog. freies Intervall von einigen Minuten bis Stunden an. Danach verschlechtert sich der Zustand des Kranken wieder progredient: Das Bewusstsein trübt sich ein, und es bildet sich durch Kompression einer Hirnhälfte eine kontralaterale Hemiparese aus. Auf der Seite des Hämatoms wird die Pupille durch Okulomotoriuslähmung mydriatisch. Dieses wichtige Symptom kann aber auch fehlen oder auf die falsche Seite hinweisen, weil durch den nach medial gerichteten Hirndruck gelegentlich der kontralaterale N. oculomotorius an den Klivus gepresst wird. Basale Hämatome können zur Abduzenslähmung führen. 3Diagnostik. Schnell und absolut sicher ist das epidurale Hämatom im CT nachzuweisen. Meist stellt es sich als hyperdense, raumfordernde Läsion unter der parietalen Schädelkalotte dar, die gegen das Hirn (Dura) sehr scharf abgegrenzt ist. Die Dichte ist oft inhomogen (frisches neben bereits geronnenem Blut unterschiedlicher Dichte). Lage, Größe und günstigster Trepanationsort sind mit der CT schnell darzustellen. Dabei lassen sich auch eventuell vorliegende Kontusionsherde des Gehirns nachweisen. Die Ableitung eines EEGs bringt nur Zeitverzögerung. 3Therapie. Die einzig sinnvolle Therapie ist die Schädeltrepanation mit Ablassen des Hämatoms. Selbst die rasche chirurgische Intervention kann aber manchmal die Entwicklung eines Dezerebrationssyndroms oder des Hirntodes nicht verhindern. 3Prognose. Wird die Diagnose nicht gestellt, dehnt sich das Hämatom weiter in die Breite und Tiefe aus, führt zu einer extremen Seitwärtsverlagerung des Gehirns und durch Druck nach kaudal zur Einklemmung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz. Es tritt eine Enthirnungsstarre ein, und der Patient stirbt am Versagen der medullären Kreislauf- und Atemregulation. Die Letalität liegt bei 20%. 26.3.2 Akutes Subduralhämatom (SDH) Dieses ist viel seltener und klinisch kaum von einem epiduralen Hämatom zu unterscheiden. Wegen der begleitenden Hirnschwellung ist oft auch bei kleinen SDH eine erhebliche Massenverlagerung vorhanden. Es entwickelt sich, da venös, etwas langsamer. Die Blutung stammt aus eingerissenen Brückenvenen. Im CT findet man oft nur schmale, weit ausgedehnte Blutablagerungen zwischen Gehirn und Schädelkalotte. Sie können auch im Interhemisphärenspalt und in der hinteren Schädelgrube vorkommen. Die Therapie ist immer chirurgisch.

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Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

26.3.4 Traumatische Subarachnoidalblutung Sie kommt praktisch nie isoliert vor, sondern ist meist mit einem subduralen oder einem intrazerebralen Hämatom verbunden. Bei großen, subarachnoidalen Blutmengen drohen, wie bei der aneurysmatischen SAB, Gefäßspasmen, die man mit transkraniellem Doppler erfassen kann. Therapie der Gefäßspasmen: Nimodipin, Dosierung 7 Kap. 9.2.4. 26.3.5 Intrazerebrales Hämatom

26

Das traumatische, intrazerebrale Hämatom ist etwa genauso häufig wie das epidurale. Es kommt immer gemeinsam mit einer Hirnkontusion und oft mit sub- oder epiduralen Blutungen kombiniert vor. 3Symptome. Wie bei den extrazerebralen Hämatomen, ist ein freies Intervall zwischen dem Trauma und der progredienten Entwicklung eines raumfordernden intrakraniellen Hämatoms nicht selten, weil sich kleine Einblutungen in Hirnkontusionen zu großen, raumfordernden Hämatomen ausweiten können. Entsprechend der vorwiegend temporalen oder auch frontalen Lokalisation der Blutungen tritt als Herdsymptom vor allem eine Hemiparese auf. Das Hämatom führt in rascher Entwicklung auch zu Allgemeinsymptomen: Kopfschmerzen, Erbrechen, Blutdruckanstieg, Atemstörungen, Bewusstseinstrübung bis zum Koma. Weite, lichtstarre Pupillen zeigen eine beginnende Einklemmung des Mittelhirns, d.h. die drohende Dezerebration an. 3Therapie und Prognose. Zur Behandlung muss das Hämatom operativ entfernt werden, wenn es der Zustand des Patienten irgend erlaubt. Tief liegende Hämatome über 2 cm Durchmesser werden stereotaktisch punktiert. Die Letalität ist dennoch hoch. Oft bleiben Restsymptome bestehen.

rangegangenen Trauma fragen und an die Möglichkeit eines subduralen Hämatoms denken. Die sog. Pachymeningeosis haemorrhagica interna, die vorwiegend bei chronischem Alkoholmissbrauch auftritt (7 Kap. 29.3.3), ist mit dem SDH morphologisch und klinisch identisch. 3Symptome. Die Symptomatik ist weniger dramatisch, aber qualitativ ähnlich der beim epiduralen Hämatom. 3Diagnostik. Die Diagnose wird durch die CT gestellt. Das Erscheinungsbild des chronisch-subduralen Hämatoms hängt wesentlich von seinem Alter ab. Die primär erhöhte Dichte geronnenen Blutes nimmt im Laufe von Wochen ab. Das Hämatom kann dann hirnisodens und schließlich hypodens werden. Oft findet man auch unterschiedliche Dichten, vor allem dann, wenn bei langsamem Wachstum kleine, frische Blutungen vorliegen. Insbesondere bei doppelseitiger Ausprägung kann ein chronisches, hirnisodenses SDH im CT leicht übersehen werden. Eine altersuntypische, schlechte Abgrenzbarkeit der Gyrierung und enge äußere Liquorräume sollten bei älteren Patienten kritisch hinterfragt werden. 3Therapie. Deutlich raumfordernde SDH müssen rasch operativ entfernt werden. Weniger ausgedehnte, subdurale Hämatome werden auch konservativ behandelt, allerdings häufig im CT kontrolliert. 26.4.2 Spätabszess Nach Schädelfraktur besteht die Gefahr eines traumatischen Spätabszesses, wenn ein Schädelbasisbruch oder eine Verletzung der Nebenhöhlen bzw. des Innenohres vorgelegen haben (7 26.1.2). 26.4.3 Traumatische Epilepsie

26.4

Spätkomplikationen

Für die Behandlung und Begutachtung spielt die Frage eine große Rolle, welche Dauerfolgen und Spätkomplikationen nach einer Schädel- und Hirnverletzung möglich sind. Die Dauerfolgen sind oben bereits besprochen worden. 26.4.1 Chronisches, subdurales Hämatom Beim chronischen SDH setzen die Symptome erst Tage, oft auch Wochen und Monate nach einem Trauma ein. Der Kopfunfall liegt manchmal so lange zurück, dass der Patient oder seine Angehörigen nicht spontan davon berichten. Bei jedem Fall von langsam zunehmender Bewusstseins- oder Antriebsstörung mit oder ohne Halbseitenzeichen sollte man deshalb nach einem vo-

Bei gedeckter Hirnverletzung mit Substanzschädigung kann sich im Abstand von Monaten bis zu vielen Jahren eine traumatische Epilepsie entwickeln. Das Risiko einer traumatischen Spätepilepsie ist nach früh (Stunden bis Tage) auftretenden Anfällen signifikant erhöht, besonders bei Kindern. Die Häufigkeit wird bei geschlossener Hirnverletzung mit etwa 5% angegeben. Die traumatische Spätepilepsie manifestiert sich bei 50% der Patienten im ersten Jahr, bei 70–80% in den ersten 2 Jahren nach dem Trauma. Für die folgenden 10 Jahre rechnet man mit 3–5% erstmalig auftretender Epilepsie. Bei etwa 15% der Patienten manifestiert sich die traumatische Epilepsie später als 5 Jahre nach dem Trauma, gleich ob dies eine gedeckte oder penetrierende Hirnverletzung (Schussverletzung) war. Das Epilepsierisiko liegt nach traumatischer Substanzschädigung des Gehirns 3- bis 4fach höher als das Risiko in der Gesamtbevölkerung.

573 26.4 · Spätkomplikationen

Allerdings sollte vor Annahme einer traumatischen Genese der Anfallskrankheit durch Computertomographie ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Epilepsie aus anderer Ursache, z.B. bei einem gutartigen Hirntumor, handelt. Die Behandlung soll hier ausnahmsweise bereits nach dem ersten Anfall einsetzen, weil die Gefahr einer chronischen Epilepsie sonst sehr groß ist. »Prophylaktische Behandlung« ohne Auftreten eines Anfalls ist bei geschlossener Hirnverletzung überflüssig: Bis zu 90% dieser Patienten nehmen ihre Medikamente ohne Notwendigkeit ein. Eine Beobachtung des EEG-Verlaufs ist ausreichend, weil im EEG vor dem ersten Anfall einer traumatischen Epilepsie oft Spitzenpotentiale auftreten. Offene Hirnverletzungen sind zu 35% von traumatischer Epilepsie gefolgt, daher ist hier vorbeugende Verordnung von Antiepileptika gerechtfertigt.

26

26.4.5 Traumatische arterielle Dissektionen Nach Traumen, die den Hals treffen oder bei denen der Kopf akut maximal nach dorsal flektiert wird, kann es zu Einrissen in der Wand der A. carotis interna oder A. vertebralis kommen, die gewöhnlich dicht unter der Schädelbasis lokalisiert sind. An diesen Dissekaten können sich Thromben bilden. Von diesen können, mit Latenz von Tagen, Emboli in die A. cerebri media bzw. die Kleinhirnarterien oder die A. basilaris eingespült werden, die dann zu schwierig aufzuklärenden, akuten Gefäßinsulten führen. Der Zusammenhang mit dem Trauma ist nur durch sehr sorgfältige dopplersonographische und angiographische Untersuchung mit speziellem Augenmerk auf den basisnahen Abschnitt der A. carotis interna bzw. A. vertebralis zu belegen. Pseudoaneurysmenbildung nach Dissektion. Es drohen nicht

26.4.4 Sinus-cavernosus-Fistel

nur lokal-raumfordernde Komplikationen, sondern bei intraduralen Aneurysmen eine Subarachnoidalblutung.

Weiter ist, besonders nach Schädelbasisbrüchen, die Entwicklung einer traumatischen Carotis-sinus-cavernosus-Fistel möglich. Symptomatik und Behandlung 7 Kap. 8.4.2. In Kürze Schädeltraumen

Hirntraumen

Schädelprellung. Durch stumpfe Gewalt (Schlag, Stoß) ausgelöst. Symptome: plötzlicher, lokaler oder diffuser Kopfschmerz, bei Schädigung des Innenohrs Schwindel, Nystagmus, Übelkeit. Diagnostik durch Röntgenaufnahme. Therapie: Schonung, Kopfschmerzmittel.

Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT). Symptome: Sofort einsetzende Bewusstseinsstörung 1 h, traumatische Psychose, zerebrale Herdsymptome. Diagnostik: CT: Rindennah gelegene oder tief ins Marklager reichende hypodense, nicht gefäßabhängige Läsionen; MRT: Zentrale, kleinere Blutungen im Mittelhirn; EEG im akuten Stadium verlangsamt. Komplikationen: Extrazerebrale, intrakranielle Blutungen, Vielfachverletzungen wie Pneumothorax, Zerreißen innerer Organe. Verlauf: Initiales Koma; delirantes Syndrom mit fluktuierender Bewusstseinstrübung, psychomotorischer Unruhe; traumatisches, bewusstseinsklares Korsakow-Syndrom mit Desorientiertheit, Störung der Merkfähigkeit. Intensivmedizinische Therapie mit Intubation, Volumentherapie, Analgesie, Sedierung. Überlebensrate bei länger dauerndem Koma nimmt mit Lebensalter ab. Tod durch Aspiration von Blut oder Speiseresten. Spätfolgen: Neuropsychologische Dauerschädigung wie Leistungseinbußen, geringere Belastbarkeit, Verhaltensänderung.

574

Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Offene Hirnverletzung. Öffnung der Schädeldecke und Dura durch Verletzungen bei (versuchten) Tötungsdelikten. Gefahr einer Hirnphlegmone durch Infektion im Frühstadium. Chirurgische Therapie zum Ausräumen der Wunde, Verschluss der Duralücke.

Intrazerebrales Hämatom. Symptome: Hemiparese, Allgemeinsymptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Blutdruckanstieg, Atemstörungen, Bewusstseinstrübung. Chirurgische Therapie.

Spätkomplikationen Traumatische Hämatome

26

Epidurales Hämatom. Arterielle, extradurale Blutung im Frühstadium nach Kopftrauma infolge Zerreißung der A. meningea media oder der Äste. Symptome: Minuten- bis stundenlanges symptomarmes Intervall, progrediente Verschlechterung mit Bewusstseintrübung, kontralateraler Hemiparese, mydriatischer Pupille. Diagnostik: CT: Hyperdense, raumfordernde Läsion mit inhomogener Dichte. Therapie: Schädeltrepanation mit Ablassen des Hämatoms. Bei fehlender Diagnose Tod durch Versagen der medullären Kreislauf- und Atemregulation. Akutes Subdural-Hämatom (SDH). Massenverlagerung durch begleitende Hirnschwellung, Blutung aus eingerissenen Brückenvenen. Diagnostik: CT: Schmale, weit ausgedehnte Blutablagerungen zwischen Gehirn und Schädelkalotte. Chirurgische Therapie. Traumatische Subarachnoidalblutung. Immer mit subduralem oder intrazerebralem Hämatom verbunden. Medikamentöse Therapie.

Chronisches, subdurales Hämatom. Symptome erst Tage bis Monate nach Trauma: Langsam zunehmende Bewusstseins- oder Antriebsstörung mit oder ohne Halbseitenzeichen. Diagnostik: CT: Abnahme der primär erhöhten Dichte geronnenen Blutes. Therapie: Chirurgische Therapie bei raumfordernden, konservative Therapie bei subduralen Hämatomen. Traumatische Epilepsie. Bei gedeckter Hirnverletzung mit Substanzschädigung. Diagnostik: EEG mit Spitzenpotenzialen vor 1. Anfall. Medikamentöse Therapie nach 1. Anfall. Weitere Spätkomplikationen. Spätabszesse nach Schädelbasisbruch oder Verletzung von Nebenhöhlen bzw. Innenohr; traumatische arterielle Dissektionen nach Traumen, die Hals treffen oder bei denen der Kopf akut maximal nach dorsal flektiert wird. Sinus-cavernosus-Fistel v.a. nach einem Schädelbasisbruch.

27 27 Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen 27.1 Funktionelle, traumatische Rückenmarkschädigung – 576 27.2 Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks – 576 27.3 HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma, sog. Schleudertrauma) – 578 27.4 Elektrotrauma und Strahlenschäden des Rückenmarks – 580 27.4.1 Elektrotrauma – 580 27.4.2 Spätschäden des zentralen und peripheren Nervensystems durch ionisierende Strahlen – 581

576

Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

> > Einleitung

27

Er war Supermann, und er drehte mehrere erfolgreiche Filme, in denen er übernatürliche Kräfte einsetzen konnte und zum Retter der Welt (natürlich mehrfach …) wurde. Dann kam dieser dumme Reitunfall. Ganz plötzlich war alles anders. Er konnte Arme und Beine nicht mehr bewegen, selbst die Atemmuskulatur konnte nicht mehr gesteuert werden. Ein hoher traumatischer Querschnitt zwischen dem ersten und zweiten Nackenwirbel koppelte den Kopf vom restlichen Körper ab. Aus dem Superhelden, der fliegen konnte, wurde ein Mensch, der in allen Belangen des Lebens auf Hilfe angewiesen war, der aber dieses Schicksal, wie viele andere Querschnittgelähmte, mit erstaunlicher Geduld und Energie annahm und schließlich bei einer Oskarverleihung in einem bewegenden Auftritt zurück auf die Bühne kehrte. Nur am Rande sei vermerkt, dass sein Schicksal einen besonderen Anschub für die Forschung auf diesem Gebiet gab. Angeblich soll er kurz vor seinem Tod im Jahr 2004, fast 5 Jahre nach dem Unfall, erste Reinervierungszeichen haben. Die Verletzungen der Wirbelsäule gehören im Allgemeinen in das Fachgebiet der Unfallchirurgie und Orthopädie. Sie können aber neurochirurgische und neurologische Bedeutung bekommen, wenn die Gewalteinwirkung auf die Wirbelsäule auch zu einer vorübergehenden, funktionellen Rückenmarkschädigung führt, wenn Luxationen und Frakturen die Nervenwurzeln lädieren oder wenn das Rückenmark direkt mechanisch bzw. indirekt vaskulär eine Substanzschädigung erleidet. Unfallmechanisch handelt es sich meist um Stürze, oft mit Stauchung der Wirbelsäule, seltener um die Folgen von Schlag oder Stoß auf die Wirbelsäule und um Verschüttungen. Eine große Aufmerksamkeit haben in letzter Zeit die Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule bei Verkehrsunfällen gewonnen. Dabei wird der Kopf bei unerwarteten Auffahrunfällen von rückwärts plötzlich nach hinten und dann, relativ energiearm, nach vorn bewegt. Hierfür ist im Amerikanischen der suggestive Begriff des whiplash injury (Peitschenschlagverletzung) geprägt worden. In Deutschland hat es sich eingebürgert, für jede mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule den dramatisierenden Begriff des Schleudertraumas anzuwenden, auch wenn von Schleudern beim jeweiligen Mechanismus gar keine Rede sein kann. Dieser »Diagnose« wird in aller Regel noch das Adjektiv »schwer« hinzugefügt wird: Patienten, denen man nur eine einfache Zerrung der Nackenmuskulatur attestiert, fühlen sich meist missverstanden.

27.1

Funktionelle, traumatische Rückenmarkschädigung

3Pathogenese. Die Pathogenese dieser Funktionsstörungen ist nicht einheitlich: Die reversible Funktionsstörung in den Bahnen bzw. Kerngebieten des Rückenmarks soll durch kolloidchemische Veränderungen oder durch flüchtige, lokale Zirkulationsstörungen (Ischämie, Ödem) bedingt sein.

3Definition und Symptome. Das Syndrom ist nicht eindeutig definiert und in seiner Pathophysiologie auch deshalb nicht gut verstanden, weil die Symptome nur leicht und flüchtig sind. Man spricht dann von einer funktionellen, traumatischen Rückenmarkschädigung, wenn bei einem Patienten nach Wirbelsäulentrauma Gefühlsstörungen in den Extremitäten, Reflexdifferenzen ohne Lähmungen, auch einmal Blasenstörungen auftreten, die sich nach Minuten bis Stunden wieder völlig zurückbilden. Eine andauernde Funktionsstörung tritt nicht ein. Bildgebende Verfahren zeigen keinen pathologischen Befund im Rückenmark. Die Diagnose kann also erst aus dem Verlauf gestellt werden. Eine Ähnlichkeit mit der Commotio cerebri ist, was die Flüchtigkeit der Symptome und die fehlende morphologische Schädigung angeht, nicht zu verkennen. 3Therapie. Eine spezielle Behandlung ist nicht erforderlich. 27.2

Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks

3Epidemiologie. Die Inzidenz traumatischer Querschnittslähmungen liegt in industrialisierten Staaten bei 10–30 Fällen pro 1 Million Einwohner. Die häufigsten Ursachen in Friedenszeiten sind Verkehrs- und Sportunfälle. 3Definition und Pathophysiologie. Unter diesem Oberbegriff fasst man eine Gruppe von traumatischen Funktionsstörungen des Rückenmarks zusammen, die in Symptomatik, Pathogenese und pathologisch-anatomischen Befunden unterschiedlich sind. Gemeinsam ist allen diesen Fällen das Auftreten von spinalen, neurologischen Symptomen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Trauma und deren verzögerte, oft nur unvollständige Rückbildung. Die Symptomatik wird davon bestimmt, auf welcher Höhe und in welcher Querschnittsausdehnung das Rückenmark geschädigt ist. Das Halsmark ist bevorzugt betroffen. Die Einteilung erfolgt anhand der neurologischen Ausfälle, die von funktioneller und prognostischer Bedeutung sind. Das Rückenmark wird direkt mechanisch oder indirekt vaskulär oder durch beide Mechanismen geschädigt. Durch direkte Quetschung der Marksubstanz kommt es zu lokaler Zerstörung von Nervengewebe, auch zur Zerreißung von Gefäßen, Blutaustritten und Ödembildung. Das Ödem kann sich innerhalb der ersten Tagen noch ausdehnen, was bei inkompletten Läsionen zur Verschlechterung des Befundes führt Die geschädigten Rückenmarksbezirke können später gliös vernarben oder sich verflüssigen (traumatische Höhlenbildung, Liquefaktionsnekrose). Eine besondere Rolle spielen Durchblutungsstörungen in der vorderen Spinalarterie (7 Kap. 10), die besonders bei Überstreckung der Wirbelsäule eintreten. Sie führen zur Ischämie oder Erweichung der Rückenmarkssubstanz, weit seltener zu Rhexisblutungen.

577 27.2 · Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks

3Symptome und Verlauf. Die Symptomatik einer akuten Rückenmarksverletzung ist abhängig von der Höhe und dem Ausmaß der Schädigung. Die neurologischen Ausfälle setzen im zeitlichen Zusammenhang mit dem Trauma ein und bilden sich im weiteren Verlauf zum Teil nur unvollständig zurück. Die Einteilung der Rückenmarkssyndrome erfolgt anhand der neurologischen Ausfälle, die von funktioneller und prognostischer Bedeutung sind. 4 komplette Durchtrennung des Rückenmarks: komplettes Querschnittsyndrom (QS) mit motorischer, sensibler und vegetativer Symptomatik; 4 vorderes Rückenmark-(Anterior-Cord-)Syndrom: QS (komplett/inkomplett sowie Konus-Kauda-Syndrom) mit Verletzung der vorderen zwei Drittel des Rückenmarks mit Ausfällen der Motorik sowie der Schmerz-/und Temperaturwahrnehmung, ggf. Blasenstörung; 4 Brown-Sequard-Syndrom: spinale Halbseitenlähmung; 4 zentrales Rückenmark-(Central-Cord-)Syndrom: Verletzung der zentralen Rückenmarkanteile (meist im HWS-Bereich) mit vorwiegend Ausfällen im Bereich der Arme. Im Anfangsstadium besteht oft ein spinaler Schock mit Erlöschen aller Rückenmarkfunktionen. Aus diesem Stadium bildet sich erst nach einigen Tagen eines der oben genannten Syndrome heraus. Der Verlauf hängt von Lokalisation und Schwere der Schädigung ab: Sensible Störungen bilden sich im Allgemeinen besser zurück als motorische. Symptome der langen Bahnen haben eine bessere Prognose als nukleäre Lähmungen. Nervenwurzeln, auch die Kaudafasern, sind dank ihrer Schwann-Scheide widerstandsfähiger als das Rückenmarksgrau. Die Rückbildung der Symptome ist am Stamm meist in kraniokaudaler Richtung zu verfolgen. An den Extremitäten kann sie von proximal oder von distal aus erfolgen und über handschuh- oder strumpfförmige Verteilungsmuster verlaufen. Bei unvollständiger Restitution bleiben spastische oder schlaffe Paresen, Gefühlsstörungen und Schwierigkeiten der Blasen- und Darmentleerung zurück. Oft kommt es zu Potenzstörungen. Nach schwerer Schädigung mit vollständiger Querschnittsläsion bildet sich in wenigen Wochen die Eigentätigkeit des Rückenmarks aus: Es kommt zur Beuge- oder Streckspastik der Extremitäten mit spontanen oder reflektorischen, unwillkürlichen Bewegungen, später oft auch zu Kontrakturen und zu automatischer Blasenentleerung. Zu den Komplikationen nach schwerem Rückenmarktrauma zählen: Beinvenenthrombosen, Lungenembolien, Pneumonien, Blasen- und Nierenentzündung, Nierenschädigung durch intravesikale Drucksteigerung, autonome Dysreflexie mit anfallsweise auftretenden hypertonen Krisen als Überreaktion des von seiner supraspinalen Kontrolle abgetrennten spinalen sympathischen Nervensystems und die posttraumatische Syringomyelie. 3Diagnostik. Neurologische Untersuchung (inklusive Blasen-/Mastdarmfunktion, vegetative Symptome, Reflexstatus, Pulsstatus).

27

Nativröntgenaufnahmen zur Übersicht knöcherner Verletzungen, gefolgt von CT oder MRT. Im MRT kann man einen umschriebenen Herd oder mehrere Herde erhöhter Signalintensität finden. Bei Polytrauma zusätzlich noch thorakale und abdominelle Diagnostik, bei Schädel-Hirn-Beteiligung Diagnostik wie in 7 Kap. 26 beschrieben. Bei Verdacht auf Vertebralisdissektion: Ultraschalldiagnostik oder MR-Angiographie. 3Therapie 4 Steroide: 5 Früh, d.h. in den ersten 6–12 Stunden hochdosierte Methylprednisolonbehandlung, z.B. initial 30 mg/kg KG, dann 3-mal 1–2 g über 3 Tage. 5 Einige Autoren befürworten die hoch- bis höchstdosierte Kortisongabe in den ersten Stunden (bis 10 g), möglichst noch am Unfallort, um das traumatische Rückenmarksödem – und damit Folgeschäden – zu verhindern. 4 Allgemeine Intensivmedizin: Das akute QS bedarf aufgrund der möglichen Komplikationen der intensivmedizinischen Überwachung. Die Behandlung des Rückenmarksverletzten ist spezialisierten Querschnittzentren vorbehalten. Durch operative Dekompression und Stabilisierung der Wirbelsäule wird das Rückenmark mechanisch entlastet. Unmittelbar postoperativ beginnt die Rehabilitation, in der durch intensive Krankengymnastik und Pflegemaßnahmen Restfunktionen des Rückenmarks aufrechterhalten und gefördert sowie Komplikationen verhindert werden 4 Funktionelles Training: Zur Verbesserung der Handfunktion und zur Erlangung der Gehfähigkeit hat sich ein frühzeitiges funktionelles Training bewährt. Die Handfunktion kann in Kombination mit funktioneller elektrischer Stimulation und die Gehfähigkeit mit Hilfe des Lokomotionstrainings verbessert werden. 3Vermeidung und Behandlung von Komplikationen 4 Thromboseprophylaxe mit z.B. niedermolekularem Heparin für mindestens 3–6 Monate. 4 Spastik und Blasenstörungen werden symptomatisch medikamentös behandelt (Baclofen (Lioresal®) oder andere antispastisch wirksame Substanzen). 4 Die Indikation zum suprapubischen Katheter (geringere Infektionsgefahr, Vermeidung einer Detrusorüberdehnung mit der Folge von Zystitiden, Pyelonephritiden und damit Nierenschäden) wird früh gestellt. Später Blasentraining zur Entwicklung einer reflektorischen Blasenentleerung, Selbstkatheterismus, evtl. sakrale Deafferenzierung und Implantation eines Vorderwurzelstimulators. 4 Häufige Drehung des Patienten, verbunden mit krankengymnastischem Durchbewegen zur Vermeidung von Kontrakturen. Bei jeder Querschnittslähmung, besteht die Gefahr des Dekubitus. Eine schwerwiegende Komplikation sind periartikuläre Weichteilverkalkungen in querschnittsgelähmten Gliedmaßen.

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Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

Facharzt

Experimentelle Therapien bei QS Neuro- und Gliaprotektion. Hochdosierte Gabe von Methylprednisolon (30 mg/kg KG) in der frühen Akutphase ( > Einleitung In diesem Kapitel werden die Auswirkungen systemischer metabolischer Krankheiten auf das Nervensystem besprochen. Die diagnostische Aufklärung verlangt gute Kenntnisse der Inneren Medizin oder die enge Zusammenarbeit mit einem Internisten. Die Bezeichnung als dystrophische Prozesse bezieht sich auf die neuropathologischen Gewebsveränderungen, die nicht entzündlich und nicht reaktionsarm degenerativ sind. Vielmehr findet man zumeist eine schwammartige (»spongiöse« ) Auflockerung des Gewebes. Bei einem Teil dieser Krankheiten ist eine kausale Therapie möglich.

28.1 Funikuläre Spinalerkrankung 3Definition und Ätiologie. Bei Mangel an Vitamin B12 (extrinsic factor), gleich welcher Ursache, kann es zu einem degenerativen Entmarkungsprozess in den Strangsystemen des Rückenmarks kommen. Die funikuläre Spinalerkrankung, meist kombiniert mit Megaloblastenanämie (perniziöse Anämie), beruht in erster Linie auf dem Fehlen von intrinsic factor bei Autoantikörperbildung gegen die Intrinsic-Faktor-bildenden Belegzellen, nach Gastrektomie, bei alkoholbedingter Gastritis oder bei Magenkarzinom. Andere, wesentlich seltenere Ursachen sind: mangelnde Resorption von Vitamin B12 bei Dünndarmresorptionsstörungen, relative B12-Hypovitaminose bei der sog. Schwangerschaftsperniziosa, Zerstörung des Vitamins durch bakterielle Fehlbesiedelung beim Syndrom der »blinden Schlinge« , ferner durch Medikamente verursachter B12-Mangel nach Hydantoinen, Primidon, Phenobarbital, Phenylbutazon, Nitrofurantoin, Zytostatika und kalziumbindenden Substanzen sowie nach Lachgasnarkosen. > Die funikuläre Spinalerkrankung tritt häufig kombiniert

mit perniziöser Anämie (Megaloblastenanämie) auf. Ungenügende B12-Resorption oder mangelndes B12Angebot sind die wichtigsten Ursachen.

3Pathogenese. Die Pathogenese ist nicht aufgeklärt. Vitamin B12 spielt eine Rolle bei der Synthese der Ribonukleinsäuren. Wie dies zu einer Störung der Markscheiden führt, ist unklar. Man kann eine Störung im Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel vermuten. Die Symptomatik folgt dem B12-Mangel mit großer Verzögerung, weil die körpereigenen Depots etwa 2 Jahre lang ausreichen. Die paraneoplastische, kombinierte Strangdegeneration tritt ohne B12-Resorptionsstörung auf. 3Symptome und Verlauf. Im mittleren oder höheren Lebensalter entwickeln sich subakut innerhalb weniger Wochen und Monate oder langsam progredient Symptome, die vom Befall der Hinterstränge, der Kleinhirnseitenstränge und der Pyramidenseitenstränge bestimmt werden. Die funikuläre Spinalerkrankung kann der megalozytären Anämie vorangehen.

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Die Patienten klagen über brennende, unangenehme Missempfindungen in den Füßen und Händen, die sich später auch auf die Unterschenkel und Unterarme ausbreiten oder eine abnorme Ermüdbarkeit beim Gehen. Später bildet sich eine Paraparese der Beine mit sensibler Ataxie aus. Diese ergreift in geringerem Maße auch die Arme. Die Blasenentleerung ist gelegentlich gestört. Unbehandelt führt die Krankheit in wenigen Jahren zur partiellen Querschnittslähmung. Der Untersuchungsbefund kann, je nach der Verteilung des Prozesses auf die Längenausdehnung und den Querschnitt des Rückenmarks, sehr mannigfaltig sein. Meist besteht eine diffuse Schwäche der Gliedmaßen ohne Bevorzugung einzelner Muskelgruppen. Der Muskeltonus ist meist vermindert. Unabhängig davon sind die Eigenreflexe bald gesteigert, bald nicht auslösbar. Oft sind pathologische Reflexe zu erhalten, auch in solchen Fällen, bei denen die Eigenreflexe fehlen. Regelmäßig ist die Lagewahrnehmung gestört und die Vibrationsempfindung herabgesetzt oder aufgehoben. Oft sind auch die übrigen sensiblen Qualitäten beeinträchtigt. Augenmuskellähmungen und Optikusatrophie sind sehr selten. Eine Sonderform ist die sog. Tabak-Alkohol-Amblyopie (B12-Mangelschädigung der Sehnerven). Die Enzephalopathie durch Vitamin-B12-Mangel in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms oder als paranoider Psychose, Delir oder Depression ist eine Rarität. 3Diagnostik. Elektrophysiologisch sind die motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeit vermindert. Früh sind auch die SEP pathologisch verändert. Labor: In der Blutuntersuchung sind eine makrozytäre hyperchrome Anämie und hypersegmentierte neutrophile Granulozyten wegweisend. Die direkte Messung des Vitamin-B12-Spiegels im Blut ist nur als Screening-Test geeignet. Bei grenzwertigen Befunden oder bei dringendem klinischem Verdacht müssen die Metaboliten Homocystein und Methylmalonsäure im Serum oder Methylmalonsäure im Urin bestimmt werden, die bei Vitamin-B12-Mangel ansteigen und den Versorgungsstatus im Gewebe widerspiegeln. Nachweis einer B12-Resorptionsstörung durch den Schillingtest mit oral zugeführtem, radioaktiv markiertem Kobalt-Vitamin B12. Dieser Test bestimmt aber nur die Resorptionskapazität bei oraler Vitamin-B12-Zufuhr, nicht die tatsächliche Versorgung des Nervengewebes. Bei Verdacht auf Intrinsic-Faktor-Mangel muss der Schillingtest mit Intrinsic-Faktor wiederholt werden. Fehlt die Bestätigung durch die Laboruntersuchung, muss man auf Folsäuremangel (s.u.) untersuchen. Liegt auch dieser nicht vor, muss man die Diagnose revidieren oder ex juvantibus zu einer Diagnose kommen. > Kein Schillingtest während oder kurz nach therapeuti-

scher B12-Substitution, da dadurch die Absorption des markierten B12 herabgesetzt ist.

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Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Exkurs B12-Stoffwechsel und pathologisch-anatomische Befunde B12-Stoffwechsel Der Minimalbedarf an Vitamin B12 pro Tag beträgt etwa 1 µg. Bei normaler Ernährung nimmt ein Mitteleuropäer etwa 4– 20 µg/Tag auf. Mehr als 50 µg werden nicht gespeichert, sondern ausgeschieden. Der Gesamtkörpergehalt an B12 beträgt 3–5 mg. Entsprechend lange halten die B12-Vorräte. Pathologisch-anatomische Befunde bei funikulärer Spinalerkrankung Man findet anfangs multiple, unscharf begrenzte Entmarkungsherde in den Hintersträngen, den Kleinhirnseitensträngen und Pyramidenseitensträngen. Diese fließen beim Fortschreiten des Prozesses zu schwammartigen (»spongiösen« ) Lückenfeldern zusammen, die die Grenzen der einzelnen Stränge überschreiten. Zunächst gehen nur die Markscheiden, später auch die

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3Therapie 4 Frühzeitige Behandlung mit Vitamin-B12-Präparaten kann den degenerativen Prozess zum Stillstand und in vielen Fällen zur Rückbildung bringen. Sobald eine nennenswerte Degeneration von Axonzylindern vorliegt, darf keine Heilung mehr erwartet werden. 4 Dosierung: 1 Woche täglich 1000 µg B12 i.m. oder i.v., dann 1–6 Monate wöchentlich 1000 µg, dann eine Injektion all 1– 3 Monate. 4 Höhere B12-Dosen und häufigere Injektionen führen nur zu rascher Ausscheidung aus dem mit B12 gesättigten Organismus. Allerdings stellt die Industrie kaum noch niedrig dosierte B12Präparate her. 3Differentialdiagnose. Bei chronischer Polyneuropathie sind die Lähmungen auf distale oder proximale Muskelgruppen beschränkt und nicht so diffus verteilt wie bei funikulärer Spinalerkrankung. Atrophien sind bei Polyneuropathie meist zu finden, bei funikulärer Spinalerkrankung sind sie sehr selten. Pyramidenbahnzeichen kommen bei Polyneuropathie selbstverständlich nicht vor. Die Missempfindungen und sensiblen Ausfälle gestatten keine verlässliche Differenzierung. Im Zweifel entscheiden die Elektroneurographie sowie die Laborbefunde. Die Kombination von Hypotonie der Beine mit positivem Babinski-Reflex und Störung der Tiefensensibilität ist auch für die Friedreich-Heredoataxie (7 Kap. 24.2.1) typisch. Diese Krankheit tritt aber im Kindes- und Jugendalter auf, entwickelt sich wesentlich langsamer als die funikuläre Spinalerkrankung und führt später auch zu zerebellärer Ataxie und Wirbelsäulenveränderungen.

Achsenzylinder zugrunde. Das histologische Bild wird dann durch sekundäre Waller-Degeneration kompliziert. Schließlich kommt es zur gliösen Vernarbung (Sklerose). Die Veränderungen sind fast ganz auf das Rückenmark beschränkt. Hals- und Brustmark sind stärker als die unteren Abschnitte des Rückenmarks betroffen. Die Veränderungen erstrecken sich nach rostral nur bis zur Höhe der Hinterstrangkerne und der Pyramidenkreuzung. In geringem Maße finden sich spongiöse Herde auch im Marklager des Großhirns und im Faszikulus und Tractus opticus. Die graue Substanz ist nur gering betroffen. Auch in den peripheren Nerven findet man Markscheidenzerfall, zunächst ohne Axondegeneration. Diese peripheren Veränderungen sind reversibel.

28.2

Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson)

3Definition und Epidemiologie. Diese genetisch bedingte Störung im Kupferstoffwechsel führt zur pathologischen Ablagerung des resorbierten Kupfers in der Leber, in den Basalganglien und anderen Hirnstamm- und Kleinhirnstrukturen sowie in der Cornea und zum Mangel an funktionsfähigem Coeruloplasmin. Häufigkeit weltweit 1:200 000, heterozygote Carrier 1:100. Die Krankheit setzt bevorzugt zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr ein (Extremwerte um 4 Jahre und 40 Jahre). Der Erbmodus ist autosomal-rezessiv. Männer erkranken häufiger als Frauen. In den betroffenen Familien lässt sich die Stoffwechselstörung auch bei Personen nachweisen, die keine hepatischen oder neurologischen Symptome zeigen. Gegenwärtig sind mehr als 200 Mutationen im Wilson-Gen bekannt, eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation konnte nicht gefunden werden 3Pathophysiologie. Die Krankheit beruht auf einem genetisch bedingten Störung im Kupferstoffwechsel. Coeruloplasmin ist für die Kupferausscheidung essentiell. Ein geringer Teil des resorbierten Kupfers ist notwendig als integraler Bestandteil von Metalloproteinen, der überschüssige potentiell toxische Anteil wird hepatobiliär eliminiert. Die pathologische Cu-Ablagerung im Gehirn und in der Leber führt zur Degeneration vor allem des Linsenkerns und zur Leberzirrhose. Diese hat eine Verminderung der Albuminproduktion zur Folge, wodurch sekundär auch die Ersatzbindung des Kupfers beeinträchtigt wird. 3Symptome und Verlauf. Psychisch werden die Patienten zunächst affektlabil, reizbar, aggressiv und unstet. Im späteren Verlauf verfallen sie einer stumpfen oder euphorischen Demenz. Die extrapyramidale Bewegungsstörung hat meist den Charakter eines akinetisch-rigiden Parkinson-Syndroms. Es treten aber auch

587 28.2 · Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson)

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Facharzt

Kupferstoffwechsel und pathologisch-anatomische Befunde bei Morbus Wilson Biochemie Zentral ist die hepatozelluläre ATPase 7B als intrazellulärer Kupfertransporter mit spiegelabhängiger Modifikation ihrer Aktivität. Sie erfüllt dabei zwei Funktionen, den Kupfereinbau in Apo-Coeruloplasmin bei niedrigem Kupferspiegel und die biliäre Exkretion bei erhöhtem Spiegel zum Erhalt der Kupferhomöostase. Infolge Mutation des ATP-7B-Proteins kommt es zu dessen Funktionsverlust mit Coeruloplasminsynthesestörung und der krankheitsentscheidenden verminderten biliären Kupferexkretion. Nach einer individuell unterschiedlich langen Phase der Kompensation durch Bindung an hepatisches Metallothionin führt der erhöhte intrazelluläre Kupfergehalt über oxidativen Stress wahrscheinlich zur Induktion der Apoptose der Hepatozyten. Physiologischerweise wird das aus dem Darm resorbierte Kupfer im Serum zu über 90% an Coeruloplasmin gebunden.

choreatische, athetotische und dystone Hyperkinesen auf. Sehr charakteristisch ist eine verwaschen-dysarthrische Sprechstörung mit Schluckstörung. Im Laufe der Jahre lässt die rigide Erhöhung des Muskeltonus wieder nach, und es entwickelt sich eine zerebelläre Bewegungsstörung mit Nystagmus und skandierendem Sprechen. Ein wichtiges Symptom ist die Asterixis oder der flapping tremor. Dies ist tatsächlich kein Tremor, sondern ein ruckartiger Verlust des Haltungstonus mit unregelmäßigen Korrekturbewegungen beim Armhalteversuch. Während der Haltungstonus nachlässt, ist für Perioden von 50–200 ms elektrische Stille in Muskeln zu registrieren, die normalerweise tonisch aktiv sind. Abhängig von der Schwere der Krankheit, beginnt die Asterixis an den Fingern, ergreift auch die Handgelenke und mehr proximal auch die Ellenbogen- und Schultergelenke. Der Verlauf ist in schweren Fällen tödlich. Die Krankheitsdauer beträgt in der Regel nur wenige Jahre (Grenzwerte 5–6 Monate und 3–4 Jahrzehnte). Der Tod erfolgt in akuten Fällen an Massennekrose der Leber, bei chronischem Verlauf an Dekompensation der Leberzirrhose. 3Diagnostik. In wenigstens 60% der Fälle findet man den pathognomonischen Kayser-Fleischer-Hornhautring. Dies ist ein 1–2 mm breiter, bräunlich grüner Streifen an der Peripherie der Hornhaut in der Descemet-Membran, der bei durchfallendem Licht gold-gelb aufleuchtet. Er ist manchmal erst unter der Spaltlampe zu erkennen. Die Pigmentierung beruht auf Kupfereinlagerungen. Der Kayser-Fleischer-Ring findet sich manchmal auch bei anderen Lebererkrankungen. Das EEG bleibt uncharakteristisch. Internistisch findet sich in der Mehrzahl der Fälle eine grobknotige Leberzirrhose mit

Steht dieser Eiweißkörper nicht zur Verfügung, kann das Kupfer nur eine lockere Ersatzbindung an Albumin eingehen. Aus dieser wird es zum Teil von Proteinen in den Basalganglien und der Leber aufgenommen, zum Teil durch den Urin ausgeschieden. Pathologie Am Gehirn ist bereits makroskopisch eine bräunliche bis ziegelrote Verfärbung und Schrumpfung des Corpus striatum mit Zerfallsherden zu erkennen. Mikroskopisch findet man einen Status spongiosus mit Lückenfeldern und pathologischer Gefäßwucherung, v.a. im Putamen, geringer auch in den übrigen Basalganglien und im Nucleus dentatus des Kleinhirns. Sekundär ist das Brachium conjunctivum degeneriert. Im Putamen und in der zirrhotisch veränderten Leber ist Kupfer in größeren Mengen gespeichert.

Stauungsmilz. Wichtig ist eine Erhöhung des Leberkupfers im Blindpunktat auf mehr als 100 µg/1 g Trockensubstanz. Im Serum ist der Cu-Spiegel abnorm erniedrigt (Normalwerte 50–110 µg/100 ml). Pathologisch vermindert ist auch das Coeruloplasmin. Man findet Werte unter 0,20 g/l bei der immunologischen Bestimmung (unter 30 U/l enzymatisch). Im Urin wird Kupfer stark vermehrt ausgeschieden (Normalwerte unter 40 µg/dl/24 h). Daneben besteht eine pathologische Ausscheidung von Aminosäuren, auch von solchen, die normalerweise nicht im Urin erscheinen. Sie beruht auf mangelhafter Rückresorption in den durch Kupferablagerung geschädigten Nierentubuli. Wenn die Ergebnisse der Urin- und Serumuntersuchungen nicht eindeutig sind, muss bei fortbestehendem klinischem Verdacht eine Leberbiopsie erfolgen. > Die primäre Stoffwechselstörung bei Wilson-Patienten

liegt in der Leber: Nach Lebertransplantation haben Wilson-Patienten keine Kupferstoffwechselstörung mehr.

3Therapie. Die Therapie hat eine Normalisierung der Kupferbilanz zum Ziel. 4 Die Basis ist kupferarme Diät. 4 Um die intestinale Kupferaufnahme zu vermindern, gibt man Zinksulfat per os, 3- bis 5-mal 100 mg/Tag, 30 min bis 1 h vor den Mahlzeiten. 4 Zur Ausscheidung des Kupfers: D-Penicillamin (DPA), initial 250–500 mg/Tag, als Erhaltungsdosis 750–1600 mg/Tag in 3– 4 Einzeldosen. Die Metallbindung erfolgt über lösliche Chelatkomplexe.

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Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Empfehlungen Diagnostik und Therapie des M. Wilson* 4 Frühzeitiger Therapiebeginn und lebenslange Kontrolle (ca.1½ jährlich) sind erforderlich (A). 4 Ein Familienscreening eines diagnostizierten Wilsonpatienten ist notwendig und betrifft alle Geschwister und Kinder (A). 4 Ab einem Alter von 4–5 Jahren kann die Diagnostik bei Verdacht bzw. positiver Familienanamnese erfolgen (A). 4 D-Penicillamin (DPA) ist Mittel der Wahl zur Initialtherapie bei hepatisch und neurologisch symptomatischen Patienten, bei Unverträglichkeit Trientine (B).

4 Vitamin B6 substituieren, da DPA einen Vitamin-B6-Mangel verursachen kann.

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Wenn diese Behandlung erfolgreich ist, kann man außer der klinischen Besserung auch einen Rückgang des Hornhautrings erkennen. Nach der Natur des Leidens muss die Therapie lebenslang erfolgen. Nebenwirkungen sind: toxische Ageusie, Hautausschlag, Fieber, Leukopenie und Thrombozytopenie. Sie treten in den ersten 3–6 Wochen der Behandlung auf. In diesen Fällen soll man das Mittel absetzen, vorübergehend Kortikoide geben und die Therapie langsam wieder aufbauen. Auch heterozygote Familienmitglieder, die lediglich eine positive Kupferbilanz haben, sollen mit Diät behandelt werden. Die Steigerung der Kupferausscheidung durch DPA wird in zweifelhaften Fällen auch als Provokationstest zur Sicherung der Diagnose verwendet. Tetrathiomolybdat, ein intestialer Hemmer der Kupferresorption und Chelatbildner, kann Bedeutung zur Initialtherapie erlangen. Eine Zulassung steht noch aus. Tetrathiomolybdat zeigt geringe Nebenwirkungen, kann aber eine toxische Knochenmarkdepression auslösen. 28.3

Hepatoportale Enzephalopathie

Unter diesem Oberbegriff werden neurologische und psychiatrische Störungen bei chronischen Leberkrankheiten zusammengefasst, die auf einer mangelnden Entgiftungsfunktion der Leber bei portokavalem Shunt beruhen (s.u.). 3Pathophysiologie. Voraussetzung für die Enzephalopathie ist die Ausbildung eines Kollateralkreislaufs mit intra- und extrahepatischen portokavalen Anastomosen. Über diese Kollateralen, die sich bei Leberzirrhose entweder spontan bilden oder operativ zur Vermeidung von Varizenblutungen angelegt werden, erreichen toxische Substanzen aus dem Darm den großen Kreislauf und damit das Gehirn, ohne in der Leber entgiftet zu sein. In erster Linie handelt es sich um Ammoniak, der unter der Einwirkung von Darmbakterien aus stickstoffhaltigen Nahrungsbestandteilen gebildet wird. Der Ammoniak wirkt nicht nur direkt toxisch, sondern er führt durch gesteigerte Glutaminbildung zum

4 Eine Pyridoxinsubstitution (20 mg pro Tag) ist bei DPA-Medikation zu ergänzen (A). 4 Präsymptomatische Patienten können von Beginn an eine Zinkmedikation erhalten (B). * Empfehlungen nach den Leitlinien der DGN 2005

Mangel an α-Ketoglutarsäure im Zitronensäurezyklus und damit zu einer Beeinträchtigung der aeroben Glykolyse. Neben dem Ammoniak spielen aber auch toxische Spaltprodukte des Aminosäurestoffwechsels eine Rolle, die zur Hemmung der Dekarboxylierung wichtiger Aminosäuren führen. Der chronischen, hepatischen Enzephalopathie scheint ätiologisch eine Akkumulation von Mangan in den Basalganglien zugrunde zu liegen. Nach Lebertransplantation ist bei etwa 20% der Patienten mit ernsten, neurologischen Komplikationen zu rechnen. Epileptische Anfälle und eine Verstärkung der schon vorbestehenden hepatischen Enzephalopathie können unter Immunsuppression (Ciclosporin) auftreten. 3Symptome und Verlauf. Das klinische Syndrom ist durch die Trias 4 psychische Veränderung, 4 Asterixis (7 Kap. 23.6) und 4 abnormes Hirnstrombild gekennzeichnet. Langsam zunehmend, stellen sich Müdigkeit, emotionale Labilität, depressive Verstimmung, Störung im Schlafrhythmus und Nachlassen von Antrieb und Auffassung ein. Das Vollbild ist durch Bewusstseinstrübung mit Stupor oder ein delirantes Syndrom gekennzeichnet. Im Endstadium bildet sich ein Koma aus. Neben der Asterixis findet man einen Rigor der Muskulatur, gelegentlich extrapyramidale Hyperkinesen, besonders im Gesicht, artikulatorische Sprechstörung, Reflexsteigerung und Enthemmung von Greifreflexen der Hand und des Mundes (7 Kap. 3.13). Ein sehr feiner Indikator für die Beeinträchtigung der Bewegungskoordination ist die Handschrift. Polyneuritische Symptome sind selten. Leberausfallskoma: Die chronische, hepatische Enzephalopathie geht unbehandelt in ein Leberkoma über. Hierbei handelt es sich um das Leberausfallskoma. Neurotoxische Substanzen werden in der Leber nicht mehr entgiftet, da sie die Leber nicht mehr erreichen. 3Diagnostik. Bei akuter, hepatoportaler Enzephalopathie findet man das EEG stets entsprechend dem klinischen Schweregrad

589 28.4 · Neurologische Symptome bei akuter und chronischer Niereninsuffizienz

leicht, mäßig oder schwer pathologisch verändert: Innerhalb einer sog. Allgemeinveränderung enthält das Kurvenbild eine symmetrische, abnorme Rhythmisierung im Frequenzbereich der α-, Zwischen- oder δ-Wellen. Im chronischen, irreversiblen Stadium der lebertoxischen Hirnschädigung hat sich das EEG wieder normalisiert. Im Serum findet man zunächst eine Erhöhung des Bilirubins und der Transaminasen und später eine Verminderung der hepatischen Syntheseleistung, also eine Verminderung der Cholinesteraseaktivität unter 1500 mU/ml, pathologische Gerinnungswerte und Erhöhung des Ammoniak im arteriellen Blut über 200 μg/dl. In der MR-Diagnostik sieht man oft eine T1-Signalhyperintensität in den Stammganglien, die auf eine vermehrte Ablagerung von Mangan zurückzuführen ist (. Abb. 28.1). 3Therapie 4 Reduktion der Eiweißzufuhr auf anfangs 20–30 g/Tag, dazu allerdings Aminosäurensubstitution, v.a. von verzweigtkettigen Aminosäuren. 4 Medikamentöse Regulierung der Darmentleerung (1-mal täglich). Oral gibt man Laktulose 20–30 g/Tag. Laktulose verschiebt den pH-Wert des Darms in den sauren Bereich und erleichtert dadurch die Ausscheidung von Stickstoff. 4 Bleibt die Besserung unbefriedigend, gibt man schwer resorbierbare Antibiotika, z.B. Paromomycin oder Neomycin über Magensonde. Auf diese Weise werden eiweißspaltende und ammoniakbildende Darmbakterien eliminiert.

. Abb. 28.1. Hepatische Enzephalopathie Signalveränderung der Stammganglien (Pfeil) bei hepatischer Enzephalopathie. Details 7 Text. (B. Kress, Heidelberg)

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Leberausfallskoma Die chronische, hepatische Enzephalopathie geht unbehandelt in ein Leberausfallskoma über. Neurotoxische Substanzen werden in der Leber nicht mehr entgiftet, da sie die Leber nicht mehr erreichen. 28.4

Neurologische Symptome bei akuter und chronischer Niereninsuffizienz

Beim akuten und chronischen Nierenversagen, aber auch als Komplikation der Dialysebehandlung können Symptome vonseiten des zentralen und peripheren Nervensystems auftreten. 28.4.1 Urämische Enzephalopathien Akutes Nierenversagen 3Symptome. Die zentralnervösen Symptome hängen vor allem von der Akuität der Niereninsuffizienz ab. Bei gleichen Serumwerten etwa von Kreatinin oder Harnstoff sind die neurologischen Symptome schwer, wenn die renale Funktionsstörung plötzlich eingesetzt hat, und unbedeutend, wenn die Nierenfunktion nur langsam dekompensiert ist. Psychopathologisch kommt es beim akuten Nierenversagen zur Bewusstseinstrübung bis zum Koma und zur Psychose, vor allem vom deliranten Typ (7 Kap. 29.1.3). Neurologisch können epileptische Anfälle auftreten, wie sie auch von der Eklampsie bekannt sind. Flüchtige Halbseitensymptome (Lähmungen, Hemianopsie) werden auf vorübergehende Durchblutungsstörungen zurückgeführt. Die Eigenreflexe sind entweder gesteigert, besonders bei Hyperkaliämie, oder abgeschwächt bis erloschen, dies bei Hypernatriämie. Dabei liegt nicht notwendig eine Polyneuropathie vor, sondern es handelt sich um eine Membranstoffwechselstörung. Faszikuläre Zuckungen dagegen zeigen eine Funktionsstörung des peripheren, motorischen Neurons an. Ähnlich wie bei der hepatoportalen Enzephalopathie kann Asterixis auftreten. Das EEG zeigt, wie bei jeder hier besprochenen Stoffwechselstörung, Allgemeinveränderung und abnorme Rhythmisierung der Hirnstromtätigkeit, etwa in Abhängigkeit von der Schwere des Syndroms. Chronisches Nierenversagen 3Symptome. Die Symptome sind bei chronischem Nierenversagen weniger dramatisch: Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen, vor allem zum Depressiven hin, reizbare Leistungsschwäche, Merkfähigkeitsstörungen und schlechter Schlaf werden berichtet. Neurologisch sind epileptische Anfälle weit häufiger als beim akuten Nierenversagen. Sie werden auf die oft extreme arterielle Hypertonie zurückgeführt. Interessanterweise treten die Anfälle stets im Zustand der metabolischen Azidose auf, die sonst der Manifestation epileptischer Anfälle entgegenwirkt. Die Azidose

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Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

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Dialyseenzephalopathie Diese progrediente und häufig letale Enzephalopathie bei Patienten, die über lange Zeit hämodialysiert wurden, sieht man heute praktisch nicht mehr. Die Krankheit beruhte auf einer Ablagerung von Aluminium aus der Dialyseflüssigkeit im zerebralen und zerebellären Cortex, die zu spongiöser Gewebsveränderung führt. Die Symptomatik wird durch Sprech- und Sprachstörungen bis zum Mutismus, Perzeptionsstörungen, Erregungszustände mit Verwirrtheit und auch paranoid-halluzi-

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ist jedoch metabolisch partiell kompensiert, dagegen liegen andere anfallsbegünstigende Faktoren vor: hypertensive Krisen, Überwässerung des ZNS, Hypokalzämie. Nicht selten entwickelt sich beim chronischen Nierenversagen zusätzlich eine sensomotorische Polyneuropathie, die distal symmetrisch an den Beinen beginnt (s.u.). Dysequilibriumsyndrom bei Dialysebehandlung Bei Hämodialyse werden osmotisch wirksame Substanzen, in erster Linie Harnstoff, rasch aus dem Blutkreislauf entfernt. Die Elimination des Harnstoffs aus dem Liquor und dem Nervengewebe kann damit nicht Schritt halten. Dies führt nicht selten dazu, dass osmoregulativ Wasser in das Hirngewebe einströmt. Bei der protrahiert verlaufenden Peritonealdialyse ist diese Komplikation seltener.

natorische Psychosen beherrscht. Neurologisch treten Myoklonien und Asterixis auf, gelegentlich auch fokale oder generalisierte epileptische Anfälle. Das EEG zeigt bilateral synchrone Ausbrüche hochgespannter, langsamer Wellen, auch bi- oder triphasische Wellen. Im CT finden sich meist Zeichen einer deutlichen Hirnvolumenminderung. Eine kausale Therapie wäre die Nierentransplantation.

an den Armen eindrucksvoll konstrastieren kann. Hirnnervenlähmungen sind sehr selten, proximale Paresen kommen praktisch nicht vor. Im EMG findet man als Zeichen des chronischen Verlaufs Symptome der Denervierung und der Reinnervation nebeneinander. In vielen Fällen ist die Nervenleitgeschwindigkeit besonders stark verlangsamt, so dass man hier eine Stoffwechselstörung der Schwann-Zellen annehmen muss. Diese Interpretation wird durch die geringe Ausprägung von Schwäche und Muskelatrophien in solchen Fällen gestützt. > Schwere, renale Retentionsstörungen können zur

Enzephalopathie und Polyneuropathie führen.

28.5 3Symptome. Klinisch kommt es zu Kopfschmerzen, psychotischen Episoden, Reflexdifferenzen, zentralen Lähmungen und epileptischen Anfällen. Im EEG finden sich viele triphasische Wellen. Nephrogene Polyneuropathie Die nephrogene Polyneuropathie tritt vor allem bei chronischer Niereninsuffizienz auf. Sie ist gewöhnlich früher zu beobachten als die zentralnervösen Komplikationen der Nierenfunktionsstörung. Ursache der Polyneuropathie soll nicht nur die Wirkung von Urämietoxinen, sondern auch die Blockierung bestimmter Enzyme, z.B. der Pyruvat-Carboxylase, sein. Im Ganzen ist die Pathogenese der nephrogenen Polyneuropathie noch nicht ganz aufgeklärt. Sie tritt gewöhnlich bei stark erhöhten Serumretentionswerten auf, besonders wenn gleichzeitig eine Oligurie besteht. 3Symptome. Die Krankheit beginnt oft mit dem Syndrom der restless legs, d.h. einer Unfähigkeit, die Beine im Liegen ruhig zu halten, während gleichzeitig unangenehme Missempfindungen in den distalen Abschnitten der Beine bestehen. Im Initialstadium sind auch Muskelkrämpfe der Beine häufig. Es folgen Parästhesien, distal betonte Schwäche, Verminderung der ASR, später der PSR, womit die zentralnervös bedingte Reflexsteigerung

Akute, intermittierende Porphyrie

3Epidemiologie und Ätiologie. Neurologische Komplikationen treten in etwa 50% der Fälle von akuter, intermittierender Porphyrie auf, der häufigsten Porphyrinkrankheit. Sie wird dominant vererbt. Frauen erkranken wesentlich häufiger als Männer. Die ersten Symptome zeigen sich oft in der Schwangerschaft. Das mittlere Lebensalter ist bevorzugt. Die Prävalenz wird auf zwischen 1:10.000 bis 1:50.000 geschätzt. Der zugrunde liegende Enzymdefekt betrifft die Uroporphyrinogensynthetase. Die Stoffwechselstörung tritt krisenhaft (»akut intermittierend« ) auf. Der Nachweis erhöhter Urinkonzentrationen der Porphyrinvorläufer δ-Aminolävulinsäure und Porphobilinogen ist vor allem im »porphyrischen Anfall« möglich. 3Pathogenese. Bei den Patienten liegt ein Mangel an Porphobilinogen-Desaminase vor. Dadurch kommt es zur ausgedehnten, axonalen Schädigung im zentralen und peripheren sympathischen Nervensystem, in den peripheren somatischen Nerven und im Großhirn sowie zur Nervenzellschädigung in den motorischen Vorderhörnern des Rückenmarks und in der Hirnrinde. Ob die pathologischen Stoffwechselprodukte direkt toxisch oder indirekt vaskulär das Nervensystem schädigen, ist noch nicht sicher geklärt. Die erste Möglichkeit ist wahrscheinlicher.

591 28.6 · Leukodystrophien

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Prophylaxe der Porphyrieattacke Verboten sind folgende Medikamente: Barbiturate, Sulfonamide, Sulfonylharnstoffe, bestimmte Antibiotika, Pyrazolonderivate, Phenylbutazon (Butazolidin®), Pethidin, Meprobamate, Chlordiazepam, Antikoagulanzien, Hydantoine, Steroide (Östrogene, Progesteron), Sekalealkaloide, Procain, Chloroform, Quecksilber-, Blei-, Zink-, Phosphor-, ArsenVerbindungen. Grundsätzlich keine Mischpräparate! Auch Alkoholzufuhr ist untersagt.

Erlaubt sind bei Schmerzen Acetylsalicylsäure, Parazetamol, Morphin und Morphinderivate, Methadon, und zur Sedierung Promethazin, Codein, Paraldehyd und Nitrazepam. In der Roten Liste erscheint eine jährlich aktualisierte Aufzählung der verbotenen und erlaubten Medikamente.

3Symptome und Verlauf. Der vollen Symptomatik der akuten porphyrischen Krise gehen häufig jahrelang psychische Auffälligkeiten voraus, die von abnormen, »hysterischen« Verhaltensweisen und depressiven Verstimmungen bis zu akuten, deliranten Psychosen reichen können. Fast immer erfährt man zur Vorgeschichte von akuten, kolikartigen abdominellen Krisen, besonders im Frühjahr und Herbst, die nicht selten Anlass zu Bauchoperationen waren. Neurologische Symptome treten akut und schubweise nach vorangehenden diffusen Muskelschmerzen mit vegetativen Reizsymptomen, peripheren Lähmungen und Dysästhesien und zerebralen Symptome auf. Das typische, akute, neurologische Syndrom äußert sich entsprechend der oben gegebenen Einteilung in folgender Weise: Vegetative Symptome: Singultus, Obstipation, kolikartige intestinale Dyskinesen, Übelkeit und Erbrechen, Tachykardie, Schweißausbruch, Oligurie, flüchtige Amaurose und arterielle Hypertension als Symptome von Angiospasmen. Häufig ist die Temperatur leicht erhöht, die Leukozytenzahl vermehrt. Die Symptome des peripheren Nervensystems sind sehr variabel. Typisch soll ist die Mononeuritis multiplex (d.h. Befall mehrerer einzelner, peripherer Nerven) sein. Die zerebralen Symptome bestehen in fokalen oder generalisierten Anfällen, Halbseitenlähmung, neuropsychologischen Störungen und Psychosen, häufig vom deliranten Typ. Attackenauslösung: Attacken der akut intermittierenden Porphyrie werden durch eine Reihe verschiedener Medikamente oder Drogen ausgelöst. Auch hormonelle Faktoren spielen eine Rolle, vermutlich sind deshalb Frauen häufiger betroffen.

Ein negativer Ausfall des Tests schließt eine Porphyrieattacke als Ursache einer akuten neurologischen Symptomatik (fast) sicher aus. Bei positivem Ausfall müssen Porphobilinogen und δ-Aminolävulinsäure sowie Uro- und Koproporphyrine quantitativ bestimmt werden, die in der porphyrischen Krise so gut wie immer stark erhöht sind. Die Aktivität der Uroporphyrinogen-I-Synthetase in den Erythrozyten ist stark vermindert. Diese Enzymbestimmung eignet sich übrigens auch zur Erfassung von krankheitsgefährdeten Genträgern.

3Diagnostik. Die BSG ist beschleunigt. Der Liquorbefund ist uncharakteristisch. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist normal bei reichlicher Denervierungsaktivität im Nadelmyogramm als Zeichen einer primär axonalen Schädigung. In der porphyrischen Krise ist der Urin stets dunkel verfärbt. Urobilinogen im Urin ist stets in der Kälte positiv. Die Diagnose kann in wenigen Minuten durch den positiven Ausfall des einfachen Schwartz-Watson-Tests zum Nachweis von Porphobilinogen gesichert werden.

3Ätiologie und Pathogenese. Das pathologisch-anatomische Substrat der Leukodystrophie ist eine fortschreitende, diffuse, symmetrische Markscheidendestruktion mit reaktiver Gliawucherung, vor allem im Marklager des Großhirns und in den Kleinhirnhemisphären. Besonders schwer sind die kortikospinalen Bahnen befallen. Regelmäßig sind auch Faszikulus und Tractus opticus ergriffen. Entzündliche Veränderungen finden sich in der Regel nicht. Nach histologischen und histochemischen Kriterien werden mehrere Formen unterschieden.

3Therapie. Zufuhr aller Substanzen, die eine Überproduktion der δ-Aminolävulinsäure in der Leber und damit die akute, porphyrische Krise auslösen können, ist absolut kontraindiziert. 28.6

Leukodystrophien

3Definition. Leukodystrophien als Erkrankungen der weißen Substanz (griech. leukos, weiß) sind selten. Sie treten meist familiär, bei mehreren Geschwistern oder anderen Familienmitgliedern auf. Die Poliodystrophien, d.h. die Speicherkrankheiten, die die graue Substanz des ZNS betreffen (griech. polios, grau) u.a. der M. Tay-Sachs (amaurotische Idiotie; GM2-Gangliosidosen), Niemann-Pick-Krankheit, die Mucopolysaccharidosen und der M. Gaucher, werden nicht behandelt, da sie in das Gebiet der Pädiatrie gehören und in der Erwachsenenneurologie kaum eine Rolle spielen. Die zentrale, pontine Myelinolyse wird bei den Alkoholkrankheiten besprochen.

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Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

28.6.1 Metachromatische Leukodystrophie 3Pathophysiologie. Die Krankheit beruht auf einem genetisch bedingten Mangel an Aktivität der Arylsulfatase A. Dieser Enzymmangel führt zur Speicherung von Zerebrosidsulfat in den Markscheiden des zentralen und peripheren Nervensystems sowie in den Nierentubuli. 3Symptome und Verlauf. Die neurologischen Symptome setzen gewöhnlich im Säuglings- oder im frühen Kindesalter ein, d.h. in einer Periode, in der die Markreifung stattfindet. Die Kinder fallen zunächst dadurch auf, dass ihre geistige und motorische Entwicklung stehen bleibt. Dann bildet sich, chronisch fortschreitend, die typische Trias aus: 4 doppelseitige, spastische Lähmungen, 4 doppelseitige Optikusatrophie mit Blindheit und 4 Demenz.

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Je nach der Lokalisation treten weitere Symptome einer Leitungsunterbrechung hinzu: Nystagmus, Taubheit und Ataxie, extrapyramidale Hyperkinesen, epileptische Anfälle und – bei etwas älteren Kindern – neuropsychologische Störungen, wie Aphasie oder Apraxie. Sehr selten erkranken auch Erwachsene. Sie werden zunächst durch Persönlichkeitsverfall und intellektuelle Leistungsminderung auffällig. Danach bekommen sie extrapyramidale Bewegungsstörungen, epileptische Anfälle und eine schwere Demenz. Der Befall der peripheren Nerven bei metachromatischer Leukodystrophie bringt zwei Besonderheiten mit sich: Trotz spastischer Lähmung fehlen oft die Eigenreflexe, und die Kinder leiden periodisch unter heftigsten Schmerzen.

a

b

. Abb. 28.2a–c. Ausgeprägte Leukodystrophie im MRT bei metachromatischer Leukodystrophie. In allen Sequenzen zeigt sich die Veränderung der Signalgebung im kompletten hemisphärischen Marklager,

3Diagnostik. Wie bei allen Markscheidenprozessen, findet man die motorische und sensible NLG vermindert. Das EEG ist uncharakteristisch allgemeinverändert, was zur Abgrenzung von der subakuten, sklerosierenden Panenzephalitis wichtig ist. Der Liquor enthält in der Regel eine Vermehrung des Gesamteiweiß auf Werte um 1,00–2,00 g/l. Im Urin sind histochemisch metachromatische Substanzen nachweisbar. Ferner findet man die Sulfatidausscheidung im Urin vermehrt. Die Aktivität des Enzyms Arylsulfatase A im Urin ist vermindert. Die Arylsulfatase A wird auch in den Leukozyten bestimmt, gemeinsam mit zusätzlichen lysosomalen Enzymen zur Referenzbestimmung. Im CT findet man eine symmetrische Dichteminderung der weißen Substanz im Marklager der Hemisphären. Diese Marklagerdystrophie zeigt sich sehr deutlich im MRT (. Abb. 28.2). In der Biopsie des N. suralis stellt sich histologisch oder elektronenoptisch ein ausgeprägter Markscheidenzerfall dar. Histochemisch findet man Sulfatidablagerungen in den Schwann-Zellen und den Makrophagen des Bindegewebes 3Therapie und Prognose Eine wirksame Therapie ist nicht bekannt. Die Therapie ist symptomatisch, vorwiegend antiepileptisch. Es gibt erste Hinweise, dass bei metachromatischer Leukodystrophie mit ArylsulfataseA-Mangel eine Stammzelltransplantation wirksam ist. Die Prognose ist infaust. Die Krankheitsdauer beträgt wenige Monate bis einige Jahre. Im Endstadium besteht eine Enthirnungsstarre, in der mit den Kranken kein Kontakt mehr möglich ist. Die Krankheit kann über mehrere Jahrzehnte chronisch verlaufen.

c während die graue Substanz (Rinde, Basalganglien) normal ist: (K. Sartor, Heidelberg)

593 28.7 · Mitochondriale Krankheiten

28.6.2 Andere Leukodystrophien Obwohl es auch selten zu Leukodystrophien im jungen Erwachsenenalter kommt, verzichten wir hier auf die Besprechung dieser sehr seltenen und heterogenen Krankheiten und verweisen auf Lehrbücher der Kinderneurologie. 28.7

Mitochondriale Krankheiten

3Definition und Erbgang. Mitochondriale Erkrankungen sind häufiger als angenommen. Die Prävalenz wird auf etwa 12/100.000 geschätzt. Die mitochondriale DNA, etwa 1% der gesamten zellulären DNA, erfährt 10-mal häufiger Mutationen als die nukleäre DNA. Die Bedeutung der Mitochondrien für den oxidativen Stoffwechsel (oxidative Phosphorylierung) praktisch aller Gewebe hat zur Folge, dass diese Mutationen bei einer Vielzahl von Krankheiten eine Rolle spielen. Sie präsentieren sich klinisch häufig mit neurologischer Symptomatik. Mitochondriale Zytopathien führen zu Krankheiten, die durch Beginn im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter und sehr langsame Progredienz ausgezeichnet sind. Die ubiquitäre Bedeutung der Mitochondrien für den oxidativen Stoffwechsel der Zellen hat zur Folge, dass die Symptomatik der entsprechenden Krankheiten vielfältig, andererseits von einer Krankheit zur anderen ähnlich ist. Das Spektrum der klinischen Symptomatik reicht von milden Verläufen mit gewebsspezifischer Beteiligung im Erwachsenenalter bis zu schweren Multiorganaffektionen im frühesten Kindesalter. Erwachsene zeigen meist Zeichen einer Myopathie, oft assoziiert mit einer Beteiligung des ZNS. Die häufigsten Symptome bei Kindern sind eine generalisierte Muskelhypotonie (floppy infant), psychomotorische Entwicklungsverzögerung, Laktatazidose und kardiopulmonales Versagen. Die wichtigsten Krankheiten in der Neurologie haben als Leitsymptome ophthalmologische Funktionsstörungen und Myopathie mit belastungsabhängiger und dann schmerzhafter Muskelschwäche. Einen wichtigen Hinweis auf das Vorliegen einer mitochondrialen Krankheit entnimmt man bereits dem mütterlichen Erbgang: Mütter vererben die Krankheit an ihre Kinder, aber nur die Töchter vererben sie weiter. Häufig erfährt man, dass mehrere Mitglieder der Familie mit ähnlichen Symptomen erkrankt sind. . Tabelle 28.1 listet allgemeine und spezielle Symptome auf, die sich in verschiedenen Kombinationen bei mitochondrialen Krankheiten finden. Die Diagnose kann durch den Nachweis verschiedener, für die einzelnen Krankheitsbilder typischer Mutationen in der mitochondrialen DNA gestellt werden. Aus dem großen Spektrum der mitochondrialen Krankheiten werden einige praktisch wichtige besprochen. Bei ihnen sind Funktionsstörungen in verschiedenen Komplexen der mitochondrialen Atmungskette identifiziert worden, auf die wir nicht eingehen.

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. Tabelle 28.1. Häufige Symptome bei mitochondrialen Krankheiten Kleinwuchs Augenmuskellähmungen, Optikusneuropathie, Pigmentdegeneration der Retina, Gesichtsfelddefekte Kardiomyopathie, kardiale Überleitungsstörungen Diabetes mellitus, Hepatopathie, renale Rückresorptionsstörungen Anämie, Panzytopenie Schmerzhafte, muskuläre Ermüdbarkeit, CPK-Erhöhung Depressivität

3Diagnostische Prinzipien 4 Labor: Neben dem Basislabor CK, CK-MB, LDH, Ruhelaktat und Pyruvat im Serum. Ergometrie (Laktatanstieg?). 4 Muskelbiopsie mit histologischer, enzymhistochemischer und immunhistochemischer (Antikörper gegen Untereinheiten der Atmungskettenkomplexe) Untersuchung. Zusätzlich biochemische Analytik (Bestimmung von verschiedenen Aktivitäten wie Komplex I, III und IV, Citratsynthase oder Coenzym-Q10Bestimmung). 4 Molekulargenetische Diagnostik: DNA-Analyse aus Skelettmuskelgewebe zum Nachweis der häufigsten mtDNA-Mutationen, insbesondere Deletionen der mtDNA. 4 MRT: Man findet manchmal Basalganglienverkalkung, fokale ichämische Läsionen speziell in der weißen Substanz oder ausgedehnte, zusammenhängende Signalveränderungen in Hirnstamm, Thalamus und den Stammganglien sowie im Marklager. 4 Kardiologische Untersuchung mit UKG: Suche nach Herzmuskelbeteiligung. 3Allgemeines zur Therapie (nach den Leitlinien der DGN 2005). Es gibt keine kausale Behandlung der Mitochondriopathien. Experimentelle Ansätze einer Gentherapie sind noch nicht klinisch relevant. Die Therapie zielt auf Prävention und symptomatische Behandlung typischer Komplikationen. Bei der Ernährung achtet man auf kalorienreiche Kost mit mehreren kleinen, kohlenhydratreichen Mahlzeiten pro Tag. Körperliches Training soll regelmäßig und leicht aerob ohne Ausreizen der Belastungsgrenze sein. Bei fieberhaften Infekten droht die Gefahr der krisenhaften Verschlechterung, daher rasche Fiebersenkung und ggf. antibiotische Behandlung, adäquate Flüssigkeitszufuhr. Die bevorzugten Antipyretika sind Paracetamol umd Ibuprofen. Vorsicht mit volatilen Anästhetika bei Narkosen. Bei kardialen Komplikationen kann die frühzeitige Herzschrittmacherimplantation notwendig werden. Selten werden Herztransplantationen, bei monosymptomatischen Erkrankungen v.a. im Kindesalter, durchgeführt. Die Behandlung der epileptischen Anfälle erfolgt mit Carbamazepin, Lamotrigin, Levetiracetam und Gabapentin (kein Valproat!). Weitere Medikamente, die vermieden werden sollten: potentiell muskelschädigende Medikamente wie Statine oder Re-

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Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

sochin, Barbiturate, Aminoglykosid-Antibiotika (Ototoxizität), Chloramphenicol. Uneinheitliche Ergebnisse für eine Reihe von Substanzen, meist Kasuistiken oder unkontrollierte kleine Gruppen. Zu den immer wieder diskutierten Substanzen gehören: Coenzym Q, L-Carnitin, Kreatin, Vitamin B12.

zeigen Verkalkungen in den Basalganglien und parietookzipitale Signalveräderungen. 3Therapie. Zur Behandlung wird eine glukose- und kalorienarme Diät empfohlen. Medikamentös soll Prednison nützlich sein.

28.7.1 Chronisch progressive externe

28.7.3 MERRF-Syndrom

Ophthalmoplegie (Kearns-Sayre-Syndrom)

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3Symptome. Dieses Syndrom wird auch als Ophthalmoplegia plus bezeichnet. Dabei entwickelt sich eine chronisch verlaufende Lähmung äußerer Augenmuskeln, zu der sich im Lauf der Jahre weitere neurologische und nichtneurologische Symptome hinzugesellen. Die langsam fortschreitende Lähmung äußerer Augenmuskeln setzt vor dem 20. Lebensjahr mit doppelseitiger Ptose ein. Wegen des protrahierten Verlaufs führen die Augenmuskellähmungen nur in geringem Maße zu Doppelbildern. Eine Pigmentdegeneration der Retina bleibt lange Jahre ohne funktionsbehindernde Sehstörungen. Zusätzliche Symptome sind: leichte Spastik und Ataxie, beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, eine proximale Myopathie ohne andauernde, nur mit belastungsabhängiger Muskelschwäche und mit nur geringen, myopathischen EMGVeränderungen, Eiweißvermehrung im Liquor, Demenz und Störungen der kardialen Überleitungszeit bis zum AV-Block. In der Muskelbiopsie kann man herdförmige Ausfälle der Cytochrom-C-Oxidase und die oben erwähnten ragged red fibers finden. Die Mehrzahl der Patienten sind sporadische Fälle aufgrund von singulären mtDNA-Deletionen. Seltener finden sich verschiedene vererbte Punktmutationen der mtDNA. 28.7.2 MELAS-Syndrom Die Bezeichnung MELAS steht für mitochondrial myopathy, encephalopathy, lactic acidosis and stroke-like episodes. MELAS wird in einen maternalen Erbgang durch Mutationen der mtDNA verursacht. Bei mehr als 80% der Patienten lässt sich eine Punktmutation an Position 3243 der mtDNA nachweisen. 3Symptome. Die Symptomatik setzt in der Kindheit ein. Charakteristisch ist folgende Kombination: 4 belastungsabhängige und dann schmerzhafte Muskelschwäche, 4 tonisch-klonische epileptische Krampfanfälle, 4 fortschreitende Demenz und 4 rezidivierende Schlaganfälle. Manche Patienten leiden unter periodischem Erbrechen. Andere entwickeln eine Hypakusis und/oder Makuladegeneration. Bei der Laboruntersuchung findet man eine Laktatazidose. Im Muskelbiopsat ist Coenzym Q vermindert. Bildgebende Verfahren

Die Abkürzung MERRF steht für myoclonus epilepsy with ragged red fibers. Bei ca. 80% der Patienten liegt eine Punktmutation an Position 8344 der mtDNA vor. 3Symptome. Die Symptomatik entwickelt sich im Jugendoder frühen Erwachsenenalter mit sehr langsamer Progredienz. An Symptomen des ZNS treten auf: 4 Myoklonien, 4 generalisierte, epileptische Krampfanfälle, 4 zerebelläre Ataxie und 4 progrediente Demenz. Manchmal besteht Spastizität. Zusätzlich können Optikusatrophie, Schwerhörigkeit, Beeinträchtigung der sog. Tiefensensibilität und/oder Zeichen der Polyneuropathie mit belastungsabhängiger Schwäche auftreten. In der Muskelbiopsie kann man mit einer Spezialfärbung die vermehrten und vergrößerten Mitochondrien rot gefärbt darstellen. Der Befund wird als ragged (d.h. zerrissene) red fibers beschrieben. Mit dem MERRF-Syndrom ist das Ramsay-Hunt-Syndrom verwandt. In der Pubertät entwickelt sich eine progrediente, zerebelläre Ataxie mit stimulusinduzierten Myoklonien und seltenen generalisierten, epileptischen Anfällen. Demenz tritt nicht ein. 28.7.4 Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie 3Symptome. Zunächst unilaterale, im Verlauf von Wochen bis Monaten bilaterale, progressive schmerzlose und die zentralen Gesichtsfelder betreffende Visusminderung. Die Krankheit tritt vorwiegend bei jungen Männern im frühen Erwachsenenalter auf. Selten findet man weitere neurologische Auffälligkeiten und Bewegungsstörungen wie Ataxie und Dystonie. Kardiale Arrhythmien sind häufig. Neben Erkrankungsfällen mit maternalem Erbmodus gibt es auch häufig sporadische Fälle. 28.9

Reversible (posteriore) Leukenzephalopathie (RLE)

3Definition. Bei der posterioren Leukenzephalopathie handelt es sich um eine ätiologisch uneinheitliche Gruppe von meist reversiblen Krankheiten mit neurologisch-neuropsychologischen

595 28.9 · Reversible (posteriore) Leukenzephalopathie (RLE)

Symptomen, die in der MR-Diagnostik auffällige, überwiegend im Okzipitallappen gelegene Signalveränderungen zeigen. Diese Manifestationen sind erst seit Einführung der MRT-Diagnostik bekannt geworden. Tatsächlich handelt es sich um eine sehr uneinheitliche Gruppe von Krankheiten, deren gemeinsames Zeichen die Veränderung in der Signalgebung meist des Okzipitallappens ist. Die Pathogenese nicht geklärt. Diskutiert wird eine reversible Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke vor allem im hinteren Hirnkreislauf, der hierfür prädestiniert zu ein scheint. Allerdings gibt es immer häufiger Berichte von nichtposterioren, ähnlichen Veränderungen. 3Ursachen. Man vermutet eine metabolische Ursache, weswegen wir diese Krankheitsgruppe hier besprechen. Vermutlich ist dies aber nicht die volle Erklärung. Unklar ist, warum sich eine metabolische Störung so überwiegend in nur einer Hirnregion, dort allerdings meist bilateral bemerkbar macht. Vielleicht spricht dies doch eher für die toxische bzw. hydromechanische BlutHirn-Schranken-Theorie (s.o.) Schließlich ist auch interessant, dass in den meisten Fällen dem Auftreten der PLE zytostatische Therapien vorausgehen. Daher ist auch eine unspezifische toxische oder immunologische Reaktion als Mitursache sehr wahrscheinlich. Möglicherweise ist die häufige transiente Gesichtsfeldstörung und Verwirrtheit nach Herzkatheteruntersuchung, bei der größere Mengen an Kontrastmittel eingesetzt wurden, eine gering ausgeprägte Variante des Syndroms. Auch in solchen Fällen sind milde Veränderungen in der Bildgebung beobachtet worden.

a

b

. Abb. 28.3a–c. PLE. Posteriore Leukenzephalopathie im. Axiale T2w Bilder (a) und axiale ADC-Map (b). Beidseits Hyperintensitäten okzipital in der subkortikalen weißen Substanz, der angrenzenden Hirnrinde und im Thalamus beidseits auf T2w-Bilder, die nach 9 Tagen deutlich rückläufig sind (c). Die ADC-Map zum initialen Untersuchungszeitpunkt (1b)

28

Das Syndrom wurde im Zusammenhang mit Immunsuppression nach Transplantationen und bei Behandlung mit Zytostatika und Antikörpern in der Tumor- oder Immuntherapie beobachtet. Relativ häufig findet man die PLE bei Behandlung mit Cyclosporin A, Cisplatin, Tacrolimus und rekombinantem Erythropoetin. Die RLE wurde auch bei Patienten mit hypertensiver Krise bei Eklampsie und akuter Glomerulonephritis gesehen. Manchmal tritt es im Zusammenhang mit lange andauernden fokalen epileptischen Status auf, wobei diskutiert werden kann ob die MR-Veränderungen Folge des Status oder der Status Folge der Enzephalopathie ist. 3Symptome. Klinisch imponieren die Zeichen einer akuten Enzephalopathie mit Verwirrtheit, Unruhe, Gesichtsfeldstörungen, Halluzinationen, kortikaler Blindheit, Anfällen, Somnolenz und anderen neuropsychologischen Symptomen. Diese treten meist bei Patienten auf, die kurz vorher modernen, meist experimentellen medizinischen Behandlungen oder diagnostischen Methoden unterzogen wurden. Die Patienten können intensivpflichtig werden. Über Tage und Wochen bilden sich die Symptome langsam zurück. 3Diagnostik 4 MRT: Charakteristisch sind ausgedehnte Hyperintensitäten in T2- oder FLAIR-Sequenzen im Okzipital- und Parietallappen beidseits, die sich nicht an vaskuläre Territorien halten und manchmal diffus subkortical Kontrastmittel aufnehmen (. Abb. 28.3). Sie

c zeigt rechts okzipital einen erhöhten ADC (weiße Pfeile; vasogenes Hirnödem), links z.T. erhöhten, z.T. verminderten ADC (schwarze Pfeile; zytoxisches Hirnödem). Z.n. Cisplastin-Gabe wegen Mammakarzinom. (B. Kress, Heidelberg)

596

Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

können in seltenen Fällen nicht nur bilateral, sondern auch multipel in anderen Hirnregionen wie Frontallappen, Corpus callosum oder Kleinhirn/Hirnstamm auftreten. Blutungen sind selten. 4 Liquor. Der Liquor ist oft normal, manchmal findet sich eine leichte Eiweißerhöhung. Es gibt auch keine spezifischen Laborkonstellationen. 4 Das EEG ist meist schwer allgemeinverändert, die Befunde sind allerdings unspezifisch.

3Therapie und Prognose. Eine spezielle Therapie existiert nicht. Wenn eine Chemotherapie o.Ä. vorausgegangen ist, wird man in der Regel die Behandlung unterbrechen oder umstellen. Es gibt tödliche Verläufe. Viel häufiger ist aber die langsame Rückbildung von Symptomen und MR-Befund. Im Verlauf kann völlige Normalisierung eintreten. Rezidive sind möglich, die sich manchmal auch in anderen Hirnregionen manifestieren.

In Kürze

28

Funikuläre Spinalerkrankung

Hepatoportale Enzephalopathie

Degenerativer Entmarkungsprozess in Strangsystemen des Rückenmarks durch Vitamin-B12-Mangel, meist kombiniert mit perniziöser Anämie. Symptome setzen subakut innerhalb von Wochen oder langsam progredient ein: Brennende Missempfindungen in Füßen, Händen, Unterschenkel und -arme, abnorme Ermüdbarkeit beim Gehen, Paraparese der Beine mit sensibler Ataxie. Unbehandelt: partielle Querschnittslähmung. Diagnostik: Makrozytäre hyperchrome Anämie, hypersegmentierte neutrophile Granulozyten. Therapie: Stillstand des degenerativen Prozesses und Rückbildung durch B12-Präparate. Differentialdiagnose: Chronische Polyneuropathie, FriedreichHeredoataxie.

Neurologische und psychiatrische Störungen bei chronischen Leberkrankheiten durch mangelnde Entgiftungsfunktion der Leber bei portokavalem Shunt. Symptome: Psychische Veränderung, Asterixis und abnormes Hirnstrombild; langsam zunehmende Müdigkeit, emotionale Labilität, depressive Verstimmung, Störung im Schlafrhythmus, Rigor der Muskulatur, extrapyramidale Hyperkinesen, Sprechstörung. Diagnostik: EEG stets leicht, mäßig oder schwer pathologisch verändert; Serum: Erhöhung von Bilirubin und Transaminasen, Verminderung der hepatischen Syntheseleistung. Therapie: Reduktion der Eiweißzufuhr, medikamentöse Regulierung der Darmentleerung.

Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson) Störung im Kupferstoffwechsel durch pathologische Ablagerung resorbierten Kupfers in Leber, Basalganglien, Hirnstamm-, Kleinhirnstrukturen, Cornea. Tritt zwischen 15. und 20. Lebensjahr auf. Symptome: Aggressivität, stumpfe oder euphorische Demenz, choreatische, athetotische und dystone Hyperkinesen, verwaschen-dysarthrische Sprech- und Schluckstörung, zerebelläre Bewegungsstörung mit Nystagmus. In schweren Fällen Tod durch Massennekrose der Leber, bei chronischem Verlauf durch Dekompensation der Leberzirrhose. Diagnostik: Pathognomonischer Kayser-Fleischer-Hornhautring; EEG bleibt uncharakteristisch; Serum: Niedriger Cu-Spiegel; Urin: vermehrtes Ausscheiden von Kupfer. Lebenslange medikamentöse Therapie zur Normalisierung der Kupferbilanz, kupferarme Diät.

Neurologische Symptome bei akuter und chronischer Niereninsuffizienz Urämische Enzephalopathien. Akutes Nierenversagen verursacht Bewusstseinstrübung bis Koma und Psychose mit gesteigerten oder abgeschwächten Eigenreflexen, Asterixis. Chronisches Nierenversagen wird begleitet von Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen bis zur Depression, Merkfähigkeits- und Schlafstörungen, epileptischen Anfälle, sensomotorischer Polyneuropathie. Dysequilibriumsyndrom bei Dialysebehandlung mit psychotischen Episoden, Kopfschmerzen, Reflexdifferenzen, zentralen Lähmungen, epileptischen Anfällen. Nephrogene Polyneuropathie bei chronischer Niereninsuffizienz: Restlesslegs-Syndrom, Muskelkrämpfe der Beine, distal betonte Schwäche, Verminderung des Achilles-, später Patellarsehnenreflexes.

Akute, intermittierende Porphyrie Mangel an Porphobilinogen-Desaminase bewirkt neurologische Komplikationen mit jahrelang vorausgehenden psychischen Auffälligkeiten. Attacken werden durch Medikamente, Drogen oder Hormone ausgelöst. Neurologische Symptome: Akut und schubweise nach vorangehenden diffusen Muskelschmerzen mit

6

597 28.9 · Reversible (posteriore) Leukenzephalopathie (RLE)

vegetativen Reizsymptomen, peripheren Lähmungen und Dysästhesien. Vegetative Symptome: Singultus, Obstipation, kolikartige intestinale Dyskinesen, Übelkeit, Tachykardie, Schweißausbruch, Oligurie. Zerebrale Symptome: Fokale oder generalisierte Anfälle, Halbseitenlähmung, neuropsychologische Störungen, Psychosen. Diagnostik: BSG ist beschleunigt; Liquor ist uncharakteristisch; Urin stets dunkel gefärbt. Medikamentöse Therapie zur Schmerzlinderung.

Leukodystrophien Fortschreitende, diffuse, symmetrische Markscheidendestruktion mit reaktiver Gliawucherung, vor allem in Marklager des Großhirns und Kleinhirnhemisphären. Metachromatische Leukodystrophie. Symptome: Doppelseitige, spastische Lähmungen, doppelseitige Optikusatrophie mit Blindheit und Demenz; Nystagmus, Taubheit, Ataxie, extrapyramidale Hyperkinesen, epileptische Anfälle, neuropsychologische Störung. Endstadium: Enthirnungsstarre, in der kein Kontakt mehr möglich ist. Diagnostik: EEG ist uncharakteristisch allgemeinverändert, Liquor: Gesamteiweißvermehrung; CT/MTRT: Symmetrische Dichteminderung weißer Substanz im Marklager der Hemisphären; Biopsie des N. suralis: Histologisch oder elektronenoptisch ausgeprägter Markscheidenzerfall. Symptomatische, antiepileptische Therapie.

enzymhistochemischer und immunhistochemischer Untersuchung; DNA-Analyse; MRT: Basalganglienverkalkung, fokale ichämische Läsionen oder ausgedehnte, zusammenhängende Signalveränderungen in Hirnstamm, Thalamus, Stammganglien und Marklager. Keine kausale Therapie: Prävention und symptomatische Behandlung typischer Komplikationen, kalorienreiche Kost, körperliches Training. Chronisch Progressive Externe Ophthalmoplegie. Symptome: Chronisch verlaufende Lähmung äußerer Augenmuskeln mit neurologischen und nichtneurologischen Symptome wie leichte Spastik und Ataxie, beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, proximale Myopathie. MELAS-Syndrom. Symptome: Belastungsabhängige, schmerzhafte Muskelschwäche, tonisch-klonische epileptische Krampfanfälle, fortschreitende Demenz, rezidivierende Schlaganfälle. MERRF-Syndrom. Symptome: Myoklonien, generalisierte, epileptische Krampfanfälle, zerebelläre Ataxie, progrediente Demenz, Spastizität bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie. Symptome: Unilaterale, später bilaterale, progressive schmerzlose Visusminderung bei jungen Männern.

Reversible Leukenzephalopathie (RLE) Mitochondriale Krankheiten Prävalenz: 12/100.000 Einwohner. Beginn im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter, langsame Progredienz, milde Verläufen mit gewebsspezifischer Beteiligung im Erwachsenenalter bis zu schweren Multiorganaffektionen im frühesten Kindesalter. Symptome: Myopathien bei Erwachsenen, generalisierte Muskelhypotonie, psychomotorische Entwicklungsverzögerung, Laktatazidose, kardiopulmonales Versagen bei Kindern. Diagnostik: Labor; Muskelbiopsie mit histologischer,

Ätiologisch uneinheitliche Gruppe von meist reversiblen Krankheiten mit neurologisch-neuropsychologischen Symptomen. Symptome: Zeichen einer akuten Enzephalopathie mit neuropsychologischen Symptomen wie Verwirrtheit, Unruhe, kortikaler Blindheit, Gesichtsfeldstörungen, Anfällen, Somnolenz. Diagnostik: MRT: Ausgedehnte Hyperintensitäten in T2- oder FLAIRSequenzen im Okzipital- und Parietallappen beidseits; Liquor ist normal. Keine spezielle Therapie.

28

29 Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems 29.1 Alkoholassoziierte Psychosen – 599 29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.1.4

Akute Alkoholintoxikation (Rausch) – 599 Pathologischer Rausch – 600 Alkoholdelir (Entzugsdelir, Delirium tremens) Alkoholhalluzinose – 603

– 600

29.2 Alkoholbedingte Ernährungsstörungen – 604 29.2.1 Alkoholbedingte Polyneuropathie – 604 29.2.2 Wernicke-Korsakow-Syndrom – 604 29.2.3 Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) – 606

29.3 Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem – 607 29.3.1 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde – 607 29.3.2 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz – 607 29.3.3 Andere alkoholassoziierte Krankheiten und Syndrome – 607

599 29.1 · Alkoholassoziierte Psychosen

> > Einleitung

29.1

Es wird ja seit vielen Jahren sehr darüber geklagt, das Deutschland in vielen Bereichen führende Positionen verloren hat. Das gilt für die Wissenschaft, den Sport, die Kultur und vor allem auch für die Schulbildung. Die PISA-Studien haben dies im internationalen Vergleich bestätigt. Gleichzeitig kamen aber auch Daten, die belegen, dass die deutsche Jugend doch in einigen Bereichen international eine Spitzenposition einnimmt. Dies klingt aber nur im ersten Moment positiv. Die Spitzenleistungen erreichen unsere Nachwuchshoffnungen im Anteil der Raucher bei unter 16-Jährigen (speziell Mädchen) und beim Konsum alkoholischer Getränke. Dies ist keine erfreuliche Aussicht, hat doch der gesundheitsschädliche Alkoholgebrauch in Deutschland ohnehin zugenommen. Hinter Tschechien sind wir Nummer 2 weltweit im Bierkonsum und liegen auch bei harten Drinks nur knapp hinter den wodkatrinkenden Weltmeistern aus Russland. Pathologischer Alkoholkonsum ist gefolgt von einer großen Zahl von Störungen des Nervensystems, deren Kenntnis zum Wissensstand eines jeden Arztes gehören muss. Deshalb werden die alkoholbedingten Erkrankungen hier in einem eigenen Kapitel zusammengefasst und in anderen Kapiteln, z.B. bei den Polyneuropathien, nur mit kurzen Hinweisen erwähnt. Die Feststellung eines Alkoholismus ist nicht immer einfach. Bei der Erhebung von Anamnese und Fremdanamnese ist die Neigung der Betroffenen und oft ihrer Angehörigen, den Alkoholkonsum zu bagatellisieren, besonders zu berücksichtigen. Hinweise auf einen Alkoholismus sind soziale Faktoren wie Arbeitsplatzverlust und Vereinsamung, wiederholte Führerscheinentzüge, vor allem aber die klinischen Zeichen wie ein feiner Tremor der vorgestreckten Hände, ein Foetor alcoholicus, Zeichen der Leberdysfunktion, eine globale Muskelverschmächtigung verbunden mit Stammfettsucht, faziale Teleangiektasien und eine typische Laborkonstellation: hyperchrome Anämie; erhöhte Werte für Alkohol, GGT, S-GOT, S-GPT, AP, Gesamtstickstoff, Bilirubin, Kreatinin; bei schweren Leberfunktionsstörungen erniedrigte Cholinesterase. Die Einteilung der Alkoholfolgeerkrankungen des Nervensystems kann nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen – und ist in sich stets willkürlich. Hier werden zunächst die alkoholbedingten Psychosen abgehandelt, dann die mit Alkoholismus assoziierte Krankheiten, bei denen der Alkohol einen, vielleicht den entscheidenden, aber nicht den einzigen pathogenetischen Faktor darstellt. Eine besondere Bedeutung kommt neben der chronischen toxischen Alkoholwirkung der begleitenden Mangelernährung zu, die den schweren Alkoholismus meist begleitet.

29.1.1 Akute Alkoholintoxikation (Rausch)

29

Alkoholassoziierte Psychosen

3Symptomatik. Schon der einfache Alkoholrausch ist eine leichte toxische Psychose. Die Alkoholintoxikation lässt sich in vier Stadien einteilen: 4 Im I. Stadium, dem euphorischen Stadium (Alkoholrausch) kommt es bei einem Blutalkohol von 0,5 bis 1‰ zur Hebung der Stimmung, des Selbstwertgefühls und zu vermehrtem Rededrang, Erscheinungen, die beim gesellschaftlichen Trinken durchaus erwünscht sind. Bei Kindern können allerdings schon Alkoholkonzentrationen von 1‰ durch Hypoglykämie schwerste, selbst tödliche Verläufe hervorrufen. 4 Das II. Stadium oder Erregungsstadium führt bei 1–2‰ Blutalkohol zu Denkstörungen, zur Enthemmung oft mit Alkoholfahrten und zur Aggressivität, die nicht selten in Wirtshausschlägereien endet. In diesem Stadium treten Doppelbilder und Gangstörungen als Ausdruck einer zerebellären Intoxikation hinzu; zudem kommt es zur Minderung der Schmerzempfindung. 4 Das III. Stadium, das narkotische Stadium bei 2–3‰ führt zur Bewusstseinstrübung, Bewegungsarmut und kann durch Unterzuckerung und Unterkühlung des reglosen Patienten auch bei Temperaturen über 0 °C tödlich enden. 4 Im IV. Stadium, dem asphyktischen Stadium mit einem Alkoholspiegeln von 4–6‰ besteht bei den bewusstlosen Intoxizierten akute Lebensgefahr durch erloschene Schutzreflexe, Atem-, Herz- und Kreislaufversagens. 3Alkohol und Medikamente. Alle Pharmaka, die zentralnervöse Effekte haben, vor allem Psychopharmaka und Antiepileptika können die Wirkung alkoholischer Getränke verstärken sowie durch Alkohol in ihrer eigenen Wirkung verstärkt werden. 3Therapie. Beim unkomplizierten Alkoholrausch ist die Verlaufsbeobachtung das Vorgehen der Wahl. Eine Beschleunigung des Alkoholabbaus über ca. 0,13‰ pro Stunde ist nicht möglich. 4 Zur Dämpfung erregter Patienten eignen sich Haloperidol, Promethazin, Chlorprothixen. 4 Die früher bei schweren Alkoholvergiftungen oft geübte Praxis der Magenspülung oder des forcierten Erbrechens mit Apomorphin, Kochsalzlösung oder Radix ipecacuanha ist riskoreich und bei nicht mehr bewusstseinsklaren Patienten ohne Intubation kontraindiziert. 4 Überwachung und Behandlung auf der Intensivstation, besonders in den Stadien III und IV der Alkoholintoxikation ist notwendig. Bei Alkoholspiegeln über 4‰ ist die Dialyse zu erwägen.

600

Kapitel 29 · Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems

Facharzt

Pathogenese des Delirs Die jahrelange und regelmäßige Zufuhr der global das Zentralnervensystem dämpfenden Droge Äthylalkohol führt zu Kompensationsmechanismen auf verschiedenen Ebenen. Die wichtigsten sind die herunter regulierte GABA-erge Hemmung, die Aktivitätsvermehrung des Glutamat-ergen Systems, die Reduktion der inhibitorischen Alpha-2-Rezeptoren und die Verminderung der vom Alkohol aktivierten Dopaminrezeptoren. Fällt die global hemmende Droge Alkohol weg, führen GABA-erge Insuffizienz und überschießende Glutamat-erge Aktivität zu Unruhe, Agitiertheit, Angst und zu hirnorganischen Anfällen. Die Insuffizienz der Alpha-2-Rezeptoren gipfelt in einer vegeta-

tiven Fehlregulation mit Tachykardie, Hypertonie, Hyperthermie, Tremor, Hyperhidrose (»Noradrenalinsturm« ). Die nach drei bis fünf Tagen einsetzende überschießende Bildung der Dopaminrezeptoren erklärt das verzögerte Auftreten von produktiv psychotischen Symptomen mit Halluzinationen, Suggestibilität und illusionärer Verkennung. Hieraus ergibt sich die Therapie mit GABAergen Substanzen (Clomethiazol, Benzodiazepine), antiGlutamatergen Mitteln (Carbamazepin), mit Alpha-2-RezeptorenAgonisten (Clonidin) und anti-Dopamin-ergen Pharmaka (klassische Neuroleptika).

Exkurs Unvollständiges Delir, sog. Prädelir und Entzugsanfälle

29

Prädelir Dem manifesten Delir geht nicht selten Tage bis ausnahmsweise Wochen oder Monate eine intermittierende milde vegetative Symptomatik voraus mit morgendlichem Zittern, Schwitzen oder nächtlichen Schlafstörungen, alternativ eine milde psychotische Symptomatik mit flüchtigen, typischerweise optischen, oft szenischen Halluzinationen. Wir sprechen vom beginnenden Delir (sog. Prädelir); wenn ein manifestes Delir nicht folgt, vom unvollständigen Alkoholdelir. Entzugsanfälle Isolierte, zumal morgendliche Grand-mal-Anfälle (Gelegenheitskrämpfe) sind bei Alkoholkranken häufig. Gelegentlich kommt

29.1.2 Pathologischer Rausch Der pathologische Rausch bietet bereits bei geringer Alkoholaufnahme schwere Intoxikationssymptome. Er wird auf eine verminderte Alkoholtoleranz zurückgeführt bei Hirnerkrankungen unterschiedlicher Art, bei schweren Allgemeinerkrankungen und bei körperlicher und seelischer Erschöpfung. Er ist wegen der mit ihm verbundenen Amnesie von besonderer forensischer Bedeutung. 3Symptomatik. Es handelt sich um eine toxische Psychose, die abrupt einsetzt und gewöhnlich nicht mehr als eine Stunde dauert. Sie wird durch psychomotorische Erregung von ängstlicher oder aggressiver Färbung gekennzeichnet, von Wutausbrüchen und anderen, gewöhnlich persönlichkeitsfremden Handlungen. In der Regel mündet sie in ein depressives Erschöpfungsstadium oder in den Schlaf. Nach dem Erwachen verbleibt eine Amnesie. Die zerebelläre Ataxie, die den einfachen Rausch charakterisiert, bleibt beim pathologischen Rausch im Hintergrund.

es zu Serien von Grand-mal-Anfällen oder zu einem Status epilepticus. Der Alkoholismus ist die häufigste Ursache des Status epilepticus. Anfallsauslösend ist der Abfall des Alkholblutspiegels, hierzu kann die im Nachtschlaf unterbrochene Alkoholzufuhr ausreichen. Deshalb werden beim Alkoholkranken Anfälle sowohl isoliert als auch im unvollständigen und im anlaufenden manifesten Entzugsdelir beobachtet. Differentialdiagnostisch sind – selbstverständlich auch beim Alkoholkranken – andersartige Erkrankungen zu erwägen, die mit hirnorganischen Anfällen einhergehen: eine Epilepsie, Hirntraumen, Hirninfarkte, Gefäßmissbildungen, Hirnmetastasen bei Bronchialkarzinom und anderen Malignomen, Meningitiden, Hirnblutungen.

3Therapie. Eine Therapie ist wegen der kurzen Dauer oft weder erforderlich noch möglich. Bei Fremd- oder Selbstgefährdung sind parenteral Benzodiazepine (z.B. Valium®) oder Butyrophenon (Haldol®) indiziert, Opioide dagegen, wie beim Alkoholdelir (s.d.), streng kontraindiziert. 29.1.3 Alkoholdelir (Entzugsdelir,

Delirium tremens) 3Definition und Epidemiologie. Das Delirium tremens ist die häufigste Alkoholpsychose Es trifft etwa 15% der Alkoholkranken und folgt meist einem unbeabsichtigtem oder beabsichtigten Entzug nach monate- oder jahrelanger, regelmäßiger Zufuhr von mindestens 80 bis 120 g reinem Alkohol täglich. »Kontinuitätsdelirien« oder Delirien auf dem Höhepunkt von Trinkexzessen sind dagegen selten. Zwei bis drei Tage nach Unterbrechung oder drastischer Verminderung der Alkoholzufuhr, selten während eines Alkoholexzsesses, kann bei Alkoholkranken ein manifestes

601 29.1 · Alkoholassoziierte Psychosen

Alkoholdelir ausbrechen. Warum nur 13–15% der Alkoholiker überhaupt Delirien erleiden, 12–23% der Betroffenen wiederholt, ist nicht bekannt. 3Symptomatik. Das Alkoholdelir stellt eine delirante Psychose dar mit besonders ausgeprägter vegetativer Symptomatik. Im Vordergrund stehen Symptome des organischen Reaktionstyps mit Gedächtnisstörungen und Desorientiertheit, Schreckhaftigkeit, motorischer Unruhe (Nesteln, Bettflucht), Heiterkeit oder panischer Angst (Selbst- und Fremdgefährdung!), hirnorganischen Anfällen, in schweren Verläufen Bewusstseinstrübung oder sogar Koma. Diese Symptome sind nicht spezifisch und kommen ebenso bei organischen Psychosen anderer Ursache vor. Hinzu kommen die Symptome der produktiven Psychose: Aufgrund illusionärer Verkennungen werden Arzt und Pflegepersonen zum Beispiel als Kellner verkannt, Gegenstände im Krankenzimmer werden bedrohlich erlebt; die Halluzinationen sind in der Regel optisch-szenisch (halluzinierter Besuch der Saufkumpanen am Bett) oder optisch-haptisch (der Patient sieht und fühlt kleine Tierchen auf der Haut, die er aufzunehmen trachtet); die Kranken sind suggestibel und lesen vom leeren Blatt ab (. Abb. 29.1). Die vegetative Entgleisung manifestiert sich mit einem groben Zittern der Extremitäten und des ganzen Körpers, mit Tachykardie, Hypertonie, Fieber und profusem Schwitzen. Bei der Untersuchung des Delirkranken ist besonders auf Begleiterkrankungen und Komplikationen zu achten, die bei Alkoholikern gehäuft auftreten: Schädel-Hirn-Traumen, Frakturen, Pneumonie, Pankreatitis, Gastritis, Ösophagusvarizen, Hypoglykämie, Leberparenchymerkrankungen, Gerinnungsstörungen, Anämie, alkoholtoxische Kardiomyopathie.

29

Psychopathologisch besteht das delirante Syndrom aus der Symptomenkombination: 4 Vigilanzstörung, 4 Desorientiertheit, 4 psychomotorische Unruhe mit meist ängstlicher Erregung, 4 illusionäre Verkennung von Gegenständen (Lüftungsabzug → Fernsehkamera oder Infusionsständer → bedrohliche Person) sowie 4 Halluzinationen, meist visueller Natur, in denen kleine, bewegte Objekte oder Tiere, z.B. auf dem Fußboden oder auf der Bettdecke, gesehen werden. Im Alkoholdelir sind die Patienten, anders als in der Kontusionspsychose, stark suggestibel: Sie lesen von einem nicht beschriebenen Blatt suggerierte Inhalte ab, z.B. eine Speisekarte, sie telefonieren durch das Stethoskop des Arztes oder manipulieren mit einem imaginären Faden, den ihnen der Untersucher »in die Hand gibt« . 3Zusatzdiagnostik. Wegen der besonderen Infektgefährdung des Alkoholkranken ist eine Röntgenuntersuchung des Thorax sinnvoll. Ein EKG sollte ebenfalls immer abgeleitet werden. Unter den Laborwerten sind die Entzündungsparameter von Bedeutung (Leukozyten, BSG, CRP) und die Laborparameter, die auf einen Alkoholismus hinweisen (Blutalkohol, sog. Leberwerte, Gerinnungsparameter und Cholinesterase (Leberfunktion), die Elektrolyte, insbesondere das Serum-Natrium wegen der Gefahr einer zentralen pontinen Myelinolyse (CPM) und die Blutgasanalyse. Wiederholt ist die CK zu untersuchen, da es im Alkoholdelir zu einer Rhabdomyolyse kommen kann. Dabei steigt die CK auf extreme Werte, bis zu 90.000 U.

a

b

. Abb. 29.1a,b. Das Alkoholdelir, gezeichnet von Wilhelm Busch. a Der Trinker fühlt sich von einer Person bedroht, die nur eine illusionäre Verkennung des Kleiderständers ist. Er fürchtet sich, wehrt sich vehement, zerwühlt sein Bett und wird gleichzeitig von haptischen Halluzina-

tionen (ein Hummer zwickt ihn in den verlängerten Rücken) gequält, b Andere optische und haptische Halluzinationen sind in dieser Abbildung dargestellt. Häufig werden Insekten gesehen und gefühlt. Die berühmten weißen Elefanten sind dagegen selten

602

Kapitel 29 · Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems

Exkurs Differentialdiagnose des deliranten Syndroms 4 Medikamentenentzugsdelir, Drogenentzug 4 pharmakogene (L-Dopa) und toxische Psychosen, anticholinerges Syndrom 4 floride schizophrene Psychose, Manie 4 Alkoholfolgeerkrankungen: Wernicke-Korsakow-Syndrom, Alkoholhalluzinose 4 Verwirrtheitszustände bei vorbestehender kognitiver Störung oder Demenz 4 posttraumatische Durchgangssyndrome (Hirnkontusion, subdurales Hämatom)

Bei Bewusstseinsstörungen, hirnorganischen Anfällen und neurologischen Herdzeichen darf auf die Bilder gebende Diagnostik (CT, besser MRT wegen der zu erwägenden WernickeEnzephalopathie) nicht verzichtet werden. Da Meningoenzephalitiden mit deliranten Syndromen beginnen können, ist die Indikation zur lumbalen Liquorentnahme (cave Gerinnungsstörung, zuvor CT oder MRT) großzügig zu stellen.

29

Andere Entzugsdelire Entzugsdelirien gibt es nicht nur beim Alkoholismus, sondern auch bei chronischer Einnahme von sedierend wirkenden Medikamenten, vor allem von Benzodiazepinen – auch in mäßigen Dosen. Vom Alkoholdelir sind häufiger Männer, vom Benzodiazepindelir eher ältere Damen betroffen. In diesen Fällen sind die vegetativen Symptome wenig ausgeprägt, sogenanntes trockenes Delir. Das Delir dauert oft länger und wird durch Substitution zum Beispiel mit einem leicht dosierbaren Benzodiazepin und langsamem Ausschleichen behandelt. Besonders schwer verlaufen Entzugsdelirien beim gleichzeitigen Missbrauch mehrerer Substanzen. ä Der Fall Bis zu seinem Arbeitsunfall, bei dem er sich eine komplizierte Unterschenkelfraktur zugezogen hatte, sei der 35-jährige Bauarbeiter immer gesund gewesen. Am dritten postoperativen Tag wurde der neurologische Konsiliarius in die Chirurgie gebeten, da der Patient einen von den Schwestern auf der Station beobachteten epileptischen Anfall erlitten hatte. Bei der Untersuchung war er wieder bewusstseinsklar, er hatte einen Zungenbiss und wirkte nervös und fahrig. Seine Bewegungen waren unsicher, überschießend, die Stimme etwas zittrig. Die Hände zeigten ein leichtes Zittern, der Patient schwitzte stark, war tachykard und sehr unruhig. Zur Person war er orientiert, die Situation erfasste er nicht im ganzen Zusammenhang und den Neurologen behauptete er zu kennen. Immer wieder unterbrach er den Blickkontakt und schaute im Zimmer herum, manchmal machte er Handbewegungen, als wolle er etwas wegwischen oder verscheuchen. Darauf angesprochen, erwähnte er Schmetterlinge und fliegende Blätter. Auf die Aufforderung, von einem unbeschriebenen weißen Blatt die Speise-

6

4 posthypoxische, posthypoglykämische Durchgangssyndrome 4 metabolische (hepatische) und endokrine (hyperthyreote) Enzephalopathien 4 epileptisches Durchgangssyndrom, nicht konvulsiver Status epilepticus 4 bakterielle und virale Meningoenzephalitiden, septische Enzephalopahtie

karte vorzulesen, »las« er einige Wörter vor, brach dies jedoch schnell ab. Auch nach einem nicht vorhandenen Faden, den der Untersucher ihm vorzuhalten angab, griff er wiederholt und schien sich zu ärgern, dass er den Faden nicht erfassen konnte. Zur Anamnese war zu erfahren, dass der Patient an seiner Arbeitsstelle schon tagsüber bis zu 5 Flaschen Bier trinke, zu Hause abends dann noch 2–3 weitere Flaschen, »aber keinen Schnaps« . Bei diesem Patienten, der einen Alkoholismus betreibt, bisher aber nicht als Alkoholkranker auffällig geworden war, hat sich in einer ungewollten Entzugssituation nach einem Arbeitsunfall das Vollbild eines Alkoholentzugsdelirs mit Entzugskrampf, produktiven, psychotischen Symptomen, motorischer Unruhe, vegetativer Symptomatik, Desorientiertheit und Suggestibilität eingestellt. Die Behandlung mit oralem Clomethiazol ließ die Symptomatik im Verlauf von 4 Tagen abklingen

3Therapie. Die Therapie des Alkoholdelirkranken soll sedieren, ohne die vitalen Schutzreflexe zu beeinträchtigen, vegetativ stabilisieren, antikonvulsiv und antipsychotisch effektiv sein. Die antidelirante Medikation sollte generell nicht nach festen Schemata sondern bedarfsadaptiert ausgewählt und dosiert werden. Jeder Alkoholkranke sollte ergänzend zur Prophylaxe einer Wernicke-Enzephalopathie Vitamin B1 100 mg/Tag p.o. oder i.v. erhalten. Neurologen und Psychiater behandeln ihre Alkoholdelirpatienten anders als die meisten Internisten und Anästhesisten. Hierbei könnte eine Rolle spielen, dass die Patienten zum Neurologen und Psychiater wegen eines initialen Anfalls oder wegen des bereits manifesten Delirs kommen, die Verläufe primär also eher schwerer sind. In internistischen Kliniken und anästhesiologischen Abteilungen werden die Alkoholkranken dagegen meist wegen anderer Leiden behandelt, das delirante Syndrom entwickelt sich während deren Behandlung und kann in einem frühen Stadium abgefangen werden. Folgendes Vorgehen hat sich bewährt: 4 Beim Alkoholentzug ohne vegetative oder psychotische Symptomatik kann unter klinischer Beobachtung abgewartet werden. Bei Kranken, die in ähnlicher Situation bereits Delirien durchgemacht haben, ist eine – hier prophylaktische – Behandlung wie beim unvollständigen Delir sinnvoll.

603 29.1 · Alkoholassoziierte Psychosen

29

Empfehlungen Alkoholdelir* 4 Die Diagnose Alkoholdelir setzt eine genaue klinische und ggf. apparative Diagnostik voraus, damit organische Hirnerkrankungen, die ebenso das Bild des deliranten Syndroms bieten, nicht verkannt werden (A). 4 Das unvollständige Delir, sog. Prädelir (vegetative Symptomatik oder Halluzinationen), ist mit oralen GABAergen Substanzen zu behandeln: Clomethiazol, Benzodiazepine (A). Bei milder Ausprägung ist ein 6-tägiges Regime mit Carbamazepin möglich (B). 4 Beim Vollbild des Delirs sind Benzodiazepine und Clomethiazol, bevorzugt in symptomgetriggerter Dosis, gut wirksam

4 Manifestiert sich ein vegetatives Syndrom oder kommt es zu

flüchtigen Wahnwahrnehmungen, zumal, wenn ein hirnorganischer Anfall vorausgegangen ist (unvollständiges Delir, sog. Prädelir), ist eine stationäre Versorgung indiziert. Medikamentös wird Clomethiazol eingesetzt (4-mal 2 Kapseln à 192 mg/Tag) oder ein Benzodiazepin (z.B. Diazepam 4- bis 6-mal 10 mg/Tag oder initial eine loading dose; alternativ Chlordiazepoxid), bei milden Verläufen Cabamazepin (4-mal 200 mg/Tag, 3-mal 200 mg/Tag, 2-mal 200 mg/Tag jeweils für zwei Tage). 4 Beim voll ausgebildeten Delir mit Agitiertheit und affektiven Störungen plus vegetativer Entgleisung plus produktiv psychotischer Symptomatik empfehlen wir die Kombination einer GABAergen Substanz p.o. (z.B. Clomethiazol 4-bis 8-mal 2 Kapseln initial oder Diazepam 6-mal 10 mg/Tag) in Kombination mit einem Neuroleptikum (z.B. Haloperidol 3- bis 6-mal 5 (–10) mg p.o.). 4 Wegen des hohen Suchtpotentials sollte sowohl die Clomethiazol- als auch Benzodiazepingabe unter stationären Bedingungen beendet werden. Die Akutbehandlung des nicht komplizierten vollständigen Delirs nimmt in der Regel sieben bis 10 Tage in Anspruch, Entlassungen vor dem vollständigen Abklingen der Symptomatik sind wegen der Gefahr des Wiederaufflackerns gefährlich. 4 Bei schweren Delirverläufen mit bedrohlicher vegetativer Entgleisung, Bewusstseinstörungen und vitalen Komplikationen ist die Überwachung und Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Die Medikation ist jetzt meist parenteral zu verabreichen, z.B. mit 120–240 mg/Tag Diazepam i.v. plus Haloperidol 3- bis 6-mal 5 (in Ausnahmen 10) mg/Tag initial, fakultativ zusätzlich Clonidin, initial 15–30 µg/h über Perfusor. Zusätzlich ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr der oft hyperthermen und stark schwitzenden Patienten zu achten, zudem der Elektrolythaushalt zu überwachen (cave: Hypokaliämie, Hyponatriämie mit Gefahr der zentralen pontinen Myelinolyse). Nach dem Abklingen des Delirs, für das der Patient in der Regel eine Amnesie hat, ist eine dauerhafte Entwöhnung anzustreben, z.B. in einer mehrmonatigen Entziehungskur, wenigstens aber die

(A), die Kombination mit einem Neuroleptikum, z.B. Haloperidol, ist zu empfehlen (A). 4 Sehr schwere Verläufe machen eine parenterale Therapie auf der Intensivstation notwendig. Untersucht sind die Kombinationen Diazepam/Haloperidol, Diazepam/Droperidol, Midazolam/ Droperidol (A). Zusätzlich kann Clonidin gegeben werden (B). 4 Behandlungsversuche des Delirs mit Alkohol sind konraindiziert (A). * Nach den Leitlinien der DGN 2005

Anbindung an eine Selbsthilfegruppe (Anonyme Alkoholiker, AA). Leider erreicht nur ein kleiner Teil der Kranken eine dauerhafte Abstinenz. 29.1.4 Alkoholhalluzinose Diese toxische Psychose ist selten. Sie tritt nach jahrelangem, schweren Alkoholabusus meist akut auf und ist durch produktivpsychotische Symptome gekennzeichnet, während die vegetativen Symptome des Delirs fehlen. 3Symptome und Verlauf. Das Wachbewusstsein ist gewöhnlich klar, die Orientierung ist erhalten. Die Patienten sind ängstlich erregt und haben akustische Halluzinationen bedrohlichen Inhaltes, gelegentlich auch szenisch-optische Trugwahrnehmungen. Sie schließen sich ein, verbarrikadieren ihr Zimmer (»Belagerungserlebnis«). Die durch die Halluzinationen ausgelöste Angst kann sie zu schweren Aggressionen, Flucht- und Suizidhandlungen führen. Nach Abklingen der Psychose verbleibt, im Gegensatz zum Alkoholdelir, keine Amnesie. Zunächst tritt die Symptomatik nur nachts und intermittierend auf. Bei fortgesetztem Trinken entwickelt sich das Vollbild, das Tage, selten Wochen anhält. In 80% der Fälle klingt die akute Alkoholhalluzinose unter neuroleptischer Behandlung ab. Rückfälle sind häufig. Die Alkoholhalluzinose kann in eine chronische Korsakow-Psychose (s. u.) übergehen. 3 Therapie 4 Neuroleptika, z.B. Butyrophenon (Haldol®) 1–2 Amp. i.v. oder i.m., 4 bei im Vordergrund stehender Angst Tavor® 2,5 mg p.o., zusätzlich Vitamin B1, 4 ggf. Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung.

604

Kapitel 29 · Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems

29.2

Alkoholbedingte Ernährungsstörungen

29.2.1 Alkoholbedingte Polyneuropathie 3Epidemiologie. Die Alkholpolyneuropathie ist mit dem Alkoholdelir die häufigste Alkoholfolgeerkrankung. Die alkoholische Schädigung des peripheren Nervensystems setzt einen jahrelangen Alkoholabusus voraus. Die Art der alkoholischen Getränke spielt dabei keine Rolle. Nur eine geringe Zahl der Alkoholiker bekommt eine voll ausgebildete Polyneuropathie, und auch abortive Formen sind nicht regelmäßig zu finden. Über 10% der Alkoholkranken sind von einer Alkholpolyneuropathie betroffen, wobei der Anteil der Erkrankten mit der Genauigkeit der klinischen Untersuchung und der Elektrodiagnostik zunimmt. Die Alkholpolyneuropathie ist mit 15% aller Polyneuropathien zudem die häufigste Polyneuropathieform.

29

3Ätiologie und Pathogenese. Die Pathogenese ist nicht endgültig geklärt. Angeschuldigt wird eine direkte Wirkung des Alkohols und seiner Metaboliten am peripheren Nervensystem, hierbei dürfte die Art der alkoholischen Getränke keine Rolle spielen. Hinzu kommt die langjährige, wohl pathogenetisch entscheidende Mangelernährung, besonders eine Unterversorgung mit B-Vitaminen und hier vor allem mit Vitamin B1. Bei adäquat ernährten Alkoholikern wird eine Alkholpolyneuropathie kaum beobachtet. Histologisch und vor allem elektronenoptisch findet man in einem großen Teil der Fälle primäre, axonale Degeneration, selten dagegen eine segmentale Entmarkung. Eine Leberfunktionsstörung, erkennbar an pathologischen Transaminasewerten, liegt meist vor. Die Syntheseleistungen der Leber müssen aber nicht beeinträchtigt sein Andere laborchemische Zeichen des chronischen Alkoholabusus sind: Makrozytose, Thrombozytopenie, niedriges Kalium und erniedrigtes Magnesium. 3Symptomatik und Verlauf. Das klinische Bild ist geprägt durch ein Polyneuropathiesyndrom mit atrophischen Paresen, symmetrischen Sensibilitätsstörungen und abgeschwächten oder erloschenen Muskeleigenreflexen, außerdem durch Ausfälle des autonomen Nervensystems mit beeinträchtigter Schweißsekretion, atrophischer und hyperpigmentierter Haut, Störungen der Speiseröhrenperistaltik und der Potenz. Regelmäßig sind die distalen Extremitätenabschnitte und stets die Beine bevorzugt betroffen. Für die alkoholische Polyneuropathie charakteristisch sind die frühe Verschmächtigung der Beinmuskulatur, Muskelkrämpfe, Missempfindungen (burning feet) und vor allem die quälenden Schmerzen mit dumpf-drückender, reißender, ziehender oder blitzartig lanzinierender Ausprägung. Typisch sind zusätzliche Druckläsionen der neuropathisch vorgeschädigten Nerven. Sensibel ist besonders die Lagewahrnehmung gestört. 3Diagnostik. Elektrodiagnostisch folgt die Alkholpolyneuropathie einem axonalen Muster mit sekundärer Entmarkung. So-

mit werden elektromyographisch Spontanaktivität nachgewiesen und dem chronischen Verlauf entsprechend eine erhöhte Polyphasierate. Die motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten sind mit distaler Betonung nur leicht oder mäßiggradig verzögert. Der Liquor bleibt normal oder zeigt nur eine leichte Eiweißvermehrung. Oft ist der Schillingtest als Zeichen der Malabsorption pathologisch (7 Kap. 28.1), oder es lässt sich ein B1Mangel nachweisen. 3Therapie und Prognose 4 Die Behandlung der Alkoholpolyneuropathie besteht primär in absoluter Alkoholkarenz, einer ausreichenden, kalorienreichen Ernährung und einer täglichen Substitution von Vitaminen [Thiamin (B1) 25 mg, Niacin 100 mg, Riboflavin 10 mg, Panthothensäure 10 mg, Pyridoxin (B6) 5 mg, Folsäure]. 4 Die Schmerzen und Missempfindungen werden mit Antiepileptika (Carbamazepin, Gabapentin) und trizyklischen Antidepressiva (Amitryptilin) behandelt. Thioctsäure (300–600 mg/Tag i.v. für 14 Tage, dann oral) wird zudem empfohlen. Die Prognose der Alkholpolyneuropathie ist über drei bis fünf Jahre gesehen bei absoluter Alkoholkarenz nicht ungünstig. Prognostisch wichtig ist, dass die Polyneuropathie nicht selten gemeinsam mit dem Wernicke- Korsakow-Syndrom (s.u.) auftritt. > Die alkoholische Polyneuropathie beruht auf einer

komplexen Ernährungsstörung.

29.2.2 Wernicke-Korsakow-Syndrom Wernicke-Enzephalopathie Die Wernicke-Enzephalopathie (Polioencephalopathia haemorrhagica superior) und das Korsakow-Syndrom stellen zwei Manifestationsformen ein und desselben pathogenetischen Prozesses dar. Beide sind Folgeerscheinungen des mit der Mangelernährung des Alkoholikers verbundenen Vitamin-B1-Mangels. Viele Alkoholkranke regeln nämlich ihren Kalorienbedarf allein durch den Alkohol, und manche haben für Monate oder ein ganzes Jahr keine normal zusammengesetzte Mahlzeit mehr zu sich genommen. Sowohl die Wernicke-Enzephalopathie als auch das Korsakow-Syndrom sind allerdings keine nosologischen Einheiten, sondern Syndrome, die auch bei anderen Hunger- und Ernährungsstörungen mit Vitamin-B1-Mangel auftreten können. Dementsprechend sind die pathologisch-anatomischen Veränderungen bei der Wernicke-Enzephalopathie und dem KorsakowSyndrom gleich: spongiöse Auflockerung, Gewebsuntergang und Kapillarvermehrung um den IV. Ventrikels, den Aquädukt, im Bereich der Corpora mamillaria, im Thalamus, den hinteren Vierhügeln, im dorsalen Vagus- und Okulomotoriuskern. 3Epidemiologie. Die Wernicke-Enzephalopathie ist eine seltene Erkrankung. Sie macht nur etwa 3% der mit dem Alkoholismus assoziierten Leiden aus. Ihre klinische Bedeutung liegt aber

605 29.2 · Alkoholbedingte Ernährungsstörungen

29

in den hervorragenden prophylaktischen und bei frühem Behandlungsbeginn guten therapeutischen Möglichkeiten mit Reduktion der Letalität auf 10–20%. Dagegen ist ihr Spontanverlauf in der Regel tödlich. Die Krankheit setzt akut ein. Sie entwickelt sich meist aus einem Alkoholdelir oder bricht unter einer enteralen oder parenteralen Glukosebelastung aus. Hierzu kann schon eine kalorienreiche Festmahlzeit ausreichen. Denn das Fehlen von Vitamin B1 als essentielles Coenzym des oxidativen Glukoseabbaus führt bei Glukosebelastung zu einem abnormen Glukoseabbau mit Laktatbildung und Zellnekrosen. 3Symptome. Die Wernicke-Enzephalopathie bietet eine charakteristische Trias: 4 okulomotorische Störungen, 4 zerebelläres Syndrom, 4 psychische Störungen. Unter den okulomotorischen Symptomen stehen an erster Stelle ein horizontaler, gelegentlich vertikaler Blickrichtungsnystagmus, eine ein- oder beidseitige Parese des M. rectus lateralis, häufig eine internukleäre Ophthalmoplegie sowie Pupillenstörungen. Das zerebelläre Syndrom manifestiert sich mit Rumpf-, Gang- und Standataxie. Entsprechend ist das Gehen breitbeinig, wenn es überhaupt noch möglich ist. Der Knie-Hacken-Versuch ist stärker hypermetrisch als der Finger-Nase-Versuch. Die psychischen Ausfälle können allein in Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen bestehen (Korsakow-Syndrom, s.u.), in schweren Verläufen kommt es zur Bewusstlosigkeit oder zum Koma. Hinzu treten häufig autonome Regulationsstörungen mit Hypothermie und Hypotension. Da monosymptomatische Verläufe allein mit psychischen Ausfällen vorkommen, muss bei jeder unklaren Bewusstseinsstörung eines Alkoholkranken an die Wernicke-Enzephalopathie gedacht und eine Vitamin-B1-Substitution – auch prophylaktisch – durchgeführt werden. 3Diagnostik. Die Diagnose der Wernicke-Enzephalopathie wird klinisch gestellt. Das kann in T2-Gewichtung hyperintense Bezirke um den Aquädukt und den dritten Ventrikel sowie eine Volumenminderung der Corpora mamillaria (. Abb. 29.2) zeigen. Das EEG ist meist unspezifisch diffus verlangsamt und zeigt häufig eine bilaterale Deltaaktivität. Der Liquor bleibt normal oder bietet allenfalls eine geringe, ebenso unspezifische Eiweißerhöhung. 3Therapie 4 Die Therapie der Wahl ist die parenterale Gabe von Vitamin B1 (Thiamin), Vitamin-B-Komplex und Magnesium. Die Literaturangaben zur Vitamin-B1-Dosierung sind sehr uneinheitlich. 4 Wir geben bei eindeutigen klinischen Verläufen bewusst sehr hohe Dosen mit initial 100 mg B1 langsam (!) i.v., danach 1000 mg i.v. innerhalb der nächsten 12 h, anschließend für eine Woche 200 mg/Tag als Kurzinfusion und für die nächsten Wochen 100 mg/Tag oral.

. Abb. 29.2. Wernicke-Enzephalopathie. Bilaterale Signalhyperintensität in Projektion auf die Corpora mammilaria (Pfeil) nach KM-Gabe. Im Nativ-MRT zeigten sich keine Blutungen. (S. Hähnel, Heidelberg)

In Anbetracht der sehr ungünstigen Spontanprognose der Wernicke-Enzephalopathie ist die extrem seltene, dosisunabhängige anaphylaktische Reaktion auf Vitamin B1 von sekundärer Bedeutung. Mildere Unverträglichkeitsreaktionen sind häufiger, machen aber eine prophylaktische Kortikoidgabe nicht erforderlich. 3Differentialdiagnose 4 Komplexe okulomotorische und zerebelläre Ausfälle werden zusammen mit Bewusstseinsstörungen bei Hirnstammprozessen, insbesondere der A.-basilaris-Thrombose beobachtet, die die wichtigste Differentialdiagnose zur Wernicke-Enzephalopathie darstellt. 4 Bei der zentralen pontinen Myelinolyse (CPM, s.u.) findet sich ebenso ein schweres Hirnstammsyndrom (s.u.). 4 Akute zerebelläre Syndrome mit Augenmuskelparesen kommen beim seltenen Miller-Fisher-Syndrom zusammen mit einer Areflexie vor, es handelt sich um eine besondere Verlaufsform der akuten Polyneuritis (7 Kap. 32.5.3). Korsakow-Psychose Das mit dem Alkoholismus assoziierte Korsakow-Syndrom wird als die chronische Phase des Thiaminmangels aufgefasst, wobei allerdings neben dem Mangel an Vitamin B1 zusätzlich ein genetischer Faktor gefordert wird. Typischerweise folgt das Korsakow-Syndrom der Wernicke-Enzephalopathie oder einem Alkoholdelir (grundsätzlich handelt es sich jedoch um eine von der Ätiologie unabhängige organische Psychose, die auch nach Schädelhirntraumen, Subarachnoidealblutungen und Enzephalitiden vorkommt, hieraus ergibt sich die Differentialdiagnose).

606

Kapitel 29 · Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems

Exkurs Vitamin B1 und Wernicke-Enzephalopathie Das Wernicke-Syndrom beruht auf Thiamin-(Vitamin-B1-)Mangel. Auf welche Weise dieser die pathologisch-anatomischen Veränderungen herbeiführt, ist noch ungeklärt. Histologisch findet man einen spongiösen Zerfall des Gewebes mit Proliferation und Dilatation der Kapillaren und häufig auch petechialen Blutungen. Die Läsionen sind hauptsächlich im Höhlengrau

3Symptome. Die Korsakow-Psychose der Alkoholiker ist durch die Trias geprägt: 4 Desorientiertheit, 4 Sekundengedächtnis, 4 Konfabulationen, die die Gedächtnislücken füllen.

29

Die Patienten sind desorientiert. Sie verkennen die aktuelle Umgebung, nehmen aber in der fehlgedeuteten Situation eine passende Rolle ein. Eine gewisse Plausibilität bleibt auch in der Verkennung gewahrt: Das Arztzimmer wird z.B. als Büro eines Rechtsanwalts – und der Arzt als Anwalt gedeutet. Die Merkstörung betrifft stärker kurz zurückliegende oder gegenwärtige Ereignisse und neue Lerninhalte, während weiter zurückliegende Ereignisse oft gut reproduziert werden können. Die oft lebhaften und auf den ersten Blick plausiblen Konfabulationen füllen die Gedächtnislücken. Sie können durch suggestive Fragen gelenkt werden: Bettlägerige Patienten berichten über Einkäufe in der Stadt, auf denen sie angeblich den Untersucher getroffen haben.

des III. und IV. Ventrikels und um den Aquädukt lokalisiert. Regelmäßig sind die Corpora mamillaria betroffen. Weitere Lokalisationen sind die Gegend des Vestibularis- und des dorsalen Vaguskerns. Die Läsionen sind bemerkenswert symmetrisch in ihrer Anordnung und Schwere. Ihre Lokalisation erklärt die neurologischen und vegetativen Symptome und die Somnolenz.

Gehirn – vor allem durch den zu schnellen therapeutischen Ausgleich des Natriummangels – führen zur Demyelinisierungen und Nekrosen in ventralen Anteilen des Pons sowie gelegentlich extrapontin im Thalamus, dem Corpus callosum, der inneren Kapsel und dem Kleinhirn. Die heute allgemein akzeptierte Therapie kann schwere (therapieassoziierte) Schäden verhindern, besonders bei den in den letzten Jahren dank MRT vermehrt beobachteten leichteren Verläufen. Deshalb ist die Kenntnis dieser Erkrankung trotz ihrer Seltenheit wichtig. 3Symptomatik. Typisch für die CPM ist ein ausgeprägtes akutes Hirnstammsyndrom mit Augenmotilitätsstörungen und anderen Hirnnervensyndromen, schweren para- und tetraparetischen Syndromen bis hin zum Locked-in-Syndrom, Bewusstseinsstörungen verschiedener Schwere, nicht selten ein Koma. Differentialdiagnostisch kommen schwere Hirnstammsyndrome bei anderen Störungen in Betracht: A.-basilaris-Thrombose, Wernicke-Enzephalopathie, Hirnstammenzephalitis.

3 Therapie 4 Eine Behandlung mit Vitamin B1 erscheint plausibel für die alkoholassoziierten Korsakow-Syndrome, da bei ihnen der Vitamin-B1-Mangel pathogenetisch bedeutsam ist. 4 Durchgreifende Besserungen werden nur für etwa ein Siebtel der Behandelten beschrieben. 4 Klare Dosisempfehlungen existieren nicht. Pragmatisch kann man zum Beispiel eine Woche mit 200 mg/Tag Vitamin B1 als Kurzinfusion behandeln und eine orale Therapie etwa mit 100 mg/Tag Vitamin B1 anschließen. Besonders lange bestehende Korsakow-Syndrome mit schweren Defekten dürften kaum beeinflussbar sein. 29.2.3 Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) Die CPM ist eine seltene, akute und durchaus gefährliche Erkrankung, die bei Alkoholismus, aber auch anderen Leiden wie Lebererkrankungen, M. Wilson, malignen Tumorleiden vorkommt. Die Brücke zum Alkohol stellt die Hyponatriämie von meist unter 110 mmol/l dar, die bei Alkholkranken gehäuft vorkommt (Diätfehler, exzessives Schwitzen im Delir). Hyponatriämie und sehr starke, kurzfristige Änderungen der Gewebsosmolarität im

. Abb. 29.3. CPM. Zentrale pontine Myelinolyse MRT mit T2-Sequenz: Unscharfe, mitpontine Signalhypointensität (Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

607 29.3 · Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem

3Diagnostik. Diagnostisch wegweisend sind Hinweise auf einen Alkoholismus, ein soeben durchgemachtes Alkoholdelir, laborchemisch eine Hyponatriämie. Die diagnostische Methode der Wahl ist die MRT mit Nachweis von Entmarkungen der ventralen Brücke unter Aussparung des Tractus corticospinalis (. Abb. 29.3) und möglicherweise der genannten extrapontinen Lokalisationen. 3Therapie. Die Behandlung dieses bedrohlichen Leidens besteht in allgemein-intensivmedizinischen Maßnahmen einschließlich Substitution von Vitamin B1. Die Untersuchung des Kupferstoffwechsels zur Frage des Morbus Wilson ist obligatorisch. 4 Die NaCl-Infusionen sollten so dosiert werden, dass Anstiege des Serumnatrium über 0,6 mmol/h vermieden werden. 4 Besondere Vorsicht ist bei chronischen Hyponatriämien geboten. 4 Ist ein Natriumspiegel von 125 mmol/l erreicht, ist die parenterale NaCl-Gabe zu stoppen. 29.3

Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem

29.3.1 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie

der Kleinhirnrinde Die Krankheit setzt zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr akut oder chronisch ein. Männer sind weit häufiger als Frauen befallen. 3Symptome. Langsam entwickelt sich eine Ataxie vorwiegend der Beine mit breitbeinigem, schleuderndem, später torkelndem Gang. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien ist auch das Stehen unsicher mit dem in 7 Kap. 23.6 geschilderten Vorwärts-Rückwärts-Schwanken. Manche Patienten schwanken schon beim Sitzen. Der Knie-Hacken-Versuch ist mit einer Frequenz von 3/s seitlich verwackelt. An den Armen ist die Ataxie wesentlich geringer, lediglich die Schrift wird frühzeitig verzittert. Diese unterschiedliche Ausprägung der Ataxie an Armen und Beinen beruht auf der somatotopischen Gliederung des Kleinhirnvorderlappens. Das Sprechen wird erst im späteren Verlauf leicht skandierend. Nystagmus tritt kaum auf. Die glatten Folgebewegungen der Augen können sakkadisch werden. Die Muskulatur wird nicht hypoton. Symptome der langen Bahnen stellen sich nicht ein. Demenz gehört nicht zum Krankheitsbild. Der Verlauf erstreckt sich über 1–2 Jahrzehnte. Bei Alkoholabstinenz kann sich die Symptomatik bessern. 3Morphologische Befunde. Makroskopisch sieht man eine umschriebene, symmetrische Atrophie des Kleinhirnvorderlappens (Paläozerebellum) mit hochgradigem Klaffen der Furchen

29

und derber Atrophie der Läppchen. Dieses Klaffen der Furchen ist für die Krankheit sehr typisch. Die Atrophie stellt sich im Computertomogramm und besonders im sagittalen MRT gut dar. Mikroskopisch findet man vor allem einen Untergang der Purkinje-Zellen mit »leeren Körben« , während das Marklager relativ gut erhalten bleibt. 3Therapie. Eine spezielle Therapie ist nicht bekannt. Bei Alkoholismus ist eine Behandlung mit Vitamin B1 sinnvoll. Eine sporadische, chronische zerebelläre Ataxie vor allem der Beine kann auch Zeichen einer paraneoplastischen Kleinhirnatrophie sein (7 Kap. 13). 29.3.2 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz Patienten mit chronischem Alkoholismus zeigen nicht nur eine psychisch bedingte Verwahrlosung, sondern oft auch eine Demenz. Gelegentlich stellt sich eine Epilepsie ein, und nur dann, nicht bei den Gelegenheitskrämpfen in der Entzugssituation, sollte man den alten Terminus Alkoholepilepsie verwenden. Wahrscheinlich sind es auch diese Patienten, die, zumal wenn sie impotent werden, den Eifersuchtswahn der Trinker entwickeln. Die häufigste Ursache einer gravierenden, computertomographisch nachweisbaren Hirnvolumenminderung im jüngeren und mittleren Lebensalter ist der chronische Alkoholismus. Man findet, im Gegensatz zu den zur Demenz führenden degenerativen Krankheiten, eine gleichmäßigere Verteilung der Hirnvolumenminderung, die fast regelmäßig auch das Kleinhirn betrifft. Allerdings darf nicht das gesamte Ausmaß der Volumenminderung auf eine alkoholbedingte Hirnatrophie bezogen werden. Bei Abstinenz kann beobachtet werden, dass das Hirnvolumen wieder zunimmt. Bei gutachterlicher Stellungnahme zu einer eventuellen posttraumatischen Hirnatrophie ist ein möglicher Alkoholismus als Ursache einer Hirnvolumenminderung stets zu berücksichtigen. Sie gleicht morphologisch und wahrscheinlich auch in der Pathogenese der prinzipiell reversiblen Hirnvolumenminderung bei Anorexia nervosa und bei anderen Formen von Kachexie. Bei 3/4 der Patienten besteht ein schwerer Ernährungsmangel, und die Symptomatik bessert sich bei ausreichender Ernährung und Vitaminzufuhr. Dennoch ist die Zuordnung zur Gruppe der alkoholbedingten Ernährungsstörungen am Nervensystem noch nicht ausreichend gesichert. 29.3.3 Andere alkoholassoziierte Krankheiten

und Syndrome Marchiafava-Bignami-Syndrom Von der Alkoholdemenz und der zentralen pontinen Myelinolyse ist die Corpus callosum-Degeneration, das Marchiafava-Bignami-Syndrom abzugrenzen. Betroffen sind vornehmlich ältere

608

Kapitel 29 · Alkoholschäden und -krankheiten des Nervensystems

Männer, besonders Rotweintrinker. Die ätiologisch ungeklärte Erkrankung führt zu Demenz, organischen Wesensänderung, hirnorganischen Anfällen, spastischen und zerebellären Symptomen. Eine Therapie ist nicht bekannt, Vitamin B1 ist unwirksam, Remissionen kommen vor. Alkoholbedingte Schädigung des N. opticus (»Tabak-Alkohol-Amblyopie« ) Bei manchen chronischen Alkoholkranken entwickelt sich eine Degeneration der zentralen Fasern des N. opticus (papillomakuläres Bündel) mit Verfall der Sehschärfe. Ursache ist eine Vitamin-B12-Resorptionsstörung infolge Schleimhauterkrankung des oberen Dünndarms. Entsprechend besteht die Therapie in parenteraler Gabe von Vitamin B12 (7 Kap. 28.1). Die falsche Namensgebung wird leider immer noch weiter tradiert. Tabak spielt ätiologisch keine Rolle. Das Syndrom gehört im weiteren Sinne zur funikulären Myelose (7 Kap. 28).

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Alkoholepilepsie Von einer Alkoholepilepsie sprechen wir, wenn es aufgrund einer substantiellen Hirnschädigung durch die chronische Alkoholeinwirkung, unabhängig vom aktuellen Alkoholspiegel zu wiederholten symptomatischen epileptischen Anfällen kommt. Diese sind von den Gelegenheitsanfällen beim Alkoholentzug abzugrenzen. Die Behandlung der Alkoholepilepsie folgt den üblichen Behandlungsregeln symptomatischer Epilepsien. Auch bei der Alkoholepilepsie ist eine absolute Alkoholkarenz zu fordern, die Antikonvulsivatherapie ist nur bei zuverlässiger Mitarbeit des Patienten sinnvoll. Pachymeningeosis haemorrhagica interna Nach leichten Kopftraumen kann sich bei Alkoholikern über Wochen und Monate ein chronisches, subdurales Hämatom ausbilden, das klinisch zu den Symptomen führt, die in 7 Kap. 26.3 für das traumatische, subdurale Hämatom beschrieben sind. Wie das traumatische Hämatom, kann auch die Pachymeningeosis doppelseitig sein. Oft sieht man im CT oder MRT Hämatome unter-

schiedlichen Alters und Organisationsgrades. Dann wird die klinische Symptomatik von Antriebsmangel und affektiver Nivellierung beherrscht. Als wichtiger, ätiologischer Kofaktor wird Vitamin-B1-Mangel angesehen. Die Abgrenzung der Pachymeningeose vom chronischen, subduralen Hämatom wird in der Neuropathologie heute nicht mehr vertreten. Bei bekanntem Alkoholabusus ist die wichtigste Differentialdiagnose gegen die Wernicke-Enzephalopathie zu stellen. Alkoholmyopathie Zwei Drittel der Alkoholkranken entwickeln eine in der Regel milde chronische alkoholische Myopathie mit schmerzloser Verschmächtigung und Schwäche der proximalen Muskulatur, die meist mit einer Kardiomyopathie einhergeht. Von dieser ist die akute hypokaliämische Alkoholmyopathie abzugrenzen. Alkohol ist zudem der häufigste Auslöser der akuten Rhabdomyolyse, die sich mit Muskelschwellung, Schmerzen, Bewegungseinschränkung und Myoglobinurie bis zum Nierenversagen manifestiert. Die Therapie erfolgt symptomatisch intensivmedizinisch mit forcierter Diurese, bei schweren Verläufen Dialyse. Alkoholembryopathie Bei chronischem und exzessivem Alkoholabusus der Mutter während der Schwangerschaft, besonders im ersten Trimenon, werden 30–50% der Nachkommen geschädigt. Charakteristisch für diese Form der Embryopathie sind Minderwuchs, Mikrozephalie, Rückstand in der geistigen Entwicklung sowie kraniofaziale Missbildungen: Mikrozephalus, Epikanthus, Ptose, verkürzter Nasenrücken. Das Geburtsgewicht der Kinder ist mehr als 1200 g leichter als das von gesunden Kindern. Auch postnatal bleiben die Kinder etwa bis zum 7. Jahr minderwüchsig und untergewichtig. Ein Substrat der statomotorischen und geistigen Entwicklungsverzögerung ist der Hydrocephalus internus. Unter den weiteren Missbildungen sind angeborene Herzfehler und andere kardiale Missbildungen zu erwähnen. Die Alkoholembryopathie ist eine der häufigsten, erkennbaren intrauterinen Schädigungen im Kindesalter.

609 29.3 · Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem

In Kürze Alkoholassoziierte Psychosen Akute Alkoholintoxikation. Symptome: I. Stadium oder euphorisches Stadium: 0,5–1‰ Blutalkohol, bei Kindern entstehen durch Hypoglykämie schwerste bis tödliche Verläufe. II. Stadium oder Erregungsstadium: 1–2‰ Blutalkohol, Denkstörungen, Enthemmung, Aggressivität, Doppelbilder, Gangstörungen, Minderung der Schmerzempfindung. III. Stadium oder narkotisches Stadium: 2–3‰, Bewusstseinstrübung, Bewegungsarmut. IV. Stadium oder asphyktisches Stadium: 4–6‰ Blutalkohol, Bewusstlosigkeit, akute Lebensgefahr durch erloschene Schutzreflexe, Atem-, Herz- und Kreislaufversagen. Therapie: Verlaufsbeobachtung, Behandlung auf Intensivstation bei III. und IV. Stadium. Pathologischer Rausch. Verminderte Alkoholtoleranz bei Hirnerkrankungen, körperlicher und seelischer Erschöpfung, schweren Allgemeinerkrankungen. Symptome: Abrupt einsetzende, schwere Intoxikationssymptome, psychomotorische Erregung, Amnesie. Therapie: Wegen der kurzen Dauer oft weder erforderlich noch möglich. Alkoholdelir (Delirium tremens). Folge eines unbeabsichtigten oder beabsichtigten Entzuges nach monate- oder jahrelanger Zufuhr von ≤120 g/Tag reinem Alkohol. Symptome: Vigilanzstörung, Desorientiertheit, psychomotorische Unruhe mit meist ängstlicher Erregung, illusionäre Verkennung von Gegenständen und Halluzinationen. Diagnostik: Röntgen, Labor, MRT. Therapie: Antidelirante Medikation, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, dauerhafte Entwöhnung. Differentialdiagnose: Medikamentenentzugsdelir, pharmakogene und toxische Psychosen, Manie, Demenz, posttraumatische und epileptische Durchgangssyndrome, Enzephalopathien. Alkoholhalluzinose. Nach jahrelangem, schwerem Alkoholabusus akut einsetzende toxische Psychose. Symptome: Klares Wachbewusstsein, ängstliche Erregung, akustische Halluzinationen, keine Amnesie. Therapie: Medikamentöse Therapie, evtl. Einweisung in Psychiatrie.

Alkoholbedingte Ernährungsstörungen Alkoholbedingte Polyneuropathie. Ernährungsstörung nach langjähriger, pathogenetisch entscheidender Mangelernährung, besonders Unterversorgung mit Vitamin B1. Symptome: Atrophische Paresen, symmetrische Sensibilitätsstörungen, abgeschwächte oder erloschene Muskeleigenreflexe, Ausfälle des autonomen Nervensystems, atrophische und hyperpigmentierte Haut, Störungen der Speiseröhrenperistaltik, Potenz-

störungen, frühe Verschmächtigung der Beinmuskulatur, Muskelkrämpfe. Therapie: Alkoholkarenz, kalorienreiche Ernährung, tägliche Substitution von Vitaminen, medikamentöse Schmerztherapie. Wernicke-Enzephalopathie. Folgeerscheinungen einer Unterversorgung mit Vitamin B1. Symptome: Okulomotorische Störungen wie horizontaler Blickrichtungsnystagmus, Pupillenstörungen; zerebelläres Syndrom mit Rumpf-, Gang- und Standtaxie; psychische Störungen als Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen, Bewusstlosigkeit, Koma. Therapie: Substitution von Vitamin B1, medikamentöse Therapie. Differentialdiagnose: A.-basilarisThrombose, zentrale pontine Myelinolyse, Miller-Fisher-Syndrom. Korsakow-Psychose. Chronische Phase des Vitamin-B1-Mangels. Symptome: Desorientiertheit, Sekundengedächtnis, Konfabulationen zum Füllen der Gedächtnislücken. Therapie: Substitution von Vitamin B1. Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM). Symptome: Ausgeprägtes akutes Hirnstammsyndrom mit Augenmotilitätsstörungen, schweren para- und tetraparetischen Syndromen bis hin zum Locked-in Syndrom, Bewusstseinsstörungen bis Koma. Therapie: Intensivmedizinische Therapie, Substitution von Vitamin B1. Differentialdiagnose: A.-basilaris-Thrombose, Wernicke-Enzephalopathie, Hirnstammenzephalitis.

Pathogenetisch ungeklärte Alkoholschäden am Nervensystem Lokalisierte, sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde. Setzt zwischen 50. und 60. Lebensjahr akut oder chronisch v.a. bei Männern ein. Symptome: Ataxie der Beine mit breitbeinigem, torkelndem Gang, Vorwärts-Rückwärts-Schwanken, skandierendes Sprechen. Therapie: Substitution von Vitamin B1. Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz. Hirnvolumenminderung im jüngeren und mittleren Lebensalter durch chronischen Alkoholismus. Symptome: Psychisch bedingte Verwahrlosung, Demenz, Ernährungsmangel. Therapie: Ausreichende Ernährung, Substitution von Vitaminen. Andere alkoholassoziierte Krankheiten und Syndrome. Marchiafava-Bignami-Syndrom, alkoholbedingte Schädigung des N. opticus, Alkoholepilepsie, Pachymeningeosis haemorrhagica interna, Alkoholmyopathie, Alkoholembryopathie.

29

30

Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

30.1

Kopfschmerzen – 611

30.2

Zerebrale Allgemeinsymptome (Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung) – 611

30.2.1 30.2.2

Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung – 611 Chronischer Medikamentenabusus – 612

30.3

Bewusstseinsstörungen – 613

30.4

Entzugssymptome – 613

30.4.1 30.4.2

Delir – 613 Somnolenz und narkoleptische Anfälle

30.5

Psychotische Episoden und Halluzinationen – 613

– 613

30.6

Epileptische Anfälle – 614

30.6.1 30.6.2

Medikamente mit krampfschwellensenkender Wirkung – 614 Entzugskrämpfe – 614

30.7

Extrapyramidale Syndrome – 614

30.7.1 30.7.2 30.7.3 30.7.4

Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom – 614 Hyperkinesen und Dystonien – 614 Spätdyskinesien – 615 Tremor – 615

30.8

Hirnstamm- und zerebelläre Symptome – 615

30.8.1 30.8.2

Hirnstammsymptome – 615 Zerebelläre Symptome – 615

30.9

Hirnnervensymptome – 615

30.9.1 30.9.2 30.9.3 30.9.4 30.9.5 30.9.6

Anosmie – 615 Sehstörungen – 615 Pupillenstörungen – 616 Schädigung des N. stato-acusticus – 616 Ageusie (Geschmacksverlust) – 617 Andere Hirnnerven – 617

30.10

Neuromuskuläre Störungen – 617

30.10.1 30.10.2 30.10.3 30.10.4

Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie – 617 Läsionen einzelner peripherer Nerven – 617 Störung der neuromuskulären Überleitung – 617 Muskuläre Störungen – 617

611 30.2 · Zerebrale Allgemeinsymptome (Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung)

30

> > Einleitung

30.1

Arzneimittelwirkungen und -vergiftungen können sich auf jedem Organisationsniveau des Nervensystems, von der Hirnrinde bis zur neuromuskulären Überleitung und den Muskeln manifestieren. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen können aber nicht nur einzelne Symptome oder Syndrome, sondern auch Krankheitsverläufe anderer Ätiologie imitieren. Nicht immer sind abnorm hohe Dosierungen (Intoxikationen) nötig, um die Symptome hervorzurufen. Oft reicht auch die Gabe einer »therapeutischen« Dosis aus. Bei Patienten mit eingeschränkter Nieren- oder Leberfunktion kann es zu einer Akkumulation und verstärkter Wirkung/Nebenwirkung kommen. Vor allem bei älteren Menschen sollte dies berücksichtigt werden. Auch eine Komedikation, die zu Enzyminduktion oder Veränderung der Plasmaeiweißbindung führt, beeinflusst möglicherweise die Medikamentenwirkung. Patienten mit einer zerebralen Vorschädigung zeigen häufig eine erhöhte NW-Rate bei zentralnervös wirksamen Medikamenten. Die Nebenwirkungen eines Arzneimittels können die Symptome bekannter Krankheiten auslösen oder verstärken. Diese Symptome können reversibel oder irreversibel sein. Als Beispiel hierfür wären Blutdruckabfallkrisen mit hämodynamischen Insulten zu nennen, die bei subtotaler Karotis- oder Siphonstenose durch höher dosierte, blutdrucksenkende Behandlung eintreten können. Ein anderer Fall ist die Provokation der akuten intermittierenden Porphyrie durch Barbiturate. Wir besprechen in diesem Kapitel Symptome und auslösende Substanzen. Für die Therapie der akuten Intoxikationen müssen wir auf Speziallehrbücher verweisen.

Viele Analgetika, einschließlich Aspirin, können bei längerer Gabe Kopfschmerzen hervorrufen. Praktisch alle nichtsteroidalen Antirheumatika können Kopfschmerzen auslösen oder bestehende Kopfschmerzneigung verstärken. Typisch sind Kopfschmerzen bei Dipyramidolgabe und bei Kalziumantagonisten, z.B. bei der akuten Behandlung der hypertensiven Krise mit Nifedipin. Eine ganze Reihe anderer Medikamente, wie Nitropräparate, Hormonpräparate (Östrogene), auch Glukokortikoide, um nur einige zu nennen, können Kopfschmerzen als Nebenwirkung verursachen. Auch das antispastisch wirksame Medikament Baclofen (z.B. Lioresal) führt zu Kopfschmerzen. Der medikamenteninduzierte Kopfschmerz ist eine langfristige Komplikation bei Migränepatienten oder Patienten mit chronischem Spannungskopfschmerz 7 Kap. 16). Die geringste Neigung, einen analgetikainduzierten Kopfschmerz zu produzieren, haben Paracetamol und Ibuprofen.

Vorbemerkung zur Gliederung des Kapitels Es ist allgemein bekannt, dass viele Medikamente unerwünschte Wirkungen haben, die auf den immer länger werdenden Beipackzetteln der Präparate aufgeführt sind. Bei der Untersuchung eines Patienten mit zentralen oder peripheren neurologischen Symptomen gehört es auch zur Routine, nach der Medikamenteneinnahme zu fragen und die Möglichkeit einer akuten oder chronischen Intoxikation zu berücksichtigen. Üblicherweise werden in Lehrbüchern die unerwünschten Wirkungen so dargestellt, dass zuerst die Substanz genannt wird und dann alle beobachteten Nebenwirkungen in den verschiedensten Organsystemen aufgezählt werden. Wir haben in diesem Kapitel einen anderen Weg gewählt: Wir stellen das neurologische Leitsymptom dar und besprechen dann, bei welchen Medikamentengruppen solche Störungen zu erwarten sind. Diese Darstellung kann natürlich nicht vollständig sein. Wir konzentrieren uns auf Erscheinungen, die so häufig sind, dass sie eine wichtige Differentialdiagnose darstellen.

Kopfschmerzen

30.2

Zerebrale Allgemeinsymptome (Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung)

30.2.1

Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung

Nicht nur akute Arzneimittelvergiftungen oder die Entziehungssituation nach längerer Anwendung von Pharmaka führen zu neurologischen Allgemeinsymptomen. Auch therapeutische Dosen können nachhaltige und störende kognitive Störungen verursachen. 3Symptome. Hypnotika (wie z.B. Benzodiazepine, Barbiturate, Chloralhydrat), besonders solche mit langer HWZ, in höherer Dosierung eingenommen, können auch Langzeitfolgen wie Antriebslosigkeit, Verlangsamung, Gedächtnisstörungen, Müdigkeit und hervorrufen. Viele Antidepressiva, besonders auf trizyklischer Basis mit stärker sedierendem und anxiolytischem Anteil, führen zu Müdigkeit, Leistungsverlust und Gedächtnisstörung – z.B. Doxepin (Aponal®), Amitriptylin (Saroten®) und antidepressiv wirksame Neuroleptika wie Thioridazin (Melleril®), Laevomepromazin (Neurocil®) und andere. Baclofen, besonders in Kombination mit sedierenden Medikamenten, kann eine erhebliche Müdigkeit und Verlangsamung hervorrufen. Anticholinergika, die zur Behandlung des Tremors bei Parkinson-Patienten gegeben werden, beeinflussen Gedächtnis und Konzentration nachhaltig. Langfristige Kortisongabe kann zu Verlangsamung und Gedächtnisstörungen führen. Meist ist der Zusammenhang schon am Aussehen der Patienten (Cushing-Syndrom als Zeichen der chronischen Kortisongabe) zu erkennen. Sedierung, Antriebslosigkeit und gering-

612

Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

Exkurs EEG-Veränderungen bei Medikamenteneinnahme 4 Für Barbiturate sind frontale β-Wellen charakteristisch, 4 für Benzodiazepine generalisierte, synchrone β-Wellen. 4 Hydantoine führen zu einer Beschleunigung des Grundrhythmus unter Auftreten von β-Wellen. 4 Auch trizyklische Antidepressiva machen eine Beschleunigung in Gruppen, auch steile Entladungen.

30

fügige Verlangsamung kann bei hohen Dosierungen von Betablockern und anderen Antihypertensiva gefunden werden. Oft fühlen sich die Patienten hierdurch so beeinträchtigt, dass sie die Antihypertensiva absetzen. Durch Diuretika bedingte Elektrolytverschiebungen können Verwirrtheit, Verlangsamung und in seltenen Fällen epileptische Anfälle hervorrufen. Sedierung und Teilnahmslosigkeit kann unter klassischen Antihistaminika beobachtet werden. Die Fahrtauglichkeit kann auch bei niedrigen Dosen von Antihistaminika, die beispielsweise gegen eine allergische Rhinitis genommen werden, beeinträchtigt sein. Die neueren Antihistaminika sollen deutlich weniger zentral wirksam sein. Depressionen: Diese können unter vielen Medikamenten, z.B. bei antispastischer Behandlung mit Baclofen oder bei Behandlung der Hypertonie mit Betablockern, auftreten. Bei Antiparkinson-Medikation sind Depressionen und Ängstlichkeit mit innerer Unruhe seltener als Halluzinationen. Schwindel und Depressionen sind auch unter Kalziumantagonisten nicht selten. Unter Kortisonbehandlung kommt es zu erheblichen Veränderungen der Gedächtnisleistung, die oft wegen der euphorisierenden Wirkung des Steroids nicht kritisch wahrgenommen wird. ä Der Fall Eine 70-jährige Frau leidet seit vielen Jahren unter Hypertonie, Herzrhythmusstörungen und intermittierenden Schwindelattacken. Sie hat schon zwei, zum Glück glimpflich abgelaufene Schlaganfälle erlitten. Bis zu ihrer Pensionierung mit 62 Jahren war sie als Lehrerin tätig, und – so die Angaben der Angehörigen – sie war noch bis vor wenigen Monaten geistig sehr frisch, rege und interessiert. Die Behandlung des Bluthochdrucks wird schon seit vielen Jahren unverändert mit einem Kombinationspräparat vorgenommen. Seit einigen Monaten sei eine erhebliche Reduktion der geistigen Fähigkeiten der Patientin bemerkbar: Sie sei desinteressiert, langsam, schlafe viel, sei leicht erschöpfbar, könne sich nicht mehr konzentrieren und mache insgesamt einen traurigen, depressiven Eindruck. Der Hausarzt habe schon den Verdacht auf eine beginnende Demenz vom Alzheimer-Typ geäußert. Insgesamt nimmt die Patientin viele verschiedene Medikamente: Digitalis, ein orales Antidiabetikum und seit einigen Monaten auch ein schon lange auf dem Markt befindliches Antihypertensivum. In dem Blutdruckmischpräparat ist (immer noch) Reserpin enthalten.

6

4 Die meisten Neuroleptika verlangsamen das EEG. 4 Nach Absetzen der Medikamente normalisiert sich das EEG erst nach Tagen oder Wochen.

Die genaue Medikamentenanamnese zeigt, dass die Beschwerden der Patientin ziemlich genau mit dem Beginn der neuen Blutdruckmedikation zusammenfallen. Reserpin ist eine Substanz, von der bekannt ist, dass sie Depressionen auslösen kann. Die Umstellung auf zwei neue Medikamente, einen ACE-Hemmer und einen niedrig dosierten Betablocker, führt nicht nur zu einer sehr befriedigenden Neueinstellung des Blutdrucks, sondern auch zu einer schnellen Rückbildung der medikamentös induzierten kognitiven Einbußen und des depressiven Syndroms.

30.2.2

Chronischer Medikamentenabusus

Abhängigkeit Bei chronischer Einnahme bestimmter Medikamente entwickeln sich häufig psychopathologische und neurologische Symptome, die einen diffusen oder multilokulären, hirnorganischen Krankheitsprozess imitieren. Der Krankheitsverlauf ist dabei keineswegs immer langsam progredient. Gar nicht selten betreiben die Patienten ihren Abusus intermittierend, so dass man zunächst einen schubweise verlaufenden Prozess vermutet. Der Übergang vom schädlichen Gebrauch zur Abhängigkeit ist fließend. Typische Suchtpräparate sind neben Alkohol und Drogen auch Analgetika (Phenacetin, Paracetamol, ASS, Ibuprofen, Ergotamine). Obwohl die einzelnen Substanzen in ihren biochemischen Wirkungen auf das Gehirn sehr unterschiedlich sind, ergibt sich trotzdem ein recht ähnliches klinisches Erscheinungsbild. Die direkte psychische Wirkungen der Substanzen, wie Änderung der Persönlichkeit, der Affektivität, Beeinträchtigung des Denkvermögens und des Antriebs werden im Verlauf deutlicher. Es gibt keine einheitliche Ursache von Abhängigkeit und Sucht, die Entstehung ist vermutlich multifaktoriell. Möglicherweise sind neurobiologische Faktoren entscheidend bei der Aufrechterhaltung der Sucht, aber nur in Kombination mit psychologischen und soziologischen Faktoren bedeutend bei der Entstehung. Alle Suchtstoffe zeigen eine agonistische oder antagonistische Wirkung an zentralen Neurotransmittersystemen. 3Symptome. Die Patienten sind aspontan, und auch ihre Anregbarkeit ist vermindert. Sie wirken bald gleichgültig-stumpf, bald moros-reizbar, bald flach-euphorisch. Oft klagen sie über Kopfschmerzen, Schwindel, Merkschwäche und Nachlassen der

613 30.5 · Psychotische Episoden und Halluzinationen

Initiative. Der Grund für den Medikamentenabusus ist in vielen Fällen eine chronische Konfliktsituation. Man darf nicht die neurologischen Symptome in Kenntnis dieses Konfliktes als psychogen verkennen. Gerade das lallende Sprechen, die Unsicherheit beim Gehen und unklare Anfälle werden leicht für psychogen gehalten. Meist haben die Patienten einen Tremor der Hände, auch ein feinschlägiger, ungerichteter Nystagmus fehlt selten. > Störungen von Antrieb und Aufmerksamkeit, geringe

Verminderung der Wachheit, Nystagmus und Tremor der Hände: Verdacht auf chronische Intoxikation.

30.3

Bewusstseinsstörungen

Das ganze Spektrum der Bewusstseinsstörungen, von leichter Somnolenz bis zum tiefen Koma mit Dezerebrationshaltung und Hirntod, kann Folge einer akuten oder chronischen Arzneimittelintoxikation sein (zur Einteilung der Bewusstseinsstörungen 7 Kap. 2.1). Der Grad der Bewusstseinsstörung richtet sich nach der Menge der aufgenommenen Substanz und reflektiert die Ebene der Funktionsstörung im Hirnstamm. Sie ist nicht spezifisch für bestimmte Substanzen. Als besondere Form der Bewusstseinsstörung sollen noch die Einschlafattacken unter Dopaminagonisten erwähnt werden, deren pathophysiologischer Mechanismus noch nicht geklärt ist und die besonders für die Teilnahme am Straßenverkehr relevant sind. Eine erste Information über die verursachende Substanzgruppe kann über die Begleitsymptome abgeleitet werden. Unter diesen spielen Veränderungen der Pupillen und der Augenmotilität eine besonders wichtige Rolle. 4 Eine maximale Miosis mit einem Pupillendurchmesser von etwa 1 mm findet man bei Opiatvergiftung, E605-Vergiftung oder Intoxikation mit Psychopharmaka. 4 Bei Opiatvergiftung fehlt die Lichtreaktion. Die Pupillen erweitern sich aber nach Gabe von Morphinantagonisten, z.B. Levallorphan (z.B. Lorfan®) und verengen sich auf Neostigmin (z.B. Prostigmin®) noch stärker. 4 Die E605-Vergiftung ist durch das Vollbild der Acetylcholinintoxikation charakterisiert, weil das Mittel die Cholinesterase hemmt. Wir finden also das Bild einer Parasympathikusreizung mit Miosis, Speichelfluss, Bronchialsekretion, Schweißausbruch und Diarrhoe, Hypotonie und Bradykardie, Symptome also, die man auch noch im Koma feststellen kann. 4 Hat der bewusstlose Patient eine Mydriasis mit schwacher oder fehlender Lichtreaktion, so muss neben einer ausgedehnten, primären Mittelhirnläsion und dem tiefen, metabolischen Koma vor allem die CO-Vergiftung abgegrenzt werden. Charakteristisch für die CO-Vergiftung ist die hellrote Farbe des Gesichtes und des Blutes. 4 Eine Beeinträchtigung der horizontalen Reflexbewegung der Bulbi (okulozephaler Reflex, 7 Kap. 2.1.1) kommt bei Vergiftun-

30

gen mit Barbituraten und verwandten Hypnotika vor, von denen bekannt ist, dass sie besonders auf das polysynaptische, retikuläre System des Hirnstamms wirken. 30.4

Entzugssymptome

30.4.1

Delir

Entzugssymptome äußern sich mit epileptischen Anfällen (s.u.) und in einer exogenen Psychose vom Typ des Delirs oder Dämmerzustandes. So kommen z.B. Entzugsdelirien bei 60% der Menschen vor, die chronisch Barbiturate oder Tranquilizer nehmen und bei denen der Spiegel des Medikamentes plötzlich absinkt. Sehr charakteristisch ist das Alkoholentzugsdelir (7 Kap. 29.1.3). 30.4.2

Somnolenz und narkoleptische Anfälle

Das Gegenbild dazu sind die Somnolenz und selbst narkoleptische Anfälle während des Entzugs von zentralen Analeptika. Der Entzug von Substanzen, die auf polar organisierte Systeme im Zentralnervensystem wirken (z.B. Wachen und Schlafen), ruft also das Gegenteil ihrer pharmakologischen Wirkung hervor, und zwar nach beiden Richtungen als phasische (Krämpfe, narkoleptische Anfälle) oder tonische Funktionsstörung (Delir, Somnolenz). 30.5

Psychotische Episoden und Halluzinationen

Bei Parkinson-Patienten kommt es unter Behandlung mit den üblichen Antiparkinson-Medikamenten nicht selten zu Halluzinationen. Alle Antiparkinsonmittel, nicht nur L-Dopa und Dopaminagonisten, sondern auch Anticholinergika, können akute, psychotische Reaktionen mit meist visuellen Halluzinationen auslösen. Psychosen und Delirien werden auch unter Amantadinpräparaten beobachtet. Halluzinationen treten aber nicht streng dosisabhängig auf. Auch führt eine bestimmte Substanz beim gleichen Patienten nicht jedes Mal zu einer Psychose oder zu Halluzinationen. Diese psychotischen Reaktionen sind bei fortgeschrittener Parkinson-Krankheit oft therapielimitierend (7 Kap. 23.1.1). Da die typischen Neuroleptika das Parkinson-Syndrom verstärken können, stehen als Ausweichmedikamente die atypischen Präparate Clozapin und Quetiapin ohne extrapyramidale NW zur Verfügung. > Halluzinationen und andere, akute, psychotische Reak-

tionen sind häufige Nebenwirkungen einer ParkinsonTherapie.

614

Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

Exkurs Parkinson-Krankheit und medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom Die Häufigkeit eines Parkinson-Syndroms beträgt 4–30% bei chronischer Neuroleptikabehandlung. Interessanterweise ist die Altersverteilung des spontanen und medikamentös ausgelösten Parkinsonismus etwa gleich. In den Familien der Kranken, die

30

Halluzinationen kommen auch bei antriebssteigernden trizyklischen Antidepressiva vom Imipramin-Typ vor. Akute Psychosen werden unter verschiedensten Drogen beobachtet: LSD (auch mit Flash-back oder den bekannten Horrortrips), Crack und Kokain, seltener Heroin oder Opiate lösen diese aus. Prednisolon und andere Kortikosteroide können innere Unruhe, Nervosität, Halluzinationen und psychotische Reaktionen bewirken, besonders bei hoher Dosierung und i.v.-Gabe. Auch manche Antimykotika wie Fluzytosin oder Miconazol können zu Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung und Halluzinationen führen. Antibiotika wie Ofloxazin (z.B. Tarivid®) und andere Chinolonderivate können Halluzinationen auslösen. Da diese Substanzen z.B. bei Harnwegsinfekten relativ freizügig verschrieben werden, sollte man bei akuten, psychotischen Reaktionen immer die Frage nach vorangegangener Antibiotikatherapie stellen. Das Zytostatikum Asparaginase hat bei etwa 20% aller Patienten Verwirrtheit, psychotische Episoden, selten auch epileptische Anfälle zur Folge. Halluzinationen treten ebenfalls unter Behandlung mit Antihistaminika auf. 30.6

Epileptische Anfälle

30.6.1

Medikamente mit krampfschwellensenkender Wirkung

Verschiedene Antibiotika, besonders Penicillinderivate, können Anfälle provozieren. Die Krampfschwelle wird auch durch Ciclosporin und Isoniazid gesenkt. Zytostatika, wie Cisplatin und Fluorouracil können zu Enzephalopathien mit epileptischen Anfällen und Verwirrtheit führen. Auch Digitalisglykoside senken die Krampfschwelle (EEG-Veränderungen schon bei normalen Dosen). Intoxikationen mit Crack, Kokain und Amphetaminen führen zu epileptischen Anfällen. 30.6.2

Entzugskrämpfe

Nach längerer Einnahme von sedierend wirkenden Substanzen, z.B. von Barbituraten, Tranquilizern, bei lang dauerndem Alkohol- oder Drogenabusus kommt es zu einer Gewöhnung im pharmakologischen Sinne. Plötzliches Absetzen der Substanzen löst bei vielen Menschen Entzugskrämpfe aus. Sie haben nicht eine pathologisch gesteigerte Krampfbereitschaft zur Voraussetzung, sondern können auch bei Personen auftreten, die sonst niemals

nach Neuroleptikabehandlung ein Parkinson-Syndrom bekommen, soll der »echte« Parkinsonismus häufiger sein als in der Durchschnittsbevölkerung. Dies spricht für eine individuelle Bereitschaft zur Manifestation von extrapyramidalen Symptomen.

spontane, epileptische Anfälle bekommen. Das schließt natürlich nicht aus, dass auch Epilepsiekranke Entzugskrämpfe (bis zum Status epilepticus) bekommen können, wenn ein Antiepileptikum plötzlich abgesetzt wird. Wenn ein Entzugsdelir jedoch mit gehäuften Anfällen beginnt, besteht die Gefahr, dass man so lange mit aufwendigen Methoden nach der Ursache der Anfälle sucht, bis wertvolle Zeit für die Behandlung im Frühstadium des Delirs versäumt ist. 30.7

Extrapyramidale Syndrome

30.7.1

Medikamentös ausgelöstes ParkinsonSyndrom

Viele Medikamente, vor allem Psychopharmaka und Antivertiginosa (Schwindelmittel) führen oft zum akinetischen Parkinson-Syndrom, zu Tremor, zu oralen Hyperkinesen mit Schlundkrämpfen oder zum akuten Tortikollis. Folgende Neuroleptika (Auswahl, hier nur Handelsnamen) können die Symptomatik auslösen: Taxilan®, Dapotum®, Imap®, Neurocil®, Dominal®, Dipiperon®, Melleril® Eunerpan® und andere, die fälschlich als »Tranquilizer« gegeben werden. Selten wird ein medikamentöses Parkinson-Syndrom auch unter Antidepressiva gesehen. Unter Behandlung mit dem Kalziumantagonisten Flunarizin wurden reversible Parkinson-Syndrome beobachtet. 30.7.2

Hyperkinesen und Dystonien

Nach parenteraler oder oraler Gabe von Diphenylhydantoin, Carbamazepin, Primidon, Metoclopramid und von Succinimiden sind ballistische, choreatische, athetotische und myorhythmische Hyperkinesen berichtet worden. Überdosierung mit Parkinson-Medikamenten führt zu heftigen, choreoathetotischen Bewegungen. Oft fühlen sich die Patienten in dieser hyperaktiven Phase relativ wohl, obwohl sie funktionell ähnlich behindert sind wie in einer akinetischen Phase. Neuroleptika können zu paroxysmalen Dyskinesien (Häufigkeit bis zu 10%) führen. Hierzu zählen auch Zungen- und Schlundmuskulaturkrämpfe (besonders häufig bei jungen Patientinnen nach Paspertin®-Behandlung! Therapie: Akineton® i.v.). Auch Blick- und Gesichtskrämpfe, seltener Torsionsdystonie und choreatische Bewegungsstörungen kommen vor.

615 30.9 · Hirnnervensymptome

> Akut einsetzende, bedrohlich wirkende Zungen- und Schlundkrämpfe bei Patienten mit Übelkeit und Erbrechen: Meist Folge einer Behandlung mit Metoclopramid (Paspertin®). Therapie: Akineton® i.v.

30.7.3

Spätdyskinesien

Nach chronischer Einnahme von Neuroleptika stellen sich bei einzelnen Patienten choreatische und dystone Hyperkinesen in der Mundregion, den Extremitäten und, selten, auch am Rumpf ein, die besonders bei Ablenkung und in entspannten Situationen deutlich sind. Diese Spätdyskinesien können sich unter einer gleichbleibenden neuroleptischen Dauertherapie, nach dem Absetzen und sogar nach einer Einmalgabe eines Depotpräparates (z.B. Imap®) entwickeln. Ältere Patienten sind stärker gefährdet als jüngere. Die Rückbildung zieht sich über Wochen und Monate hin. Manchmal bleiben die Hyperkinesen bestehen. Die Pathophysiologie ist noch nicht befriedigend aufgeklärt. Zur Behandlung kann man Biperiden (z.B. Akineton®, 3- bis 4-mal 1 Tablette) oder Neuroleptika in hohen Dosen geben. Die Prognose ist schlecht. Eine Spätwirkung der lang dauernden Neuroleptikabehandlung ist die Akathisie, die bei etwa 10% der dauerbehandelten Patienten auftritt. Sie ist gekennzeichnet durch eine quälende motorische Unruhe. Die Patienten können nicht sitzen bleiben, müssen im Raum aufund ablaufen. Wenn sie stehen, trippeln sie auf der Stelle.

30

nie der Muskulatur. Charakteristisch sind auch Tremor der Hände sowie eine Bradydiadochokinese und Feinmotorikstörung. Barbiturate, verwandte Sedativa, Hydantoine und Benzodiazepine führen bei chronischer Einnahme häufig zu einem Syndrom, das mit Blickrichtungsnystagmus beginnt und in schweren Fällen von Bewusstseinsstörung und anderen psychischen Veränderungen begleitet ist. Beides – der Nystagmus und die psychischen Veränderungen – werden auf Funktionsstörungen in der Formatio reticularis des Hirnstamms (unspezifisches Aktivierungssystem und supranukleärer Regulationsapparat der Blickmotorik) zurückgeführt, deren polysynaptische Struktur gegen Medikamenteneinwirkung besonders empfindlich ist. 30.8.2

Zerebelläre Symptome

Gang- und Standataxie, Intentionstremor, Hypermetrie und Dysdiadochokinese sind Zeichen einer schweren, toxischen Schädigung des Kleinhirns (z.B. durch Phenytoin, Lithium). Auch lassen sich häufig Veränderungen der Stimmung beobachten mit situationsinadäquatem Affekt (Euphorie, Affektverflachung, Reizbarkeit). Manchmal kommen Myoklonien vor. In den meisten Fällen sind diese Störungen reversibel. Allerdings sind in der Literatur Fälle von irreversibler Kleinhirnschädigung/- atrophie durch langjährige Phenytoin-Einnahme beschrieben. > Ungeklärte zerebelläre Ataxie: Verdacht auf chroni-

schen Medikamenten- oder Alkoholabusus

30.7.4

Tremor

Essentieller Tremor und physiologischer Tremor (7 Kap. 23.6.) können unter Kortisonbehandlung verstärkt bzw. klinisch auffällig werden. Tremor kommt weiterhin vor bei Sulfonamidbehandlung, unter Steroiden, bei hochdosierter Gabe von Schilddrüsenhormonen und bei Lithiumtherapie. Kalziumantagonisten können Tremor auslösen. Tremor kommt auch bei antriebssteigernden Antidepressiva vor. 30.8

Hirnstamm- und zerebelläre Symptome

30.8.1

Hirnstammsymptome

Trizyklische Psychopharmaka können bei vorbestehenden Hirnstammfunktionsstörungen diese erheblich verstärken und zu einer krisenhaften Exazerbation führen. Hohe Dosierungen von Neuroleptika, Barbituraten, auch von Muskelrelaxanzien (Baclofen, Dantamacrin), aber v.a. von Tranquilizern, können zu Dysarthrie und Dysphagie führen. Diese Symptome haben mehrere Ursachen: Sie entstehen zentral, meist im Hirnstamm, werden aber auch unterstützt durch eine Hypoto-

30.9

Hirnnervensymptome

30.9.1

Anosmie

Funktionsstörungen des N. olfactorius werden am häufigsten durch Medikamente verursacht. Die nachstehende Aufzählung ist sicher unvollständig: Clofibrat, Ampicillin, Ethambutol, Streptomycin, Tetrazykline, Methotrexat, Azathioprin, Vincristin, Allopurinol, Levamisol, Thiourazil, Etacrynsäure, Baclofen, Levodopa, Carbamazepin, Phenytoin, Lithium. Differentialdiagnostisch kommt die sog. Grippeanosmie in Frage. Bei vorhergegangener Antibiotikagabe ist es oft unmöglich, zu entscheiden, wodurch die Anosmie entstanden ist. Nicht selten bleibt die Anosmie bestehen. 30.9.2

Sehstörungen

Eine Rot-Grün-Farbstörung, Papillenödem und selten auch eine schmerzhafte Optikusneuritis mit Sehstörung und Zentralskotom wird bei Chloramphenicol beschrieben. Ähnliche Veränderungen (Optikusschaden, Störung des Rot-Grün-Sehens) können unter einer Behandlung mit Ethambutol auftreten. Unter

616

Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

Exkurs Vestibularisschädigung Die Vestibularisschädigung tritt bei nahezu 75% der Patienten auf, die Streptomycin-Gesamtdosen zwischen 120 g und 240 g erhalten haben. Sie ist aber auch schon nach 25 g Streptomycin beobachtet worden. Das Syndrom beginnt mit Kopfschmerzen, die 1–2 Tage andauern. Dann setzen akut Übelkeit und Dreh-, Schwank- oder Fallschwindel und zerebelläre Ataxien ein. Das Labyrinth ist dabei unerregbar oder untererregbar. Nach

Langzeit-Kortisonbehandlung kann ein Papillenödem entstehen. Auch die steroidbedingte Kataraktentwicklung kann den Visus beeinträchtigen. Tetrazykline führen zu Sehstörungen und Papillenödem. Farbsinnstörungen und Sehstörungen sind unter Behandlung mit Herzglykosiden (Digoxin und Digitoxin) nicht selten. 30.9.3

30

Pupillenstörungen

Miosis Starke Verengung der Pupillen, die auch im Dunkeln bestehen bleibt, wurde bereits bei der Besprechung der Komata als ein typisches Symptom für den Missbrauch von Opiaten erwähnt. Die Opiatmiosis wird durch den Morphinantagonisten Naloxon aufgehoben. Miosis ist ferner eine regelmäßige Folge der Einnahme von Cholinesterasehemmern, z.B. bei der Behandlung des Glaukoms mit Eserin (Pilocarpintropfen). Bei Cholinesterasehemmerintoxikation in suizidaler Absicht ist die Miosis nur eins von vielen acetylcholinergen Symptomen (7 Kap. 34.7). Mydriasis Mydriasis kann zwei Ursachen haben: Parasympathikuslähmung und Sympathikusreizung. Das Leitsymptom der toxischen Parasympathikuslähmung ist die doppelseitige Mydriasis. Bei toxischer Mydriasis ist auch immer eine Akkommodationsparese nachzuweisen. Die Augensymptome sind in aller Regel von weiteren Symptomen der Parasympathikuslähmung begleitet: trockener und brennender Mund, Schwierigkeiten beim Schlucken und Sprechen, starker Durst, heiße, trockene und gerötete Haut. Der Puls ist schwach und sehr schnell, es besteht eine Tachykardie mit Werten bis zu 120 und 150 Schlägen pro Minute. Der Blutdruck steigt an. Die Patienten haben Harndrang, gleichzeitig aber Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Eine Ursache hierfür kann die Intoxikation mit Belladonnaalkaloiden sein, die durch alkaloidhaltige Medikamente oder bei Kindern durch Verzehr von Tollkirschen entsteht. In leichten Fällen bleiben die Folgen der Vergiftung auf die eben besprochenen neurologischen Symptome beschränkt. In schweren Fällen entwi-

1–2 Wochen endet dieses akute Stadium so plötzlich wie es eingesetzt hatte. Für die folgenden 1–2 Monate wird das klinische Bild durch Ataxie bei Lagewechsel beherrscht. In einem anschließenden Erholungsstadium gelingt langsam, über die Dauer von Monaten, die Kompensation des Labyrinthausfalls durch optische Kontrolle und propriozeptive Sensibilität, wie dies auch beim Labyrinthausfall aus anderer Ursache der Fall ist.

ckelt sich eine toxische Psychose mit gestörter Orientierung, getrübtem Bewusstsein, Erregungszuständen und deliranter Unruhe. Auch optische Halluzinationen sind nicht selten. Dieses delirante Syndrom kann in einen Erschöpfungszustand übergehen, der in ein Koma mündet. Im Zweifelsfalle injiziert man das Parasympathomimetikum Carbachol 0,5% s.c. Normalerweise ist diese Injektion von einem typischen Flush gefolgt, d.h. einer aufsteigenden Rötung der oberen Körperpartien mit Hitzegefühl. Dabei kommt es auch zu muskarinartigen Wirkungen: Speichelfluss, Schwitzen, Tränenfluss und Bauchkrämpfen. Bleiben diese Symptome aus, ist die Belladonnaintoxikation sicher, weil die Alkaloide die muskarinartigen Wirkungen von Carbachol blockieren. Die Kombination von Akkommodationslähmung mit Schwierigkeiten beim Lesen und Mydriasis ist charakteristisch für die Nebenwirkung einiger weiterer Pharmaka: PhenothiazinDerivate, Antidepressiva wie Imipramin (z.B. Tofranil®) und Amitriptylin (z.B. Saroten®) und bei der akuten Vergiftung mit Pethidinpräparaten (z.B. Dolantin®). Akkommodationslähmung und Mydriasis, die allerdings nicht obligat ist, sind allerdings auch Frühsymptome des Botulismus (7 Kap. 32.6.3). Das Bild des maximalen Sympathikotonus kennzeichnet die akute Kokainvergiftung. Die Patienten haben außer der Pupillenerweiterung einen Exophthalmus mit Glanzauge, Rötung des Gesichtes und Tachykardie. Sie schwitzen, haben einen feinschlägigen Tremor der Hände und eine Erhöhung des Blutdrucks. Psychisch sind sie unruhig, ängstlich, erregt. Eine ähnliche Symptomkombination wird auch nach Einnahme von Amphetaminen beobachtet. Von der Atropinvergiftung lässt sich das Krankheitsbild leicht abgrenzen: Unter den Augensymptomen fehlt die Akkommodationslähmung, unter den Allgemeinsymptomen die Trockenheit der Schleimhäute. 30.9.4

Schädigung des N. stato-acusticus

Es ist allgemein bekannt, dass Streptomycin den VIII. Hirnnerven bzw. seine Sinneszellen schädigen kann. In erster Linie wird das Gleichgewichtsorgan, seltener die Schnecke betroffen. Streptomycin wirkt mehr auf das Vestibulum, Dihydrostreptomycin mehr auf die Cochlea. Die Funktionsstörungen des N. statoacusticus sind in leichteren Fällen rückbildungsfähig, in schweren

617 30.10 · Neuromuskuläre Störungen

bleiben sie für die Dauer bestehen. Ähnliche, akute Vestibularissymptome werden auch nach Gentamycinbehandlung beobachtet, besonders im höheren Lebensalter und bei gleichzeitiger Niereninsuffizienz. Hörstörungen werden nach Streptomycinbehandlung bei 4– 15% der Patienten beobachtet. Nach Medikamenteneinnahme von etwa 1 Woche setzt plötzlich ein Ohrensausen von hoher Frequenz ein, das auch nach Absetzen der Therapie noch bis zu 2 Wochen anhalten kann. Gibt man das Medikament aber weiter, entwickelt sich subakut ein Hörverlust. Zunächst betrifft er nur Frequenzen oberhalb des Spektrums der menschlichen Sprache, er ist also anfangs nur audiometrisch festzustellen. Erst später werden auch tiefere Frequenzen betroffen, und das Sprachgehör ist erschwert. Die Schädigung betrifft die Sinneszellen und nicht die Nervenfasern. Hörstörungen können auch nach zu rascher intravenöser Furosemidgabe durch eine Änderung der Elektrolytzusammensetzung der kaliumreichen Endolymphe entstehen. Die Hörstörung ist im Allgemeinen reversibel. Auch bei einer Intoxikaton mit Salicylaten treten Symptome wie Tinnitus, Hörminderung und Schwindel auf. 30.9.5

Ageusie (Geschmacksverlust)

30

Chronische Intoxikation beim Schnüffeln von Lösungsmitteln führt ebenfalls zur Polyneuropathie. Alle Formen von toxischer Polyneuropathie haben als pathologisch-anatomische Grundlage eine distal beginnende axonale Degeneration im peripheren Nervensystem, während die Markscheiden längere Zeit erhalten bleiben. 30.10.2

Läsionen einzelner peripherer Nerven

Blutungen in den Retroperitoneonalraum oder in den M. iliopsoas unter Antikoagulanzien haben Femoralislähmungen oder Plexus-lumbalis-Lähmungen zur Folge. Da die Prognose der Nervenkompression wesentlich von einer raschen operativen Entlastung abhängt, muss die Diagnosesicherung durch bildgebende Verfahren sowie eine Normalisierung der Gerinnungsparameter (durch Gabe von Prothrombinkomplex, Vitamin K) notfallmäßig erfolgen. 30.10.3

Störung der neuromuskulären Überleitung

30.10

Neuromuskuläre Störungen

Verschiedene Antibiotika können die neuromuskuläre Überleitung beeinträchtigen, so dass klinisch ein Krankheitsbild entsteht, das einer akuten Myasthenie ähnlich ist. Das erste und besonders charakteristische Symptom ist eine Atemlähmung. Damit ist ein wichtiges Differentialdiagnostikum gegen die Myasthenia gravis gegeben, die in aller Regel nicht an den Atemmuskeln, sondern an den kranialen Muskeln beginnt, die sehr kleine motorische Einheiten aufweisen, z.B. an den Augenmuskeln oder Sprechmuskeln. Derartige Lähmungen sind nach Antibiotika (Colistin, Neomycin, Streptomycin, Tetracyclin, Sulfonamide), nach Benzothiadiazinen, D-Penicillamin, Hydantoinen und Mg2+-haltigen Abführmitteln, Chlorpromazin und Benzodiazepinen beschrieben worden. Der pathophysiologische Mechanismus ist noch nicht genau bekannt. Neostigmin (z.B. Prostigmin) soll nicht in allen Fällen wirksam sein. Myasthenie auslösende oder verstärkende Medikamente sind in . Tabelle 34.4 zusammengefasst.

30.10.1

Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie

30.10.4

Durch verschiedene Medikamente kann eine, meist reversible, Ageusie eintreten. Am bekanntesten ist sie bei längerer Einnahme von Penicillamin (z.B. Metalcaptase®, Trolovol®). Geschmacksstörungen sind auch nach dem Thyreostatikum Thiamazol (z.B. Favistan®) bekannt. 30.9.6

Andere Hirnnerven

Vincristin kann neben dosisabhängiger Polyneuropathie auch zu isolierten Hirnnervenausfällen (N. facialis, okulomotorische Hirnnerven) führen.

Eine Schädigung des peripheren Nervensystems als Organ gehört zu den am besten bekannten, toxisch bedingten Krankheitszuständen in der Neurologie. Größere Zusammenstellungen zeigen, dass rund 30% aller Fälle von Polyneuropathie toxisch entstanden sind. Man muss also in jedem Falle, selbst wenn ein internistischer Krankheitszustand vorliegt, die Möglichkeit einer toxischen Genese differentialdiagnostisch abklären. Diese sind im Polyneuropathie-Kapitel (7 Kap. 32) besprochen. Häufig zu Polyneuropathien führende Medikamente sind in . Tabelle 32.4 angegeben.

Muskuläre Störungen

Bei hohen Dosen von Baclofen kann eine Muskelhypotonie mit Verstärkung einer vorbestehenden Muskelschwäche entstehen. Überdosierung mit Diuretika, die zu Elektrolytstörungen führen, kann reversible Muskelfunktionsstörungen zur Folge haben. Hypokaliämie kann eine proximale, progrediente Muskelschwäche bewirken. Lang dauernde Behandlung mit fluorierten Steroiden, aber auch mit anderen Steroiden kann Ursache einer Steroidmyopathie sein, die typischerweise Lähmungen und Atrophien der Ober-

618

Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

schenkel und Schultermuskulatur hervorruft. Leider ist diese Myopathie nur dann voll reversibel, wenn sie schnell erkannt wird. Rhabdomyolyse kommt v.a. bei Lipidsenkern (Clofibrat, Levostatin, Gemfibrozil), schweren Hypokaliämien (Laxanzienund Diuretikaabusus) und Alkoholintoxikationen vor. Andere Medikamente verursachen Myopathien (Statine), z.T. mit morphologischen Besonderheiten, wie z.B. Typ-2-Faseratrophie (Kortikosteroide), Mitochondrienschädigung (Zidovudin) und vakuoläre Myopathie (Chloroquin, Vincristin, Colchizin). Eine

Myositis ist nach Gabe von Penicillamin, L-Tryptophan, Cimetidin und wiederum Zidovudin bekannt. Nichtentzündliche Myalgien und Krampi können unter anderem nach Alkoholgenuss, Lipidsenkern, Chinidin, verschiedenen Betablockern und Cyclosporin auftreten. Bei Patienten mit entsprechender Veranlagung löst die Verabreichung von Inhalationsnarkotika und nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien eine maligne Hyperthermie aus. Das maligne Neuroleptikasyndrom ist in 7 Kap. 34.6.2 besprochen.

In Kürze Kopfschmerzen

Entzugssymptome

Medikamenteninduzierter Kopfschmerz durch Analgetika, Kalziumantagonisten, nichtsteroidale Antirheumatika, Dipyramidolgabe und als langfristige Komplikation bei Migräne oder chronischem Spannungskopfschmerz.

Entzug von Substanzen, die auf polar organisierte Systeme im Zentralnervensystem wirken (z.B. Wachen und Schlafen), ruft Gegenteil ihrer pharmakologischen Wirkung hervor als phasische (Krämpfe, narkoleptische Anfälle) oder tonische Funktionsstörung (Delir, Somnolenz).

Zerebrale Allgemeinsymptome Psychotische Episoden und Halluzinationen

30

Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung. Müdigkeit: Antidepressiva, Hypnotika; Gedächtnis- und Konzentrationsstörung: Kortison, Anticholinergika, Hypnotika, Antidepressiva; Antriebslosigkeit, Verlangsamung: Antihypertensiva, Hypnotika, Diuretika, Kortison, Betablocker; Verwirrtheit: Diuretika; Depressionen: Betablocker, antispastische Medikamente, Kalziumantagonisten; Schwindel: Kalziumantagonisten. Chronischer Medikamentenabusus. Chronische Intoxikation bewirkt psychopathologische und neurologische Symptome, die diffusen oder multilokulären, hirnorganischen Krankheitsprozess imitieren. Symptome: Kopfschmerzen, Schwindel, Tremor der Hände, ungerichteter Nystagmus, Beeinträchtigung des Denkvermögens und Antriebs.

Bewusstseinsstörungen Begleitsymptome als Indikator für verursachende Substanzgruppe: Maximale Miosis mit Pupillendurchmesser ca. 1 mm bei Opiat-, E605- oder Psychopharmaka-Intoxikation; Pupillenerweiterung nach Morphinantagonisten; Mydriasis mit schwacher oder fehlender Lichtreaktion nach CO-Vergiftung; Beeinträchtigung des okulozephalen Reflexes nach Vergiftung mit Barbituraten und Hypnotika; Parasympatikusreizung mit Miosis, Speichelfluss, Schweißausbruch, Diarrhö nach E605Vergiftung.

6

Verursacht durch Antiparkinson-Medikamente, trizyklische Antidepressiva, verschiedene Drogen, Kortikosteroide, Antimykotika, Antibiotika, Chinolonderivate oder Antihistaminika.

Epileptische Anfälle Provoziert durch Medikamente mit Krampfschwellen erweiternder Wirkung. Entzugskrämpfe durch plötzliches Absetzen von sedierend wirkenden Substanzen.

Extrapyramidale Syndrome Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom durch Psychopharmaka, Antivertiginosa. Nach chronischer NeuroleptikaEinnahme, nach Absetzen oder Einmalgabe eines Depotpräparats treten choreatische und dystone Hyperkinesen in Mundregion und Extremitäten als Spätdyskinesien auf. Essenzieller und physiologischer Tremor nach Behandlung mit Kortison, Sulfonamid, Steroiden, hochdosierter Gabe von Schilddrüsenhormonen, Lithium, Kalziumantagonisten, Antidepressiva.

Hirnstamm- und zerebelläre Symptome Dysarthrie und Dysphagie als Folge von trizyklischen Psychopharmaka, Neuroleptika, Barbituraten, Muskelrelaxanzien, Tranquilizern. Blickrichtungsnystagmus, Bewusstseinsstörung, psychische Veränderungen bei chronischer Einnahme von Barbituraten, verwandten Sedativa, Hydantoine, Benzodiazepine.

619 30.10 · Neuromuskuläre Störungen

Zerebelläre Symptome wie Dysdiadochokinese, Gang- und Standataxie, Intentionstremor als Zeichen einer schweren, toxischen Schädigung des Kleinhirns.

Schädigung des N. stato-acusticus. Hörstörungen nach Streptomycinbehandlung, akute Vestibularissymptome nach Gentamycinbehandlung.

Hirnnervensymptome

Ageusie. Reversibler Geschmacksverlust bei längerer Penicillamin-, Thyreostatikumeinnahme.

Anosmie. Durch Medikamente verursachte Funktionsstörungen des N. olfactorius. Sehstörungen. Rot-Grün-Farbstörung, Papillenödem nach Chloramphenicol, Ethambutol, Langzeit-Kortisonbehandlung. Farbsinn- und Sehstörung nach Herzglykosiden. Pupillenstörungen. Cholinesterasehemmer, Missbrauch von Opiaten führt zu Miosis. Doppelseitige Mydriasis durch Intoxikation mit Belladonnaalkaloiden.

Neuromuskuläre Störungen Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie durch chronische Intoxikation u.a. beim Schnüffeln von Lösungsmitteln. Läsionen einzelner peripherer Nerven unter Antikoagulanzien bedingen Femoralis- oder Plexus-lumbalis-Lähmungen. Störung der neuromuskulären Überleitung wie Atemlähmung durch Antibiotika. Muskuläre Störungen wie Muskelhypotonie nach Baclofen-, Rhabdomyolyse nach Lipidsenkern-, Steroidmyopathie nach Steroiden-, Myositis nach Penicillamin-Behandlung.

30

IX Krankheiten des peripheren Nervensystems und der Muskulatur 31

Schädigungen der peripheren Nerven

32

Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien – 659

33

Motoneuronale Krankheiten

34

Muskelkrankheiten

– 695

– 683

– 622

31 Schädigungen der peripheren Nerven 31.1 Hirnnervenläsionen – 625 31.1.1 31.1.2 31.1.3 31.1.4 31.1.5 31.1.6 31.1.7 31.1.8 31.1.9

N. oculomotorius – 625 N. trochlearis – 626 N. abducens – 626 N. trigeminus – 626 N. facialis (Hirnnerv VII): Periphere Fazialislähmung – 627 N. statoacusticus (Hirnnerv VIII) – 631 N. glossopharyngeus und N. vagus – 631 N. accessorius (Hirnnerv XI): Akzessoriuslähmung – 631 N. hypoglossus – 631

31.2 Läsionen des Plexus cervicobrachialis – 632 31.2.1 Traumatische Plexusläsionen – 633 31.2.2 Neuralgische Schulteramyotrophie – 633 31.2.3 Skalenussyndrom – 634

31.3 Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis – 634 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7 31.3.8 31.3.9

N. suprascapularis (C4–C6) – 634 N. thoracicus longus (C5–C7) – 636 N. thoracodorsalis (C6–C8) – 636 Nn. thoracici anteriores (C5–Th1) – 636 N. axillaris (C5–C7) – 637 N. musculocutaneus (C6–C7) – 638 N. radialis (C5–Th1) – 638 N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) N. ulnaris (C8–Th1) – 641

– 639

31.4 Läsionen des Plexus lumbosacralis – 642 31.5 Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis – 644 31.5.1 31.5.2 31.5.3 31.5.4 31.5.5 31.5.6 31.5.7 31.5.8

N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3) N. femoralis (L2–L4) – 644 N. glutaeus superior (L4–S1) – 644 N. glutaeus inferior (L5–S2) – 645 N. obturatorius (L2–L4) – 645 N. ischiadicus (L4–S3) – 645 N. peronaeus (L4–S2) – 645 N. tibialis (L4–S3) – 646

– 644

31.6 Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen – 647 31.6.1 Konservative Therapie – 647 31.6.2 Operative Behandlung – 647

31 31.7 Erkrankungen der Bandscheiben – 647 31.7.1 31.7.2 31.7.3 31.7.4 31.7.5 31.7.6 31.7.7 31.7.8 31.7.9

Zervikaler oder thorakaler, medialer Bandscheibenvorfall Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall – 648 Zervikale Myelopathie – 650 Lumbosakraler, medialer Bandscheibenvorfall – 650 Lumbale, laterale Diskushernie – 652 Arachnopathie – 654 Claudicatio des thorakalen Rückenmarks – 655 Claudicatio der Cauda equina – 655 Differentialdiagnose – 655

– 648

624

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

> > Einleitung

31

Läsionen einzelner peripherer Nerven haben meist eine mechanische Ursache, vor allem Druck, Quetschung oder Zerrung des Nerven, die akut und einmalig oder chronisch bzw. wiederholt einwirkt. Seltener sind Stich- oder Schnittverletzungen und Zerreißungen von Nerven oder Wurzeln. Bei Luxationen und Frakturen sind die peripheren Nerven in doppelter Hinsicht gefährdet: Sie können bei dem Trauma primär lädiert werden oder aber es entwickelt sich im Abstand von Wochen, Monaten und selbst Jahren eine Spätlähmung, wenn der Nerv durch Kallusbildung, Narbenzug oder Beanspruchung in abnormer Lage sekundär geschädigt wird. Die wichtigsten Gelegenheiten sind Unfälle und chronische Zerrung oder Druckeinwirkung bei bestimmten Tätigkeiten (sog. Berufs- oder Beschäftigungslähmungen). Die mechanische Schädigung wird nicht selten durch einen allgemeinen Faktor begünstigt, so z.B. eine Drucklähmung im tiefen Koma, während einer Narkose, oder eine Beschäftigungslähmung durch Diabetes oder chronischen Alkoholabusus. Eine Sondergruppe sind iatrogene Läsionen durch unsachgemäße Injektionen, bei Operationen (z.B. Osteosynthese), unachtsame Lagerung des Patienten und durch falsch angelegte Verbände, Gipsverbände und Schienen. Die Prognose der iatrogenen Monoparesen durch unsachgemäße Lagerung ist gut, weniger gut ist sie bei Injektion, Schienung oder schlecht sitzenden Gipsverbänden, zumal diese Lähmungen oft zu spät erkannt werden. Zu den schwierigeren Aufgaben des Neurologen als Konsiliarius gehört es, bei bereits chirurgisch versorgten Traumapatienten zu überprüfen, ob periphere Nervenläsionen vorliegen. Oft sind die betreffenden Extremitäten eingegipst, in Extensionsverbänden gelagert oder durch externe Osteosynthese fixiert. Bei solchen Patienten kann es unmöglich sein, die Funktion bestimmter Nerven zu überprüfen. Die Kenntnis der Anatomie und Physiologie erlaubt es oft dennoch, anhand weniger noch untersuchbarer Funktionen eine Aussage über Schädigung oder Intaktheit einzelner Nerven zu machen. Besondere Hochachtung erwirbt sich der Neurologe beim Unfallchirurgen, wenn er beim bis auf den Daumen komplett eingegipsten Arm eine verlässliche Aussage über die Funktion der drei Handnerven Medianus, Ulnaris und Radialis machen kann. Er lässt den Patienten den gestreckten Daumen einmal rotieren. Gelingt dies, sind die drei Nerven intakt.

Vorbemerkungen Schädigungsmechanismen peripherer Nerven 4 Kompressions- und Engpasssyndrome: Prototypen der me-

chanisch verursachten Läsion einzelner peripherer Nerven sind die Engpasssyndrome. Die häufigsten Kompressionssyndrome sind: Das Karpaltunnelsyndrom (N. medianus), das Sulcus-ulnaris-Syndrom, das Supinatorlogensyndrom (N. radialis), das Syndrom der Loge von Guyon (N. ulnaris), die Meralgia paraesthetica (N. cut. femoris lat.) und das Tarsaltunnelsyndrom (N. tibialis). Sie werden bei den einzelnen Nerven besprochen.

4 Traumatische Schäden: Sportverletzungen mit Knochenbrüchen und Verkehrsunfälle mit Polytraumen haben häufig auch periphere Nervenläsionen zur Folge. In Kriegszeiten spielen Schuss- und Splitterverletzungen eine große Rolle. 4 Kombination von metabolischer und Druckschädigung: Ein Kompressionssyndrom kann zusätzliche Schädigungsursachen haben, dann liegt eine kombinierte toxische und Druckschädigung vor. Ein scheinbar eindeutiges Karpaltunnelsyndrom kann bei diabetischer Stoffwechsellage auftreten, und elektroneurographisch findet man dann eine Verzögerung der NLG in den großen Nerven aller Extremitäten. Diese Befunde können vorliegen, bevor der Diabetes bekannt ist. Eine Peronaeusdruckschädigung kann Vorbote einer alkoholischen Polyneuropathie sein. 4 Iatrogene Nervenläsionen: Hierzu zählen Spritzenläsionen, Nervenläsionen nach operativen Eingriffen (u.a. Ischiadikusparese nach Hüftendoprothese, Interkostalnervenläsion nach Nephrektomie. Trapeziuslähmung nach Lymphknotenbiopsie am Hals, Recurrensparese nach Schildrüsenoperation, Hypoglossusoder Recurrenslähmung nach Karotisdesobliteration) und intraoperative Lagerungs-(Druck-)Schäden wie Radialis-, Peroneusoder Cutaneus-femoris-lateralis-Läsion. 4 Entzündlich-immunologische Nervenschädigung: Befall peripherer Nerven bei bakterieller Entzündung (Lepra) oder bei autoimmunologischen Prozessen wie Vaskulitis oder Polyneuritis. Diese werden wie die Polyneuropathien toxischer oder metabolischer Ursache im Kapitel Polyneuropathien besprochen (7 Kap. 32). 4 Genetisch bedingte Funktionsstörungen peripherer Nerven: Hierzu zählen hereditäre Nervenläsionen wie die hereditär sensomotorische Neuropathie, die Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen (s.o.) oder hereditäre Pandysautonomie bzw. kongenitale Schmerzunempfindlichkeit.

3Diagnostik der peripheren Nervenläsionen Neurologische Funktionsprüfung: In diesem Kapitel wird der Schwerpunkt auf die neurologische Funktionsprüfung der einzelnen Nerven gelegt. Mit gewissen anatomischen Grundkenntnissen kann man durch einige Übung bald die Fertigkeit erlangen, periphere Nervenläsionen präzise zu diagnostizieren. Die detaillierte Prüfung der Muskelkraft gibt dabei erfahrungsgemäß den größten Aufschluss. Zweckmäßigerweise geht man in drei Schritten vor. Zunächst verschafft man sich einen orientierenden Überblick, welcher Nerv bzw. welche Nervenwurzel überhaupt in Frage kommt. Dann wendet man sich dem »Hauptverdächtigen« zu und prüft von distal nach proximal vorgehend seine einzelnen Muskelfunktionen. Schließlich untersucht man in analoger Weise die Muskeln topographisch benachbarter Nerven bzw. Nervenwurzeln. Der am weitesten proximal gelegene Muskel mit Schädigungszeichen signalisiert den Schädigungsort: Im Abgangsbereich seines Muskelastes aus dem Nervenstamm oder proximal davon ist die Läsion zu vermuten. Das Syndrom der peripheren Nerven- oder Nervenwurzelläsion umfasst darüber

625 31.1 · Hirnnervenläsionen

31

Exkurs Läsionsarten Elektrophysiologisch unterscheiden wir folgende Läsionsarten: 4 Primäre Markscheidenläsion (partiell oder komplett): keine Kontinuitätsunterbrechung der Axone. Ursachen sind z.B. Prellung, Druck, Ödem, Hämatom, Immunentzündung. Charakteristikum ist die umschriebene Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit bis zum Leitungsblock (Neurapraxie). Die periphere Erregbarkeit ist erhalten. Es finden sich keine Denervierungszeichen und keine neurogen umgebauten Potentiale motorischer Einheiten, aber eine deutliche neurogene Lichtung des Interferenzmusters. 4 Axonale Läsion: Ursache ist vor allem eine akute Quetschung des Nerven. Dabei erfolgt keine Kontinuitätsunterbrechung der Nervenhüllen, was die Regeneration begünstigt. Bei axonaler Läsion kommt es zur Waller-Degeneration mit allmählicher Abnahme der Erregbarkeit und NLG-Verlangsamung peripher von der Läsion bis hin zur Unerregbarkeit. Denervierungszeichen nach 1–3 Wochen. Mögliche Regeneration mit neurogen umgebauten, verlängerten, polyphasischen PmE. 4 Kontinuitätsunterbrechung von Axonen und Markscheiden (Beispiel: Schnittverletzungen). Bei kompletter Kontinuitätsunterbrechung gleicht der Ablauf initial dem der axonalen Läsion. Die Kontinuitätsunterbrechung der Nervenhüllen erschwert die Regeneration. Deshalb frühzeitige chirurgische Adaptation der Nervenenden.

hinaus Störungen der somatischen Sensibilität und der vegetativen Innervation in charakteristischer nervaler oder radikulärer Anordnung (. Abb.1.6.1) und eine Abschwächung der zugehörigen Reflexe (. Tabelle 1.8). Elektrophysiologische Methoden: Die sichere Beurteilung der Schwere einer peripheren Nervenschädigung ist jedoch nur mit Hilfe feinerer, elektrophysiologischer Methoden (EMG, Neurographie) möglich. Ihre Anwendung gehört in die Hand des Neurologen, ihr Prinzip sollte aber auch dem praktizierenden Arzt bekannt sein. Die elektrophysiologische Diagnostik erlaubt auch eine Aussage über den Ort der Läsion. Die Kompressionssyndrome sind durch eine umschriebene Verlangsamung der motorischen und/oder sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit am Ort der Schädigung verlässlich zu diagnostizieren. Die Elektrodiagnostik erlaubt darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Markscheiden- und axonaler Läsion. Reinnervationsvorgänge werden im EMG wesentlich früher als durch die klinische Beobachtung erfasst. 31.1

Hirnnervenläsionen

Wir behandeln zunächst einige wichtige Hirnnervenlähmungen, die an anderer Stelle noch nicht besprochen worden sind. Läsionen des N. olfactorius sind bei den traumatischen Läsionen be-

4 Mischtypen: Neben diesen reinen Formen finden sich eine Reihe von Mischtypen, bei denen es neben einer ausgeprägten Markscheidenläsion auch zur partiellen, axonalen Läsion kommt oder bei denen innerhalb eines Nervenbündels in einigen Anteilen mehr axonale, in anderen Anteilen mehr Markscheidenläsionen gefunden werden. Ein Beispiel dafür sind die Spritzenlähmungen. Wichtig ist, dass bei einer axonalen Schädigung die periphere Erregbarkeit immer verändert ist. Die Nerven- und Muskelantwortpotentiale nehmen in ihrer Amplitude ab. Als Extrem ist keine periphere Erregbarkeit mehr nachweisbar. Dies spielt eine wesentliche Rolle bei der Differenzierung der Plexusläsionen von Wurzelausrissen: Bei den Letzteren kann die Läsion proximal des Spinalganglions liegen. Die sensiblen, peripheren Fasern bleiben dann erregbar, und sensible NAPs sind nachweisbar, während die Sensibilität ausgefallen ist und die SEPs nicht nachweisbar sind. 4 Prognostische Bedeutung: Frühes Auftreten und rasche Zunahme von Denervierungspotentialen sowie Zeichen der kompletten Kontinuitätsunterbrechung, namentlich bei Plexusläsion, aber auch bei Nervenschädigungen nach Frakturen oder nach Injektionen, indizieren eine operative Revision. Bleiben die elektrischen Veränderungen auf die Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit beschränkt, ist die Prognose gut.

handelt, die Optikusläsionen an vielen Stellen des Buches abgehandelt, die Trigeminusläsionen bei den Neuralgien, die Läsionen des VIII. Hirnnerven bei Schwindelkrankheiten und dem Akustikusneurinom. 31.1.1 N. oculomotorius Der N. oculomotorius (III) versorgt mit somatischen Fasern die Mm. levator palpebrae superiores, rectus superior, rectus inferior, rectus medialis und obliquus inferior. Mit parasympathischen Fasern innerviert er den M. ciliaris, dessen Kontraktion bei Akkommodation die Linse erschlaffen lässt, und den M. sphincter pupillae. Wir unterscheiden die: 4 Komplette (äußere und innere) Okulomotoriuslähmung: Es besteht eine Ptose, der Bulbus ist nach außen und etwas nach unten abgewichen, da nur noch die Funktionen des N. abducens (Abduktion) und des N. trochlearis (Senkung und Abduktion) erhalten sind. Die Pupille ist mydriatisch und lichtstarr, die Akkommodation der Linse ist aufgehoben. Bei kompletter Okulomotoriuslähmung sieht der Patient wegen der Ptose keine Doppelbilder, denn das Auge ist geschlossen. Öffnet man das Auge, dann sieht der Patient schräg stehende Doppelbilder, deren Abstand sich beim Versuch, nach oben und innen zu blicken, ver-

626

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

stärkt. Für die komplette Okulomotoriuslähmung findet man oft eine periphere Ursache, wie z.B. ein basales Aneurysma (7 Kap. 8.3.1), ein Trauma (7 Kap. 26), eine basale Meningitis (7 Kap. 18) oder ein Neoplasma der Schädelbasis. Kommt die Lähmung durch Läsion im Kerngebiet zustande, sind immer auch andere Mittelhirnsymptome vorhanden. 4 Äußere Okulomotoriuslähmung (Ophthalmoplegia externa): Dabei ist die autonome Innervation der Pupille und des Ziliarmuskels erhalten. Diese Lähmung ist selten. Sie beruht meist auf einer Läsion im Kerngebiet des Nerven, da bei peripherer Schädigung die empfindlicheren autonomen Fasern fast immer früher als die somatischen ausfallen. Häufig sind nur einzelne äußere Augenmuskeln betroffen, z.B. der M. rectus superior. 4 Ophthalmoplegia interna: Nur die autonomen Fasern sind gelähmt, die Beweglichkeit des Bulbus ist erhalten. Die Pupille ist weit und lichtstarr, reagiert aber prompt auf Miotika. Da meist auch die Akkommodation gelähmt ist, kann der Patient in der Nähe nicht scharf sehen. Die Ophthalmoplegia interna kommt fast immer durch Schädigung im peripheren Verlauf des Nerven zustande.

31

3Ursachen. Eine häufige Ursache ist die Druckschädigung des Nerven durch den Gyrus hippocampi, wie sie bei Hirndruck mit Einklemmung des Temporallappens im Tentoriumschlitz vorkommt. Einseitige Pupillenerweiterung ist ein wichtiges Symptom eines raumfordernden epiduralen oder subduralen Hämatoms (7 Kap. 26), einer Hirnblutung (7 Kap. 6), eines großen, einklemmenden Hirntumors (7 Kap. 11) und des raumfordernden Mediainfarkts (7 Kap. 5). Andere Ursachen sind basale Aneurysmen der A. communicans posterior, basale Meningitis, Schädelbasisfraktur und die Ganglionitis ciliaris acuta. Weitere wichtige Ursachen sind das sackförmige, »ophthalmoplegische« Aneurysma (7 Kap. 8), das seltene Tolosa-Hunt-Syndrom (7 Kap. 8.3.1). Die Unfähigkeit, beide Augen zu öffnen, ist entweder psychogen, durch Blepharospasmus (7 Kap. 23.4.1) bedingt oder beruht auf einer Läsion im Mittelhirn, z.B. nach Basilarisspitzenembolie. 31.1.2 N. trochlearis Der Kern des N. trochlearis (IV) liegt in der Mittelhirnhaube. Er verlässt den Hirnstamm dorsal und kreuzt als einziger Hirnnerv auf die Gegenseite. Er verläuft wie die Nn. oculomotorius und abducens in der Wand des Sinus cavernosus zur Fissura orbitalis superior. Er versorgt den M. obliquus superior. 3Symptome. Bei Lähmung des N. trochlearis kommt es nur zu einer geringen Fehlstellung des Auges: Durch Fortfall der Senkerfunktion des Muskels steht der betroffene Bulbus in Primärposition eine Spur höher als der gesunde. Der Patient neigt den Kopf zur gesunden Seite, um die ausgefallene Funktion des

Muskels auszugleichen. Es bestehen schräg stehende Doppelbilder, die beim Blick nach unten zunehmen (z.B. beim Hinabgehen einer Treppe). Beim Adduzieren des Auges nimmt der vertikale Abstand der Doppelbilder zu, weil der Muskel in dieser Position ein vorwiegender Bulbussenker ist. Beim Abduzieren nimmt die Schrägstellung zu, weil der Muskel jetzt ein vorwiegender Einwärtsroller ist, während der Vertikalabstand abnimmt. Charakteristisch ist auch das Zeichen von Bielschowski: wenn der Patient den Kopf zur Seite des gelähmten Muskels neigt und mit dem gesunden Auge fixiert, weicht das kranke Auge nach oben innen ab, weil der paretische M. obliquus superior ein Senker und Auswärtswender ist. 3Ursachen. Die isolierte Trochlearislähmung ist selten. Trauma, besonders des Orbitadaches, ist die häufigste Ursache. Daneben kommen Diabetes und basale Tumoren in Frage. 31.1.3 N. abducens Der Kern des N. abducens (VI) liegt in der Brücke, in der Nähe des inneren Fazialisknies. Der N. abducens innerviert den M. rectus lateralis. 3Symptome. Das Auge kann nicht nach außen gewendet werden. Der Patient klagt über horizontal nebeneinander stehende, gerade Doppelbilder. In schweren Fällen kann der Bulbus nicht einmal zur Mittellinie geführt werden. Um diese auszuschalten, dreht er den Kopf in Richtung des gelähmten Muskels und wendet den Blick in die Gegenrichtung. Beim Versuch, zur gelähmten Seite zu blicken, bleibt der betroffene Bulbus deutlich erkennbar zurück. In schweren Fällen kann er nicht einmal zur Mittellinie geführt werden. Dabei rücken die Doppelbilder auseinander. 3Ursachen. In seinem peripheren Verlauf wird der Nerv leicht bei allgemeinem Hirndruck, bei Schädelbasisbruch und entzündlichen und neoplastischen Prozessen an der Schädelbasis geschädigt. Weitere Ursachen sind: Basilarisaneurysma, infraklinoidales Karotisaneurysma, Subarachnoidalblutung (7 Kap. 9), Multiple Sklerose (7 Kap. 22), Wernicke-Enzephalopathie (7 Kap. 29.2.2), Guillain-Barré-Syndrom (7 Kap. 32.5.1) oder Miller-Fisher-Syndrom, Neuroborreliose und Akustikusneurinom (7 Kap. 11). Eine reversible Abduzensparese kommt auch nach Lumbalpunktion vor. 31.1.4 N. trigeminus Der Trigeminus ist in Kap. 1 und in Kap. 16 (Trigeminusneuralgie) besprochen.

627 31.1 · Hirnnervenläsionen

31.1.5 N. facialis (Hirnnerv VII):

Periphere Fazialislähmung 3Symptome. Alle vom VII. Hirnnerven versorgten Muskeln, also auch die Stirnmuskeln, sind einseitig in etwa gleichem Ausmaß gelähmt, die Lähmung ist aber nicht immer komplett. Restinnervation einzelner Äste, v.a. des Stirnastes, können differentialdiagnostische Probleme in der Abgrenzung zur zentralen fazialen Parese verursachen. Das Lähmungsbild ist bereits in 7 Kap. 1.4.2 beschrieben (. Abb. 31.1). Häufig kommt es im Prodromalstadium von Fazialislähmungen zu Sensibilitätsstörungen in der Ohrmuschel, im Gehörgang oder unmittelbar hinter dem Ohr. Sie werden von manchen Autoren auf den N. intermedius, von anderen auf den Trigeminus oder den N. auricularis magnus bezogen. Prognostische Bedeutung haben sie nicht. Neben der Gesichtslähmung bestehen bei Läsion des Nerven in seinem Felsenbeinkanal fakultativ Begleitsymptome, die man zur Ortslokalisation der Schädigung benutzt. Zur Illustration wird auf die . Abbildung 31.2 verwiesen. Die zusätzlichen Symptome sind: 4 Beeinträchtigung der Tränensekretion (N. petrosus superficialis maior): Sie zeigt eine Läsion proximal vom G. geniculi an. Man prüft vergleichend auf beiden Seiten, indem man Fließpapier am Unterlid befestigt und die Befeuchtung nach 5 min und 10 min beurteilt (Schirmer-Test). Hyperakusis auf der gelähmten Seite zeigt an, dass der Nerv proximal vom Abgang des N. stapedius lädiert ist, d.h. im intrakraniellen Verlauf oder im proximalen Abschnitt des Fazialiskanals. 4 Geschmacksstörung auf den vorderen zwei Dritteln der Zunge. Sie beruht auf Mitschädigung afferenter, gustatorischer Fasern im Fazialiskanal. Diese haben auf ihrem zentripetalen Verlauf den N. lingualis (V3) verlassen, sind über die Chorda tympani an den Fazialisstamm herangetreten und begleiten ihn bis zum G. geniculi im Knie des Knochenkanals.

. Abb. 31.1a,b. Gesichtslähmung. a Periphere Fazialisparese links. Der Patient versucht gleichzeitig, die Stirn zu runzeln und den Mund breit zu ziehen. Fehlende Innervation des M. frontalis und des M. orbicularis oris links, b Zentrale faziale Parese. Die Stirn kann seitengleich gut innerviert werden, der Mund wird zur gesunden Seite herübergezogen. (Aus Mumenthaler 1986)

31

Ganglion geniculi N. petrosus superfic. maj. zum N. lacr. trig. zum Trig. zurück N. stapedius vom N. ling. trig. zum N. ling. trig. N. intermedius Pes anserinus

Foramen stylomastoideum

motorische Fasern Geschmacksfasern lakrimatorische Fasern salivatorische Fasern . Abb. 31.2. Verlauf des N. facialis

4 Die Abnahme der Speichelsekretion beruht auf einer Schä-

digung des N. intermedius zwischen seinem sensiblen G. geniculi und dem Abgang der Chorda tympani. In der peripheren Aufzweigung des Nerven und jenseits davon können auch bei peripherer Lähmung nur einzelne Äste des Nerven lädiert werden. Dies führt gelegentlich zur Verwechslung mit zentraler Fazialisläsion, die sich aber durch die Begleitsymptome und die elektroneurographischen Befunde leicht abgrenzen lässt. 3Ursachen. Die häufigste, akut innerhalb von 1–2 Tagen auftretende Form ist ätiologisch ungeklärt, wenn auch manche Pa-

628

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs Fazialisparese vs. zentrale faziale Parese Eine komplette, einseitige Fazialisparese beeinträchtigt, neben der kosmetischen Entstellung, das Sprechen und Kauen erheblich. Bei doppelseitiger Fazialisparese ist das Gesicht ausdruckslos. Herkömmlich wird von der peripheren Fazialisparese eine zentrale faziale Parese unterschieden. Die periphere Lähmung betrifft alle Fasern, wenn auch nicht immer im gleichen Maße. Bei der sog. zentralen Parese kann die Stirn immer gerunzelt werden, meist nicht so kräftig wie auf der gesunden Seite. Dies

31

tienten angeben, dass sie kurz vor Auftreten der Parese der Zugluft ausgesetzt waren. Deshalb spricht man unverbindlich von »idiopathischer« oder entzündlicher Fazialislähmung. Nicht selten wird der N. facialis bei lymphozytärer Meningitis befallen. Früher stand die abortive Polio an erster Stelle der Ursachen. Heute handelt es sich meist um andere neurotrope Viren oder um Borrelien (Antikörpernachweis oder PCR im entzündlich veränderten Liquor. Über Fazialisparese bei Zoster oticus 7 Kap. 19.3. Weitere Ursachen sind: Mastoiditis, Otitis media, besonders mit Cholesteatom, Entzündungen und Neoplasmen der Schädelbasis, besonders im Kleinhirnbrückenwinkel, Glomustumor, Hirnstammtumor und neoplastischer Meningeosis. Traumatische Fazialisparesen kommen in 20% der Längsfrakturen und 50% der Querfrakturen des Felsenbeins vor. Über doppelseitige Fazialislähmung bei Polyneuritis und Borreliose 7 Kap. 32.5 und 18.6. Im extrakraniellen Verlauf führen fast nur bösartige, selten gutartige Parotistumoren zu Fazialislähmungen. Traumatische Gesichtslähmungen kommen in 20% der Längsfrakturen und 50% der Querfrakturen des Felsenbeins vor. 3Diagnostik. Elektrophysiologie: Fazialisparesen sollten früh und wiederholt elektrophysiologisch untersucht werden. Im Zentrum der Untersuchungen stehen der Blinkreflex und die Neurographie des distalen N. facialis. Bei der Neurographie werden die Reizschwelle, bei der es zu einer ersten, motorischen Antwort im M. orbicularis oris oder M. orbicularis oculi kommt, ferner die Latenzzeit bei überschwelliger Reizung (in ms) und die maximale Potentialamplitude bestimmt. Diese Bestimmungen werden im Vergleich zur gesunden Gegenseite ausgeführt. Sie eignen sich auch zur Verlaufsuntersuchung. Die Nadelmyographie erleichtert die klinisch schwierige (aber prognostisch wichtige) Unterscheidung zwischen hochgradiger und kompletter Fazialisparese. Ist der Stapediusreflex (die reflektorische Kontraktion des M. stapedius als Antwort auf laute Töne und Geräusche, die sich über die Gehörknöchelchenkette auf das Trommelfell fortpflanzen und dort als Druckschwankung gemessen werden) nicht auslösbar, so kann man daraus den Läsionsort proximal vom Abgang des N. stapedius lokalisieren.

beruht darauf, dass die zentralen Fasern für die Innervation der Stirn nicht nur gekreuzt zum gegenseitigen, sondern auch ungekreuzt zum gleichseitigen Fazialiskern ziehen (. Abb. 31.1). Die zentrale faziale Parese tritt gewöhnlich gemeinsam mit einer zentralen Bewegungsstörung von Arm und Hand auf und kann auch von einer Abweichung der herausgestreckten Zunge zur Seite der Lähmung begleitet sein. Der Begriff »zentrale Fazialisparese« ist nicht korrekt, da es sich nicht um eine Lähmung des peripheren Nerven handelt.

Bei komplettem Funktionsausfall des N. facialis ist der Blinkreflex in allen Anteilen früh auf der betroffenen Seite erloschen. Liegt nur ein Leitungsblock vor, bleibt der periphere Nerv erregbar, während bei der Waller-Degeneration die Reizschwelle zuund die Potentialamplitude schnell abnimmt. Bei allen peripheren Fazialisparesen ist eine DünnschichtCT der Schädelbasis indiziert. Röntgenaufnahmen nach Schüller u. Stenvers werden heute nicht mehr durchgeführt. 3Therapie. Man gibt in der Frühphase Methylprednisolon 5 Tage lang 1 mg/kg KG (z.B. 80–100 mg/Tag über 10–14 Tage ausschleichend. Der Wert der Kortisonbehandlung ist trotz der guten Spontanprognose durch kontrollierte Studien belegt: Die Zahl der Defektheilungen wird dadurch auf unter 15% reduziert. Nach der Studienlage muss eine Kortikosteroidtherapie am besten an Tag 1–2, eventuell noch an Tag 3–4 oder spätestens an Tag 5 beginnen. Die Wirksamkeit einer Stoßtherapie mit 500 mg oder 1000 mg/Tag über 3–5 Tage wurde bislang nicht in Studien erprobt. Frühzeitig beginnt man mit aktiven Innervationsübungen. Elektrotherapie ist in der mimischen Muskulatur wahrscheinlich ohne therapeutische Wirkung. Einer Fazialiskontraktur versucht man durch Innervationsübungen der einzelnen mimischen Muskeln vor dem Spiegel entgegenzuwirken (»auseinanderüben«). 3Prognose. 75% der idiopathischen Lähmungen heilen unbehandelt spontan vollständig aus, in 20% tritt Defektheilung ein, etwa 5% bleiben komplett. Auch die traumatischen Fazialislähmungen haben eine gute Spontanprognose: In mehr als 75% der Fälle heilen sie spontan aus. Die Prognose lässt sich heute nach folgenden Kriterien stellen: 4 Inkomplette Lähmungen haben gute Heilungsaussichten. 4 50% der Nervenfasern reichen für eine befriedigende mimische Innervation aus. Dann ist elektrodiagnostisch die periphere Erregbarkeit erhalten. Wenn aber die übrigen 50% der WallerDegeneration unterliegen, können sich Mitbewegungen entwickeln.

629 31.1 · Hirnnervenläsionen

31

Exkurs Fazialisparese Welche Patienten müssen behandelt werden?* Wenn die weit überwiegende Zahl der Patienten mit peripherer Fazialisparese einen sehr günstigen Spontanverlauf hat, ist es weder medizinisch sinnvoll noch ökonomisch verantwortbar alle Patienten zu behandeln. Da verlässliche elektrophysiologische Befunde erst zu spät (um den 7.–10. Tag) verfügbar sind, die Therapieentscheidung aber früh fallen muss, benötigt man klinische Kriterien. Kein Zweifel besteht über die Therapienotwendigkeit bei Zoster, Borreliose und Diabetes mellitus. Aus

der dann verbleibenden Gruppe bedürfen Patienten mit mehrere Tage alter Parese mit Restbeweglichkeit wegen ihres so gut wie immer günstigen Spontanverlaufs nur eine Therapie bei weiterer Verschlechterung. Alle Patienten mit kompletter Lähmung bedürfen der Therapie. Im Zweifelsfall werde ich allerdings immer die Entscheidung für die Therapie fällen. * Nach den Empfehlungen der DGN 2005

Exkurs Operative Therapie Bei bleibender kompletter oder subtotaler Fazialislähmung wird mit wechselndem Erfolg eine Anastomose zwischen einem N. hypoglossus und dem peripheren Fazialisstumpf angelegt. Die Patienten lernen einige grobe mimische Bewegungen, was ein gutes Beispiel für die Plastizität des Nervensystems ist. Weniger aufwendig sind gesichtschirurgische Eingriffe. Fascialata-Zügel vom Os zygomaticum aus können die Muskulatur des Mittelgesichts raffen. Lähmungen des Nerven können durch Nervennaht oder Nerventransplantation chirurgisch behandelt werden. Bei

irreparabler Läsion des Nerven im Kleinhirnbrückenwinkel wird die intrakranielle Autoplastik des verletzten Fazialisnerven mit Material aus dem N. saphenus empfohlen. Nicht so verbreitet ist die »Cross-face-Plastik«. Dabei werden einige Fazialisäste der gesunden Seite mit freien Transplantaten aus dem N. suralis verbunden. Die Transplantate werden dann subkutan quer über das Gesicht geleitet und an Fazialisäste der lädierten Seite angeschlossen. Ein Fazialiskern soll dann beide Gesichtsseiten symmetrisch innervieren können.

Empfehlungen Therapie der Fazialisparese* 4 Die Therapie mit Kortikosteroiden ist als wirksam einzuschätzen, wenn sie innerhalb der ersten Woche, noch besser innerhalb der ersten 2–4 Tage nach Krankheitseintritt begonnen wird (A). 4 Eine Wirksamkeit von Virustatika wie Aciclovir ist nicht belegt. 4 Zur Prophylaxe gegen sekundäre Schäden an der Hornhaut durch Lidschlussdefizit eignen sich Frisén-Klappe/Uhrglasverband (A), bevorzugt nachts, oder Seitenschutzbrille (B), bevorzugt tagsüber, in Verbindung mit Augensalbe (A) nachts oder künstlicher Tränenflüssigkeit (A) tagsüber.

4 Die Gabe von Kortikosteroiden kann trotz einer nichtpositiven Aussage in einer neueren Cochrane-Analyse als wirksam angesehen werden (A). 4 Von aktiven Bewegungsübungen vor dem Spiegel darf eine raschere und bessere Regeneration erwartet werden (klinische Erfahrung, B). 4 Goldgewichtimplantation ins Oberlid bei verbleibendem Lidschlussdefizit nach abgeschlossener Regeneration (B). * Nach den Leitlinien der DGN 2005

Defektheilung nach Fazialislähmung Fazialiskontraktur. Bei der unvollständigen Restitution entsteht in einem nicht geringen Teil der Fälle die sog. Fazialiskontraktur. Das Bild entspricht einer leichten Dauerkontraktion der vorher schlaff gelähmten Muskeln. Die Lidspalte ist enger, die Nasolabialfalte tritt schärfer hervor, der Mundwinkel ist etwas emporgezogen. Gewöhnlich besteht gleichzeitig noch eine Restlähmung.

wegungen verengt sich die Lidspalte. Man führt die Mitbewegungen auf Fehlregenerationen zurück, bei denen sich am Läsionsort abnorme Anschlüsse zwischen proximalen und distalen Neuriten gebildet haben. Eine weitere Möglichkeit wären funktionelle Anschlüsse nach Art der Ephapsen. Ähnliche Mitbewegungen kommen auch bei inkomplett ausgeheilter Okulomotoriuslähmung vor.

Mitbewegungen. Die Kontraktur ist immer mit pathologischen Mitbewegungen verbunden: Beim Augenschluss kontrahieren sich die Wangenmuskeln und selbst das Platysma, bei Mundbe-

»Krokodilstränen«. Ein seltenes Phänomen bei der Defektheilung

sind die sog. »Krokodilstränen« (so genannt, weil die Sage geht, dass das Krokodil beim Verzehren seiner Opfer weint): Beim Es-

630

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Facharzt

Melkersson-Rosenthal-Syndrom 3Symptome. Das volle Syndrom besteht aus der Trias: 4 rezidivierende, einseitige Lippen- und Gesichtsschwellung, 4 rezidivierende, periphere Fazialislähmung, 4 Faltenzunge (nicht obligat). Das Zentralsymptom ist die Lippenschwellung (Cheilitis granulomatosa), eine Verdickung und Ausstülpung der Lippe und angrenzenden Wangenpartie. Die Haut ist gespannt, blass und rot bis livide. Ursache der Gesichtslähmung ist eine Schwellung des Nerven im Canalis Falloppii. Sie ist deshalb häufig von Geschmacksstörungen begleitet. Die neurologischen Symptome können vielfältig sein: In der Literatur findet man Berichte über Befall anderer Hirnnerven, besonders des sensiblen Trigeminus, über Stauungspapille, periphere Lähmungen und selbst ZNS-Symptome. Schwellungen können auch in anderen Körperregionen auftreten. Der Liquorbefund ist normal oder enthält nur eine uncharakteristische, leichte Zell- und Eiweißvermehrung. Die übrigen Laborda-

31

sen kommt es auf der Seite der Fazialislähmung nicht nur zur Speichelsekretion, sondern auch zum Tränenfluss. Diese abnorme, sekretorische Innervation wird auf Ephapsen zwischen N. intermedius und N. petrosus superficialis major zurückgeführt. Therapie mit Botolinumtoxin kann hier eingesetzt werden. Spasmus hemifacialis Der Spasmus hemifacialis ist eine sehr charakteristische Bewegungsunruhe, die stets einseitig und ausschließlich in Muskeln auftritt, die vom VII. Hirnnerven versorgt werden. 3Symptomatik. Das klinische Bild ist unverwechselbar: In einzelnen oder in allen mimischen Muskeln einer Gesichtshälfte treten hochsynchron, in regelloser Folge tonische und phasische Zuckungen auf, deren Ablauf in allen beteiligten Muskeln gleich ist. Auch im EMG sind die Spitzenpotentiale im gesamten Fazialisgebiet synchronisiert. Willkürliche oder reflektorische Innervation und sensible Reize lösen die Muskelkrämpfe aus oder verstärken sie, weit mehr als seelische Erregung. Nach Anästhesie des N. trigeminus dauern sie an. Im Schlaf setzen sie manchmal, aber nicht immer aus. Gewöhnlich ist zuerst der M. orbicularis oculi betroffen. Im Laufe von Monaten und Jahren breitet sich der Spasmus dann auf die ganze mimische Muskulatur einschließlich des Platysmas aus. Dabei kann auch eine Parese eintreten. 3Ursache. Man nimmt als Ursache des Spasmus facialis, analog zur idiopathischen Trigeminusneuralgie, eine abnorme Erregungsproduktion durch lokalen Druck, im Nervenverlauf an. Sie entsteht beim Spasmus facialis entweder im Canalis Falloppii

ten, einschließlich der Rheumafaktoren, bringen keine Besonderheit. 3Pathologie und Ätiologie. Histologisch besteht eine granulomatöse Entzündung mit Gewebsödem. Diese hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Tuberkulose und M. Boeck. Die Pathogenese ist nicht geklärt, ebenso wenig die Ätiologie. 3Verlauf. Die ersten Symptome treten meist in der 2. Lebensdekade auf. Die Krankheit verläuft in Schüben, die jeweils wenige Tage bis höchstens eine Woche dauern und sich über Jahre und Jahrzehnte wiederholen. Im Laufe der Zeit bildet sich eine persistierende Verdickung der Hautpartien aus, die periodisch anschwellen. Die Lähmungen können dauernd bestehen bleiben. 3Therapie. Methylprednisolon 20–40 mg/Tag.

oder im Kleinhirnbrückenwinkel, gelegentlich auch nach peripherer Fazialislähmung. 3Diagnose. Zur Diagnostik müssen Hirn- und Schädelbasis mit Kontrastmittel und durch Gefäßdarstellung mit Spiral-CT oder MRT untersucht werden. Wenn ein Spasmus hemifacialis oder Mitbewegungen bei Defektheilung elektrophysiologisch untersucht werden sollen, wird der Blinkreflex in einer etwas geänderten Technik eingesetzt: Normalerweise ist die Reflexantwort auf den M. orbicularis oculi beschränkt. Beim Spasmus hemifacialis findet man eine abnorme Ausweitung auch auf andere, ipsilaterale Fazialismuskeln. Die konventionelle Nadelmyographie bietet hier nur in Mehrkanaltechnik unter kontinuierlicher Aufzeichnung und mit Aufforderung zu verschiedenen Bewegungen (Augenschluss, Lidschlag) eine Befunderweiterung. 3Therapie. Ähnlich wie beim Meige-Syndrom und anderen Dystonien (7 Kap. 23.4) kann man Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln injizieren. Die Injektionen haben weder systemisch noch lokal unerwünschte Wirkungen. Vor einer neurochirurgischen Intervention ist ein Versuch mit diesem Verfahren angezeigt. Eine operative Behandlung (vaskuläre Dekompression des N. facialis im Kleinhirnbrückenwinkel) stützt sich auf die Beobachtung, dass der Nerv, wie auch benachbarte Hirnnerven, durch elongierte Äste der intrakraniellen A. vertebralis komprimiert sein kann und dass mikrochirurgische Dekompression den Spasmus und die elektrophysiologischen Symptome beseitigen kann (Operation nach Jannetta).

631 31.1 · Hirnnervenläsionen

> Nach dem Jannetta-Konzept beruht der Spasmus hemi-

facialis auf einer neurovaskulären Kompression und ist so das motorische Gegenstück zur Trigeminusneuralgie.

3Differentialdiagnose 4 Der Spasmus hemifacialis muss vom psychogenen GesichtsTic unterschieden werden. Dies ist eine Ausdrucksbewegung, die in einzelnen Muskeln asynchron abläuft, dabei die mimische Muskulatur beider Seiten betrifft und sehr von der seelischen Verfassung der Patienten abhängig ist. 4 Weiter wird er von der hemifazialen Myokymie (Muskelwogen) differenziert, einem fortlaufenden, irregulären Faszikulieren in der mimischen Muskulatur einer Gesichtsseite. Das Phänomen wird hauptsächlich bei Patienten mit Multipler Sklerose beobachtet. 4 Ferner ist die Unterscheidung vom halbseitigen Kopftetanus notwendig (7 Kap. 18.7.1). Im EMG finden sich beim Kopftetanus keine synchronisierten Entladungen, die bei Willkürinnervation zunehmen, sondern ungeregelte Dauerentladungen. Im Blinkreflex fehlt die elektrische Stille nach der ersten Reflexkomponente. Diese ist aber nur sehr schwer aus der kontinuierlichen Aktivität herauszufiltern. 31.1.6 N. statoacusticus (Hirnnerv VIII) Er ist in 7 Kap. 1.4.3 und in 7 Kap. 17 (Schwindel) besprochen. 31.1.7 N. glossopharyngeus und N. vagus Diese sind in 7 Kap. 1.4.4 und in 7 Kap. 16.5.3 (Glossopharyngeusneuralgie) besprochen. 31.1.8 N. accessorius (Hirnnerv XI):

Akzessoriuslähmung 3 Anatomie. Der rein motorische Nerv versorgt den M. sternocleidomastoideus und den M. trapezius, der außerdem in seinem unteren Anteil auch aus dem 2. bis 4. Zervikalsegment innerviert wird. Einseitige Lähmung beider Muskeln zeigt eine Läsion des Nerven an der Schädelbasis an. Ist nur der M. trapezius gelähmt, muss die Läsion distal vom Abgang des Astes zum Sternokleidomastoideus, d.h. vor allem im seitlichen Halsdreieck gesucht werden. 3Symptome. Die proximale Schädigung wird durch atrophische Lähmung der Mm. sternocleidomastoideus und trapezius, die distale durch ausschließlichen Ausfall des Trapezius symptomatisch. Der Ausfall eines M. sternocleidomastoideus ist zwar bei der Inspektion und Untersuchung zu erkennen, wird jedoch funktionell gut kompensiert. Bei Trapeziuslähmung verläuft die

31

Nackenlinie eckig und leicht gesenkt. Die Skapula ist in der Ruhe von der Mittellinie abgerückt und nach außen unten rotiert. Nicht selten kann man unter dem atrophischen M. trapezius die beiden Mm. rhomboidei erkennen. Die Trapeziuslähmung durch zervikale Wurzelläsion kann an begleitenden Sensibilitätsstörungen erkennbar sein. Hängen der Schulter und nach lateral abfallende Stellung der Klavikula führen zur Subluxation im Sternoklavikulargelenk. Die Patienten klagen über Ruhe- und Bewegungsschmerzen in der ganzen Schulterregion. Nicht selten wird die Trapeziuslähmung vom Patienten erst nach längerem Bestehen durch diese Schulterschmerzen bemerkt. 3Untersuchung. Der Patient dreht den Kopf gegen den Widerstand des Untersuchers zur Seite (M. sternocleidomastoideus). Sodann führt er bei gebeugten Armen beide Ellenbogen möglichst weit hinter den Rücken. Dabei rückt das Schulterblatt auf der gelähmten Seite wenig oder gar nicht an die Wirbelsäule heran. Das Anheben der Schulter ist geschwächt, ebenso auch das seitliche Anheben des Armes über die Horizontale, da die Skapula dabei nicht mehr durch den M. trapezius fixiert wird. Die Haltefunktion des M. trapezius wird z.T. vom M. levator scapulae übernommen, der durch Hypertrophie strangförmig hervorspringt. 3Ursache. Die häufigste Ursache der distalen Lähmung ist ein chirurgischer Eingriff im lateralen Halsdreieck, z.B. zur Entfernung eines Lymphknotens oder die radikale Neck Dissection. Bei proximaler Lähmung kommen vor allem primäre und metastatische Tumoren an der Schädelbasis ober- oder unterhalb des Foramen jugulare in Betracht. 3Therapie. Eine primäre Nervennaht bei akzidenteller Durch-

trennung kann erfolgreich sein. Späte chirurgische Maßnahmen sind meist frustran. Eine orthopädische Fixation der Skapulaspitze kann die funktionelle Beeinträchtigung der Schulterbeweglichkeit partiell kompensieren. 31.1.9 N. hypoglossus 3Symptome. Bei einseitiger Lähmung liegt sie zur gesunden Seite verlagert im Munde und weicht beim Herausstrecken im Bogen zur kranken Seite ab. Dies beruht darauf, dass der Zungenstrecker (M. genioglossus) der gesunden Seite die Zunge zur kranken Seite hinüberschiebt. Die Hypoglossuslähmung führt, einseitig oder doppelseitig, zur Atrophie der Zunge, die dann dünner, schlaff und walnussschalenartig gerunzelt ist. Bei chronischer, peripherer Lähmung, und auch bei Schädigung des Hypoglossuskernes, zeigt sie faszikuläre Zuckungen (sie sieht aus »wie ein Sack mit Regenwürmern«). Die doppelseitig gelähmte Zunge kann nicht mehr bewegt werden. Das Sprechen ist mühsam, besonders für Linguale (l, r) und Dentale (d, t, n, s). Die Patienten beißen sich auf die Zunge. Sie

632

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

31.2

verlieren Speichel aus dem Mund. Beim Liegen auf dem Rücken sammelt sich der Speichel im vorderen Teil des Mundes und läuft beim Bücken heraus. Speisen geraten unter die Zunge und müssen mit dem Finger herausgeholt werden.

Läsionen des Plexus cervicobrachialis

3Einteilung der Plexuslähmungen. Man unterscheidet eine obere, untere und eine komplette Plexuslähmung (schematische Anatomie . Abb. 31.3): 4 Am häufigsten ist die obere Plexuslähmung (Erb-Lähmung), bei der die Fasern aus den Wurzeln C5–6(–7) lädiert sind. Ausgefallen sind in wechselnder Kombination die Mm. deltoides, supra- und infraspinatus (Außenrotatoren), pectoralis, biceps, supinator und – selten – triceps. Der Arm hängt deshalb schlaff, nach innen rotiert herunter. Er kann nicht im Schultergelenk gehoben und nach außen rotiert, oft nicht im Ellenbogen gebeugt, supiniert und ggf. auch nicht gestreckt werden. BSR und RPR sind ausgefallen, der TSR ist oft erhalten. Wenn die Mm. rhomboidei und serratus gelähmt sind, liegt die Plexusläsion wurzel-

3Ursachen. Hypoglossuslähmungen kommen bei Prozessen der Schädelbasis und bei der Polyneuritis cranialis vor. Eine meist vorübergehende, ipsilaterale Hypoglossuslähmung wird manchmal als Folge einer Druck- oder Zugläsion nach Thrombendarteriektomie der A. carotis interna beobachtet. Doppelseitige zentrale Zungenlähmungen kommen meist gemeinsam mit supranukleärer Parese der übrigen kaudalen motorischen Hirnnerven vor.

(C4)

C5

IV

C6

V

C7

VI

C8

VII

Th1

I

18 17

16

31

15

21

5

(Th2) II

3

4 1

6

13

14

7 8 10 11

12

9 . Abb. 31.3. Der Plexus brachialis und seine anatomischen Beziehungen zum Skelett. Buchstaben mit arabischen Ziffern (C8) bezeichnen Nervenwurzeln; römische Ziffern (VII) Wirbelkörper. 1 Nn. pectorales (med./lat.) C5–Th1, Mm. pect. major u. minor; 2 Fasciculus dorsalis; 3 Fasciculus lateralis; 4 Fasciculus medialis; 5 N. axillaris C5,6, M. deltoideus 5,6, M. teres minor 5,6; 6 N. musculocutaneus C5–7, M. biceps brachii 5,6, M coracobrachialis 6,7, M brachialis 5,6; 7 N. radialis C5–Th1, M. triceps brachii C7–Th1, M. anconaeus 7,8, M. brachioradialis 5,6, Mm. ext.carpi rad. long./brev. 6–8, M. ext. digit. 7,8, M. ext. indicis 7,8, M. ext. digiti minimi 7,8, Mm. ext. poll. lomg./brev. 7,8, M. abd. poll. long. 7,8; 8 N. medianus C5–Th1, M. pronator teres 6,7, M. flexor carpi rad. 6–8, M. palmaris long C7–8, M. flex. digit. superf. C7–Th1, M. flex. digit. prof. (radiale Seite, II/III)

C7–Th1, M. pronator quadratus C7–Th1, M. opponens poll. C7–8, Caput superfic. M. flex. pol. brev. 6–8, Mm. lumbricales I+II C8–Th1; 9 N. ulnaris (C7) C8–Th1, M. flexor carpi uln. C8–Th1, M. flexor digit. prof. (ulnare Seite, IV/V) C8–Th1, Mm. lumbric, III+IV C8–Th1, M. add.poll. C8–Th1, Caput prof. m. fl. pol. brev. C8–Th1, M. palmaris brev. C8–Th1; 10 N. cutaneus brachii medialis C8–Th1; 11 N. cutaneus antebrachii medialis C8–Th1; 12 N. thoracodorsalis C6–8, M. latissimus dorsi; 13 Nn. subscapulares C5– 8, M. subscapularis C5–7, M. teres major C5–6; 14 N. thoracicus longus C5–7, M. serratus anterior; 15 N. subclavius C5,6, M. subclavius; 16 N. suprascapularis C4–6, M. supraspinatus C4–6, M. infraspinatus C4–6; 17 N. dorsalis scapulae C3–5, M. levator scapulae C4–6, Mm. rhomboidei C4–6; 18 N. phrenicus C3–4. (H. Müller-Vahl, H. Schliack; in Kunze 1992)

633 31.2 · Läsionen des Plexus cervicobrachialis

nah, da die Nn. dorsales scapulae und thoracicus longus den Plexus frühzeitig verlassen. 4 Sensibel finden sich meist nur geringe Ausfälle an der Außenseite des Oberarms und der dorsal-radialen Seite des Unterarms. 4 Bei der unteren Plexuslähmung (Klumpke-Lähmung) sind die Fasern der Wurzeln (C7–)C8–Th1 lädiert. Dadurch entsteht eine atrophische Parese der kleinen Handmuskeln und der langen Fingerbeuger, während die Strecker von Hand und Fingern manchmal verschont sind. Häufig besteht ein Horner-Syndrom. 4 Der Fingerflexorenreflex ist ausgefallen, fakultativ auch der TSR. 4 Die Sensibilität ist besonders ulnar an Hand und Unterarm gestört. 4 Die seltene komplette Plexuslähmung ist eine Kombination aus der oberen und der unteren Plexuslähmung. Unmittelbar nach einem Trauma sind viele Plexusparesen komplett, jedoch bildet sich oft bald das Bild einer oberen oder unteren Plexusschädigung aus.

31

nen, obwohl nach dem Befund ein Wurzelausriss unwahrscheinlich ist, sollte man bei oberer Plexuslähmung die Indikation zur operativen Revision stellen. Bei manchen traumatischen Plexusläsionen mit erheblichen Hämatomen und Frakturen der Klavikula und des Akromion kann eine frühzeitige Dekompression indiziert sein. Die Prognose ist beim Wurzelabriss sehr ungünstig. Für die übrigen Formen der traumatischen Plexuslähmungen ist die Prognose umso schlechter, je mehr auch die proximalen Muskeln des Schultergürtels betroffen sind und je schwerer und weiter ausgedehnt die Sensibilitätsstörung ist. Zur genaueren Beurteilung muss man das EMG und die Bestimmung der motorischen und sensiblen Leitgeschwindigkeit heranziehen. In Einzelfällen entsteht eine Plexuslähmung durch den Druck schwerer Lasten, die auf der Schulter getragen werden. Hierzu sind besonders magere Personen disponiert. Die Prognose ist gut. Geburtstraumatische Lähmungen betreffen meist den oberen, seltener den unteren Plexus brachialis. Die Prognose der Geburtslähmungen ist nicht günstig. 31.2.2 Neuralgische Schulteramyotrophie

31.2.1 Traumatische Plexusläsionen 3Ursache. Plexuslähmungen entstehen am häufigsten traumatisch, vor allem bei Motorradunfällen. Als Arbeitsunfall kommen sie bei Stürzen auf die Schulter oder dadurch zustande, dass die Hand von einer rotierenden Maschine mitgerissen wird. Der Plexus wird also meist durch Prellung oder Zug geschädigt. Im zweiten Fall besteht die Gefahr, dass die Wurzeln aus dem Rückenmark herausgerissen sind (Wurzelausriss). 3Elektrodiagnostik. Bei kompletter Plexuslähmung sind die Willküraktivität der abhängigen Muskeln ist erloschen und nach 10–14 Tagen zeigt sich Spontanaktivität. Die Plexusüberleitungszeit bei Reizung am Erb-Punkt und Ableitung von den Mm. deltoideus, biceps und triceps ist verlängert, die SSEPs sind blockiert. Elektrisch ausgelöste Muskelaktionspotentiale nehmen nach dem 7. Tag an Amplitude ab. Zeichen des Wurzelausrisses ist, dass bei fehlender Erregbarkeit der motorischen Fasern und subjektiver Sensibilitätsstörung die sensiblen Nervenfasern elektrisch erregbar sind, weil die Kontinuität der sensiblen Fasern zum Spinalganglion nicht unterbrochen ist. Der Wurzelausriss ist schon im frühen Stadium durch blutigen Liquor (Einreißen von Wurzelgefäßen), selten durch begleitende Rückenmarksymptome zu erkennen. Später wird er nach elektroneurographischen Kriterien und mit MRT bzw. Myelo-CT diagnostiziert. 3Therapie und Prognose. Sie ist zunächst konservativ: Lagerung des Armes auf Abduktionsschiene, passive Bewegungen in den Finger-, Hand- und Ellenbogengelenken. Sind nach spätestens 2 Monaten noch keine Zeichen der Rückbildung zu erken-

Diese nicht seltene Krankheit ist eine akute, wahrscheinlich entzündliche, obere Lähmung des Plexus brachialis. In 65% der Fälle ist der rechte Arm, in 12% der linke, und in 23% sind beide Arme betroffen. Die Ätiologie ist sicher nicht einheitlich. In einem Teil der Fälle soll die Plexusschädigung auf zirkulierenden Immunkomplexen (serogenetische Polyneuritis, 7 Kap. 32.5) beruhen. 3Symptome. Unter heftigen Schmerzen in der Schulter und im Oberarm, die typischerweise nachts beginnen, in Ruhe betont sind, für 1–2 Wochen andauern und nur ausnahmsweise fehlen, entwickelt sich rasch eine atrophische Lähmung vor allem des M. deltoideus und fakultativ der benachbarten Muskeln des Schultergürtels: Mm. supraspinatus, infraspinatus, serratus anterior und trapezius, manchmal auch distaler Armmuskeln. Auch das Zwerchfell kann, u.U. isoliert, betroffen sein. Man findet die erwähnten Lähmungen, sehr bald auch eine schmerzhafte Schultersteife. Wie bei allen oberen Plexuslähmungen, ist die Sensibilitätsstörung nur gering und vor allem an der Außenseite des Oberarms, manchmal auch bis zum Daumen festzustellen. Oft fehlen umschriebene Sensibilitätsausfälle. 3Diagnostik. EMG und Neurographie sind fast immer pathologisch. Sie können auch den Befall des klinisch nicht betroffenen anderen Arms zeigen. Der Liquor ist meist normal. Neuroradiologische Verfahren helfen nicht weiter. 3Therapie und Prognose. Kortikoide, Schmerzmittel, lokale

Wärmeanwendung und ähnliche Bestrahlungsbehandlung, frühzeitig Lagerung in Abduktion. Sobald es die Schmerzen gestatten,

634

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

passive und aktive Bewegungsübungen. Die Prognose ist auf lange Sicht gut. Allerdings kann sich die Rückbildung der Lähmungen und die erfolgreiche Behandlung der sekundären Schultergelenkversteifung bis zu einem Jahr hinziehen. Rezidive sind möglich. > Akute, proximal betonte Armschmerzen und -schwä-

che: Verdacht auf neuralgische Schulteramyotrophie. Die Bezeichnung dieser Beschwerden als »vertebragener Schulter-Arm-Schmerz« ist eine Verlegenheitsdiagnose.

31.2.3 Skalenussyndrom 3Ursache. Das Skalenussyndrom ist eine lageabhängige, untere Plexusschädigung, die von einer Behinderung des Blutstroms in den Armgefäßen begleitet ist. Sie wird von einer abnormen Enge der sog. Skalenuslücke, die von den Mm. scaleni und der 1. Rippe begrenzt wird, ausgelöst. Die Bedeutung von Halsrippen wird weit überschätzt: Das Syndrom kann auch ohne Halsrippe auftreten. Diese ist andererseits in mehr als der Hälfte symptomlos. Pathogenetisch hat ein abnorm breiter Ansatz des M. scalenus medius an der 1. Rippe eine größere Bedeutung.

31

3Symptome. Diese setzen im 3.–4. Lebensjahrzehnt ein. Die Patienten bekommen Schmerzen und Parästhesien auf der ulnaren Seite des Unterarms und der Hand, die bei herabhängendem Arm und nachts und beim Liegen auf der kranken Seite oder aber bei Anhebung der Arme über den Kopf besonders stark sind. Im Laufe der Zeit treten auch sensible Ausfälle und distale Paresen hinzu. Die Zirkulationsstörungen in der V. und A. subclavia zeigen sich als Ödem, Zyanose, Ischämie der Hand, Differenz der Radialispulse. Ist die Arterie partiell thrombosiert, können ihre Äste durch kleine, rezidivierende Embolien verschlossen werden. 3Diagnose. Häufig ist ein Strömungsgeräusch in der Supraklavikulargrube zu hören. Diagnostisch wichtig sind Provokationsmanöver unter fortlaufender Pulskontrolle: Beim AdsonVersuch soll der Patient den Kopf nach hinten neigen, zur kranken Seite drehen und tief einatmen. Beim Hyperabduktionsversuch hebt der Patient den Arm über die Horizontale an. Bei beiden Manövern wird die Skalenuslücke verengt. Wird hierbei die A. subclavia komprimiert, verschwindet der Radialispuls. Diese Manöver sind oft auch bei Gesunden positiv, belegen also die Diagnose ebenso wenig wie Schmerzen oder Missempfindungen im Arm. Erst die Kombination aus topographisch auf den unteren Plexus brachialis zu beziehenden objektiven neurologischen Ausfällen und Nachweis der Kompression der A. subclavia erlaubt die klinische Diagnose. Röntgenologischer Nachweis durch Angiographie der A. subclavia in verschiedenen Graden der Abduktion. Hierbei kann man häufig eine umschriebene Verengung der A. subclavia

nachweisen. Voruntersuchung mit Ultraschall der A. subclavia in Funktionsstellung. 3Therapie. Liegen motorische Ausfälle vor, für die sich keine andere Ursache findet, behandelt man operativ durch Skalenotomie (Durchtrennung des M. scalenus anterior am Ansatz), gegebenenfalls mit Resektion der Halsrippe. 31.3

Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis

Bei der Besprechung der einzelnen Nerven geben wir immer die spinalen Segmente, aus denen der Nerv in der Regel seine Fasern erhält, und die von ihm versorgten Muskeln an. Der zugehörige Plexusanteil ist den . Abbildungen 31.3 (Armplexus) bzw. . 31.9 (Beinplexus) zu entnehmen. Die radikuläre und periphere Innervation der Muskeln ist zusammenfassend in . Tabelle 31.1a–c dargestellt. 31.3.1 N. suprascapularis (C4–C6) 3Motorische Innervation. Mm. supraspinatus und infraspinatus: Die Muskeln drehen den Arm im Schultergelenk nach außen. Der M. supraspinatus abduziert den Arm besonders in den ersten 20 Grad. Isolierte Lähmungen, z.B. nach Schultertraumen, sind selten. Der Nerv wird häufig bei oberer Plexusparese mitbetroffen. 3Untersuchung und Symptome. Abduktion des gerade he-

runterhängenden Armes gegen Widerstand bis 20° (dabei Palpation des M. supraspinatus), Auswärtsdrehung des im Ellenbogengelenk um 90° gebeugten, adduzierten Armes gegen Widerstand (dabei Palpation des M. infraspinatus). Bei Atrophie tritt die Spina scapulae hervor. Die Supraskapulargrube ist vertieft. Supraskapularissyndrom Ein besondere Läsionsart ist das Supraskapularis-Engpass-Syndrom, bei dem der Nerv vorwiegend in der Incisura scapulae geschädigt wird. Junge Männer erkranken häufiger, meist spielt

. Abb. 31.4. Traumatische Schädigung des linken N. suprascapularis bei einem 42-jährigen Mann. (A. Ferbert, Kassel)

635 31.3 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis

. Tabelle 31.1a. Die radikuläre und periphere Innervation der Muskeln (Nach Scheid 1966). Segmente C2 bis Th1, vorwiegend Nacken-, Armund Handmuskeln

Muskel

C2

C3

C4

C5

C6

C7

M. trapezius M. longus colli Diaphragma M. levator scapulae Mm. rhomboidei M. supraspinatus M. infraspinatus M. teres minor M. deltoideus M. biceps brachii

x x

x x x x

x x x x x x x x x

x x x x x x x x x

x

x

M. brachialis

x

x

M. brachioradialis M. supinator M. serratus anterior M. subscapularis M. extensor carpi radialis longus M. pectoralis major M. coracobrachialis M. teres major M. pronator teres M. extensor carpi radialis brevis M. pectoralis minor M. latissimus dorsi M. extensor digitorum M. triceps brachii M. flexor carpi radialis M. abductor pollicis longus M. extensor pollicis brevis M. opponens pollicis M. flexor pollicis brevis M. extensor digiti minimi M. extensor carpi ulnaris M. extensor pollicis longus M. extensor indicis M. abductor pollicis brevis M. flexor carpi ulnaris M. flexor digitorum superficialis M. pronator quadratus M. palmaris longus M. flexor digitorum profundus M. flexor pollicis longus M. adductor pollicis M. abductor digiti minimi M. flexor digiti minimi brevis M. opponens digiti minimi Mm. interossei Mm. lumbricales

x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x x x x x

C8

Th1

Nerv N. occipitalis

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x

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N. phrenicus N. dorsalis scapulae N. dorsalis scapulae N. suprascapularis N. suprascapularis (manchmal auch N. axillaris) N. axillaris N. axillaris N. musculocutaneus (manchmal auch N. medianus) N. musculocutaneus (der laterale Teil manchmal vom N. radialis) N. radialis N. radialis N. thoracicus longus N. subscapularis N. radialis Nn. thoracici (machmal auch N. axillaris) N. musculocutaneus N. subscapularis N. medianus N. radialis Nn. thoracici N. thoracodorsalis N. radialis N. radialis N. medianus N. radialis N. radialis N. medianus N. medianus und N. ulnaris N. radialis N. radialis N. radialis N. radialis N. medianus N. ulnaris N. medianus N. medianus N. medianus N. medianus und N. ulnaris N. medianus N. ulnaris N. ulnaris N. ulnaris N. ulnaris N. ulnaris N. medianus

31

636

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

. Tabelle 31.1b. Segmente Th1, bis L3, Rumpf- und Bauchmuskeln

Muskel

Th1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Mm. intercostales xterni et interni

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Ramus ventralis Nn. thoracicorum et Nn. intercostales

M. obliquus externus abdominis

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x

Ramus ventralis Nn. thoracicorum

M. rectus abdominis

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x

x

x

x

Ramus ventralis Nn. thoracicorum

x

x

x

x

x

x

x

x

Ramus ventralis Nn. thoracicorum (N. iliohypogastricus u. N. ilioinguinalis)

x

x

x

x

x

x

Ramus ventralis Nn. thoracicorum

x

x

M. transversus abdominis

M. obliquus internus abdominis M. quadratus lumborum

eine zusätzliche traumatische Läsion eine Rolle (. Abb. 31.4). Die Schulter schmerzt in Ruhe, und Oberarmseitelevation (M. suprascapularis) und Außenrotation (M. infraspinatus) sind gelähmt. Die Therapie besteht in der chirurgischen Spaltung des die Inzisur überspannenden Bandes.

31 31.3.2 N. thoracicus longus (C5–C7) 3Motorische Innervation. M. serratus anterior: Er zieht und dreht das Schulterblatt nach außen, fixiert gleichzeitig seinen medialen Rand am Thorax und wirkt bei der Hebung des Armes mit. 3Ursachen. Nach längerem Tragen schwerer Lasten (Rucksacklähmung) oder bei Operationen in der Achselhöhle kann es zur Drucklähmung, bei schweren manuellen Arbeiten zur Zerrung des Nerven kommen. Entsprechend ist die Lähmung auf der rechten Seite häufiger als auf der linken. Setzt eine Serratuslähmung akut, unter reißenden Schmerzen ein, kann auch eine monosymptomatische Form der neuralgischen Schulteramyotrophie vorliegen. 3Untersuchung und Symptome. Man lässt den Patienten die leicht abduzierten Arme nach vorn unter die Horizontale heben oder, im Stehen, nach vorn gegen eine Wand drücken. Bei Serratuslähmung tritt hierbei die Skapula sehr deutlich hervor. Die Hebung des Armes im Schultergelenk ist erschwert. Der mediale Rand der Skapula ist auf der gelähmten Seite näher an die Wirbelsäule herangerückt und steht »flügelförmig« vom Thorax ab (Scapula alata). Die Scapula ist mit dem unteren Winkel leicht zur Wirbelsäule gedreht.

L1

L2

x

L3

Nerv

x

31.3.3 N. thoracodorsalis (C6–C8) 3Motorische Innervation. M. latissimus dorsi: Die wichtigste Funktion ist das Senken und Rückwärtsführen des erhobenen Armes. Der Nerv wird hauptsächlich bei Plexuslähmungen mitgeschädigt. 3Untersuchung und Symptome. Wenn der Patient die Hände in die Hüften stemmt und kräftig hustet, sieht man auf der gelähmten Seite eine deutlich geringere Kontraktion. Der waagerecht erhobene Arm wird gegen Widerstand gesenkt und/oder nach hinten geführt. Im Seitenvergleich sieht man ein Fehlen des Reliefs der hinteren Axillarlinie. 31.3.4 Nn. thoracici anteriores (C5–Th1) 3Motorische Innervation. M. pectoralis major und minor: hauptsächlich Adduktion der Arme. Die Nerven sind praktisch nie isoliert, aber häufig bei oberer und kompletter Plexuslähmung mitlädiert. 3Untersuchung und Symptome. Die klavikuläre Portion des M. pectoralis springt an, wenn der Patient den erhobenen Arm gegen Widerstand adduziert, die sternokostale, wenn er in »Betstellung« beide Hände gegeneinander presst. Bei Atrophie dieser Muskeln treten die Klavikula und der knöcherne Thorax deutlicher hervor. Die vordere Begrenzung der Axilla ist verschmächtigt.

637 31.3 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis

31

. Tabelle 31.1c. Segmente Th12 bis S4, vorwiegend Bein- und Fußmuskeln

Muskel

Th12

L1

L2

L3

M. iliopsoas M. sartorius M gracilis M. adductor longus M. quadriceps femoris M. adductor magnus M. tibialis anterior M. tensor fasciae latae M. tibialis posterior M. popliteus M. glutaeus medius M. glutaeus minimus M. extensor hallucis longus M. extensor digitorum longus M. peronaeus brevis M. peronaeus longus M. extensor hallucis brevis M. extensor digitorum brevis M. glutaeus maximus M. semitendinosus M. semimembranosus M. biceps femoris M. plantaris M. abductor hallucis M. adductor hallucis M. triceps surae M. flexor digitorum longus M. flexor digitorum brevis M. flexor hallucis longus M. flexor hallucis brevis Mm. lumbricales M. quadratus plantae M. interossei M. flexor digiti minimi brevis M. abductor digiti minimi M. sphincter vesicae M. sphincter ani externus M. levator ani

x

x

x x x x x x

x x x x x x

L4

x x x x x x x x x x

31.3.5 N. axillaris (C5–C7) 3Motorische Innervation. M. deltoideus und M. teres minor. Sensible Versorgung: Handflächengroßer Bezirk an der Außenseite des Oberarms über dem mittleren Anteil des M. deltoideus. 3Untersuchung und Symptome. Abduzieren des Armes oder, wenn dies noch möglich ist, Festhalten in Abduktion von etwa 45° gegen Druck auf den Arm. Die Schulterwölbung ist abgeschwächt. Akromion und Humeruskopf treten deutlich hervor.

L5

S1

S2

S3

S4

Nerv

x x x

N. femoralis N. femoralis N. obturatorius N. obturatorius und N. femoralis N. femoralis N. obturatorius und N. tibialis N. peronaeus profundus N. glutaeus superior N. tibialis N. tibialis N. glutaeus superior N. glutaeus superior N. peronaeus profundus N. peronaeus profundus N. peronaeus profundus N. peronaeus superficialis N. peronaeus superficialis N. peronaeus profundus N. glutaeus inferior N. tibialis N. tibialis N. ischiadicus N. tibialis N. plantaris medialis N. plantaris medialis N. tibialis N. tibialis N. plantaris medialis N. tibialis N. plantaris medialis N. plantaris medialis N. plantaris lateralis N. plantaris lateralis N. plantaris lateralis N. plantaris lateralis N. pudendus Nn. rectales inferiores N. pudendus

x x x x x x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x

x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x

Deltoideusparese macht die Hebung des Armes bis zur Horizontalen unmöglich. Die Lähmung des M. teres minor, der den Oberarm nach außen rotiert, kann durch den M. infraspinatus ausgeglichen werden. > Die Hebung des Armes über die Horizontale wird von

einer ganzen Gruppe von Muskeln ausgeführt: Mm. supraspinatus, langer Bizepskopf, serratus ant., trapezius. 3Ursachen und Verlauf. Am häufigsten Luxation oder auch

nur Subluxation im Schultergelenk, auch stärkere Prellung der Schulter. Wenn das Gelenk danach vorübergehend ruhiggestellt

638

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

wird, bleibt die Axillarislähmung zunächst oft unerkannt. Seltener ist Drucklähmung im Schlaf. Nach kurzer Zeit stellt sich, namentlich bei älteren Patienten, eine Kapselschrumpfung im Schultergelenk ein, die passive Bewegungen sehr schmerzhaft macht, die Symptome verstärkt und den Heilverlauf verzögert. Deshalb soll man so früh, wie es die chirurgische Behandlung erlaubt, mit passiven Bewegungen im Schultergelenk beginnen. Andererseits muss der Arm bei schwerer Axillarisparese vorübergehend auf eine Abduktionsschiene gelagert werden, damit die Gelenkkapsel nicht schrumpft oder durch Subluxation überdehnt wird. 31.3.6 N. musculocutaneus (C6–C7) 3Motorische Innervation. Mm. biceps und brachialis: Beugung des Armes im Ellenbogengelenk. Sensible Versorgung: Radialer Anteil der Volarseite des Unterarms (N. cut. antebr. lat.). 3Ursachen. Motorische Lähmungen nach Schulterluxation. Isolierte sensible Schädigung ist nach paravenöser Injektion möglich.

31

3Untersuchung und Symptome. Beugung des Armes in Supinationsstellung, damit nicht der M. brachioradialis eingesetzt wird. Bei Lähmung des Nerven ist der BSR abgeschwächt oder erloschen. Der Radiusperiostreflex, der über den M. brachioradialis verläuft, ist dagegen bei intaktem N. radialis erhalten. 3Differentialdiagnose. Bizepssehnenabriss. 31.3.7 N. radialis (C5–Th1) 3Innervation und Funktion 4 M. triceps brachii: Streckung des Unterarms im Ellenbogengelenk. Prüfung in der Horizontalen mit unterstütztem Ellenbogen, um den Einfluss der Schwerkraft auszuschalten, die eine Streckfunktion vortäuschen kann. 4 M. brachioradialis: Beugung des Unterarms in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination. Bei der Prüfung in dieser Position tritt der Muskel beim Gesunden deutlich hervor. 4 M. ext. carpi rad. und uln.: Streckung und Radial- bzw. Ulnarabduktion des Handgelenks. 4 Mm. extensor dig. communis und ext. dig. minimi: Streckung der Grundphalangen II–V. Bei der Prüfung legt der Untersucher seinen Zeigefinger dorsal quer über die Grundphalangen und leistet mäßigen Widerstand. 4 M. supinator: Supination des Unterarmes. 4 M. abductor poll. long.: Abduktion des Metacarpus I in der Handebene. Bei der Prüfung springt die Sehne oberhalb des Daumengrundgelenks deutlich hervor.

4 Mm. extensor poll. brev. et long.: Streckung der Grundbzw. Endphalanx des Daumens. Zur Prüfung leichter Gegendruck auf die entsprechende Phalangen.

Sensible Innervation: Nur auf der Dorsalseite: am Oberarm distal vom Versorgungsgebiet des N. axillaris (N. cut. brachii dors.), am Unterarm und Handrücken im radialen Abschnitt, auf der Hand über den radialen 2 1/2 Fingern mit Ausnahme des Endgliedes (N. medianus). 3Ursachen. Wegen der exponierten Lage des Nerven wird er besonders häufig geschädigt. Die obere Radialislähmung entsteht durch Läsion des Nerven in der Achselhöhle, z.B. durch Druck oder durch einen chirurgischen Eingriff. Häufiger ist die mittlere Lähmung durch Druck des Nerven gegen den Humerus, besonders im tiefen Schlaf, begünstigt durch Alkoholrausch, auch in Narkose oder bei und nach Humerusfrakturen. Distale Radiusfrakturen und -luxationen führen zum unteren Lähmungstyp. 3Läsionsorte und Symptome. Der Nerv kann in unterschiedlicher Höhe lädiert sein. Man unterscheidet eine untere, mittlere und obere Radialislähmung. 4 Bei oberer Radialislähmung ist auch der M. triceps betroffen und der TSR abgeschwächt oder erloschen. 4 Bei der mittleren Radialisparese treten zu den genannten Symptomen eine Fallhand (. Abb. 31.5) mit Schwäche für die Extension im Handgelenk und eine Lähmung des M. brachioradialis hinzu. Der RPR ist abgeschwächt oder erloschen, der TSR ist erhalten. 4 Ein wichtiges Engpasssyndrom ist das Supinatorlogensyndrom durch Kompression des motorischen Endastes des Nerven beim Durchtritt durch den M. supinator. Dieser Eintritt ist durch einen Faszienkanal mit oft sehr scharfem Rand gebildet, an dem der Nerv geschädigt wird. Der M. brachioradialis (mit RPR) und M. extensor carpi radialis bleiben intakt. Die übrigen, distal gelegenen Radialismuskeln, speziell die Fingerstrecker, sind paretisch. Es besteht also keine vollständige Fallhand, und eine Sensibilitätsstörung fehlt. Nach Ausschluss von Knochenprozessen und einer Bursitis bicipitoradialis ist eine chirurgische Exploration der Supinatorloge und gegebenenfalls Neurolyse angezeigt. 4 Bei der unteren Radialislähmung kann der Daumen nicht in der Handebene abduziert und die Finger können nicht im

. Abb. 31.5. Fallhand bei Radialislähmung. (A. Ferbert, Kassel)

639 31.3 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis

31

Exkurs Faustschluss und Fallhand Bei Fallhand ist auch die Kraftentfaltung des Faustschlusses und der Fingerspreizung herabgesetzt, weil die Beuger von Hand und Fingern durch den Ausfall der Strecker schon in der Ruhe verkürzt sind. Gleicht man die Fallhand passiv aus, zeigt sich,

Grundgelenk gestreckt werden. Die Streckung in den Interphalangealgelenken II–V ist eine Ulnarisfunktion (s.u.). Es besteht keine Fallhand. Die lokalisatorische Bedeutung der sensiblen Störungen ist wegen der anatomischen Varianten gering. 31.3.8 N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) 3Innervation und Funktion 4 M. flexor carpi radialis: Beugung und Radialflexion der Hand. Prüfung in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination. 4 Mm. pronator teres und pronator quadratus: Pronation des Unterarmes und der Hand. Prüfung bei rechtwinkliger Beugung im Ellenbogengelenk. 4 M. flexor digit. superfic.: Beugung der Finger im I. Interphalangealgelenk. Beugung im Grundgelenk ist eine Ulnarisfunktion (7 dort). Prüfung durch Fingerhakeln, wobei der Untersucher einen Druck auf die Mittelphalangen ausübt. 4 M. flexor digit. prof. (radiale Hälfte): Beugung der Interphalagealgelenke II–V. Prüfung: Fingerhakeln gegen die Endphalangen bei fixierten Mittelphalangen. 4 Mm. flexor poll. long. et brev.: Beugung der Endphalangen des Daumens bzw. des Metacarpus I. Prüfung gegen Widerstand. 4 M. abductor poll. brev.: Abduktion des Daumens (Metacarpus I) rechtwinklig zur Handfläche. Die Abspreizung parallel zur Handfläche erfolgt durch den M. abductor pollicis longus (N. radialis). Man prüft diese wichtige Funktion durch das »Flaschenzeichen«: Ausfall der Abduktionsfunktion macht es dem Patienten unmöglich, eine Flasche oder ein Glas so zu ergreifen, dass das Objekt der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger fest anliegt. 4 M. opponens poll.: Opposition des Metacarpus I. Prüfung: Der Patient soll mit der Spitze des Daumens, ohne diesen zu beugen, das Grundglied des 5. Fingers berühren, während der Untersucher dieser Bewegung am Metacarpus I leichten Widerstand entgegensetzt. 4 Mm. lumbricales I und II: Beugung der entsprechenden Metacarpophlangealgelenke, Streckung der proximalen und distalen Interphalangealgelenke. Sensible Innervation: Volarseite der Finger I bis radiale Hälfte von IV und angrenzende Hautbezirke der Hand, Dorsalseite der Endglieder II–III.

dass N. medianus und N. ulnaris intakt sind. Andererseits kippt die Hand bei leichter Fallhandstellung nach volar ab, weil der Zug der Beuger überwiegt.

3Ursachen. Traumatische Läsion des Nerven oberhalb des Ellenbogens, z.B. bei suprakondylärer Humerusfraktur, ist relativ selten. Durch paravenöse Injektion kann der Nerv in der Kubitalbeuge geschädigt werden. Die untere Medianuslähmung tritt bei Verletzung am Unterarm (Suizidversuche) und traumatischen oder anderen Schädigungen am Handgelenk auf. 3Läsionsorte und Symptome. Je nach Höhe der Läsion unterscheiden wir drei Lähmungstypen: 4 Läsion oberhalb des Abgangs der Äste zu den langen Handund Fingerbeugern, d.h. am Oberarm oder Ellenbogen, führt zur kompletten Medianuslähmung. Zu den bereits beschriebenen Symptomen tritt eine Schwäche für die Pronation des Unterarmes und die Beugung der Hand hinzu. Beim Versuch, die Finger in den Zwischen- und Endgelenken zu beugen, entsteht die sog. Schwurhand. Nur die vom N. ulnaris motorisch innervierten Finger IV und V und in geringem Maße der Finger III können gebeugt werden, Daumen und Zeigefinger bleiben gerade stehen. 4 Schädigung des Nerven im distalen Abschnitt des Unterarms führt zur Lähmung aller vom Medianus versorgten Handmuskeln. Der Daumenballen ist atrophisch (Affenhand). Die Greiffunktion des Daumens ist aufgehoben. 4 Bei Läsion des Nerven im Karpaltunnel, unter dem Lig. carpi volare, entsteht das Karpaltunnelsyndrom (KTS): die isolierte Abduktor-Opponens-Parese und -Atrophie (s.u.). Dies ist die häufigste Lähmung des N. medianus. Die Sensibilitätsstörung hat in allen drei Fällen die gleiche Ausdehnung, da der Medianus nur Hautbezirke der Hand sensibel versorgt. In diesem Bereich treten meist sehr unangenehme Parästhesien auf. Bei älteren Lähmungen entwickeln sich trophische Störungen der Haut und der Nägel. Beides wird darauf zurückgeführt, dass der N. medianus viele vegetative Fasern führt. Karpaltunnelsyndrom (KTS) 3Ätiologie. Das sehr häufige KTS entsteht durch Kompression des Medianus-Endastes unter dem Lig. carpi volare. Man nimmt an, dass in diesen Fällen eine abnorme Enge des Karpaltunnels besteht, zumal Verletzungen der Handwurzelknochen oder eine Lokalisation rheumatischer Gelenk- oder Synovialveränderungen an dieser Stelle zu der gleichen neurologischen Symptomatik führen. Tätigkeiten mit chronischer oder häufig wiederholter Extension der Hand (Bedienen von Hebeln an Maschinen, Bügeln, Tischlerarbeiten, Gehen mit Armstützen bei Amputation) wird zwar häufig in der Vorgeschichte berichtet, ist aber

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Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

keine unbedingte Voraussetzung für das Entstehen des Syndroms. Manche Fälle von Schwangerschaftsparästhesien sind durch ein KTS bedingt. Hier nimmt man an, dass die Ödemneigung in der 2. Hälfte der Schwangerschaft zu einer Enge im Karpaltunnel führt. Typisch ist das KTS auch bei Akromegalie (7 Kap. 11.11). Die Arbeitshand ist bevorzugt betroffen. Beidseitiger Befall ist aber häufig.

31

3Symptome. Frauen, besonders in der 2. Lebenshälfte, sind häufiger betroffen als Männer. Die Krankheit beginnt mit nächtlichen, schmerzhaften, oft brennenden Parästhesien an der Beugeseite der ersten 3 Finger und in den angrenzenden Hautarealen. Wegen der Schmerzen stehen die Patienten auf und schütteln die Hand. Die Missempfindungen und Schmerzen können die ganze Hand ergreifen und die Schmerzen bis zur Ellenbogengegend nach proximal ausstrahlen. Dies hängt teilweise damit zusammen, dass der N. medianus besonders reichlich vegetative Fasern enthält. Manchmal werden aber auch lediglich uncharakteristische Schulter-Armschmerzen geklagt, vorzugsweise in Ruhe. Im weiteren Verlauf treten die sensiblen Reizsymptome auch am Tage auf. Es kommt zur Hypästhesie, die die feinen Verrichtungen mit den ersten 3 Fingern beeinträchtigt. Schließlich stellen sich Parese und Atrophie in den Mm. abductor pollicis brevis und opponens pollicis ein (. Abb. 31.6). Sensibel findet man dann eine Dysästhesie, oft eine Hyperalgesie oder Hyperpathie an der Volarseite der Hand mit Schwerpunkt im Medianusgebiet. Druck auf den Medianuspunkt an der Radialseite des volaren Unterarms oder Hyperextension im Handgelenk lösen oft Missempfindungen in den ersten 3 Fingern aus. Die Schweißsekretion (Ninhydrintest) ist im Medianusgebiet vermindert. 3Diagnose. In diesem Stadium sollte die Diagnose leicht sein. Auch vorher geben die charakteristischen, nächtlichen Parästhesien wichtige Anhaltspunkte.

. Abb. 31.6. Medianuslähmung. Ausgedehnte Muskelatrophien der medianusversorgten Thenarmuskulatur, besonders des M. abductor pollicis brevis, bei einem Patienten mit Karpaltunnelsyndrom

Die distale Latenz bei Prüfung der motorischen und in der Regel mehr noch der sensiblen Nervenleitung ist schon im Frühstadium stark verlangsamt. Später findet man im EMG Denervierungszeichen in den betroffenen, vom Medianus versorgten Muskeln. 3Therapie. Konservative Behandlung: Ruhigstellung durch dorsale Schiene und/oder wiederholte lokale Injektion von Lidocain und Prednisolon kann im Frühstadium Besserung bringen, auch für Wochen und Monate. Bei Rückfällen oder bei schwerem KTS ist operative Behandlung notwendig. Die Spaltung des Ligamentum carpi volare ist in den vielen Fällen nicht ausreichend, in denen eine rheumatische Tendosynovitis vorliegt. Hier muss eine sorgfältige Synoviektomie durch einen Handchirurgen erfolgen. Zunächst bessern sich die Sensibilitätsstörungen, später und nicht immer vollständig bessern sich die Atrophien und Paresen. ä Der Fall Seit Monaten bestehende nächtliche Schmerzen und Missempfindungen im rechten Arm, vor allem in der rechten Hand, führen eine Patientin von Mitte 40 zum Arzt. Außer einem leichten Übergewicht liegen keine Risikofaktoren vor. Sie berichtet, dass die Missempfindungen nachlassen, wenn sie den Arm schüttelt. Bei der neurologischen Untersuchung sind die Hirnnerven unauffällig, die Muskeleigenreflexe seitengleich, die Koordination regelrecht. Die Patientin gibt eine Sensibilitätsstörung an, die überwiegend die Berührungsempfindung auf der Volarseite der ersten drei Finger der rechten Hand betrifft. Bei der elektrophysiologischen Untersuchung (Elektroneurographie) findet man folgende Werte: Distale motorische Überleitung N. medianus zum M. abductor pollicis brevis 6,5 ms (pathologisch). Distale motorische Überleitung des N. ulnaris zum M. adductor pollicis 3,0 ms (normal). Maximale motorische Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus und des N. ulnaris am Unterarm 55 m/s bzw. 60 m/s (beide normal). Sensible, antidrome Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus, bei Ableitung am Zeigefinger 35 m/s (pathologisch), sensible antidrome Nervenleitgeschwindigkeit des N. ulnaris, bei Ableitung am kleinen Finger 55 m/s (normal). Klinische Symptome (nächtliche Parästhesien volar in den ersten drei Fingern, Armschmerzen) und elektrophysiologischer Befund beweisen das Vorliegen eines KTSs. Elektromyographisch war noch keine Denervierung in der medianusversorgten Handmuskulatur feststellbar. Trotz einer 3-wöchigen Ruhigstellung der Hand mit dorsaler Schiene kommt es nicht zu einer wesentlichen Besserung der Symptome, so dass eine hand-/neurochirurgische Operation erforderlich wird. Im Anschluss hieran ist die Patientin beschwerdefrei. Interessant ist, dass auch schon an der anderen Hand eine leichte Verzögerung der motorischen, distalen Latenz und der sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit vorliegt. Dieser Befund wird elektrophysiologisch überwacht, Symptome hat die Patientin an der linken Hand noch nicht entwickelt.

641 31.3 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis

31.3.9 N. ulnaris (C8–Th1) 3Innervation und Funktion 4 M. flexor carpi ulnaris: Beugung und Ulnarflexion der Hand. Prüfung: Beugung der Ulnarseite des Handgelenks gegen Widerstand auf den Kleinfingerballen, Abduktion des V. Fingers bei supinierter Hand. Dabei muss der Muskel den Abd. digit. V fixieren, und seine Sehne springt am Handgelenk deutlich sichtbar und palpabel an. 4 M. flexor digit. prof. (ulnarer Abschnitt): Beugung der Endphalangen IV und V. Prüfung in Supinationsstellung, zweckmäßig unter Fixation der Mittelphalanx. 4 M. abductor und opponens digit. V: Die Funktion ergibt sich aus dem Namen. Prüfung in Supinationsstellung: Abduktion gegen Widerstand an der Grund- oder Mittelphalanx. Opposition: Der Patient soll die Hand wie eine Schale halten und den V. Finger vor den IV. bewegen. 4 Mm. lumbricales III und IV: Beugung in den Grundphalangen, Streckung der übrigen Phalangen. Prüfung: Der Untersucher leistet der Beugung mit quer volar über die Grundphalangen gelegtem Zeigefinger Widerstand. Der Patient soll die Faust gegen leichten Widerstand auf die Mittel- und Endphalangen öffnen oder eine schnappende »Nasenstüberbewegung« mit den Fingern ausführen. 4 Mm. interossei: Die dorsalen spreizen, die volaren adduzieren die Finger. 4 M. adductor poll.: Adduktion von Metacarpus I. Prüfung: Der Patient soll einen flachen Gegenstand (Spatel, Notizbuch) zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten. Bei Parese des Muskels wird die ausgefallene Adduktion durch Beugung des Daumenendgliedes ersetzt (Froment-Zeichen, . Abb. 31.7). Sensible Innervation: Volar Finger V und ulnare Hälfte von IV, dorsal die ulnaren 2 Finger und angrenzende Hautgebiete nur der Hand. Der N. cut. antebrachii ulnaris entspringt nicht aus dem N. ulnaris, sondern direkt aus dem Plexus. 3Ursachen. Die Ulnarisparese ist die häufigste periphere Nervenlähmung. Sie entsteht meist durch mechanische Schädigung am Ellenbogengelenk (Sulcus-ulnaris-Syndrom). Bei Anomalien des Sulcus ulnaris und bei Cubitus valgus kann der Nerv sublu-

. Abb. 31.7. Froment-Zeichen links bei Drucklähmung des N. ulnaris im Sulcus ulnaris nach Ellenbogenfraktur. (A. Ferbert, Kassel)

31

xiert sein. Bei Arthrose im Ellenbogengelenk mit und ohne vorangehende lokale Traumen am Epicondylus ulnaris wird er mechanisch geschädigt. Die neurologischen Symptome können mit Latenz von Monaten bis vielen Jahren einsetzen. Bei bettlägerigen Patienten kommen Drucklähmungen am Ellenbogengelenk vor. Gelegentlich kann auch bei normalen anatomischen Verhältnissen die Beanspruchung durch fortgesetzte Beuge- und Streckbewegungen oder eine Druckschädigung durch Arbeiten mit aufgestütztem Ellenbogen zur Ulnarisparese führen (Beschäftigungslähmung). Die distalen Ulnarisparesen entstehen durch chronische Druckschädigung mit gleichzeitiger Hyperextension des Handgelenks bei Radfahrern, Motorradfahrern, Polierern usw. oder durch Druck von Werkzeugen. Der Ort der Läsion wird, vor allem als Vorbereitung für die chirurgische Therapie (s.u.), durch Elektroneurographie genau festgelegt. 3Läsionsorte und Symptome. Es gibt drei Lähmungstypen: Die vollständige, hohe Ulnarislähmung, das Sulcus-ulnaris-Syndrom und das Syndrom der Loge von Guyon. Vollständige Ulnarislähmung Die Parese der ulnaren Handbeugung hat funktionell nur geringe Bedeutung. Beim Versuch, die Finger zu beugen, bleibt das Endglied des V. und IV. Fingers gestreckt. Klinisch sind diese Symptome oft so gering, dass nur die elektromyographische Untersuchung die Beteiligung der vom N. ulnaris versorgten Unterarmmuskeln aufdeckt. Typisch und augenfällig ist die sog. Krallenhand, die auf dem Fortfall der Lumbricales-Funktion beruht: Da die Grundphalangen nicht mehr gebeugt werden, sind sie überstreckt. Da die Mittel- und Endphalangen nicht mehr gestreckt werden, sind sie leicht gebeugt. Die Haltungsanomalie ist besonders an den Fingern IV und V deutlich, die ausschließlich vom N. ulnaris und nicht auch vom N. medianus innerviert werden. Dies dient zur Differentialdiagnose gegen C7-Syndrom: Dabei fehlt die Hyperextension der letzten beiden Finger. Die Spatia interossea treten durch Muskelatrophie deutlich hervor. Bei reiner Ulnarislähmung fällt kein Eigenreflex aus. Gefühlsstörung s. oben. Sulcus-ulnaris-Syndrom Dies ist die häufigste Ulnaris-Läsion. Sie beruht auf einer Einengung des N. ulnaris in der Ulnarisrinne. Ausgeprägte Atrophie des Spatium interosseum I und des Hypothenar, Hakenstellung des 4. und 5. Fingers (. Abb. 31.8), Sensibilitätsstörungen an der ulnaren Handkante, auf dem 5. und halben 4. Finger. Geringe atrophische Parese auch der ulnaren Handbeuger. Die distale Betonung wird auf die topographische Anordnung der Nervenfasern in der Höhe des Sulcus ulnaris zurückgeführt, weil die Fasern für die kleinen Handmuskeln und die Sensibilität oberflächlicher verlaufen und so mechanischen Läsionen eher ausgesetzt sind. Elektroneurographisch sind die motorische und sensible NLG sowie die Überleitungszeit zum M. flexor carpi ulnaris verlangsamt.

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Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs Diagnostik von Lähmungen der großen Armnerven Typische Lähmungen der großen Armnerven sind leicht zu diagnostizieren. Kombinationsformen können Schwierigkeiten bereiten. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist die Untersuchung der Bewegungsfunktionen des Daumens: Bei Ulnarisparese besteht eine Adduktionsschwäche des Daumens (FromentZeichen positiv), bei Radialisparese kann der Daumen in der Handebene nicht abduziert werden, und die Sehne des M. ab-

ductor pollicis longus ist oberhalb des Handgelenks nicht zu tasten. Bei Medianusparese kann der Daumen nicht rechtwinklig zur Handfläche abduziert werden (Flaschenzeichen positiv), weil der M. abductor pollicis brevis paretisch ist, auch ist die Opposition des Daumens geschwächt: Der Patient kann nicht mit der Spitze des gestreckten Daumens das Grundglied des 5. Fingers berühren.

> Sulcus-ulnaris-Syndrom: Leicht zu diagnostizieren

und chirurgisch zu behandeln. Häufige Fehldiagnose: Wirbelsäulenbedingte Nervenwurzelkompression.

. Abb. 31.8. Muskelatrophien bei Sulcus-ulnaris-Syndrom. Nach operativer Dekompression des Nerven trat nur eine geringfügige Besserung der Motorik ein, während die sensiblen Reizsymptome aussetzten. (A. Ferbert, Kassel)

31

Syndrom der distalen Ulnarisloge (Loge von Guyon) Diese wird lateral vom Os hamatum, medial vom Os pisiforme begrenzt, palmar vom Retinaculum flexorum und vom M. palmaris brevis. Der N. ulnaris verläuft in diesem Tunnel (»Engpass«) zusammen mit der A. ulnaris und begleitenden Venen. Er teilt sich in dem Tunnel in einen oberflächlichen und tiefen Ast.. Je nach dem Ort der Schädigung sind alle motorischen Funktionen des N. ulnaris an der Hand betroffen (Ramus profundus). Selten kommt es zu einer Sensibilitätsstörung am Kleinfingerballen ohne motorische Störungen (Ramus superficialis). Häufig sind beide Äste lädiert. Wenn der Ramus profundus distal vom Os hamatum betroffen ist, bleibt der Hypothenar frei, und die schmerzfreie Parese betrifft nur die vom Ulnaris versorgten Thenarmuskeln und die Mm. interossei dorsales. Die Diagnose ist durch Registrierung der motorischen und sensiblen antidromen und orthodromen NLG möglich. 3Therapie. Bei chronischen Schädigungen im Sulcus ulnaris oder in der Guyon-Loge wird der Nerv mikrochirurgisch freigelegt. Bei der Operation findet man am Nerven oft starke Veränderungen: Adhäsionen, Neurome oder Strikturen, selbst wenn man präoperativ palpatorisch keine groben Auffälligkeiten feststellen konnte. Der Eingriff ist auch dann noch von Nutzen, wenn die Symptome bereits 1–2 Jahre lang bestanden haben. In 70–80% der Fälle tritt eine deutliche Besserung von Schmerzen und Parästhesien ein, in 50% Beschwerdefreiheit. Auch die motorischen Ausfälle können sich zurückbilden.

ä Der Fall Ein Patient hat ein schweres, offenes Trauma am rechten Unterarm erlitten, bei dem es außer zu Knochenbrüchen auch zu Verletzungen von Gefäßen und Sehnen kam. Bei der Wundversorgung schienen die Nerven intakt. Jetzt sind der Unterarm und die gesamte Hand, mit Ausnahme des Daumens, verbunden. Es ist eine dorsale Gipsschiene angelegt. Der Daumen ist frei. Die motorische Funktion der drei Unterarmnerven (Nn. medianus, ulnaris und radialis) kann durch eine einzige komplexe Daumenbewegung geprüft werden: Der Patient soll mit dem Daumen einen großen Kreis beschreiben. Hierbei werden nacheinander die Mm. extensores pollicis longus und brevis (N. radialis), der M. adductor pollicis (N. ulnaris), der M. opponens pollicis (N. medianus, manchmal N. ulnaris) und der M. abductor pollicis brevis (N. medianus) geprüft. Wenn die Kreisbewegung des Daumens möglich ist, kann keine größere motorische Lähmung der Armnerven vorliegen. Zusätzlich kann man am Daumen auch noch die Sensibilität von N. medianus und N. radialis prüfen.

31.4

Läsionen des Plexus lumbosacralis

3Anatomie. Der Plexus lumbosacralis wird aus Wurzeln der Segmente L1 bis S3 gebildet. Er verläuft vorwiegend im Retroperitonealraum (. Abb. 31.9). Er bildet die großen Beckengürtelund Beinnerven (Nn. glutaeus superior, glutaeus inferior, ischiadicus, obturatorius und femoralis). 3Ätiologie. Läsionen des Plexus lumbosacralis entstehen durch raumfordernde, retroperitoneale Prozesse (lokale Ausdehnung von Malignomen und Ansiedlung von Metastasen, Lymphomen, vom Knochen ausgehenden Tumoren und Abszessen). Bestrahlungsfolgen sind heute selten. Auch retroperitoneale Blutungen (z.B. das Psoashämatom bei Marcumarbehandlung) und lokale Traumen spielen in der Entstehung der Plexuslähmungen eine Rolle. Der Plexus sacralis ist bei Schwangerschaften und Prozessen im kleinen Becken betroffen. Eine entzündliche Plexusläsion in Analogie zur neuralgischen Schulteratrophie kommt vor, ist aber sehr viel seltener. Die

31

643 31.4 · Läsionen des Plexus lumbosacralis

. Abb. 31.9. Plexus lumbosacralis. 1 N. iliohypogastricus (Th12, L1); 2 N. ilioinguinalis (L1); 3 N. genitofemoralis (L1, L2), a R. femoralis, b R. genitalis; 4 N. cutaneus femoris lateralis (L2, L3); 5 N. femoralis (L2–L4), a Ast zum M. psoas, b Ast zum M iliacus, c Ast zum M. pectineus, d Ast zum M. sartorius, e Äste zum M. quadriceps femoris, f R. cutaneus anterior g N. saphenus; 6 N. obturatorius (L2–L4), a R. anterior, b R. posterior; 7 Truncus lumbosacralis (L4, L5); 8 N. glutaeus superior (L5–S2); 9 N. glutaeus inferior (L5–S2); 10 Rr. musculares des Plexus sacralis zu den Mm. piriformis, gemelli, quadratus femoris und obturatorius internus; 11 N. ischiadicus (L4–S3), a Peronäusanteil, b Tibialisanteil, c Rr. musculares zu den ischiokruralen Muskeln; 12 N. cutaneus femoris posterior (S1–S3); 13 N. pudendus (S2–S4); 14 Nn. anococcygei (S3–C0); 15 Plexus lumbalis (Th12–L4); 16 Plexus sacralis (L4–S4); 17 Plexus coccygeus (S3–C0). (Müller-Vahl u. Schliack; in Kunze 1992)

I 1

II

15

2

III

3

IV

5a

V

5b 7 4

I

5

II

3a

III

3b 6

IV

5c

16

V Co

8 9 10 11 12 13 14

17

5d 5e 6a 6b 5f

11a 11b 11c

5g

Symptome sind vergleichbar: Einer Phase von ziehenden Schmerzen folgt die Ausprägung von atrophischen Paresen. Behandlung wie bei der neuralgischen Schulteratrophie (Kortison in der akuten Phase). 3Symptome. Paresen der Hüftbeuger und -rotatoren, der Kniestrecker und der Adduktoren des Oberschenkels sind charakteristisch für Läsionen des Plexus lumbalis, der aus den Wurzeln L1–4 entsteht. Die ischiokrurale Muskulatur, die Fußheber und -strecker und die kleine Zehenmuskulatur sowie die Gesäßmuskeln sind bei Läsionen des sakralen Anteils des Plexus betroffen. Die Sensibilitätsstörungen entsprechen der Verteilung der betroffenen, peripheren Nerven.

3Diagnostik. CT und MRT des kleinen Beckens und des Retroperitonealraums stehen im Vordergrund. Durch elektrophysiologische Methoden lässt sich die Beteiligung einzelner Nerven an der Plexusläsion nachweisen, ebenso wie die Differentialdiagnosen gegen multiple Wurzelläsionen (dort Denervierung in der paraspinalen Muskulatur) stellen. Der Schweißtest hilft ebenfalls, die Wurzelläsion von der Plexusläsion zu unterscheiden, da bei lumbalen Wurzelläsionen vegetative Fasern nicht betroffen sind. 3Differentialdiagnose bei doppelseitigenseitiger Plexus lumbosakralis-Läsion. Elsberg-Syndrom (7 Kap. 32.5.4), multiple, radikuläre Syndrome bei Wirbelsäulenmetastasen oder Menin-

644

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

geosis carcinomatosa (7 Kap. 11.13.3 Diagnose über Liquor und bildgebende Verfahren) und Verschluss der Beckenarterien (Leriche-Syndrom, 7 Kap. 10.1.3). 31.5

Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis

31.5.1 N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3) 3Sensible Innervation. Laterale Vorderseite des Oberschenkels und angrenzender Bezirk der Außenseite. 3Symptome. In diesem Nerven entsteht nicht selten ein Reizzustand, die Meralgia paraesthetica. Die Patienten empfinden spontan Parästhesien (Taubheitsgefühl, Ameisenlaufen) in dem beschriebenen Versorgungsgebiet. Meist ist die Haut für leichte Berührung, z.B. durch die Wäsche, überempfindlich. Die Beschwerden sind bereits in Ruhe vorhanden. Sie nehmen beim Gehen gewöhnlich zu. Bei der Untersuchung findet sich häufig eine Hypästhesie. Noch häufiger ist die schmerzlose, intermittierende Hypästhesie im Territorium dieses Nerven, die bei übergewichtigen Personen nach langem Sitzen (Flugzeug, Auto) auftritt.

31

3Ursachen. Der Nerv kann mechanisch durch Tumoren im Becken oder durch eine abnorme Enge an seiner Durchtrittsstelle unter dem Leistenband, nahe der Spina iliaca anterior superior, lädiert werden. Hier kann er auch durch Bruchbänder eine Druckschädigung erleiden. Er ist dann dort klopfempfindlich. Die Meralgie tritt auch als Schwangerschaftsparästhesie auf und wird in gleicher Weise erklärt wie das Karpaltunnelsyndrom. Man könnte analog von einem Inguinaltunnelsyndrom sprechen. Die Meralgie gehört also zur Gruppe der bereits erwähnten Kompressionssyndrome peripherer Nerven. Ob die früher viel diskutierten Ursachen Infektionskrankheiten oder Diabetes wirklich eine Rolle spielen, ist zweifelhaft. 3Therapie. Nach Ausschluss einer raumfordernden Ursache soll man die Patienten vor allem auf die Harmlosigkeit der Störung hinweisen und mit lokalen Maßnahmen, wie Infiltration mit Scandicain 1% o.Ä. unter das Leistenband in der Region der Spina iliaca anterior, behandeln. In schweren Fällen kann man eine Neurolyse vornehmen. Der Eingriff beseitigt aber die Beschwerden nicht mit Sicherheit. 31.5.2 N. femoralis (L2–L4) 3Innervation und motorische Versorgung 4 M. iliopsoas: Vor allem Beugung des Oberschenkels im Hüftgelenk. Prüfung: Am liegenden Patienten wird das Bein passiv im Hüft- und Kniegelenk rechtwinklig gebeugt und am Un-

terschenkel vom Untersucher getragen. Gegen Widerstand oberhalb des Knies soll der Patient das Bein weiter im Hüftgelenk beugen. 4 M. quadriceps femoris: Streckung des Unterschenkels im Kniegelenk. Prüfung ebenfalls im Liegen: Strecken des leicht gebeugten Kniegelenkes oder bei etwas angehobenem Bein Festhalten der Streckung gegen Druck auf den Unterschenkel. Der Patellarsehnenreflex ist abgeschwächt oder erloschen. Sensibles Versorgungsgebiet: Vorderseite des Oberschenkels (N. cut. fem. ant.) und Innenseite des Unterschenkels (N. saphenus). 3Ursachen. Druckschädigungen durch Tumoren im Becken, Bruchbänder oder unsachgemäß angelegte Haken bei gynäkologischen Operationen. Bei Appendektomie oder Herniotomie können Schnittverletzungen vorkommen. Der N. femoralis kann bei retroperitonealer raumfordernder Läsion oder Blutung in den M. iliopsoas geschädigt werden. Der N. femoralis verläuft nach Austritt aus dem Plexus lumbalis im Psoasmuskel distalwärts in der Psoasrinne unter der straffen Fascia iliaca. Hier können Hämatome geringer Ausdehnung zu einer Kompression führen. Sie werden im Computertomogramm nachgewiesen. Bei Hämatomen ist die sofortige operative Entlastung notwendig. Führendes Symptom ist dann ein ausstrahlender Schmerz, rasch gefolgt von schwerer Lähmung. Häufige Ursache: Zu hohe Dosierung der Antikoagulation. Femoralislähmungen treten auch als Strahlenfolge nach Bestrahlung von Tumoren im kleinen Becken auf. 3Symptome. Hier und bei den weiteren Nerven sind nur die motorischen Symptome beschrieben. Die sensiblen ergeben sich aus den anatomischen Angaben. Meist ist der Nerv distal vom Abgang der Äste zum Iliopsoas geschädigt, so dass nur der M. quadriceps gelähmt ist. Die Patella steht tiefer und ist abnorm beweglich. Das Aufstehen aus dem Sitzen ist erschwert Im Stehen biegt sich bei stärkerer Parese des Muskels das Knie nach hinten durch (Bajonettphänomen). Ist der Nerv in seinem proximalen Verlauf im Becken geschädigt, kann der Oberschenkel nicht in der Hüfte gebeugt werden. Beim Gehen auf der Ebene wird das Bein aus der Hüfte, im Kniegelenk gestreckt, nach vorn geschwungen. Zum Steigen kann das Bein nicht gehoben werden, beim Hinabsteigen knickt der Kranke im Knie ein. Der PSR ist abgeschwächt oder erloschen. Die Sensibilität ist in dem angegebenen Gebiet gestört. Das Aufsetzen aus dem Liegen ist erschwert. Der M. quadriceps femoris atrohiert schnell. 31.5.3 N. glutaeus superior (L4–S1) 3Motorische Innervation und Funktion. Mm. glut. medius und minimus: Abduktion und Innenrotation im Hüftgelenk.

645 31.5 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis

Beim Gehen hält der M. glutaeus medius das Becken auf der Seite des Standbeins in der Horizontale. Eine leider nicht seltene Ursache ist die Schädigung des Nerven durch unsachgemäße, intramuskuläre Injektion. Schmerzen oder Gefühlsstörungen kommen dabei nicht vor, da der Nerv rein motorisch ist. 3Untersuchung und Symptome. Im Falle einer Glutaeus-medius-Parese kann das Becken beim Stehen auf einem Bein nicht mehr horizontal fixiert werden und sinkt auf der Gegenseite ab (Trendelenburg-Zeichen). Bei doppelseitiger Lähmung entsteht der sog. Watschelgang. Die Gesäßwölbung ist auf der gelähmten Seite zentral tellerförmig eingefallen. 31.5.4 N. glutaeus inferior (L5–S2) 3Motorische Innervation. M. glut. maximus: Streckung des Oberschenkels im Hüftgelenk. 3Untersuchung. Der Patient soll in Bauchlage das Gesäß anspannen. Bei Lähmung des Muskels ist eine Seitendifferenz deutlich. Dann wird die Hebung des Beines gegen Widerstand und in Rückenlage soll das gestreckte Bein nach unten gedrückt werden. 3Symptome und Ursachen. Die Gesäßhälfte ist atrophisch und steht tiefer als auf der gesunden Seite. Treppensteigen und Aufrichten aus dem Sitzen sind erschwert und bei doppelseitiger Parese unmöglich. Eine Isolierte Parese ist äußerst selten. Der Nerv kann bei Tumoren im Becken und bei Kaudalähmung mitgeschädigt werden. 3Differentialdiagnose. Die Differentialdiagnose ist in erster Linie gegen angeborene Hüftluxation und gegen progressive Muskeldystrophie zu stellen. 31.5.5 N. obturatorius (L2–L4) 3Motorische Innervation. Adduktorengruppe: (Mm. obturatorius externus, pectineus, adductor brevis und longus, adductor magnus, gracilis). Adduktion in der Hüfte, Außenrotation, Beugung und Innenrotation im Knie. 3Untersuchung. Überprüfung in Rückenlage: gestreckte Beine adduzieren, in Seitenlage: erhobenes Bein adduzieren. Der Adduktorenreflex ist abgeschwächt oder ausgefallen. Schmerzen können im medialen Kniegelenk durch Läsion des sensiblen R. posterior (sensibler Gelenkast) auftreten.. Der Nerv kann bei Beckenfrakturen, Hernien und Metastasen lädiert werden.

31

31.5.6 N. ischiadicus (L4–S3) 3Anatomische Vorbemerkung. Der N. ischiadicus teilt sich in wechselnder Höhe, oft schon am Oberschenkel, in den N. peronaeus und den N. tibialis. Bei inkompletten Läsionen ist der Peronäusfaszikel meist stärker betroffen als der Tibialisfaszikel. Ist der Nerv im Ganzen gelähmt, besteht eine kombinierte Peronäus- und Tibialislähmung. Unterschenkel und Fuß sind im Ganzen atrophisch. Beugung und Streckung sind paretisch, so dass der Fuß nicht mehr fixiert werden kann. Das Bein kann beim Gehen nicht mehr als Stützbein eingesetzt werden. Rasch entwickeln sich erhebliche, trophische Störungen im Tibialisbereich, weil der Nerv viele vegetative Fasern enthält. 3Innervation. Bei hoher Ischiadikusläsion sind folgende (neben den von Peroneus und Tibialis versorgten) Muskeln ausgefallen: 4 Mm. obturator externus, gemelli und quadratus femoris: Außenrotation des Oberschenkels im Hüftgelenk. Prüfung: in Rückenlage bei gebeugtem Knie, um die Rotation im Kniegelenk auszuschalten. 4 Mm. biceps femoris, semitendinosus, semimembranosus: Beugung des Unterschenkels im Kniegelenk. Prüfung in Rückenoder Bauchlage. Bei der Beugeinnervation springt die Sehne des M. biceps lateral, die des semitendinosus medial an. Sensibles Versorgungsgebiet: Rückseite des Oberschenkels. 3Ursachen. Traumatisch: Luxation im Hüftgelenk, aber auch Einrenkung einer solchen Luxation, Frakturen im Hüftgelenk und am Oberschenkel. Unsachgemäße, intramuskuläre Injektion: Dabei sind Sofortschmerz und Sofortlähmung beweisend für die Fehlinjektion, diese Symptome sind aber nicht obligat. Die Schmerzen können mit stundenlanger Latenz einsetzen oder ausbleiben, und auch die Lähmung entwickelt sich oft erst innerhalb von 24 Stunden. Eine Ischiadikusschädigung kann durch einen Tumor der Wirbelsäule oder im kleinen Becken entstehen. Der N. ischiadicus ist bei den meisten Polyneuropathien beteiligt. 3Symptome. Zusätzlich zu den Störungen von Peronäus und Tibialis ist die Funktion des Standbeins beim Gehen erheblich beeinträchtigt. Der periphere Ort der Schädigung, im Gegensatz zum radikulären, der das Lähmungsbild imitieren kann, lässt sich mit dem Ninhydrintest nachweisen. Nur bei peripherer Läsion kommt es zu einer Beeinträchtigung der Schweißsekretion auf der Fußsohle. 31.5.7 N. peronaeus (L4–S2) Der Nerv hat zwei Äste, den N. peronaeus superficialis und den N. peronaeus profundus.

646

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

3Innervation. N. peronaeus superficialis: 4 Mm. peronaei an der Außenseite des Unterschenkels: Pronation (= Hebung) des äußeren Fußrandes. N. peronaeus profundus: 4 M. tibialis anterior: Extension (= Anheben) und Supination des Fußes. Bei der Prüfung tritt der Muskel am proximalen Abschnitt der Tibia deutlich hervor. 4 M. extensor digit. longus et brevis: Extension der Zehen II–V im Grundgelenk. Bei der Prüfung treten die Strecksehnen auf dem Fußrücken deutlich hervor. 4 M. extensor hall. longus: Streckung der Großzehe im Grundgelenk. Sie wird gesondert geprüft. Auch hier achtet man auf die Anspannung der Sehne Sensibles Versorgungsgebiet: Außenseite des Unterschenkels und proximaler Abschnitt des Fußrückens (N. peronaeus superfizialis) und ein dreieckiger Hautbezirk vor den Zehen I und II (N. peronaeus profundus).

31

3Ursachen. Druckschädigung des Nerven am Wadenbeinköpfchen entsteht vor allem bei unsachgemäßer Lagerung des Kranken in bewusstlosem Zustand und durch zu hoch angelegte Gipsverbände. Der Nerv kann bei Fibulakopffrakturen und Luxationen des Kniegelenks überdehnt oder eingerissen werden. Nicht selten wird er bei längerem Sitzen mit überkreuzten Oberschenkeln (crossed legs palsy) oder bei andauernder Hockstellung durch Druck geschädigt. Bei sportlichen Übungen, besonders beim Hoch- und Weitsprung, kann er akut überdehnt werden. Bei der alkoholischen Polyneuropathie ist der N. peronaeus oft besonders stark betroffen. 3Untersuchung und Symptome. Anheben des äußeren Fußrandes gegen Widerstand oder Plantarflexion gegen leichten Widerstand. Bei Peronäuslähmung kippt der äußere Fußrand während der Plantarbewegung nach unten innen ab. Die Supinationsstellung des Fußes ist schon im Liegen zu erkennen. Die Atrophie der prätibialen Muskeln ist deutlich sichtbar, die der Mm. peronaei ist oft nur zu tasten. Sobald der N. peronaeus profundus gelähmt ist, besteht ein Spitzfuß. Der Patient kann den Fuß nicht anheben und nicht auf den Fersen gehen. Beim Gehen zeigt sich der sog. Steppergang oder Hahnentritt: Der Fuß hängt herab, und der Kranke muss das Schwungbein verstärkt im Knie beugen, um den Ausfall der Fußheber auszugleichen. Bei reiner Peronäuslähmung ist der ASR nicht ausgefallen, da der Reflexbogen über den N. tibialis verläuft. Auch bei hochliegender Ischiadikusläsion, z.B. bei Spritzenläsionen oder Verletzungen, kann die Peronäusportion des Nerven, die schon im Becken topographisch getrennt vom späteren N. tibialis verläuft, isoliert betroffen sein. 3Differentialdiagnose. Mit einer Peronäusparese wird leicht das Kompartment-Syndrom der Tibialisloge (7 Kap. 34.8) verwechselt.

4 Wurzelläsion L5: Auch der Gluteus medius ist beteiligt, nicht aber die Zehenextensoren. 4 Der Spitzfuß bei zentraler Beinlähmung bleibt ohne Atrophie der prätibialen Muskulatur. Er entsteht durch Überwiegen im Tonus der Fußstrecker. Der ASR ist meist gesteigert. Beim Gehen tritt kein Steppergang sondern eine Zirkumduktion auf. 4 Zur Unterscheidung von psychogener Lähmung fasst man den Patienten im Stehen bei den Händen und wiegt seinen Körper nach vorn und rückwärts. Bei psychogener Lähmung springen die Sehnen auf dem Fußrücken durch unwillkürliche Gegeninnervation an.

31.5.8 N. tibialis (L4–S3) 3Innervation 4 M. triceps surae (Mm. gastrocnemius und soleus): Plantar-

flexion des Fußes. Bei der Prüfung springt der Muskelbauch deutlich hervor. 4 M. tibialis posterior: Adduktion und Supination des Fußes. 4 Mm. flexor digit. et hall. long.: Beugung der Endphalangen der Zehen. Mm. flexor digit. et hall. brev.: Beugung der Mittelphalangen I–V. 4 Kleine Fußmuskeln: Spreizung und Adduktion der Zehen, Beugung der Grundphalangen. Prüfung: Der Patient soll aus der Fußsohle »eine Schale machen«. Sensibles Versorgungsgebiet: Wade, Fußsohle und Beugeseite der Zehen. Bei Sensibilitätsstörungen entstehen in diesem Bereich häufig erhebliche, trophische Störungen. 3Symptome. Wade und Fußgewölbe sind atrophisch. Die Zehen bekommen durch Überwiegen der Extensoren eine Krallenstellung. Der Fuß ist im ganzen proniert. Die Achillessehne ist erschlafft, ASR und Tibialis-posterior-Reflex sind abgeschwächt oder ausgefallen. Der Patient kann nicht auf den Zehen gehen und stehen. Beim Gehen wird der Fuß nicht abgerollt. Die veränderte Statik des Fußgewölbes führt zu erheblichen Schmerzen beim Gehen. Analog zur Krallenhandbildung bei der Ulnarislähmung gibt es eine Krallenfußbildung bei distaler Tibialislähmung. Dabei bestehen Sensibilitätsstörungen an der Fußsohle sowie Anhidrose. Bei distaler Läsion des Nerven bleibt der ASR erhalten. 3Ursachen. Verletzungen am Kniegelenk, distale Tibiafrakturen (nur Endäste des Nerven), Beschäftigungslähmung bei längerem Arbeiten an Geräten, die mit dem Fuß bedient werden. Tarsaltunnelsyndrom Auf einer Kompressionsschädigung des N. tibialis in seinem Endabschnitt beruht das Tarsaltunnelsyndrom. Der Nerv verläuft in seinem distalen Abschnitt hinter dem Malleolus internus, bedeckt vom Ligamentum lanciniatum.

647 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

31

Exkurs Verlauf der spontanen Regeneration Bei einer traumatischen Nervenschädigung lässt sich diese mit dem Hoffmann-Klopfzeichen verfolgen: Die auswachsenden Achsenzylinder sind auf Druck und Beklopfen überempfindlich. Dabei entstehen Kribbelparästhesien im sensiblen Versorgungsbereich des gereizten Nerven. Man kann deshalb die Nervenregeneration dadurch verfolgen, dass man regelmäßig den Verlauf des Nerven mit dem Finger oder mit einem Perkussionshammer von distal nach proximal leicht beklopft. Im Verlaufe der Regeneration des Nerven stellt man dabei fest,

dass sich die Stelle der Klopfempfindlichkeit allmählich nach distal verschiebt. Geschieht dies bald nach der Läsion und kontinuierlich, sind die Aussichten auf eine Rückbildung gut. Bleibt das Klopfzeichen distal von der Verletzung auch nach Wochen noch aus, ist die Prognose ungünstig. Man rechnet mit einer Regenerationsgeschwindigkeit von 1 mm/Tag. Das würde bei totaler, idiopathischer Fazialisparese etwa 4 Monate und bei einer Ulnarisläsion am Ellenbogengelenk fast ein Jahr bedeuten.

3Symptome. Nach Fußdistorsionen, Malleolarfrakturen oder spontan kommt es zu brennenden Schmerzen im sensiblen Versorgungsgebiet des Nerven auf der Fußsohle, besonders beim Gehen. Später treten sensible Ausfälle und Paresen der kleinen Fußmuskeln hinzu. Oft kann man im Ninhydrintest eine Schweißsekretionsstörung an der Fußsohle feststellen.

Medikamentöse Therapie Medikamentös gibt man bei Bedarf Schmerzmittel, bei neuropathischem Schmerz Carbamazepin oder Gabapentin. Die Verordnung von Vitaminen ist bei allen Nervenläsionen, die nicht auf Vitaminmangel beruhen, d.h. in der großen Mehrzahl der Fälle, sinnlos.

3Therapie. Zur Behandlung wird, ähnlich wie beim Karpaltunnelsyndrom, das Ligamentum lanciniatum gespalten.

Stimulationsverfahren Diese können zur Behandlung chronischer Schmerzen nützlich sein. Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) hat Erfolge zwischen 30% und 50%, was innerhalb der Plazeborate bzw. leicht darüber liegt.

31.6

Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen

31.6.1 Konservative Therapie

31.6.2 Operative Behandlung

Krankengymnastik und Thromboseprophylaxe In dem Maße, in dem es chirurgisch vertretbar ist, werden so früh wie möglich die betroffenen Gelenke täglich mehrmals passiv bewegt, um sekundären Versteifungen vorzubeugen, die die Heilung um Monate verzögern können. Soweit möglich werden auch aktive Innervationsübungen mehrmals täglich ausgeführt. Dabei ist es günstig, eine Extremität durch gleichzeitige Kontraktion der (gesunden) kontralateralen Muskeln zu trainieren (cross education). Bei Lähmungen der Beine ist diese Bewegungsbehandlung auch zur Thromboseprophylaxe unerlässlich. Bei Paraplegie gibt man Heparin. Die Wirksamkeit der weit verbreiteten Elektrotherapie ist nicht nachgewiesen.

Nervennähte werden heute bei offenen Verletzungen entweder sofort als primäre oder 3–4 Wochen nach einer Verletzung als frühe Sekundärnaht ausgeführt, da dann eine Heilung oder erhebliche Besserung erwartet werden kann. Nach geschlossenen Verletzungen (Druckläsionen, Spritzenlähmungen usw.) kann man nach 2–3 Monaten eine operative Freilegung des Nerven und mikrochirurgische interfaszikuläre Neurolyse durchführen, d.h. Freipräparierung der Nervenfaszikel von Bindegewebswucherungen. Der Eingriff ist indiziert, wenn die Lähmung dann noch komplett ist und keine Zeichen einer Reinnervation zu erkennen sind. Daneben gibt es eine ganze Reihe von hochwirksamen Umstellungsoperationen, die hier nicht besprochen werden können und in das Gebiet der Neurochirurgie, der Orthopädie oder auch der akademischen plastischen Chirurgie gehören.

Lagerung Wichtig ist eine zweckmäßige Lagerung der gelähmten Gliedmaßen mit Abduktionsschienen, Armschlingen, Sandsäcken (zur Vermeidung der Außenrotation des Beines), Knierolle und Fußkasten, um Gelenkversteifungen in Fehlstellungen zu vermeiden. Bei Radialislähmung: Schienung im Handgelenk, bei Peronäuslähmung orthopädischer Schuh mit Peronäusfeder zum Erhalt der Gebrauchsfähigkeit und gegen die Gefahr der Überdehnung von Muskeln und Sehnen durch Fallhand und Fallfuß.

31.7

Erkrankungen der Bandscheiben

Vorbemerkungen Große, mediale Bandscheibenvorfälle sind extradurale, raumfordernde Läsionen (7 Kap. 11), die allerdings auch durch die Dura herniieren können und dann intradural-extraaxial liegen. Auch Sequester der dorsolateralen Bandscheibenvorfälle können nach

648

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs Vitaminbehandlung bei peripheren Nervenlähmungen? Die Bezeichnung des Vitamins B als »Aneurin« darf nicht zu Fehlschlüssen verleiten. Thiamin ist in phosphorylierter Form als Co-Carboxylase für die Funktion des Nerven unentbehrlich. Thiaminmangel führt zur Inaktivierung des Na+-Transportsystems, zur Lähmung und im EMG zur Erniedrigung der Aktionspotentiale. Diese Symptome werden durch Thiamin beseitigt. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Zufuhr von Vitamin B1 oder gar Vitamin-B-Komplex eine Nervenschädigung anderer Genese in irgendeiner Weise beein-

31

intradural gelangen. Dennoch besprechen wir die Bandscheibenkrankheiten bei den Läsionen peripherer Krankheiten, da sie auf neurologischem Gebiet viel häufiger durch lokale oder radikuläre Schmerzen und durch Nervenwurzelläsionen symptomatisch werden. Wurzelläsionen und Bandscheibenvorfälle werden heute überdiagnostiziert. Sehr häufig werden Rückenschmerzen und Veränderungen der Wirbelsäule, wie sie im mittleren und höheren Lebensalter häufig zu finden sind, fälschlich von Patienten und vielen Ärzten als Bandscheibenschaden bezeichnet, und es wird ohne zutreffende Indikation zur Operation geraten. Hat ein Patient Beschwerden und Symptome an den Extremitäten, wird zu häufig eine lumbale, spinale Computertomographie ausgeführt, oft ohne ausführliche Exploration und körperliche Untersuchung. Auch minimal-invasive Verfahren wie Chemonukleolyse sind Operationen, und auch, wenn mit dem »Laser« operiert werden soll, muss dafür eine vernünftige Indikation bestehen. Aus hartnäckigen Rückenschmerzen lässt sich nur selten eine Indikation zur Operation ableiten. Die Symptome der medialen und dorsolateralen Bandscheibenvorfälle sind klar definiert. 3Definitionen: Bandscheibenprotrusion und Bandscheibenvorfall. Wir unterscheiden Vordringen (Protrusion) oder Vorfallen (Prolaps) des Nucl. pulposus einer Bandscheibe sowohl nach medial, mediolateral oder lateral. In allen Fällen kann es zur Wurzelkompression kommen. Bei der Protrusion werden Ligament und Dura nur vorgewölbt, der Prolaps perforiert dagegen den Bandapparat. Losgelöste Bandscheibenteile, die in den Spinalkanal ausgestoßen werden, nennt man Sequester. Die Lokalisation ist aus biomechanischen Gründen meist in der unteren Lendenwirbelsäule und in der unteren Halswirbelsäule. Die Brustwirbelsäule ist dagegen selten betroffen. Ursache des medialen Bandscheibenvorfalls (BSV) ist ein plötzliches dorsomedianes Aufbrechen des Anulus fibrosus (. Abb. 31.10), in dessen Folge der Nucl. pulposus abrupt breit in den Spinalkanal vordringt und die Nervenwurzeln quetscht. Aus mechanischen Gründen kommt der akute, mediale Bandscheibenvorfall vor allem an der unteren Lendenwirbelsäule vor. Der mediale Bandscheibenvorfall ist viel seltener als der dorsolaterale.

flusst. Die Behauptung, dass die Vitamine B1, B6 und B12 einen analgetischen oder sonst einen über die Substitution bei Vitaminmangel hinausgehenden pharmakologischen Effekt hätten, ist unzutreffend. Die häufig üblichen Gaben von extrem hohen Dosen wie z.B. 100 mg B1 intravenös (therapeutische Dosis bei der Vitaminmangelkrankheit) täglich mehrmals 5 mg per os) oder 1000–5000 µg B12 (Tagesbedarf etwa 10 µg) sind eine übermäßig teure Plazebotherapie. Das überzählige Vitamin wird renal ausgeschieden und soll zumindest Mücken vertreiben.

Ätiologie und Pathogenese sind für beide Formen gleich, die Symptome und auch Therapieoptionen unterscheiden sich. 31.7.1 Zervikaler oder thorakaler, medialer

Bandscheibenvorfall Beide Formen sind sehr selten. Eine akute Querschnittssymptomatik mit erheblichen Schmerzen und reflektorischer Steilhaltung der Wirbelsäule in der betroffenen Region sind typisch. Die Patienten wagen es nicht, den Kopf oder Rumpf zu bewegen. Traumatische BSV setzen eine Wirbelluxation voraus und können eine komplette Querschnittslähmung hervorrufen (Differentialdiagnose: Contusio spinalis). Die Sicherung der Diagnose erfolgt über MRT und CT. Degenerative Bandscheibenkrankheiten führen selten zu einem kompletten Ausstoß der Bandscheibe in den Spinalkanal, weil appositionelle, degenerative Veränderungen die Bandscheibe meist im Fach halten und nur ein Teil des Materials herniiert. Wenn der Spinalkanal durch Spondylarthose schon relativ eng geworden ist, kann allerdings auch ein nur verhältnismäßig kleiner Sequester eine akute spinale Symptomatik hervorrufen. Chronische, z.T. multisegmentale Bandscheibendegeneration mit protrusionen, knöchernen und ligamentären Veränderungen führen zur zervikalen Myelopathie (s.u.). 31.7.2 Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall Zervikale, laterale BSV sind viel seltener als die lumbalen (s.u.), haben aber die gleiche Pathogenese. 3Symptome. Schmerzen und Sensibilitätsstörungen entsprechen bei BSV oft nicht dem betroffenen Segment, sondern werden höher oder tiefer angegeben. 3Diagnose. Oft findet sich die Bandscheibenprotrusion nicht am Ort der stärksten Knochenveränderungen auf der Nativaufnahme. Auch hier kann mit Hilfe von EMG, SEPs und Reflexwellenuntersuchung eine topographische und differentialdiagnosti-

649 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

Exkurs Zervikale, radikuläre Symptome An der HWS kommen Bandscheibenvorfälle vorwiegend in den dialis, auch in den Mm. supraspinatus und infraspinatus. Der unteren Bewegungssegmenten vor. Eine Schädigung der einBSR kann abgeschwächt oder aufgehoben sein. zelnen, zervikalen Wurzeln ist an folgenden, speziellen SympC6: Schmerzen und Gefühlsstörungen lateral am Oberarm sowie tomen zu erkennen: an der radialen Seite des Unterarms, bis zum Daumen ausC1: In diesem Segment gibt es im Allgemeinen keine Hinterstrahlend. Paresen in den Mm. biceps brachii und brachiorawurzel. dialis. Der BSR und der RPR sind häufig abgeschwächt oder C2: In diesem Segment besteht kein Zwischenwirbelloch. Der aufgehoben. Wurzelnerv durchbohrt die Membran zwischen AtlasboC7: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der dorsalen Fläche gen und Axis. Kompressionen von C2 beruhen auf anatodes Oberarms und des Unterarms bis in Zeige- und Mittelfinmischen Abweichungen oder Subluxationen zwischen C1 ger. Paresen und Atrophien vor allem im M. triceps, fakultativ und C2. Extensorenparese und Flexorenparese in den radialen FinC2/ Nach okzipital ausstrahlende Sensibilitätsstörungen und gern, auch Parese und Atrophie der Daumenballenmuskeln. C3: Schmerzen, oft als »Okzipitalisneuralgie« fehldiagnostiziert, TSR deutlich herabgesetzt oder fehlend. dabei auch Schmerzausstrahlung zur SubmandibulargeC8: Schmerzen an der medialen Fläche des Oberarms, der ulnagend. Häufig Verspannung der Nackenmuskulatur mit ren Seite des Unterarms und der Hand. Parese und Atrophie Zwangshaltung des Kopfes. in den kleinen Handmuskeln, insbesondere im Hypothenar. C4: Zwerchfellparese mit Ausbuchtung der Diaphragmakuppel. Die Parese zeigt sich im Frühstadium in einer erschwerten C5: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der Schulter sowie Abduktion des kleinen Fingers. In schweren Fällen bildet sich der Vorderseite des Oberarms. Paresen und Atrophien, vor eine Krallenhand aus, ähnlich wie bei der Ulnarisparese. allem in den Mm. deltoides, biceps brachii und brachioraAbschwächung des Trizepssehnenreflexes.

. Abb. 31.10a–d. Schematische Darstellung der Bandscheibendegeneration. a Normale Bandscheibe, b Diskusprotrusion, c lateraler Diskusprolaps, d medialer Diskusprolaps. (Mod. nach H. Krayenbühl und E. Zander, aus Fröscher 1991)

aa

b b

cc

dd

31

650

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Zwischenwirbelraums und zur Gefügelockerung. Diese Vorgänge lösen reaktive, degenerative Veränderungen an den Wirbelkörpern aus, die zu osteophytischen Wucherungen und Knochenleisten führen, die die Zwischenwirbellöcher und den Spinalkanal einengen. Dadurch werden Nervenwurzeln und Rückenmark bewegungsabhängig traumatisiert. Die Einengung des Spinalkanals kommt ferner durch Vordringen der degenerierten Bandscheibe(n) nach dorsal zustande. Das Mark wird bei Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen der HWS direkt mechanisch und sekundär durch Einengung des arteriellen Blutzuflusses und des venösen Blutabflusses geschädigt. Dieser Prozess wird durch eine abnorme Enge des Spinalkanals begünstigt (normalerweise Wirbelkörpertiefe: Tiefe des Spinalkanals = 1:1). Nimmt der Röntgendurchmesser des Spinalkanals unter 13 mm ab, besteht die Gefahr der chronischen, zervikalen Myelopathie.

. Abb. 31.11. Bandscheibenvorfall zwischen HWK 4 und 5 im MRT (T1). Neurologisch: Schulterschmerzen und Reflexsprung: Eigenreflexe der Beine deutlich lebhafter als die der Arme. (A. Thron, Aachen)

31

sche Aussage gemacht werden. Am besten stellen sich zervikale Bandscheibenvorfälle im MRT dar (. Abb. 31.11). Manchmal kann die Myelographie mit Myelo-CT notwendig werden, um die Indikation zur Operation zu stellen. 3Therapie. Die so oft propagierte chiropraktische Behandlung der Schulter-Arm-Schmerzen halten wir für gefährlich. Chiropraktische Maßnahmen können durch Dissektionen zu Infarkten im Vertebralis-Basilaris-Stromgebiet führen, weil die Intima der A. vertebralis am Atlanto-Axialgelenk lädiert wird. Die konservative Behandlung ist wie bei den lumbalen BSV und wird dort besprochen. Operative Behandlung: Ein durch Myelographie oder MRT nachgewiesener BSV wird oft von ventral her ausgeräumt, und die benachbarten Wirbel werden mit Kunststoff oder Knochenspan miteinander fusioniert (Operation nach Clowert). Dieser Eingriff, der auch nach Luxation der HWS indiziert ist, hat den großen Vorteil, dass der Patient ohne weitere Ruhigstellung nach wenigen Tagen aufstehen kann. Liegen multiple Bandscheibenprotrusionen bei engem Spinalkanal vor, wird durch einen entlastenden Eingriff von dorsal (Laminektomie über mehrere Segmente) Platz für das Rückenmark geschaffen. 31.7.3 Zervikale Myelopathie 3Pathogenese. Degeneration der Bandscheiben kommt an der Halswirbelsäule vor allem in den unteren Abschnitten zwischen C6/C7 und C5/C6 vor. Sie führt zur Höhenminderung des

3Symptome. Je nach Sitz und Auswirkung der beschriebenen Veränderungen liegt die Symptomatik eines langsam wachsenden, extramedullären Halsmarktumors vor. Nicht selten findet man ein Brown-Séquard-Syndrom (7 Kap. 1.13.2). Neben den zentralen Symptomen sind uni- oder bilaterale segmentale periphere Zeichen (atrophische Paresen und Reflexausfall) häufig. 3Diagnose. Die MRT ist die wichtigste Untersuchung, wenngleich vor allem im T2-Bild die Läsion überschätzt wird (. Abb. 31.12). Der Spinalkanal wird von ventral durch Bandscheibenmaterial, von dorsal oft noch durch zusätzliche degenerative Veränderungen eingeengt. Das Rückenmark wird queroval komprimiert, der Liquorraum ist aufgebraucht. Oft sind diese Veränderungen auf mehreren Segmenten festzustellen. In der Myelographie zeigt sich ein kompletter Stopp. Die Elektrophysiologie hilft bei der Höhenlokalisation (. Abb. 31.13). 3Therapie und Prognose. Standard ist die neurochirurgische, dorsale Dekompressionsoperation mit Laminektomie. Bei zervikaler Myelopathie, die auf ein Segment zurückzuführen ist, kommt auch die ventrale Fusion in Frage. Problematisch sind Eingriffe über mehrere Segmente. Fortgeschrittene Symptome bilden sich nach der Operation nicht immer zurück, Gleiches gilt für die atrophischen, peripheren Lähmungen. 31.7.4 Lumbosakraler, medialer

Bandscheibenvorfall Anamnestisch geben die Patienten rezidivierende Lumbago- oder Ischiasbeschwerden an. Der akute, mediale, lumbale Bandscheibenprolaps beginnt immer mit einem Kaudasyndrom. Der akute Prolaps ereignet sich gewöhnlich im mittleren Alter, kann aber auch junge Menschen treffen (dann mit nur wenig Schmerzen, kaum Paresen, aber Inkontinenz!). Auslösender Anlass ist manchmal eine seitliche Drehbewegung, schweres Heben oder ein Sprung auf harten Boden.

31

651 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

FZ

N 20 ?

CP4

CP3 N 20 ?

SH

CZ

6,6

6,8

P9

P14

N9 CZ

a

P14 P9 N9 µV / div 0,63

E RB

L

R

ms / div 5000

. Abb. 31.13. Somatosensibel evoziertes Potentiale nach Stimulation rechts und Stimulation links. Normales Potential N9. Pathologisch verzögerte Überleitungszeit zwischen P9 und P14, obere Norm 5,9 ms. Beidseits nicht mehr sicher identifizierbares Potential N20. Der Befund ist die Folge einer Desynchronisation der Erregungsleitung zum Kortex. (H. Buchner, Aachen)

sorgungsgebiet der Kauda ausbreitet. Spätestens jetzt stellt sich eine schlaffe Lähmung ein, die in den Zehen beginnt (auf Parese der Plantarflexion achten!) und zu den Unterschenkeln aufsteigt. Sie ist stets distal am schwersten. Die Blase ist immer gelähmt (Retention). Das Nachlassen der Schmerzen bei gleichzeitigem Auftreten einer Lähmung zeigt an, dass die perforierte Bandscheibe ausgestoßen worden ist. In leichteren Fällen kommt es nur zur akuten Sphinkterlähmung und Reithosenhypästhesie, während die motorische Lähmung nur angedeutet ist. . Abb. 31.12. Zervikale Myelopathie in T2-MR-Sequenzen sagittal und axial. Das hyperintense Signal im Myelon (Dreiecke) ist charakteristisch für die Myelopathie. (B. Kress, Heidelberg)

3Symptome. Unmittelbar nach dem Vorfall setzen akut heftige Rückenschmerzen mit reflektorischer Bewegungseinschränkung der unteren Wirbelsäule ein. Innerhalb von Minuten bis Stunden zieht der Schmerz bei medialem Vorfall der 5. Lendenbandscheibe an der Rückseite, beim Prolaps der 3. oder 4. Lendenbandscheibe an der Vorderseite der Oberschenkel bis zum Fuß hinunter. Die peripheren Nerven der Beine sind auf Dehnung (Lasègue bzw. bei L3/L4 umgekehrter Lasègue) und Erhöhung des spinalen Drucks (Husten u.a.) sehr empfindlich. Nach einigen Stunden, spätestens nach 1–2 Tagen, lassen die Schmerzen nach, während sich gleichzeitig eine Gefühllosigkeit im Ver-

Lokalisation. Sie ergibt sich aus den klinischen Symptomen: 4 Vorfall der Bandscheibe zwischen den Wirbeln L5 und S1 führt zur Kaudalähmung, d.h. Wurzelschädigung S1–S5. 4 Bei Vorfall in Höhe der Wirbel L4/L5 ist vor allem die Hebung von Fuß und Zehen paretisch. 4 Bei noch höherem Sitz (Wirbel L3/L4, sehr selten!) ist die Oberschenkelmuskulatur gelähmt, der PSR abgeschwächt oder ausgefallen, und die Sensibilität ist an der Vorderseite der Oberschenkel und Unterschenkel gestört.

3Diagnose und Therapie. Die Diagnose muss und kann nach der Anamnese und dem neurologischen Befund gestellt werden und wird dann durch Myelographie, Myelo-CT oder MRT gesichert. Das Krankheitsbild sollte jedem Arzt vertraut sein, da die einzig sinnvolle Behandlung die Operation ist. Diese hat aber nur

652

Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs Lumbale, radikuläre Symptome

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Zur klinischen Diagnose dienen folgende Wurzelsyndrome: L3: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der Vorderseite des Oberschenkels, umgekehrter Lasègue = Schmerzen an der Vorderseite des Oberschenkels beim Rückwärtsführen des Beins in Seitenlage. Parese des M. quadriceps und der Adduktoren. PSR abgeschwächt. L4: Schmerzausstrahlung ins Knie, Gefühlsstörungen hauptsächlich medial an der Vorderfläche des Unterschenkels, d.h. über der Tibiakante. Umgekehrter Lasègue positiv. Parese des M. tibialis anterior (Hebung des Fußes), auch des M. quadrizeps. PSR ausgefallen oder abgeschwächt. L5: Schmerzen und Gefühlsstörungen lateral von der Schienbeinkante mit Ausstrahlung zur Großzehe. Lasègue positiv. Paresen der Zehenstrecker, besonders des M. extensor hallucis longus. PSR und ASR sind bei reiner L5-Läsion intakt, dagegen ist der Tibialis-posterior-Reflex ausgefallen: Die Sehne des M. tibialis posterior zieht hinter dem medialen Knöchel zu den Fußwurzelknochen. Man trifft sie mit dem Reflexhammer hinter und über oder unter und vor dem Malleolus. Der Reflexerfolg ist eine Supinationsbewegung des Fußes. Allerdings ist er nur bei allgemein lebhafter Reflexerregbarkeit festzustellen. Abschwächung oder Ausfall können nur verwertet werden, wenn der Reflex auf der Gegenseite deutlich positiv ist. L5/ Häufig sind diese Wurzeln kombiniert betroffen. SchmerS1: zen und Gefühlsstörungen s.o. Parese in allen Zehenstreckern und in den Mm. peronaei, gelegentlich auch im M. triceps surae. Deutliche Atrophie und Parese des

dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie innerhalb von 24 h ausgeführt wird. Je schwerer und rascher die Symptomatik einsetzt, desto geringer werden die Aussichten auf völlige Wiederherstellung durch die Operation. Eine Besserung ist beim frühzeitigen Eingriff aber immer zu erwarten. > Der akute, mediale, lumbale Bandscheibenvorfall ist ein

neurochirurgischer Notfall.

31.7.5 Lumbale, laterale Diskushernie 3Epidemiologie. Der laterale lumbale BSV ist eine der häufigsten neurologischen Krankheiten, selbst wenn man sich nur auf die Patienten konzentriert, bei denen ein BSV sicher nachgewiesen ist. Nicht jeder Rückenschmerz beruht auf einem Bandscheibenvorfall. BSV kommen bereits bei Jugendlichen vor, nehmen im Alter aber an Häufigkeit zu. Männer sind häufiger betroffen, Frauen leiden jedoch häufiger unter chronischen Rückenschmerzen. Rückenschmerzen mit und ohne Bandscheibendegeneration sind heute die häufigsten Gründe für eine frühzeitige Berentung. Prädisponierende Faktoren für BSV sind Bindege-

M. extensor dig. brevis, der am seitlichen, oberen Fußrücken bei Anspannung gut tastbar ist (Seitenvergleich!). Der M. tibialis anterior bleibt intakt. Tibialis-posterior-Reflex und ASR sind abgeschwächt bis aufgehoben. Dieses Syndrom entsteht bei relativ ausgedehnten, weit lateral gelegenen Bandscheibenvorfällen aus dem Fach L5–S1, bei denen auch die weiter lateral gelegene Wurzel L5 noch mit erfasst wird. S1: Schmerzen und Gefühlsstörung seitlich am Oberschenkel, lateral an der Rückseite des Unterschenkels und am äußeren Fußrand. Lasègue positiv. Parese des M. peronaeus brevis (Pronationsschwäche des Fußes) und des M. triceps surae (Schwäche für das Abrollen des Fußes und den Zehengang, sog. Bügeleisengang). Auch M. biceps femoris geschwächt. ASR ausgefallen. S2: Die Wurzel S2 versorgt sensibel am Bein die mediale Rückseite von Ober- und Unterschenkel. Am Fuß gibt es bei Läsion ab S2 keine Sensibilitätsstörung. Läsion der Wurzeln S3 bis S5 führt sensibel nur zur Reithosenhyp- und -anästhesie am Gesäß. Es ist zu beachten, dass sich die radikulären Gefühlsstörungen nie auf das ganze Segment erstrecken, weil die Wurzeln im Querdurchmesser nicht gleichmäßig stark geschädigt sind. In 80% der Fälle ist ein Nervendehnungsschmerz auszulösen.

websschwäche, einseitige, körperliche Belastung, Übergewicht und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (die in der 2. Lebenshälfte bei den meisten Menschen gefunden werden). 3Anamnese. Häufig werden anamnestisch rezidivierende, akute Rückenschmerzenschmerzen mit steifer Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule angegeben. Die akute Verschlechterung, den der Laie »Hexenschuss« nennt, bezeichnen wir als »Lumbago«. Er beruht auf einem rückbildungsfähigen Vordringen des Nucl. pulposus mit Druck gegen das hintere Längsband der Wirbelsäule, das als vordere Begrenzung des Spinalkanals nur an den Bandscheiben befestigt ist und locker über die Wirbelkörper zieht. Später kommt es plötzlich beim schweren Heben, bei einer Drehung des Rumpfes oder beim Aufstehen, seltener innerhalb von Tagen und ohne erkennbaren Anlass, zum Einriss des Anulus fibrosus, zum dorsolateralen Prolaps des Nucl. pulposus und dadurch zur Kompression einer Rückenmarkswurzel. 3Symptome. In der Regel überwiegen Schmerzen von segmentaler Ausbreitung, die sich bei Erhöhung des spinalen Drucks verstärken, verbunden mit Missempfindungen, die sich auch in

653 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

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Am häufigsten ist die vorletzte Lendenbandscheibe betroffen, an zweiter Stelle steht die Bandscheibe des lumbosakralen Übergangs. Lokalisation in den mittleren Lumbalsegmenten ist seltener.

benachbarte Segmente ausbreiten können. In 90–95% der Fälle nachweisbare sensible Ausfälle (Hypästhesie und Hypalgesie), ebenfalls von radikulärer Verteilung. Paresen treten in wechselnder Ausprägung in den radikulären Kennmuskeln auf. Die Läsion der sensiblen Wurzeln unterbricht den spinalen Reflexbogen, so dass frühzeitig der entsprechende Eigenreflex abgeschwächt ist oder erlischt. Nach der Lokalisation der Schädigung ist dies meist der ASR. Nach etwa 3– 4 Tagen werden die Schmerzen geringer, dafür breitet sich, von distal nach proximal, ein Taubheitsgefühl in dem betroffenen Segment aus. Dies zeigt an, dass die komprimierte Wurzel lädiert ist. Spätestens zu diesem Zeitpunkt können auch Lähmungen auftreten. Blasenlähmung ist sehr selten. Charakteristisch sind Haltungsanomalien der Wirbelsäule: Aufhebung der Lendenlordose mit einseitig betonter Verspannung der langen Rückenstrecker und Skoliose der Wirbelsäule, die, je nach der Lagebeziehung des Bandscheibenvorfalls zur Nervenwurzel, konkav oder konvex ist. Sie ist manchmal nur beim Vorwärtsbücken zu bemerken. Bei längerem Bestehen kommt es zu einem Circulus vitiosus: Die Schmerzen führen zur Verspannung der Lendenmuskulatur. Diese bewirkt eine Fehlhaltung der Wirbelsäule, die wiederum die Wurzelkompression unterhält.

3Diagnose. Die Indikation zur Anwendung bildgebender oder invasiver diagnostischer Verfahren (MRT, CT, Myelographie mit anschließendem Myelo-CT) muss klinisch nach den Kriterien Dehnungszeichen, Parese mit Reflexabschwächung und, erst an dritter Stelle, chronische und therapieresistente Schmerzen getroffen werden. Die seltenen sehr weit lateral gelegenen Bandscheibenvorfälle können nur mit der spinalen Computertomographie oder der MRT erkannt werden. Die MRT ist die Methode, die die beste Detailauflösung bietet (. Abb. 31.14). Daher kommen heute viele Patienten mit Rückenschmerzen schon mit einem lumbalen MRT in die Klinik. Das MRT ist in seiner Auflösung dem CT überlegen, jedoch viel teurer. Es kann kleine Veränderungen überzeichnen, speziell im Zervikalkanal. Die Untersuchung wird mit Sicherheit viel zu häufig durchgeführt und sollte nur nach vorheriger, exakter, neurologischer Befunderhebung indiziert werden.

. Abb. 31.14. MRT lumbal BSV. Links lateraler lumbaler Bandscheibenvorfall (Pfeil) in sagittaler und axialischer Ebene. Die Bandscheibe ist

degeneriert und der Prolaps reicht etwa nach kaudal in den Duralsack. Die Wurzel ist verdrängt (Pfeil). (M. Hartmann, Heidelberg)

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Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs Konventionelle Röntgenaufnahmen Nativröntgenaufnahmen haben keinen Platz mehr in der Diagnostik akuter Wirbelsäulenbeschwerden. Die Nativröntgenaufnahmen sind oft normal. Nach längerem Bestehen einer Bandscheibenschädigung ist der Zwischenwirbelraum eingeengt, und es kommt zur reaktiven Spondylose und Spondylarthrose mit Osteophytenbildung und Gelenkveränderungen an den benachbarten Wirbelkörpern. Dies beweist aber nicht zwingend die Wurzelkompression, da schwere spondylotische Wirbelsäulenveränderungen ohne Wurzelsymptome und erhebliche akute neurologische Ausfälle ohne gröbere degenerative Wirbelsäulenveränderungen auf dem Röntgenbil-

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da (u.U. nur schmerzbedingte Steilstellung oder andere Fehlhaltung) vorkommen. Wichtig ist die Röntgenaufnahme zur Diagnose der Fälle, in denen Schmerzzustände auf einer Wirbelsäulenanomalie beruhen (Spina bifida, Übergangswirbel, Spondylolisthesis, 7 Kap. 35). Sie zeigt auch Knochentumoren, aber auch diese schlechter als CT oder MR. Es wird viel zu wenig beachtet, dass degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit zunehmendem Alter »normal« sind und keineswegs pathologische Bedeutung haben müssen. In der Praxis wird eine »Wirbelsäulenmythologie« betrieben, die inzwischen ein unverantwortbares Ausmaß erreicht hat.

Die Myelographie mit wasserlöslichen Kontrastmitteln lässt im seitlichen Strahlengang die Abhebung des Kontrastmittels nach dorsal in Höhe eines Zwischenwirbelraums (oder mehrerer), und im sagittalen Strahlengang die einseitige, von extradural kommende Einengung des Duralsacks und Verkürzung der betroffenen Wurzeltasche erkennen, sofern der Prolaps nicht zu weit lateral sitzt. In vielen Fällen ist immer noch zuerst die CT gegebenenfalls mit intrathekaler Kontrastverstärkung (»Myelo-CT«) hilfreich, besonders präoperativ. Ein Bandscheibenvorfall kann nicht mit konventionellen Röntgenaufnahmen diagnostiziert werden. Elektrophysiologie: Die Elektroneurographie sollte zur Beurteilung herangezogen werden, ob gleichzeitig eine Polyneuropathie vorliegt. Das EMG kann bei der Frage, ob eine Läsion frisch oder alt ist, helfen: Denervierungszeichen treten nicht vor 10 Tagen nach Beginn der Schädigung ein. Allerdings können sie danach jahrelang bestehen, so dass ein Rezidiv nicht mit Sicherheit diagnostiziert oder ausgeschlossen werden kann. Die Bedeutung elektrophysiologischer Untersuchungen für die Diagnose von Nervenwurzelläsionen ist begrenzt. Ihre Bedeutung für die Indikation zur Operation ist noch geringer. Reflexuntersuchungen und somatosensorische Potentiale sind ebenfalls von geringer Bedeutung. Der lumbale Liquor ist unmittelbar nach einem Prolaps normal, später kommt es in einem Teil der Fälle durch Transsudation zu einer leichten Eiweißvermehrung auf das Doppelte des Normalen.

beherrschende Schmerzzustände können mit einer kurzfristigen Gabe von milden Opiodanalgetika behandelt werden. Später, nach etwa 2 Wochen, wird der Patient durch Massagen und gymnastische Übungen wieder aktiviert. Paravertebrale Injektionen, wie sie von Allgemeinmedizinern und Orthopäden gern gegeben werden, wenden wir nicht an. Manchmal hat i.v. Kortison (Dexamethason oder Prednisolon) eine dramatische, schmerzlindernde Wirkung. Lagerung auf harter Unterlage (Brett unter der Matratze) oder im Stufenbett wird oft als angenehm empfunden. Wenn eine Lähmung vorliegt, wird man nach MRT oder Myelographie mit Myelo-CT eine Operation des Nukleusprolaps vornehmen. Die offene Operation wird mikrochirurgisch, meist ohne halbseitige Entfernung des Wirbelbogens (Hemilaminektomie) durch das Lig. flavum ausgeführt. Misserfolge sind dadurch möglich, dass 10% der Bandscheibenvorfälle multipel sind. Nach Rezidivoperationen besteht die Gefahr einer Arachnopathie. Von den modernen, viel propagierten minimal-invasiven Operationsmethoden (Chemonukleolyse, endoskopische Operation) halten wir nicht viel: Für die Patienten, bei denen wir eine Operationsindikation stellen, sind die Methoden fast nie geeignet, weil die Beschwerden und die Ausdehnung des (sequestrierten) Bandscheibenvorfall zu stark sind. Die Patienten, die so operiert werden, werden von uns nur konservativ behandelt. Bei allen Fortschritten in Bildgebung und Operationstechnik wird die Indikation zur chirurgischen Behandlung des Bandscheibenvorfalls nach neurologischen Kriterien gestellt.

3Therapie. Im Stadium der Lumbago nur konservative Therapie: Durch absolute Bettruhe, Rotlicht, Fangopackungen und Muskelrelaxanzien (wir geben Diazepam, z.B. Valium® 5, mehrmals täglich, weil es auch eine erwünschte sedierende Wirkung hat) versucht man, die verspannte Lendenmuskulatur zu lockern und den Circulus vitiosus zu durchbrechen. Analgetisch finden zunächst nichtsteroidale Antiphlogistika (z.B. Diclofenac 200– 300 mg pro Tag) Verwendung. Auch Tizanidin (z.B. Sirdalud®) bis 3-mal 4 mg kann in Einzelfällen helfen. Hiermit nicht zu

31.7.6 Arachnopathie 3Epidemiologie und Lokalisation. Eine Arachnopathie kann sich langsam progredient, mit einer Latenz bis zu 5 Jahren nach wiederholter Myelographie mit älteren Kontrastmitteln, nach spinalen Operationen (Bandscheibenvorfall), nach Wirbeltraumen mit Blutungen in die Rückenmarkhäute (z.B. Kompressions- und Luxationsfraktur) und nach Meningitis, selten auch spontan entwickeln. Sie erstreckt sich meist über mehrere Segmente.

655 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

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Exkurs Chronische, therapieresistente Rückenschmerzen Diese sind mit oder ohne Ausstrahlung in die Beine sehr häufig psychisch bedingt. Das Spektrum reicht von der somatisierten Depression über die chronische Konfliktreaktion bis zum Rentenbegehren. Man muss die psychologische Situation erkennen und den Patienten eine physikalische Therapie anbieten, die nicht auf Ruhigstellung, sondern auf Übung und Kräftigung ausgerichtet ist. Sie wird bei Bedarf durch ein Thymoleptikum ergänzt. Ein längeres Gespräch mit den Patienten und die

3Symptome. Die Symptomatik ist uncharakteristisch. Missempfindungen, sehr schwer behandelbare Schmerzen, sensible Ausfälle und Lähmungen, Wurzel- und Strangsymptome können nebeneinander bestehen. Der Verlauf ist zunächst oft remittierend, später langsam progredient. Selten kommt es zur kompletten Querschnittslähmung oder zum vollständigen Kaudasyndrom. 3Diagnose und Therapie. Im MRT reichern die arachnitischen Herde deutlich an. Bei der Myelographie zeigt sich ein tropfenförmiges Hängenbleiben des Kontrastmittels über mehrere Segmente. Im Liquor findet sich gewöhnlich eine leichte Eiweißvermehrung, nur selten dagegen eine Pleozytose. Wegen der großen Längsausdehnung ist eine operative Lösung der Verwachsungen oft nicht möglich. Schmerzbehandlung und Behandlung der Spastik stehen im Vordergrund. Zunächst versucht man eine medikamentöse Schmerzbehandlung. Die transkutane Nervenstimulation kann nützlich sein. Neurochirurgische Maßnahmen, wie Pumpensysteme zur intrathekalen Schmerzbehandlung, die perkutane Chordotomie, die Hinterstrangstimulation oder die Thalamusstimulation können notwendig werden. Bei Spastik gibt man Baclofen (z.B. Lioresal®) bis 75 mg/Tag, Tizanidin (z.B. Sirdalud®) bis 3-mal 4 mg oder das direkt am Muskel angreifende Dantrolen-Na (z.B. Dantamacrin®, langsam bis auf ca. 400 mg/Tag steigern) per os. Gegen die Spastik können Pumpen, die über einen intrathekalen Katheter Baclofen applizieren, wirksam sein. 31.7.7 Claudicatio des thorakalen Rückenmarks Dieses seltene, ischämisch bedingte Syndrom beruht auf belastungsabhängiger Ischämie des meist unteren Thorakalmarks und äußert sich mit intermittierender Spastik und Sensibilitätsstörungen der langen Bahnen, also zentralen Symptomen im Gegensatz zu den peripheren Zeichen bei der Claudicatio der Cauda equina. Oft liegt eine Arteriosklerose der Aorta vor.

Beobachtung des Verhaltens bei der körperlichen Untersuchung erspart das Ausweichen auf immer neue radiologische Untersuchungen, die im ungünstigen Fall falsch-positive Befunde liefern, d.h. z.B. altersentsprechende degenerative Veränderungen zeigen, die die Beschwerden nicht erklären. Die Mitteilung an den Patienten, seine Wirbelsäule sei verschlissen oder er habe eine Nerveneinklemmung, kann bei Rückenschmerzen nur zur Chronifizierung beitragen.

31.7.8 Claudicatio der Cauda equina Die Claudicatio der Cauda equina ist in Kap. 10 besprochen. Auch bei der vaskulären Claudicatio intermittens treten die Symptome nach körperlicher Belastung auf und lassen in Ruhe nach. Charakteristisch sind heftige Wadenkrämpfe, nicht jedoch Spannungs- und Schweregefühl bis zur flüchtigen Lähmung. Der neurologische Befund bleibt normal. 31.7.9 Differentialdiagnose Ilioinguinalis-Syndrom Beim Kompressionssyndrom, N.-ilioinguinalis-Syndrom, klagen die Kranken über Schmerzen in der Leiste, die bei Beugung im Hüftgelenk nachlassen und bei Hüftstreckung (ähnlich dem umgekehrten Lasègue) sowie beim Anspannen der Bauchmuskeln zunehmen. Der Nerv (aus den Wurzeln L1 und L2) innerviert motorisch die kaudalen Anteile der queren Bauchmuskeln. Sein sensibler Endast hat intraabdominell einen komplizierten Verlauf. Die Läsion liegt am Durchtritt durch den M. obliquus abdominis ext. Davor und danach wechselt der Nerv jeweils fast im rechten Winkel zweimal die Richtung. Beim Ilioinguinalis-Syndrom wird der Oberschenkel zur Entlastung des Nerven adduziert und leicht innenrotiert gehalten. In der Leiste, bis zur proximalen Genitalregion, manchmal auch an der Innenseite des Oberschenkels, kann eine Hypästhesie und Hyperpathie bestehen. Der Durchtrittspunkt des Nerven durch die Bauchwand oberhalb der Spina iliaca ventralis superior ist schmerzhaft. Seine Infiltration mit Novocain beseitigt die Spontanschmerzen. 3Therapie. Da die Beschwerden auf einer mechanischen Kompressionsschädigung des Nerven beruhen, wird er mit einem Lokalanästhetikum infiltriert oder bei Versagen der Injektionsbehandlung durch Neurolyse freigelegt.

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Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Facettensyndrom Rückenschmerzen mit radikulärer Ausstrahlung können auch von den intervertebralen Gelenken ausgehen. Anders als bei den Wurzelreiz- und Wurzelausfallsymptomen bleibt jedoch die Sen-

sibilität voll erhalten, und Paresen treten nicht auf. Dieses sog. Facettensyndrom muss orthopädisch behandelt werden. Die CT-gesteuerte Injektionen von Antiphlogistika in die Nähe der betroffenen Gelenke sind sehr wirksam.

In Kürze Hirnnervenläsionen N. oculomotorius (Hirnnerv III). Symptome: komplette Okulomotoriuslähmung mit Ptose, aufgehobener Linsenakkomodation, fehlenden Doppelbildern, mydriatischer und lichtstarrer Pupille durch basales Aneurysma, Trauma, basale Meningitis, Neoplasma der Schädelbasis. Äußere Okulomotoriuslähmung verursacht durch Läsion im Kerngebiet des Nerven mit erhaltener autonomer Innervation von Pupille und Ziliarmuskel. Ophthalmoplegia interna ausgelöst durch Schädigung im peripheren Verlauf der Nerven mit Lähmung nur autonomer Fasern und mit weiter, lichtstarrer Pupille. N. trochlearis (Hirnnerv IV). Symptome: Fortfall der Senkerfunktion des Muskels verursacht Fehlstellung des Auges. Ursache: Trauma, Diabetes, basale Tumoren.

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N. abducens (Hirnnerv VI). Symptome: Auge kann nicht nach außen gewendet werden, horizontal nebeneinander stehende, gerade Doppelbilder. Ursache: Nervenschädigung bei allgemeinem Hirndruck, Schädelbasisbruch, entzündliche, neoplastische Prozesse an Schädelbasis. N. facialis (Hirnnerv VII). Symptome: Prodromalstadium mit Sensibilitätsstörung in Ohrmuschel, Gehörgang oder hinter dem Ohr, Fazialislähmung. Ursache: Entzündungen und Neoplasmen der Schädelbasis, lymphozytäre Meningitis, Mastoiditis, Otitis media. Therapie: Kortisonbehandlung. Spasmus hemifacialis als einseitige Bewegungsunruhe der ausschließlich vom VII. Hirnnerv versorgten Muskeln. Ursache: Trigeminusneuralgie, abnorme Erregungsproduktion durch lokalen Druck im Nervenverlauf. Therapie: Botulinumtoxin, operative Therapie. Differentialdiagnose: Psychogener Gesichts-Tic, hemifaziale Myokymie, halbseitiger Kopftetanus.

N. hypoglossus. Symptome: Ein- oder doppelseitige Lähmung und Atrophie der Zunge, mühsames Sprechen. Ursache: Prozesse der Schädelbasis und bei Polyneuritis cranialis.

Läsionen des Plexus cervicobrachialis Obere Plexuslähmung: Fasern der Wurzeln C5-C6(-7) lädiert; Arm hängt schlaff und nach innen rotiert herunter, kann im Schultergelenk nicht gehoben und nach außen rotiert werden. Untere Plexuslähmung: Fasern der Wurzeln (C7-)C8-Th1 lädiert; atrophische Parese der kleinen Handmuskeln und langen Fingerbeuger, Ausfall des Fingerflexorenreflexes, Horner-Syndrom. Komplette Plexuslähmung bildet sich als obere oder untere Plexusschädigung nach Trauma aus. Traumatische Plexusläsionen. Ursache: Nach Motorrad- oder Arbeitsunfall wird Plexus durch Prellung oder Zug geschädigt. Konservative Therapie mit passiven Bewegungen in Finger-, Hand-, Ellenbogengelenken, Armlagerung auf Abduktionsschiene, evtl. operative Revision. Neuralgische Schulteramyotrophie. Symptome: Heftige Schmerzen in Schulter und Oberarm, atrophische Lähmung. Therapie: Kortikoide, Schmerzmittel, lokale Wärmeanwendung, frühzeitig Lagerung in Abduktion, passive und aktive Bewegungsübungen. Skalenussyndrom. Symptome: Im 3.–4. Lebensjahrzehnt einsetzende Schmerzen, Parästhesien auf ulnarer Unterarm- und Handseite. Diagnose: Strömungsgeräusch in Supraklavikulargrube. Therapie: Operative Behandlung durch Skalenotomie bei motorischen Ausfällen.

Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis N. accessorius (Hirnnerv XI). Symptome: Ruhe- und Bewegungsschmerzen in Schulterregion. Ursache: Chirurgischer Eingriff im lateralen Halsdreieck, primäre und metastatische Tumoren an Schädelbasis. Therapie: Primäre Nervennaht bei akzidenteller Durchtrennung.

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N. suprascapularis (C4-C6). Drehen des Armes im Schultergelenk nach außen. Symptome: Suprascapularis-Engpass-Syndrom, Lähmungen der Oberarmseitelevation und Außenrotation. Therapie: Chirurgische Spaltung des die Inzisur überspannenden Bandes.

657 31.7 · Erkrankungen der Bandscheiben

N. thoracicus longus (C5-C7). Drehen und Ziehen des Schulterblattes nach außen, Fixieren des medialen Randes am Thorax, Hebung des Armes. Symptome: Lähmungen nach längerem Tragen schwerer Lasten oder Operationen in Achselhöhle. N. thoracodorsalis (C6-C8). Senken und Rückwärtsführen des erhobenen Armes. Symptome: Geringere Kontraktion auf gelähmter Seite. Nn. thoracici anteriores (C5-Th1). Adduktion der Arme. Symptome: Bei Atrophie treten Klavikula und knöcherne Thorax hervor, vordere Begrenzung der Axilla ist verschmächtigt. N. axillaris (C5-C7). Außenrotation und Abduktion des Armes. Symptome: Armhebung bis zur Horizontalen nicht möglich, abgeschwächte Schulterwölbung. N. musculocutaneus (C6-C7). Beugung des Armes im Ellenbogengelenk. Symptome: Motorische Lähmung nach Schulterluxation, sensible Schädigung nach paravenöser Injektion. N. radialis (C5-Th1). Unter anderem Supination und Streckung des Unterarms im Ellenbogengelenk. Symptome: obere Radialislähmung: TSR abgeschwächt. Mittlere Radialisparese: Fallhand mit Schwäche für Extension im Handgelenk. Untere Radialislähmung: Abduktion des Daumens in Handebene, Strecken der Finger im Grundgelenk nicht möglich, keine Fallhand. N. medianus (C6-C8). Unter anderem Beugung und Radialflexion der Hand, Pronation von Unterarm und Hand. Symptome: Unter anderem »Schwurhand«, »Affenhand«, Karpaltunnelsyndrom, Sensibilitätsstörung. N. ulnaris (C8-Th1). Unter anderem Beugung, Ulnareflexion der Hand, Beugung in Grundphalangen. Symptome: »Krallenhand«, Sulcus-ulnaris-Syndrom, Syndrom der distalen Ulnarisloge. Therapie: Mikrochirurgische Operation zur Freilegung des Nervs.

Läsionen des Plexus lumbosacralis Symptome: Paresen der Hüftbeuger, -rotatoren, Kniestrecker und Adduktoren des Oberschenkels durch raumfordernde, retroperitoneale Blutungen, lokale Traumen. Differentialdiagnose: Elsberg-Syndrom, multiple, radikuläre Syndrome bei Wirbelsäulenmetastasen oder Meningeosis carcinomatosa, Verschluss der Beckenarterien.

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Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3). Symptome: Parästhesien, Überempfindlichkeit der Haut für leichte Berührung, Hypästhesie. Therapie: Lokale Maßnahmen, da Störung harmlos. N. femoralis (L2-L4). V.a. Beugen des Oberschenkels im Hüftgelenk, Streckung des Unterschenkels im Kniegelenk. Symptome: Ausstrahlender Schmerz, schwere Lähmung. N. glutaeus superior (L4-S1). Abduktion, Innenrotation im Hüftgelenk. Symptome: Bei doppelseitiger Lähmung Watschelgang; Gesäßhälfte auf gelähmter Seite tellerförmig eingefallen. N. glutaeus inferior (L5-S2). Streckung des Oberschenkels im Hüftgelenk. Symptome: Bei doppelseitiger Lähmung erschwertes Treppensteigen, Aufrichten aus Sitz. Gesäßhälfte atrophisch. N. obturatorius (L2-L4). Adduktion in der Hüfte, Außenrotation, Beugung und Innenrotation im Knie. Symptome: Abgeschwächter oder ausgefallener Adduktorenreflex, Kniegelenkschmerzen. N. ischiadicus (L4-S3). Außenrotation des Oberschenkels im Hüftgelenk. Symptome: Beeinträchtigung der Funktion des Standbeins beim Gehen. N. peronaeus (L4-S2). Unter anderem Pronation des äußeren Fußrandes, Extension, Supination des Fußes. Symptome: Spitzfuß, »Steppergang« oder »Hahnentritt«. N. tibialis (L4-S3). Unter anderem Plantarflexion, Adduktion und Supination des Fußes. Symptome: Schmerzen beim Gehen; Wade und Fußgewölbe sind atrophisch, Krallenstellung der Zehen, Fuß ist proniert, Achillessehne erschlafft.

Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen Konservative Therapie: Krankengymnastik, Thromboseprophylaxe, Lagerung, medikamentöse Therapie, Stimulationsverfahren. Operative Behandlung: Nervennähte, mikrochirurgische interfaszikuläre Neurolyse.

Erkrankungen der Bandscheiben Zervikaler oder thorakaler, medialer Bandscheibenvorfall. Akute Querschnittssymptomatik mit erheblichen Schmerzen und reflektorischer Steilhaltung der Wirbelsäule in betroffener Region.

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Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall. Symptome: Schmerzen und Sensibilitätsstörungen liegen höher oder tiefer als betroffenes Segment. Konservative oder operative Therapie. Zervikale Myelopathie. Symptome: Langsam wachsender, extramedullärer Halsmarktumor, Brown-Séquard-Syndrom. Therapie: Neurochirurgische, dorsale Dekompressionsoperation. Lumbosakraler, medialer Bandscheibenvorfall. Symptome: Nach seitlicher Drehbewegung, schwerem Heben akute, heftige Rückenschmerzen mit reflektorischer Bewegungseinschränkung der unteren Wirbelsäule, schlaffe Lähmung. Therapie: Erfolgreiche Operation innerhalb von 24 h.

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Lumbale, laterale Diskushernie. Symptome: Rezidivierende, akute Rückenschmerzen mit steifer Fehlhaltung der Lendenwirbel, Taubheitsgefühl, Lähmungen nach schwerem Heben, bei Drehung des Rumpfes oder beim Aufstehen. Therapie: Konservative Therapie im Lumbagostadium mit Bettruhe, Rotlicht, Fangopackungen, Muskelrelaxanzien. Offene Operation bei Lähmung. Arachnopathie. Symptome: Missempfindungen, sensible Ausfälle, Lähmungen. Therapie: Schmerz- und Spastikbehandlung, transkutane Nervenstimulation, neurochirurgische Maßnahmen. Differentialdiagnose. Ilioinguinalis-Syndrom, Facettensyndrom.

32 32 Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien 32.1 Metabolische Polyneuropathien – 664 32.1.1 Diabetische Polyneuropathie – 664 32.1.2 Andere, metabolische Polyneuropathien – 666 32.1.3 Polyneuropathie bei Vitaminmangel und Malresorption – 666

32.2 Toxisch ausgelöste Polyneuropathien – 667 32.2.1 Medikamenteninduzierte Polyneuropathien – 667 32.2.2 Polyneuropathien bei Lösungsmittelexposition – 667

32.3 Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen – 669 32.3.1 Panarteriitis nodosa – 669 32.3.2 Polyneuropathie bei rheumatoider Arthritis

– 670

32.4 Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN) – 670 32.4.1 HMSN 1 – 671 32.4.2 Andere hereditäre sensomotorische Neuropathien

– 672

32.5 Immunologisch bedingte Polyneuroradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten) – 674 32.5.1 32.5.2 32.5.3 32.5.4

Guillain-Barré-Syndrom (GBS) – 674 Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) – 677 Miller-Fisher-Syndrom – 677 Multifokale, motorische Neuropathie – 677

32.6 Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall – 678 32.6.1 Lepra-Neuropathie – 678 32.6.2 HIV-assoziierte Neuropathien 32.6.3 Botulismus – 679

– 679

32.7 Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuropathien – 680 32.8 Erkrankungen des vegetativen Nervensystems – 680 32.8.1 Sympathische Reflexdystrophie (Sudeck-Syndrom, komplexes regionales Schmerzsyndrom) – 680 32.8.2 Akute Pandysautonomie und verwandte Krankheiten – 680 32.8.3 Familiäre Dysautonomie – 681

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Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

> > Einleitung

4 die Schwerpunktpolyneuropathie (z.B. auf proximale Mus-

Ein Herzinfarkt ist ein Notfall und wird rasch erkannt, weil er so schmerzhaft ist, sagt man. Manche Patienten erleiden allerdings einen schmerzlosen Herzinfarkt, das Alarmsignal fehlt, und diese Patienten haben eine schlechtere Prognose, da sie erst viel später zur Notfallbehandlung kommen. Warum sind manche Infarkte schmerzlos? Es sind Infarkte bei Patienten mit einer diabetischen Störung der Funktion der peripheren Nerven, in diesem Fall der dünnen Schmerzfasern, die das Myokard versorgen. Die Polyneuropathien (PNP) sind systemische Krankheiten der peripheren Nerven, von denen motorische, sensible und vegetative Nervenfasern erfasst werden. Die bei weitem häufigsten Ursachen sind Diabetes und Alkoholabusus. Auch viele Medikamente und manche toxischen Substanzen können Polyneuropathien auslösen, aber vermutlich nicht so häufig, wie es oft angenommen wird. Allerdings bleiben zwischen 20 und 30% der erworbenen PNP ätiologisch ungeklärt, trotz zum Teil sehr aufwendiger Diagnostik. Manche PNP sind genetisch bedingt. In dieser Gruppe tut sich molekulargenetisch vieles, therapeutisch allerdings wenig. Neue Einteilungen dieser Gruppe helfen diagnostisch weiter. Es bleibt zu hoffen, dass, wie auch in anderen Bereichen der Neurologie, dem diagnostischen Fortschritt auch bald therapeutische Konsequenzen folgen. Eine wichtige, weil therapeutisch relevante Untergruppe der Polyneuropathie sind die entzündlichen Polyneuritiden. Sie entstehen auf autoimmunologischer Basis und können zu einem schweren, tetraplegischen Syndrom mit über Wochen und Monate, manchmal Jahre bestehenden, aber dennoch rückbildungsfähigen Lähmungen führen. Heute haben wir mit der Plasmapherese und der Immunglobulinbehandlung sehr gute Therapiemöglichkeiten. Manche Patienten müssen aber über lange Zeit intensivmedizinisch behandelt und maschinell beatmet werden und benötigen wegen der vegetativen Denervierung des Herzens gelegentlich vorübergehend einen Herzschrittmacher.

4 die Mononeuritis multiplex mit multifokalem Befall ver-

kelgruppen oder den Plexus bezogen) und

32

Vorbemerkungen 3Definition. Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS). Zum PNS gehören alle außerhalb des Zentralnervensystems liegenden Teile der motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren und den sie versorgenden Blut- und Lymphgefäßen. Es gibt keine Klassifikation der mannigfachen Formen der PNP, die unter ätiologischen, pathogenetischen, histologischen, elektrophysiologischen und klinischen Gesichtspunkten gleichermaßen befriedigend wäre. Jeder Versuch einer Ordnung bleibt anfechtbar, zumal Ätiologie und Pathogenese bei vielen Arten noch unbekannt sind. 3Einteilung nach klinischem Verteilungsmuster der Symptome. Wir unterscheiden: 4 die distale, symmetrische Form,

schiedener peripherer Nerven. Je nach Beteiligung der einzelnen Modalitäten werden die Verteilungsmuster mit den Zusätzen »sensomotorisch«, »vorwiegend motorisch«, »sensibel« oder »vegetativ« belegt. 3Einteilung nach bevorzugtem Befall von Markscheide oder Axon. Man kennt PNPs mit primärer, segmentaler Markscheidenveränderung, solche mit primär axonaler Degeneration und gemischte, d.h. beide Anteile der Nervenfaser betreffende PNPs. Speziell Polyneuropathien, die auf eine ischämische Schädigung (Vasa nervorum) der peripheren Nerven zurückzuführen sind, können Markscheide und Axon betreffen. Diese Typen lassen sich histopathologisch und mit Hilfe von Elektromyogramm und Elektroneurogramm unterscheiden. Beim Ausfall einzelner Axone verändert sich die Erregungsleitung in den noch erhaltenen Fasern nicht nennenswert. Bei diffuser oder umschriebener Markscheidenerkrankung kommt es frühzeitig zur Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien sind fast immer beide Strukturen betroffen, wobei allerdings während der Waller-Degeneration die Schwann-Zellen erhalten bleiben und ihre regenerative Potenz behalten. 3Einteilung auf ätiologischer Basis. Wir unterscheiden hier PNP, die genetisch determiniert sind, solche, denen eine Entzündung, metabolische Störung (Diabetes, Hypothyreose, Urämie) oder Ernährungsstörung zugrunde liegt, exogen toxische PNP (Schwermetalle, Alkohol, Medikamente, Lösungsmittel) und solche bei entzündlichen und immunologischen Prozessen (Kollagenosen, Paraproteinämie, paraneoplastisch; . Tabelle 32.1). Wenn man die Einteilungsprinzipien kombiniert, sieht man folgende Beziehungen: Zu den primär axonalen Polyneuropathien gehören unter anderen: 4 die meisten toxischen PNP, die meisten paraneoplastischen PNP, 4 die meisten Fälle von alkoholischer PNP, 4 die vaskuläre PNP, z.B. bei Immunkomplexangiitis oder Panarteriitis, 4 die PNP bei Porphyrie und 4 die chronische Variante des Guillain-Barré-Syndroms. Zu den PNP mit primärem Markscheidenbefall rechnet man zum Beispiel: 4 die Polyneuritis vom Typ Guillain-Barré (GBS), 4 viele Fälle von diabetischer PNP, 4 seltene Fälle von alkoholischer PNP, 4 die akute, nephrogene PNP, 4 die PNP bei Gammopathien, 4 manche hereditäre Neuropathien.

661 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

32

. Tabelle 32.1. Ätiologie der Polyneuropathien PNP bei Stoffwechselstörungen

PNP bei Mangel- und Fehlernährung

– – – –

– Vitamin-Resorptionsstörungen – Mangelernährung – Sprue

bei Diabetes mellitus bei Urämie bei Leberzirrhose bei Hypothyreose

PNP bei exogenen-toxischen Störungen

PNP bei Kollagenosen

– – – –

– Panarteriitis nodosa – Andere Kollagenosen

Alkohol Medikamente Lösungsmittel Schwermetalle

Genetisch bedingte PNP

Entzündliche PNP

– – – –

– – – – –

Hereditäre motorische und sensible Neuropathien PNP bei primärer Amyloidose Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen PNP bei Porphyrie

Guillain-Barré-Syndrom Lepra HIV-Infektion Botulismus Borreliose

Polyneuropathie bei Dys- und Paraproteinämie – Gammopathien – M. Waldenström

3Leitsymptome. Sehr häufig ist die Polyneuropathie (PNP) Symptom einer Allgemeinkrankheit. Die Kardinalsymptome sind schlaffe Lähmungen, sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen und vegetative Störungen. Sie sind oft etwa gleich stark ausgeprägt. Es gibt aber auch Formen, die klinisch das Bild einer vorwiegend oder rein motorischen oder sensiblen PNP bieten (. Tabelle 32.2). 4 Lähmungen: Die Lähmungen sind nicht auf das Versorgungsgebiet einzelner Nerven oder Nervenwurzeln beschränkt.

. Tabelle 32.2. Sensible und motorische Symptome bei PNP Reiz- und Ausfallerscheinungen

– – – – – – – – – – – –

Kribbeln Wärme- und Kälteparästhesien Stechen Elektrisieren Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle Gefühl des Eingeschnürtseins Gefühl der Schwellung Gefühl des unangenehmen Druckes Gefühl, wie auf Watte zu gehen Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit fehlende Temperaturempfindungen schmerzlose Wunden

Motorische Symptome

– – – –

Muskelzucken Muskelkrämpfe Muskelschwäche Muskelatrophie

Die Muskeleigenreflexe betroffener Muskelgruppen sind abgeschwächt, meist ausgefallen. 4 Sensible Reizerscheinungen: Diese bestehen in Parästhesien, umschriebenen und ziehenden Schmerzen, oft auch in Dehnungs- und Druckschmerz der Nerven. Die sensiblen Symptome sind meist symmetrisch, distal betont und strumpfförmig oder handschuhförmig begrenzt. Sehr unangenehm sind nächtliche Parästhesien in den Füßen und Unterschenkeln, die sich manchmal zu den Oberschenkeln und selten zu den Armen ausbreiten. Sie treten nur in der Ruhe auf, sobald die Patienten sich hinlegen oder setzen, und sie können die ganze Nacht andauern. Bewegung oder Herumgehen bessern die Beschwerden. 4 Sensible Ausfallsymptome: Diese betreffen vorwiegend die sog. Oberflächenqualitäten: Berührungsempfindung, Schmerzund Temperaturempfindung. Hypästhesie ist oft mit Dysästhesie kombiniert. Bei manchen Formen steht die Beeinträchtigung der Lagewahrnehmung und der Vibrationsempfindung ganz im Vordergrund. Man spricht dann von einer ataktischen PNP. Der unterschiedliche Befall verschiedener sensibler Qualitäten zeigt eine selektive Schädigung bestimmter Fasergruppen innerhalb der Nerven an. 4 Störungen der vegetativen Innervation: Diese führen zu Gefäßlähmung mit Zyanose besonders in distalen Gliedabschnitten, zu umschriebener Hyperhidrose oder Anhidrose, zu trophischen Störungen der Haut und der Nägel und abnormer Pigmentierung. Kardiale vegetative Störungen sind bei einzelnen PNP stark ausgeprägt. Blasen- und Mastdarmlähmung gehören nur bei einigen Formen zum Bild der PNP.

662

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Elektrophysiologische Diagnostik Die elektrophysiologische Untersuchung bei Verdacht auf PNP besteht aus: Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) 4 Bestimmung mehrerer motorischer NLG an Armen und Beinen (z.B. N. medianus, N. ulnaris mit Sulkus-NLG, N. tibialis und N. peronaeus) 4 Sensible NLG am Arm (z.B. N. medianus sensibel antidrom, auch Untersuchung auf Karpaltunnelsyndrom) 4 Sensibel-orthodrome NLG des N. suralis Elektromyographie 4 EMG aus zwei bis drei Muskeln der unteren Extremitäten: Suche nach neurogenen Veränderungen der Potentiale und Beurteilung des Rekrutierungs- und Interferenzmusters Befunde 4 Neuropathien mit primärem Markscheidenbefall: Hier sind zunächst die elektroneurographischen Parameter verändert: Man findet Verzögerungen der motorischen NLG und der

3Verteilung der Symptome. Der häufigste Lokalisationstyp ist der symmetrische, distal betonte Befall der Extremitäten, weil vor allem die längsten Nervenfasern erkranken. Die sensiblen Störungen sind dabei strumpf- oder handschuhförmig angeordnet. In der Regel sind die Beine stärker betroffen als die Arme. Wenn einzelne Nerven verschiedener Extremitäten stark, benachbarte aber kaum oder gar nicht betroffen sind, spricht man von einer Schwerpunkt- oder Multiplex-PNP. Bei manchen PNP sind die Lähmungen, seltener die Gefühlsstörungen, proximal, im Becken- und Schultergürtel lokalisiert. Es gibt auch eine Hirnnervenpolyneuropathie, bei der motorische Hirnnerven und der N. trigeminus in wechselnder Verteilung, meist doppelseitig, gelähmt sind. Ein Kaudasyndrom mit Blasenstörungen als hervorragendes Symptom wird als ElsbergSyndrom (7 Kap. 32.5.4) beschrieben.

N. tibialis

31 cm

22,6 m / s

32

6,1

distalen Überleitungszeiten (. Abb. 32.1) sowie verlangsamte sensible NLG. Oft sind die sensibel orthodromen Nervenpotentiale pathologisch aufgesplittert. In der Frühphase finden sich Leitungsverzögerungen v.a. im Bereich besonderer mechanischer Beanspruchung, so dass multiple Engpasssyndrome den Verdacht auf eine PNP vom Markscheidentyp lenken müssen. Bei manchen hereditären Neuropathien kann sich der Befall von motorischen oder sensiblen Fasern durch manchmal extrem verzögerte NLG (unter 10 m/s) äußern. In der Frühphase der PNP vom Markscheidentyp gehören neurogen veränderte PmE und Denervierungszeichen nicht zum elektrophysiologischen Bild. Die Refraktärperioden nehmen deutlich zu. 4 Primär axonale PNP: Dagegen sind bei der axonalen PNP frühe neurogene Potentialveränderungen und Fibrillationen zu finden. Die motorischen und sensiblen NLG bleiben lange normal oder sind nur ganz geringfügig verzögert. Jedoch können die Summenaktionspotentiale von Muskeln und sensiblen Nerven niedriger und verbreitert bzw. desynchronisiert sein.

29,7

> Die häufigste Symptomatik der Polyneuropathie be-

steht in distal an den Extremitäten betonten Lähmungen und strumpf- und handschuhförmig angeordneten Sensibilitätsstörungen. Die Eigenreflexe sind abgeschwächt bis erloschen. 19,8

49,4

100 µV 10 ms

. Abb. 32.1. Mit 22,6 m/s deutlich verzögerte Leitgeschwindigkeit des N. tibialis. Der Befund zeigt sich nach Stimulation am Malleolus internus (oben) und noch deutlicher nach Stimulation in der Fossa poplitea (unten). Pathologisch erniedrigte und verbreiterte, aufgesplitterte Muskelantwortpotentiale. (H. Buchner, Aachen)

3Entwicklung der Symptome. Man unterscheidet drei Entwicklungsformen der PNP: 4 ≤4 Wochen: akut 4 4–8 Wochen: subakut 4 >8 Wochen: chronisch In der Mehrzahl der Fälle entwickeln sich die Symptome über Wochen und Monate langsam fortschreitend. Diese chronischen

663 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Verläufe führen im Allgemeinen nicht zu vollständigen Lähmungen. Sie haben aber auch nur eine geringe Besserungstendenz. Es gibt auch akute oder subakute Verläufe: Nach einem Vorstadium, das von Mattigkeit und Krankheitsgefühl oder den speziellen Erscheinungen der Grundkrankheit geprägt ist, setzen distal betonte Missempfindungen und Schmerzen ein. Die motorischen und sensiblen Ausfälle breiten sich dann in wechselndem Ausmaß von distal nach proximal aus, seltener von proximal nach distal. Sie bleiben dann für Tage oder Wochen stationär und klingen langsam wieder ab. Wird innerhalb weniger Stunden oder Tage die Muskulatur aller Extremitäten und des Rumpfes gelähmt, spricht man von einer Landry-Paralyse. 3Diagnostik. Die PNP werden nach Anamnese, neurologischem Befund und elektrophysiologischer Untersuchung in die folgenden Kategorien zugeordnet: 4 akut/chronisch, 4 sensibel/motorisch/sensomotorisch, 4 proximal/distal/symmetrisch/multiplex,

32

4 Markscheidentyp/axonaler Typ/Mischtyp, 4 mit oder ohne Hirnnervenbeteiligung.

Elektromyographie und Elektroneurographie: Die neurophysiologische Untersuchung ergänzt die klinischen Untersuchung. Man sucht nach einer generalisierten Schädigung des PNS und bestimmt den Verteilungstyp (symmetrische/asymmetrische PNP, Schwerpunktneuropathie). Die subklinische Mitbeteiligung des sensiblen Systems kann mit Hilfe der sensiblen Neurographie erfolgen. Die oft erwartete Unterscheidung zwischen »axonaler« und »demyelinisierende« Polyneuropathie ist leider nur eingeschränkt möglich, da bei Ausfall großer, schneller Fasern eine deutliche Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit möglich ist, was eine »demyelinisierende« PNP vortäuschen kann. Laborchemische Diagnostik: Zur ätiologischen Aufklärung sind Laboruntersuchungen notwendig, die man in 3 Stufen einteilen kann. Stufe 1 gehört zu jeder Untersuchung bei PNP unklarer Ursache. Mit ihr werden die häufigsten Ursachen von PNP wie Diabetes, Alkoholkrankheit, Nierenkrankheiten abgefragt und erste Hinweise auf andere Ursachen (Kollagenosen, Vitamin-

. Tabelle 32.3. Stufenplan zur laborchemischen PNP-Diagnostik Stufe 1

– – – – – – – – –

BSG, Blutbild, Elektrophorese, CRP Leberenzyme einschließlich γGT Carbodefizientes Transferrin (CDT) Blutzuckertagesprofil, Glukosetoleranztest (OGTT), Bestimmung von HbA1c Elektrolyte Harnstoff, Kreatinin (Clearance) Vitamin B12, Folat im Serum (falls grenzwertig erniedrigt: Homocystein und Methylmalonsäure) Rheumafaktoren Antinukleäre Faktoren (wenn pos., dsDNA-Antikörper und ENA-Screening)

Stufe 2

– – – – – – – – – – –

T3, T4, TSH Antikörper gegen Belegzellen Immunelektrophorese (anti-MAG-Antikörper) Blut, Urin und Stuhlproben auf Porphyrine Bence-Jones-Proteine (Urin) Antigangliosid-Antikörper (GM1, GD1a, GD1b, GD3, GQ1b, GT1b) Immunelektrophorese (anti-MAG-Antikörper) Bronchialzytologie Urin-, Blutproben auf toxische Substanzen Tumormarker und Vaskulitisparameter Liquoruntersuchung – Liquorstatus – Schrankenstörung – AK Borrelien – Zytologie (Lymphom)

Stufe 3

– – – – – – –

Paraneoplastische Antikörper (anti-Hu, anti-CV2 Infektionsserologie (Campylobacter jejuni, CMV, HSV, HIV, Hepatitis B und C, Borrelien) Gliadin-Antikörper (Zöliakie) Kryoglobuline ACE in Serum und Liquor (Sarkoidose) Phytansäure (M. Refsum) Molekulargenetische Untersuchungen

664

32

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

B12 –Mangel) erfasst. und Aus Stufe 2 werden je nach Verdachtsdiagnose die notwendig erscheinenden Untersuchungen ausgewählt. Stufe 3 dient zur Aufdeckung seltener Ursachen von PNP. Die 3 Stufen sind in . Tabelle 32.3 dargestellt. Liquorbefund: Er gestattet nur in sehr begrenztem Maße diagnostische und prognostische Schlüsse. Häufig ist der Liquor normal, vor allem wenn der Krankheitsprozess an den distalen Abschnitten des peripheren Nervensystems lokalisiert ist. Eiweißvermehrung zeigt einen Befall der Nervenwurzeln an. Gelegentlich besteht eine Pleozytose bis zu 10 Zellen (Liquor bei GBS s.u.). Genetik: Eine genetische Untersuchung ist indiziert bei positiver Familienanamnese für PNP oder bei typischen Zeichen einer hereditären PNP (Hohlfuß, Krallenzehen, s.u.). Nerven- und Muskelbiopsie: Eine Nervenbiopsie wird bei schwerer oder progredienter PNP die ätiologisch nicht geklärt wurde durchgeführt, sofern eine therapeutische Konsequenz bestehen könnte. Dies gilt für Vaskulitis-assoziierte PnP und die Amyloidneuropathie, wobei hier die Rektumbiopsie vorausgehen sollte. Bei den hereditären Neuropathien ist die Biopsie mit dem Fortschritt der Genetik in den Hintergrund getreten, Weitere seltene Indikationen sind: Sarkoidose, Lepra, metabolische Krankheiten wie Leukodystrophien, die Polyglukosankrankheit oder die Tumorinfiltration peripherer Nerven. Bei Kollagenoseverdacht ist eine Muskelbiopsie sinnvoll. Weitere Diagnostik: Tumorsuche (Röntgen oder CT-Thorax, Oberbauchsonographie, ggf. Ganzkörper-PET) und Biopsien aus Muskel oder Nerv, manchmal auch Haut oder Schleimhaut. 3Allgemeine Therapie 4 Übliche Schmerzmittel sind bei sensiblen Reizerscheinungen meist ohne Wirkung. 4 Thioctsäure wirkt, wenn sie intravenös in ausreichender Dosierung gegeben wird, bei diabetischer PNP oft erstaunlich gut, aber nur für kurze Zeit. Die Weiterbehandlung mit oraler Thioctsäure hilft meist nicht. 4 Bei sehr starken Reizerscheinungen werden Carbamazepin (Tegretal®), Oxcarbzepin (Trileptal®), Gabapentin (Neurontin®), Prägabalin (Lyrica®) und trizyklische Antidepressiva eingesetzt, die als Serotoninwiederaufnahmehemmer in zentrale Schmerzmechanismen eingreifen. 4 Bewährt haben sich Clomipramin (Anafranil®) und Amitriptylin (Saroten®) (besonders bei nächtlichen Schmerzen). Man muss diesen Patienten, die ja den Beipackzettel lesen, erklären, dass die Substanz nicht wegen Verdacht auf Depression gegeben wird. Bei Kausalgien nimmt man ebenfalls Antidepressiva oder Neuroleptika mit analgetischer Wirkung, z.B. Levomepromazin (z.B. Neurocil). 4 Nächtliche Muskelkrämpfe behandelt man mit Chinin-Präparaten, Baclofen und Carbamazepin. Bei Magnesiummangel wird Magnesium substituiert. Vitaminsubstitution ist nur bei nachgewiesenen Vitaminmangelzuständen sinnvoll.

32.1

Metabolische Polyneuropathien

32.1.1 Diabetische Polyneuropathie 3Epidemiologie. Das periphere Nervensystem ist beim Diabetes mellitus häufig betroffen. Fast 30% aller PNP müssen auf Diabetes zurückgeführt werden. Die Neuropathie kann schon früh im Krankheitsverlauf auftreten. Meist wird sie allerdings jenseits des 50. Lebensjahres beobachtet. Bei etwa 30% der Patienten liegen bereits neurologische Beschwerden und Ausfälle vor, wenn der Diabetes festgestellt wird. Etwa ein Viertel aller Diabetiker leidet unter Symptomen der PNP, bei der neurologischen Untersuchung findet man Zeichen der PNP noch viel häufiger. Untersucht man eine unausgelesene Population von Diabetikern, findet man bei 70–80% Zeichen einer leichten, klinisch nicht manifesten PNP (z.B. Abschwächung der ASR). 3Pathogenese. Viele Autoren nehmen eine Mikroangiopathie der Vasa nervorum an. Für eine ischämische Genese spricht der multifokale Faserverlust und der gelegentliche Beginn in proximalen Nerven und Nervenabschnitten. Die PNP tritt besonders beim unbehandelten oder schlecht eingestellten Diabetes auftritt. Bei diesen Patienten hat das Glykohämoglobin einen Wert über 8%. Die Bestimmung des HbA1c hat eine größere Aussagekraft als die Bestimmung des aktuellen Blutzuckerniveaus. Man muss deshalb annehmen, dass die Neuropathie auch durch die Stoffwechselstörung selbst entsteht. Es ist noch nicht bekannt, ob der pathogenetisch bedeutsame Faktor die toxische Wirkung von Metaboliten oder ein Mangel an notwendigen Nährstoffen oder Enzymen ist. 3Symptomatik 4 Distale, sensomotorische, diabetische PNP: Die Beine sind stets stärker betroffen als die Arme. Ein Frühsymptom, das man bei sehr vielen Zuckerkranken findet, ist Abschwächung und Erlöschen der ASR. Danach setzen sensible Reizerscheinungen ein: Parästhesien, besonders vom Typ der burning feet, d.h. brennende Missempfindungen auf der Fußsohle, schmerzende Muskelkrämpfe im M. quadriceps und M. triceps surae und dumpfe oder lanzinierende Schmerzen in der Lendengegend, der Ilioinguinalregion und an der Vorderseite der Oberschenkel. Sehr charakteristisch ist eine Verstärkung der Schmerzen in der Nacht. Wenn dünnkalibrige Fasern bevorzugt betroffen sind, stehen unangenehme Reizerscheinungen im Vordergrund. Unter den sensiblen Ausfällen steht die Aufhebung der Vibrationsempfindung an den Zehen, Füßen oder Beinen an erster Stelle. Ist die Lagewahrnehmung stärker gestört, entsteht das Bild einer sensiblen Ataxie. Strumpf-, handschuh- oder fleckförmig können auch Berührungs-, Schmerz und Temperaturempfindung gestört sein. Anästhesie tritt nicht auf. Distale, symmetrische Paresen, besonders der Fuß- und Unterschenkel- und der kleinen Handmuskeln treten hinzu. Die

32

665 32.1 · Metabolische Polyneuropathien

Muskeleigenreflexe sind distal erloschen. Man findet alle Schweregrade der Lähmungen von abnormer Ermüdbarkeit der Muskeln bis zur Paralyse mit Atrophie und Kontrakturen. Entsprechend stellt man bei der elektroneurographischen und elektromyographischen Untersuchung entweder nur eine Verzögerung der Nervenleitgeschwindigkeit, auch in scheinbar gesunden Muskeln, oder auch die Zeichen der Denervierung fest. In der Frühphase kann das multiple Auftreten von Engpasssyndromen ein Hinweis auf beginnende, diabetische PNP sein. 4 Proximale, asymmetrische, vorwiegend motorische PNP: Sie ist viel seltener als die distale PNP und betrifft Fasern des Plexus lumbosacralis, vor allem die Nn. femoralis, obturatorius und glutaei, und führt zu deutlichen Atrophien (diabetische Amyotrophie). Sie kann bei älteren Diabetikern relativ akut mit heftigen, besonders nächtlichen Schmerzen auftreten. Eine besondere Lokalisation ist die diabetische Radikulopathie der unteren Thorakalsegmente mit Bauchwandparesen, Schmerzen und Gefühlsstörungen am Rumpf. Sensibilitätsstörungen können dabei aber auch fehlen. 4 Diabetische Hirnnervenlähmungen: Hirnnervensymptome sind nicht selten: In der Reihenfolge der Häufigkeit werden die Nn. oculomotorius, abducens, facialis und die kaudalen Hirnnerven betroffen. Sie können unter heftigen Schmerzen auftreten. Die akuten diabetischen Augenmuskellähmungen bilden sich durchweg zurück. Bleiben bei Diabetikern Augenmuskellähmungen bestehen, muss man auch nach einer anderen Ursache suchen. 4 Vegetative Neuropathie bei Diabetes: Häufig ist auch das periphere vegetative Nervensystem betroffen. Es kommt zu Pupillenstörungen, zu Urinretention, Diarrhoe, Impotenz, zu Störungen der Schweißsekretion (distale Anhidrose, proximale Hyperhidrose), zu orthostatischen Regulationsstörungen und zur Herzstarre, d.h. zum Ausbleiben der Verlangsamung des Herzschlags in der tiefen Exspiration infolge Vagusläsion. Die kardiale, autonome Denervierung mit Herzstarre lässt sich durch Bestimmung der maximalen Differenz der Herzfrequenz bei vertiefter Atmung (6 Atemzüge pro Minute) erfassen. Seltener sind schwere Störungen der Hauttrophik (Ulzerationen und selbst Knochenläsionen an belasteten Stellen, besonders den Fußsohlen). > Die sensible und autonome Denervierung des Herzens

führt zur Schmerzunempfindlichkeit, der pektanginöse Schmerz wird nicht mehr wahrgenommen (»stummer Herzinfarkt«).

3Verlauf. Die verschiedenen Verlaufsformen der diabetischen PNP werden durch . Abbildung 32.2 erläutert. Die Krankheit kann in jedem Stadium des Diabetes, auch als Frühsymptom, auftreten. Feste Beziehungen zur Dauer und Schwere der Stoffwechselstörung bestehen nach neueren Untersuchungen nicht. Sie entwickelt sich beim distalen Typ in der Regel schleichend, erreicht innerhalb von Monaten ihren Höhepunkt und bildet sich nur langsam und meist unvollständig wieder zurück. Der proximale Typ setzt subakut ein, verläuft nicht selten schubweise und

% 100 90

klassische, sensibel-motorische Polyneuropathie

80 70 60 50

Mononeuropathie bei Diabetes (Femoralis-, Augenmuskelparesen)

autonome Polyneuropathie

40 30 20 10 0 0

10

20

30

40

50

60

70

80 Alter

kardiovaskuläre Störungen

trophisches Ulkus asymmetrische Muskelparesen diabetische Diarrhoe

. Abb. 32.2. Schema der Erscheinungsformen der Polyneuropathie bei Diabetes mellitus in Abhängigkeit vom Alter des Patienten, der Schwere der Stoffwechselstörung und einer mitbestehenden Makroangiographie. (Nach Bischof, in Hopf, Poeck, Schliack, Bd. II, 1986)

hat eine Tendenz zur Remission im Verlauf einiger Monate. Rezidive kommen vor. Patienten mit schwerer, autonomer Neuropathie, speziell mit Tachykardie und Herzstarre bei forcierter Exspiration, sind durch Komplikationen, beispielsweise plötzlichen Herztod, gefährdet. Der Diabetes muss nicht immer manifest sein. Oft liegt nur ein subklinischer Diabetes vor, mit normalem Nüchternblutzucker, aber pathologischem Ausfall des Glukosebelastungstests. Die Bestimmung des Nüchternwertes sollte ohnehin durch den postprandialen Wert 1 h nach dem Frühstück ersetzt werden. Im Liquor findet man gelegentlich eine leichte bis mäßige Eiweißvermehrung bei normaler Zellzahl. 3Therapie 4 An erster Stelle muss die Normalisierung der Stoffwechsellage stehen. 4 Unbehandelte Diabetiker oder Patienten mit subklinischem Diabetes werden diätetisch, bei Bedarf auch auf orale Antidiabetika eingestellt. 4 Große Bedeutung hat auch die Reduktion des oft erhöhten Körpergewichts und die Behandlung einer begleitenden Fettstoffwechselstörung. 4 Die Verordnung von Vitaminen ist wertlos, Kortikoide sind selbstverständlich kontraindiziert. Die physikalischen Maßnahmen folgen den allgemeinen Richtlinien. Bei starken Schmerzen wird neben den oben genannten Substanzen auch Thioctazid als Kurzinfusion empfohlen. Die Erfolge sind aber ungewiss.

666

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Differentialdiagnose nächtlicher Parästhesien und Bewegungsunruhe (»Restless-legs-Syndrom«) Von den nächtlichen, unangenehmen Sensibilitätsstörungen, die viele PNP-Patienten, besonders mit diabetischer oder urämischer PNP haben, und die sie veranlassen aufzustehen und die Beine zu bewegen, lässt sich das Restless-legs-Syndrom abgrenzen. Die Leitsymptome sind unangenehme, quälende, als ziehend und reißend beschrieben Missempfindungen in den Beinen und der nicht zu unterdrückende Drang, die Beine zu bewegen. Die Linderung der Beschwerden durch die Bewe-

32.1.2 Andere, metabolische Polyneuropathien Polyneuropathie bei Urämie Etwa 1/4 aller Patienten mit chronischer Urämie oder Dialyse haben eine PNP. Diese ist meist vom distal symmetrischen Typ. Sensible Reizerscheinungen (burning feet), Wadenkrämpfe und leichte Paresen stehen im Vordergrund. Die Myelinscheiden und die Axone sind gleichermaßen betroffen. Die Pathogenese der Neuropathie ist unklar. Man vermutet, dass eine noch nicht definierte, endotoxische Substanz mit einem Molekulargewicht von um 1000 eine Rolle spielt. Nach Nierentransplantation beobachtet man häufig eine Besserung der PNP.

32

Hepatische Polyneuropathie Meist symmetrische, demyelinisierende, sensible PNP, die bei primär biliärer Zirrhose, Virushepatitis und chronischer Hepatopathie gefunden werden kann. Die Pathogenese ist unklar. PNP bei Schilddrüsenkrankheit Diese sensomotorische Neuropathie mit distaler, symmetrischer Verteilung kann bei Hypo- und Hyperthyreose auftreten. Bei der Hypothyreose ist zusätzlich mit Engpasssyndromen, vor allem dem Karpaltunnelsyndrom, zu rechnen. Axone und Markscheiden sind gleichermaßen betroffen. Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) Diese vermutlich endogen-toxische Polyneuropathie tritt bei Patienten mit langdauernder Sepsis und Multiorganversagen, die auf einer Intensivstation behandelt werden, sehr häufig auf. Überwiegend sind die motorischen Nerven befallen, während die sensiblen Nervenfunktionen weitgehend erhalten sind. Erst vor kurzem konnte ein humoraler, für Motoneurone toxischer Faktor aus dem Serum von CIP-Patienten isoliert werden. Die Häufigkeit der CIP wird unterschätzt: Die meisten Patienten, die mehr als 1–2 Wochen mit Multiorganversagen und Sepsis auf einer Intensivstation behandelt werden und überleben, entwickeln diese Polyneuropathie.

gung ist aber nur kurzdauernd. Eine PNP liegt bei diesen Patienten definitionsgemäß nicht vor. Ein Restless-legs-Syndrom kommt auch als essentielle oder autosomal-dominante, familiäre Form vor. Ätiologisch liegt eine Störung im Dopaminstoffwechsel, vor. Entsprechend behandelt man das Restless-legs-Syndrom mit L-Dopa (50–200 mg vor dem Schlafengehen). Auch D2-Agonist Pramipexol ist wirksam.

3Symptomatik. Es entwickelt sich eine schwere, schlaffe, atrophische Lähmungen aller Extremitäten einschließlich der Atemmuskulatur. Da die Patienten über lange Zeit behandelt und sediert worden sind, wird die Intensivpolyneuropathie oft erst bemerkt, wenn sich nach überstandener Sepsis Schwierigkeiten bei der Entwöhnung von der maschinellen Beatmung ergeben. 3Diagnostik. Typisch sind die Denervierung der Muskulatur, eine abnehmende Amplitude der Muskelantwortpotentiale und die Verzögerung der motorischen Nervenleitgeschwindigkeit bei praktisch normalen, sensiblen NLG. 3Therapie und Prognose. Medikamente mit NMDA-antagonistischer Wirkung könnten prophylaktisch nützlich sein, sind jedoch für diesen Zweck nicht getestet worden. Die Spontanprognose ist überraschend günstig: Wenn die Patienten die Grundkrankheit überleben, kommt es über Wochen und Monate zu einer langsamen Restitution der motorischen Fähigkeiten. Dadurch, dass die Beatmungsphase bei diesen Patienten verlängert wird und entsprechende sekundäre Komplikationen, wie Pneumonien, Tracheomalazie und erneute Sepsis entstehen können, stellt die Intensivpolyneuropathie eine wesentliche Komplikation der modernen, intensivmedizinischen Behandlung dar. 32.1.3 Polyneuropathie bei Vitaminmangel

und Malresorption Vitaminmangelzustände werden heute in Mitteleuropa nur noch selten beobachtet, jedoch kann eine radikale vegetarische Ernährung zu Vitamin-B1-, -B2-, -B6- und -B12-Mangel führen. Bei Vitamin-B12-Mangel tritt die funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28.1) mit Begleit-PNP auf. Typisch für einen B1-Mangel ist das Beriberi-Syndrom (symmetrische, sensomotorische PNP). Bei der Pellagra (Vitamin-B2-Mangel) tritt neben Hauterscheinungen und Durchfall auch eine PNP auf. Ähnlich ist die Symptomatik bei der Sprue (Zöliakie). Hungerpolyneuropathien sind

667 32.2 · Toxisch ausgelöste Polyneuropathien

in Kriegszeiten nicht selten und können persistierende, polyneuropathische Symptome verursachen. Bei Anorexia nervosa können ernährungsbedingte PNP, aber auch eine B1-Mangelsymptomatik (akute Wernicke-Enzephalopathie als lebensbedrohliche Komplikation) auftreten. > Nur bei nachgewiesenem Vitaminmangel ist die Be-

handlung mit Vitaminen sinnvoll.

32.2

Toxisch ausgelöste Polyneuropathien

Eine Vielzahl endogener und exogener Toxine, darunter Alkohol (7 Kap. 29.2.1), Medikamente, Drogen, Stoffwechselstörungen und Vergiftungen mit Schwermetallen können die peripheren Nerven schädigen. Formal entstehen meist distal symmetrische, sensomotorische PNP, aber auch Schwerpunktneuropathien kommen vor. Axone und Myelinscheiden können betroffen sein. Wir besprechen hier einige wichtige Unterformen der toxischen PNP und stellen in . Tabelle 32.4 die Medikamente zusammen, die häufig zu einer PNP führen.

32

. Tabelle 32.4. Polyneuropathien bei Medikamenten (Auswahl)

Substanzgruppe

Art der Polyneuropathie

Zytostatika Vincristin Cisplatin

Distale, sensomotorische PNP Distale, sensomotorische PNP

Antibiotika und Chemotherapeutika Penicillin und Abkömmlinge Streptomycin Amphotericin Choramphenicol Nitrofurantoin Sulfonamide Tuberkulostatika

Mononeuritis multiplex, selten sensomotorische PNP Hirnnerven-Neuropathie Schwerpunkt-PNP, vorwiegend motorisch Sensible Neuropathie Distale, sensible PNP Motorische Neuropathie Distale, sensomotorische Neuropathie

Antirheumatika Indometacin Colchicin

Sensomotorische, distale PNP Sensomotorische, distale PNP

Antiepileptika und Antidepressiva

32.2.1 Medikamenteninduzierte Polyneuropathien Symptome einer PNP gehören zu den häufigsten, unerwünschten Wirkungen vieler Medikamente. Bei einigen Substanzen, z.B. Vincristin, tritt eine PNP immer auf, wenn eine bestimmte Gesamtdosis überschritten wird, bei den meisten anderen Medikamenten dagegen entwickelt nur ein kleiner Teil der Patienten eine PNP. Erschwerend kommt hinzu, dass in manchen Fällen die Krankheit, gegen die das Medikament wirken soll, selbst eine PNP auslösen kann. Dann wird es schwer, die Kausalität herzustellen. 3Symptomatik. Meist stehen sensible Reizerscheinungen im Vordergrund. Distal-symmetrische, sensomotorische Formen sind häufig, aber auch atypische Verteilungsmuster kommen vor. 32.2.2 Polyneuropathien bei Lösungsmittel-

exposition 3Ätiologie. Substanzen wie Acrylamid, Hexocarbone und Schwefelkohlenstoffe, um nur einige zu nennen, können bei chronischer Exposition PNP hervorrufen. Biopsien helfen ätiologisch nicht weiter, auch die Nervenleitgeschwindigkeiten sind nur geringgradig und damit unspezifisch verändert. Entscheidend ist die Arbeitsplatz- und Expositionsanalyse, einschließlich Messung der jeweiligen Grenzwerte bei industriell genutzten Substanzen, die von Arbeitsmedizinern vorgenommen wird. Diese haben auch ausführliche Aufstellun-

Diphenylhydantoin Trizyklische Antidepressiva

Distale Polyneuropathie, Kleinhirnschädigung Distale, sensomotorische PNP (selten)

Herz-Kreislaufmittel Hydralazin Antikoagulanzien Propranolol Ergotamin

Sensible Neuropathie Schwerpunkt-PNP (selten) Sensible Reizerscheinungen, sensible PNP Distale, sensomotorische Polyneuropathie

gen über die verschiedenen Substanzen, deren dokumentierte neurotoxischen Symptome und die Grenzwerte. 3Symptome und Kausalität. Meist distal beginnende, primär überwiegend sensible, später sensomotorische PNP. Muskelschmerzen und zentralnervöse Symptome (Ataxie, Enzephalopathie, Hirnnervenbeteiligung) können zu dem PNP-Syndrom komplizierend hinzutreten. Manchmal bilden sich die Symptome nach Beendigung der Exposition zurück, häufiger bleiben aber zumindest Residualsymptome erhalten. Aufgrund der unspezifischen Befunde, die in gleicher Art auch bei einer Reihe anderer, besonders alimentär toxischer Substanzen (Alkohol) auftreten können, ist die Zuordnung der Beschwerden zu einer beruflichen Exposition oft problematisch, besonders wenn die Grenzwerte am Arbeitsplatz eingehalten worden sind. Wenn nur subjektive Symptome vorliegen, kann eine erhebliche Diskrepanz zwischen Entschädigungswunsch und Objektivierbarkeit von Beschwerden bestehen.

668

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Polyneuropathie bei Vergiftungen mit Metallen Blei-Polyneuropathie Die Bleipolyneuropathie ist heute sehr selten. Zur chronischen Bleivergiftung waren vor allem Arbeiter in Akkumulatorenfabriken und Personen disponiert, die beruflich oder in ihrer Freizeit mit Mennige oder bleihaltigen Farben umgingen. Das Blei wird vor allem in den Knochen abgelagert. Man muss berücksichtigen, dass es auch nach Aussetzen der Exposition noch nach Jahren aus den Knochendepots wieder abgegeben werden kann.

32

3Symptome. Die PNP entsteht bei chronischer Bleivergiftung, bei der die Patienten über Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Obstipation und Darmkoliken klagen. Ihre Haut ist blass bis graugelblich (Bleikolorit). Der Zahnfleischrand ist mitunter durch Einlagerung von Bleisulfid dunkel gefärbt (Bleisaum). Charakteristisch sind ferner: hämolytische Anämie, vermehrtes Auftreten von Retikulozyten und basophil punktierten Erythrozyten (nicht obligat und nicht pathognomonisch) und signifikante Erhöhung der Ausscheidung von Koproporphyrin III und δ-Aminolävulinsäure im Harn. Im Vordergrund der PNP steht eine symmetrische Streckerlähmung an den Armen. Die Hand- und Fingerextensoren sind gelähmt, während die übrigen Muskeln frei bleiben. Atrophien des Daumen- und Kleinfingerballens, der kleinen Hand- und Fußmuskulatur können auftreten. Auch an den Unterschenkeln ist eine Extensorenschwäche charakteristisch. Die Sensibilität ist meist weniger als die Motorik gestört. Schmerzen treten nicht auf. Der Liquor ist meist normal. Elektroneurographisch findet man eine Verminderung der Nervenleitgeschwindigkeit, weil das pathologisch-anatomische Substrat eine segmentale Entmarkung ist, die man auch durch Nervenbiopsie nachweisen kann. Chemischer Nachweis: Erhöhung des Bleispiegels im Serum. 3Therapie. Die Behandlung mit dem Chelatbildner DPenicillamin (Metalcaptase®, 3-mal 300 mg tgl. per os) bessert die Symptome, verhindert auch, dass später, z.B. bei akuten Infekten, neue Vergiftungsschübe durch Freisetzen des Bleis aus den Depots entstehen können. Die Prognose ist gut, die Lähmungen bilden sich bis auf funktionell unbedeutende Symptome wieder zurück. Thallium-Polyneuropathie Thalliumvergiftungen sind ebenfalls sehr viel seltener geworden. Sie kamen hauptsächlich nach oraler Aufnahme von Rattengift, wie Celiokörner oder Celiopaste zustande, die Thalliumsulfat enthalten. Die Präparate werden meist versehentlich oder in suizidaler Absicht eingenommen. Gewerbliche Vergiftungen sind sehr selten.

6

Thallium wird schnell resorbiert und gleichmäßig im Körper verteilt. Es wird jedoch nur sehr langsam durch den Magen-DarmTrakt und die Nieren ausgeschieden. Die Ausscheidung zieht sich über Wochen hin, selbst dann, wenn die Plasmawerte niedrig sind. Das zeigt, dass die Hauptmenge des aufgenommenen Thalliums in intrazellulären Kompartimenten gespeichert wird. 3Symptome. Innerhalb weniger Stunden treten Übelkeit, Erbrechen, ein sehr typischer retrosternaler Schmerz und Bauchschmerzen mit hartnäckiger, spastischer Obstipation auf. Die abdominellen Symptome beruhen vermutlich auf Freisetzung von Koproporphyrin und δ-Aminolävulinsäure. Durch den Schwartz-Watson-Test lässt sich im Urin Porphobilinogen nachweisen. In der 2.–3. Woche lockern sich die Kopf-, Achsel- und Schamhaare und die lateralen Augenbrauen und fallen schließlich ganz aus. Von der 3.–4. Woche an treten an Finger- und Zehennägeln weiße Querstreifen, die Mees-Nagelbänder auf, die sich mit dem Wachstum der Nägel langsam nach distal verschieben. Der Nachweis des Giftes gelingt in den ersten 2–3 Wochen aus Serum, Stuhl und Harn, nach 8 Wochen aus den Haaren. Die PNP setzt zwischen dem 1. Tag und der 2. Woche ein. Zeitpunkt und Schwere hängen von der Menge des resorbierten Thallium ab. Missempfindungen in Füßen und Händen steigern sich bald zu heftigen Schmerzen. Sehr bezeichnend ist eine Hyperpathie der Fußsohlen, bei der schon leiseste Berührung unerträgliche Schmerzen auslöst. Das Gehen ist allein schon wegen dieser Hyperpathie unmöglich. Sensible Ausfälle nach Art einer Hypästhesie breiten sich von den Füßen bis zum Rumpf aus. Die Lagewahrnehmung ist kaum betroffen. Die Lähmungen sind an den Beinen stärker als an den Armen und sollen von proximal (Beckengürtel) nach distal absteigen. Während die Rumpfmuskeln verschont bleiben, können die Nn. opticus, oculomotorius, facialis, sensibler Trigeminus und motorischer Vagus ergriffen werden. Als Symptome des Zentralnervensystems beobachtet man Myoklonien, Krampfanfälle sowie psychopathologische Auffälligkeiten, die in leichten Fällen als Affektlabilität und Reizbarkeit auftreten. Bei schwerer Vergiftung kann eine exogene Psychose, meist von delirantem Typ, auftreten. 3Therapie. Im akuten Stadium Magenspülung mit 1% Natrium-Jodidlösung und 3 g von Antidotum Thallii (Eisenhexazyanoferrat) durch die Magensonde alle 3 Stunden. Wegen der langen Halbwertszeit von Thallium im Organismus (14 Tage) und der enteralen Rückresorption muss diese Behandlung über mehrere Wochen fortgesetzt werden. Ergänzend ist die forcierte Diurese, manchmal auch die extrakorporale Dialyse indiziert. Gegen die Schmerzen gibt man Opiate, kombiniert mit Neuroleptika oder Thymoleptika.

669 32.3 · Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen

Setzt die Therapie zu spät ein, kann die Vergiftung tödlich verlaufen. Nach 4–5 Wochen besteht keine Lebensgefahr mehr. Die Rückbildung der PNP zieht sich über Monate bis Jahre hin und bleibt oft unvollständig. Arsen-Polyneuropathie Die Vergiftung ist weit seltener als die mit Thallium. Sie kommt als gewerbliche Vergiftung beim Umgang mit arsenhaltigen Farben vor. Arsen wird aber, weil es geruchs- und geschmacksfrei ist, auch heute noch gelegentlich zum Giftmord benutzt. Die chronische Vergiftung wird dadurch begünstigt, dass das Arsen nur sehr langsam ausgeschieden wird. 3Symptome. Die akute Vergiftung hat Ähnlichkeit mit der Thalliumintoxikation. Die PNP ist, ähnlich wie bei Thalliumvergiftung, durch sehr unangenehme Missempfindungen und heftige Schmerzen in Händen und Füßen gekennzeichnet. Lähmungen und sensible Ausfälle sind aber an Armen und

32.3

Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen

Nahezu alle Kollagenosen führen zu neurologischen Begleitsymptomen. Das periphere Nervensystem ist viel häufiger als das zentrale betroffen. Es kommt zu PNP, meist vom Multiplexverteilungstyp, aber auch symmetrische PNP und akute Polyneuritiden werden beobachtet. 32.3.1 Panarteriitis nodosa Die Krankheit bevorzugt das fortgeschrittene Lebensalter, kann aber auch schon in jüngeren Jahren auftreten. Männer erkranken häufiger als Frauen. In etwa der Hälfte der Fälle von Panarteriitis nodosa kommt es zu Symptomen vonseiten des peripheren Nervensystems. 3Ätiologie. Es handelt sich um eine vaskulär bedingte PNP. Es kommt durch Vaskulitis der kleinen und mittleren Gefäße zu entzündlichen Gefäßwandveränderungen und zu Thrombosen, die zu ischämischen Läsionen der peripheren Nerven führen. 3Symptome. Die Neuropathie tritt als Mononeuritis multiplex, d.h. Lähmung mehrerer, einzelner Nerven an den Extremitäten, die auch mit Hirnnervenlähmungen kombiniert sein kann, und als symmetrische PNP auf. Der Befall des peripheren Nervensystems äußert sich zunächst in sensiblen Reizerscheinungen: heftigen Nerven- und Muskelschmerzen. Die Lähmungen führen gewöhnlich rasch zu erheblichen Muskelatrophien. Sensible Ausfälle sind nur gering

32

Beinen etwa gleich stark und symmetrisch distal lokalisiert. An den Armen ist der N. radialis, an den Beinen der N. peronaeus besonders betroffen. Selten kommt es zur Neuritis N. optici und zur Fazialislähmung. Regelmäßig entwickeln sich nach etwa 3 Wochen die oben beschriebenen Nagelbänder. Der Liquor ist meist normal. 3Diagnostik. Nachweis im Urin, in den Haaren und Nägeln. Die Haare müssen wurzelnah untersucht werden. 3Therapie. Bei akuter Vergiftung Magenspülung. Dimercaptol (BAL) alle 4, später alle 6 h i.m., Antidotum metallorum Sauter durch Magensonde, Substitution von Flüssigkeiten und Mineralien durch Infusionen, Kreislaufmittel. Bei chronischer Vergiftung BAL-Kur über 2 Wochen, Vitamin C in hohen Dosen. Die Rückbildung erstreckt sich über viele Monate und bleibt oft unvollständig.

ausgeprägt. Der Verlauf ist häufiger schubweise mit Remissionen als chronisch mit intermittierenden Besserungen. Wenn auch die Gehirngefäße befallen sind, kann es zu ischämischen, zerebralen Insulten kommen. 3Diagnose. Die Diagnose kann durch Leber, Nieren- und Nerven-/Muskelbiopsie (der Muskel ist sehr gefäßreich) gesichert werden. Der Liquorbefund ist uncharakteristisch. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist in der Regel normal. Die Muskelaktionspotentiale und Nervenaktionspotentiale sind jedoch oft niedrig und desynchronisiert, und die Refraktärzeit ist verlängert. Internistischer Befund: Folgende Zeichen sind charakteristisch: 4 Hinfälligkeit bis zum Marasmus, 4 Temperaturerhöhung bis zum septischen Fieber, 4 Milzvergrößerung, 4 renaler Hochdruck mit pathologischem Urinbefund und Einschränkung der Nierenleistung, 4 Anämie, 4 Leukozytose mit Eosinophilie, 4 maximale Beschleunigung der BSG und 4 Verschiebung der Serumeiweißkörper. Laborchemisch bestimmt man zunächst die BSG, das C-reaktive Protein, antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA), bevor man gezielt nach weiteren Antikörpern sucht. Da die Panarteriitis nodosa in Assoziation mit einer Hepatitis-B-Infektion vorkommen kann, sollte eine Hepatitisserologie erfolgen. Der häufige Koronarbefall zeigt sich an verschiedenartigen EKG-Veränderungen.

670

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Andere Kollagenosen mit Polyneuropathie Systemischer Lupus Beim Lupus erythematodes stehen ZNS-Veränderungen im Vordergrund. Aber auch eine der beiden beschriebenen PNPFormen ist möglich. Im Blut lassen sich hohe Titer antinukleärer Antikörper (ANA) nachweisen. Antikörper gegen doppelsträngige DNA sind typisch für den systemischen Lupus erythematodes (60–90%). Churg-Strauß-Syndrom Die Churg-Strauß-Vaskulitis ist eine eosinophile nekrotisierende Arteriitis, bei der eine Mononeuritis multiplex entstehen kann. Die Diagnose wird über die pulmonale Beteiligung und die gleichzeitig bestehende Rhinitis erleichtert. Im Blutbild zeigt sich eine Eosinophilie, serologisch sind in ca. 40% pANCA nachweisbar. Dieses Syndrom spricht recht gut auf Steroidbehandlung an. Wegener-Granulomatose Es handelt sich um eine Vaskulitis kleiner Gefäße mit granulomatöser Entzündung des Respirationstrakts und häufiger Nierenbeteiligung (Glomerulonephritis). In ca. 20–40% kommt es

> Tritt eine Polyneuritis mit Temperaturerhöhung, BSG-

32

Beschleunigung und Funktionsstörungen verschiedener innerer Organe auf, muss man stets an Panarteriitis nodosa denken.

3Therapie. Immunsuppressiva, z.B. Glukokortikoide und Azathioprin (z.B. Imurek®), ferner Cyclophosphamid (z.B. Endoxan®). 32.3.2 Polyneuropathie bei rheumatoider Arthritis Ähnlich wie bei Panarteriitis und auch beim viszeralen Erythematodes, kann sich im Verlauf einer rheumatoiden Arthritis, meist erst nach längerem Bestehen der Krankheit, eine PNP entwickeln. 3Ätiologie. Sie entsteht als ischämische Nervenschädigung durch Immunkomplexangiitis der Vasa nervorum. In der Regel haben die Patienten als Ausdruck der Angiitis bereits längere Zeit vor der PNP Rheumaknötchen und multiple, oft auch ausgedehnte Ekchymosen an den Extremitäten. Die Blutaustritte werden bei normalen Gerinnungsfaktoren und Thrombozytenzahlen auf verminderte Kapillarresistenz zurückgeführt. 3Symptome und Verlauf. Die Krankheit kann auftreten als 4 Mononeuritis multiplex besonders der Nn. ulnaris, medianus, radialis, ischiadicus u. saphenus,

zu einer vaskulitisch bedingten Neuropahtie (Mononeuritis multiplex, distal symmetrische PNP). Serologisch lassen sich cANCA nachweisen. Sjögren-Syndrom Auch beim Sjögren-Syndrom, bei dem die Sicca-Symptomatik (Konjunktivitis, Rhinitis) und die Gelenkbeschwerden im Vordergrund stehen, können sensible Neuropathien, manchmal mit deutlicher Ataxie, auftreten. Serologischer Nachweis von Ro/SSA-p52-Antikörper, ANA (SS-B, SS-A). Kryoglobulinämie Die essentielle Kryoglobulinämie ist zwar keine Kollagenose, führt aber auch zu einer vaskulitisch bedingten Neuropathie. Sekundäre Kryoglobulinämien sind assoziiert mit Hepatitis-CInfektion, malignen Lymphomen und Kollagenosen. Therapie: Plasmapherese (essenzielle Kryoglobulinämie), Behandlung der Grunderkrankung bei den sekundären Kryoglobulinämien (z.B. antivirale Therapie bei Hepatitis-C-Infektion). Therapie: Plasmapherese.

4 als rein sensible Neuropathie, die an den Fingern beginnt, aber den Daumen freilässt und erst später die Beine ergreift und 4 als akute PNP besonders der Beine, in deren Entwicklung sensible Reizsymptome (Parästhesien, Schmerzen) den sensomotorischen Ausfällen um mehrere Tage vorangehen.

Bei allen Formen kommt es sehr rasch zu schweren, trophischen Störungen der Haut bis zu distalen Nekrosen. 3Diagnostik. Die Diagnose liegt bei dem eindrucksvollen, allgemeinen Krankheitszustand und den fast stets deutlich positiven serologischen Reaktionen nahe. Sie wird durch Nervenbiopsie des N. suralis gesichert. Elektrophysiologisch zeigt sich meist eine PNP vom Markscheidentyp. 3Therapie. Da die Patienten meist schon Steroide erhalten, ist zusätzlich die immunsuppressive Behandlung mit Azathioprin oder Metothrexat angezeigt. Die Prognose ist bei rein sensibler Symptomatik nicht schlecht, bei sensomotorischen Ausfällen ungünstig. 32.4

Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN)

Die Gruppe der HMSN ist charakterisiert durch distal beginnende, chronisch verlaufende, atrophische Lähmungen, Ausfall besonders der Vibrations- und Lageempfindung, schmerzhafte

671 32.4 · Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN)

32

Exkurs Genetik der hereditären motorischen und sensiblen Neuropathien HMSN Typ 1. Fünf klinisch nicht unterscheidbare autosomaldominante Unterformen (HMSN 1A–F) sind durch heterogene molekulargenetische Defekte charakterisiert. Bei der HMSN 1A liegt eine Duplikation oder Mutation des PMP22-(peripheral myelin protein 22-) Gens auf Chromosom 17 vor. Bei der hereditären Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen ist ebenfalls das PMP22-Gen allerdings durch Deletion oder Mutation betroffen. HMSN Typ 2. Autosomal-dominante Vererbung mit molekulargenetisch heterogenen Defekten (HMSN 2, HMSN 2A–F, HMSNP).

Muskelkrämpfe und starke Verlangsamung der NLG. Die deskriptive Bezeichnung HMSN hat die früher üblichen Benennungen: neurale Muskelatrophie, Charcot-Marie-Tooth- oder DejerineSottas-Krankheit abgelöst. In der Literatur werden bis zu 8 verschiedene Typen von HMSN beschrieben. Neben den autosomal vererbten HMSN Typ 1–7 (. Tabelle 32.5) ist auch eine X-chromosomal vererbte HMSN beschrieben. Von klinischer Relevanz sind die Untertypen HMSN 1, 2 und 3.

HMSN Typ 3. Für diese autosomal-dominant vererbte Krankheit sind drei verschiedene Genmutationen gefunden worden (HMSN 3A–C). Bei der HMSN 3A z.B. zeigen sich Mutationen im PMP22-Gen Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen. Autosomal-dominant vererbte Krankheit, die auf eine Deletion oder Mutation des PMP22-Gens auf Chromosom 17 zurückzuführen ist.

32.4.1 HMSN 1 3Epidemiologie. Die HMSN 1 ist auch als Charcot-MarieTooth-Krankheit bekannt. Sie wird autosomal-dominant vererbt (Mutation auf Chromosom 17p). Inzwischen sind fünf verschiedene Genmutationen bekannt (HMSN 1A–F). Es handelt sich um die häufigste neurogenetische Erkrankung mit 20–30 Betroffenen pro 100.000 Einwohnern. Die Ausprägung variiert bei den

. Tabelle 32.5. Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (Nach Dyck 1975) Typ I (Charcot-Marie-ToothKrankheit)

– – – – –

Erbgang autosomal-dominant, Beginn im Erwachsenenalter Symptome: distale, an den Füßen beginnende Atrophie und Parese, Fußdeformitäten Geringgradige, an den Akren betonte Sensibilitätsstörungen EMG: deutlich verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit (um 20 m/s) Suralisbiopsie: axonale Degeneration, De- und Remyelinisierung, Zwiebelschalenformationen

Typ II (neuronaler Typ der peronaealen Muskelatrophie)

– – – –

Erbgang autosomal-dominant, Beginn im Erwachsenenalter Symptome: distale Atrophien an den Füßen und Unterschenkeln, geringe Sensibilitätsstörungen EMG: geringgradige Verlangsamung oder normale Nervenleitgeschwindigkeit Suralisbiopsie: axonale Degeneration, geringgradige segmentale Demyelinisierung

Typ III (hypertrophische Neuropathie DejerineSottas)

– Autosomal-rezessiv. Beginn im Kindesalter, rasche Progression – Symptome: verzögerte motorische Entwicklung, deutlichere Paresen an Händen und Unterschenkeln, deutliche, distal betonte Sensibilitätsstörungen – Periphere Nerven verdickt – EMG: hochgradige Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (unter 10 m/s) – Suralisbiopsie: De- und Remyelinisierung, Zwiebelschalenbildung

Typ IV (hypertrophische Neuropathie bei Morbus Refsum)

– Autosomal-rezessiv, Beginn im Jugendalter – Symptome: Retinitis pigmentosa, sensomotorische Neuropathie, Hörstörungen, kardiale, kutane und Skelettmanifestationen – EMG: deutlich verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit – Suralisbiopsie: axonale Degeneration, segmentale Demyelinisierung, Zwiebelschalenformationen – Biochemie: Phytansäure-Akkumulation in verschiedenen Geweben und im Serum

Typ V (mit spastischer Paraparese)

– – – –

Autosomal-dominant, Beginn junges Erwachsenenalter oder später Symptome: langsam progredienter Verlauf mit spastischer Paraparese bei annähernd normaler Lebenserwartung EMG: Nervenleitgeschwindigkeit normal oder geringgradig unter der Norm Suralisbiopsie: unspezifische Verminderung der markhaltigen Fasern

Typ VI und VII (mit Optikusatrophie oder Retinitis pigmentosa)

– – – –

Erbgang autosomal-dominant oder rezessiv, Beginn sehr unterschiedlich Symptome: Sehverlust, distale Muskelatrophie Geringgradige, distale Sensibilitätsstörungen EMG: Nervenleitgeschwindigkeit verlangsamt

672

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

einzelnen Mitgliedern einer Familie sehr: Bei einer Familienuntersuchung findet man stets viele abortive Fälle. Männer sollen schwerer erkranken als Frauen. 3Symptome. Klinisch stehen atrophische Paresen der Unter-

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schenkelmuskulatur, bevorzugt der Fußheber, im Vordergrund. Fußdeformitäten (Hohlfuß) und besonders dünne Unterschenkel (»Storchenbeine«) lassen schon bei der Inspektion den Verdacht auf diese Krankheit richten. Die Sensibilitätsstörung tritt erst später hinzu, die Vibrationsempfindung ist aber in den meisten Fällen schon frühzeitig ausgefallen. Die ersten Erscheinungen setzen zwischen dem 6. und 13. Lebensjahr ein, bei einem kleinen Teil der Patienten auch erst im 4. Lebensjahrzehnt. Der chronische Verlauf erstreckt sich über Jahrzehnte und ist relativ gutartig. Die meisten Patienten bleiben gehfähig. Dabei entwickeln sich etwa gleichzeitig folgende Symptome: 4 Symmetrische, periphere Lähmungen mit faszikulären Zuckungen, die sich von den Mm. peronaei und den kleinen Fußmuskeln auf den ganzen Unterschenkel ausbreiten und nach vielen Jahren etwa gleichzeitig auch die kleinen Handmuskeln und die Oberschenkel ergreifen. 4 Infolge der Muskelatrophie entwickeln sich Fußdeformitäten: Hohlfüße oder Equinovarus-Füße mit Krallenzehen, später auch Krallenhände. Sind die Unterschenkel sehr stark atrophisch, entsteht das Bild der sog. Storchenbeine, die auffällig zu der noch gut erhaltenen proximalen und Gürtelmuskulatur kontrastieren. 4 Sensible Reizerscheinungen: nächtliche, schmerzhafte Muskelkrämpfe, Schmerzen (und verstärkte Schwäche) bei Kälteeinwirkung, distale Parästhesien. 4 Sensible Ausfallsymptome: strumpfförmig oder handschuhförmig begrenzte Herabsetzung der Empfindung für alle Qualitäten. Im frühen Krankheitsstadium sind besonders die Vibrations- und die Lageempfindung vermindert, ohne dass es zu einer sensiblen Ataxie kommt. 4 Der Gang wird zunächst ungeschickt, und die Kranken ermüden vorzeitig. Später bilden ein doppelseitiger »Steppergang« (Peronäusparese) oder die Kombination von »Stepper«- und »Bügeleisengang« (Peronäus- und Tibialislähmung mit Unfähigkeit den Fuß abzurollen, daher die Bezeichnung) aus. 4 Die ASR erlöschen früh, die PSR und die Eigenreflexe der Arme erst später. 3Diagnostik. Die Diagnose wird mit der Nervenleitgeschwindigkeit (sehr stark verzögerte motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeiten, Werte unter 20 m/s sind typisch) gestellt. Die NLG sind auch in Nerven, die klinisch (noch?) nicht befallen sind und bei Familienmitgliedern, die nicht (oder noch nicht?) manifest krank sind, verzögert. Bioptisch finden sich typische Zeichen der segmentalen Demyelinisierung mit zwiebelschalenartig angeordneten SchwannZellen und axonaler Begleitdegeneration (. Abb. 32.3). Der Liquor ist nicht verändert.

32.4.2 Andere hereditäre sensomotorische

Neuropathien HMSN Typ 2 Diese Form der HMSN weist histologisch keine Verdickung der peripheren Nerven und elektrophysiologisch eine geringere Verzögerung der Nervenleitgeschwindigkeit auf als Typ I. Sie ist sehr viel seltener als Typ I. Das Erkrankungsalter ist variabel, die klinische Symptomatik ist der des Typ I sehr ähnlich. Histologisch findet man nicht, wie beim Typ I, Zwiebelschalenbildung. Vielmehr steht die axonale Degeneration mit sekundärer Entmarkung im Vordergrund. HMSN Typ 3 Diese Neuropathie ist durch Hypertrophie der Nervenfasern gekennzeichnet. Sie wird sowohl autosomal-dominant als auch rezessiv vererbt und ist mit den Namen Dejerine und Sottas verbunden. Die neurologischen Symptome gleichen denen bei HMSN I, vielleicht etwas stärker ausgeprägt und früher beginnend. Bei der Palpation kann man verdickte Nervenstränge im Sulcus ulnaris und am Fibulaköpfchen tasten. Die motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten sind besonders stark verzögert, oft nicht mehr messbar. Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen (tomakulöse Neuropathie) Diese Krankheit liegt vor, wenn Patienten unter häufigen und rezidivierenden Drucklähmungen einzelner Nerven oder des Plexus brachialis leiden. Die NLG können an diesen Stellen erheblich verzögert sein. Histologisch findet man eine erhebliche Verdickung der Markscheiden (tomakulös = wurstartig). Der Erbgang ist autosomal-dominant. Es handelt sich molekulargenetisch um eine heterogene Störung mit Deletion oder Mutation des PMP22-Gens auf Chromosom 17. Hereditäre sensorische autonome Neuropathie (HSAN) Charakterisiert sind bislang fünf Typen (HSAN1–5). HSAN1 (oder HSN1) beginnt in der 2. Lebensdekade mit Sensibilitätsstörungen an Füßen und Händen. Der klinische Verlauf ist heterogen. Es kommt vor allem zu einer Einschränkung der Schmerzund Temperaturempfindung, akralen Ulzerationen, komplizierenden Osteomyelitiden (bis hin zur Notwendigkeit von Amputation der Finger und Zehen) und lanzinierenden Schmerzen. Der Vererbungsmodus ist autosomal-dominant. Molekulargenetisch handelt es sich um eine heterogene Erkrankung. Bislang wurden Mutationen im SPTLC1 (serine palmytoyltransferase long-chain1) auf Chromosom 9 nachgewiesen. HSAN2–5 werden autosomal-rezessiv vererbt und manifestieren sich bereits im Kleinkindesalter.

673 32.4 · Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN)

. Abb. 32.3a–d. Elektronenmikroskopische Befunde bei hereditären Neuropathien. Hypertrophische Neuropathie in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung und Ausprägung mit Zwiebelschalenformation (= konzentrisch angeordnete Schwann-Zell-Fortsätze) um demyelinisierte (Pfeilköpfe), hypomyelinisierte (kurze Pfeile) und hypermyelinisierte (lange Pfeile) Nervenfasern. Das endoneurale Ödem ist (E) in c und d stark ausgeprägt. a, c, d 500, b 380. a 7-jähriger Junge mit dominant erblicher HMSN, Typ I. Im Nerven finden sich einzelne hypomyelinisierte Nervenfasern, spärliche Zwiebelschalenformationen in frühen Stadien und eine geringe Vermehrung des endoneuralen Bindegewebes, b 51-jähriger Mann mit Refsum-Krankheit (auch HMSN, Typ IV). Die Zahl der großen und kleinen, markhaltigen Nervenfasern ist erheblich reduziert, die Zahl der Schwann-Zell-Kerne deutlich erhöht. Fokale Proliferationen von

Schwann-Zellen fallen stärker auf als typische Zwiebelschalenformationen. Das endoneurale Bindegewebe ist deutlich vermehrt. 380, c 16-jähriges Mädchen mit einem frühen Stadium einer sporadischen, hypertrophischen HMSN, Typ III. Die sensible NLG betrug 2 m/s. Ausgeprägte Zwiebelschalenformationen um demyelinisierte Nervenfasern (Pfeilköpfe). Das endoneurale Bindegewebe ist vermehrt bei ausgeprägtem Ödem und einzelnen, vakuolisierten Makrophagen (V), d 10-jähriges Mädchen mit fortgeschrittener HMSN, Typ I. Zwiebelschalenformationen um demyelinisierte, dünn remyelinisierte (hypomyelinisierte) und unverhältnismäßig dick myelinisierte (hypermyelinisierte) Nervenfasern kommen vor. Das endoneurale Bindegewebe ist vermehrt und ödematös verbreitet. (J. M. Schroeder, Aachen)

32

674

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Facharzt

Symptomatische PNP bei genetischen Grundkrankheiten Polyneuropathie bei akuter, intermittierender Porphyrie Bei dieser autosomal-dominant vererbten Krankheit, treten die Neuropathiesymptome im Vergleich zu anderen internistischen und neurologischen Symptomen zurück. Die abdominellen Krisen mit Koliken und Erbrechen und zentralnervöse Symptome (epileptische Anfälle, qualitative und quantitative Bewusstseinsstörung, intrazerebrale Blutungen) stehen im Vordergrund. Die PNP kann wie ein Guillain-Barré-Syndrom verlaufen. Häufiger findet sich aber eine Mononeuritis multiplex. Die Hirnnerven können betroffen sein. Die Diagnose wird meist aufgrund der internistischen und zentralnervösen Symptome gestellt. Porphyrieauslösende Medikamente müssen vermieden werden. Therapie: s. Lehrbücher der Inneren Medizin. Polyneuropathie bei Amyloidosen Diese sind selten. Meist autosomal-dominant vererbt, kommen sie familiär und regional gehäuft vor. Häufigste Ursachen sind Punktmutationen im Gen für Transthyretin auf Chromosom 18. Typisch ist eine distale, sensomotorische PNP. Vegetative Symp-

32.5

32

Immunologisch bedingte Polyneuroradikulitis (Guillain-BarréSyndrom und Varianten)

Das periphere Nervensystem kann bei Infektionen durch direkten Erregerbefall, Toxine oder durch sekundär immunvermittelten Befall erkranken. 3Definition und Einteilung. Wir besprechen hier zunächst die Gruppe der immunologisch bedingten, akuten und chronischen Polyneuroradikulitiden, das Guillain-Barré-Syndrom und seine Varianten. Die akute Polyneuritis beruht auf einer Autoimmunreaktion gegen peripheres Nervengewebe. Diese Krankheit ist mit den Namen von zwei der drei Autoren (Guillain, Barré und Strohl), die das klinische Syndrom zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben hatten, verbunden (Guillain-BarréSyndrom). Wir unterscheiden das klassische, akute Guillain-Barré-Syndrom von einigen Varianten, die sich in Pathogenese, Symptomverteilung und Therapie unterscheiden. 32.5.1 Guillain-Barré-Syndrom (GBS) 3Epidemiologie und Ätiologie. Man rechnet mit 0,5–2 Krankheitsfällen auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Krankheit kann in jedem Lebensalter auftreten, bevorzugt sind junge Männer und Patienten im Alter zwischen 50 und 60 Jahren.

tome treten hinzu (Störung der Schweißsekretion, orthostatische Hypotonie). Erst später entwickeln sich Lähmungen. Regelmäßig sind Dünndarm und Dickdarm, häufig auch Nieren und Herz betroffen. Der Verlauf ist progredient und führt innerhalb von 5–15 Jahren durch Herzbeteiligung oder Mangelernährung zum Tode. Der Amyloidnachweis wird über Nerven-, Muskel- und Rektumschleimhautbiopsie gestellt. Die molekulare Diagnose erfolgt über DNA-Analyse. Therapeutisch kommt die Lebertransplantation in Frage, durch die sich die pathologische Amyloidbildung in der Leber zuverlässig stoppen lässt. Polyneuropathie bei Leukodystrophien Der Befall der peripheren Nerven bei Leukodystrophien (7 Kap. 28.6) ist zwar typisch, aber steht nicht im Vordergrund der Symptomatik. Die Nervenleitgeschwindigkeiten sind verzögert. In der Biopsie können metachromatische Substanzen nachgewiesen werden.

Die Mortalität liegt bei etwa 5%. Bei Patienten, die so krank sind, dass sie beatmet werden müssen, ist sie deutlich höher. Etwa 60% aller Patienten können nach der akuten Krankheit ohne körperliche Behinderung wieder in ihren Beruf zurückkehren. Bei etwa 40% der Patienten geht den Lähmungen ein Infekt voraus. Wird ein Erreger identifiziert, so handelt es sich meist um Campylobacter jejuni, aber auch das Zytomegalievirus, EpsteinBarr- oder Varizella-Zoster-Virus und Influenzavirus können Auslöser sein 3Pathophysiologie. Bei der klassischen Form des GBS (akut inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, AIDP) findet man im peripheren Nervensystem multifokal, mit Bevorzugung der Spinalwurzeln und der proximalen Nervenabschnitte entzündliche Läsionen, in denen die Markscheiden in Gegenwart von Lymphozyten und Makrophagen zugrunde gehen. Bei vielen Fällen von GBS steht die Demyelinisierung im Vordergrund (deshalb auch als AIDP: akut demyelinisiernede Neuropathie bezeichnet), und die Axone bleiben erhalten. Bei sehr schwer verlaufenden GBS-Varianten kommt es zur sekundären Beteiligung der Axone, was die Chancen einer vollständigen Erholung erheblich beeinträchtigt. Seltener gibt es auch primär axonale Läsionen (akute motorische axonale Neuropathie, AMAN; akute motorische und sensorische axonale Neuropathie, AMSAN). 3Symptomatik. Die Krankheit entwickelt sich akut oder subakut innerhalb einiger Wochen. Die Rückbildung beginnt 2–4 Wochen nach dem Stillstand der Ausbreitung. Sie kann sich

675 32.5 · Immunologisch bedingte Polyneuroradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten)

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Facharzt

Tiermodell des GBS Das Verständnis der Pathogenese der GBS ist durch ein Tiermodell, bei dem ein akutes GBS-Syndrom ausgelöst werden kann, die experimentell allergische Neuritis (EAN), sehr viel besser geworden. An der Pathogenese sind humorale und zelluläre Immunreaktionen beteiligt. Im Serum von GBS-Patienten findet man IgM-Antikörper gegen Myelin oder bestimmte Gangliosid-

über Monate hinziehen. Viele Patienten erholen sich gut. Es gibt aber auch protrahierte und chronische Verläufe mit Zunahme der Symptomatik über einen Monat und länger. Selten beobachtet man eine perakute Entwicklung der Symptome: Die Patienten sind am Morgen noch neurologisch unauffällig, entwickeln Gelenkschmerzen, Lähmungen, kommen am Nachmittag in die Klinik und müssen schon in der Nacht intubiert und beatmet werden (Landry-Paralyse). Die Lähmungen sind in der Regel symmetrisch und an den Beinen schwerer als an den Armen. Sie sind proximal stärker als distal ausgeprägt und ergreifen nicht selten auch die Muskeln des Rumpfes (Polyneuroradikulitis mit Gefahr der Atemlähmung). Üblicherweise beginnt die Schwäche in den Unterschenkeln, geht über auf die Oberschenkel über und findet sich danach auch in den Unterarmen und Händen. Hirnnervenlähmungen sind häufig. In erster Linie sind die Nn. facialis, trigeminus, vagus (mot.), accessorius und hypoglossus betroffen. Die Ausprägung der motorischen Ausfälle ist variabel. Wir kennen Patienten mit nur leichten Paresen der Fußheber und Knie- und Hüftbeuger, die auch auf dem Höhepunkt ihrer Krankheit noch gehfähig sind. Bei anderen findet man mittelschwere, symmetrische Lähmungen von Armen und Beinen, und noch andere sind tetraplegisch. Sensibel finden sich vor allem Reizerscheinungen. Die sensiblen Ausfälle haben meist nur einen leichten Grad. Sie können, wie die Lähmungen, auf den Rumpf übergreifen. Schmerzen der Muskulatur werden aber oft angegeben. Erst in den letzten Jahren hat man gelernt, wie wichtig die autonomen Störungen für die Prognose des GBS sind. Die vegetative Beteiligung ist durch einen Wechsel von Über- und Unterfunktion in Sympathikus und Parasympathikus gekennzeichnet. Diese Wechsel sind nicht immer vorher bestimmbar. Die gesteigerte sympathische Aktivität manifestiert sich in 4 anfallsweise auftretenden, hypertonen Blutdruckentgleisungen, 4 paroxysmalen Tachykardien mit Extrasystolien, 4 peripherer Vasokonstriktion und 4 vermehrtem Schwitzen. Die verminderte Sympathikusaktivität ist gekennzeichnet durch 4 Bradykardien (die nicht auf Atropin ansprechen), 4 verzögerte Reflextachykardie bei Orthostase,

subgruppen (GM1 bis 3). T-Lymphozyten infiltrieren das perineurale Gewebe. Die Markscheidenschädigung wird vor allem durch Makrophagen herbeigeführt, die die Basalmembran um die Nervenfasern durchdringen und das normale Myelin vom Körper der Schwann-Zellen und von den Axonen entfernen.

4 erheblichen Abfall des systolischen Blutdrucks bei Lagewechsel und 4 abnorme Empfindlichkeit gegen geringen Volumenmangel.

Überschießende Parasympathikusaktivität führt zu 4 dramatischen, paroxysmalen Bradykardien und 4 Sekundenherztod. Die verminderte Parasympathikusaktivität macht sich durch Blasen- und Mastdarmstörungen bemerkbar. 3Verlauf und Prognose. Ein Drittel der Patienten erreichen das Maximum ihrer Symptome innerhalb von einer Woche, ein weiteres Drittel innerhalb von 2 Wochen, die anderen innerhalb von 4 Wochen. Die Rückbildung beginnt 2–4 Wochen nach dem Stillstand der Ausbreitung. Sie kann sich über Monate hinziehen. Die subakute Entwicklung der Symptome, die innerhalb von 1–2 Wochen ihr Maximum erreichen, wird am häufigsten beobachtet. Viele Patienten sind in der akuten Phase bettlägerig und können die Muskeln nur noch leicht gegen Schwerkraft bewegen. Sie müssen gefüttert werden, können Schwierigkeiten beim Schlucken haben, und haben eine reduzierte Vitalkapazität. Sie müssen engmaschig überwacht werden. Etwa 15–20% der GBS-Patienten, die Zahl kann von Klinik zu Klinik unterschiedlich sein, müssen beatmet werden. Die Beatmungsdauer kann wenige Tage bis mehrere Jahre sein. Selbst dann ist noch eine relativ gute, aber nicht mehr vollständige Erholung möglich. Wir klären jeden Patienten auf, dass die Lähmungen sich ausbreiten und auch Hirnnerven ergreifen können und dass Schrittmacher und maschinelle Beatmung notwendig werden können. Wir bieten an, tief zu sedieren, wenn der Patient dies wünscht, besonders bei Langzeitbeatmung. Diese Art der Aufklärung erleichtert die Führung der Patienten. Das klassische GBS hat eine gute Prognose. Etwa 20% der Patienten behalten Funktionsstörungen zurück. Rückfälle werden in 3–10% berichtet. Es gibt Maximalvarianten, bei denen die Patienten am ganzen Körper gelähmt sind (dies schließt alle Gesichtsmuskeln und die Augenmuskeln ein), vegetativ denerviert sind (auch die Pupillenreaktionen sind nicht mehr auslösbar) und, trotz voll erhaltenen Bewusstseins, neurologisch nicht mehr untersuchbar sind. Bei längerem Verlauf mit Fort-

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Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Wann Plasmapherese, wann Immunglobuline? Wir entscheiden uns heute meist für Immunglobuline als erste Behandlungsmethode. Ausnahmen sind jüngere Patienten mit sehr schnell verlaufendem GBS und drohender Beatmungspflichtigkeit. Plasmapheresen führen wir meist auf der Intensivstation durch, Immunglobuline werden natürlich auch bei nicht

schreiten der Symptome über mehr als 4 Wochen ist die Prognose schlechter. Todesfälle beruhen auf Atemlähmung, akutem Herzstillstand oder auf Lungenembolie aus Beinvenenthrombosen bei kompletter Paraplegie. Ferner treten spontan oder beim Intubieren und Extubieren tödliche Asystolien auf.

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3Diagnostik. Im Liquor findet man in der Regel bei normaler Zellzahl eine mittlere bis starke Eiweißvermehrung um 0,70– 2,00 g/l, die sich oft erst in der 2.–4. Krankheitswoche entwickelt. Das Eiweiß tritt infolge einer Schrankenstörung an den Nervenwurzeln (»Polyradikulitis«) aus. Eine leichte Zellvermehrung ist noch mit der Diagnose vereinbar. Elektroneurographisch findet man eine Verlangsamung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit bei 70% der Patienten. Da die Demyelinisierung aber diskontinuierlich auftritt, muss man viele Nerven untersuchen. Die Untersuchung der F-Wellen, der transkraniellen Magnetstimulation und der somatosensibel evozierten Potentiale erlaubt die Diagnose von Demyelinisierung in Nervenwurzeln und proximalen Segmenten der peripheren Nerven bei 80% der Erkrankten. Ausgeprägte, floride Denervierung im EMG deutet auf einen axonalen Schaden und eine schlechtere Prognose für den Zeitverlauf und für das Ausmaß der Besserung hin. Bei einigen GBSVarianten (s.u.) ist der Nachweis von Leitungsblocks in einzelnen Segmenten peripherer Nerven charakteristisch, während andere Abschnitte desselben Nerven normale NLGs haben. Für die vegetative Diagnostik sind die Untersuchung der Herzfrequenzvariation bei tiefer Inspiration und Exspiration sowie der Herzfrequenz und Blutdruckvariation bei Lagewechsel wichtige Parameter. Karotissinusmassagen und den Bulbusdruckversuch sollte man ausschließlich unter intensivmedizinischen Bedingungen durchführen. Die tiefe Atmung mit einer Frequenz von 6/min unter gleichzeitiger EKG-Kontrolle ist die beste Methode zur Erfassung einer kardialen Denervierung. Gegen die Diagnose sprechen: Asymmetrie der Lähmungen, anhaltende Blasen- und Mastdarmstörungen, Pleozytose über 50 Zellen, scharf abgegrenzte, querschnittsförmige Sensibilitätsstörung oder eine rein sensible PNP. 3Therapie 4 Immunglobuline und Plasmapherese sind beim akuten GBS gleich wirksam. Sie können auch kombiniert werden. Kortikoide zusätzlich haben keinen Effekt.

intensivpflichtigen Patienten gegeben. Die Vorteile von intravenösen Immunglobulinen liegen in der einfachen Anwendung und der Möglichkeit, sie auch älteren, multimorbiden Patienten oder Kindern geben zu können.

4 Die Behandlung mit Immunglobulinen ist kostspielig (etwa € 2500,– pro Behandlungszyklus), aber verhältnismäßig wenig belastend und ohne wesentliche Nebenwirkungen. Sie kann auch durchgeführt werden, wenn der Patient einen Infekt hat. Die übliche Dosierung ist 0,4 g/kg KG täglich über 5 Tage. 5 Der eigentliche Wirkmechanismus der Immmunglobulinbehandlung ist noch nicht bekannt. Verschiedene Mechanismen, wie Beeinflussung von T-Zell-Aktivierung, Neutralisierung von Superantigenen, Neutralisierung von proinflammatorischen Zytokinen oder Hemmung der T-Zell-vermittelten Antikörperproduktion werden diskutiert. 5 Nebenwirkungen der i.v. IG-Behandlung können anaphylaktische Reaktion, aseptische Meningitis sowie Kopf- und Rückenschmerzen sein. Selten wurde bei dieser Behandlung eine Hepatitis übertragen. Die Virussicherheit der üblichen Plasmaprodukte ist in der letzten Zeit viel besser geworden. 4 Die Plasmapherese hat sich bei rasch fortschreitenden Krankheitsverläufen und bei der sehr chronisch verlaufenden Variante als wirksam erwiesen. Der Krankheitsverlauf wird kürzer, die Rückbildung der Lähmungen besser. Sie soll nicht durchgeführt werden bei Patienten, deren Krankheit bereits weit fortgeschritten ist. Ebenfalls nicht empfohlen wird sie, wenn der Zustand des Patienten für mehr als eine Woche auf demselben Niveau geblieben ist. 5 Kontraindiziert ist die Plasmapherese, wenn schon ein fieberhafter Infekt als Komplikation des GBS eingetreten ist. Die Plasmapherese ist nicht ohne Risiko: Sie stellt eine erhebliche Kreislaufbelastung dar, beim Legen des großlumigen zentralen Zugangs können Komplikationen auftreten, und es können bakterielle Entzündungen begünstigt werden. 5 Bei der Plasmapherese tauschen wir jeden zweiten Tag etwa 40–50 ml Serum/kg KG gegen Plasmaersatz aus. Wir geben als Plasmaersatz Humanalbumin oder Fresh-frozen-Plasma gegeben werden. Eine Alternative zum Plasmaaustausch stellt die Immunadsorption dar, bei der IgG-Anteile des Plasmas gebunden werden. > Die entzündliche Polyneuroradikulitis macht oft Inten-

sivbehandlung notwendig, kann aber sehr oft mit Immunglobulinen oder Plasmapherese erfolgreich behandelt werden.

Allgemeine, therapeutische Maßnahmen: Dies sind Infektprophylaxe und -behandlung, Bilanzierung von Flüssigkeit, Elektrolyten und Nährstoffen, Thromboseprophylaxe (frühzeitige Voll-

677 32.5 · Immunologisch bedingte Polyneuroradikulitis (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten)

heparinisierung mit 1000 E/h), frühzeitiger Einsatz von Krankengymnastik zur Verhinderung von Kontrakturen, Dekubitusprophylaxe, Blasenkatheter oder suprapubische Harnableitung. Bei schweren Verlaufsformen und deutlichen Zeichen einer vegetativen Beteiligung lassen wir einen externen Herzschrittmacher legen (intravenöse Stimulationssonde oder transthorakaler Schrittmacher). ä Der Fall Ein dreißigjähriger Patient wird in die Klinik gebracht, weil er seit wenigen Tagen unter unangenehmen, schmerzhaften Sensibilitätsstörungen an Händen und Füßen leidet. Ihm ist auch aufgefallen, dass er eine leichte Schwäche für die Fußhebung und das Zugreifen entwickelt hat. Seit dem gestrigen Abend haben sich die Lähmungen deutlich verstärkt. Er sei nur mit Mühe aus dem Bett herausgekommen und habe nur mit Unterstützung die Treppe herabgehen können. Er wird im Rollstuhl sitzend vom Krankentransport in die Klinik gebracht. Aus der Vorgeschichte ist zu erwähnen, dass er in den letzten Wochen einen langwierigen, bronchopulmonalen Infekt gehabt hat. Bei der neurologischen Untersuchung findet sich eine distal betonte, periphere Tetraparese mit Kraftgrad 4 in den proximalen Muskeln und 2–3 in den distalen Muskeln. Muskeleigenreflexe sind nicht auslösbar. Die Vitalkapazität liegt bei 1400 ml. Der Patient wird sofort zur Beobachtung auf die Intensivstation gebracht. In den folgenden zwei Tagen nehmen die Lähmungen weiter zu, die Vitalkapazität sinkt unter 1000 ml und die Sauerstoffsättigung des Blutes unter 90%. Trotz Therapie mit Plasmapherese wird der Patient beatmungspflichtig. Nach 3 Wochen stellt sich langsam eine Besserung der Muskelkraft ein. Der Patient kann intermittierend, später ganz von der Beatmung befreit werden, kann wieder sitzen und sich selbst ernähren. Nach einer 12-wöchigen Rehabilitationsbehandlung ist der Patient wieder in der Lage, seinen Beruf aufzunehmen. Der neurologische Untersuchungsbefund hat sich fast normalisiert. Die Kraft ist nicht mehr reduziert, aber die Muskeleigenreflexe sind weiterhin nicht auslösbar.

32.5.2 Chronisch inflammatorische demyelini-

sierende Polyneuropathie (CIDP) Die CIDP ist viel seltener als das klassische GBS, man rechnet mit 0,5 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr. Infektionen gehen dem CIDP seltener voraus. Die Pathophysiologie ist ähnlich wie beim GBS, auch hier finden wir segmentale Demyelinisierung mit mononukleären Zellinfiltrationen der Nervenwurzeln und der peripheren Nerven. Man findet häufiger axonale Läsionen, die zur Denervierung führen. 3Symptome. Etwa 5% der GBS-Patienten entwickeln das Maximum ihrer Symptome erst nach 4 oder mehr Wochen. Die Abgrenzung dieser Variante des GBS ist sinnvoll, da Verlauf und die

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Therapie Unterschiede aufweisen. Nicht selten fluktuieren die Symptome, und es wechseln sich klinische Verbesserungen mit Rückfällen ab. Verteilung und Ausprägung der klinischen Symptome sind dem GBS ähnlich. Vegetative Begleitsymptome sind viel seltener. 3Therapie und Prognose. Im Gegensatz zum akuten GBS kann die CIDP mit Steroiden behandelt werden. 4 Man gibt 100 mg Prednison pro Tag für 3–4 Wochen und reduziert danach schrittweise um 20 mg jeden Monat. Manchmal wird auch eine sehr hohe intravenöse Pulstherapie mit 500 mg bis 1 g Kortison in den ersten 5 Tagen empfohlen. Die üblichen Vorsichtsmaßnahmen der Kortisonbehandlung müssen berücksichtigt werden. Die Patienten entwickeln sehr häufig ein CushingSyndrom. 4 Zusätzlich ist eine Immunsuppression mit Azathioprin oder Cyclophosphamid indiziert. 4 Nur wenn die Kortikoidbehandlung nicht erfolgreich ist, wird man Plasmapherese oder Immunglobuline versuchen. Die Prognose ist uneinheitlich. Während etwa 30% der Patienten mit Steroidbehandlung eine komplette Remission zeigen, bleiben doch etwa 50% mehr oder weniger schwer beeinträchtigt. 3Differentialdiagnose. Aufgrund des langsameren, oft weniger schweren und primär chronischen Verlaufs kommen eine Reihe von Differentialdiagnosen der CIDP in Betracht, an die man beim klassischen GBS nicht denken würde. Paraproteinämien, hereditäre, sensomotorische Neuropathien, toxische Neuropathien und die multifokale, motorische Neuropathie mit Leitungsblock (s.u.) müssen abgegrenzt werden. 32.5.3 Miller-Fisher-Syndrom Diese Sonderform des GBS ist durch äußere Augenmuskellähmungen, Schluckstörungen, Ataxie und Parästhesien an Händen und Füßen gekennzeichnet. Paresen treten nicht auf. Es besteht Arreflexie. Behandlung wie beim akuten GBS. Bei 95% der Patienten können im Blut Gangliosid-Antikörper gegen GQ1b nachgewiesen werden. 32.5.4 Multifokale, motorische Neuropathie Bei dieser seltenen GBS-Variante findet man fast regelmäßig Antikörper gegen GM1-Ganglioside. Die Patienten haben eine rein motorische Symptomatik mit asymmetrischer Muskelschwäche, Reflexausfall und elektrophysiologischem Nachweis von isolierten Leitungsblocks in motorischen Nerven. Die multifokale motorische Neuropathie kann mit intravenösen Immunglobulinen, ggf. auch mit Cyclophosphamid, behandelt werden.

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Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Exkurs Weitere Varianten der immunbedingten Neuropathien Polyneuritis cranialis Diese Patienten haben symmetrische Ausfälle der kaudalen, motorischen Hirnnerven, aber keine Lähmungen der Extremitätenmuskulatur. Arreflexie kann vorkommen, ist aber nicht immer vorhanden. (Wesentliche Differentialdiagnosen: Neuroborreliose, Schädelbasistumoren, Meningeose und Botulismus.) Radiculitis sacralis (Elsberg-Syndrom) Sie ist gekennzeichnet durch Dysästhesien und Parästhesien im Versorgungsgebiet der sakralen Nervenwurzeln. Bei lumbalem Befall können auch motorische Lähmungen auftreten. Eine Blasenstörung ist sehr häufig. Sie kommt als GBS-Variante, aber auch bei direkter Infektion mit Herpes-simplex-Virus Typ 2 und Zytomegalie vor (dann spezifische Therapie mit Aciclovir oder Ganciclovir). Der Liquor kann wie bei GBS verändert, aber auch normal sein. Vegetative Neuropathie Eine Verlaufsform, bei der ausschließlich das vegetative Nervensystem befallen wird, nennt man akute Pandysautonomie. Sie wird in 7 Kap. 32.8.2 besprochen.

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Serogenetische Polyneuritis 3Ätiologie. Es handelt sich um eine heute sehr selten gewordene allergische Polyneuritis, die vor allem nach Injektion von Tetanus und Diphtherie-Antitoxin, aber auch nach Schutzimpfungen gegen Typhus, Paratyphus oder FSME auftreten kann.

Sie ist eine wichtige Differentialdiagnose zur beginnenden amyotrophischen Lateralsklerose. Aus diesem Grunde untersuchen wir bei Patienten mit einer beginnenden ALS immer elektrophysiologisch auf Leitungsblöcke, bestimmen die GM1-Antikörper und führen eine Lumbalpunktion durch (bei multifokaler motorischer Neuropathie ist eine Eiweißerhöhung nicht selten). 32.6

Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall

Bei einer Reihe von Infektionen (viral, bakteriell) kann das periphere Nervensystem direkt durch Erreger befallen werden. Die Erreger sind in dem entsprechenden Entzündungskapitel besprochen. Erwähnt seien die Ganglionopathie bei Lues und die Meningopolyradikulitis bei Borrelieninfektion. Auch nach Mononukleose und Diphtherie können PNP auftreten. Typisch ist der Befall peripherer Nerven bei manchen neurotropen Viren, z.B. beim Zoster und die Entzündung der motorischen Vorderhornzellen bei der Polio. Wir besprechen hier die Lepra, die HIVassoziierten Neuropathien und den Botulismus.

3Symptomatik und Verlauf. Nach einer Latenz von 7–14 Tagen tritt eine Serumkrankheit mit Fieber, Gelenkschwellungen, juckendem Exanthem und manchmal auch nephritischen Harnsymptomen auf. Wenige Tage nach Einsetzen der Serumkrankheit entwickelt sich akut oder subakut unter heftigsten, reißenden Schmerzen in der Schulter-Arm-Region eine Polyneuritis. Sie ist in der Regel an den Armen, proximal und asymmetrisch lokalisiert. Die Symptomatik ist vorwiegend motorisch. Sensible Ausfälle finden sich nur gering an der Außenseite des Oberarmes. Es soll auch eine serogenetische Polyneuritis unter dem Bild generalisierter Lähmungen geben. Bemerkenswerterweise ist der Liquor nicht verändert. Nur gelegentlich hat man leichte bis mäßige Eiweißvermehrung gefunden. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, allerdings zieht sich die Rückbildung der Lähmungen über viele Monate hin. Für manche Autoren ist die serogenetische Polyneuritis identisch mit der neuralgischen Schulteramyotrophie (7 Kap. 31.2.2), bei der die Mm. deltoides, supra- und infraspinatus besonders betroffen sind, obwohl dieser nur selten Impfungen vorausgehen. 3Differentialdiagnose. Hereditäre, neuralgische Muskelatrophie: Der sporadischen Form ähnliche, allerdings autosomaldominante Form mit noch nicht näher geklärter Mutation auf Chromosom 17q.

32.6.1 Lepra-Neuropathie Die Lepra ist eine sehr häufige Krankheit, die weltweit etwa 8 Mio. Menschen betrifft. Man rechnet mit etwa einer halben Million neuer Fälle pro Jahr. Die Übertragungsrate ist relativ niedrig, nur bei häufigem und engem Kontakt kommt es zur Infektion, was auch das etwa 50%ige familiäre Auftreten der Lepra erklärt. 3Verlaufsformen und Symptome. Das Mycobacterium leprae verursacht zwei Arten von Neuropathie, an denen sich der direkte und der immunmediierte Befall des peripheren Nervensystems zeigen lässt: 4 Lepromatöse Lepra: Sie entsteht durch einen direkten Erregerbefall mit Mycobacterium leprae. Die überwiegend sensorische Neuropathie ist symmetrisch verteilt. Die Nervenfasern sind mit Lepraerregern übersät. Nach initialer Demyelinisierung kommt es bald zur axonalen Läsion. Paresen sind selten. Hautulzerationen kommen häufig vor, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie sie von der tuberkuloiden Lepra bekannt sind. 4 Tuberkuloide Lepra: Bei diesen Patienten liegt eine starke Immunreaktion gegen Lepraerreger vor. Die Lepraerreger wer-

679 32.6 · Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall

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den abgetötet. Der Hauttest ist hoch positiv. Es kommt zur Granulombildung, die Granulome führen sekundär zu Druckläsionen. Entsprechend ist der Verteilungstyp sehr stark asymmetrisch. Die massive, sensible Ausfallsymptomatik mit Verlust der Schmerzempfindung führt zu den typischen Mutilationen, die diese Krankheitsform kennzeichnen.

lauf kann jedoch ebenfalls auftreten. Diagnostisch ist der CMVNachweis (PCR) entscheidend. Nicht selten werden eine CMVRetinitis oder eine ZNS-Infektion mit Zytomegalievirus festgestellt.

3Therapie. Heute ist die Lepra, wenn sie früh diagnostiziert wird, gut behandelbar. 4 Diaminodiphenylsulfon (Dapson®, kann selbst eine PNP auslösen) und/oder Clofazimin sind Mittel der ersten Wahl (Dosierungen s. Lehrbücher der Infektionskrankheiten). 4 Rifampicin wird als Dauerbehandlung eingesetzt. 4 Thalidomid ist gegen Lepra sehr wirksam, wird aber wegen seiner teratogenen Wirkung nur selten gegeben.

3Epidemiologie und Pathophysiologie. Botulismus kommt heute in Mitteleuropa und den USA relativ selten vor. Man schätzt die Erkrankungshäufigkeit pro Jahr auf 20–30 Fälle in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl Meldepflicht besteht, werden sicherlich nicht alle Fälle gemeldet, da nicht alle als solche erkannt werden. Das Botulinumtoxin ist ein Stoffwechselprodukt des Bakteriums Clostridium botulinum, das sich in unzureichend sterilisierten und luftdicht verpackten Lebensmitteln vermehren kann. Dies erklärt, dass beim gemeinsamen Verzehr dieser Nahrungsmittel oft mehrere Personen gleichzeitig erkranken. Das Toxin wird vom Gastrointestinaltrakt in das Blut aufgenommen und dann an seinen Wirkort transportiert. Es blockiert präsynaptisch die Freisetzung von Acetylcholin am neuromuskulären Übergang und im vegetativen Nervensystem. Der Botulismus ist, streng genommen, keine PNP. Seine Symptome wirken sich aber ähnlich aus und müssen differentialdiagnostisch gegen eine PNP abgegrenzt werden. Deshalb wird er hier besprochen. Drei Formen des Botulinumtoxin, A, B, und E sind humanpathogen. A und B kommen überwiegend in Lebensmitteln vor, die in Dosen verpackt oder eingekocht sind. Auch geräucherte Lebensmittel können dieses Toxin enthalten. Typ E ist bei fischhaltigen Lebensmitteln häufig. Das Toxin hat eine ähnliche Größe und Aminosäurensequenz wie das Tetanospasmin. Es wird bei adäquater Erhitzung der Nahrung inaktiviert. Ganz selten kann Botulismus auch in Wunden entstehen.

Kortikoide werden bei tuberkuloider Form und zu Beginn der Behandlung der lepromatösen Lepra hinzugegeben. 32.6.2 HIV-assoziierte Neuropathien Bei etwa 5–10% aller HIV-Patienten entwickeln sich Symptome einer peripheren Neuropathie. Sie manifestieren sich als 4 Akutes Guillain-Barré-Syndrom: Kurz nach der Infektion kommt es in der Phase der Serokonversion zu einem akuten GBS, das alle verschiedenen Verlaufsformen des Guillain-Barré-Syndroms annehmen kann. Zu diesem Zeitpunkt sind die Patienten noch nicht immunsupprimiert. Im Gegenteil, der noch hohe THelferzell-Anteil prädestiniert wahrscheinlich zur Auslösung dieser immunvermittelten parainfektiösen Krankheit. Der Verlauf ist selbstlimitierend und gutartig. Eine Begleitmyopathie ist nicht selten. 4 Multifokale, subakute Neuropathie: Auch diese demyelinisierende, benigne Neuropathie tritt im frühen Erkrankungsstadium auf. Diese Patienten haben ebenfalls noch einen guten Helferzell-Status. Neben der immunvermittelten Neuropathie ist eine Immunvaskulitis nicht selten. Der Krankheitsverlauf entspricht dem einer multifokalen Neuropathie mit Leitungsblockade. 4 Distale, symmetrische Neuropathie: Diese überwiegend sensible und sehr schmerzhafte Form der Neuropathie tritt hingegen bei fortgeschrittener Krankheit auf. Die Patienten haben einen schlechten Immunstatus. 4 Auch die Pyramidenbahnen können beteiligt sein, deshalb sind die Reflexe nicht selten erhalten. Die Prognose ist schlecht, die Neuropathie ist oft im Endstadium der AIDS-Krankheit festzustellen. Differentialdiagnostisch kommt für alle HIV-Neuropathiemanifestationen die Zytomegalievirus-(CMV-)assoziierte Neuritis in Frage. Sie tritt bei HIV-Patienten als opportunistische Infektion auf, ist also am häufigsten von der distalen symmetrischen Neuropathie abzugrenzen. Ein GBS-ähnlicher oder multifokaler Ver-

32.6.3 Botulismus

3Symptome und Verlauf. Die Symptome des Botulismus sind sehr charakteristisch. Die Krankheit beginnt mit Schluckstörungen, Dysarthrie und Doppelbildern als Ausdruck des Befalls der motorischen Hirnnerven. Es folgt die schlaffe Lähmung von Armen und Beinen. Trockener Mund, Verstopfung und weite, areaktive Pupillen sind typische Zeichen der vegetativen Beteiligung. Doppelseitige, faziale Schwäche und Ptose lassen den Verdacht auf eine Myopathie oder eine Polyradikulitis aufkommen. Die Muskeleigenreflexe fehlen meistens, was die Verwechslung mit einem GBS nahe legt. 3Diagnostik. Toxinnachweis in Stuhl und Serum. Elektrophysiologische Methoden belegen die synaptische Übertragungsstörung und helfen, ein GBS oder ein Miller-Fisher-Syndrom auszuschließen. 3Therapie und Prognose. Die generalisierte Muskelschwäche erfasst auch die Atemmuskulatur, deshalb wird bei einem großen Teil der Patienten eine kontrollierte Beatmung notwendig. Die

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Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Patienten sind fast immer bewusstseinsklar, auch wenn sie aufgrund ihrer Muskelschwäche und Dysarthrie kaum kommunikationsfähig sind. Spezifisch gibt man Botulinumantitoxin. Das Antitoxin soll früh gegeben werden, da es nur zirkulierendes Toxin, nicht aber das an der neuromuskulären Synapse gebundenes Toxin neutralisiert. Üblicherweise gibt man polyvalentes Antitoxin gegen die Typen A und B. Die Bindung des Toxins an der Synapse ist sehr stabil und relativ lang andauernd. Man kann beim Typ A mit einer etwa zweimonatigen, bei Typ B sogar einer längeren Phase rechnen, bis die neuromuskuläre Blockade verschwindet. Antibiotika helfen nicht, sie sollten nur für die Behandlung von Aspirationspneumonien und anderen bakteriellen Infektionen vorbehalten werden.

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ä Der Fall Wegen einer akuten Lähmung der Schluckmuskulatur und der Arme wird ein etwa 60-jähriger Patient mit dem Verdacht auf eine entzündliche Polyradikulitis in die neurologische Klinik eingewiesen. Bei Aufnahme dort hat der Patient eine Aspirationspneumonie, leichtes Fieber, eine starke Lähmung der kaudalen Hirnnerven, Doppelbilder, Ptose beider Augen und inzwischen auch mittelgradige Paresen der Arme und Beine. Auffällig sind weite, nicht reagierende Pupillen bei dem ansonsten wachen Patienten. Innerhalb weniger Stunden wird der Patient ateminsuffizient und muss be atmet werden. Anamnestisch berichten die Angehörigen, dass die ganze Familie vor einigen Tagen einen Magen-Darm-Infekt durchgemacht habe, nachdem man einen Eintopf aus der Büchse gegessen hatte. Der Vater habe als einziger mehrere Portionen gegessen, die anderen Familienmitglieder hätten aufgrund eines undefinierbaren, unangenehmen Geschmacks nur wenige Bissen zu sich genommen. Serologisch gelingt es, zirkulierendes Botulinumtoxin der Gruppe A nachzuweisen. Botulinumantitoxin wird gegeben, daneben erfolgt die intensivmedizinische Behandlung mit Beatmung, Antibiose und Vermeidung von Komplikationen. Nach etwa 2 Wochen kann der Patient extubiert werden, nach 4 Wochen die Klinik verlassen.

PNP möglich. Die paraneoplastische PNP ist in 7 Kap. 13 besprochen. 32.8

Erkrankungen des vegetativen Nervensystems

32.8.1 Sympathische Reflexdystrophie

(Sudeck-Syndrom, komplexes regionales Schmerzsyndrom) Dieses in Zuordnung und Pathogenese umstrittene Syndrom entsteht nach Traumen, bei denen auch periphere Nerven geschädigt worden sind, nach lang dauernder Kompression einer Extremität und, in seltenen Fällen, auch ohne erkennbare Auslöser. 3Symptome. Es entwickelt sich zunächst eine ödematöse Schwellung der Haut, die kühl und bläulich verfärbt ist. Die Gelenke der betroffenen Extremität werden osteoporotisch. Es liegen erhebliche Schmerzen vor. Die Haut wird dünn, atrophisch, und wirkt bei Berührung kühl-feucht. Intensive Schmerzen von brennendem, kausalgischen Charakter stehen im Vordergrund. Die Hand ist besonders häufig betroffen, seltener findet man die Reflexdystrophie auch am Fuß. 3Therapie 4 Therapeutisch empfiehlt man Krankengymnastik und Hochlagerung. 4 Sympathikusblockade durch Lokalanästhetika (Stellatumblockade) oder 4 medikamentöse Blockade mit Guanethidin i.v. (führt zu initialem, heftigen Schmerz, kann auch diagnostisch genutzt werden). 4 Calcitonin hat sich trotz kurzdauernder analgetischer Wirkung nicht für die Langzeitbehandlung durchgesetzt. 32.8.2 Akute Pandysautonomie und

verwandte Krankheiten 32.7

Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuropathien

Gammopathien mit pathologischer Erhöhung der IgG und IgMFraktionen und Kryoglobulinen im Serum können über eine Infiltration der Nerven und eine immunologische Markscheidenschädigung PNP vom Typ der Schwerpunktneuropathie oder der akuten Polyneuritis auslösen. Selbst bei benignen oder idiopathischen Gammopathien, bei denen keine anderen Organmanifestationen (z.B. Niere) vorliegen, kann eine PNP gefunden werden, die mit Immunsuppression und ggf. mit Plasmapherese behandelt werden muss. Auch bei Paraproteinämien (z.B. Morbus Waldenström) ist über einen ähnlichen Mechanismus eine

Dies ist eine Sonderform der entzündlichen Polyradikulitis (7 oben), die nur das vegetative Nervensystem betrifft und gehäuft nach einer EBV-Infektion auftritt. Betroffen sind alle Anteile des vegetativen Systems: Im Vordergrund stehen Kreislaufdysregulation mit orthostatischer Hypotension und Ausfall der respiratorischen Herzfrequenzvariation. Schweißstörung, Blasenstörung, Obstipation und Pupillenstörungen treten hinzu. Lähmungen treten nicht auf (Differentialdiagnose zum Botulismus und zum klassischen GBS). Der Verlauf ist gutartig. Die Symptome bilden sich meist zurück.

681 32.8 · Erkrankungen des vegetativen Nervensystems

32.8.3 Familiäre Dysautonomie Von der akuten Pandysautonomie muss die familiäre Dysautonomie, die autosomal-rezessiv erblich ist und bei der es zu einer inkompletten Entwicklung sowie einer Degeneration von peripheren autonomen und sensorischen Neuronen kommt, unterschieden werden. Die familiäre Dysautonomie wird mittlerweile auch als HSAN3 bezeichnet. Molekulargenetisch liegt bei 99% der Patienten eine Mutationen auf Chromosom 9 im IKBKAP(inhibitor of kappa light polypeptide gene enhancer in B cells, kinase complex-associated protein-)Gen vor. Es handelt sich um die

häufigste HSAN. Meist erkranken die Patienten schon im Kindesalter. Hypotonie, fehlende Tränensekretion, abnormes Schwitzen, manchmal auch fehlende Schmerzempfindlichkeit prägen das klinische Bild. Eng verwandt hiermit ist auch die kongenitale sensorische Neuropathie mit Anhidrose (HSAN4). Molekulargenetische Studien ergaben Mutationen im TrKA-(Tyrosin receptor kinase A)Gen. Diese Patienten sind schmerzunempfindlich und haben trophische Störungen, was schnell und leicht zu schweren Verletzungen und Mutilationen führt.

In Kürze Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien

Toxisch ausgelöste Polyneuropathien

Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Leitsymptome: Distal an Extremitäten betonte Lähmungen, strumpf- und handschuhförmig angeordnete Sensibilitätsstörungen. Diagnostik: Laborchemische Diagnostik, Liquorbefund, Nerven-, Muskelbiopsie, CT, Röntgen.

Medikamenteninduzierte PNP. Symptome: Sensible Reizerscheinungen. PNP bei Lösungsmittelexposition. Symptome: Distal beginnende, primär sensible, später sensomotorische PNP, Muskelschmerzen, zentralnervöse Symptome.

Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen Metabolische Polyneuropathien Diabetische PNP. Symptome: Distale, sensomotorische, diabetische PNP mit sensiblen Reizerscheinungen wie Parästhesien, schmerzenden Muskelkrämpfen, dumpfen oder lanzinierenden Schmerzen in Lendengegend, distale, symmetrische Paresen. Proximale, asymmetrische, vorwiegend motorische PNP bei älteren Diabetikern setzt akut mit heftigen, besonders nächtlichen Schmerzen und Gefühlsstörungen am Rumpf ein. Diabetische Hirnnervenlähmungen mit heftigen Schmerzen. Vegetative Neuropathie bei Diabetes mit Pupillenstörungen, Urinretention, Diarrhoe, Impotenz, Schweißsekretions- und orthostatischen Regulationsstörungen. Therapie: Normalisierung der Stoffwechsellage, Antidiabetika, Reduktion des erhöhten Körpergewichtes, Behandlung einer begleitenden Fettstoffwechselstörung. Andere, metabolische PNP. PNP bei Urämie mit sensiblen Reizerscheinungen, Wadenkrämpfen, leichten Paresen. Hepatische PNP mit biliärer Zirrhose, Virushepatitis, chronischer Hepatopathie. PNP bei Schilddrüsenkrankheit: bei Hypothyreose Engpasssyndrom. Critical-illness-PNP mit schweren, schlaffen, atrophischen Lähmungen aller Extremitäten und Atemmuskulatur. Medikamentöse Therapie. Günstige Prognose. PNP bei Vitaminmangel und Malresorption. Symptome: u.a. Hauterscheinungen, Diarrhö.

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Panarteriitis nodosa. Symptome: Schubweise verlaufende Lähmungen mehrerer, einzelner Nerven an Extremitäten, sensible Reizerscheinungen wie heftige Nerven- und Muskelschmerzen, betroffen v.a. Männer im fortgeschrittenen Lebensalter. Medikamentöse Therapie mit Immunsuppressiva. PNP bei rheumatoider Arthritis. Symptome: Schwere, trophische Störungen der Haut bis zu distalen Nekrosen, sensible Reizsymptome, sensomotorische Ausfälle. Medikamentöse Therapie.

Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN) HMSN 1. Symptome zwischen 6. und 13. Lebensjahr: Symmetrische, periphere Lähmungen mit faszikulären Zuckungen, Fuß-, Handdeformitäten, sensible Reizerscheinungen, Ausfallsymptome. Andere hereditäre sensomotorische Neuropathien. HMSN Typ 2: Axonale Degeneration mit sekundärere Entmarkung. HMSN Typ 3: Hypertrophie der Nervenfasern. Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen: Häufige und rezidivierende Drucklähmungen einzelner Nerven oder des Plexus brachialis. Hereditäre sensorische autonome Neuropathie: Sensibilitätsstörungen an Füßen, Händen, akrale Ulzerationen, Einschränkung der Schmerz- und Temperaturempfindung, komplizierende Osteomyelitiden, lanzinierende Schmerzen.

682

Kapitel 32 · Polyneuropathien und hereditäte Neuropathien

Immunologisch bedingte Polyneuroradikulits Guillain-Barré-Syndrom. Symptome setzen v.a. bei Männern zwischen 50 und 60 Jahren ein: Akut oder subakut innerhalb von Wochen. Rückbildung 2–4 Wochen nach Stillstand der Ausbreitung. Bein-, Arm- und Hirnnervenlähmungen, Gelenkschmerzen. Gesteigerte sympathische Aktivität: Anfallsweise hypertone Blutdruckentgleisungen, paroxysmale Tachykardien mit Extrasystolien, periphere Vasokonstriktion, Schwitzen. Verminderte Sympathikusaktivität: Bradykardien, verzögerte Reflextachykardie bei Orthostase, systolischer Blutdruckabfall bei Lagewechsel, abnorme Empfindlichkeit gegen Volumenmangel. Überschießende Parasympathikusaktivität: Paroxysmale Bradykardien, Sekundenherztod. Verminderte Parasympathikusaktivität: Blasen-, Mastdarmstörungen. Therapie: Medikamentöse Therapie, evtl. Herzschrittmacher. Chronisch inflammatorische demyelinisierende PNP. Maximum der Symptome erst nach ≥4 Wochen, axonale Läsionen. Medikamentöse Therapie. Differentialdiagnose: Paraproteinämien, hereditäre, sensomotorische und toxische Neuropathien und multifokale, motorische Neuropathie mit Leitungsblock.

HIV-assoziierte Neuropathien. Akutes Guillain-Barré-Syndrom tritt unmittelbar nach Infektion auf. Multifokale, subakute Neuropathie: Demyelinisierende, benigne Form im frühen Erkrankungsstadium. Distale, symmetrische Neuropathie: Sensible, schmerzhafte Form bei fortgeschrittener Krankheit. Differentialdiagnose: Zytomegalievirus-assoziierte Neuritis. Botulismus. Symptome: Schluckstörungen, Dysarthrie, Doppelbilder, schlaffe Arm- und Beinlähmung, trockener Mund, Obstipation, weite, areaktive Pupillen, doppelseitige, faziale Schwäche, Ptose. Medikamentöse Therapie mit Botulinumantitoxin, kontrollierte Beatmung.

Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuropathien Ausgelöst durch Infiltration der Nerven, immunologische Markscheidenschädigung. Auch bei benignen oder idiopathischen Gammopathien ohne weitere Organmanifestationen. Medikamentöse Therapie mit Immunsuppression und evtl. Plasmapherese.

Erkrankungen des vegetativen Nervensystems Miller-Fisher-Syndrom. Symptome: Äußere Augenmuskellähmungen, Schluckstörungen, Ataxie, Parästhesien an Händen und Füßen, Arreflexie.

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Multifokale, motorische Neuropathie. Symptomatik mit asymmetrischer Muskelschwäche, Reflexausfall. Medikamentöse Therapie. Differentialdiagnose: Beginnende ALS.

Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall Lepra-Neuropathie. Lepromatöse Lepra mit axonaler Läsion und Hautulzeration. Tuberkuloide Lepra: Massive, sensible Ausfallsymptomatik mit Verlust der Schmerzempfindung, Granulombildung, Druckläsionen. Medikamentöse Therapie.

Sympathische Reflexdystrophie. Symptome: Ödematöse Hautschwellung, kühl und bläulich verfärbte, dünne, atrophische Haut, osteoporotische Gelenke der betroffenen Extremität, Schmerzen. Therapie: Krankengymnastik, Hochlagerung, medikamentöse Therapie. Akute Pandysautonomie. Symptome: Kreislaufdysregulation mit orthostatischer Hypotension, Ausfall der respiratorischen Herzfrequenzvariation, Blasen-, Pupillenstörungen, Obstipation. Familiäre Dysautonomie. Symptome: Trophische Störungen, Hypotonie, abnormes Schwitzen, fehlende Tränensekretion. Tritt bereits im Kindesalter auf.

33 33 Motoneuronale Krankheiten 33.1 Degeneration des 1. Motoneurons – 684 33.1.1 Spastische Spinalparalyse – 684 33.1.2 Primäre Lateralsklerose – 684

33.2 Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA) – 685 33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4

Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann) – 686 Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander) – 687 Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran) – 687 Postpoliosyndrom – 688

33.3 Progressive Bulbärparalyse – 689 33.4 Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) – 689

684

Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

> > Einleitung Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen der motoneuronalen Systemkrankheiten. Relativ häufig ist die amyotrophische Lateralsklerose, die im mittleren und älteren Lebensalter auftritt und rasch, unaufhaltsam sowie bei geistiger Wachheit zum Tode führt und große Anforderungen an die Führung der Patienten stellt. Das andere Extrem sind sehr langsam progrediente, degenerative Krankheiten der motorischen Vorderhornzellen. Ein bekanntes Beispiel ist der englische Astrophysiker Hawking. Er ist seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselt und hat nur noch geringe Restfunktionen weniger Extremitätenmuskeln, eine schwere Störung der Zungenmotilität und eine eingeschränkte Atemfunktion. Er steuert seinen Computer mit seinem Mund und über willkürliche Augenbewegungen. Im eigenen, praktisch unbeweglichen Körper gefangen, entwickelt er faszinierende Theorien über die Entstehung und Ausbreitung der Galaxien.

Vorbemerkungen 3Definition. Diese heterogene Gruppe von Krankheiten ist dadurch gekennzeichnet, dass nur das motorische System beteiligt ist. Es können 4 das 1. Motoneuron = Pyramidenzellen des motorischen Kortex und Pyramidenbahn, 4 das 2. Motoneuron = motorische Vorderhornzellen oder Hirnnervenkerne mit motorischem Nerv und davon versorgte Muskeln oder 4 beide Systeme in Kombination

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degenerieren. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch werden diese Krankheiten als moto-neuron disease (MND) bezeichnet. 33.1

Degeneration des 1. Motoneurons

33.1.1 Spastische Spinalparalyse 3Epidemiologie. Die Krankheit ist mit einer Prävalenz von 4–5 Patienten/100.000 Einwohnern selten. Jedoch gibt es deutliche regionale Unterschiede. Das männliche Geschlecht ist doppelt so häufig betroffen wie das weibliche. In etwa 75% der Fälle lässt sich Erblichkeit nachweisen, meist autosomal-dominant, aber auch rezessiv und X-chromosomal. 25% sind sporadische Fälle. 3Symptome und Verlauf. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter beginnen. Es gibt zwei Erkrankungsgipfel: Der erste liegt vor dem 6. Lebensjahr, der zweite zwischen dem 2. und 4. Lebensjahrzehnt. Die Symptome setzen mit Steifigkeit in den Beinen ein. Bei der reinen oder unkomplizierten Verlaufsform bleibt die Symptomatik meist auf die unteren Extremitäten beschränkt. Anfangs ist das Gehen nur jeweils bei den ersten Schrit-

ten besonders mühsam und hölzern, danach lockert es sich bei weiteren Bewegungen. Später entwickelt sich eine ausgeprägte, bleibende Paraspastik der Beine mit doppelseitiger Zirkumduktion. Charakteristisch ist ein Adduktorenspasmus, so dass der Kranke beim Gehen die Knie kaum aneinander vorbeischieben kann. Ein vermindertes Vibrations- und Lageempfinden sowie eine Harnblaseninkontinenz können hinzukommen. Die Arme können mitbetroffen sein, werden aber erst nach vielen Jahren ergriffen. Bei der komplizierten Verlaufsform kommen zusätzliche neurologische Symptome wie extrapyramidal-motorische Störungen, Ataxie, Demenz, Epilepsie, Taubheit oder Optikusatrophie hinzu. Bei der Untersuchung ist die spastische Tonuserhöhung stets weit deutlicher als die Lähmung. Die Eigenreflexe sind gesteigert. Pathologische Reflexe können bereits als Spontan-Babinski vorliegen. Die Bauchhautreflexe bleiben lange erhalten. Sensibilität, vegetative Funktionen und Liquor sind normal. Der Verlauf ist sehr langsam, über 2–3 Jahrzehnte progredient. Im Endstadium werden die Kranken mit spastischen Kontrakturen bettlägerig. 3Diagnostik. Die Diagnose wird klinisch gestellt. CT und MRT von Kopf, Zervikal- und Thorakalmark dienen zum Ausschluss symptomatischer Ursachen der Paraspastik. Die Potentiale nach motorischer Stimulation sind pathologisch, was aber diagnostisch nicht weiterhilft. Eher von Bedeutung ist es, wenn bei schwerer Paraspastik die SEP normal sind. Der Liquor ist meist normal, das Eiweiß kann allenfalls leicht erhöht sein. Eine molekulargenetische Diagnostik mit Mutationssuche ist bisher nur für 4 Gene, in erster Linie für das Spastin-Gen (SPG4) möglich. 3Therapie. Eine kausale Therapie gibt es nicht. Krankengymnastik: Sehr gut sind Übungen nach der Bobath-Methode geeignet. Für die symptomatische Behandlung der Spastik kommen Baclofen (Lioresal®, 15–100 mg/Tag oral, bei schwerster Adduktorenspastik auch intrathekal über Baclofenpumpe), Tizanidin (Sirdalud®, 6–24 mg/Tag oder Dantrolen (Dantamacrin® 50– 300 mg/Tag) in Frage. Der lokalen Applikation von Botulinumtoxin (Botox®) kommt eine zunehmende Bedeutung in der Behandlung der lokalen Spastik zu. Eine wichtige Rolle spielt die Versorgung mit Hilfsmitteln; chirurgische Korrekturen schwerer Fußdeformitäten oder eine Verkürzung der Achillessehne können ebenfalls hilfreich sein. 33.1.2 Primäre Lateralsklerose Es handelt sich dabei eine langsam progrediente Degeneration der Pyramidenbahn mit spastischer Lähmung und fakultativ bulbären Symptomen. Übergänge zur ALS sind fließend. Sehr typisch ist im MRT die auffällige Signalgebung entlang der Pyramidenbahn (. Abb. 33.2).

685 33.2 · Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA)

33

Exkurs Genetik und pathologisch-anatomische Befunde Genetik Die hereditären spastischen Spinalparalysen bilden eine heterogene Gruppe, die auch unter den Synonymen (hereditäre oder familiäre) spastische Paraplegie, Strümpell-Lorrain-Erkrankung und Erb-Charcot-Erkrankung bekannt sind. Inzwischen sind 14 verschiedene Genloci (Spastin-Gene, SPG) entdeckt worden (autosomal-dominant: SPG 3, 4, 6, 8, 9, 10 und 12, autosomal-rezessiv: SPG 5, 7, 11 und 14, X-chromosomal-rezessiv: SPG 1 und 2). Pathologische Anatomie Im Gegensatz zu den später besprochenen nukleären Atrophien (7 Abschn. 33.2) kommt es bei dieser Krankheit zur

Degeneration zentraler motorischer Bahnen. Makroskopisch besteht eine Verschmälerung des Gyrus praecentralis, besonders im medialen Drittel (Beinregion) und des Lobulus paracentralis, der der vorderen Zentralwindung an der Innenfläche des Interhemisphärenspaltes benachbart ist. Mikroskopisch findet man vor allem einen Untergang der Betz-Zellen in der 5. Schicht des Gyrus praecentralis und eine kontinuierliche oder diskontinuierliche Degeneration der Pyramidenbahnen, vorwiegend thorakal, nach kaudal zunehmend. Außerdem findet sich auch eine Degeneration der Hinterstränge.

Facharzt

Differentialdiagnose der spastischen Spinalparalyse ALS: In vielen Fällen, namentlich jenseits des 25. Lebensjahres, ist das Syndrom der spastischen Paraparese nur das Vorstadium einer anderen Nervenkrankheit. Vor allem bei negativer Familienanamnese müssen andere Ursachen einer spastischen Paraparese ausgeschlossen werden. Eine ALS kann 1–2 Jahre lang unter den Symptomen einer rein zentralen Lähmung verlaufen, bis die Schädigung auch des peripheren Neurons manifest wird. Auch andere neurodegenerative Erkrankungen wie spinozerebelläre Ataxien sollten ausgeschlossen werden. Die funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28.1) kann mit spastischen Symptomen an den Beinen einsetzen. Deshalb sind in jedem Falle von spastischer Spinalparalyse eine Untersuchung des Magensaftes und der Schilling-Test angezeigt. Das-

33.2

Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA)

Allgemeines zu dieser Gruppe von Krankheiten Wir besprechen in diesem Abschnitt eine Reihe von spinalen Muskelatrophien, die einige Gemeinsamkeiten haben. Es sind die infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann), die hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander), die progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran), die Vulpian-Bernhard-Krankheit (skapulohumeraler Typ) und andere, seltenere Manifestationen. Die Einteilung der spinalen Muskelatrophien ist noch nicht abgeschlossen. Von den 4 autosomal-rezessiven Formen (Typ I–IV) werden die sporadisch auftretenden Formen unterschieden (. Tabelle 33.1). 3Ätiologie und Pathologie. Diese Krankheiten sind überwiegend genetisch bedingt. Der Prozess betrifft nur das zweite

selbe gilt für andere metabolische Erkrankungen wie Vitamin-EMangel, α-Beta-Lipoproteinämie oder Leukodystrophien. Die Multiple Sklerose beginnt nicht selten mit einer spastischen Paraparese. Sensible und Blasenstörungen können anfangs fehlen. Bei MS erlöschen aber die BHR frühzeitig, und evozierte Potentiale, CCT und MRT zeigen multilokuläre Läsionen im ZNS an. Ein parasagittales Meningeom oder andere, spinale Tumoren, Gefäßmissbildungen, strukturelle Anomalien wie eine Arnold-Chiari-Malformation, degenerative Wirbelsäulenerkrankungen, eine Syringomyelie sowie Infektionen wie Aids, Neurolues oder die tropische Paraparese können die Symptomatik imitieren.

(untere) motorische Neuron, d.h. die motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks und die Kerne der motorischen Hirnnerven mit ihren Neuriten. Man spricht auch von nukleären Atrophien. 3Klinik. Die einzelnen Unterformen der SMA zeigen klinisch sehr unterschiedliche Verläufe und haben sehr unterschiedliche Prognosen. Die rascheste Progredienz und die schlechteste Prognose zeigen die infatilen hereditären Formen. Das klinische Charakteristikum dieser Krankheitsgruppe ist eine langsam fortschreitende, rein motorische, periphere Lähmung mit Muskelatrophien von segmentaler Verteilung und faszikulären Zuckungen. Die Eigenreflexe erlöschen. Sensibilität, Trophik und Entleerung von Blase und Darm bleiben ungestört. 3Diagnostik. Im EMG finden sich nur selten Fibrillationen und positive scharfe Wellen, auch nur wenige Faszikulationen. Oft ist das Aktivitätsmuster bei mäßiger Atrophie und noch recht

686

Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

Exkurs Genetik und pathologische Anatomie Genetik Die spinalen Muskelatrophien (SMA) sind eine klinisch und genetisch heterogene Krankheitsgruppe. Die proximalen Muskelatrophien des Kindesalters folgen einem autosomal-rezessiven Erbgang. Heterozygote Anlageträger sind nicht von Kontrollpersonen zu unterscheiden. Diese hereditären Formen sind nach der zystischen Fibrose mit einer Inzidenz von 1:10.000 Lebendgeburten eine der häufigsten autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen. Häufig sind Geschwister der Patienten ebenfalls erkrankt. Die Kandidatengene für die autosomal-resessiven spinalen Muskelatrophien sind zwei auf Chromosom 5q eng benachbarten Gene: Etwa 95% der Patienten zeigen eine homozygote Deletion im »Motor-neuron-survival«-Gen (SMN-Gen), die sich bei den spinalen Muskelatrophien Typ I–III (Werdnig-Hoffmann, Intermediärtyp und Kugelberg-Welander) findet. Die genaue Rolle des benachbarten »Neuronal-apoptotic-inhibitory-protein«-Gens (NAIP-Gen) ist noch unklar. Die Ursache der adulten

Verlaufsform der spinalen Muskelatrophie (Typ IV) ist ungeklärt und beruht nicht auf dem Genlokus des SMN-Gens. Die seltene autosomal-dominant vererbte SMA besitzt einen Gendefekt auf Chromosom 7p. Pathologische Anantomie Pathologisch-anatomisch findet man auf dem befallenen Niveau, besonders in der Medulla oblongata, in der Halsmark- und Lendenmarkanschwellung, einen symmetrischen Schwund der motorischen Kern- bzw. Vorderhornzellen mit reaktiver Gliawucherung. Die vorderen Wurzeln sind bereits makroskopisch dünner als normal und grau entfärbt. Mikroskopisch zeigt sich das Bild einer Degeneration von Markscheiden und Achsenzylindern. Die entsprechenden Muskeln sind neurogen atrophiert, d.h. sie zeigen eine uniforme Atrophie der motorischen Einheiten mit randständig vermehrten Muskelkernen. Es gibt aber auch histologische Veränderungen, die einer Myopathie ähneln.

. Tabelle 33.1. Einteilung der motoneuronalen Erkrankungen mit Befall des 2. Motoneurons

33

Hereditäre Formen der spinalen Muskelatrophie

– Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann): Erkrankungsalter im ersten Lebensjahr, Manifestation zuerst im Beckengürtel, oft generalisiert – Intermediärtyp (Typ II): Erkrankungsalter in den ersten Lebensjahren, Manifestation zuerst im Beckengürtel – Proximale erbliche neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander): Erkrankungsalter um 9 Jahre, Manifestation zuerst im Beckengürtel – Adulte erbliche Form der spinalen Muskelatrophie (Typ IV): Erkrankungsalter um das 25. Lebensjahr, Manifestation zuerst durch progrediente Skoliose

Sporadische Formen der spinalen Muskelatrophie

– Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran): Erkrankung um das 30. Lebensjahr, Manifestation zuerst als symmetrische Atrophie der kleinen Handmuskeln – Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Vulpian-Bernhard): Erkrankungsalter um das 25. Lebensjahr, Manifestation zuerst im Schultergürtel – Juvenile distale spinale Muskelatrophie (Typ Hirayama): Erkrankungsalter um das 15. Lebensjahr, Manifestation an den Armen, selbstlimitierend – Peronealtyp mit Manifestation an der Unterschenkelmuskulatur: Beginn in der Kindheit oder im Erwachsenenalter, sehr langsame Progredienz – Progressive Bulbärparalyse: Degeneration der kaudalen motorischen Hirnnervenkerne: Erkrankungsalter im 3.–6. Lebensjahrzehnt

guter Kraft bis auf Einzeloszillationen gelichtet. Eine stärkere Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit findet sich nicht. So genannte Riesenpotentiale kommen vermutlich dadurch zustande, dass die verbleibenden Nervenfasern denervierte Muskelfasern durch kollaterale Aussprossung reinnervieren. In etwa 20% der Fälle kann man jedoch im EMG auch »myopathische« Veränderungen finden, die erst durch spezielle Ableitungstechniken als neurogen zu erkennen sind. Laborchemische Befunde: Erhöhungen der Muskelenzymaktivitäten im Serum können diagnostisch an eine Myopathie denken lassen: Bei mehr als der Hälfte der Patienten ist die Se-

rum-CPK erhöht, beim Typ Kugelberg-Welander sogar bis auf Werte von über 2000 U/l. 33.2.1 Infantile spinale Muskelatrophie

(Typ I, Werdnig-Hoffmann) 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome sind teilweise schon bei der Geburt vorhanden. Innerhalb des 1. Lebensjahres zeigen die Kinder eine Trinkschwäche und einen Stillstand in der motorischen Entwicklung. Sie liegen auffällig ruhig im Bett und

687 33.2 · Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA)

33

Exkurs Adulte Verlaufsform (Typ IV) der SMA Meist treten die Symptome erstmals im 2. bis 4. Lebensjahrzehnt auf. Neben autosomal-rezessiven sind auch autosomaldominante Verläufe beschrieben, die im Vergleich zu den rezessiven Verläufen wesentlich rascher verlaufen.

bewegen nur in geringem Maße Finger und Zehen. Ihr Gesicht ist durch doppelseitige Fazialisparese ausdruckslos. Die Augen bleiben voll beweglich. Sie können den Kopf nicht halten Die Atmung ist abdominal. Sehr typisch ist die sog. Schaukelatmung: Bei der Inspiration wölbt sich der Bauch vor, während der Thorax einsinkt, expiratorisch wird der Bauch eingezogen und der Thorax wieder etwas geweitet. Die Muskulatur der Extremitäten ist hypoton. Die Eigenreflexe fehlen. Die Muskelatrophien führen zu Fehlstellungen der Gelenke mit sekundärer Versteifung. Die Lähmungen beginnen im Beckengürtel. Sie breiten sich dann auf die gesamte Extremitäten- und Stammmuskulatur, später auch auf die Gesichts- und Schluckmuskulatur aus. Durch Parese der Interkostalmuskulatur bilden sich Atelektasen, die das Auftreten von Pneumonien begünstigen. Über 60% der Kinder erliegen einer Pneumonie im 1. oder 2. Lebensjahr, nur ganz selten überleben sie das 6. Jahr. 3Differentialdiagnose. Das floppy infant syndrome (»schlaffes Baby mit Trinkschwäche«) beruht in der Mehrzahl der Fälle auf einer konnatalen Myopathie. Von dieser Krankheit sind heute etwa ein Dutzend verschiedene Formen histologisch und enzymhistochemisch identifiziert. Die Kinder haben bei schlaffem Muskeltonus eine proximale Schwäche in den Extremitäten und Schwierigkeiten beim Trinken. Die Atemmuskulatur ist nicht betroffen. Die Aktivität der Muskelenzyme ist nur leicht erhöht. Das EMG ergibt oft uncharakteristische Befunde. Zur konnatalen Myasthenie siehe 7 Kap. 34.8. 33.2.2 Hereditäre, proximale, neurogene

Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander) Das Erkrankungsalter streut zwischen 2 und 17 Jahren, im Mittel beträgt es 9 Jahre. 3Symptome. Klinisch setzt nach normaler motorischer Entwicklung bei den Kindern zunächst eine proximale Schwäche in den Beinen ein. Sie haben Schwierigkeiten beim Treppensteigen. Später stürzen sie häufig hin und haben Mühe, sich wieder aufzurichten. Sie zeigen einen watschelnden Gang und eine verstärkte lumbale Lordose. Nach mehreren Jahren bildet sich auch eine Schwäche in den Mm. deltoideus, sternocleidomastoideus und später auch an Armen und Händen aus. Zunge und Kaumuskulatur bleiben stets frei. Typisch ist ein Befall des M. infraspinatus am

Klinisch finden sich eine Skoliose sowie Pseudohypertrophien der Waden. In den Laboruntersuchungen findet man im Gegensatz zu den Formen I–III eine deutliche Erhöhung der Kreatinkinase (CK). Die Lebenserwartung bei der rezessiven Verlaufsform ist nicht vermindert.

Schultergürtel und die Bevorzugung der Beuger an den Unterarmen. Die Kinder können deshalb, im Gegensatz zu Patienten mit progressiver Muskeldystrophie, den Jendrassik-Handgriff nicht ausführen. Andererseits erreicht die Schwäche der Rumpfmuskulatur wesentlich später als bei Muskeldystrophie einen solchen Grad, dass die Kinder »an sich selbst emporklettern« müssen. Bei der Untersuchung sieht man häufig bereits spontan ein Muskelfaszikulieren. Die Eigenreflexe erlöschen parallel zur Entwicklung der Atrophien, d.h. zuerst fallen die PSR, danach die ASR aus. Elektromyographisch zeigt sich das Bild einer neurogenen Störung. Der Verlauf ist wechselnd rasch. Es werden auch Perioden von jahrelangem Stillstand beobachtet. Die Lebenserwartung ist nicht wesentlich verkürzt. 33.2.3 Progressive spinale Muskelatrophie

(Typ Duchenne-Aran) 3Epidemiologie und Genetik. Eindeutige Erblichkeit ist nicht nachgewiesen. Möglicherweise manifestiert sich die Krankheit erst dann, wenn eine Mutation von Genen auf mehreren Chromosomen zusammentrifft, die isoliert nicht pathogen sind. Diese Form ist die häufigste Krankheit des 2. Motoneurons. Das Erkrankungsalter streut zwischen 20 und 45 Jahren, es liegt im Mittel um 30 Jahre. 3Symptomatik und Verlauf. Die Krankheit beginnt mit symmetrischen Atrophien der kleinen Handmuskeln, die sich nicht an das Versorgungsgebiet der peripheren Nerven halten, sondern segmental angeordnet sind und zuerst Daumen-, Kleinfingerballen und Mm. interossei ergreifen (. Abb. 33.1). Im Laufe vieler Jahre bildet sich eine sog. Affenhand (Thenaratrophie) oder Krallenhand (Atrophie der Mm. interossei und lumbricales) aus. Die Atrophien dehnen sich dann auf die Muskeln der Unterarme aus, verschonen in der Regel die Oberarme und ergreifen den Schultergürtel. Der chronische Verlauf macht es den Kranken möglich, Umwegleistungen zu erlernen, durch die sie oft noch eine erstaunliche Kraft in den Armen entwickeln. Meist sind faszikuläre Zuckungen zu sehen, auch in Muskeln, die (noch) nicht atrophisch sind. Die Eigenreflexe erlöschen frühzeitig. Der Verlauf erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Manche Patienten sind nach 15–20 Jahren noch beruflich tätig. Lebensbedrohlich wird die Krankheit nur dann, wenn das bulbäre Kernge-

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Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

Facharzt

Differentialdiagnose der Duchenne-Aran-Krankheit Solange die Muskelatrophien noch auf die Hand beschränkt sind, muss man eine mechanisch verursachte, chronische, periphere Nervenschädigung abgrenzen, z. B. das Karpaltunnelsyndrom, die chronische Ulnarislähmung und die verschiedenen Formen der unteren Plexuslähmung. Bei diesen treten aber fast immer auch Sensibilitätsstörungen auf, und der Verlauf ist rascher. Die Abgrenzung zur ALS erfolgt durch die fehlenden Pyramidenbahnzeichen und den langsamen klinischen Verlauf. Die multifokale motorische Neuropathie ist in 7 Kap. 32.5.4 besprochen. Diese oft gut behandelbare, asymmetrische Lähmung geht oft mit GM1-Antikörpern einher und wird mit Immunglobulinen behandelt. Die Syringomyelie kann im Anfangsstadium die Symptome einer systematischen Vorderhorndegeneration imitieren.

Bald stellen sich aber Schmerzen, Gefühlsstörungen und trophische Veränderungen ein, die die Diagnose erleichtern. Bei etwas höherem Lebensalter kommt auch die Myopathia distalis tarda hereditaria differentialdiagnostisch in Frage. Im Alter von 40–60 Jahren (»tarda«) setzt eine langsam fortschreitende Atrophie der kleinen Handmuskeln, der Unterarmmuskeln und der Mm. peronaei (»distalis«) ein. Die Eigenreflexe erlöschen entsprechend dem muskeldystrophischen Prozess. Das EMG und die Muskelbiopsie lassen erkennen, dass es sich um eine primäre Muskelkrankheit und nicht um eine neurogene Atrophie handelt. Das Leiden ist, im Gegensatz zur Duchenne-Aran-Krankheit, mit hoher Penetranz dominant erblich (Myopathia hereditaria). Die Prognose ist gut.

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Weitere spinale Muskelatrophien

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Vulpian-Bernhard-Krankheit (skapulohumeraler Typ) Dieser Typ ist ätiologisch noch ungeklärt, Erblichkeit ist nicht nachgewiesen. Der Erkrankungsbeginn liegt im 2.–3. Lebensjahrzehnt und damit etwas früher als der bei Duchenne-Aran. Wegen seiner Seltenheit ist ein sicheres Urteil schwierig. Die Atrophien beginnen im Schultergürtel in den Mm. deltoideus, supra- und infraspinatus und serratus anterior. Von hier breiten sie sich an den Armen nach distal zur Hand aus und ergreifen absteigend die Muskeln des Stammes. Die Beine werden kaum oder gar nicht betroffen. Die Lebenserwartung ist normal. Juvenile, distale spinale Muskelatrophie (Typ Hirayama) Bei dieser Erkrankung, die typischerweise im 2. Lebensjahrzehnt beginnt, kommt es zu langsam sich entwickelnden asymmetrischen Muskelatrophien der Arme. Die Krankheit ist nach

einer Progredienz von 2–4 Jahren selbstlimitierend. Die Ursache ist nicht geklärt. Eine Kompression des unteren Zervikalmarks bei Kopfbeugung wird angenommen. Peronealtyp der Motoneuronkrankheit Die Krankheit ist seltener als der Typ Duchenne-Aran und Vulpian-Bernhard, beginnt im 2. Lebensjahrzehnt und ist fast immer auf die Unterschenkelmuskulatur beschränkt. Nur selten sind auch Hände und Unterarme oder Oberschenkel und Stammmuskeln betroffen. Außer den Mm. peronaei werden auch die Mm. triceps surae und die kleinen Fußmuskeln betroffen. Die Lebenserwartung ist kaum verkürzt. Von der neuralen Muskelatrophie ist die Krankheit durch fehlende Sensibilitätsstörungen und fehlende Verzögerung der sensiblen NLG abzugrenzen.

biet oder die Kerne der Interkostalnerven im Brustmark ergriffen werden. 33.2.4 Postpoliosyndrom

. Abb. 33.1. Atrophie der kleinen Handmuskeln bei einem 39-jährigen Mann mit progressiver, spinaler Muskelatrophie. Die Atrophien und Bewegungsstörungen hatten vor 8 Jahren eingesetzt. Die motorische Funktion der Hände war für gröbere Verrichtungen noch gut. (A. Ferbert, Kassel)

Etwa ein Drittel der Patienten, die früher eine Poliomyelitis erlitten hatten, entwickeln im höheren Lebensalter, etwa 20–40 Jahre nach der Polio, eine zunehmende Muskelschwäche, manchmal mit Atrophie und Faszikulationen. Auch Muskeln, die bei der Polio klinisch nicht betroffen waren, werden hiervon erfasst. Die Symptome schreiten relativ langsam voran. Eine Reaktivierung der Polio ist unwahrscheinlich.

689 33.4 · Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)

Ob es sich hierbei um den Übergang in eine langsam verlaufende amyotrophische Lateralsklerose handelt, die die Einordnung als ALS-Variante erlaubt, ist noch unklar. Die Pyramidenbahnen sind allerdings nie betroffen. Die Prognose ist jedenfalls viel besser. 33.3

Progressive Bulbärparalyse

3Definition und pathologisch-anatomisch-Befunde. Bei dieser Krankheit kommt es zu einer meist symmetrischen Degeneration der motorischen Kerne des XII., X., VII. und V. Hirnnerven. Die eng benachbarten sensiblen und vegetativen Kerne bleiben frei, was den Systemcharakter des Prozesses besonders deutlich zeigt. Die weiter rostral liegenden Augenmuskelkerne werden nicht befallen. 3Symptome. Die Krankheit setzt im 3.–5. Lebensjahrzehnt mit einer Sprechstörung ein. Die Patienten klagen über eine »schwere Zunge«, ihre Sprechweise wird schleppend und mühsam, die Artikulation besonders für Labiale (b, p, w) und Linguale (r, l) erschwert. Die Stimme wird leiser und bekommt durch Gaumensegelparese einen näselnden, bei Stimmbandlähmung einen heiseren Klang. Diese »bulbäre Sprache« geht bei fortschreitender Lähmung in Anarthrie über, d.h. vollständige Unfähigkeit zur Artikulation. Die Patienten können sich dann nur noch schriftlich verständlich machen. Aphonie (Stimmlosigkeit) gehört nicht zum Krankheitsbild. Die doppelseitige Lähmung der vom N. facialis innervierten mimischen Muskulatur macht das Gesicht schlaff und ausdruckslos und nimmt den Patienten eine weitere Möglichkeit der Kommunikation. Gleichzeitig werden Kauen und Schlucken immer mehr erschwert: Die Kranken können nur noch breiige und später nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen. Sie verschlucken sich auf zweierlei Weise: Wegen der mangelnden Abdichtung des Nasenraumes (Gaumensegelparese) werden die Speisen durch die Nase regurgitiert oder sie geraten »in die falsche Kehle«, in die Trachea, weil der Kehlkopf nur noch mangelhaft verschlossen wird. Da die Parese des M. orbicularis oris keinen festen Mundschluss mehr gestattet, laufen Speichel und Speisen aus dem Munde heraus. Die Zungenlähmung führt dazu, dass die Speisen nicht mehr aus dem Mund in den Schlund geschoben werden können. Das Husten wird kraftlos, was beim Verschlucken in die Trachea Aspirationspneumonien begünstigt. Infolge der Masseterparese können die Kranken schließlich den Mund nicht mehr geschlossen halten und müssen den Unterkiefer mit der Hand oder durch einen Verband anheben. Häufig kommt es zu mimischen Enthemmungsphänomenen (pathologisches Lachen und Weinen). 3Verlauf. Der Verlauf der progressiven Bulbärparalyse ist, wie bei den anderen Formen der nukleären Atrophien, unaufhaltsam

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progredient. Die Nahrungsaufnahme wird, wenn man den Kranken nicht durch eine perkutane Gastrostomie ernährt, unzureichend, so dass sich eine Kachexie einstellt. Schließlich führt eine interkurrente Aspirationspneumonie den Tod herbei. Demenz tritt nicht ein: Die Patienten erleben ihren qualvollen Zustand bei wachem Verstand und in voller Einsicht. Auffällig ist, dass die Krankheit in der Mehrzahl der Fälle wesentlich rascher fortschreitet als die übrigen nukleären Atrophien. Diese Verlaufsdynamik und das höhere Erkrankungsalter sprechen dafür, die progressive Bulbärparalyse als eine Sonderform der amyotrophischen Lateralsklerose (s.u.) aufzufassen, bei der es nicht zur Ausbildung von pyramidalen Symptomen kommt. In jedem Falle muss man besonders sorgfältig darauf achten, ob sich auch Zeichen einer zentralen Bewegungsstörung finden: Ist der Masseterreflex erhalten oder gesteigert und treten beim Versuch von Bewegungen der Zunge und des Unterkiefers Mitbewegungen und Masseninnervationen im Gesicht auf, zeigt dies eine Schädigung auch der zentralen motorischen Bahnen an. Damit ist, beim Fehlen von Sensibilitätsstörungen, die Diagnose einer amyotrophischen Lateralsklerose mit bulbärer Lokalisation sehr wahrscheinlich. 3Therapie. Bei der mit ALS verbundenen Form der Bulbärparalyse kann mit dem Medikament Riluzol, einem Glutamat-Antagonist, das Fortschreiten verlangsamt werden. Der Effekt ist aber nicht sehr ausgeprägt. Im Schnitt überleben die Patienten mit Riluzol nur um einige Monate länger als ohne die Behandlung. 33.4

Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)

3Epidemiologie. Die ALS ist die häufigste motorische Systemkrankheit. Sie verläuft in der Regel progredient und fatal. Sie ist keine genetische Einheit: Nur ein Teil der Fälle ist unregelmäßig erblich, meist autosomal-dominant mit einer familiären Inzidenz von 5–10%. Insgesamt überwiegen die sporadischen Fälle. Die Inzidenz wird auf 1,2–2,6/100.000 Einwohner geschätzt und scheint anzusteigen, die Prävalenz liegt um 5/100.000 Einwohner. Die Erkrankung scheint außerhalb Europas seltener zu sein. In einzelnen, geographischen Regionen gibt es aber erhebliche Unterschiede. Der Median des Erkrankungsalters ist rd. 65 Jahre. Die mittlere Krankheitsdauer beträgt 25 Monate (Extremwerte 6 Monate und 20 Jahre), nach Diagnosestellung 12– 24 Monate. Männer sind häufiger als Frauen betroffen (1,5–2:1). Bei den genetischen Fällen sind beide Geschlechter zu gleichen Teilen betroffen. 3Symptomatik. Das voll ausgebildete Krankheitsbild ist durch die Kombination von atrophischen und spastischen Lähmungen charakterisiert. Pathologische Reflexe bleiben oft aus. Faszikulieren wird häufig auch in nicht gelähmten Muskeln beobachtet. Sensibilitätsstörungen, die über gelegentliche, leichte Parästhesien hinausgehen, oder Blasenstörungen gehören nicht

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Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

Exkurs Genetik, Pathophysiologie und pathologische Anatomie Genetik Eine familiäre Form der ALS wird autosomal-dominant vererbt. Der Genlokus soll auf Chromosom 21, in einer Region, die die Cu/Zn-Superoxid-Dismutase (SOD1) kodiert, liegen. Die Cu/ZnSOD ist ein Enzym, das toxische, freie Sauerstoffradikale inaktiviert. Eine juvenile Variante kann auch autosomal-rezessiv vererbt werden. Diese verläuft rascher, und es kommt zur Demenz. Es gibt transgene Mausmutanten, die die humane SODMutation tragen. Diese Tiere erkranken an einer der ALS vergleichbaren Symptomatik und werden daher als Modell für die ALS angesehen. Umweltbedingte Faktoren wie eine Exposition mit Schwermetallionen oder virale Infektionen werden seit langer Zeit diskutiert, allerdings gibt es hierfür bisher keine eindeutigen Hinweise. Pathologisch-anatomische Befunde Die ALS betrifft vorwiegend das motorische Nervensystem, im Gegensatz zur spastischen Spinalparalyse (nur 1. Motoneuron betroffen) und zur spinalen Muskelatrophie (nur 2. Motoneuron betroffen) sind bei der ALS das 1. und 2. Motoneuron betroffen (Vorderhornzellen und motorische Hirnnervenkerne, die Kerne

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zur ALS. Symptome einer frontalen Demenz findet man bei 2–5% der Patienten. Man unterscheidet eine bulbäre und eine spinale Verlaufsform: Für die Verteilung der initialen Symptome und die weitere Ausbreitung lassen sich keine festen Regeln aufstellen. Bei etwa 25% der Patienten setzt die Krankheit mit Atrophien in den kleinen Handmuskeln ein. Dann entwickelt sich eine Paraspastik der Beine, und schließlich wird das Gebiet der kaudalen motorischen Hirnnerven, nicht aber die okulomotorischen Hirnnervenkerne, ergriffen. Ebenso häufig beginnt die Krankheit mit atrophischen oder spastischen Paresen an den Unterschenkeln und Füßen und steigt dann zu den Armen und der bulbären Muskulatur auf. In 20% der Fälle sind bulbäre Lähmungen mit Sprech- und Schluckstörungen das Initialsymptom. Daneben gibt es vielerlei andere Verlaufsformen. Wenn zentrale und periphere bulbäre Symptome vorliegen (sog. Pseudobulbärparalyse), treten oft pathologisches Lachen und Weinen auf. 3Verlauf. Dieser ist wesentlich rascher als bei den nukleären Atrophien. Verlaufstyp und Erkrankungsalter gestatten keine verlässlichen prognostischen Schlüsse. Bei jüngerem Erkrankungsalter ist die Lebenserwartung länger. Nur ein Drittel der Kranken überlebt 5 Jahre. Gegen Ende nimmt die Krankheit einen besonders raschen Verlauf, weil pathologisch vergrößerte motorische Einheiten (s.o.) zugrunde gehen, deren Ausfall sich funktionell besonders stark auswirkt. Die Schluckstörung führt zur Aspirationspneumonie, die Beteiligung der Atemmuskulatur zur respiratorischen Insuffi-

der Augenmuskeln, III, IV und VI, bleiben dabei ausgespart): Man findet eine Kombination von nukleärer Atrophie und Degeneration der Pyramidenbahnen. Makroskopisch ist der Gyrus praecentralis, besonders im medialen Drittel neben der Mantelkante, atrophiert. Medulla oblongata und Rückenmark sind verschmälert, die Vorderwurzeln sind abnorm dünn. Mikroskopisch sind im Gyrus praecentralis die Betz-Zellen der 5. Rindenschicht geschwunden, aber auch die präfrontale, motorische Rinde zeigt degenerative Zellveränderungen. Die Pyramidenbahnen sind, besonders im zervikalen Abschnitt, degeneriert. In den Vorderhörnern und den motorischen Hirnnervenkernen sind die AlphaMotoneurone atrophiert. Die Gamma-Motoneurone werden erst spät und stets geringer befallen. Die verbleibenden α-Zellen bilden durch sprouting in andere Muskelfasern größere motorische Einheiten, deren Aktionspotentiale verbreitert und von hoher Amplitude sind. Dem Zellverlust in der Hirnrinde und im Rückenmark folgt eine Gliareaktion. Deshalb findet man nur selten eine fokale Volumenminderung im CT. Daneben finden sich autoimmunologische Vorgänge (Mikrogliaaktivierung, Antikörperbildung, T-Zellaktivierung), die allerdings eher als sekundär gelten.

zienz, beide führen zum Tod der Patienten mit fortgeschrittener ALS. 3Diagnostik. Die Diagnose wird anhand klinischer, elektrophysiologischer und neuropathologischer Nachweise einer Schädigung des 1. und des 2. motorischen Neurons mit einer Ausbreitung auf vier Körperregionen (bulbär, zervikal, thorakal und lumbal) und den elektrophysiologischen, laborchemischen und neuroradiologischen Ausschluss anderer Erkrankungen, die das 1. bzw. 2. Motoneuron betreffen, gestellt. Die entscheidenden diagnostischen Zeichen sind 4 gute Auslösbarkeit der Eigenreflexe an Extremitäten mit positiven Pyramidenbahnzeichen (Letztere können fehlen), 4 Muskelatrophien (häufig sind zunächst nur die kleinen Handmuskeln betroffen), 4 faszikuläre Zuckungen bei Paraspastik der Beine oder spastischer Tetraparese, 4 Fibrillieren der Zunge und 4 gesteigerter Masseterreflex; 4 keine sensiblen Ausfälle, 4 keine Blasen- und Mastdarmstörung. Obligat ist auch eine klinisch-neuropsychologische Untersuchung. Die Muskel- und Nervenbiopsie dient insbesondere bei atypischer Manifestation zur Abgrenzung gegenüber metabolischen, immunologischen und neoplastischen Ursachen. In der Muskelbiopsie findet man neben neurogener Degeneration der II-A-

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Facharzt

Elektrophysiologie bei ALS In der Nadelmyographie findet man schon frühzeitig, d.h. auch in Muskelgruppen, die klinisch noch nicht befallen sind, neurogen umgebaute Potentiale motorischer Einheiten (PmE). Wegen der größeren Territorien resultiert eine Desynchronisation der Entladungen, die zur Polyphasie der PmE führen kann. In Abhängigkeit vom Ausmaß der Atrophien finden sich Fibrillationspotentiale und positive, scharfe Wellen. Sehr typisch ist das Auftreten von Faszikulationen, desynchronisierten, spontan entladenden PmE. Die neurogen veränderten Einzelpotentiale mit ihrer auffällig hohen Amplitude (>10 mV) werden als «Riesenpotentiale« bezeichnet. Der Terminus soll aber nur beschreibend gebraucht werden, weil die Riesenpotentiale

Fasern eine kompensatorische Hypertrophie von Muskelfasern. Sie hält die Kraftleistung so lange aufrecht, bis die Atrophie etwa 50% der Muskelfasern ergriffen hat. Das erklärt, warum bei ALS, anders als z.B. bei primären Muskelkrankheiten, die Kraft erst in einem fortgeschrittenen Stadium nachlässt. Nützlich ist, gleichzeitig eine Nervenbiopsie des N. suralis vorzunehmen, um sicher zu sein, dass keine sensiblen Fasern betroffen sind. Allerdings kann das bei 10% der ALS-Kranken der Fall sein. . Abb. 33.2. Leichte Hyperintensität der Pyramidenbahn beidseits bei ALS. (S. Hähnel, Heidelberg)

nicht pathognomonisch sind. Auch bei anderen peripheren Nervenkrankheiten, nicht nur bei solchen der motorischen Vorderhornzellen, können derartige Potentiale gefunden werden. Selten werden pseudomyotone Entladungen nachgewiesen. Als ergänzende Untersuchung kann das EMG der Masseteren und der Zungenmuskulatur zum Nachweis von Faszikulationen nützlich sein. In der Elektroneurographie findet man allenfalls eine gering verzögerte maximale motorische NLG bei normalen sensiblen Potentialen. Durch die Beteiligung der Pyramidenbahn zeigt die transkranielle Magnetstimulation (TKMS) verzögerte Latenzen

EMG: Bei der ALS findet man generalisiert neurogen umgebaute PmE, gelichtetes, hohes Aktivitätsmuster und pathologische Spontanaktivität und Faszikulationen. Die Magnetresonanztomographie (MRT) dient vor allem der Differentialdiagnose gegenüber einer zervikalen Myelopathie. Die MRT des Schädels kann Signalveränderungen des Motocortex und des Tractus corticospinalis zeigen, diese sind allerdings unspezifisch (. Abb. 33.2).

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Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

Exkurs Beatmung bei ALS Während die Anlage einer Magenfistel (PEG) zur Ernährung heute nicht umstritten ist, ergibt sich ein großes Problem mit der Indikationsstellung zur (Dauer-)Beatmung von ALS-Patienten mit progredienter Ateminsuffizienz. Die Heimbeatmung verlängert unzweifelhaft das Leben, verhindert aber nicht den weiteren Muskelabbau. Spätestens dann sollte mit dem Patienten und den Angehörigen das weitere Prozedere besprochen werden, verbunden mit dem Angebot, ihn im Finalstadium ins Krankenhaus aufzunehmen. Dies muss auch unter DRG-Bedingungen als humanitäre Geste möglich bleiben. Die Patienten können völlig unbeweglich (Ausnahme Augen), anarthrisch,

3Therapie. Eine kausale Therapie der ALS ist nicht möglich. 4 Die einzige Therapie, die bislang einen geringen lebensverlängernden Effekt im beginnenden Stadium zeigen konnte (durchschnittlich etwa 2–3 Monate), ist die Behandlung mit dem Glutamatantagonisten Riluzol (Rilutek®), der allerdings bei Patienten älter als 75 Jahre und im fortgeschrittenen Krankheitsstadium nicht belegt und mit hohen Therapiekosten verbunden ist. Versuchsweise kann auch mit Vitamin E behandelt werden. 4 Weitere Therapieversuche mit NMDA-Antagonisten, Wachstumsfaktoren, Interferon-beta, Copaxone®, Topiramat, Immunsuppresion, Liquorfiltration, Selegilin und Kalziumantagonisten sind bisher gescheitert. Die Hoffnung ruht auf Kombinationstherapien verschiedener Wirkstoffe.

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Im Anfangsstadium behandelt man krankengymnastisch und logopädisch zur Pneumonieprophylaxe und mit Antibiotika bei Infektionen. 4 Myotonolytische Medikamente wie Diazepam (Valium®), Baclofen (Lioresal®) oder Tizanidin (Sirdalud®) können die Spastik lockern (Dosierung s.u.). Viele Patienten spüren aber bei wirksamen Dosen eine stärkere Schwäche, so dass sie die Beine zwar freier bewegen, aber nicht mehr darauf gehen können. 4 Zur Behandlung von Krampi werden Magnesium, Vitamin E, Diphenhydramin (Dolestan®), Phenytoin (Zentropil®), Gabapentin (Neurontin®) oder Carbamazepin (Tegretal®) eingesetzt. Vor allem nächtliche Krämpfe sind oftmals mit Schmerzen verbunden und führen zu einer Beeinträchtigung der Nachtruhe. Hier hat sich der Einsatz von Chininsulfat (Limptar N®) bewährt. 4 Bei bulbären Symptomen gibt man Atropinpräparate (Belladonnysat), Trihexphenidyl (Artane®), Methanteliniumbromid (Vagantin®), Glycopyrronium (Robinul®) gegen den Speichelfluss, versuchsweise kleine Dosen von Mestinon® (20–60 mg). 4 Bei Verschleimung gibt man Acetylcystein und ausreichend Flüssigkeit, bei verdicktem Schleim auch beta-Blocker, z.B. Metoprolol . Alternativ kann auch eine Applikation von Botulinumtoxin (Botox®) in die Nähe der Speicheldrüsen versucht werden.

aber geistig unbeeinträchtigt Monate und Jahre überleben. Wir raten in langen, schweren Gesprächen mit Patienten und Angehörigen meist von der Dauerbeatmung ab und bieten stattdessen an, dass die Patienten bei terminaler Ateminsuffizienz in die Klinik kommen, wo wir alles tun, um die Sterbenden nicht leiden zu lassen. Anxiolyse und Sedierung können sich negativ auf die Restatmung auswirken. Die Befürchtung eines qualvollen Erstickens ist meist unberechtigt. Bei langsamer Entwicklung der Atemlähmung schlafen die Patienten in CO2-Narkose ruhig ein.

Etwa 25% der Patienten leiden unter einer Depression und Angststörungen, die psychotherapeutisch, gelegentlich auch medikamentös behandelt werden. Wegen der positiven Wirkung auf die Reduktion des Speichelflusses und die Beeinflussung der pseudobulbären Symptomatik sollte Amitriptylin (Saroten®) eingesetzt werden, das auch beim Auftreten von pathologischem Lachen oder Weinen gegeben werden kann.Eine Alternative bei Letzterem stellen Fluvoxamin (Fevarin®), Fluoxetin (Fluctin®), L-DOPA (Madopar®) und Lithium dar. Die nichtinvasive Heimbeatmung ist von vielen Patienten und Angehörigen erwünscht und ist lebensverlängernd. Zu einer symptomatischen Behandlung gehört vor allem die psychosoziale Betreuung. Dazu gehören die Vermittlung von Selbsthilfegruppen und die Sterbe- und Trauerbegleitung von Patienten und deren Angehörigen sowie der Hinweis auf eine Patientenverfügung. In der Endphase erfolgt die Therapie bei intermittierender Dyspnoe mit Lorazepam (Tavor®) sublingual oder Opiaten, z.B. Morphium per inhalationem, bei schwerer Dyspnoe auch mit Midazolam (Dormicum®), bei kontinuierlicher Dyspnoe mit Morphium i.v. und Diazepam (Valium®) zur Nacht, bei terminalen Unruhezuständen mit Chlorpromazin (Propaphenin®). ä Der Fall Frau P. war erst 45 Jahre alt, als sie bemerkte, dass sie beim Treppensteigen hin und wieder mit den Fußspitzen hängen blieb und dass die Kraft ihrer Hände bei der Hausarbeit nachließ. Sie hatte auch das Gefühl, dass ihre Stimme etwas leiser wurde. Nachdem die Beschwerden in den nächsten 4–6 Wochen nicht besser, sondern schlechter wurden, suchte sie ihren Orthopäden auf, der Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule veranlasste und von Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule sprach. Er verordnete eine Spritzenbehandlung und Krankengymnastik. Als dies nicht half, wurde sie zum Neurologen überwiesen. Inzwischen war ihre Beweglichkeit weiter eingeschränkt und sie konnte Treppen nicht mehr steigen, weil die Oberschenkel zu schwach waren. Sie hatte Schwierigkeiten, eine Jacke oder einen

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Facharzt

ALS-Varianten und Differentialdiagnose Symptomatische ALS Diese Variante ist selten, jedoch soll man bei der schwerwiegenden Diagnose immer nach einer behandelbaren Grundkrankheit suchen. Es gibt eine paraneoplastische ALS, ferner wird sie bei monoklonaler Gammopathie gefunden. ALS-Parkinson-Demenz-Syndrom Eine andere Variante der Krankheit tritt endemisch bei den Chamorros, den Eingeborenen der Marianen-Insel Guam auf. Hier ist die ALS wenigstens fünfzigmal so häufig wie in anderen Ländern, und sie ist oft mit einem fast ausschließlich akinetischen Parkinsonismus und präseniler Demenz kombiniert. Pathologisch-anatomisch findet man regelmäßig die für ALS und für das Parkinson-Demenz-Syndrom charakteristischen Läsionen gemeinsam, auch wenn die Parkinson-Symptome klinisch nicht hervortreten. Die Krankheit befällt ganz überwiegend Männer im mittleren Lebensalter und führt in 4–7 Jahren zum Tode. Sie wird als Prion-Krankheit aufgefasst (s. Kap. 19.6). Inzwischen sind auch in westlichen Ländern ALS-Fälle mit Demenz und Parkinson aufgetreten. Bulbospinale Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom) Diese seltene Krankheit ist eine wichtige Differentialdiagnose zur ALS. Es handelt sich um eine X-chromosomal (CAG-repeat) vererbte Krankheit, die zu einer Mutation des Androgenrezeptors führt. Die Patienten werden meist im jungen Erwachsenenalter auffällig, sind infertil und haben eine Gynäkomastie. Später treten proximale Schwächen der unteren Extremitäten, des Schultergürtels und der Zungen- und Schluckmuskulatur hinzu. Vom Aspekt her typisch sind Atrophien von M. temporalis, der fazialisversorgten Muskulatur und der Zunge. Die Patienten

Mantel anzuziehen, weil ihre Schultermuskulatur schwach geworden war. Sie berichtete, dass sie nur schwer aus dem Bett aufstehen könne und dass sie leicht außer Atem gerate. Ihr Sprechen war inzwischen sehr leise, heiser und dysarthrisch geworden. Bei der neurologischen Untersuchung war die Beweglichkeit der Zunge verlangsamt, und man sah grobe Faszikulationen an Zunge, Oberarmen und Oberschenkeln. Die Thenarmuskulatur war erheblich atrophisch, und auch die prätibiale Muskulatur war volumengemindert. Die Muskeleigenreflexe waren alle sehr lebhaft auslösbar. Pyramidenbahnzeichen waren nicht feststellbar. Die Vitalkapazität lag bei 1200 ml (normal wären 2500 ml gewesen). Sensibilitätsstörungen oder Koordinationsstörungen lagen nicht vor. Im EMG fand man eine ausgedehnte Denervierung in allen untersuchten Muskeln, Faszikulationen und ein deutlich gelichtetes Aktivitätsmuster mit früher Rekrutierung sehr hoher, großer Potentiale motorischer Einheiten.

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werden dysarthrisch und haben Schluckstörungen. Die Paresen der Extremitäten treten in ihrem Schweregrad dagegen zurück: Die Patienten bleiben meist gehfähig. Differentialdiagnose Syringomyelie und Syringobulbie. Dabei treten Nystagmus und dissoziierte Sensibilitätsstörungen auf. Chronische, zervikale Myelopathie (7 Kap. 31.7.3). Keine bulbären Symptome, aber Schmerzen, Parästhesien, Hinterstrangsymptome, Blasenstörungen, positives Nackenbeugezeichen, röntgenologische Veränderungen der Halswirbelsäule, CT und MRT-Befund. Pseudobulbärparalyse bei subkortikaler, arteriosklerotischer Enzephalopathie: Fast immer hoher Blutdruck. Schubweiser Verlauf, keine atrophische Lähmung der Zunge, keine fibrillären Zuckungen, keine neurogenen Muskelatrophien. Neben bulbären Symptomen auch Schwindel, Ataxie, Blickparesen, Sensibilitätsstörungen perioral und in beiden Händen. Chronische, motorische Polyneuropathie. Zum Beispiel bei Diabetes (sog. diabetische Amyotrophie) mit raschem Fortschreiten der Symptome unter Schmerzen. Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathien (CIDP). Abschwächung der Muskeleigenreflexe bis zur Areflexie mit Eiweißerhöhung im Liquor und deutlich pathologische Nervenleitgeschwindigkeiten. Multifokale motorische Neuropathie. Dabei keine Zeichen der Beteiligung des 1. Motoneurons, Nachweis von Leitungsblöcken in der motorischen Neurographie.

Die Liquoruntersuchung erbrachte normale Befunde, Gangliosidantikörper konnten nicht nachgewiesen werden, und die Muskelbiopsie zeigte neurogene Veränderungen ohne Hinweis auf eine Myopathie oder Begleitvaskulitis. Innerhalb weniger Monate wurde die Patientin ateminsuffizient und konnte nicht mehr schlucken. Mit ihr und dem Ehemann war die Entscheidung gefällt worden, dass eine künstliche Beatmung nicht durchgeführt werden sollte. Kurz vor ihrem Tod wurde die Patientin mit zunehmender Dyspnoe in die Klinik aufgenommen, wo sie, wie vereinbart, anxiolytisch und sedierend behandelt wurde. Sie starb innerhalb von zwei Tagen, nur 15 Monate nachdem die ersten Symptome der amyotrophischen Lateralsklerose aufgetreten waren.

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Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

In Kürze Degeneration des 1. Motoneurons Spastische Spinalparalyse. Prävalenz: 4–5/100.000 Einwohner, Männer häufiger betroffen als Frauen. Symptome: Ausgeprägte, bleibende Paraspastik der Beine mit doppelseitiger Zirkumduktion, Adduktorenspasmus, Harnblaseninkontinenz, vermindertes Vibrations- und Lageempfinden, bei komplizierter Verlaufsform zusätzlich neurologische Symptome, Ataxie, Demenz, Epilepsie, Taubheit, Opticusatrophie. Im Endstadium nach 2–3 Jahren durch spastische Kontrakturen bettlägerig. Diagnostik: CT/MRT von Kopf, Zervikal-, Thorakalmark zum Ausschluss symptomatischer Ursachen der Paraspastik; Liquor ist normal, leichte Eiweißerhöhung. Keine kausale Therapie, Krankengymnastik, medikamentöse Therapie. Primäre Lateralsklerose. Symptome: Spastische Lähmung, fakultativ bulbäre Symptome. Diagnostik: MRT: auffällige Signalgebung entlang der Pyramidenbahn.

Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons Symptome: Langsam fortschreitende, motorische, periphere Lähmung, Muskelatrophien von segmentaler Verteilung, faszikuläre Zuckungen, erloschene Eigenreflexe. Diagnostik: EMG: »Myopathische« Veränderungen; Labor: Erhöhungen der Muskelenzymaktivitäten im Serum.

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Infantile spinale Muskelatrophie. Symptome: Im 1. Lebensjahr Trinkschwäche, Stillstand in motorischer Entwicklung, doppelseitige Fazialisparese, abdominale Atmung, Muskelatrophien, im Beckengürtel beginnende Lähmungen. Tod innerhalb des 2. Lebensjahres durch Pneumonien. Differentialdiagnose: »Floppy infant syndrome«, konnatale Myasthenie. Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie. Symptome bei Kindern zwischen 2–17 Jahren. Proximale Schwäche in Beinen, watschelnder Gang, verstärkte lumbale Lordose, Atrophien, Muskelfaszikulation, erloschene Eigenreflexe. Diagnostik: EMG: Neurogene Störung.

Progressive spinale Muskelatrophie. Symptome: Symmetrische, segmental angeordnete Atrophien der kleinen Handmuskeln, Affen- oder Krallenhand, erloschene Eigenreflexe. Verlauf erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Postpoliosyndrom. Symptome: 20–40 Jahre nach Polio zunehmende Muskelschwäche, Atrophie, Faszikulationen, langsam fortschreitend.

Progressive Bulbärparalyse Symmetrische Degeneration der motorischen Kerne der XII., X., VII. und V. Hirnnerven. Symptome: Sprechstörung im 3.–5. Lebensjahrzehnt, leise, nasal und heiser werdende Stimme, doppelseitige Fazialislähmung, Speichel und Speisen laufen aus Mund, der nicht mehr geschlossen werden kann. Tod durch inkurrente Aspirationspneumonie bei wachem Verstand. Medikamentöse Therapie.

Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) Prävalenz: 5/100.000 Einwohner, Median des Erkrankungsalters: ca. 65 Jahre. Symptome: Kombination von atrophischen und spastischen Lähmungen, fehlende pathologische Reflexe, faszikuläre Zuckungen bei Paraspastik der Beine oder spastischer Tetraparese, Fibrillieren der Zunge, gesteigerter Masseterreflex, bulbäre Lähmungen mit Sprech- und Schluckstörungen. Tod durch Aspirationspneumonie und respiratorische Insuffizienz. Diagnostik: Muskel- und Nervenbiopsie: Abgrenzung gegenüber metobolischen, immunologischen und neoplastischen Ursachen bei atypischer Manifestation; EMG: Generalisiert neurogen umgebaute PmE, gelichtetes, hohes Aktivitätsmuster, pathologische Spontanaktivität. Keine kausale Therapie: Medikamentöse Therapie, Krankengymnastik und Logopädie im Anfangsstadium, nichtinvasive Heimbeatmung.

34 34 Muskelkrankheiten 34.1 Progressive Muskeldystrophien – 697 34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4

Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform (Duchenne) – 698 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform (Becker-Kiener) – 699 Gliedergürteldystrophie – 699 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie – 700

34.2 Myotonien – 700 34.2.1 Myotonia congenita – 702 34.2.2 Dystrophische Myotonie (Curschmann-Steinert-Krankheit)

– 702

34.3 Periodische (dyskaliämische) Lähmungen – 704 34.3.1 Hypokaliämische Lähmung – 705 34.3.2 Normokaliämische, periodische Lähmung – 706 34.3.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung (Gamstorp) – 706

34.4 Metabolische Myopathien – 707 34.4.1 Störungen des Glykogenhaushaltes – 707 34.4.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechselstörung – 707

34.5 Endokrine Myopathien – 708 34.6 Toxische Myopathien – 709 34.6.1 Maligne Hyperthermie – 709 34.6.2 Malignes Neuroleptikasyndrom – 709

34.7 Myasthenia gravis pseudoparalytica – 709 34.7.1 34.7.2 34.7.3 34.7.4

Okuläre Myasthenie – 710 Generalisierte Myasthenie – 710 Myasthene und cholinerge Krise – 713 Andere myasthene Syndrome – 714

34.8 Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden) – 715 34.8.1 Polymyositis und Dermatomyositis – 715 34.8.2 Polymyalgia rheumatica – 717 34.8.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen – 717

34.9 Okuläre Myopathien – 717 34.9.1 Okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie – 718 34.9.2 Okuläre Myositis – 718

34.10 Einschlusskörperchenmyositis – 718 34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur – 718

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

> > Einleitung Die Signalübertragung zwischen einzelnen Zellen des neuronalen und neuromuskulären Systems erfolgt über chemische Botenstoffe, sog. Transmittersubstanzen. Die motorische Endplatte, an der die Übertragung der Erregung vom peripheren motorischen Nerven auf den Muskel erfolgt, ist einer Synapse zwischen zwei Nervenzellen vergleichbar, nur dass hier der postsynaptische Anteil nicht mehr Nervenzelle, sondern Muskelzelle ist. Die Physiologie der motorischen Endplatte ist besonders gut untersucht. Acetylcholin als Transmittersubstanz wird beim Eintreffen eines Nervenaktionspotentials aus den präsynaptischen Vesikeln freigesetzt und aktiviert die Rezeptoren auf der postsynaptischen Seite. Es resultieren Miniaturendplattenpotentiale, die sich aufsummieren und als Muskelaktionspotential die Kontraktion der Muskelfaser einleiten. Die Transmittersubstanz wird von dem Enzym Cholinesterase abgebaut. Die beiden Abbauprodukte Cholin und Acetat werden aktiv präsynaptisch wieder aufgenommen. Verschiedene Substanzen können mit dieser Übertragung interferieren: Am bekanntesten ist der Effekt von Cholinesterasehemmstoffen, die verhindern, dass Acetylcholin abgebaut wird und damit zu einer Dauererregung der Muskeln führen. Wir finden diesen Mechanismus bei der E605-Vergiftung. Kleine Dosen von Cholinesterasehemmstoffen können bei einer Krankheit therapeutisch nützlich sein, bei der die Rezeptoren für Acetylcholin geschädigt sind: die belastungsabhängige Muskelschwäche Myasthenie. An ihr kann man besonders gut die Störung der neuromuskulären, synaptischen Übertragung und deren Behandlung beschreiben. Die Myasthenie wird zusammen mit genetisch bedingten, degenerativen und entzündlichen Krankheiten der Muskulatur in diesem Kapitel beschrieben.

34

Vorbemerkungen 3Leitsymptome. Muskelschwäche, Muskelatrophie und Muskelschmerzen können bei verschiedenen Muskelkrankheiten im Vordergrund stehen. Oft sind diese Symptome generalisiert oder proximal lokalisiert, meist symmetrisch. Die Muskelschwäche kann kontinuierlich oder intermittierend, auch belastungsabhängig auftreten. 3Diagnostik. Laborchemische Diagnostik und sportmedizinische Untersuchung: Die Bestimmung der Kreatinkinase (CK) gibt keinen eindeutigen Hinweis auf die zugrunde liegende Erkrankung. Eine CK über 1000 U/l deutet auf eine primär myogene Ursache hin. Als Grundregel gilt: Die CK-Erhöhung sollte mindestens einmal bestätigt werden und sollte nicht nach erheblicher körperlicher Anstrengung oder einem EMG durchgeführt werden Autoantikörper werden bei akuten Verlaufsformen der Dermatomyositis und von so genannten Overlap-Syndromen bestimmt. Es kommen dabei sowohl antinukleäre Antikörper als auch antizytoplasmatische Antikörper (z.B. JO1) vor. Belastungstests: Die Untersuchung des Muskels unter Belastungsbedingungen wird vor allem bei V.a. metabolische Myo-

pathien durchgeführt. Ein relativ einfacher Screening-Test ist Laktat-Ischämie-Test (7 Kap. 34.4.2). Beim Myoadenylatdesaminasemangel ist der fehlende Ammoniakanstieg richtungsweisend, der Nachweis der fehlenden Enzymaktivität am Muskelschnitt wie im Muskelhomogenat ist beweisend. Ein fehlender Laktatanstieg weist auf einen Defekt im Glykogen- oder Glukosestoffwechsel hin. EMG: Die typischen »myopathischen« Befunde sind in 7 Kap. 4 besprochen. Die Elektrophysiologie sollte nicht als einziger Befund zur Diagnosestellung dienen. Bildgebende Untersuchungen: Die Myosonographie ist eine Basisuntersuchung zur Verlaufsbeobachtung und zur Auswahl von mit MRT zu untersuchenden Muskelabschnitte. Die CT hat bei systemischen Myopathien ihren Stellenwert zugunsten der MRT weitgehend verloren. Die MRT ist das wichtigste bildgebende Verfahren bei entzündlichen Muskelkrankheiten. Bei akuten Myositiden kann das Muskelödem dokumentiert werden. Bei chronischen Myositiden kann durch den Einsatz fettunterdrückender Untersuchungssequenzen eine für die Biopsie noch besonders geeignete Stelle festgelegt werden, bei der noch keine vollständige fettige Transformation des Muskels erfolgt ist. Morphologische Untersuchungsmethode (Muskelbiopsie): Die Untersuchung der Muskelbiopsie gehört wegen der Vielfalt der erforderlichen Techniken in die Hände von Speziallabors. Für die Auswahl des Biopsieortes ist wichtig, dass ein Extremitätenmuskel gewählt werden sollte, der im Verteilungsmuster der Erkrankung nicht allzu stark betroffen und bioptisch leicht zugänglich ist. Die Muskelbiopsie sollte nicht an einem elektromyographisch untersuchten Muskel durchgeführt werden, da durch die EMG-Untersuchung auch Muskelfaseruntergänge mit zellulärer Abräumreaktion ausgelöst werden können. Für die morphologische Diagnostik sind histologische, elektronenmikroskopische und immunhistochemische Techniken notwendig. Diese Untersuchungstechniken erfordern unterschiedliche Präparationen, die mit dem Labor abzusprechen sind. Molekulargenetische Untersuchung. Die molekulargenetischen Untersuchungen und die Beratung durch ein humangenetisches Zentrum durchgeführt werden. Der Hauptstellenwert von humangenetischen Untersuchungen liegt heutzutage noch in der prognostischen Einordnung sowie der Familienberatung bei hereditären Myopathien, könnte aber in Zukunft für therapeutische Entscheidungen wichtig werden. Viele betroffene Gene kodieren für Proteine und Enzyme im Muskel. An den folgenden Strukturproteinen und Enzymen konnten bislang relevante Defekte nachgewiesen werden: 4 am Sarkolemm (Dystrophin und assoziierte Proteine), 4 in der Basalmembran (Laminin-2 und Kollagen VI), 4 an der Innenseite der Kernmembran (Emerin, Laminproteine A/C), 4 an Strukturen des Zytoskeletts (Desmin, Plectin, Telethonin), 4 intermyofibrillär (Titin) und im Zytosol (Calpain-3).

697 34.1 · Progressive Muskeldystrophien

34.1

Progressive Muskeldystrophien

3Definition und Epidemiologie. Es handelt sich um eine Gruppe erblicher, chronisch fortschreitender Krankheiten der quergestreiften Muskulatur mit Schwäche und später Atrophie der Willkürmuskulatur, deren Verteilung nicht dem Versorgungsgebiet der peripheren Nerven, Plexusabschnitte oder motorischen Wurzeln entspricht. Die Krankheiten sind nicht selten. Man rechnet mit einer Prävalenz von etwa 5 pro 100.000 Einwohnern. Das männliche Geschlecht ist insgesamt häufiger betroffen als das weibliche. Sporadische Erkrankungen sind seltener als es bei der Anamnese oft den Anschein hat. Die Untersuchung der Familienangehörigen deckt in diesen Fällen oft eine abortive Muskeldystrophie unter den Verwandten der Patienten auf. Die progressiven Muskeldystrophien sind keine nosologische Einheit: Wir kennen viele genetisch unterschiedliche Typen, die durch bestimmte Eigenheiten, wie Erkrankungsalter, Befall der Geschlechter, Lokalisation, gutartiger oder bösartiger Verlauf und in gewissen Grenzen auch durch biochemische Befunde charakterisiert sind. Eine solche Differenzierung hat große praktische Bedeutung für die individuelle und familiäre Prognose. Sie wird möglicherweise in der Zukunft auch die Therapie bestimmen, da mit guten Gründen vermutet wird, dass bei unterschiedlichem Erbgang auch jeweils ein anderer Enzymdefekt vorliegt. Es können hier nicht alle Typen im Detail beschrieben werden, sondern nur die wichtigsten. 3Molekulare Genetik. Die progressiven Muskeldystrophien werden auf genetisch bedingte Störungen des Muskelstoffwechsels zurückgeführt. Genetische Grundlage der Duchenne/Becker-Muskeldystrophie sind verschiedene Deletionen und Punktmutationen im Dystrophin-Gen auf dem kurzen Arm des XChromosoms (Xp21), das zu den größten bekannten Genen zählt. Das Gen kodiert ein großes Protein, das eine Komponente der Membran aller Muskelzellen ist. Es wurde als Dystrophin bezeichnet, und man fasst heute die Muskeldystrophien mit Dystrophin-Störung als Dystrophinopathien zusammen. 4 Bei der Duchenne-Form fehlt Dystrophin vollständig oder ist auf weniger als 3% der Norm reduziert. 4 Bei der Becker-Kiener-Form wird abnorm strukturiertes Dystrophin gebildet. Dystrophin und seine assoziierten Protein werden heute als Dystrophin-Glykoprotein-Komplex bezeichnet und stabilisieren das Sarkolemm. Störungen in diesem Komplex durch Mutation einzelner Proteine führt zu einer Läsion der äußeren Muskelfasermembran und damit einer erhöhten intrazellullären Kalziumkonzentration sowie Störungen von Signalübertragungen. Da die Mutationen an verschiedenen Stellen des Gens auftreten können und Punktmutationen schwierig aufzudecken sind, ist die molekulargenetische Diagnostik aufwendig. Beim Nachweis einer Deletion bei einem sicher Betroffenen ist die Identifikation von

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Konduktorinnen und die pränatale Diagnostik möglich. Bei negativem Deletionsnachweis ist eine indirekte, molekulargenetische Diagnostik oder eine Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung notwendig. Die moderne molekulare Diagnostik erbringt eine so große Vielzahl von Mutationen an muskulären Proteinen oder an für muskuläre Protein kodierenden Genabschnitten, dass eine vollständige Darstellung den Rahmen dieses Lehrbuches sprengen würde; der interessierte Leser findet alle jeweils aktuell bekannten Defekte in der Online-Datenbank »Online Mendelian Inheritance in Man« unter diesem link: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim. 3Diagnostik. Im EMG zeigt sich ein typisches Bild: Verkürzung der Dauer und Herabsetzung der Amplitude der Einzelpotentiale sowie ein relativ dichtes Aktivitätsmuster schon bei schwacher Anspannung des Muskels (myopathisches Muster, 7 Kap. 2). Manchmal registriert man jedoch an einigen Sondierungsstellen auch ein neurogen anmutendes Muster. Denervierungspotentiale kommen vor. Laborchemie: Die Aktivität der Kreatinphosphokinase (CK) im Muskel ist vermindert und im Serum vermehrt. Die CPK muss morgens nüchtern und nach körperlicher Ruhe bestimmt werden, da nach Muskelarbeit die Werte häufig erhöht sind. Erhöht sind auch die Serumaktivitäten der Aldolase, die Fruktose1,6-Bisphosphat in Triosephosphate spaltet, der Laktatdehydrogenase (LDH) und der Transaminasen. Alle biochemischen Befunde sind in Abhängigkeit vom Krankheitstyp und Verlaufsstadium sehr variabel. Bei häufigeren Kontrollen kann man dadurch aber doch ein Bild vom Aktivitätszustand der Krankheit gewinnen. Am stärksten pathologisch sind die Werte beim Duchenne-Typ. Selbstverständlich müssen andere Ursachen für die Erhöhung der Enzymaktivitäten ausgeschlossen werden. Muskelbioptische Befunde: Die betroffenen Muskeln sind makroskopisch blassgelb gefärbt, verschmächtigt und fettig umgewandelt. Histologisch findet sich anfangs eine große Unregelmäßigkeit im Durchmesser der Muskelfasern: Atrophische liegen dicht neben kompensatorisch hypertrophierten Fasern, deren Sarkolemmkerne vermehrt sind und zentral liegen. Das interstitielle Bindegewebe hat zugenommen. Später zeigen sich verschiedene Formen der scholligen Faserdegeneration. Im Endstadium kommt es zu einer erheblichen unregelmäßigen Vermehrung von Fettgewebe. In schwer betroffenen Muskeln weisen nur noch die Sarkolemmkerne und vereinzelte Muskelspindeln darauf hin, dass es sich einmal um Muskelgewebe gehandelt hat. Heute spielt in der Diagnose aller Myopathien die enzymhistochemische Untersuchung eine größere Rolle als die Elektronenmikroskopie. . Abbildung 34.1 zeigt die histochemische Darstellung von Dystrophin bei Duchenne und Becker-Kiener-Krankheit. 3Therapeutische Möglichkeiten. Es gibt zurzeit keine kausale Therapie. Im Laufe der Jahre sind immer wieder neue Behand-

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

lungsverfahren, z.B. anabole Steroide oder Prednisolon, zum Einsatz gekommen; bisher hat sich aber kein medikamentöses Therapiekonzept durchsetzen können. Sinnvoll erscheinen allein die rechtzeitige Versorgung mit Hilfsmitteln (Rollstuhl, Kommunikationshilfen) und krankengymnastische Übungen, um die noch funktionstüchtigen Muskeln zu kräftigen und Kontrakturen vorzubeugen. Zur Ergänzung gibt man eine eiweißreiche Nahrung. An einigen Zentren erhalten muskeldystrophische Patienten mit Atemstörungen in sehr fortgeschrittenem Stadium die Möglichkeit zur Heimbeatmung. In einigen Fällen kann bei überwiegender Kardiomyopathie, einer langsamem Krankheitsprogredienz und entsprechender Indikation eine Herztransplantation das Leben der Patienten verlängern. Von größter Wichtigkeit ist die psychologische Führung der Erkrankten und ihrer Familienangehörigen. Ob eine Gentherapie in der Zukunft möglich sein wird, hängt nicht nur von Fortschritten in der Molekularbiologie, sondern auch von grundsätzlichen ethischen Entscheidungen (z.B. bei Eingriff in die Keimbahn) ab. 34.1.1 Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform

(Duchenne) 3Epidemiologie. Diese bösartige Variante, an der nur Knaben erkranken, setzt bereits in den ersten drei Lebensjahren ein. Man geht von 3–5 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern aus.

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3Symptome. Verzögerte, später stillstehende motorische Entwicklung, Paresen der Beckengürtelmuskeln, aufsteigend zum Rumpf, später auch Beine, Schultern und Arme erfassend, stehen im Vordergrund der Symptomatik. Der Verlauf ist zeitlich so gerafft, dass die Kinder schon zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr nicht mehr fähig sind zu gehen. Oft entwickeln sich Kontrakturen. Nur selten erreichen die Patienten das 25. Lebensjahr. Bei der Mehrzahl der Patienten ist auch der Herzmuskel befallen. Die Todesursache ist ein interkurrenter Infekt der Atmungsorgane, Herzversagen oder Marasmus. Die CK ist massiv erhöht, Werte um 5000–10.000 U/dl sind nicht ungewöhnlich. Die Krankheit ist häufig von hormonellen Störungen begleitet (Adipositas, Hypogenitalismus, Nebennierenrindeninsuffizienz).

9 . Abb. 34.1a–d. Immunfluoreszenzdarstellungen von Dystrophin. a Patient mit Duchenne Muskeldystrophie ohne Nachweis von Dystrophin, b Patient mit Becker-Muskeldystrophie und abgeschwächter Färbeintensität. c Weibliche Patientin mit einem Mosaik Dystrophin-negativer Muskelfasern (manifestierende Konduktorin mit einem Becker Muskeldystrophie-artigen Verlauf ). d Normalbefund. (Th. Voit, Essen)

699 34.1 · Progressive Muskeldystrophien

34

Exkurs Genetische Beratung bei Muskeldystrophien Hauptthema jeder genetischen Beratung ist die Information über das Erkrankungsrisiko bei Kindern und anderen Verwandten. Ihr Inhalt richtet sich nach der Diagnose der betroffenen Person, die Rat sucht. Man wird bei erhöhtem Erkrankungsrisiko zu sicherer Schwangerschaftsverhütung und zu Pränataldiagnostik raten oder eine Interruptio diskutieren. Besonders wichtig ist die Beratung bei der malignen Duchenne-Muskeldystrophie. Die direkte DNA-Analyse kann die Mutation in 2/3 der Fälle nachweisen. Die Sicherung der Diagnose bei einem Erkrankten kann am besten über die Muskelbiopsie und den Nachweis des pathologischen Genprodukts im Muskelgewebe geschehen. Der pränatale Nachweis der Mutation der Duchenne-Muskeldystrophie ermöglicht den Genträgerinnen zu erfahren, ob ein Fötus gesund oder krank sein wird, und kann die medizinische Indikation zur Interruptio begründen.

34.1.2 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform

(Becker-Kiener) 3Epidemiologie. Auch von dieser Verlaufsform sind fast nur Knaben betroffen. Die Krankheit setzt meist zwischen dem 6. und 20. Lebensjahr, selten im jungen Erwachsenenalter ein und zeigt eine relativ gutartige, langsame Entwicklung. Man rechnet mit 1 Erkrankung auf 100 000 Einwohner. 3Symptome. Die Dystrophie ergreift zunächst den Beckengürtel und die benachbarten Muskeln: Parese der Rückenstrecker führt zur hyperlordotischer Haltung des Rumpfes. Durch Schwäche des M. glutaeus medius kommt es zu dem sehr charakteristischen Watschelgang, bei dem das Becken auf der jeweils belasteten Seite ansteigt und sich entsprechend auf der Gegenseite senkt (doppelseitiges Trendelenburg-Zeichen). Die Schwäche der Oberschenkelmuskeln erschwert das Treppensteigen und Radfahren. Die paretischen Bauchdecken lassen den Unterbauch stark hervortreten, so dass sich das Bild der «Wespentaille« ergibt. Sehr kennzeichnend ist, dass die Patienten sich schwer oder gar nicht aus dem Liegen aufrichten können. Dies beruht auf der Schwäche im M. iliopsoas und in den Bauchmuskeln: Die Kranken rollen sich zunächst auf den Bauch, knien sich dann in Vierfüßlerstellung hin, strecken anschließend die Beine nacheinander durch und richten den Rumpf dann dadurch auf, dass sie sich mit den Händen »schrittweise« von den Unterschenkeln über die Oberschenkel empor stützen (»sie klettern an sich selbst empor«). An den Waden bildet sich durch Einlagerung von Fett und Bindegewebe eine Pseudohypertrophie aus (»Gnomenwaden«). Die oberen Rumpf- und Schultermuskeln werden erst spät ergriffen. Eine Facies myopathica (s.u.) bildet sich oft nicht aus. Der Verlauf ist protrahiert, so dass die Kranken manchmal erst im 5. Lebensjahrzehnt gehunfähig werden. Die Patienten

Als sichere Konduktorin gilt eine Mutter, die schon einen erkrankten Sohn hat und in deren eigener Familie mütterlicherseits Erkrankungen aufgetreten sind. Wahrscheinlich ist der Konduktorenstatus, wenn schon zwei erkrankte Söhne mit Duchenne-Muskeldystrophie oder der Becker-Kiener-Form geboren wurden. Die Kreatinkinase ist bei vielen Konduktorinnen erhöht. Manche Konduktorinnen haben eine Pseudohypertrophie der Waden oder geringfügige Veränderungen im EMG. Bei autosomal-rezessiver Vererbung beträgt die Chance, dass ein Kind erkrankt, wenn beide Elternteile Träger des pathologischen Gens sind, 25%. Gesunde Kinder dieser Eltern sind dann selbst mit 50%iger Wahrscheinlichkeit Konduktoren. Pränatale Diagnostik ist noch nicht möglich. Gleiches gilt für die autosomal-dominant vererbten Muskeldystrophien, bei denen die Erkrankungswahrscheinlichkeit der Kinder bei 50% liegt.

neigen zur Adipositas. Eine kardiale Beteiligung ist seltener als bei der Duchenne-Form. Die Lebenserwartung ist etwas verkürzt, viele Kranke werden 60 Jahre oder älter. Die CK ist deutlich (Werte >1000 U/dl) erhöht, nach dem 30. Lebensjahr abfallend. Auch Konduktorinnen haben erhöhte CK. > Die progressiven Muskeldystrophien sind genetisch

bedingte, degenerative Muskelkrankheiten, für die es noch keine kausale Therapie gibt.

34.1.3 Gliedergürteldystrophie 3Epidemiologie und Genetik. Dieser Typ befällt beide Geschlechter gleichermaßen. Das Erkrankungsalter streut weit von der frühen Kindheit bis zur Lebensmitte. Die Gliedergürteldystrohie ist eine genetisch heterogene Erkrankungsgruppe mit meist autosomal-rezessiver, seltener autosomal-dominanter Vererbung. Der Genort für einen Subtyp (2a) ist auf Chromosom 2 lokalisiert. Als Genprodukt ist das muskelspezifische Calpain identifiziert worden. Weitere Genorte liegen auf den Chromosomen 4, 13, 15 und 17 mit den Genprodukten α-, β- und γ-Sacroglykan. Eine seltenere, autosomal-dominante Form ist auf Chromosom 5 lokalisiert. 3Symptome und Diagnostik. Die Dystrophie beginnt meist im Schultergürtel (. Abb. 34.2). Die Entwicklung ist meist langsam, jedoch sind die Kranken in den letzten Lebensjahren schwer motorisch behindert, und die Lebenserwartung ist verkürzt. Die CK ist deutlich erhöht. EMG: myopathisch. In der Muskelbiopsie können Sarkoglykane nachgewiesen werden, dadurch wird eine eindeutige Zuordnung möglich.

700

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

c

a

b

. Abb. 34.2a–c. Gliedmaßengürtelform der progressiven Muskeldystrophie. Propositus. a, b Vorder- und Rückenansicht, c 5 Jahre jüngere Schwester des Patienten in Rückenansicht. (A. Ferbert, Kassel)

34.1.4 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie 3Epidemiologie und Genetik. Sie betrifft beide Geschlechter etwa gleich häufig und setzt zwischen dem 7. und 25. Lebensjahr ein. Die Erkrankung ist relativ selten (Prävalenz 0,5 pro 1.000.000 Einwohner) und wird autosomal-dominant mit sehr variabler Penetranz vererbt. Ein Genlokus auf Chromosom 4 ist bei den Erkrankten deletiert. Es ist beobachtet worden, dass der Schweregrad der Erkrankung von Generation zu Generation zunimmt. Dies korreliert mit der Größe der Deletion.

34

3Symptome. Die Dystrophie der proximalen Arm- und Schultermuskulatur äußert sich oft zunächst in einer Schwäche der Armhebung bis zur Horizontalen (Mm. supraspinatus und deltoideus), so dass die Patienten schwere Gegenstände nicht mehr heben können. Im Frühstadium wird auch die mimische Muskulatur betroffen. Der Kranke zeigt dann die typischen schlaffen Gesichtszüge der »Facies myopathica« mit leichter Ptose, fehlender Faltenbildung auf der Stirn und in der Nasolabialregion und der Neigung, den Mund etwas geöffnet zu halten. Bei der Untersuchung sind Augen- und Mundschluss schwach. Die Patienten können nicht pfeifen oder die Backen aufblasen. Das Schultergelenk hängt herab, der Oberarmkopf sitzt nicht mehr fest in der Pfanne (M. deltoideus, mittlerer Anteil). Der obere Trapeziusrand ist eingefallen, der M. pectoralis major ist besonders in seinem oberen Anteil atrophisch, so dass die Klavikula und die ersten Rippen »skelettiert« hervortreten. Im dorsalen Aspekt zeigt sich eine doppelseitige Scapula alata (M. serratus anterior), unter der die Atrophie der Mm. rhom-

boidei erkennbar ist. Durch die Muskelatrophien ist der Schultergürtel so gelockert, dass man die Schultern passiv bis an die Ohren anheben kann (Symptom der »losen Schultern«). Die CK ist nur leicht erhöht. 3Verlauf. Der Verlauf ist gutartig. Die Dystrophie breitet sich, am Rumpf absteigend, über Thorax- und Bauchmuskulatur zum Becken, an den Armen langsam von proximal nach distal aus. Dabei wird der M. biceps stets früher und stärker ergriffen als der M. triceps. Die Handmuskeln bleiben oft frei. Die Beine werden erst spät, jenseits des 30. Lebensjahres, paretisch. Es kommt dann auch zu Kontrakturen. Pseudohypertrophien bilden sich bei dieser Form nur sehr selten aus. »Schubweise« Verschlechterungen können mit jahrelangen Perioden, in denen die Krankheit nicht erkennbar fortschreitet, abwechseln. Die Lebenserwartung ist kaum verkürzt. Bei abortiven Formen sind die Kranken so wenig behindert, dass sie spontan nicht den Arzt aufsuchen. 34.2

Myotonien

Die verschiedenen Myotonieformen, werden mit unterschiedlicher Penetranz, meist autosomal-dominant vererbt. Die meisten sind auf Störungen in Ionenkanälen zurückzuführen (7 Box Kanalkrankheiten). 3Leitsymptome. Die myotone Funktionsstörung, die nur die Willkürmuskulatur betrifft, besteht in einem für mehrere Sekunden anhaltenden abnormen Andauern der Muskelkontraktion

701 34.2 · Myotonien

34

Exkurs Seltene, andere Verlaufsformen und Differentialdiagnose Die seltenen weiteren Muskeldystrophien sind durch die Namensgebung gut charakterisiert: 4 okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie (autosomal-dominant, gute Prognose), 4 Myopathia distalis hereditaria tarda (autosomal-dominant), langsam verlaufend, relativ gutartig, 4 Myopathia distalis juvenilis hereditaria (autosomaldominant), 4 kongenitale Muskeldystrophie (autosomal-rezessiv), 4 skapuloperonaeale Muskeldystrophie. Differentialdiagnose Die progressive spinale Muskelatrophie vom Typ DuchenneAran ist durch den distalen Beginn an den Händen und das spätere Erkrankungsalter verhältnismäßig leicht abzugrenzen.

Bei den neurogenen Atrophien sind faszikuläre Zuckungen häufig, die Reflexe erlöschen frühzeitig, das EMG ist charakteristisch verändert. Der Verlauf proximal betonter Polyneuropathien ist zeitlich mehr gerafft als bei Muskeldystrophie. Sensibilitätsstörungen und Schmerzen sind häufig. Die Reflexe erlöschen früh. Das EMG kann oft zur Unterscheidung beitragen. Manche Fälle von Restlähmung nach Poliomyelitis können einer Muskeldystrophie ähnlich sein. Hier finden sich aber neurogene EMG-Veränderungen, keine CK-Erhöhung, in der Vorgeschichte ist meist ein akuter Krankheitszustand zu erfahren, und die Krankheit schreitet nicht weiter fort (Ausnahme: Postpoliosyndrom 7 Kap. 33). Die Differentialdiagnose zu den verschiedenen Formen der Polymyositis ist in . Tabelle 34.1 dargestellt.

. Tabelle 34.1. Differentialdiagnose zwischen Muskeldystrophie und Polymyositis

Muskeldystrophie

Polymyositis

Erkrankungsalter Verhältnis ♀ : ♂ Familiäre Belastung Progredienz Verlauf

Meist Kindheit und Jugend Junge > Mädchen Erbkrankheiten Meist sehr langsam Meist chronisch fortschreitend, nie Remissionen

Meist mittleres Alter Frauen > Männer ø Häufig rascher Oft Schübe und Remissionen

Lokalisation

Selektiv einzelne Muskelgruppen, stets mehr proximal

Global, proximal und später auch distal

Nackenheber, Dysphagie, Lidheberschwäche Atrophien und Schwäche Pseudohypertrophie Reflexe Schmerzen Hauterscheinungen »entzündliche Laborbefunde« Besserung durch Kortikoide

0 betroffen Schwäche parallel zur Dystrophie + Abgeschwächt bis 0 0 0 0 0

Sehr typisch + Große Schwäche, geringe Atrophie 0 Erhalten bis + + Häufig Bei Dermatomyositis + + + bis + +

durch Störung der Muskelentspannung. Die verzögerte Erschlaffung tritt bei spontanen Bewegungen ein (sog. Dekontraktionshemmung) und ist auch durch mechanische Reizung des Muskels auszulösen (Beklopfen des Muskels). In der Kälte verstärkt sich die Myotonie. Bei wiederholten Kontraktionen der Muskeln lässt sie nach, so dass die Kranken sich nach einigen Übungen frei bewegen können. In erster Linie sind die Extremitätenmuskeln betroffen. Die myotone Störung kann auch in der Zunge gefunden werden. Selten kommt die Myotonie im M. orbicularis oculi (Schwierigkeiten beim Öffnen der geschlossenen Lidspalten) und an den äußeren Augenmuskeln vor. Bei der Untersuchung ist die Myotonie dadurch nachzuweisen, dass man den Patienten auffordert, 5 s lang fest die Hand des Untersuchers zu drücken und sie dann rasch loszulassen. Anders als beim Gesunden ist die Öffnung der Hand beim Patienten zu-

nächst nur langsam und zögernd möglich. Bei wiederholten Versuchen, die sehr mühsam sind, lockert sich die myotone Steifigkeit aber zusehends. Auch alle anderen Bewegungen sind zu Anfang durch die Dekontraktionshemmung erschwert. Sehr charakteristisch ist auch die sog. Perkussionsmyotonie: Ein kurzer Schlag mit einem Perkussionshammer oder dem schmalen Kopf des Reflexhammers auf den Daumenballen oder andere Muskeln, z.B. Bizeps oder Deltoideus, löst eine rasche Kontraktion, z.B. Oppositionsbewegung des Daumens aus, die sich nur verzögert wieder löst. 3Pathophysiologie. Nach der Muskelkontraktion verstummt auch beim Myotoniker die elektrische Aktivität der motorischen Einheit, aber, anders als beim Gesunden, kommt es in einer verzögerten Erschlaffungsphase für mehrere Sekunden zu einer von

702

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

der motoneuronalen Erregung unabhängigen Aktivität einzelner Muskelfasern. Sie zeigt sich im EMG als Vielzahl von kleinen, scharfen Potentialen, die nicht motorischen Einheiten entsprechen. Die abnorme, repetitive Aktivität ist auch nach Spinalanästhesie oder Leitungsblockade des Nerven und nach Blockierung der Endplatte durch Curare auszulösen. Sie kann dagegen durch Infiltration des Muskels mit Lokalanästhetika unterdrückt werden. Sie muss also in der Muskelfaser oder im muskulären (postsynaptischen) Anteil der motorischen Endplatte entstehen. Die wiederholten Nachentladungen sind bei vielen Myotonieformen auf eine Funktionsstörung in einem Chloridkanal zurückzuführen. Die Chloridleitfähigkeit des Muskels ist entscheidend für die Repolarisation des Muskels. Bei verminderter Chloridleitfähigkeit wird die Muskelfaser verzögert reporlarisiert und es kommt zu einer Serie von Aktionspotentialen, die sich klinisch als Myotonie äußern. 3Allgemeine Diagnostik. Durch elektromyographische Untersuchung lässt sich die myotone Reaktion der Muskulatur feststellen: Typisch sind myotone Entladungen mit Zu- und Abnahme von Frequenz und Amplitude der Potentiale, was bei akustischer Mitregistrierung im Lautsprecher als an- und abschwellendes Geräusch (vergleichbar einem Motorrad, bei dem im Leerlauf Gas gegeben wird), hörbar wird (. Abb. 34.3). Diese myotonen Schauer treten spontan, nach mechanischer Reizung, z.B. nach Einstich oder Bewegen der Nadel, und nach Beendigung der

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Willküraktivität auf. Charakteristisch sind auch asynchrone Nachentladungen kurzer Potentiale, die eine aktive Innervation überdauern. Bei wiederholter Innervation nehmen diese Nachentladungen ab. Die Enzymaktivitäten (z.B. CPK) im Serum können bei Myotonieformen erhöht sein. 3Symptome. Leitsymptom der Myotonie ist Dekontraktionshemmung. Bei Myotonien kommt es zu einer verzögerten Erschlaffung der Muskulatur nach Kontraktion. Dies wird als Muskelsteifigkeit empfunden. 34.2.1 Myotonia congenita 3Epidemiologie und Genetik. Die erste Beschreibung stammt von Thomsen, der selbst an familiärer Myotonie litt. Es werden zwei Formen unterschieden: die autosomal-dominante Thomsen-Myotonie und die rezessive Becker-Myotonie. Beide werden durch Mutationen im Chloridkanal CLCN1 hervorgerufen (Chromosom 7q35).Die Krankheit ist selten (Prävalenz 3–4 pro 100.000 Einwohner). 3Symptome. Die Krankheit ist durch generalisierte Myotonie und Hypertrophie der Willkürmuskulatur gekennzeichnet. Die Hypertrophie, die histologisch an den Muskelfasern als einziger pathologischer Befund (keine Degeneration!) festzustellen ist, gibt den Kranken ein athletisches Aussehen, das eindrucksvoll mit der Behinderung ihrer Motorik kontrastiert. Sie macht sich schon in der frühen Kindheit bemerkbar. Die motorische Entwicklung ist verzögert, Fehlbildungen der Extremitäten, Skoliose und geistige Retardierung kommen vor. Die Krankheit ist gutartig. Sie verkürzt das Leben nicht. Die myotone Störung lässt im Laufe des Lebens etwas nach. Manchmal sind auch nur einzelne Muskelgruppen klinisch betroffen. Insgesamt ist die Krankheit relativ gutartig. Bei der paradoxen Myotonie wird die Dekontraktionshemmung durch Üben nicht gebessert, sondern verschlechtert. 3Therapie. Manche Kranken brauchen keine Therapie, da sie bei den Verrichtungen des täglichen Lebens nur gering behindert sind und sich gut daran gewöhnen, vor größeren motorischen Leistungen erst einige Trainingsbewegungen auszuführen. Membranstabilisierende Substanzen, wie Phenytoin 3-mal 100 mg/Tag oder Mexiletin (z.B. Mexitil®), 2- bis 4-mal 200 mg/Tag oral, einschleichend gegeben, vermindern an der Muskelmembran die Häufigkeit der Depolarisationen und bessern damit die klinischen Symptome.

. Abb. 34.3. Myotone Entladungen bei Dystrophia myotonica Steinert. Oben: abrupter Beginn und wechselnde Amplitudenab- und -zunahme der myotonen Entladungen. Unten: abrupter Beginn der myotonen Entladungen und abnehmende Frequenz der einzelnen Entladungen. (H. Buchner, Aachen)

34.2.2 Dystrophische Myotonie

(Curschmann-Steinert-Krankheit) 3Epidemiologie und Genetik. Die dystrophische ist mit etwa 12 Patienten auf 100.000 Einwohner die häufigste Myotonie. Sie

703 34.2 · Myotonien

34

Exkurs Andere myotone Syndrome Paramyotonia congenita (Eulenburg) Die autosomal-dominante Paramyotonie ist dadurch charakterisiert, dass bei länger dauernder Kälteeinwirkung die Myotonie besonders ausgeprägt ist. Es können auch paroxysmale Lähmungen auftreten. Betroffen ist auch die mimische Muskulatur bis hin zu schlitzartiger Verkrampfung des M. orbicularis oculi. In der Folge tritt eine allgemeine Muskelschwäche auf. Auch die Paramyotonie ist genetisch aufgeklärt: Das ursächliche mutierte Gen liegt auf Chromosom 17 und kodiert eine Untereinheit eines spannungsabhängigen Natriumkanals des Muskels. Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2) Synonym werden die Begriffe proximale myotone Dystonie (PMD) und proximale myotone Myotonie (PROMM) verwandt. Sichere Angaben zur Häufigkeit der DM2 gibt es nicht, es wird jedoch vermutet, dass sie etwa gleich häufig wie die dystrophische Myotonie Typ 1 (Curschmann-Steinert) ist, also etwa eine Inzidenz von 1:20.000 hat. Die myotone Dystrophie Typ 2 (DM2) wird durch eine Tetranucleotid-Expansion im Zinkfingerprotein-

ist eine autosomal-dominante Multisystemerkrankung. Molekulargenetische Ursache ist eine pathologische Vermehrung der physiologischerweise vorkommenden CTG-Triplet-Repeats auf Chromosom 19. Normal sind bis zu 30 CTG-Wiederholungen. Bei Patienten können zwischen 50 und mehreren hundert CTGKopien nachgewiesen werden. Die biologische Bedeutung dieser Triplet-repeat-Vermehrung ist noch unklar. Wie bei anderen Triplet-repeat-Krankheiten ist die Symptomatik variabel, selbst innerhalb einer Familie. Der Schweregrad der klinischen Symptomatik korreliert mit der Anzahl der Repeats. Die Mutation betrifft einen Bereich des Chromosoms 19q (13.3), der für das Enzym Myotonin-Protein-Kinase kodiert. Die Anzahl der Triplet Repeats, die von Generation zu Generation zunimmt, bestimmt auch das Erkrankungsalter (Antizipation = in der nächsten Generation früher). Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Gewöhnlich zeigt sich zur Zeit der Pubertät zunächst die myotone Funktionsstörung. Im 3. Lebensjahrzehnt entwickeln sich dann die dystrophischen und endokrinen Symptome. 3Symptome. Die Myotonie ist auf die kleinen Handmuskeln, die Unterarme und die Zunge beschränkt. Hier ist eine myotone Reaktion mechanisch, elektrisch und durch Willkürinnervation auszulösen. Die Muskeldystrophiebetrifft ganz bevorzugt die Mm. sternocleidomastoideus, brachioradialis und die vom N. peronaeus versorgte Muskulatur. Sie ergreift aber auch die distalen Muskeln der Arme, das Gesicht, die Augenmuskeln und häufig den Herzmuskel. Die Verteilung ist bei den einzelnen Kranken etwas unterschiedlich: Bald sind die distalen, bald die proximalen Muskeln

9-Gen auf Chromosom 3q21 verursacht. Die genaue Funktion dieses Proteins ist nicht bekannt. Klinisch zeichnen sich die Patienten durch vorwiegend proximale Muskelschwäche der Beine, Myotonie, Muskelschmerzen und Katarakt aus. Die Erkrankung verläuft insgesamt milder als die DM1 (Curschmann-Steinert) und es sind in der Regel keine mentalen Defizite zu erwarten. Das klinische Bild ist sehr heterogen und eine eindeutige Diagnose kann nur molekulargenetisch gestellt werden. Symptomatische, nicht erbliche Myotonie Sie kann sich bei Polyneuropathie, Polymyositis oder progressiver Muskeldystrophie entwickeln. Sie ist klinisch gutartig und oft nur auf einige Muskelgruppen beschränkt. Bei Hypothyreose (nach Thyreoidektomie und bei Myxödem) besteht nicht nur eine Verlangsamung der Muskelerschlaffung, sondern auch der Kontraktion. Eine Perkussionsmyotonie ist in diesen Fällen nicht auszulösen, und auch im EMG findet man hier nicht das Bild der typischen Myotonie

der Extremitäten, in anderen Fällen Gesichts- und Augenmuskeln stärker betroffen. Manchmal besteht auch eine Schluckstörung. Weitere charakteristische Symptome sind: 4 Innenohrschwerhörigkeit, 4 Stirnglatze (nur bei Männern), 4 Katarakt, 4 Hodenatrophie und Ovarialinsuffizienz, 4 kardiale Symptome mit Rhythmusstörungen und Herzinsuffizienz. 4 Auch die glatte Muskulatur von Oesophagus, Magen und Darm kann betroffen sein. Bei voll ausgebildetem Syndrom und nach längerer Krankheitsdauer haben die Patienten folgendes Aussehen: spärlicher Haarwuchs, Facies myopathica mit hängenden Gesichtszügen, doppelseitiger Ptose und halb geöffnetem Mund, schlaffe Haltung, schwache, dystrophische Muskulatur. Die Stimme ist schwach, die Sprache näselnd-bulbär, die Bewegungen sind langsam, und die Patienten haben einen doppelseitigen Steppergang. Die Eigenreflexe sind, entsprechend dem Grad der Muskeldystrophie, schwach bis erloschen. Die Transaminaseaktivitäten sind bei der langsamen Progredienz des Leidens oft normal. Das Vollbild der Krankheit ist durch die Kombination von muskeldystrophischen und myotonen Symptomen und einen typischen Habitus gekennzeichnet, den man z.T. auf eine pluriglanduläre endokrine Insuffizienz zurückführt. Psychisch findet sich oft eine Schwäche des Antriebs und affektive Indifferenz, in manchen Fällen auch eine Oligophrenie.

704

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Facharzt

Kanalkrankheiten Aufgrund der inzwischen aufgedeckten Pathophysiologie wird eine Reihe von Muskelkrankheiten, die auf defekte Ionenkanäle in den Muskeln zurückzuführen sind, heute auch unter der Überschrift »Kanalopathien« zusammengefasst. Hierzu gehören Krankheiten, bei denen der krankmachende Kanal für Chloridionen, für Natrium- oder Kalziumionentransport zuständig ist und sich speziellen Gendefekten zuordnen lässt. Wir haben die Krankheiten noch anders klassifiziert, wollen sie hier jedoch auch nach der neuen Klassifikation aufzählen: 4 Chloridkanalkrankheiten: Hierzu gehören die konnatalen Myotonien (Typ Thomsen und Typ Becker). Beide treten in

3Diagnostik. Im EMG können neben den typischen myotonen Entladungsserien, die bei jeder Änderung der Nadellage erneut auftreten, auch Fibrillationspotentiale und kurze, polyphasische PmE abgeleitet werden. Durch Beklopfen der Muskulatur in der Umgebung der Nadel lassen sich Entladungsserien provozieren. Internistisch zeigt sich die Kardiomyopathie gelegentlich als Herzrhythmusstörungen und Tachykardie. Im EKG findet man oft eine Überleitungsstörung. Der Magensaft ist meist anazid. Die Katarakt ist gelegentlich erst bei seitlicher Beleuchtung im Dunkelzimmer oder mit der Spaltlampe festzustellen. In der Verwandtschaft der Kranken finden sich sehr häufig einzelne Symptome wie Katarakt oder Gonadeninsuffizienz.

34

3Therapie und Verlauf. Der Verlauf ist langsam fortschreitend. Viele Patienten werden vor dem 40. Lebensjahr durch Muskeldystrophie und allgemeine Schwäche arbeitsunfähig. Die meisten versterben an interkurrenten Infekten oder Herzversagen im mittleren Lebensalter. Eine maligne, kongenitale Variante kann bei Kindern erkrankter Mütter auftreten. Die Therapie ist symptomatisch: 4 Steht die myotone Komponente im Vordergrund, behandelt man mit Membranstabilisatoren, bevorzugt mit Phenytoin 3-mal 100 mg oral. 4 Meist sind es aber die Erscheinungen der allgemeinen Schwäche und der Muskeldystrophie, die den Patienten zum Arzt führen. Durch Sexualhormone als Depot-Präparate lässt sich der Allgemeinzustand, wenigstens vorübergehend, bessern. 4 Besonders wichtig ist die krankengymnastische Behandlung. Es stehen molekulargenetische Verfahren zur Beratung von Genträgern und Patienten im Frühstadium zur Verfügung.

früher Kindheit auf und werden nicht detailliert besprochen. 4 Natriumkanalerkrankungen: Hierzu gehören die Paramyotonia congenita Eulenberg, die hyperkaliämisch periodische Lähmung und die normokaliämische periodische Lähmung. 4 Zu den Kalziumkanalkrankheiten gehört als wichtigste Form die hypokaliämisch periodische Lähmung. Interessant ist, dass es auch noch weitere Krankheiten außerhalb der Muskulatur gibt, bei denen Kanaldefekte eine Rolle spielen, z.B. die episodische zerebelläre Ataxie (7 Kap. 11).

34.3

Periodische (dyskaliämische) Lähmungen

3Einteilung. Diese Gruppe von Krankheiten ist durch subakute, innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden einsetzende, schlaffe Lähmungen vorwiegend der Extremitäten gekennzeichnet, die Stunden bis Tage anhalten und sich dann wieder zurückbilden. Im Intervall bleiben die Kranken zunächst ohne Beschwerden. Nach biochemischen und klinischen Charakteristika unterscheidet man heute drei Formen mit jeweils verschiedenen Lähmungsmechanismen, die familiäre, hypokaliämische Lähmung, die normokaliämische Variante und die hyperkaliämische, paroxysmale Lähmung. 3Pathophysiologie und Morphologie. In den frühen Stadien der periodischen Lähmungen kommt es während des Lähmungsanfalls zu einer Dehnung des sarkoplasmatischen Retikulums, die sich im Intervall wieder zurückbildet. Die Rückbildung ist aber nicht vollständig, so dass sich die Muskelfasern, unter Bildung kleiner Vakuolen, progredient und andauernd erweitern. Später enthalten bis zu 40% der Muskelfasern eine oder mehrere kleine oder größere, längliche oder multilokuläre Vakuolen. Die Vakuolen enthalten Glykogen oder andere Kohlenhydrate. Dieses histologische Bild unterscheidet sich charakteristisch von fast allen anderen beim Menschen bekannten Myopathien. Die Rolle des K+ in der Pathogenese aller drei Formen der periodischen Lähmung ist nicht aufgeklärt, zumal die zugrunde liegenden Mutationen sich auf Natrium- bzw. Kalziumkanäle beziehen. 3Leitsymptome. Bei allen drei Formen der periodischen Lähmung entwickelt sich im Laufe der Jahre eine langsam progrediente Myopathie. Diese ist am stärksten in der proximalen Extremitätenmuskulatur und im Hüft- und Schultergürtel ausgeprägt. Im fortgeschrittenen Stadium kann der Patient durch die Muskelschwäche gehunfähig werden. Gewöhnlich setzt die Myopathie erst nach einer Krankheitsdauer von mehreren Jahren ein.

705 34.3 · Periodische (dyskaliämische) Lähmungen

Es besteht aber keine strenge Korrelation zur Häufigkeit oder Schwere der paroxysmalen Lähmungen. Eine gleichartige Myopathie tritt auch beim Conn-Syndrom auf. Sie hat offenbar mit der Störung des Kaliumstoffwechsels zu tun. Unter dem Sammelbegriff Kanalkrankheiten werden Muskelkrankheiten, die auf Mutationen in Genen, die für Membrankanäle kodieren, beruhen, zusammengefasst. Hierzu gehören manche Myotonien (Chloridkanäle), die Paramyotonie (Natriumkanal), die hyperkaliämische (Natriumkanal) und die hypokaliämische periodische Lähmung (Kalziumkanal; . Tabelle 34.2). 34.3.1 Hypokaliämische Lähmung 3Epidemiologie und Genetik. Der Erbgang ist autosomaldominant mit hoher Penetranz. Die Inzidenz liegt insgesamt etwa bei 1:100.000. Männer erkranken trotzdem viel häufiger und schwerer als Frauen. Etwa 5% der Fälle sind sporadisch. Molekulargenetisch sind bislang drei Defekte an Ionenkanälen bekannt: am häufigsten ist ein muskulärer Kalziumkanal betroffen (CACNL1A3). Selten finden sich aber auch Mutationen im Natriumkanal-Gen SCN4A oder im Kaliumkanal-Gen KCNE3. 3Spezielle Symptome. Die Lähmungen setzen etwa um das 20. Lebensjahr ein. Anfangs ereignen sie sich in Abständen von vielen Monaten. Bis zur Mitte des Lebens werden sie häufiger und schwerer (Abstände von Wochen, auch nur von Tagen). Danach tritt in der Regel eine spontane Besserung ein, bei der die Lähmungen immer seltener und milder auftreten. Die Kenntnis dieses Spontanverlaufs darf aber nicht dazu verleiten, die Krankheit leicht zu nehmen: Manche Patienten sterben im akuten Anfall an Atemlähmung oder Herzversagen. Die Lähmungen treten meist in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf auf. Sie werden durch starke kör-

perliche Anstrengung mit nachfolgender Ruhe oder durch Mahlzeiten, die reichlich Kohlenhydrate enthalten, provoziert. Unter diesen Umständen kommen sie auch über Tag vor: Die Kranken können etwa ohne Mühe eine längere Wanderung machen, sind aber kurze Zeit nach der Rast nicht mehr fähig aufzustehen. Auch seelische Erregung und Kälte wirken provozierend. Die Paresen können bis zur Tetraplegie führen. Beatmung kann notwendig werden. Den Lähmungen gehen oft Prodromalerscheinungen, wie Schwere und Missempfindungen in den Gliedmaßen, Völlegefühl, Schweißausbrüche und allgemeine Schwäche voran. Die Paresen beginnen im Becken- und Schultergürtel und breiten sich innerhalb von Stunden auf den Rumpf und die distalen Extremitätenabschnitte aus. Die Hirnnerven bleiben im Allgemeinen frei. Bei der klinischen Untersuchung ist im Lähmungsanfall die Skelettmuskulatur in wechselndem Ausmaß paretisch bis paralytisch. Der Muskeltonus ist schlaff, die Eigenreflexe sind erloschen. Manchmal besteht eine Blasen- und Darmatonie. Die Sensibilität ist nicht gestört. Die Patienten klagen nicht über Schmerzen. Die peripheren Nerven sind nicht auf Druck oder Dehnung empfindlich. 3Diagnostik. Elektromyographisch findet man viele »stumme« Bezirke in den untersuchten Muskeln: Bei inkompletter Lähmung sind die Einzelpotentiale niedrig und kurz, das Aktivitätsmuster ist hochgradig, bis auf niedrige Einzeloszillationen, gelichtet. Bei schwerer Lähmung sind die Muskeln durch keinerlei elektrische Reize mehr erregbar, und es lässt sich kein Aktionspotential mehr ableiten. In diesen Fällen ist oft auch der Herzmuskel betroffen: Klinisch besteht Bradykardie, gelegentlich Dilatation des Herzens. Der entscheidende Befund ist ein Abfall des Kaliumspiegels im Serum auf ≤2 mmol/l während des Lähmungsanfalls. Kalium wird abnorm in die Muskelzellen aufgenommen. Weiter findet

. Tabelle 34.2. Myotonien und Ionen-Kanalkrankheiten

Krankheit

Vererbung

Gendefekt/Mutation

Genprodukt

Leitsymptome

Dystrophische Myotonie Curschmann-Steinert

a.d.

19q 13.3 CTG repeat

Myotonin-Protein-Kinase

Muskeldystrophie, Myotonie, pluriglanduläre endokrine Insuffizienz

Kongenitale Myotonie (Becker und Thomsen)

a.r./a.d.

7q 35 Punktmutation

Chloridkanal

Myotonie

Paramyotonie (Eulenburg)

a.d.

17q 23–25?

Natriumkanal

Kälteinduzierte Myotonie, Kombination mit hyperkaliämischer Lähmung möglich

Hyperkaliämische und normokaliämische Lähmung

a.d.

17q 23—25?

Natriumkanal

Lähmungsattacken nach Fasten oder nach körperlicher Anstrengung Provokation: Kalium, Kälte, Fasten

Hypokaliämische Lähmung

a.d.

1q 31?

Kalziumkanal

Durch kohlenhydratreiche Mahlzeit oder bei körperlicher Anstrengung ausgelöste Lähmungsattacke

a.d. autosomal-dominant; a.r. autosomal-rezessiv.

34

706

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

sich im Anfall eine Verminderung des Serumkreatinins und der Phosphate bei Anstieg von Na+ und Milchsäure. Im Intervall sind bei dyskaliämischer Lähmung die Elektrolytverhältnisse in Serum und Muskel normal. Die hypokaliämischen Anfälle können durch Beeinflussung des Glykogenhaushalts provoziert werden, so durch Kohlenhydratzufuhr, Insulin oder 100 IE ACTH. Ein Provokationstest, bei dem Glukose oral oder Insulin i.v. gegeben wird, darf nur unter intensivmedizinischen Bedingungen durchgeführt werden. 3Therapie und Prävention 4 Die einzig wirksame Therapie im Anfall ist die Zufuhr einer hohen Dosis von Kalium, z.B. als 10 g Kalium chloratum per os in wässriger Lösung oder 3 Brausetabletten Kalinor®. 4 Wegen der Gefahr des Herzstillstands eine Menge von 20– 30 mval/h i.v. nicht überschritten werden (Höchstdosis 240 mval/ Tag).

34

In der Regel bilden sich die Lähmungen innerhalb einer Stunde zurück. Es gibt aber auch schwer zu behandelnde Patienten, bei denen die Kaliumgaben über viele Stunden wiederholt werden müssen, selbstverständlich unter Kontrolle des Serumkaliumspiegels und des EKG. Offenbar normalisiert sich durch die Anreicherung von K+ im Extrazellularraum das gestörte Verhältnis von K+ extrazellulär/K+ intrazellulär, so dass die Membran wieder depolarisiert und K+ aus der Muskelzelle austreten kann. 4 Eine Behandlung mit Kalium im Intervall kann das Auftreten der Lähmungen nicht verhindern. 4 Eine orale Dauerbehandlung mit Kalium ist wegen der raschen Ausscheidung durch die Nieren nicht schädlich, nützt aber auch nichts. 4 Sinnvoll ist eine salz- und kohlenhydratarme Diät. 4 Einige Autoren empfehlen als Intervallbehandlung Azetazolamid (z.B. Diamox®) oder Spironolacton. Näheres hierzu s. Speziallehrbücher. 34.3.2 Normokaliämische, periodische Lähmung Die Krankheit setzt bereits in der ersten Lebensdekade, nicht selten schon vor dem 5. Lebensjahr ein. Die auslösenden Situationen gleichen denen bei der hypokaliämischen Form. Man nimmt einen der hyperkaliämischen Lähmung ähnlichen genetischen und biochemischen Mechanismus an. Auch hier treten die Lähmungen besonders während des Nachtschlafs und in den frühen Morgenstunden, in der Ruhe nach körperlicher Anstrengung, nach Fasten oder Alkoholgenuss, in der Kälte und bei seelischer Erregung auf. Die Anfälle dauern bis zu 3 Wochen, und die Lähmung ergreift bei diesem Typ auch die kranialen Muskeln. KClGaben provozieren die Lähmungen. Die Therapie im Anfall besteht in 4 Zufuhr von NaCl.

4 Zur Prophylaxe wird eine kohlenhydratarme Diät und die Einnahme von 9-α-Fluorohydrocortison, z.B. Astonin H und Azetazolamid (Diamox®) empfohlen.

34.3.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung

(Gamstorp) 3Epidemiologie und Genetik. Dieser Typ beginnt ebenfalls früher als die hypokaliämische Form, meist vor dem 20. Lebensjahr. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Der Gendefekt ist wahrscheinlich mit dem der Eulenburg-Paramyotonie (7 Kap. 34.2.2) identisch: Gen SCN4a auf Chromosom 17, das einen Natriumkanal kodiert. 3Spezielle Symptome. Die Anfälle setzen mit ähnlichen Prodromi wie bei der hypokaliämischen Lähmung ein. Sie sind häufiger, weniger schwer und kürzer, nur Minuten bis 1 Stunde anhaltend und ergreifen allerdings oft auch die kranialen Muskeln. Die Gefahr der Atemlähmung ist hier geringer. Die Anfälle ereignen sich meist am Tage. Eine tageszeitliche Bindung besteht nicht. Kälte, Ruhe nach körperlicher Anstrengung und Fasten wirken provozierend. Die Anfälle können durch Kaliumchlorid (1–5 g per os) ausgelöst werden. Leichte körperliche Bewegung verhindert oder verzögert das Auftreten der Lähmungen, ebenso Nahrungsaufnahme vor der Lähmung oder zu deren Beginn. Der Verlauf lässt eine Besserung in der 5. Lebensdekade erkennen. Die Patienten können eine durch Kälte ausgelöste myotone Reaktion zeigen (gleicher Genlokus wie Paramyotonie), die sich als undeutliches Sprechen nach Genuss von Eis oder als Steifigkeit der Hände nach Baden in Wasser von 15–16 °C äußert. 3Diagnostik. Im Anfall sind im EKG die P-Welle abgeflacht und die PQ-Zeit verlängert. Die T-Welle ist zeltförmig überhöht, der QRS-Komplex verbreitert. Diese EKG-Veränderungen sichern, zusammen mit dem erhöhten Serum-Kalium, beim Vorliegen einer akuten, schlaffen Lähmung die Diagnose. Im Lähmungsanfall steigt das Serum-K+ an, im Muskel tritt ein Verlust an K+ bei kompensatorischer Na+-Aufnahme ein. Anders als bei der hypokaliämischen Lähmung, kommt es durch die pathologischen Elektrolytverschiebungen zu einer Depolarisation der Muskelmembran. Im EMG kann es im Anfall zu einer verlängerten Einstichaktivität, selten auch zu myotonen Entladungen kommen. Die Einzelpotentiale sind im Anfall kurz und niedrig. Im Intervall ist das EMG normal. Das EKG ist kaum oder nicht verändert. 3Therapie 4 Zur Behandlung der akuten Lähmung gibt man 1–2 g Kalziumglukonat i.v. oder, ähnlich wie bei einer Hyperkaliämie aus anderer Ursache, Glukose zusammen mit Insulin, da eine vermehrte Bildung von Glykogen eine verstärkte intrazelluläre Speicherung von K+ bewirkt.

707 34.4 · Metabolische Myopathien

34

Exkurs Differentialdiagnose der dyskaliämischen Lähmungen 4 Als symptomatische Form sind die hypokaliämischen, periodischen Lähmungen beim Conn-Syndrom (Hyperaldosteronismus mit Natriumretention und vermehrter Kaliumausscheidung) zu nennen. 4 Die thyreotoxische, episodische Lähmung ist ebenfalls von erniedrigtem Serumkalium begleitet. Bei fehlender Familien-

anamnese müssen Schilddrüsenhormone bestimmt werden. Klinisch meist Tachykardie und Temperaturerhöhung. 4 Wachanfälle bei Narkolepsie (7 Kap. 15.2.1) lassen sich durch starke exogene Reize unterbrechen. Der affektive Tonusverlust setzt plötzlich ein, ergreift nie die Atemmuskeln und bildet sich rasch wieder zurück.

Exkurs Myoglobinurien Bei massivem Muskeluntergang wird Myoglobin im Urin ausgeschieden. Über Belastung bei metabolischen Myopathien, aber auch Myotonien, ischämische Muskelnekrosen oder traumatische Schädigungen der Muskulatur können zur Myoglobinurie führen. Die Myoglobinurie ist auch eine Komplikation der

4 Empfohlen werden zur Prophylaxe Carboanhydrasehemm-

stoffe, wie Azetazolamid (z.B. Diamox), 2 Tabletten pro Woche, jedoch hier nicht so wirksam wie bei hypokaliämischer Lähmung, oder Hydrochlorothiazid (z.B. Esidrix, Hygroton). 34.4

Metabolische Myopathien

In dieser Gruppe von Muskelkrankheiten sind solche zusammengefasst, bei denen Störungen im Energiestoffwechsel zu belastungsinduzierten Paresen, zu Muskelschmerzen und zu Kontrakturen führen. Die Stoffwechselstörungen können im Glykogenstoffwechsel, im Fettstoffwechsel, im Purinzyklus und in den Mitochondrien liegen. Die letzte Gruppe von Krankheiten heißen mitochondriale Myopathien. Klinisch am wichtigsten sind die Störungen im Glykogenstoffwechsel und im Fettstoffwechsel. 3Allgemeine Symptome. Im Vordergrund steht die belastungsabhängige Muskelschwäche. Sie entsteht, wenn die Energiespeicher aufgebraucht sind. Bei darüber hinausgehender Belastung ist eine Rhabdomyolyse möglich. Bei länger dauerndem Krankheitsverlauf entstehen auch permanente Lähmungen und Atrophien. 3Allgemeines zur Diagnostik. Laborwerte: Die CK ist belastungsabhängig erhöht. Laktat kann man bei mitochondrialen Störungen erhöht sein. Der Laktat-Ischämie-Test zeigt bei Störungen des Glykogenmetabolismus einen fehlenden Laktatanstieg. Das EMG ist in der Regel myopathisch, kann aber auch normal sein. In der Muskelbiopsie findet man nur bei Mitochondriopathien charakteristische nichtmikroskopische Befunde, ansonsten sind histochemische Färbungen notwendig.

malignen Hyperthermie. Die Myoglobinurie kann zum akuten Nierenversagen wegen Tubulusnekrosen und Tubulusverstopfung führen. Beobachtung, forcierte Diurese, Natrium-Bikarbonat, Furosemit und ggf. Dialyse können dies verhindern.

34.4.1 Störungen des Glykogenhaushaltes Phosphorylasemangel (McArdle Syndrom) 3Epidemiologie und Genetik. Dies ist die häufigste metabolische Muskelkrankheit, die mit unterschiedlichem Erbmodus zu einem Mangel an Muskelphosphorylase führt. Andere Glykogenspeicherkrankheiten sind die klinisch dem McArdle sehr ähnliche Phosphofruktokinasemangel und der saure Maltasemangel, der autosomal-rezessiv vererbt wird und häufig schon im Kindesalter auftritt (floppy infant). 3Symptome. Belastungsabhängige Muskelschmerzen und -schwäche, die schon im Jugendalter beginnen. Die Symptome können in Ruhe rasch reversibel sein und manche Patienten können, nach einer initialen Schwäche, bei gleich bleibender leichter motorischer Belastung über längere Zeit ohne zunehmende Schwäche aktiv sein. Allerdings gibt es bei länger dauernder massiver Belastung Myoglobinurien. 3Diagnose. Muskelbiopsie: Vermehrung von glykogenhaltigen Vakuolen in der PAS-Färbung. Histochemisch fehlende Phosporelase. 3Therapie. Außer einem milden Übungsprogramm mit aerober Belastung keine kausale Therapie. 34.4.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoff-

wechselstörung Von diesen besprechen wir nur den muskulären Carnitinmangel, da er therapeutisch mit fettarmer Diät und oraler L-CarnitinSubstitution behandelt werden kann. Der Carnitinmangel ist

708

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Exkurs Laktat-Ischämie Test Der Laktat-Ischämie-Test wird wie folgt durchgeführt: Mit einer Blutdruckmanschette wird eine Ischämie am Unterarm erzeugt. Unter Ischämie-Bedingungen innerviert der Patient rhythmisch die Unterarmmuskulatur. Aus der Ellenbeuge werden vor- und während der ischämischen Muskelarbeit Blutabnahme zur Laktat und Amoniakbestimmung entnommen.

autosomal-rezessiv erblich, kann in Kindheit oder Jugendalter auftreten und zeigt häufig eine kardiale Mitbeteiligung. 34.5

Endokrine Myopathien

Myopathien sind bei manchen endokrinen Krankheiten nicht selten. Pathophysiologisch sind veränderte Elektrolytkonzentrationen oder metabolische Störungen durch die Endokrinopathie für die Myopathie verantwortlich. Myopathie bei Hypothyreose Hypothyreose. Die Myopathie bei unbehandelter Hypothyreose ist durch einen verminderten Proteinmetabolismus gekennzeichnet und führt zur Abnahme der Kontraktionsfähigkeit der Muskelfasern. Klinisch fallen die Muskeleigenreflexe aus, die Muskeln sind schwach, ohne atrophisch zu sein. Elektromyographisch findet man meist einen normalen Befund (Ausnahme: ausgefallener oder verzögerter H-Reflex). Auch die Muskelbiopsie und die Untersuchung der Muskelenzyme hilft in der Regel nicht weiter. Rechtzeitig erkannt, ist die Myopathie bei Hypothyreose voll rückbildungsfähig.

34

Myopathie bei Hyperthyreose Hyperthyreose. Auch bei der Hyperthyreose sind die Muskeln bei etwa 2/3 der Patienten betroffen. Hier spielt der Hypermetabolismus mit Steigerung der mitochondrialen Aktivität die pathogenetische Rolle. Die Muskelproteine werden abgebaut, die Kontraktion der Muskeln erfolgt schneller, aber nicht kräftiger. Klinisch kann sich die Myopathie an der Extremitätenmuskulatur und an der Augenmuskulatur bemerkbar machen. An den Extremitäten ist sie durch generalisierte Muskelschwäche gekennzeichnet. Meist liegt eine deutliche Muskelatrophie vor. Man ist manchmal überrascht, wie gut die Kraft in den atrophischen Muskeln noch ist. Auch die bulbäre Muskulatur kann einbezogen werden. Diagnostisch sind das EMG und die Untersuchung der Muskelenzyme wenig hilfreich. Auch die Muskelbiopsie führt in der Regel nicht weiter. Die Serum-Kreatin-Kinase ist nicht erhöht, man kann jedoch eine vermehrte Kreatin-Ausscheidung im Urin finden. Auch diese Myopathie ist bei Behandlung der Grundkrankheit voll reversibel. Die thyreotoxische, episodische Lähmung ähnelt der normokaliämischen Lähmung.

Bei Gesunden kommt es zu einer Erhöhung des Laktats und Amoniaks unter aneroben Arbeitsbedingungen um etwa den Faktor 3–5. Wenn der Glukosestoffwechsel gestört ist, kommt es nicht zum Laktatanstieg, während das Amoniak ansteigt. Ein schon in Ruhe erhöhter Laktatspiegel findet sich bei mitochondrialen Myopathien.

Endokrine Orbitopathie bei Hyperthyreose Hier führt die massive Hypertrophie der Augenmuskeln zur Protrusio bulbi mit Augenmuskelparesen. Im Vollbild ist dieses Syndrom nicht zu übersehen. Charakteristisch ist ein Exophthalmus mit konjunktivaler Injektion, Chemosis der Bindehäute und periorbitaler Schwellung, der ab 2 mm bereits gut im CT zu erkennen ist. Man vermutet eine immunologische Ursache, d.h. Antikörper gegen retroorbitales Gewebe. Viele Patienten haben eine Immunthyreopathie. Histologisch findet sich das Bild einer Myositis mit dichter, lymphozytärer Infiltration der Muskeln. Diagnostisch findet man im CT eine charakteristische Verdickung der Augenmuskeln (. Abb. 34.4). Zur Darstellung der Augenheber und -senker sind koronare Schichten erforderlich. Der Visus kann durch Kompression des N. opticus abnehmen. Die endokrine Ophthalmopathie findet man praktisch immer beidseitig, sie kann aber auch asymmetrisch auftreten. Leichtere Formen werden manchmal übersehen, was die Behandlung verzögert. Neben der Therapie der Hyperthyreose und der Gabe von Steroiden wird manchmal die Bestrahlung der Orbita notwendig. Bei lange bestehender, ausgeprägter endokriner Ophthalmopathie kann die Rückbildung auch einmal ausbleiben.

. Abb. 34.4. Koronares Computertomogramm mit Schichtführung durch die hintere Orbita bei einem Patienten mit endokriner Orbitopathie. Nahezu alle Augenmuskeln sind massiv geschwollen. Dies gilt besonders für die Mm. rectus superior, rectus medialis und rectus inferior auf der linken Seite. Der M. rectus lateralis rechts ist der einzige Muskel mit normalem Kaliber. (K. Sartor, Heidelberg)

709 34.7 · Myasthenia gravis pseudoparalytica

Andere endokrine Myopathien Auch beim 4 Cushing-Syndrom, 4 dem Morbus Addison, 4 der Akromegalie und bei 4 Störungen im Parathormonstoffwechsel kann eine Myopathie der Extremitäten auftreten. Allen ist gemeinsam, dass EMG und Muskelbiopsie keine kausale Klärung bringen. Stets ist die Behandlung der Grundkrankheit entscheidend für die Rückbildungsfähigkeit der Myopathie. 34.6

Toxische Myopathien

Eine Vielfalt toxischer Substanzen, darunter auch Medikamente, können Myopathien auslösen. Die akute Rhabdomyolyse kann eine akute, toxische Myopathie komplizieren. In einigen Fällen kann durch den Muskelzerfall die Serum-Kreatin-Kinase auf Werte über 10.000 U/l ansteigen. Hierbei muss wegen der Gefahr eines Nierenversagens (so genannte Crush-Niere) auf ausreichende Volumengabe und gegebenenfalls eine Alkalisierung des Harns geachtet werden. Bei ausgedehntem Muskelzerfall kann es auch zu lebensbedrohlichen Hyperkaliämien kommen. Chronische Myopathien kommen bei Alkoholabusus und Einnahme verschiedener Medikamente (Chloroquin, Bezafibrat und Glukokortikoide) vor. Selten einmal können myotone Syndrome bei Einnahme von Propranolol oder Partusisten entstehen. Auf die D-Penicillam-ininduzierte Myasthenie wurde in 7 Kap. 30 hingewiesen. 34.6.1 Maligne Hyperthermie 3Epidemiologie und Ätiologie. Myotoniepatienten, aber auch andere Patienten mit Muskelerkrankungen, besonders der Central-core-Myopathie, sind durch eine maligne Hyperthermie gefährdet. Die maligne Hyperthermie kann durch verschiedene, bei Narkosen verwendete Substanzen ausgelöst werden. Die Neigung hierzu ist autosomal-dominant vererbt (Chromosom 19 (q13.1.) und 17(11.2.–24)) und wird auf eine Mutation des Ryanodin-Rezeptors zurückgeführt. Nicht selten werden bis dahin asymptomatische Personen von diesem Syndrom betroffen. Auch frühere, komplikationslose Narkosen schließen für die Zukunft bei gefährdeten Patienten eine maligne Hyperthermie nicht aus. Eine maligne Hyperthermie tritt bei Narkosen selten auf. Die Häufigkeit liegt bei etwa 1: 20.000 Narkosen bei Kindern und 1: 100.000 Narkosen bei Erwachsenen. Oft ist eine positive Familienanamnese zu erfragen. Volatile Anästhetika (Halothan und andere halogenierte Inhalationsanästhetika) und depolarisierende Muskelrelaxanzien (z.B. Succinylcholin) können die maligne Hyperthermie auslösen.

34

3Symptome. Sie beginnt mit Tachykardie, Blutdruckabfall, Azidose, Anstieg der Körpertemperatur auf Werte über 41°C mit Muskelzittern und Muskelsteifigkeit. Kompliziert werden kann die maligne Hyperthermie durch Rhabdomyolyse, Nierenversagen und Verbrauchskoagulopathie. 3Therapie. Neben der Vermeidung von auslösenden Medikamenten bei gefährdeten Personen ist heute die Behandlung mit 4 Dantrolene i. v. (z.B. Dantrolen® 2–3 mg pro kg KG) in der Lage, die früher hohe Mortalität deutlich zu senken. 4 Daneben wird im manifesten Hyperthermiesyndrom eine externe Kühlung vorgenommen (Vorsicht mit der medikamentösen Muskelrelaxation zur Vermeidung von Muskelzittern wegen der möglichen Verstärkung der malignen Hyperthermie). 34.6.2 Malignes Neuroleptikasyndrom Das maligne Neuroleptikasyndrom ist in der Symptomatik sehr ähnlich, hat aber eine völlig andere Auslösung: Es kommt zur Blockade von zentralen Dopaminrezeptoren. Entsprechend kann auch bei akutem L-Dopa-Entzug ein ähnliches Syndrom auftreten. Therapeutisch gibt man neben Dantrolen auch Dopaminagonisten wie Amantadin, L-Dopa oder Lisurid. 34.7

Myasthenia gravis pseudoparalytica

Als myasthenisches Syndrom bezeichnen wir eine abnorme Ermüdbarkeit der Willkürmuskulatur, die sich unter muskulärer Belastung einstellt und sich – zumindest im Anfangsstadium der Krankheit – beim Ruhen der betroffenen Muskeln wieder zurückbildet. Wir unterscheiden die autoimmunbedingte Myasthenie (Myasthenia gravis pseudoparalytica) von verschiedenen symptomatischen Formen (7 Kap. 34.7). 3Epidemiologie und Ätiologie. Frauen sind häufiger betroffen als Männer (3:2). Die Prävalenz liegt bei 4–7:100.000, die Inzidenz bei 0,2–0,5:100.000 Einwohner. Das Erkrankungsalter streut sehr breit, von der Geburt bis ins 8. Lebensjahrzehnt. In den meisten Fällen treten die ersten Symptome zwischen 20 und 40 Jahren auf. Man vermutet eine multifaktorielle Ätiologie: Die Assoziation von generalisierter MG mit speziellen HLA-Typen (HLA B8 und DR3) lässt eine genetische Determination annehmen. Bei fast 80% der Myastheniepatienten lassen sich Veränderungen im Thymus nachweisen. Das Spektrum reicht von Thymushyperplasie bis zu Thymomen und Thymuskarzinomen. Vermutlich wird im Thymus die initiale Immunreaktion gegen den Acetylcholinrezeptor vermittelt. 5% der Patienten haben eine Hyperthyreose. Auch ist der Lupus erythematodes bei Kranken mit Myasthenie überzufällig häufig.

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Exkurs Pathophysiologie der Myasthenie Vor der präsynaptischen Membran liegen kleine Bläschen, die minimale Mengen Acetylcholin (ACh) enthalten. Schon in der Ruhe werden fortgesetzt kleinste Mengen von ACh frei, die sich elektrophysiologisch als »Miniatur-Endplattenpotentiale« nachweisen lassen, aber nicht zu einer fortgeleiteten Erregung und Kontraktion führen. Trifft ein efferenter Impuls am Ende der Nervenfasern ein, treten größere Mengen von ACh aus, reagieren chemisch mit der postsynaptischen Membran und verändern deren Permeabilität für K+, Na+ und Ca2+, so dass eine Depolarisation möglich wird, die sich als Erregungswelle über den Muskel ausbreitet. An der motorischen Endplatte wird ACh

3Symptome und Verlauf. Bei der Hälfte der Patienten beginnt die MG mit okulären Symptomen, andere Patienten entwickeln zunächst eine leichte, generalisierte Muskelschwäche in proximalen Muskeln. Die MG bleibt aber nur bei wenigen Patienten, die mit okulärer Myasthenie begonnen haben, auf die Augen begrenzt. Fast immer ist eine Tendenz zur Generalisierung zu erkennen. Die Schwäche in den Gliedmaßen beginnt häufig proximal im Schulter- und Beckengürtel. Von dort breitet sie sich in die Gesichts- und pharyngeale Muskulatur und nach distal aus. 34.7.1 Okuläre Myasthenie

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Im Initialstadium stellt sich oft zunächst eine einseitige oder doppelseitige Ptose ein, die im Laufe des Tages so zunehmen kann, dass der Patient den Kopf weit zurückneigen muss, um durch die enge Lidspalte zu blicken. Später sinkt das Oberlid vollständig herunter und muss mit einem Finger emporgehoben werden. Weiter treten, besonders beim Lesen, Doppelbilder auf, die in Ruhe zunächst ganz, später nur teilweise wieder verschwinden. Vor allem sind die Bulbusheber betroffen. Bei längerem Bestehen der Krankheit werden immer mehr Augenmuskeln befallen, bis der Bulbus ein- oder doppelseitig nur noch minimal beweglich ist. Augensymptome finden sich in mehr als 90% der Fälle von MG, bei etwa der Hälfte als Initialsymptom. Bei 20% bleibt die Krankheit auf die äußeren Augenmuskeln und Lidheber beschränkt. Diese Patienten haben eine gute Prognose. Jede isolierte Ptose, die nicht von Geburt an besteht, und jede Lähmung äußerer Augenmuskeln ist dringend auf Myasthenie verdächtig und sollte mit dem Tensilon-Test möglichst frühzeitig diagnostisch geklärt werden. 34.7.2 Generalisierte Myasthenie 3Symptome. Dies ist die häufigste und für die MG typische Form. Wenn die Krankheit andere kraniale Muskeln als die Au-

durch das Ferment Cholinesterase fortgesetzt wieder abgebaut. Die abnorme Ermüdbarkeit der myasthenischen Muskeln beruht auf einer pathologischen Veränderung der neuromuskulären Überleitung, die zur Folge hat, dass ACh an der motorischen Endplatte nicht mehr in ausreichendem Maße eine Depolarisation auslösen kann. Ursache ist eine Blockierung der postsynaptischen Membran der motorischen Endplatte durch Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor. Experimentell führt die Übertragung solcher Antikörper von einer Spezies zur anderen zu Myasthenie beim Empfängertier (passiver Transfer).

genmuskeln ergreift, erschlaffen die Gesichtszüge zur Facies myopathica: Der Mundschluss wirkt kraftlos, die Patienten können nicht mehr pfeifen oder die Backen aufblasen. Kauen und Schlucken verschlechtern sich im Laufe jeder größeren Mahlzeit, so dass die Speisen im Munde liegen bleiben und Flüssigkeit durch die Nase regurgitiert wird. In schweren Fällen kann der Kranke die Masseteren nicht mehr tonisch anspannen, um den Mund geschlossen zu halten, und muss den Unterkiefer mit der Hand stützen. Die Stimme wird durch mangelhafte Abdichtung des Nasen-Rachen-Raums näselnd, das Sprechen durch Erschwerung der Artikulation kloßig und unbeholfen. Nicht selten tritt die Sprechstörung erst im Laufe eines Gesprächs auf. Manchmal kann der Kranke infolge Schwäche der Hals- und Nackenmuskeln den Kopf nicht gerade halten. Die Entwicklung von der okulären zur faziopharyngealen Form verschlechtert die Prognose. Die Krankheit breitet sich dann weiter auf den Rumpf und die Extremitäten aus, wo die Schwäche zuerst in proximalen, dann in distalen Muskeln auftritt. Schon nach wenigen Schritten wird der Gang in der Ebene watschelnd, ist das Treppensteigen unmöglich, und die Patienten können selbst beim Gehen zusammensinken. Tätigkeiten, die längeres Heben der Arme erfordern, wie Kämmen, Rasieren oder bestimmte Haushaltsarbeiten, können nur noch mit Unterbrechungen ausgeführt werden. Später leiden auch feine Verrichtungen der Hände, weil die tonische Innervation der Hand nicht mehr ausreichend lange vorhanden ist. Sobald die Interkostalmuskulatur betroffen ist, besteht die Gefahr einer Atemlähmung (regelmäßige spirometrische Kontrollen der Vitalkapazität!). Sehr bemerkenswert ist die unsystematische Verteilung der myasthenischen Schwäche: Unabhängig von der Nervenversorgung kann von zwei benachbarten Muskeln der eine schwer, der andere kaum oder gar nicht betroffen sein. Die progrediente Ausbreitung auf immer weitere Muskelgruppen ist das eine Charakteristikum des Verlaufs. Das andere ist ein Wechsel von Verschlechterungen und partiellen Remissionen. Interkurrente Krankheiten und Medikamente verschlimmern die Krankheit häufig.

711 34.7 · Myasthenia gravis pseudoparalytica

3Verlauf. Die Krankheitsdauer ist sehr unterschiedlich: Es gab foudroyante Verläufe, die in wenigen Monaten zum Tode führten. Heute bleiben rund 5% der Patienten von der Therapie unbeeinflusst oder verschlechtern sich trotz der Behandlung. Für die Mehrzahl ist aber heute, unter zweckmäßiger Behandlung, die Lebenserwartung nicht verkürzt. Durch die intensivmedizinische Behandlung und die gezielte Immunsuppression konnte die Letalität von Myastheniepatienten in der myasthenen Krise (s.u.) auf weniger als 5% gesenkt werden. Die meisten Patienten bleiben durch die Kombinationstherapie arbeitsfähig. Die Prognose verschlechtert sich mit dem Erkrankungsalter: Patienten, die nach dem 60. Lebensjahr an Myasthenie erkranken, sterben trotz medikamentöser Behandlung vorzeitig an Krisen oder Komplikationen. Im heute kaum noch beobachteten Endstadium hat sich eine andauernde, nicht mehr rückbildungsfähige Schwäche auf die gesamte Willkürmuskulatur ausgedehnt, so dass der Patient sich nicht mehr aus dem Liegen aufrichten und seine Arme nur noch ganz kraftlos und in geringen Exkursionen bewegen kann. Die Atmung wird selbst für diese Vita minima insuffizient: Der Tod tritt ganz plötzlich, oft in der Nacht, durch Atemlähmung ein. Dieses Syndrom sieht man heute nur noch sehr selten. 3Diagnostik. In der Mehrzahl der Fälle lässt sich die Diagnose mit einfachen Mitteln bei der körperlichen Untersuchung stellen. Man fordert den Patienten auf, eine bestimmte Bewegung viele Male zu wiederholen, und stellt dabei das charakteristische Nachlassen der Muskelkraft bis zur völligen Lähmung fest: 4 50-mal Augen öffnen und schließen lässt eine Ptose erscheinen. 4 Beim lauten Lesen wird die Stimme innerhalb weniger Minuten nasal, und die Artikulation lässt nach. 4 30-mal Anheben des Kopfes im Liegen führt zu deutlich erkennbarer Erschöpfung der Sternokleidomastoideusmuskeln. 4 Wiederholtes Drücken des Dynamometers oder des Ballons am Blutdruckapparat gestattet sogar eine quantitative Erfassung der myasthenischen Ermüdung. Labor: Bei etwa der Hälfte der Patienten mit okulärer Myasthenie und bei fast 90% der Patienten mit generaliserter Myasthenie sind Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren positiv. Antikörper gegen quergestreifte Muskulatur können positiv sein. Bei so genannten seronegativen Patienten, bei denen keine ACh-Ak nachgewiesen werden, können gelegentlich Antikörper gegen muskelspezifische Rezeptor-Thyrosinkinase (MuSK) gefunden werden. MuSK ist zusammen mit Agrin an der Aggregation von Acetylcholin am Rezeptor beteiligt. Muskelbiopsien sind in der Regel nicht sinnvoll. In unklaren Fällen ohne Antikörpernachweis aber deutlichem klinischen Verdacht auf ein myasthenes Syndrom kann ausnahmsweise eine Muskelbiopsie erfolgen (z.B. Interkostalmuskel) um an der Endplatte Membrane-Attack-Complex-Formationen nachzuweisen.

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Radiologie und Nuklearmedizin: Bei etwa 10% der Myastheniepatienten liegt ein Tumor der Thymusdrüse vor, der im Thorax-CT nachweisbar ist. Diese Patienten haben häufig Antikörper gegen quergestreifte Muskeln. Thymome sind in einem Drittel der Fälle maligne und müssen unverzüglich operativ entfernt werden. Bei allen Myastheniepatienten ist daher eine wiederholte Untersuchung des vorderen Mediastinums mit Hilfe der CT oder Kernspintomographie erforderlich. Bei etwa 80–90% der Myastheniekranken findet man, ohne dass die Thymusdrüse nennenswert vergrößert sein muss, Lymphfollikel und Keimzentren im Thymusmark. In diesen Keimzentren findet man alle Elemente, die für die Produktion von Antikörpern notwendig sind. Häufig ist auch im mittleren Lebensalter Thymuspersistenz zu finden. Eine exakte obere Altersgrenze lässt sich dafür nicht angeben. Nachweis durch ThoraxCT (. Abb. 34.5). In den letzten Jahren hat die Somatostatin-Rezeptor-Szintigraphie (Octreotid-SPECT) für die Darstellung primärer, rezidivierender und ektoper Thymome Bedeutung bekommen. Reine Thymushyperplasien werden allerdings auch markiert. EMG: Das Stimulations-EMG ist ein weiteres Hilfsmittel bei der Diagnose. Reizt man einen motorischen Nerven überschwellig mit Frequenzen zwischen 2 Hz und 10 Hz, so kommt es im abhängigen Muskel zu Muskelaktionspotentialen (MAP), die in ihrer Amplitude kaum abnehmen, ferner in der mechanischen Antwort zu einer gleichbleibenden Kontraktion. Bei Frequenzen über 10 Hz kann im gesunden Muskel eine geringe Abnahme der Amplitude für beide Elemente gefunden werden. Bei der Myasthenie findet man bei 3/s-Reizung eine signifikante Abnahme der Amplitude (Dekrement; . Abb. 13.1, 7 Kap. 13.2). Für die Diagnostik zieht man den Amplitudenunterschied des ersten Muskelantwortpotentials im Vergleich zum 4. oder 5. Muskelantwortpotential heran. Bei höheren Reizfrequenzen kommt es ebenfalls zur Amplitudenabnahme, die sich dann jedoch auf ein bestimmtes Niveau einstellt (vgl. die Stimulationsmyographie beim paraneoplastischen myasthenischen Syndrom LambertEaton, 7 Kap. 13.2). Wir untersuchen regelmäßig den N. accessorius und leiten am M. trapezius ab. Die Untersuchung ist bei diesem rein motorischen Nerven weitaus weniger unangenehm und schmerzhaft als die überschwellige Serienreizung distaler gemischter Nerven. Augenmuskeln können nicht in dieser Weise stimuliert werden, jedoch lässt sich über die Elektronystagmographie (optokinetisch ausgelöster Nystagmus) eine gute Aussage über belastungsabhängige Ermüdbarkeit gewinnen. Nadelmyographisch kann man ein myopathisches Muster finden, und das maximale Aktivitätsmuster kann sich bei Dauerableitung lichten. »Tensilon-Test«: 1 ml = 10 mg Edrophoniumhydrochlorid werden mit 10 ml NaCl verdünnt. Man injiziert zunächst eine Testdosis von 2 ml der Verdünnung. Wenn der Patient dies verträgt, wird danach der Rest über eine Minute injiziert. Immer sollte man 1–2 mg Atropin aufgezogen bereit liegen haben (venö-

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

. Abb. 34.5. Thymom. CT des oberen Thorax: Weichteildichte, retrosternal gelegene Tumorformation im vorderen Mediastinum (Pfeile)

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sen Zugang nach der Injektion von Tensilon nicht ziehen!). Nebenwirkungen: Bradykardie, Schwitzen, Speichelfluss. Beginn der Tensilon-Wirkung nach etwa einer halben Minute, Dauer bis maximal 10 min. Man überprüft die Tensilon-Wirkung klinisch an stark betroffenen Muskeln (z.B. Armhalteversuch, Vorlesen bei bulbärer Symptomatik, Hochschauen bei okulärer Symptomatik; . Abb. 34.6). Der Tensilontest wird zweckmäßig auch unter elektromyographischer Kontrolle ausgeführt. Nach Injektion der Substanz nehmen die vorher unter der repetitiven Stimulation verminderten Amplituden der Muskelaktionspotentiale wieder zu. Klinisch sichtbar reagiert die Schwäche der Augenmuskeln, anders als in den übrigen Muskeln, auf Tensilon oft nicht. > Untersuchungen beim Verdacht auf Myasthenie: 4 muskuläre Belastung und Tensilontest 4 Stimulations-EMG mit Tensilon-Test 4 Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren 4 Computertomographie des Thorax

3Therapie. Die Behandlung der Myasthenie ist in erster Linie immunsuppressiv: Thymektomie, Kortikosteroide, langfristige Immunsuppression und gegebenenfalls Plasmapherese. Die Cholinesterasehemmer stellen eine symptomatische Therapie dar, die die immunsuppressive Behandlung ergänzt.

4 Kortikosteroide führen in etwa 80% der Fälle zur Remission oder zu einer deutlichen Besserung. Wir geben sie hochdosiert (80–100 mg Methylprednisolon) etwa 2 Wochen lang täglich, danach langsam »ausschleichend« bis zu einer Erhaltungsdosis von 4–8 mg Methylprednisolon täglich. Zu Beginn einer Kortikosteroidbehandlung kann sich der Zustand des Patienten verschlechtern, deshalb wird die Therapie nur stationär eingeleitet. 4 Im Anschluss an die Thymektomie (s.u.), aber auch ohne Operation, beginnt man eine Langzeitbehandlung mit Azathioprin (z.B. Imurek®) 2–3 mg/kg KG, nicht unter 100 mg pro Tag. Die Behandlung verlangt regelmäßige Blutbildkontrollen mit besonderer Berücksichtigung der Leukozytenzahl. Ziel: weiße Blutkörperchen auf 3000–4000 senken, MCV-Anstieg ist erwünscht. Die Wirkung setzt nach 4–8 Monaten ein und hält an, solange Azathioprin eingenommen wird. Die Kombination von Azathioprin und Prednisolon ist der jeweiligen Monotherapie überlegen. 4 Die Autoimmunpathogenese der Myasthenia gravis legt den Gedanken nahe, schwierig zu behandelnde Patienten einer Therapie mit Plasmapherese zu unterziehen. Die Kombination der medikamentösen Immunsuppression mit wiederholter Plasmapherese kann zu einer deutlichen Besserung führen. Offensichtlich werden durch den Plasmaaustausch myastheniespezifische Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren eliminiert. Die Indikation ist bei Patienten gegeben, die auf konventionelle Behandlung, einschließlich Glukokortikoide, nicht befriedigend ange-

713 34.7 · Myasthenia gravis pseudoparalytica

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Exkurs Thymektomie Die Empfehlung zur Thymektomie beruht auf mehreren unkontrollierten Studien und Expertenempfehlungen. Im Allgemeinen wird bei Patienten unter 60 Jahren mit einem Krankheitsverlauf von weniger als 3 Jahren eine Thymektomie empfohlen. Bei Thymomen sollte wegen der Gefahr der Malignisierung regelhaft operiert werden, wobei der Nutzen der Operation kleiner zu sein scheint als bei Patienten, bei denen eine Thymushyperplasie histopathologisch nachweisbar ist. Ohne

Nachweis eines Thymoms kann heute die rein thorakoskopische Thymektomie durchgeführt werden. Post-Thymektomie-Myasthenie. Selten kommt es bei Patienten, die ohne MG aus anderen Gründen thymektomiert wurden, nach der Thymektomie zu Symptomen einer MG. Die Pathophysiologie hierzu ist nicht verstanden. Die Therapie erfolgt analog zur MG.

den Ferment reagieren (kompetitive Hemmung). Man verordnet Pyridostigmin (z.B. Mestinon®) als Tabletten zu 10 mg, 60 mg und 180 mg (ret.). Die Therapie wird in mehreren Einzeldosen gegeben, die entsprechend dem Bedarf des Patienten nach einem genauen Zeitplan über den Tag verteilt werden. Mestinon ret. (180 mg) führt zu einem besonders gleichmäßigen Serumspiegel. Die okuläre Myasthenie spricht oft schlecht auf Cholinesterasehemmstoffe an, dagegen recht gut auf Glukokortikosteroide.

a

Oft kann man 3–6 Wochen nach Beginn der immunsuppressiven Behandlung oder Thymektomie die Cholinesterasehemmstoffe reduzieren. Tritt ein Rückfall ein, ist die oben beschriebene Behandlung, beginnend mit Kortikosteroiden, erneut wirksam. Frauen im gebärfähigen Alter müssen eine strikte Kontrazeption ausführen. Eine erhöhte Infektanfälligkeit hat sich nicht nachweisen lassen. 34.7.3 Myasthene und cholinerge Krise

b . Abb. 34.6a,b. Okuläre Myasthenie mit leichter Ptose und Schwäche des M. rectus superior auf dem linken Auge vor (a) und nach (b) Tensilongabe. Man erkennt, dass die Ptose deutlich zurückgegangen ist und das linke Auge weiter nach oben gewendet werden kann

sprochen haben. Weitere Indikationen: akute Verschlechterung mit drohender respiratorischer Insuffizienz, vor und nach Thymektomie bei schwer betroffenen Patienten und sehr schwere Verläufe ohne Remission. Auch hochdosierte Immunglobuline (7 Kap. 32.5.1) können bei diesen Indikationen gegeben werden. 4 Die Wirkung von Cholinesterasehemmstoffen beruht darauf, dass sie an Stelle des körpereigenen ACh mit dem abbauen-

Myasthene Krise Die myasthene Krise kann zu lebensbedrohlicher Verstärkung der myasthenen Symptomatik mit Beteiligung der Schluck- und Atemmuskulatur führen. Dass die myasthenen Krisen heute sehr selten geworden sind, ist vermutlich der verbesserten immunsuppressiven Dauerbehandlung zuzuschreiben. Die myasthene Krise kann sich aus einer langsam fortschreitenden, myasthenen Generalisierung entwickeln oder akut, z.B. bei Infekten, nach Narkosen oder plötzlichem Absetzen der Medikamente, auftreten. Ptose, Tachykardie und Obstipation werden häufiger bei der myasthenen Krise gefunden. 3Therapie 4 Intubation und Beatmung, wenn Ateminsuffizienz, hohes paCO2 oder niedrige Sauerstoffsättigung vorliegen, 4 Umsetzen der anticholinergen Medikation auf i.v.-Gabe (Umrechnung: 30 mg oral = 1 mg i.v.), 4 Antibiose bei Infektion (bei Auswahl der Antibiotika auf mögliche Myasthenieverstärkung achten), 4 sofortige Plasmapheres oder IVIG (Immunglobuline): Dosierung wie bei GBS, 7 Kap. 32.5.1),

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

4 Steroide, 4 Thromboseprophylaxe, 4 Monitoring der Herz-Kreislauf-Funktion (in der myasthenen

Krise kann eine akute Herzinsuffizienz mit Rhythmusstörungen auftreten – transthorakaler Schrittmacher). Cholinerge Krise Die cholinerge Krise wird heute seltener beobachtet, weil die Behandlung mit Cholinesterasehemmstoffen heute nur noch unterstützend und nicht als Therapie der ersten Wahl angewendet wird. Tritt sie dennoch ein, muss die Dosis der Hemmstoffe auf der Intensivstation in Beatmungsbereitschaft reduziert werden. Problematisch kann manchmal die Unterscheidung einer myasthenen Krise von einer cholinergen Krise (bei Überdosierung von Cholinesterasehemmern) sein. Auch die cholinerge Krise führt zur Muskelschwäche! Für eine cholinerge Krise sprechen: 4 Faszikulationen der Muskulatur, 4 warme, gerötete Haut, 4 Bradykardie, 4 Verschleimung und Durchfälle Der Tensilon-Test hilft bei der Unterscheidung zwischen myasthener und cholinerger Krise: Bei der myasthenen Krise ist er positiv, bei der cholinergen Krise verstärken sich die Symptome kurzfristig (Atropingabe zur Aufhebung der vermehrten cholinergen Aktivität).

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3Differentialdiagnose. Myasthenische Ermüdbarkeit wird klinisch und im EMG bei folgenden Krankheiten beobachtet: 4 Polymyositis (7 Kap. 34.9.1). Wenn die myasthene Komponente im Vordergrund steht, ist die Differentialdiagnose sehr schwierig. Sie kann oft auch nicht sofort durch Muskelbiopsie entschieden werden und ergibt sich dann erst aus dem Verlauf. Das trifft besonders für die chronische, okuläre Myositis zu. Therapie: Im Zweifel wird man Azathioprin (z.B. Imurek) und Pyridostigmin (z.B. Mestinon) in kleinen Dosen oder Glukokortikoide einsetzen. Allerdings ist diese Kombination bei beiden Krankheiten indiziert. 4 Hyperthyreose. Die Hyperthyreose ist gelegentlich von myasthener Ermüdbarkeit begleitet. Dies ist aber keine symptomatische Myasthenie, sondern es liegen zwei pathophysiologisch unterschiedliche Autoimmunkrankheiten vor. 4 Episodische Lähmungen ä Der Fall Ein 25-jähriger Leistungssportler sucht den Neurologen auf, weil er in den letzten Wochen einen rapiden Verlust an maximaler Muskelkraft bemerkt hat. Beim Gewichttraining hat sich seine maximale Leistung um 50% vermindert. Er habe zudem bemerkt, dass er bei längerem Lesen oder Fernsehen anfange, Gegenstände doppelt zu sehen. Seiner Partnerin sei aufgefallen, dass das Oberlid seines rechten Auges oft herabhängt.

6

Bei der neurologischen Untersuchung fällt eine geringe Ptose am linken Auge auf, die Muskeleigenreflexe sind vorhanden, die Muskelkraft bei der orientierenden Untersuchung regelrecht. Beim Versuch, die Augen stark nach oben zu wenden, verstärkt sich die Ptose auf dem linken Auge innerhalb von einer Minute erheblich. Es kommt auch eine Ptose auf dem rechten Auge hinzu. Beim maximalen Seitwärtsblick stellen sich nach kurzer Zeit Doppelbilder ein. Nach Injektion von Tensilon verschwindet die Ptose auch beim Aufwärtsblick innerhalb von 1 min und kehrt nach etwa 5 min wieder zurück. Die weitere Diagnostik bestätigte den Verdacht auf eine Myasthenie: Die Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren waren sehr stark erhöht, im EMG fand sich ein erhebliches Dekrement der Muskelantwortpotentiale bei Serienstimulation mit 3/sReizen. Im CT wurde ein Thymustumor nachgewiesen, der operiert wurde. Der Patient wurde immunsupressiv mit Imurek behandelt. Zusätzlich nimmt er zwischen 5- und 8-mal 60 mg Mestinon pro Tag ein, in Abhängigkeit davon, wie stark seine sportlichen Aktivitäten sind. Er betreibt weiterhin aktiv Sport, jedoch nicht mehr auf Höchstleistungsniveau. An seiner Berufstätigkeit hat sich nichts geändert.

34.7.4 Andere myasthene Syndrome Neugeborenen-Myasthenie und hereditäre Myasthenie Neugeborene Kinder myasthenischer Mütter haben in 10–20% der Fälle ein myasthenes Syndrom, das auf diaplazentarem Übertritt von Antikörpern gegen Acetylcholinrezeptoren beruht (7 Pathophysiologie). Die Kinder fallen durch Trinkschwäche, kraftlose Atmung, mattes Schreien und nur geringe Spontanmotorik auf. Diese Neugeborenenmyasthenie klingt innerhalb weniger Wochen unter geeigneter Therapie wieder ab und kehrt im späteren Leben nicht mehr wieder. Von der Neugeborenen-Myasthenie müssen die hereditären Myasthenien unterschieden werden. Diesen liegen seltene Störungen der Acetylcholinsynthese oder -freisetzung oder Defekte der Acetylcholinesterase zugrunde. Medikamentös ausgelöste oder verstärkte Myasthenie Verschiedene Medikamente können eine Myasthenie induzieren oder myasthene Symptome verstärken. Vermutlich liegen den medikamentös induzierten Myasthenien Immunreaktionen gegen den Acetylcholinrezeptor zugrunde. Die D-Penicillamin-induzierte Myasthenie ist ein myasthenes Syndrom, das meist bei Frauen mit chronischer Polyarthritis nach monatelanger D-Penicillamineinnahme auftritt. Das klinische Bild gleicht dem einer generalisierten Myasthenie. Die Krankheit spricht auf Cholinesterasehemmstoffe gut an und bildet sich oft nach Absetzen des Medikaments zurück. Krisenhafte Verstärkung ist selten. Der Antikörpertiter gegen Acetylcholinrezeptoren ist meist normal.

715 34.8 · Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden)

. Tabelle 34.3. Medikamente, die Myasthenie auslösen oder verstärken können Antibiotika

Antikonvulsiva

Aminoglykoside Tetrazykline Erythromycin

Phenytoin Primidon, Phenobarbital

Psychotrope Medikamente

Antirheumatika

Promazin Chlorpromazin Lithium Trizyklische Antidepressiva Benzodiazepine

D-Penicillamin (auslösend) Chloroquin Chinin

Kardiovaskuläre Medikamente

Andere

Thiazid-Diuretika β-Blocker Kalziumantagonisten: Nifedipin, Verapamil Antiarrhythmika der Klasse I: Lidocain, Propafenon, Procainamid

Kortikosteroide Mg2+-haltige Medikamente, z.B. Antazida Muskelrelaxanzien vom Curare-Typ

Weitaus häufiger sind Medikamente, die (latente) myasthene Symptome verstärken. Aus der Vielfalt der Medikamente, die dies verursachen können, seien nur Antibiotika, wie Aminoglykoside, Antirheumatika, β-Blocker, Antikonvulsiva und verschiedene Psychopharmaka (Antidepressiva, Benzodiazepine) und Barbiturate genannt (. Tabelle 34.3). Lambert-Eaton myasthenes Syndrom (LEMS) Paraneoplastisches Syndrom beim kleinzelligen Bronchialkarzinom, 7 Kap 13. Andere Immunkrankheiten und Myasthenie Viele Patienten mit Myasthenie neigen auch zu anderen autoimmunologischen Krankheiten. Die Hashimoto-Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis, Kollagenosen und Typ-I-Diabetes werden am häufigsten gefunden. Besonders problematisch ist das Auftreten von Kollagenosen, die ja selbst muskuläre Symptome mit abnormer Ermüdbarkeit hervorrufen können und bei deren Behandlung manche Medikamente Einsatz finden, die myasthenieverstärkend wirken. 34.8

Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden)

Unter dem Oberbegriff Myositis werden Krankheiten zusammengefasst, die sich klinisch durch Muskelschwäche bis zur Lähmung, allgemeines Krankheitsgefühl und Muskelschmerzen manifestieren. Die Myositiden können akut, subakut oder chronisch verlaufen. Sie ergreifen, je nach Typ und Schweregrad, einige oder fast alle Muskeln. Wir unterscheiden drei Formen:

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4 die Polymyositis (mit Dermatomyositis), 4 die Polymyalgia rheumatica, 4 den direkten Befall der Muskulatur durch Erreger.

34.8.1 Polymyositis und Dermatomyositis 3Epidemiologie. Die Krankheit befällt Frauen im Verhältnis 2:1 häufiger als Männer. Sie kann in jedem Lebensalter, auch schon in der frühen Kindheit auftreten, wird jedoch in 50% der Fälle zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr beobachtet. Polymyositis und Dermatomyositis sind Autoimmunkrankheiten. Viele Patienten haben zirkulierende Antikörper gegen Muskelgewebe. Es gibt auch Hinweise auf einen zellvermittelten Immunmechanismus. Dermatomyositis kann als paraneoplastisches Syndrom (7 Kap. 13.1) auftreten. Bei jeder rasch fortschreitenden Myopathie jenseits des 30. Lebensjahres muss man an Polymyositis denken. 3Symptome und Verlauf. Das Kardinalsymptom ist eine proximale, im Becken oder Schultergürtel einsetzende Muskelschwäche. Diese breitet sich im weiteren Verlauf nach kranial aus, so dass auch Nackenmuskeln (Kopf sinkt nach vorn) und bulbäre Muskeln (Schluckstörung, nasale Sprache) geschwächt bis gelähmt werden. Die äußeren Augenmuskeln werden nicht betroffen. Später bleiben auch distale Muskeln nicht verschont. Die befallenen Muskeln sind oft spontan und auf Druck schmerzhaft. Atrophie stellt sich nur in geringem Maße ein. Die Eigenreflexe sind meist gut, sogar sehr lebhaft auslösbar. Wenn bei diesen Symptomen charakteristische Hautveränderungen vorkommen, sprechen wir von Dermatomyositis. Die Hautsymptome bestehen in leichtem Ödem und bläulich-violetter Verfärbung, vor allem um die Augen, seitlich der Nase, an Hals und Schultern. In diesen Gebieten kommt es auch zu Pigmentverschiebungen und Teleangiektasien (. Abb. 34.7). Das Zahnfleisch ist häufig geschwollen. An den Akren kann ein RaynaudSyndrom auftreten. Ein wichtiges Charakteristikum der Polymyositis ist der fluktuierende Verlauf mit Verschlechterungen und Remissionen, bei denen die Muskulatur in wechselnder Verteilung ergriffen wird. 3Diagnostik. Die Diagnose der Dermatomyositis ist nicht schwer zu stellen, und auch die akute Polymyositis, die mit Schmerzen, Fieber und anderen Entzündungszeichen auftritt, bietet keine ernsten diagnostischen Probleme. Bei einem Teil der Patienten sind schon bei Diagnosestellung Malignome oder Kollagenosen bekannt. Laboruntersuchungen ergeben folgende Befunde: Die BSG ist praktisch immer beschleunigt. Im Blutbild findet sich eine Eosinophilie bei normaler Leukozytenzahl, im Serum ist IgG vermehrt. Die Aktivitäten von SGOT, CPK und Aldolase sind, wie bei jeder rasch verlaufenden Muskelkrankheit, im Serum erhöht.

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Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Die Diagnose wird durch Biopsie und EMG gesichert. Im EMG finden sich neben kleinen, polyphasischen (myopathischen) PmE auch immer wieder Fibrillationspotentiale und positive, scharfe Wellen. Dies zeigt eine Übererregbarkeit denervierter Muskelfasern an, die vermutlich auf Degeneration der Endaufzweigungen der motorischen Nervenfasern beruht. Bei der elektromyographischen Diagnostik von Myopathien gibt es aber falsch-positive und falsch-negative Befunde. Faszikulationen gehören nicht zum Bild der Myositis. Histologisch zeigen sich Degeneration der Muskelfasern, vorwiegend perivenöse Infiltrate von Plasmazellen, regenerative Reaktion verschiedenen Grades, später Faserverlust und Bindegewebsvermehrung. Die Veränderungen sind bei den verschiedenen Verlaufsformen graduell unterschiedlich ausgeprägt (. Abb. 34.8).

. Abb. 34.7. Dermatomyositis. Livide Erytheme an den Fingerstreckseiten der linken Hand. Zusätzlich Nadelfalzteleangiektasien. (D. Petzoldt, M. Richter, Heidelberg)

3Therapie und Verlauf 4 100 mg Prednisolon pro Tag im akuten Stadium, danach langsam abfallende Dosis für mehrere Monate. Gleichzeitig geben wir Azathioprin (z.B. Imurek®, 100–150 mg/Tag). Hierdurch kann das akute Stadium meist aufgehalten und das Fortschreiten der chronischen Entwicklung verlangsamt werden. Allerdings kommt es nicht mehr zur Regeneration in allen zugrunde gegangenen Muskelfasern, sondern nur zu einer »Defektheilung«.

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. Abb. 34.8a–c. Subakute Polymyositis. Biopsie aus dem M. rectus femoris eines 47-jährigen Mannes. Perivaskulär sind umschriebene, mononukleäre Zellinfiltrate zu erkennen (Pfeilköpfe). Einzelne Muskelfasern befinden sich im Stadium der Myophagie (Pfeile), andere sind irregulär

strukturiert als Zeichen der Regeneration oder sie sind atrophisch. a HE, ×240, b, c Semidünnschnitte: Paraphenylendiamin, b ×512, c ×569. (J. M. Schroeder, Aachen)

717 34.9 · Okuläre Myopathien

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Exkurs Differentialdiagnose zur Polymyalgie: Fibromyalgie und myofasziales Schmerzsyndrom Fibromyalgie Die Fibromyalgie ist eine umstrittenen Krankheitsentität (7 auch Kap. 36). Sie soll vom Schmerzcharakter der Polymyalgie ähnlich sein. Für die Fibromyalgie hat das American College of Rheumatology Klassifikationskriterien entwickelt die extrem weit gefasst sind. Das Syndrom tritt im mittleren Lebensalter auf. Immer finden sich weiche Druckpunkte. Die Laborauffälligkeiten fehlen. Weitere Anmerkungen folgen in 7 Kap. 36.3.

4 Aggressivere Therapieverfahren (Methotrexat, Ciclosporin,

Plasmapherese) sind bei therapieresistenten Formen immer häufiger notwendig. Die akute Polymyositis führt unbehandelt, in der Hälfte der Fälle innerhalb eines Jahres zum Tode. Todesursachen sind Atemlähmung oder Nierenversagen nach Art des Crush-Syndroms. Die chronischen Formen haben eine Krankheitsdauer von durchschnittlich 5–10 Jahren. Im Spätstadium kann sich auch eine myasthene Ermüdbarkeit der Muskeln entwickeln. Bei der tumorassoziierten Dermatomyositis entscheidet die Grundkrankheit über die Prognose. Tumor- oder kollagenoseassoziierte Poly- und Dermatomyositis haben grundsätzlich eine schlechtere Prognose. 34.8.2 Polymyalgia rheumatica Die Polymyalgia rheumatica ist eine akut auftretende, schmerzhafte Krankheit der Muskeln des Schulter- und Beckengürtels. Die Krankheit bildet mit der Arteriitis cranialis zusammen das Arteriitis-temporalis-Polymyalgie-Syndrom. Sie nimmt meist einen rezidivierenden Verlauf. 3Epidemiologie und Symptome. Die Krankheit betrifft Frauen häufiger als Männer (2/3: 1/3). Sie ist im Wesentlichen eine Erkrankung des höheren Alters, jenseits des 60. Lebensjahres. In Europa liegt die Prävalenz bei über 70-Jährigen bei 100–500 auf 100.000 Einwohnern. Die Inzidenz liegt bei ca. 11 auf 100.000 Einwohner pro Jahr und steigt auf über 800, wenn nur über 80Jährige berücksichtigt werden. Die Patienten klagen über Morgensteife und Schmerzen in den Muskeln des Schulter- und Beckengürtels. Die Schmerzen werden bei manchen Patienten durch Bewegung stärker, bei anderen besser. Die Gelenkbeweglichkeit ist eingeschränkt. Wie weit die Kraftminderung auf Schmerzhemmung beruht, ist schwer zu beurteilen. Die Reflexe sind erhalten. Sensibilitätsstörungen treten nicht auf. Die meisten Patienten haben ein allgemeines Krankheitsgefühl.

Polytopes myofasziales Schmerzsyndrom Dieses Syndrom ist ähnlich umstritten. Klinisch herausragender und diagnostisch entscheidender Untersuchungsbefund des myofaszialen Schmerzsyndroms sollen die tonusvermehrten Trigger-Punkte sein. Hierbei findet man eine lokale schmerzhafte Druckempfindlichkeit und einen fortgeleiteten Schmerz bei Palpation eines Trigger-Points. Auch hier fehlen eindeutige Laborbefunde.

3Diagnostik. Laborbefunde: Erhöhung von C-reaktivem Protein (CRP), α1- und α2-Globulinen sowie eine starke Beschleunigung der Blutsenkungsgeschwindigkeit. Bei der Elektromyographie findet man häufig ein normales Muster, da es sich nicht um eine Myopathie handelt. Auch die CPK-Aktivität ist nicht erhöht. In der Muskelbiopsie kann man eine Riesenzellarteriitis finden. Eine Muskelbiopsie ist nicht erforderlich 3Therapie 4 Behandlung mit Glukokortikosteroiden (initial über Wochen 30–50 mg/Tag Methylprednisolon, anschließend langsam bis zu einer Erhaltungsdosis ausschleichen) bessert die Schmerzen nach wenigen Tagen. 4 Dauerbehandlung über mehrere Jahre ist meist notwendig, anders als bei Polymyositis. 4 Azathioprin ist nicht wirksam. 34.8.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen Die Muskulatur kann von verschiedenen Erregern direkt befallen werden. Dies gilt für Viren, Bakterien, Amöben und Parasiten (HIV, Coxsackie, Trichinose, Zystizerkose). Die entsprechenden Krankheiten sind im Kapitel der bakteriellen, viralen und sonstigen Infektionen besprochen. Klinisch können leichte Myalgien, wie sie bei vielen Infektionen, besonders viralen Infektionen auftreten, die Beteiligung der Muskulatur anzeigen. In schwer verlaufenden Fällen kann eine Rhabdomyolyse entstehen. 34.9

Okuläre Myopathien

In den vorangegangenen Kapiteln wurde mehrfach erwähnt, dass die eine oder andere Myopathie auch zu Augenmuskellähmungen führt. Wegen der großen praktischen Bedeutung wird in diesem Abschnitt die Differentialdiagnose der okulären Myopathien zusammenfassend dargestellt. Die okuläre Myasthenie und die endokrine Ophthalmopathie bei Hyperthyreose wurden schon besprochen.

718

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Es gibt Kombinationen okulärer Muskelschwäche mit den verschiedensten neurologischen Symptomen, vor allem Spastik, Ataxie und Demenz. Sie werden unter dem Oberbegriff »Ophthalmoplegia plus« oder, wenn auch Pigmentdegeneration der Retina, kardiale Überleitungsstörungen und Eiweißvermehrung im Liquor bestehen, als Kearns-Sayre-Syndrom (7 Kap. 28.7.1, Mitochondriopathien), zusammengefasst. 34.9.1 Okuläre und okulopharyngeale

Muskeldystrophie Bei dieser autosomal-dominant erblichen Variante der progressiven Muskeldystrophie kommt es langsam fortschreitend, z.T. auch schubartig, zu einer Lähmung der äußeren Augenmuskeln, vor allem des M. rectus internus, weiter auch des M. levator palpebrae superior und des M. orbicularis oculi. Klinisch finden sich zunächst Ptose und Strabismus divergens ohne Doppelbilder, da bei der langsamen Entwicklung der Lähmungen Doppelbilder unterdrückt werden. Die inneren Augenmuskeln bleiben stets frei. Später entwickeln sich eine Facies myopathica und eine leichte Schwäche der vorderen Hals- und Schultermuskeln. Die Dystrophie greift nicht auf die Rumpf- und Beinmuskeln über. Das EMG der äußeren Augenmuskeln zeigt trotz hochgradiger Parese dichte elektrische Aktivität mit Interferenz und Reduktion der Amplituden. Die biochemischen Befunde sind oft unergiebig. Bei der okulopharyngealen Variante werden die im Namen bezeichneten Muskeln von der Dystrophie ergriffen. Eine Ptose als Ausdruck der Augenbeteiligung bei dystrophischer Myotonie wird nur dann differentialdiagnostische Probleme bieten, wenn es sich um eine abortive Form der Krankheit handelt, wie sie in der Verwandtschaft von Patienten mit dem Vollbild der Curschmann-Steinert-Krankheit vorkommt.

34 34.9.2 Okuläre Myositis Akute, exophthalmische Form Führend sind eine Protrusio bulbi, multiple Augenmuskelparesen mit Doppelbildern, Schmerzen hinter dem Bulbus, Chemosis und ein konjunktivaler Reizzustand, gelegentlich auch Uveitis und retrobulbäre Neuritis. Im Blutbild besteht meist Leukozytose, die BSG ist beschleunigt. Differentialdiagnostisch muss ein Neoplasma der Orbita durch Computertomographie ausgeschlossen werden. Behandelt wird mit Glukokortikoiden (Prednisolon 1 mg/kg KG über mehrere Wochen, langsam ausschleichend. Meist ist eine niedrigere Erhaltungsdosis notwendig. Chronische, oligosymptomatische Form Hierbei entwickeln sich langsam Ptosis und multiple Augenmuskellähmungen, oft ohne Doppelbilder. Ein konjunktivaler Reiz-

zustand ist nicht obligat. BSG und Leukozytenzahl können normal sein. Liegen gleichzeitig rheumatische Begleitkrankheiten vor, ist die Diagnose relativ leicht, sonst kann sie sehr schwierig sein, zumal einen das Elektromyogramm oft im Stich lässt. In manchen Fällen muss man die Diagnose ex juvantibus stellen und verordnet Glukokortikoide in hoher Dosierung. Differentialdiagnostisch muss bei allen akut oder subakut einsetzenden Augenmuskellähmungen an basale Aneurysmen oder Diabetes mellitus, subakut auftretende auf Keilbeinmeningeom, Optikusgliom und Orbitatumor gedacht werden. Nur nach Ausschluss aller dieser differentialdiagnostischen Möglichkeiten soll man sich mit der Diagnose einer idiopathischen Hirnnervenneuritis oder chronischen Augenmuskelmyositis zufrieden geben. Nicht zu den okulären Myopathien zu rechnen sind Fehlstellungen und Bewegungseinschränkungen der Bulbi bei angeborener Kernaplasie. Schon im frühen Kindesalter besteht eine Ptose oder eine einseitige, auch doppelseitige Abduzenslähmung, gelegentlich sind auch andere Hirnnerven betroffen. Die inneren Augenmuskeln bleiben immer frei. Doppelbilder werden verständlicherweise nicht gesehen. Das gelähmte Auge ist amblyop. 34.10 Einschlusskörperchenmyositis 3Epidemiologie. Die Einschlusskörperschenmyositis gilt als die häufigste sporadische Muskelkrankheit im Erwachsenenalter. Sie beginnt meist nach dem 50. Lebensjahr und betrifft Männer häufiger als Frauen. Die Symptome gleichen der einer Dermatomyositis, wenn auch die distale Muskulatur häufiger befallen wird. Eine Assoziation mit Malignomen ist nicht überzufällig vorhanden. Eine Variante, die gehäuft bei Parkinson-Patienten auftritt, ist die Einschlusskörperchenmyopathie der Rückenmuskulatur, die zum Bild der Kamptokormie führt (starkes vornüber gebeugt sein des Oberkörpers durch Parese der Rückenstrecker). Hier wirkt Cortison in einzelnen Fällen. 3Diagnostik. BSG und CRP sind in der Regel normal. Die CK ist leicht bis mäßig erhöht. Im EMG findet sich ein myopathisches Muster. Histologisch sind die Muskelfasern vakuolisiert und elektronenmikroskopisch finden sich die Namensgebenden Einschlüsse in Zellkernen und Zytoplasma. 3Therapie 4 Cortison ist in der Regel unwirksam, wird aber bei der Kamptokormie immer wieder eingesetzt. 4 Es gibt Berichte über eine erfolgreiche Behandlung mit Immunglobulinen. 34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur Hierunter zählen die in der Sportmedizin und Orthopädie abzuhandelnden Muskelzerrungen, Muskelfaserrisse und kompletten

719 34.11 · Mechanische Störungen der Muskulatur

Muskelrisse. Verwandt ist auch der Sehnenabriss. Von besonderer differentialdiagnostischer Bedeutung (zur Wurzelläsion C5) ist der Bizepssehnenabriss, bei dem im EMG bei fehlender Muskelmechanik auf das Ellenbogengelenk ein volles Aktivitätsmuster abgeleitet werden kann. Kompartmentsyndrom

So bezeichnet man die Einengung von Muskeln durch Volumenzunahme, meist durch Blutung, innerhalb einer durch enge Muskelfaszien und Knochen präformierten Muskelloge. Am häufigsten finden wir ein Kompartmentsyndrom in der prätibialen Muskulatur des Unterschenkels (Tibialis-anterior-Syndrom). Sportverletzungen oder sehr starke sportliche Aktivität ohne direkte Verletzung, aber auch Entzündungen oder Thrombose, können die Ursache sein. Natürlich kann das Kompartmentsyndrom auch zusammen mit anderen, ausgedehnteren Läsionen

des Unterschenkels (Unterschenkelbruch) auftreten. Andere Kompartmentsyndrome (Unterarm mit Medianusläsion, Rotatoren des Schultergelenks mit Plexusläsion) sind selten. 3Symptome. Komplette Bewegungsunfähigkeit, starker Schmerz und massive Härte und Spannung der Muskulatur weisen den Weg. Im EMG findet man keine Spontanaktivität, aber auch keine Willküraktivität. Der R. profundus des N. peronaeus ist durch Druck und Ischämie gefährdet, Sensibilitätsstörungen können die Differentialdiagnose zur Peronaeuslähmung erschweren. Im Gegensatz zur Peronaeuslähmung findet man wegen der Tonuserhöhung aber keinen Fallfuß. 3Therapie. Nur die sofortige Faszienspaltung innerhalb des ersten Tages rettet den Muskel und die Nervenfasern, die durch den Druckanstieg sekundär irreversibel geschädigt werden können.

In Kürze Progressive Muskeldystrophien Erbliche, chronisch fortschreitende Krankheiten der quergestreiften Muskulatur mit Schwäche und später Atrophie der Willkürmuskulatur. Prävalenz: 5/100.000 Einwohner, v.a. Männer.

Myotonia congenita. Symptome: Verzögerte motorische Entwicklung, generalisierte Myotonie und Hypertrophie der Willkürmuskulatur, Skoliose. Keine Therapie, da gutartiger Verlauf.

Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform. Symptome: Verzögerte bis stillstehende motorische Entwicklung, Paresen der Beckengürtel-, Bein-, Schulter-, Armmuskeln, hormonelle Störungen. Betrifft v.a. Männer. Tod meist vor 25. Lebensjahr durch Herzversagen, interkurrenten Infekt der Atmungsorgane oder Marasmus. Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform. Symptome setzen v.a. bei Jungen zwischen 6–20 J. ein: Parese der Rückenstrecker, Watschelgang, Schwäche der Oberschenkelhalsmuskulatur. Keine kausale Therapie, Rollstuhl, im Schultergürtel beginnende Dystrophie, schwere motorische Behinderungen, verkürzte Lebenserwartung.

Dystrophische Myotonie. Symptome: u.a. Innenohrschwerhörigkeit, Stirnglatze, Katarakt, Hodenatrophie, Ovarialinsuffizienz, kardiale Symptome, Facies myopathica, halb geöffneter Mund, schwache, dystrophische Muskulatur. Medikamentöse Therapie, Krankengymnastik.

Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie. Symptome: Dystrophie der proximalen Arm- und Schultermuskulatur, Beeinträchtigung der mimischen Muskulatur, schlaffe Gesichtszüge, leichte Ptose, fehlende Faltenbildung der Stirn, schwacher Augen- und Mundschluss, Parese der Beine ab 30. Lebensjahr. Gutartiger Verlauf.

Periodische (dyskaliämische) Lähmungen Subakute, schlaffe Lähmungen v.a. der Extremitäten über Stunden bis Tage, danach Rückbildung. Leitsymptome: Langsam progrediente Myopathie v.a. in proximaler Extremitätenmuskulatur und Hüft- und Schultergürtel, im fortgeschrittenen Stadium durch Muskelschwäche gehunfähig. Hypokaliämische Lähmung. Symptome: Schweißausbrüche, Schwere, Missempfindungen in Gliedmaßen; Lähmungen ab 20. Lebensjahr, anfangs in Abständen, später häufiger und schwerer, danach spontane Besserung. Therapie: Kaliumzufuhr im Anfall, salz- und kohlehydratarme Diät.

Myotonien Leitsymptome: Myotone Funktionsstörung der Willkürmuskulatur der Extremitäten lässt bei wiederholter Kontraktion nach, Muskelsteifigkeit.

6

34

Normokaliämische, periodische Lähmung. Symptome treten in erster Lebensdekade auf: Lähmungen v.a. während des Nachtschlafs und in frühen Morgenstunden, in Ruhe nach körperlicher Anstrengung, nach Fasten oder Alkoholgenuss, in Kälte, bei

720

Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

seelischer Erregung. Therapie: NaCl-Zufuhr, kohlenhydratarme Diät als Prophylaxe. Hyperkaliämische, periodische Lähmung. Symptome treten vor 20. Lebensjahr auf: Dauer der Lähmungsanfälle ≤1 h; Kälte, Ruhe nach körperlicher Anstrengung, Fasten wirken provozierend, leichte körperliche Bewegung, Nahrungsaufnahme verhindert oder verzögert Auftreten. Medikamentöse Therapie.

Okuläre Myasthenie. Symptome: Im Initialstadium ein- oder doppelseitige Ptose, Doppelbilder, Befall weiterer Augenmuskeln bei längerem Bestehen. Generalisierte Myasthenie. Symptome: Erschlaffen der Gesichtszüge zur Facies myopathica, in schweren Fällen kann Masseteren nicht mehr tonisch angespannt werden, Ausweitung der Schwäche auf Rumpf und Extremitäten. Immunsuppressive, medikamentöse Therapie.

Metabolische Myopathien Belastungsabhängige Muskelschwäche durch aufgebrauchten Energiespeicher.

Myasthene Krise. Symptome: Lebensbedrohliche Verstärkung der myasthenen Symptomatik mit Beteiligung der Schluck- und Atemmuskulatur, Ptose, Tachykardie, Obstipation. Therapie: Intubation, Beatmung, medikamentöse Therapie.

Störungen des Glykogenhaushaltes. Symptome des Phosphorylasemangels: Im Jugendalter beginnende belastungsabhängige Muskelschmerzen und -schwäche, in Ruhe rasch reversibel. Keine kausale Therapie, Übungsprogramm mit aerober Belastung.

Cholinerge Krise. Symptome: Muskulaturfaszikulation, warme, gerötete Haut, Bradykardie, Diarrhö. Differentialdiagnose: Polymyositis, Hyperthyreose, episodische Lähmungen.

Andere myasthene Syndrome Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechselstörung. Muskulärer Karnitinmangel tritt in der Jugend auf, kardiale Mitbeteiligung. Therapie: Fettarme Diät, orale L-CarnitinSubstitution.

Endokrine Myopathien Myopathie bei Schilddrüsenkrankheiten. Hypothyreose: Verminderter Proteinmetabolismus bewirkt Abnahme der Kontraktionsfähigkeit der Muskelfasern. Hyperthyreose: Abbau der Muskelproteine führt zur generalisierten Muskelschwäche. Endokrine Orbitopathie bei Hyperthyreose: Protrusio bulbi mit Augenmuskelparesen.

34

Neugeborenen-Myasthenie. Trinkschwäche, kraftlose Atmung, geringer Spontanmotorik, klingt unter Therapie wieder ab. Medikamentös ausgelöste oder verstärkte Myasthenie nach Antibiotika-, D-Penicillamin-, Antirheumatika-, Antikonvulsiva-, Psychopharmakaeinnahme.

Entzündliche Muskelkrankheiten

Toxische Myopathien

Polymyositis und Dermatomyositis. Symptome: Akute Polymyositis mit Schmerzen, Fieber, proximale, im Becken oder Schultergürtel einsetzende Muskelschwäche, später Schluckstörung; Hautveränderungen wie Ödembildung, bläulich-violette Verfärbung. Medikamentöse Therapie. Unbehandelt folgt Tod innerhalb eines Jahres.

Maligne Hyperthermie. Ausgelöst durch verwendete Substanzen bei der Narkose. Symptome: Tachykardie, Blutdruckabfall, Azidose, Anstieg der Körpertemperatur. Medikamentöse Therapie, externe Kühlung beim manifesten Hyperthermiesyndrom.

Polymyalgia rheumatica. Symptome: v.a. bei Frauen >60 J.: akut auftretende Schmerzen in Muskeln des Schulter- und Beckengürtels, eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit. Lebenslang medikamentöse Therapie.

Malignes Neuroleptikasyndrom. Symptomatik wie oben, aber andere Auslösung: Es kommt zur Blockade von zentralen Dopaminrezeptoren. Medikamentöse Therapie.

Erregerbedingte Muskelentzündungen. Muskulatur wird von verschiedenen Erregern wie Viren, Bakterien, Amöben und Parasiten direkt befallen.

Myasthenia gravis pseudoparalytica

Okuläre Myopathien

Abnorme Ermüdbarkeit der Willkürmuskulatur unter muskulärer Belastung, Rückbildung beim Ruhen der betroffenen Muskeln. Prävalenz: 4–7/100.000 Einwohner.

Okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie. Symptome: Langsam fortschreitende Lähmung der äußeren Augenmuskeln, Ptose, Strabismus divergens ohne Doppelbilder, Facies

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721 34.11 · Mechanische Störungen der Muskulatur

myopathica, leichte Schwäche der vorderen Hals- und Schultermuskeln. Okuläre Myositis. Akute, exophthalmische Form mit Schmerzen hinter dem Bulbus, Protrusio bulbi, multiplen Augenmuskelparesen mit Doppelbildern, Chemosis, konjunktivalem Reizzustand. Chronische, oligosymptomatische Form mit Ptosis, multiplen Augenmuskellähmungen.

Einschlusskörperchenmyositis Sporadische Muskelkrankheit mit Hautveränderungen v.a. bei Männern >50 Jahre.

Mechanische Störungen der Muskulatur Kompartmentsyndrom. Symptome: Komplette Bewegungsunfähigkeit, starker Schmerz, massive Muskelspannung durch starke sportliche Aktivität mit und ohne direkte Verletzung, durch Entzündungen oder Thrombose. Therapie: Sofortige Faszienspaltung innerhalb des ersten Tages zur Muskel- und Faserrettung.

34

X Andere neurologische Störungen 35

Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems – 724

36

Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert – 747

35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems 35.1 Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung – 725 35.1.1 Zentrale Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirnschädigung 35.1.2 Minimale frühkindliche Hirnschädigung – 728

35.2 Hydrozephalus und Arachnoidalzysten – 728 35.2.1 Hydrozephalus – 728 35.2.2 Arachnoidalzysten – 731

35.3 Syringomyelie – 732 35.4 Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen) – 736 35.4.1 Neurofibromatose (NF)

– 736

35.5 Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube – 738 35.5.1 35.5.2 35.5.3 35.5.4 35.5.5

Basiläre Impression oder Invagination – 738 Atlasassimilation – 740 Klippel-Feil-Syndrom – 740 Chiari-Fehlbildungen – 741 Dandy-Walker-Syndrom – 742

35.6 Fehlbildungen der Wirbelsäule – 742 35.6.1 Spina bifida – 742 35.6.2 Spondylolisthesis – 743 35.6.3 Lumbalisation und Sakralisation

– 743

– 727

725 35.1 · Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung

> > Einleitung Entwicklungsstörungen des Nervensystems kommen genetisch, als Folge von intrauterinen Infektionen, metabolischen Funktionsstörungen, und, heute am häufigsten, als Folge von Intoxikationen, der Überdosierung von Medikamenten oder durch Alkohol zustande. Ein weiterer wichtiger Schädigungsmechanismus sind prä- und perinatale Sauerstoffmangelzustände und Infektionen, die auch ohne zugrunde liegende Fehlbildungen des Hirngewebes zu psychomotorischen Entwicklungsverzögerungen führen können. Die größte Risikogruppe sind hier Früh- und Mangelgeborene. Die Alkoholembryopathie spielt eine sehr wichtige Rolle: Übermäßiger, aber auch schon mäßiger Alkoholgenuss, nicht selten verbunden mit Rauchen, führt zu embryonalen Schädigungen, die sich nicht nur als komplexe Fehlbildungen großen Ausmaßes, sondern auch als Summation geringfügiger Entwicklungsstörungen manifestieren. Die Zufuhr von über 20 g reinem Alkohol pro Tag in der Schwangerschaft führt zu messbaren Störungen. Die ausgeprägte Alkoholembryopathie mit geistiger Retardierung, Epikanthus, Herzfehlern und erheblichem Minderwuchs kommt etwa bei 1 von 500 Neugeborenen vor. Bei diesen Kindern ist die Intelligenz deutlich herabgesetzt, und das Geburtsgewicht liegt fast immer unter 2500 g. Von wahrscheinlich größerer sozialer Bedeutung ist die leicht verlaufende Alkoholembryopathie, bei der die Kinder hyperaktiv, aufmerksamkeitsgestört und intellektuell leichtgradig minderbegabt sind. Die Kinder sind nicht immer auf den ersten Blick als geschädigt zu erkennen. Kopfumfang, Längenwachstum und Gewicht sind aber im Vergleich zu gesunden Kindern praktisch immer infolge eines intrauterinen Minderwuchses retardiert. Metabolische Krankheiten können verschiedene Entwicklungsstörungen verursachen. Die vulnerabelste Perioden sind das erste und zweite Trimenon. Durch das eingeführte Neugeborenenscreening auf Phenylketonurie (PKU) und einer phenylalaninarmen Diät der Kinder kann einer progressiven Hirnschädigung vorgebeugt werden. Durch einen Folsäuremangel kann es zu Neuralrohrdefekten kommen. Frauen wird daher schon präkonzeptionell eine regelmäßige Substitution mit Folsäure empfohlen.

35.1

Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung

Unter diesen Bezeichnungen, die bewusst unscharf gehalten sind, fassen wir die Endzustände einer größeren Gruppe von Krankheiten zusammen, die das Zentralnervensystem während seiner Entwicklung und Reifung getroffen haben. Eine Residualepilepsie kann sekundär zu einer fortschreitenden Hirnschädigung und Verschlechterung des körperlichen und psychischen Zustands der Betroffenen führen. Die Folgen von Chromosomenanomalien und manchen metabolischen Krankheiten gehören in die Neuropädiatrie und werden wegen ihrer Seltenheit und wegen der speziellen pädiatrischen Kenntnisse, die zur genetischen Beratung der Eltern ver-

35

langt werden, nicht besprochen. Ebenso wenig kann die pränatale Diagnostik hier erörtert werden. Wir unterscheiden 4 pränatale Schädigungen, 4 perinatale Schädigungen und 4 postnatale frühkindliche Hirnschädigungen. Pränatale Schädigungen 3Ursachen. Die häufigste Ursache ist Sauerstoffmangel des embryonalen oder fetalen Nervensystems. Er kommt durch allgemeine Kreislaufstörungen der Mutter, Beeinträchtigung des Plazentarkreislaufs oder auch Nabelschnurumschlingung zustande. Weiter können Infektionskrankheiten der Mutter zu Embryopathien führen, die im Einzelnen in den Lehrbüchern der Kinderheilkunde beschrieben sind. In erster Linie kommen hier Virusinfektionen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten in Frage, selbst wenn sie klinisch inapparent verlaufen. Häufiger als allgemein bekannt, ist die angeborene, nekrotisierende Toxoplasmoseenzephalitis (7 Kap. 20.1.1). Zu den intrauterinen Schädigungen werden auch die Folgen der heute sehr seltenen fetalen Erythroblastose bei Rh-Inkompatibilität mit Icterus gravis neonatorum gerechnet. Dabei wird das Hirnparenchym durch Hyperbilirubinämie geschädigt. Makroskopisch zeigt das ganze Gehirn eine leicht gelbliche Färbung. Mikroskopisch sind besonders die Basalganglien (Kernikterus), der Nucl. dentatus des Kleinhirns und die Kerne am Boden der Rautengrube betroffen. Leider nicht selten sind die Entwicklungsstörungen, die durch Alkohol-, Drogen- und Nikotinmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft entstehen. Die Alkoholembryopathie (fetales Alkoholsyndrom) ist heute die häufigste Embryopathie. Viele Medikamente sind in hohen Dosen teratogen. Die Behandlung der Mutter mit Antiepileptika verdoppelt das spontane Risiko, ein Kind mit Missbildungen zu bekommen. Dies gilt besonders für Phenytoin und Barbiturate. 3Symptome. Die Kinder leiden unter 4 Mikrozephalie, 4 psychomotorischer Retardierung, 4 Konzentrationsstörungen und 4 Hyperaktivität, verbunden mit anderen Fehlbildungen (Herz, Skelett, ableitende Harnwege). Perinatale Hirnschädigungen Unter der Geburt ist das Gehirn in erster Linie durch venöse und arterielle Zirkulationsstörungen gefährdet. Dabei kommt es durch Stauung in den großen Hirnvenen und im Sinus zu ödematöser Durchtränkung des Gewebes und Stauungsblutungen. Die Folge sind ausgedehnte oder herdförmige Nekrosen vor allem im Marklager beider Hemisphären und in den Stammganglien. Thrombosen kleiner Arterien in der Hirnrinde führen zur selektiven Parenchymnekrose, d.h., das Nervengewebe geht zu-

726

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Facharzt

Schädigungsmuster In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Schädigung in der Hirnentwicklung kommt es zu Aborten, Fehlbildungen (z.B. Polymikrogyrie bei kongenitaler Zytomegalievirusinfektion, Balkenhypogenesie bei fetalem Alkoholsyndrom) oder lokalisierten Gewebsschäden. Bei Letzteren ist es oft schwierig, eine Ätiologie festzustellen, da auslösende Faktoren bevorzugt die Hirnanteile schädigen, in denen gerade die höchste metabolische Aktivität herrscht, für die eine Drosselung der Energieversorgung also den lokalen Stoffwechsel am stärksten schädigt. Ein Beispiel ist die diffuse hypoxisch-ischämische Schädigung des Hirngewebes, die in Abhängigkeit vom Schweregrad der Hypotension, der Hirnreife und der Dauer zu unterschiedlichen Schädigungsmustern führt und bereits in utero auftreten kann. Bei Frühgeborenen bis etwa zur 34. Schwangerschaftswoche tritt eine Schädigung der periventrikulär gelegenen germinativen Matrix mit hypoxischer Schädigung, Stauungsblutungen, z.T. intraventrikulären Einblutungen, dem Bild einer periventrikulären Leukomalazie (PVL) auf. Bei schwerer Hypotension können auch die tiefe graue Substanz von Thalamus, Basalganglien und Hirnstamm miteinbezogen werden. Abhängig vom Ausprägungs- und Reifungsgrad ist zunächst die weiße, dann auch die graue Substanz bei diffuser hypoxisch-ischämischer Schädigung betroffen. Ein Status marmoratus (narbige Herde in den Basalganglien) ist beim Kind eher selten. Defekte werden abhängig vom Entstehungszeitpunkt als Schizenzepahlie (auch agenetische Porenzephalie), Porenzephalie (auch enzephaloklastische Porenzephalotpathie) und Enzephalomalazie bezeichnet.

35

grunde, während die Glia erhalten bleibt. Aber auch perinatale Verschlüsse der großen Arterien mit Ausbildung von Territorialinfarkten, die später zu liquorgefüllten Zysten mit Ventrikelerweiterung werden, sind möglich. Intrazerebrale Blutungen und Ventrikeltamponaden sind selten und werden oft nicht überlebt. Nach geburtstraumatischen Subarachnoidalblutungen bilden sich leicht Verwachsungen der Meningen, die die Liquorzirkulation beeinträchtigen, so dass ein Hydrocephalus arresorptivus entsteht. Postnatale frühkindliche Hirnschädigungen 3Ursachen. Sie entstehen vor allem durch bakterielle Infektionskrankheiten des Säuglings und Kleinkinds. Dabei kommt es recht häufig zu arteriellen Embolien und arteriellen oder venösen Thrombosen. Diese führen zu zystischen Erweichungen im Versorgungsgebiet einer der größeren Hirnarterien oder zu Stauungsblutungen, Purpura cerebri, Hirnödem und sekundären Erweichungen im Abflussgebiet der größeren Hirnvenen und Sinus.

Der Schizenzephalie liegt der Untergang eines Teils der germinativen Matrix und der umgebenden Hirnsubstanz vor Abschluss der Entwicklung der Großhirnhemisphären zugrunde. Die Höhlenbildung erstreckt sich vom Seitenventrikel bis zur Hirnoberfläche und ist am Rand mit grauer Substanz ausgekleidet. Porenzephale Defekte entstehen später, aber noch zu einem Zeitpunkt, in dem die Schädigung noch keine reaktive Astrogliaproliferation triggern kann (ca. bis 29. SSW). Erst in der Spätschwangerschaft, peri- und postnatal ist die Reifung des Glia soweit fortgeschritten, dass Defekte mit perifokalen Gliosen und narbigen Septierungen entstehen. Zu eine ähnlichem Schädigungsmuster führen allerdings auch intrauterine Infektionen oder eine begleitende Ventrikulitis bei Meningitis. Bei der hypoxisch-ischämischen Schädigung reifer Neugeborener werden bei mäßiger Hypotension die parasagittale weiße Substanz der hämodynamischen Grenzzone und bei stärkerer Ausprägung der Cortex der Zentralregion sowie die tiefe graue Substanz geschädigt. Auch beim Säugling (>6 Monate) manifestiert sich die Noxe zunächst als parasagittale Grenzzonenisschämie, in schwereren Fällen als Ischämie der Basalganglien und diffuse kortikale Nekrosen. Lokalisierte, individuellen Versorgungsgebieten von Arterien zuzuordnende Infarkte sind im Kindesalter wesentlich seltener als bei Erwachsenen und in ca. 50% der Fälle bleibt die Ätiologie unklar. Neben kardialen Erkrankungen sind eine veränderte Gerinnungsneigung bei Hämoglobinopathien und Koagulopathien, aber auch Infektionen, Dehydratation und Stoffwechselerkrankungen ursächlich.

Akute, enterotoxische Krankheitszustände können das Gehirn durch Hypoxie, Toxine und metabolische Störung schädigen, chronische Ernährungsstörungen (Dystrophie) durch ein Hirnödem mit sekundärer Ödemnekrose. Bei angeborenen, zerebralen Gefäßfehlbildungen wird die betroffene Hirnregion hypoxisch geschädigt. Die infektiöse, virale oder parainfektiöse Enzephalitis tritt als Ursache der frühkindlichen Hirnschädigung quantitativ ganz in den Hintergrund. Impfschäden sind heute sehr selten. 3Symptome. Da die Funktionen des Zentralnervensystems in den ersten Lebensjahren noch wenig differenziert sind, ist das klinische Bild dieser verschiedenartigen Hirnschädigungen einförmig. In schweren Fällen findet sich die Trias 4 Bewegungsstörung, 4 geistige Behinderung mit Verhaltensstörung und 4 Anfälle.

727 35.1 · Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung

Bei geringerer Ausprägung einer infantilen Hemiplegie achtet man auf Differenzen in Länge und Umfang der Extremitäten, Überstreckbarkeit der Finger und Asymmetrien des Schädels. Der Verdacht auf zerebrale Bewegungsstörung liegt vor, wenn ein Kind 4 asymmetrisch liegt, schlaff ist und schlecht trinkt (floppy infant), 4 die Hände zu Fäusten verkrampft hält, 4 keinen Saug- oder Greifreflex hat, 4 in Rückenlage opisthotonisch den Kopf in das Kissen drückt, 4 in Bauchlage den Kopf nicht zur Seite wendet, um frei atmen zu können, 4 beim passiven Aufrichten den Kopf nicht wenigstens für kurze Zeit senkrecht hält, 4 keine reflektorischen Schreitbewegungen macht, wenn es passiv so gehalten wird, dass die Füße eine Unterlage berühren. Einzelheiten der physiologischen und pathologischen Reflexe des Säuglingsalters, nach denen man die Diagnose etwa im 4. Monat sichern kann, s. Lehrbücher der Kinderneurologie. 35.1.1 Zentrale Bewegungsstörungen

nach frühkindlicher Hirnschädigung Spastische Parese (spastische Diplegie) Die spastische Parese tritt bei doppelseitigen, meist perinatalen Läsionen vor allem als spastische Diplegie der Beine auf (LittleKrankheit). Dabei ist die spastische Tonuserhöhung stärker ausgeprägt als die Lähmung. Betroffen sind vor allem die Adduktoren der Beine, die Strecker im Kniegelenk und die Plantarflektoren des Fußes. Schon in der Ruhe sind die Oberschenkel einwärts rotiert und die Knie aneinandergepresst oder die Oberschenkel überkreuzt, und es besteht ein doppelseitiger Spitzfuß. Die Gangstörung der Kranken ist so charakteristisch, dass sie oft die Diagnose auf den ersten Blick gestattet: Die Patienten gehen fast auf den Zehenspitzen und müssen die Beine mühsam aneinander vorbeischieben. Die Intelligenz ist meist normal. Anfälle gehören nicht zum klinischen Bild. Mit der Altersinvolution des Gehirns verschlechtert sich die Paraspastik und damit die Gangstörung. Ohne Kenntnis der Vorgeschichte nimmt man dann leicht irrtümlich einen progredienten Prozess, z. B. einen Rückenmarktumor, an, besonders wenn die Symptome vorher nicht ausgeprägt waren und nie als solche diagnostiziert wurden. 3Diagnostik. In der MRT findet man häufig auch bei klinisch auffälligen Kindern keine zerebralen Substanzdefekte. Abhängig vom Muster der Schädigung (s.o.) findet man beispielsweise Residuen einer PVL mit häufig parietookzipital betonten periventrikulären Gliosen, einem Defizit der weißen Substanz und verschmächtigtem hinteren Balkenanteil sowie irregulärer Kontur

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der e vacuo erweiterten Hinterhörner oder bei Schädigung zu anderen Zeitpunkten der Entwicklung die oben beschriebenen Muster von Defekten und/oder Gliosen. Da sich die Schädelkalotte der Hirnoberfläche anpasst, entsteht der Eindruck der sog. Hemiatrophia cerebri mit einseitiger Ventrikelerweiterung. Bei spastischer Diplegie und Athétose double infolge Kernikterus ist das Computertomogramm fast immer normal. Infantile Hemiplegie Bei der meist pränatal entstandenen, infantilen Hemiplegie bleiben die gelähmten Gliedmaßen im Längen- und Dickenwachstum zurück. Die Finger sind in den Gelenken überstreckbar und haben oft bereits in der Ruhe die sog. Bajonettstellung mit leichter Beugung im Grundgelenk und Überstreckung in den Interphalangealgelenken. Die zentrale Bewegungsstörung ist so erheblich, dass die betroffene Hand nicht als Greifwerkzeug dienen kann und das Gehen durch Mitbewegungen schwer behindert ist. Bei der häufigen Kombination mit Athetose sind die Kinder völlig hilflos, da jeder Versuch einer Bewegung die extrapyramidalen Hyperkinesen, dystonen Muskelverspannungen und pathologischen Stellreflexe in Gang setzt. Die Hemiplegie ist häufig von Sprechstörungen (Stottern, Dysarthrie), jedoch nicht von Aphasie begleitet. Die neuropsychologischen Ausfälle sind meist erstaunlich gering, allenfalls findet man eine Schreib-LeseSchwäche. Oft haben die Kinder fokale oder generalisierte Anfälle. Extrapyramidale Bewegungsstörungen Extrapyramidale Bewegungsstörungen zeigen das Bild der Choreoathetose oder Athétose double. Diese findet sich nach diffuser, hypoxischer Schädigung der Basalganglien, besonders bei den Kindern, die den Kernikterus überleben. Andere Ursachen sind neurometabolische Erkrankungen. Die Intelligenz ist oft weit weniger gestört, als es den Anschein hat. Intelligenzdefekte und Verhaltensstörungen (Debilität, psychomotorische Unruhe und Aggressivität) beruhen zum Teil auch darauf, dass die schwere, motorische Beeinträchtigung die Entfaltung der Intelligenz dieser Kinder behindert. Anfälle können in jeder Form, fokal oder generalisiert, auftreten. Sie sind oft durch antiepileptische Medikamente nicht befriedigend zu behandeln. 3Therapie. Die orthopädischen und heilpädagogischen Behandlungsmaßnahmen werden hier nicht erörtert. Die antiepileptische Behandlung entspricht den Regeln, die in Kap. 14 beschrieben sind. > Symptom-Trias der perinatalen Hirnschädigungen: 4 Pyramidale oder extrapyramidale Bewegungs-

störungen 4 Intelligenzdefekte und Verhaltensstörungen 4 Anfälle

728

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Exkurs Krankengymnastik bei perinataler Hirnschädigung Eine sehr große Bedeutung hat die Krankengymnastik nach der Bobath- und nach der Vojta-Methode. Sie muss bereits vor Vollendung des ersten Lebensjahres einsetzen. Da die Hirnschädigung ein nicht ausgereiftes Gehirn betroffen hat, muss die krankengymnastische Behandlung völlig anders sein als beim Erwachsenen. Das Ziel ist die Entwicklung von normalen Haltungen und Bewegungsabläufen bei Normalisierung des Muskeltonus im ganzen Körper. Da die Lähmungen und Hyperkinesen zum großen Teil auf primitiven, pathologischen Refle-

35.1.2 Minimale frühkindliche Hirnschädigung Diese Störung wird auch mit der Abkürzung MCD (für minimale zerebrale Dysfunktion) belegt, die von Psychologen und Pädagogen gerne benutzt wird. 3Symptome. Diese Kinder, die meist eine Risikogeburt hatten, fallen zunächst nur durch leichtes, motorisches Ungeschick auf, bis sie in der Schule versagen, sobald dort die Anforderungen gesteigert werden. Dabei ist ihr Intelligenzquotient nicht merklich erniedrigt, jedoch sind die Kinder motorisch unruhig und haben Konzentrationsstörungen. Neurologisch fällt auf, dass sie in bestimmten motorischen Leistungen hinter ihrem Lebensalter zurückgeblieben sind: Einbeinstand, Einbeinhüpfen, Gleichgewichtsregulation beim Seiltänzergang, Klavierspielbewegungen mit den Fingern. Die Handschrift ist unregelmäßig und verzittert. Das Sprechen ist oft mangelhaft artikuliert, überhastet oder verlangsamt. Die psychologische Testuntersuchung deckt oft auch perzeptive Störungen auf. Manchmal liegt eine Legasthenie vor.

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3Diagnostik. Das EEG trägt nur wenig zur Diagnose bei. Das MRT, das zum Ausschluss anderer Ursachen durchgeführt wird, ist normal. CTs sollten aus strahlenhygienischen Gründen nicht durchgeführt werden. 3Prognose. Wenn sich Familie und Schule auf die Behinderung und Reifungsverzögerung der Kinder einstellen, ist die langfristige Prognose nicht ungünstig. 35.2

Hydrozephalus und Arachnoidalzysten

35.2.1 Hydrozephalus 3Definitionen. Hydrozephalus bedeutet: Vergrößerung der Liquorräume auf Kosten der Hirnsubstanz. Nach der Form unterscheidet man den Hydrocephalus externus, bei dem die äußeren Liquorräume erweitert sind, vom Hydrocephalus internus, bei dem die Ventrikel erweitert sind. Beide Formen sind häufig kombiniert.

xen beruhen, versucht man, die störenden assoziierten Bewegungen und Abnormitäten im Muskeltonus unter Ausnutzung der verschiedenen Stell- und Stützreaktionen zu hemmen. Das Kind lernt gleichsam, die physiologische motorische Entwicklung nachzuholen. Jeder motorische Entwicklungsschritt wird erst dann erworben, wenn der vorangehende halbwegs beherrscht wird, so dass die Kinder die erlernten, normalen Bewegungen und Haltungen auch außerhalb der Übungssituation beim Spielen und den Verrichtungen des täglichen Lebens anwenden.

Nach der Ursache werden zwei große Gruppen unterschieden: 4 Hydrocephalus e vacuo: Dies ist eine kompensatorische Liquorvermehrung bei Schwund des Hirngewebes. Sie führt nicht zum Hirndruck. 4 Hydrozephalus durch Liquorzirkulationsstörungen: Hier liegt ein Missverhältnis zwischen Produktion und Resorption des Liquors vor. Entsprechend der Dynamik von Liquorproduktion und -resorption unterscheiden wir drei Formen des Hydrozephalus: 5 Hydrocephalus occlusus: Blockade des Liquorabflusses auf Höhe eines Foramen Monroi, des Aquädukts oder der Foramina Luschkae und Magendii, 5 Hydrocephalus malresorptivus/arresorptivus: Störung der Resorption des Liquors in den Pacchioni-Granulationen des Subarachnoidalraums über den Hemisphären, 5 Hypersekretionshydrozephalus: Vermehrte Liquorproduktion (selten). Diese drei Formen des Hydrozephalus sind durch eine mehr oder weniger ausgeprägte, kontinuierliche oder diskontinuierliche Erhöhung des intrakraniellen Drucks gekennzeichnet. Beim frühkindlichen Hydrozephalus kann der Schädeldurchmesser erheblich zunehmen, da hier die Wachstumsfugen der Schädelknochen noch nicht geschlossen sind. Manchmal bildet sich ein stabiles Gleichgewicht aus mit fortbestehender Ventrikelerweiterung, aber ohne klinische Progredienz und ohne Druckerhöhung. Die Umkehr der Flussdynamik des Liquors ohne Strömungsbehinderung und mit nur geringer Druckzunahme wird als Hydrocephalus communicans oder Normaldruckhydrozephalus bezeichnet. > Drei Arten des Hydrozephalus sind von klinischer

Bedeutung: Der Verschlusshydrozephalus (Hydrocephalus occlusus), der Hydrozephalus bei Liquorresorptionsstörung (Hydrocephalus malresorptivus) und der kommunizierende Hydrozephalus (auch als Normaldruckhydrozephalus bezeichnet). Die Klinik des Hydrozephalus kann sich akut, subakut und chronisch manifestieren.

729 35.2 · Hydrozephalus und Arachnoidalzysten

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Exkurs Physiologie der Liquorzirkulation Der Liquor wird hauptsächlich von den Plexus chorioidei sezerniert. Er fließt von den Seitenventrikeln durch den III. Ventrikel und den Aquädukt in den IV. Ventrikel, den er durch die beiden Foramina Luschkae und das Foramen Magendii verlässt. Über die basalen Zisternen gelangt er in den Subarachnoidalraum

Hydrocephalus occlusus Er entsteht bei 4 Behinderung des Liquorabflusses aus einem oder beiden Seitenventrikeln (Foramen-Monroi-Blockade), 4 durch Zysten im III. Ventrikel, die wie ein Ventil wirken können (. Abb. 35.2) 4 durch anlagebedingte oder entzündlich verursachte Aquäduktstenose oder -verschluss oder 4 durch Blockade der Foramina Magendii und Luschkae auf Höhe des IV. Ventrikels. Aquäduktstenosen mit Hydrocephalus occlusus können angeboren oder erworben sein. Erworbene Aquäduktstenosen sind meist postinfektiös oder treten posthämorrhagisch bei ehemaligen Frühgeborenen mit Blutungen in die germinale Matrix und mit Ventrikeleinbruch auf. Nur selten entspricht die Klinik der eines akuten Verschlusshydrozephalus, viel häufiger ist die chronische Hydrozephalussymptomatik mit 4 Verlangsamung, 4 Antriebsarmut, 4 enthemmten Greifreflexen und 4 Somnolenz.

. Abb. 35.1. Die Lage des Ventrikelsystems im Gehirn. (Nach Duus 1995)

des Gehirns und Rückenmarks. Er wird vor allem in den Kapillaren der weichen Hirnhäute, in den Pacchioni-Granulationen über der Hirnkonvexität und in den Scheiden der Rückenmarksnerven resorbiert. Pro Tag werden etwa 150–250 ml Liquor produziert. . Abbildung 35.1 zeigt die Anatomie des Ventrikelsystems.

Je nach Ursache des Aquäduktverschlusses kommen noch Herdsymptome des Dienzephalons und Mittelhirns wie Parinaud-Syndrom, Konvergenzparese und Konvergenzspasmen, hinzu. Aquäduktstenosen stellen eine relative Behinderung des Liquorabflusses dar, und es kann ein Gleichgewicht von geringgradig erhöhtem Ventrikelinnendruck und vergrößerter Ventrikelweite entstehen. Eine Abflussstörung kann außerdem durch Tumoren der hinteren Schädelgrube bedingt sein. Frühkindlich erworbene Hydrozephali können zu einer extremen Erweiterung der Ventrikelräume mit einer Zusammenpressung der Hirnrinde auf wenige Millimeter Dicke führen (. Abb. 35.3). Es ist manchmal erstaunlich, welch ausgedehnte, chronische Hydrozephali bei Erwachsenen mit massiver Kompression des Hirnparenchyms nahezu symptomlos bestehen können. In diesen Fällen handelt es sich um einen Hydrozephalus mit nur geringen, aber lange andauernden Druckgradienten, der früh zu einer sehr langsamen Verdrängung des Hirnparenchyms gegen die Kalotte geführt hat, und dann nicht mehr progredient blieb.

. Abb. 35.2. Kolloidzyste im III. Ventrikel. MRT, T1 mit Kontrastverstärkung: Man sieht eine große Zyste, die randständig KM aufnimmt und eine deutliche Erweiterung des III. Ventrikels (Hydrozephalus occlusus) hervorruft. (B. Kress, Heidelberg)

730

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

. Abb. 35.3. Ausgedehnter obstruktiver Hydrozephalus bei Chiari2-Fehlbildung und Shunt-Dysfunktion. Das Hirnparenchym ist stark

komprimiert, überwiegend auf Kosten der zusammengepressten weißen Substanz (MRT, T1-betonte Darstellung axial). (Aus Sartor 1994)

Hydrocephalus malresorptivus Der Liquor wird zum größten Teil über den Großhirnhemisphären in den Pacchioni-Granulationen resorbiert. Eine Verminderung der Resorptionsrate des Liquors nach Subarachnoidal- oder Ventrikelblutung, Meningitis und Meningoenzephalitis oder bei einer Meningeosis carcinomatosa führt zum Hydrozephalus durch Ungleichgewicht von Liquorproduktion (normal) und Liquorresorption (vermindert).

klaffende Spalte zu tasten. Pupillen und Iris verschwinden unter dem Unterlid (Zeichen der untergehenden Sonne). In dem Maße, in dem das Gehirn trotz dieser Schädelvergrößerung geschädigt wird, zeigen die Kinder pyramidale und extrapyramidale Symptome, sie erbrechen und werden schläfrig. Sind nach dem 4. Lebensjahr die Nähte geschlossen, wirkt sich der Flüssigkeitsdruck vor allem auf das Gehirn aus, so dass bald ein allgemeiner Hirndruck entsteht. Die Kinder klagen über Kopfschmerzen, die Schädelvenen sind gestaut. Neurologisch treten früh pathologische Reflexe auf. Viele Patienten mit einem chronischen, anlagebedingten oder postmeningitischen Hydrozephalus sind klinisch unauffällig. Sie sind extrem empfindlich gegen zusätzliche Schädigungen des Nervensystems und reagieren z.B. auf leichte SchädelHirn-Traumen oder einzelne epileptische Anfälle mit prolongierter Bewusstlosigkeit und extrem langer Reorientierungsphase.

Akuter und chronischer Hydrozephalus. Akuter Hydrozepha-

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lus: Hier tritt eine schnelle Druckerhöhung im Ventrikelsystem ein. Diese resultiert aus einer plötzlichen Blockade des Liquorabflusses (Tumor, Ventrikelblutung) oder aus einer Störung der Resorption bei/nach akuter Subarachnoidalblutung oder Meningitis. Chronischer Hydrozephalus Der chronische Hydrocephalus malresorptivus und chronische Formen des okkludierenden Hydrozephalus haben dagegen nur einen geringen Druckgradienten. Selbst ganz geringe Druckerhöhung im Ventrikel kann über die Zeit eine erhebliche Erweiterung des Ventrikelsystems bewirken (Luftballonprinzip). Solange die Schädelnähte noch nicht verschlossen sind, kann die Kalotte dem zunehmenden Druck des gestauten Liquors nachgeben und sich vergrößern. Der Umfang des Hirnschädels nimmt dann rasch zu. Die Fontanellen sind erweitert, gespannt oder vorgewölbt und pulsieren nicht. Die Nähte sind als breit

Kombinierte Fehlbildungen Mit anderen Fehlbildungen verbundene Hydrozephalusformen können sehr schwere Mehrfachbehinderungen mit angeborenem Intelligenzmangel, schweren Residualepilepsien, Querschnittssyndrom oder spastischen Lähmungen und sensorischen Defiziten zeigen. Der kongenitale Verschlusshydrozephalus tritt meist mit anderen Fehlbildungen wie Meningomyelozele, die häufig mit der Chiari-2-Fehlbildung einhergeht, oder dem Dandy-Walker-Syndrom auf, die weiter unten besprochen werden.

731 35.2 · Hydrozephalus und Arachnoidalzysten

3Diagnostik. MRT und CT. Bei der Diagnostik und Therapiekontrolle des kindlichen Hydrozephalus haben das CT und das MRT einen entscheidenden Fortschritt gebracht. Außer in der Notfallsituation einer akuten Hirndrucksymptomatik wird zur diagnostischen Abklärung die MRT (ggf. einschließlich Liquorflussmessungen) eingesetzt. Wird insbesondere bei klinischer Verschlechterung nach Liquorableitung (Shuntanlage) eine CT durchgeführt, muss bei Kindern die Strahlendosis altersentsprechend reduziert werden (rotes Knochenmark der Schädelknochen) und die Linse durch Kippung ausgespart werden. Veränderungen der Ventrikelweite und die Lage des Shuntspitze sind auch bei erniedrigter Strahlendosis und Signal-Rausch-Verhältnis ausreichend beurteilbar. Noch bevor man eine klinisch messbare Zunahme des Schädelumfangs feststellt, kann eine Vergrößerung des Ventrikelsystems auf einen beginnenden Hydrozephalus hinweisen und eine frühzeitige Therapie ermöglichen. CT und MRT zeigen die Ausdehnung des Ventrikelsystems und lassen, je nach der Verteilung der Erweiterung, schon Rückschlüsse auf die Ätiologie zu. Wenn die Seitenventrikel und der III. Ventrikel erweitert sind, der IV. Ventrikel hingegen nicht, so kommt eine Aquäduktstenose in Frage. Das MRT ist besonders bei komplexen Missbildungen in der Lage, die anatomischen Beziehungen zwischen Hydrozephalus und dem Gewebe darzustellen. Hierfür sind vor allem sagittale T1-Sequenzen sinnvoll. Die MRDiagnostik kann mit liquorflusssensitiven Sequenzen den Liquorfluss im Aquädukt exakt darstellen. Die Darstellung ist so genau, dass beim Gesunden der pulsabhängige Fluss des Liquors aus dem III. Ventrikel in den Aquädukt gesehen werden kann. Auch bei der Verlaufskontrolle ermöglichen CT und MRT das frühzeitige Erkennen postoperativer, subduraler Ergüsse und Hämatome, wie sie nach dem Kollaps des Ventrikelsystems infolge einer liquorableitenden Operation (s.u.) nicht selten beobachtet werden. Liquordruckmessung: Die lumbale Liquordruckmessung hat heute keine diagnostische Bedeutung mehr. Die Ventrikeldruckmessung über einen Ventrikelkatheter erfolgt nur bei der therapeutischen Liquordrainage. 3Therapie. Sofern der Hydrozephalus nicht infolge einer Druckatrophie der Plexus chorioidei spontan zum Stillstand kommt (arrested hydrocephalus), wird er folgendermaßen behandelt: 4 Shunt-Operation: Bei diesem Eingriff wird durch einen Ventilkatheter eine künstliche Verbindung zwischen dem (rechten) Seitenventrikel und dem rechten Herzvorhof oder der Bauchhöhle geschaffen, so dass der Liquor, sobald sein Druck eine bestimmte Höhe erreicht hat, unter Umgehung des Aquädukts abgeleitet wird. Risiken der Methode sind Infektion, Verstopfung des Ventils und Überdrainage durch zu niedrigen Ventildruck. Dabei kann es zu Subduralergüssen oder Blutungen kommen. 4 Beim akuten Hydrozephalus erfolgt eine notfallmäßige Drainage des Liquors nach außen, später Anlage eines ventrikuloa-

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trialen oder ventrikuloperitonealen Shunts. Wenn der Aquädukt von dorsal durch einen Tumor komprimiert wird, ist die Therapie durch die Behandlung der Tumorerkrankung vorgegeben. 4 Eine isolierte Aquäduktstenose kann heute stereotaktisch eröffnet werden. Ist eine Dilatation des Aquädukts nicht möglich, stehen eine Fenestrierungsoperation mit Ableitung des Liquors in den zisternalen Arachnoidalraum oder eine Shuntanlage zur Auswahl. > Lebensbedrohliche, akute Steigerungen des Ventrikel-

drucks werden durch eine Liquoraußenableitung (Ventrikeldrainage) behandelt.

35.2.2 Arachnoidalzysten 3Definition. Arachnoidalzysten sind umschriebene Erweiterungen des Subarachnoidalraums, die meist durch eine frühkindliche Anlagestörung der Meningen, seltener nach Traumen oder nach Entzündungen entstehen. Als zystische Erweiterungen können sie raumfordernden Charakter annehmen. Viel häufiger ist jedoch eine Hypoplasie der angrenzenden Hirnstrukturen und eine Ausdünnung der angrenzenden Kalotte. 3Epidemiologie. Asymptomatische Arachnoidalzysten kommen bei etwa 1–5% der Normalbevölkerung in mehr oder weniger ausgedehnter Form vor. Symptomatische Arachnoidalzysten sind sehr selten. Männer sind häufiger betroffen. Arachnoidalzysten können multipel auftreten und selten Teil eines komplexen Fehlbildungssyndroms mit Porenzephalie, Hydrozephalus, Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs oder Meningomyelozelen sein. 3Lokalisation. Typische Lokalisation für Arachnoidalzysten sind die mittlere Schädelgrube (Umgebung des vorderen Temporallappens), die hintere Schädelgrube (über den Kleinhirnhemisphären), die supraselläre Region und die Zisternen der Vierhügelplatte. Arachnoidalzysten über der Hirnkonvexität sind dagegen selten. Parietale Arachnoidalzysten sind häufiger sekundär (posttraumatisch, nach Entzündungen oder nach Durchblutungsstörungen). 3Symptome. Die Symptome können durch lokale Raumforderung (fokale neurologische Symptome mit fokaler Epilepsie oder Halbseitenlähmung) oder durch Druck mittelliniennaher Arachnoidalzysten auf den Aquädukt oder den III. Ventrikel mit Hydrozephalus entstehen. Hirnnervenausfälle und endokrinologische Störungen sind selten. Plötzliches Zystenwachstum durch eine Art Ventilmechanismus kann auch im höheren Lebensalter die Zysten symptomatisch werden lassen. Innerhalb des erweiterten Subarachnoidalraums verlaufen gestreckte Brückenvenen. Deshalb sind die Patienten durch Blutungen infolge des Einrisses dieser Venen gefährdet. Die meisten Arachnoidalzysten bleiben symptomlos.

732

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

. Abb. 35.4. Temporale Arachnoidalzyste rechts auf 2 Schichtebenen. Die mittlere Schädelgrube ist zu 2/3 von der Arachnoidalzyste ausgefüllt, die auch den horizontalen Anteil der A. cerebri media nach vorne verlagert. Auf der nächsthöheren Schicht erkennt man, dass die Arachnoidalzyste sich auch auf Anteile des Frontallappens erstreckt. Es liegt keine nennenswerte raumfordernde Wirkung vor. Stattdessen erscheint der knöcherne Schädel auf der rechten Seite im Vergleich zur Gegenseite im Wachstum zurückgeblieben. (K. Sartor, Heidelberg)

3Diagnostik. Die liquorisodensen Zysten sind in CT und MR als liquorisodense bzw. isointense Regionen sehr gut zu erkennen. Typisch sind die begleitenden Hypoplasien von benachbarten Hirnstrukturen (Kleinhirn, Temporallappen; . Abb. 35.4). 3Therapie und Verlauf. Die wenigsten Patienten benötigen eine spezifische Therapie. Auch wenn epileptische Anfälle auftreten, reicht meist eine 4 medikamentöse antikonvulsive Behandlung. 4 Eine Operation (offene Zystenentleerung, Shunt-Operation) kann notwendig werden, wenn Zystenwachstum mit akuten neurologischen Symptomen bewiesen ist. Punktierte Zysten können rezidivieren. 35.3

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Syringomyelie

3Definition. Die Syringomyelie ist durch klinische Kriterien, wie Erkrankungsalter, Symptomatik und Verlauf gut charakterisiert, hat jedoch keine einheitliche ätiologische Grundlage. Männer haben etwa doppelt so häufig wie Frauen eine anlagebedingte Syringomyelie. Die Symptome setzen meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ein. Alle Formen der Syringomyelie finden sich bevorzugt im Hals- und Brustmark, sehr viel seltener (und nie isoliert) im Lendenmark. Häufig erstreckt sich der Prozess nach rostral in die Medulla oblongata hinauf (Syringobulbie). Es kommen auch mehrere Höhlen in verschiedenen Abschnitten des Rückenmarks vor. Als symptomatische Syringomyelie bezeichnet man eine zentrale Höhlenbildung im Rückenmark nach Meningitis, spinaler Subarachnoidalblutung, spinalem Trauma oder auch als Liquorzirkulationsstörung bei spinalen Tumoren.

3Pathologisch-anatomische Befunde. Man findet eine längs ausgedehnte Höhlenbildung im Rückenmarksgrau, die von der Region der hinteren oder vorderen Kommissur ausgeht und von einer dorsalen Gliose umgeben ist (griech. syrinx, Flöte). Mikroskopisch ist der Prozess auf das Grau des Rückenmarks und unteren Hirnstamms beschränkt. Die langen Bahnen sind nicht direkt betroffen, werden aber sekundär durch Druck und Zirkulationsstörungen geschädigt. Makroskopisch findet man das Rückenmark meist an den betroffenen Stellen aufgetrieben. Darüber sind die weichen Häute verdickt, getrübt und mit der Dura verwachsen. 3Symptomatik und Verlauf. Das klinische Bild entspricht einer chronischen Entwicklung der vorn besprochenen zentralen Rückenmarkschädigung. Häufig entwickelt sich als erste Erscheinung eine dissoziierte Sensibilitätsstörung. Sie beruht auf Unterbrechung der spinothalamischen Fasern in ihrem Verlauf vom Hinterhorn durch die vordere Kommissur des Rückenmarks. Die Schmerz- und Temperaturempfindung fällt zunächst halbseitig oder jedenfalls asymmetrisch auf der segmentalen Höhe aus, in der der Prozess beginnt, d.h. an den Händen und Armen. Später ergreift sie Schulter, Hals und Thorax. Die Ausdehnung der sekundären Höhlenbildung nach kranial kann nach traumatischer Querschnittsläsion dazu führen, dass neue Symptome, z.B. atrophische Paresen in Muskelgruppen, auftreten, die oberhalb der Querschnittshöhe liegen. Dies kann, vor allem bei ursprünglich tief zervikal gelegenen Läsionen, eine erhebliche Verschlechterung des Behinderungsgrads bewirken. (Beispiel: traumatischer Querschnitt auf Höhe Th1, dadurch Funktionsstörung der C8-versorgten kleinen Handmuskeln, ansonsten gute Funktionsfähigkeit beider Arme. Durch eine traumatische, zervikale Syrinx Vorderhornzelläsion der Wurzeln C7, damit Schwäche in den

733 35.3 · Syringomyelie

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Exkurs Syringobulbie Bei Syringobulbie findet sich regelmäßig ein horizontaler Nystagmus mit rotierender Komponente ohne Schwindelgefühl. Ein weiteres Frühsymptom ist die einseitige Abschwächung des Kornealreflexes durch Läsion des Nucleus oder Tr. spinalis N. trigemini. Bei genauer Untersuchung kann man oft eine dissoziierte Empfindungsstörung im Gesicht nachweisen, die nach der zentralen Repräsentation des Trigeminus zwiebelschalen-

für die Rollstuhlfortbewegung besonders wichtigen Trizepsmuskeln.) Wenn durch Ausdehnung der Höhle auch der Tr. spinothalamicus lädiert wird, kommt es kontralateral zur dissoziierten Empfindungsstörung in tieferen Segmenten des Körpers. In der Regel erleben die Patienten diese Gefühlsstörung zunächst nicht als krankhaft, sondern vermerken nur, dass sie »nicht besonders wehleidig« sind oder besonders gut heiße Gegenstände anfassen können. Als Beispiel hierfür wird gern an Mucius Scaevola erinnert, der seine Hand ins Feuer hielt, um die Etrusker von seiner Furchtlosigkeit zu überzeugen. Im Laufe der Jahre führt die Analgesie und Thermanästhesie aber zu Verbrennungen an den Händen, Armen und Schultern und zu schlecht heilenden Verletzungen an den distalen Enden der Finger, oft mit erheblichen Verstümmelungen (Maladie de Morvan). Viele Kranke suchen erst dann den Arzt auf. Die schlechte Heilungstendenz der Verletzungen und Verbrennungen ist nicht nur dadurch zu erklären, dass der Ausfall der nozizeptiven Sensibilität die Patienten der Warnsignale beraubt, die den Gesunden veranlassen, eine verletzte Gliedmaße zu schonen. Sie beruht auch auf trophischen Störungen durch Läsion der sympathischen Ganglienzellen im Seitenhorn des Rückenmarks. Klinisch zeigen sich diese vor allem als tatzenartige Schwellung der Hände mit livider, kühler, teigig-schilfriger Haut, glanzlosen, brüchigen Nägeln und Entkalkung der Knochen. Die Unterbrechung der zentralen sympathischen Fasern führt oft zum Horner-Syndrom und zur Störung der Schweißsekretion. Segmental oder quadrantenförmig angeordnet, kommt es zur Anhidrosis. Spontan klagen die Patienten häufiger über eine kompensatorische Steigerung der Schweißsekretion in den benachbarten Gebieten. Schließlich sind auf die Störung der sympathischen Innervation die bohrenden, ziehenden und brennenden Dauerschmerzen in den Armen, den Schultern und am Thorax zurückzuführen, die ein sehr charakteristisches Frühsymptom der Krankheit sind. Sie lassen sich durch Analgetika kaum beeinflussen. Läsion der Vorderhörner führt zu atrophischen Paresen, die sich, ebenfalls meist symmetrisch, von den Handmuskeln zum Schultergürtel ausdehnen. Unterschenkel und Füße sind wesentlich seltener peripher gelähmt. Die Eigenreflexe sind an den Armen in wechselnder Verteilung abgeschwächt oder erloschen. Durch Druck auf die Pyramidenbahnen entwickelt sich eine zen-

förmig angeordnet ist. Schmerzen sind im Gesicht weit seltener als an den Armen. Durch die Läsion der motorischen Hirnnervenkerne kann es zu atrophischer Parese der Kaumuskulatur (V), des Gaumensegels (X) und der Zunge (XII), seltener des M. sternocleidomastoideus (XI) mit Kau- und Schluckstörungen und Dysarthrophonie kommen.

trale Paraparese der Beine. Diese äußert sich meist nur als Reflexsteigerung und Auftreten von pathologischen Reflexen, seltener als spastische Tonuserhöhung und Lähmung. Im Gegensatz zu den Gefühlsstörungen und nukleären Paresen sind diese motorischen Strangsymptome in der Regel doppelseitig. > Typische Symptome einer Syringomyelie sind 4 Trophische Störungen und Verstümmelungen an

den Händen 4 Horner-Syndrom 4 Segmentale Verminderung der Schmerzempfin-

dung 4 Reflexdifferenzen

Die Symptome entwickeln sich in langsamem Fortschreiten über mehrere Jahrzehnte. Das Tempo des Prozesses kann sich dabei vorübergehend beschleunigen oder verlangsamen. Remissionen treten nicht ein. Im Endstadium haben die Kranken eine inkomplette Querschnittslähmung mit atrophischen Lähmungen an den Armen und spastischer Paraparese der Beine. Etwa ein Drittel der Patienten hat eine Blasenlähmung. 3Diagnostik. In der MRT ist die Höhlenbildung im Rückenmark (hyperintens in T2, hypointens in T1) sehr gut zu erkennen (. Abb. 35.5). Neurophysiologische Untersuchungen helfen, die Ausdehnung der peripheren Paresen zu dokumentieren. Evozierte Potentiale und transkranielle, motorische Stimulation können im Verlauf eine Zunahme der Funktionsausfälle erfassen. Störungen der Schweißsekretion werden im Ninhydrintest objektiviert. 3Therapie 4 Sofern ein Hydrocephalus internus durch Abflussbehinderung vorliegt, wird eine Shunt-Operation vorgenommen. Die Syringostomie besteht darin, dass die spinale Höhle von dorsal eröffnet wird, um einen Katheter zwischen Syrinx und Subarachnoidalraum einzulegen, der an der Pia mater angenäht wird. 4 Manche Autoren empfehlen zusätzlich eine subokzipitale Dekompression. Konservativ kann man krankengymnastisch behandeln.

734

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

4 Gegen die Spastik gibt man Baclofen (z. B. Lioresal®), Dan-

trolen-Na (z.B. Dantamacrin®) oder Tizanidin (z.B. Sirdalud®), gegen Schmerzen eine Kombination von Analgetika und trizyklischen Antidepressiva. Bei nicht beherrschbaren Schmerzen neurochirurgische Schmerzbehandlung. 3Differentialdiagnose 4 Intramedulläre Gliome und andere Tumoren können durch die Symptomatik der zentralen Rückenmarkschädigung, einseitig extramedulläre durch ein Brown-Séquard-Syndrom (7 Kap. 1.13.2) das Krankheitsbild der Syringomyelie imitieren. Der Verlauf ist jedoch stets wesentlich rascher. 4 Das plötzliche Auftreten eines Spinalis-anterior-Syndroms gestattet ohne Schwierigkeiten die Abgrenzung von der Syringomyelie.

. Abb. 35.5. Syringomyelie im MRT. Intramedulläre Höhlenbildung in allen Segmenten des Zervikalmarks (Pfeile). (A. Thron, Aachen)

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. Abb. 35.6. a Enzephalozele. Darstellung einer Enzephalozele im MRT bei einem 10 Tage alten Kind mit großem Weichteiltumor okzipital. Der Weichteiltumor steht durch eine Knochenlücke mit dem Schädelinneren in Verbindung, Teile des Okzipitallappens sind in der Enzephalozele enthalten, die ansonsten überwiegend von Liquor und Hirnhäuten gefüllt ist, b Lissenzephalie. MRT, T1-betonte Darstellung. Nahezu vollständiges Fehlen der Hirnfurchen. Die Hirnoberfläche wirkt glatt, die sylvische Fissur ist offen. Die Rinde erscheint stark verbreitert, die weiße Substanz ist auf Bezirke um die erweiterten Ventrikel reduziert, c Partielle Balkenaplasie mit dünnem, inkompletten vorderen Balkenanteil (weiße Pfeile). Die Seitenventrikel sind zur Seite verlagert und stehen steil. Im hinteren Anteil fehlt der Balken vollständig (MRT, T1-Darstellung), d Heterotopie grauer Substanz (MRT, T1-Darstellung). Die Ventrikelseitenwand ist inhomogen und enthält nach intraventrikulär reichende Knoten, die gleiche Signalintensität wie die graue Substanz haben. Es handelt sich hierbei um heterotope Knoten grauer Substanz, die als Zeichen einer gestörten Migration der grauen Substanz interpretiert werden. Heterotope graue Substanz ist nicht selten Ursache von fokalen epileptischen Anfällen. (Aus Sartor 1992)

Hinter manchen Fällen, die in der Praxis unter den nichtssagenden Bezeichnungen »Schulter-Arm-Syndrom«, »Zervikalsyndrom« antineuralgisch behandelt werden, verbirgt sich eine Syringomyelie. Bei hartnäckigen, bewegungsunabhängigen Schul-

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735 35.3 · Syringomyelie

Exkurs Fehlbildungen von Gehirn und Rückenmark Fehlbildungen des zentralen Nervensystems können vielgestaltig sein und haben verschiedenen Ursachen. Im Folgenden werden weitere wichtige Fehlbildungen kurz erläutert. Status dysraphicus Der Status dysraphicus ist eine Defektkonstitution, die selbst kein progredientes Leiden darstellt, aber mit chronischen, dystrophischen und degenerativen Krankheiten des Zentralnervensystems, vor allem der Syringomyelie, assoziiert sein kann. Klinisch findet man bei den betroffenen Personen die folgenden Fehlbildungen in mehr oder weniger zahlreicher Kombination: Trichter- oder Rinnenbrust, auffallend dünne, lange Hände und Finger mit harter Haut (Arachnodaktylie), weiter sind Kyphoskoliose, Mammadifferenzen, Überlänge der Arme (Spannweite größer als Körperlänge), Fußdeformitäten und Spina bifida occulta relativ häufig. Weitere sog. dysraphische Stigmata sind Irisheterochromie, angeborenes Horner-Syndrom, hoher »gotischer« Gaumen und Behaarungsanomalien. Allen gemeinsam ist der unvollständige oder fehlerhafte Verschluss des Neuralrohrs und seiner somatischen Segmente. Die Diagnose erfolgt praktisch immer durch die CT oder MRT. Anenzephalie Die Anenzephalie, bei der das Gehirn entweder ganz (nicht lebensfähig, Totgeburt oder früher Abort) oder bis auf das Rautenhirn (Schnappatmung möglich, deshalb kurzzeitig lebensfähig) fehlt, ist die schlimmste Form der Entwicklung des Neuroporus anterior. Enzephalozelen Enzephalozelen sind dysraphische Störungen des dorsalen Neuralrohrschlusses. Auf Rückenmarkebene entspricht dem die spinale Meningomyelozele. Es kommt zur Herniation von Gehirn und Hirnhäuten, meist im atlantookzipitalen Übergang. Enzephalozelen können auch frontal oder basal liegen. Sie können z.T. sehr großes Ausmaß einnehmen, wenn sie mit liquorgefüllten Zysten verbunden sind (. Abb. 35.6a). Die Symptome sind variabel. Bei großen Enzephalozelen besteht aber, wenn sie überlebt werden, immer eine schwere mentale Retardierung mit motorischen Störungen. Kleinere Zelen können operiert werden, wenn die Kinder vorher nicht zu stark mental retardiert sind. Fehlbildungen der zerebralen Kortexentwicklung Hierzu gehören Fehlbildungen mit abnorm glattem Hirnrelief (Lissenzephalie: flache Gyri und Sulci; Agyrie: vollständiges

Fehlen der Gyri = komplette Lissenzephalie; Pachygyrie: wenige, verbreiterte, flache Gyri = inkomplette Lissenzephalie; . Abb. 35.6b), mit abnormen, kleinen Gyri (Polymikrogyrie) und fokale »Wanderung- und Organisationsstörungen« der kortikalen Neurone (Heterotopien, fokale kortikale Dysplasien). Sämtliche dieser Entitäten werden mittels MRT diagnostiziert und nach Art, Ausdehnung und assoziierten Fehlbildungen klassifiziert. Anlagestörungen des Corpus callosum Der Balken kann komplett (Balkenagenesie) oder partiell (Balkenhypogenesie) fehlen. Der Balken formt sich von ventral nach okzipital. Bei Hypogenesien können dementsprechend die hinteren Balkenanteile fehlen. Im Gegensatz dazu kann eine Hypogenesie nicht vorliegen, wenn das Splenium regelrecht angelegt ist und ein Defekt im vorderen Balkenkörper besteht, hierbei muss es sich um eine umschrieben Schädigung (z.B. nach frühkindlicher Ventrikeldrainage, sekundäre Verschmächtigung der Kommissurfasern bei Untergang der korrespondierenden weißen Substanz) handeln. Bei einer Balkenagenesie oder -hypogenesie kann kompensatorisch die hippokampalische Kommissur (Fornix) vergrößert sein, außerdem sind Commissura anterior und posterior erhalten. Anomalien des Corpus callosum sind häufig mit weiteren Fehlbildungen assoziiert, beispielsweise Arnold-Chiari-Malformation, Dandy-Walker-Malformation, Migrationsstörungen. Es ist erstaunlich, wie wenig auffällig manche Patienten mit ausgedehntem und manchmal vollständigem Balkenmangel erscheinen. Psychomotorische Verlangsamung, Anfälle (nicht zuletzt wegen der anderen Fehlbildungen) und Zeichen eines Hydrozephalus können hinzutreten. Während auf computertomographischen Aufnahmen der Balkenmangel dem Unerfahrenen leicht entgehen kann, ist er im koronaren und sagittalen MRT nicht zu übersehen (. Abb. 35.6c). Heterotopien Heterotopien sind »Nester« von grauer Substanz, die auf dem Entwicklungsweg an falscher Stelle »liegengeblieben« sind. Man findet sie meist in der Nähe der Ventrikel, wo sie zu einer charakteristischen Vorwölbung des Ventrikelependyms in den Ventrikel führen (. Abb. 35.6d). Die klinischen Symptome sind variabel und können von schweren Störungen und erheblicher Intelligenzminderung mit Anfällen bis zu Minimalvarianten mit nur seltenen Anfällen, aber ansonsten normaler Entwicklung reichen.

35

736

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

ter-Arm-Schmerzen soll man immer anamnestisch nach besonderer Unempfindlichkeit für Schmerz- und Temperaturreize fragen und auf Zeichen einer Syringomyelie achten. 4 Bei lumbosakraler Spina bifida können gleichzeitig Fehlbildungen des kaudalen Rückenmarks z.B. eine Meningomyelozele mit schlaffer Paraparese der Beine, sensiblem Kaudasyndrom und Blasenstörungen vorliegen. Schlaffe Lähmungen der Beine kommen bei Syringomyelie nicht vor, auch ist bei dieser das Lendenmark nie isoliert betroffen. 4 Auch die hereditären Neuropathien (HMSN, 7 Kap. 32.4) lassen sich dadurch leicht von Syringomyelie abgrenzen, dass die Symptome stets an den Beinen beginnen und die Lähmung schlaff bleibt. Eine Beeinträchtigung der Temperatur- und Schmerzempfindungen mit trophischen Störungen bis hin zu schweren, infizierten Ulzerationen kommt bei der hereditären, sensiblen Neuropathie sowie bei der chronisch verlaufenden Polyneuropathie durch primäre Amyloidose (Diagnose: Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit, Biopsie der Rektumschleimhaut) vor. 35.4

Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen)

Phakomatosen sind neurokutane Krankheiten mit Nävi und Tumorbildung. Zu ihnen zählen neben der Sturge-Weber-Krankheit und die Hippel-Lindau-Krankheit, die beide im 7 Kap. 8 besprochen wurden, die Neurofibromatose von Recklinghausen und die tuberöse Sklerose, die wir hier vorstellen. 35.4.1 Neurofibromatose (NF) Die NF (Recklinghausen-Krankheit) ist gekennzeichnet durch 4 Hautveränderungen,

35

4 Neurinome der peripheren Nerven, Nervenwurzeln und Hirnnerven und 4 zentrale Tumoren.

Neurinome können – unter der Symptomatik eines Mediastinaltumors – auch vom Grenzstrang ausgehen. Auch an den inneren Organen finden sich gutartige Mischgeschwülste. Die Neurofibromatose von Recklinghausen wird heute in zwei, genetisch unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Neurofibromatose 1 (NF 1) Die NF-1 entspricht mehr der ursprünglichen RecklinghausenKrankheit, da sie mit den typischen Hautveränderungen (subkutane Neurofibrome, Café-au-lait-Flecken) verbunden ist. Die NF-1 ist relativ selten: Man schätzt die Prävalenz auf etwa 3 pro 100.000 Einwohner. 3Symptome. Neurologisch ist NF-1 durch die Häufung von Optikusgliomen und Hirnstammastrozytomen, Hamartomen und Schädelveränderungen gekennzeichnet. NF-1-Patienten sind zu einem beträchtlichen Prozentsatz in ihrer geistigen Entwicklung behindert, Anfälle kommen bei etwa 10% der Patienten vor. Hautveränderungen sind schon bei der Geburt vorhanden oder entstehen in der frühen Kindheit. Sie nehmen mit dem Lebensalter zu und verstärken sich besonders in der Pubertät und während der Schwangerschaft. Sie bestehen in dunklen oder auch hellbraunen Pigmentnävi (Café-au-lait-Flecken) der verschiedensten Größe und breitflächig aufsitzenden oder gestielten Fibromen. Bei manchen Kranken ist vor allem der Rumpf von diesen Hautmanifestationen übersät. Bei anderen finden sie sich nur ganz vereinzelt, so dass man sie leicht übersieht oder ihre diagnostische Bedeutung nicht erkennt. Im höheren Lebensalter werden die Alterswarzen der Haut, die ebenfalls in großer Zahl auftreten können, leicht irrtümlich als Zeichen der Neurofibroma-

. Tabelle 35.1. Diagnostische Kriterien der Neurofibromatosen. (Nach Meutner et al. 1995) Neurofibromatose Typ 1 (2 von 6 Kriterien) 1. Mindestens 6 Café-au-lait-Flecken (größer als 5 mm präpubertal, größer als 15 mm postpubertal) 2. Neurofibrome oder ein plexiformes Neurofibrom 3. Optikusgliom 4. Mindestens zwei Irishamartome 5. Knochenveränderungen, wie Keilbeindysplasie oder Verdünnung der langen Knochen mit und ohne Pseudarthrose 6. Verwandter I. Grades mit NF-1 nach obigen Kriterien Neurofibromatose Typ 2 1. Bilaterale Akustikusneurinome – Nachweis durch MRT 2. Bei einem Verwandten I. Grades mit NF-2 genügt das Vorhandensein von mindestens einem der folgenden Kriterien: – Meningeom – Gliom – Schwannom – präsenile Katarakt Hier genügen zur Diagnose das Akustikusneuinom sowie eines der weiteren Symptome

737 35.4 · Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen)

35

Exkurs Schwannome und Neurinome Die Neurinome (Schwannome) können sich an jedem peripheren Haut- oder gemischten Nerven entwickeln. Besonders bevorzugt sind die Nn. medianus, ulnaris, ischiadicus und femoralis. Sie sind oft subkutan als derbe oder weichere Knoten tastbar. Neurinome bilden sich auch an den spinalen Nervenwurzeln (. Abb. 35.7). Sie sind nach der Natur der Krankheit oft multipel. Ihre bevorzugten Lokalisationen sind die zervikalen und die unteren thorakalen Segmente sowie die Cauda equina. Von den Hirnnerven ist vor allem, auch doppelseitig, der N. statoacusticus betroffen. Die Neurinome gehen von der SchwannScheide aus. Sie sind von einer Kapsel umgeben. Histologisch sind sie in erster Linie aus Schwann-Zellen aufgebaut, deren

tose angesehen. Gelegentlich entsteht ein lokaler Riesenwuchs im Gesicht, am Kopf oder an den Extremitäten. Die zentralen Tumoren sind Optikusgliome und pilozytische Astrozytome des Hirnstamms. 3Genetik. NF-1 wird autosomal-dominant vererbt, mit heterogenen Mutationen des auf Chromosom 17 lokalisierten Gens, das offensichtlich sehr groß ist. Daher gibt es, ähnlich wie bei der Muskeldystrophie Duchenne, viele Mutationen. Spontane Mutationen sind häufig.

Kerne die typische palisadenartige Anordnung haben. Wenn am Aufbau der Tumoren mesenchymale Zellen des Peri- und Epineuriums stärker beteiligt sind, spricht man von Neurofibromen. Die peripheren und selbst die Wurzelneurinome können asymptomatisch bleiben, da sie in der Nervenscheide wachsen. In anderen Fällen führen sie durch Kompression der Nerven und Wurzeln zu hartnäckigen, spontanen und Bewegungsschmerzen und später zu motorischen und sensiblen, peripheren Lähmungen, zum Kaudasyndrom oder den Symptomen des extramedullären Rückenmarktumors. Zervikale Neurinome wachsen gelegentlich nach Art der Sanduhrgeschwülste aus dem Spinalkanal heraus.

Die Prognose ist auf längere Sicht nicht gut. > Neurofibromatose 1: 4 Hauterscheinungen (Café-au-lait, Hautfibrome) 4 Astrozytome (Optikus- und Hirnstammgliome)

Neurofibromatose 2: 4 bilaterale Akustikusneurinome (= Vestibuklaris-

Schwannome) 4 andere Neurinome.

Merkhilfe: NF2 = 2-seitige Akustikusneurinome

Neurofibromatose 2 (NF 2) Die NF-2 wird ebenfalls autosomal-dominant vererbt. Die Prävalenz liegt auch bei etwa 3 pro 100.000 Einwohner. Der Chromosomendefekt liegt auf Chromosom 22 und ist vermutlich ein Tumorsuppressorgen. Die diagnostischen Charakteristika sind in . Tabelle 35.1 zusammengefasst. 3Symptome und Diagnostik. Bei diesen Patienten finden sich keine Hauterscheinungen. Dagegen sind bilaterale Akustikusneurinome, Neurinome anderer Hirnnerven, multiple Meningeome und Neurinome von zervikalen und lumbalen Wurzeln häufig. Bei Wurzelneurinomen findet sich im Liquor eine Eiweißvermehrung besonders der Albumine Therapie und Prognose 4 Die einzige kausale Behandlung ist die operative Entfernung der Nervengeschwülste. Sie ist jedoch nur in begrenztem Umfang möglich. Ein Teil der Geschwülste ist durch seine Lage inoperabel, bei anderen wäre eine Entfernung von bleibenden Lähmungen gefolgt. 4 Multiple Wurzelneurinome können oft nicht operiert werden (. Abb. 35.7). 4 Deshalb muss sich die chirurgische Therapie auf oligosymptomatische Fälle mit Akustikusneurinom oder wenigen, umschriebenen peripheren Neurinomen beschränken.

. Abb. 35.7. Multiple, thorakale Neurinome (Pfeile) bei M. Recklinghausen (MRT mit Kontrastmittelverstärkung). (A. Thron, Aachen)

738

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Facharzt

Tuberöse Hirnsklerose (Bourneville-Pringle-Syndrom) Die seltene tuberöse Hirnsklerose ist ebenfalls dominant erblich. 3Symptomatik. Ihre klinischen Symptome sind Hautveränderungen, epileptische Anfälle von der frühen Kindheit an und mentale Retardierung. Die Hautveränderungen bestehen vor allem in multiplen Fibroadenomen von typischer, schmetterlingsförmiger Anordnung im Mittelgesicht (Adenoma sebaceum, Naevus Pringle) und Fibromen am Zahnfleisch, am Nagelfalz und am Nagelbett. Daneben kommen Café-au-lait-Flecken sowie Fibrome und Lipome am Rumpf, nicht dagegen Neurinome vor. An den inneren Organen findet man fakultativ Rhabdomyome des Herzens und Mischgeschwülste der Nieren. Ursache der Anfälle und Oligophrenie sind zwei Arten von Gehirnveränderungen: 4 Multiple, subependymale Hamartome, die mit zunehmendem Lebensalter immer mehr verkalken und bei Wachstum

und Lage nahe des Formaen Monroi als Riesenzellastrozytome bezeichnet werden und die Gefahr einer Liquorzirkulationsstörung bergen. 4 So genannte Tubera: zerebrale Hamartome, die makroskopisch als vergrößerte, atpische Gyri imponieren und ebenfalls verkalken können. Die verplumpten Gyri treten »tuberös« aus dem Niveau der übrigen Rinde hervor. Histologisch sind sie entdifferenziert und durch Gliawucherung sklerosiert, zum Teil verkalkt (. Abb. 35.8). 3Therapie. Bei dieser Krankheit kann die Therapie nur symptomatisch sein. Man verordnet Antiepileptika nach den in 7 Kap. 14 angegebenen Regeln. Wenn durch Verlegung des Foramen Monroi oder des Aquädukts Hirndruck entsteht, muss zur Entlastung eine Drainage angelegt werden, die das Hindernis umgeht.

35.5

Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube

35.5.1 Basiläre Impression oder Invagination

35 . Abb. 35.8. M. Bourneville-Pringle (tuberöse Sklerose). CT-Darstellung multipler, verkalkter, subendymaler Knoten. Bei dem besonders großen, hyperdensen, kontrastmittelaufnehmenden Knoten am Foramen Monroi (Pfeil) handelt es sich um ein Riesenzellastrozytom, das aufgrund seiner Lage zu einer Blockade des linken Foramen Monroi mit der Erweiterung der Seitenventrikel geführt hat. (K. Sartor, Heidelberg)

3Definition und Entstehung. Es handelt sich um eine trichterförmige Einstülpung der Umgebung des Foramen occipitale magnum, hauptsächlich der Kondylen des Hinterhauptbeins, in die hintere Schädelgrube. Diese wird dabei in senkrechter Richtung erniedrigt. Gleichzeitig wird das Foramen occipitale magnum durch den zu hoch stehenden Dens axis eingeengt. Die Einbuchtung des okzipitozervikalen Übergangs beruht meist auf einer Entwicklungsstörung. Sie kann aber auch sekundär als Folge von Krankheiten entstehen, die den Knochen erweichen, vor allem Rachitis, Chondrodystrophie, Ostitis deformans Paget, Osteoporose. Man muss damit rechnen, dass die basiläre Impression mit anderen Fehlbildungen der okzipitozervikalen Übergangsregion und mit der Syringomyelie kombiniert ist. Dann nimmt die Wahrscheinlichkeit klinischer Symptome erheblich zu. 3Symptome. In der Mehrzahl der Fälle bleibt die basiläre Impression ohne klinische Symptome. Im Aspekt der Kranken fällt ihr kurzer Hals auf. Die Beweglichkeit des Kopfes ist für Seitwärtsneigung und Drehung eingeschränkt. Bei einseitiger basilärer Impression besteht meist ein Schulterhochstand. Symptomatisch wird die basiläre Impression durch 4 mechanische Kompression des Rückenmarks durch den emporgehobenen Dens axis,

739 35.5 · Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube

35

Exkurs Anatomie des kraniozervikalen Übergangs Für das Verständnis der Fehlbildungen in der okzipitozervikalen Übergangsregion, die im folgenden Abschnitt besprochen werden, ist eine kurze Rekapitulation der anatomischen Verhältnisse und ihrer funktionellen Bedeutung nützlich. Das Os occipitale bildet die äußere Begrenzung der hinteren Schädelgrube, in der sich Medulla oblongata, Brücke und Kleinhirn befinden. Durch das Foramen occipitale magnum tritt die Medulla oblongata, die in dem knöchernen Ring bei Bewegungen des Kopfes vor Schädigungen geschützt ist, in den Spinalkanal. Zwischen den Kondylen des Hinterhauptbeins und den Massae laterales des Atlas ist der Schädel mit der Halswirbelsäule im oberen Kopfgelenk verbunden, in dem um eine quere Achse Nickbewegungen möglich sind. Ursprünglich sind oberhalb des Atlas noch drei weitere Halswirbelsegmente angelegt. Diese werden im Laufe der embryonalen Entwicklung in die Okzipitalschuppe einbezogen. Der 1. Halswirbel, Atlas, hat als einziger Wirbel keinen Wirbelkörper, sondern nur einen kurzen ventralen Bogen mit einer dorsalen Gelenkfläche für die Verbindung mit dem Dens axis. Sein Wirbelkanal ist durch das Ligamentum transversum in zwei ungleich große Abschnitte geteilt: Im vorderen befindet sich der Dens, durch den hinteren zieht, wie bei den übrigen Wirbeln, das Rückenmark. Die Bogenwurzel des Atlas enthält kranial eine Laufrinne (Sulcus) für die A. vertebralis. Am dorsalen Wirbelbogen hat der Atlas keinen ausgebildeten Dornfortsatz.

A. communicans post. A. cerebri post.

A. cerebelli sup. ⎫ ⎬ ⎭

A. basilaris A. auditiva int.

Brückenarterien A. cerebelli inf. ant.

A. cerebelli inf. post.

Atlas

A. vertebralis

A. spinalis ant. C2 C3 C4

. Abb. 35.9. Okzipitozervikaler Übergang mit A. vertebralis und basilaris

Der Dens axis war ursprünglich der Körper des Atlas. Er sitzt dem Axis auf und ist mit der Hinterfläche des vorderen Atlasbogens gelenkig verbunden. Im Atlanto-Axialgelenk erfolgen Drehbewegungen, bei denen sich Kopf und Atlas um den Zahn des Axis drehen. Zwischen Os occipitale und Atlas und zwischen Atlas und Axis befindet sich beim Erwachsenen keine Bandscheibe. Die Halswirbelsäule bildet den knöchernen Kanal für den proximalen Verlauf der A. vertebralis. Die Arterie tritt am 6. Halswirbel in die Wirbelsäule ein und verläuft, gerade emporsteigend, im Seitenteil des 6.–2. Halswirbels im Foramen transversarium. Innerhalb des Seitenteils des Axis biegt sie um 45° nach außen ab. Schräg lateralwärts emporziehend, erreicht sie das Foramen transversarium des Atlas, das weiter seitlich liegt als die Foramina der übrigen Halswirbel. Nach ihrem Austritt aus dem Atlas zieht die Arterie nach innen und hinten, durchbohrt den hinteren Abschnitt der Gelenkkapsel des Atlanto-Axialgelenks und verläuft im Sulcus arteriae vertebralis des hinteren Atlasbogens. Hier ist sie besonders durch Dissektionen gefährdet. Sie perforiert die Membrana atlantooccipitalis, ändert wiederum ihre Richtung und zieht an die Vorderseite des Hirnstamms, wo sie sich auf der Höhe des Clivus mit der A. vertebralis der Gegenseite zur A. basilaris vereint (. Abb. 35.9).

4 Behinderung der Liquorpassage durch den zu hoch liegenden Clivus (Hydrocephalus occlusus), 4 Adhäsion der Meningen und 4 Degenerationsprozesse am Bandapparat des okzipitozervikalen Übergangs und Durchblutungsstörungen in den Aa. vertebrales.

Bei einer kleineren Zahl von Kranken kommt es zu Funktionsstörungen in der Medulla oblongata, im Kleinhirn und im Halsmark. Die ersten Symptome treten meist erst im 3. oder 4. Lebensjahrzehnt auf. Sie können sich langsam progredient entwickeln, aber auch akut einsetzen. Ein typisches Frühsymptom sind hartnäckige, anfallsweise auftretende Kopfschmerzen, die im Nacken und Hinterkopf, aber auch in der Stirn lokalisiert sind. Später können bei Anstrengungen oder Drehbewegungen des Kopfes anfallsartige, vorwiegend vegetative Symptome auftreten: Schwindel, Schweißausbruch, Erbrechen, Tachykardie und Dyspnoe. Bei chronischer Entwicklung stellen sich Gefühlsstörungen an den Händen und Armen und Strangsymptome des Rückenmarks ein. Wird mehr die Medulla oblongata geschädigt, bekommen die Patienten Nystagmus, zerebelläre Ataxie und periphere Lähmungen der kaudalen Hirnnerven. Nicht selten besteht ein Horner-Syndrom.

740

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

3Diagnose. Die Diagnose wird durch Röntgenaufnahme des Schädels und CT oder MRT gesichert. 3Therapie. Wenn die Symptome eine Behandlung erfordern, kommt nur die Operation in Frage. Durch Resektion eines Teiles der Squama occipitalis wird das Foramen occipitale magnum erweitert. 3Differentialdiagnose. Bei akuter »Dekompensation« der basilären Impression mit Hirndruckkrisen liegt die Verdachtsdiagnose eines Tumors der hinteren Schädelgrube nahe, zumal wenn eine Stauungspapille vorliegt. Auch die langsame Entwicklung bulbärer und zerebellärer Symptome ist auf einen Hirntumor verdächtig. Die Diagnose wird durch CT und MRT gestellt. Stehen Lokalsymptome des Halsmarks im Vordergrund, muss ein hochsitzender Rückenmarktumor ausgeschlossen werden. Dies geschieht durch MRT. 35.5.2 Atlasassimilation Bei der Atlasassimilation, die man anschaulicher Okzipitalisation des Atlas nennt, wird der Atlas mit dem Hinterhauptsbein verschmolzen. Dieser Prozess ist erst während der zweiten Lebensdekade abgeschlossen. Die Assimilation ist nicht selten asymmetrisch. Der Axis ist dann der oberste, bewegliche Halswirbel. Das Foramen occipitale magnum ist fast immer verkleinert und deformiert. Die Fehlbildung ist nicht selten mit basilärer Impression oder Klippel-Feil-Syndrom (s.u.) kombiniert.

35

3Symptome und Verlauf. Die Atlasassimilation ist seltener, ruft aber schwerere Symptome hervor als die basiläre Impression. Die Symptome beruhen auf der gleichen Pathogenese wie bei basilärer Impression beschrieben. Durch den angehobenen Clivus werden Medulla oblongata und Kleinhirn gegen das Tentorium cerebelli emporgepresst, andererseits kann es durch den Hydrocephalus occlusus mit Hirndruck zur Einklemmung von Medulla und Kleinhirntonsillen in das Hinterhauptsloch kommen. Die Symptome treten erst jenseits des 10. Lebensjahres auf. Die Schädigung der Medulla oblongata zeigt sich regelmäßig an einem rotierenden Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus, ähnlich wie bei Syringobulbie. Die Läsion der kaudalen, motorischen Hirnnervenkerne führt zu atrophischer Zungenlähmung, Gaumensegelparese, Dysarthrophonie und Schluckstörungen. Druckläsion oder Ischämie der langen Bahnen verursacht Parästhesien, Sensibilitätsausfälle, Zeigeataxie in den Händen und Armen und Pyramidenbahnzeichen an den Beinen. Durch Behinderung der Liquorzirkulation kommt es zu hydrozephalen Krisen mit phasenhaften, bewegungsabhängigen Kopfschmerzen und Doppelbildern, die auf Zerrung des N. abducens zurückgeführt werden. Im Laufe der Zeit entwickelt sich Hirndruck mit Stauungspapille und den Gefahren der Einklemmung.

3Diagnostik und Therapie. Seitliche Schädelaufnahmen weisen auf die Diagnose hin, die mit CT und MRT erhärtet wird. Die Therapie ist die chirurgische Entlastung des Foramen occipitale magnum durch Resektion des angrenzenden Teils der Squama occipitalis. 35.5.3 Klippel-Feil-Syndrom Diese kombinierte Fehlbildung der Halswirbelsäule ist durch Verschmelzung mehrerer (2–3) Halswirbelkörper und Dornfortsätze zu einem Blockwirbel und Spina bifida cervicalis (Bogenspalte) charakterisiert. Meist bestehen außerdem Atlasassimilation, Keilwirbel sowie primäre Entwicklungsstörung oder sekundäre Zug- und Druckschädigung am Rückenmark, nicht selten auch basiläre Impression. Die Blockwirbelbildung wird auf Faseraplasie der Bandscheiben zurückgeführt. Die Anomalie kann familiär auftreten. 3Symptome und Verlauf. Im Aspekt fallen die Kranken durch ihren abnorm kurzen Hals mit tiefstehender Nacken-Haar-Grenze und hochstehenden Schultern auf. Sie haben eine Kyphoskoliose der oberen Wirbelsäule. Die Arme sind im Verhältnis zum Körper zu lang. Gelegentlich findet man eine Gaumenspalte. Die Beweglichkeit des Kopfes ist stets sehr eingeschränkt. Ähnlich wie bei der basilären Impression, setzen die Symptome erst im mittleren Lebensalter ein. Die Kranken bekommen radikuläre Parästhesien und Schmerzen, Sensibilitätsausfälle in den Händen und Armen, Schwindel- und synkopale Anfälle. Meist lassen sich arterielle Durchblutungsstörungen in den Händen nachweisen, die bis zur Fingergangrän führen. Durch Druck auf das obere Halsmark kann sich im späteren Verlauf eine hochsitzende, inkomplette Querschnittslähmung mit Tetraspastik der Extremitäten, Sensibilitätsstörung und Blasenlähmung entwickeln. Gelegentlich kommt es auch zum Hydrocephalus internus. Kombination mit basilärer Impression führt zu den Symptomen, die oben besprochen sind. 3Diagnostik und Therapie. Die Blockwirbelbildung ist schon auf den Nativaufnahmen der HWS zu erkennen. Zur genauen Darstellung und zur Erfassung weiterer Fehlbildungen, wie immer bei diesen Krankheiten, MRT. Therapie: 4 Als palliative Maßnahme werden doppelseitig die obersten Rippen partiell reseziert. Dadurch kann sich die Beweglichkeit des Halses bessern. 4 Ansonsten Behandlung wie bei basilärer Impression und Hydrozephalus.

741 35.5 · Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube

35.5.4 Chiari-Fehlbildungen

35

Hydrozephalus ist häufig, außerdem eine Balkenhypo/agenesie und ein Fehlen der Falx.

Man unterscheidet heute zwei Arten der Chiari-Fehlbildung. Chiari-I-Fehlbildung Sie ist als kaudale Ektopie der Kleinhirntonsillen definiert, die kaudal der Foramen-magnum-Ebene im Spinalkanal stehen, und kann vielerlei Ursachen haben. Häufig ist sie Folge einer kleinen hinteren Schädelgrube mit kurzem Clivus, auch sind oft Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs assoziiert. Außerdem findet man sie bei Patienten mit kompensiertem Hydrozephalus und bei Patienten mit chronischen Unterdrucksyndromen bei Liquorleckage (. Abb. 35.10a). Chiari-II-Fehlbildung Die Chiari-II-Fehlbildung (Arnold-Chiari-Malformation) ist eine komplexe Fehlbildung der kaudalen Hirnanteilen, der Wirbelsäule und des Mesoderms von Schädel und Wirbelsäule. Bei praktisch allen Patienten besteht eine Myelomeningozele. Die hintere Schädelgrube ist klein, die Kleinhirntonsillen und die Medulla oblongata, teilweise auch die kaudalen Anteile der Kleinhirnhemisphären herniieren nach kaudal in den zervikalen Spinalkanal, der IV. Ventrikel ist komprimiert und nach kranial wird das Tektum verlagert und zipfelig deformiert. Ein assoziierter

. Abb. 35.10. a Chiari-I-Fehlbildung. Das MRT (T1-Darstellung) zeigt die Verlagerung der Kleinhirntonsille, die durch das Foramen magnum bis auf die Höhe C2 disloziiert ist (Stern). Knickbildung zwischen Medulla oblongata und oberem Anteil des Rückenmarks (schwarzer Pfeil), der Clivus ist verkürzt und die innere Hirnvene (weißer Pfeil) verläuft im oberen Teil abnorm steil, b Chiari-II-Fehlbildung. In diesem sagittalen MRT

3Symptome. Die seltene Krankheit führt bei stärkerer Ausprägung bereits im Kindesalter zum Tode. Die abnorme Ausfüllung des Hinterhauptslochs kann Zirkulationsstörungen in den Vertebralarterien oder ihren Ästen und Einklemmungssymptome hervorrufen. Neurologisch findet man eine Bewegungseinschränkung des Kopfes, Lähmung kaudaler Hirnnerven, Nystagmus und Strangsymptome ähnlich wie bei der basilären Impression. In leichten Fällen kann die Fehlbildung aber auch symptomlos bleiben. 3Diagnose. Zwar kann aus den konventionellen, seitlichen Röntgenaufnahmen des Schädels ein Hinweis auf eine knöcherne Fehlbildung des okzipitozervikalen Übergangs gewonnen werden. Die Diagnose wird aber heute mit der sagittalen Kernspintomographie gestellt, in der die Pathologie der komplexen Fehlbildungen am besten dargestellt wird (. Abb. 35.10b). 3Therapie. Shunt-Operation und okzipitale Erweiterung können, wenn früh durchgeführt, die Progression der Beschwerden aufhalten.

(T1-Darstellung) erkennt man die Ausweitung des 4. Ventrikels (weißer Stern), der sich bis in den Zervikalkanal erstreckt. Die hintere Schädelgrube ist steil gestellt, der Äquadukt (schwarzer Pfeil) mit der Lamina quadrigemina nach hinten verlagert. Der Kleinhirnwurm ragt in den erweiterten Seitenventrikel (offener Pfeil) vor. Hier erkennt man auch die partielle Aplasie des Balkens. (Aus Sartor 1992)

742

Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

35.5.5 Dandy-Walker-Syndrom Bei der Dandy-Walker-Malformation liegt eine Hypo- oder Agenesie des Kleinhirnwurms in Kombination mit einer vergrößerten hinteren Schädelgrube und hochstehendem Tentorium sowie einer zystischen Dilatation des IV. Ventrikels vor, die fast die gesamt hintere Schädelgrube ausfüllt. 3Symptome. Die Symptome treten meist im 2. Lebensjahrzehnt, manchmal aber auch wesentlich früher oder später auf. Sie entwickeln sich zunächst langsam, im letzten Stadium vor der Klinikeinweisung rasch progredient. Es kommt zu Kopfschmerzen, zerebellärer Ataxie und Stauungspapille, die unter Visusverfall in Atrophie übergeht. Später stellen sich zusätzlich eine Para- und Tetraspastik ein. Im Endzustand ist das klinische Bild durch die Zeichen des allgemeinen Hirndrucks beherrscht. 3Diagnostik. Die Zyste ist in CT und MRT als scharf begrenzte, mittelständige, liquorisodense Zone in der hinteren Schädelgrube nachweisbar (. Abb. 35.11). 3Therapie. Diese ist operativ (Shunt-Operation). Die Prognose hängt davon ab, welche Schäden durch den Hirndruck vor der Operation eingetreten waren.

35.6

Fehlbildungen der Wirbelsäule

35.6.1 Spina bifida Spina bifida occulta Die Spina bifida occulta dorsalis ist eine Hemmungsmissbildung, bei der die beiden seitlichen Anteile des Wirbelbogens, die sich am Ende des ersten Lebensjahres knöchern zusammenschließen sollen, offen bleiben, so dass eine dorsale Spaltbildung vorliegt. Man spricht von Spina bifida occulta, wenn die Rückenmarkshäute über dem Spalt geschlossen und nicht hernienartig vorgewölbt sind. Die Spina bifida occulta ist recht häufig: Sie kommt bei 17–18% der Bevölkerung vor. Ihre klinische Wertigkeit wird meist überschätzt. Als Ursache von Kreuzschmerzen kommt sie, im Gegensatz zu den weiter unten besprochenen Assimilationsstörungen, nicht in Betracht. Meist hat sie überhaupt keine praktische Bedeutung, sondern wird zufällig als Nebenbefund auf der Röntgenaufnahme festgestellt. Der Nativröntgenbefund einer Spaltbildung gestattet keinen Schluss auf eine darunter liegende Missbildung auch des Rückenmarks oder seiner Hüllen.

heitswert die häufig zu Missdeutungen Anlass gibt ist die übergroße Cisterna magna. Sie liegt dorsal des Kleinhirns und dehnt sich manchmal zwischen den okzipitalen Ansätzen des Tentoriums nach supratentoriell aus. Sie gehört zu den oben besprochenen Arachnoidalzysten.

Spina bifida mit Meningo- und Meningomyelozele In die Spaltbildung können die Hirnhäute (Meningozele) und das Rückenmark bzw. die Cauda equina (Meningomyelozele) einbezogen sein. Offene Meningozelen führen zu Menigitis und werden operativ gedeckt. (Lumbosakrale) Meningomyelozelen sind eine häufige Ursache der konnatalen Querschnittslähmung. Sie sind besonders oft auch mit Fehlbildungen am anderen Ende des Neuralrohrs (Hydrozephalus) kombiniert. Die Kombination der Spina bifida mit schweren Entwicklungsstörungen des Rückenmarks und seiner Häute – Meningozele, Myelozele, Rachischisis

. Abb. 35.11. Dandy-Walker-Fehlbildung. MRT (T1-betonte Darstellung). Die rechte Kleinhirnhemisphäre ist durch eine große liquorgefüllte Zyste (weißer Stern) ersetzt. Auch der Kleinhirnwurm fehlt weitgehend.

Der verbleibende Teil des Kleinhirnwurms ist nach oben verlagert (weißer Pfeil). Im rechten Teil der Abbildung erkennt man die erhebliche Erweiterung des Ventrikelsystems. (Aus Sartor 1992)

3Differentialdiagnose. Eine harmlose Variante ohne Krank-

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743 35.6 · Fehlbildungen der Wirbelsäule

– wird hier nicht weiter besprochen, da diese Fälle sehr selten sind und in das Fachgebiet der Kinderheilkunde und der Orthopädie gehören. 3Lokalisation. Die Hemmungsmissbildung tritt bevorzugt am Übergang zwischen zwei Wirbelsäulenabschnitten auf: okzipitozervikal, zervikothorakal und lumbosakral. Am häufigsten ist die Spina bifida L5/S1, jedoch ist auch eine Spaltbildung im Atlas nicht selten, die isoliert oder bei einer der oben besprochenen Fehlbildungen am okzipitozervikalen Übergang vorkommt. Die Maximalvariante einer okzipitozervikalen Spaltbildung ist die Enzephalozele. 3Symptome. Bei der Inspektion findet man gelegentlich, eine lokale Hypertrichose über der Defektmissbildung oder umschriebene Einziehungen der äußeren Haut und des subkutanen Gewebes. Wenn mit der Spina bifida eine Entwicklungsstörung des Rückenmarks und seiner Häute oder der Kaudafasern verbunden ist, kann neurologisch ein unvollständiges Kaudasyndrom mit distalen, schlaffen Paresen der Beine, trophischen Störungen an den Füßen und radikulären oder reithosenförmig angeordneten Sensibilitätsstörungen vorliegen. Häufig besteht ein Pes equinovarus (Klumpfuß), der auf einer fixierten Fehlstellung des Fußes infolge der distalen Parese beruht oder eine korrelierte Fehlbildung ist. Thorakolumbale Meningomyelozelen führen zum Querschnittsyndrom. 3Therapie. Orthopädisch und neurochirurgisch. Elongation des Filum terminale (Tethered cord) In seltenen Fällen führt die Spina bifida dadurch zu neurologischen Symptomen, dass die Membrana reuniens, die den Spalt dorsal verschließt, mit dem Filum terminale verwachsen ist. Bei dem relativ stärkeren Längenwachstum der Wirbelsäule werden die Kaudawurzeln oder das Rückenmark durch Zug geschädigt. Die Patienten klagen über ziehende Schmerzen in den Beinen, oft auch über Sphinkterschwäche. Bei Enuresis sollte man deshalb stets eine Bildgebung des lumbosakralen Übergangs anfertigen. Nur bei neurologischen Ausfällen ist eine operative Behandlung indiziert. Nach Laminektomie wird die derbe Membrana reuniens inzidiert, so dass Wurzeln und Rückenmark entlastet werden. 35.6.2 Spondylolisthesis 3Definition. Spondylolisthesis ist ein Abgleiten der Wirbelsäule nach vorn und unten, meist vor den 1. Sakralwirbel. Dieses Wirbelgleiten hat zwei Voraussetzungen: 4 eine angeborene Spaltbildung im Gelenkfortsatz des 5. Lendenwirbelkörpers und 4 eine erworbene Degeneration der lumbosakralen Bandscheibe und des vorderen Längsbandes, die unter den täglichen

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Belastungen der Wirbelsäule deshalb entsteht, weil der missgebildete Gelenkfortsatz keinen genügenden Halt bietet. Diese degenerativen Vorgänge wirken sich wieder auf die Wirbelgelenke aus, so dass sich ein Circulus vitiosus schließt. Bei jeder stärkeren statischen Beanspruchung gleitet der 5. Lendenwirbelkörper und mit ihm die ganze darüber liegende Wirbelsäule etwas mehr nach ventral und unten. Die echte Spondylolisthesis entsteht nicht traumatisch, ein Trauma kann die anlagebedingte Deformität aber verschlimmern. Nach Traumen gibt es selten auch eine Spondylolisthesis in höheren Abschnitten der Wirbelsäule. 3Symptomatik. Nur in maximal 2/3 der Fälle kommt es zu klinischen Symptomen. Die Patienten klagen über Kreuzschmerzen und Schmerzen im Segment L5 und S1, die sich bei Bewegungen und auch beim Husten, Pressen und Niesen verstärken. Bei der Untersuchung fällt eine Verkürzung der Taille mit einer queren Hautfalte unterhalb des Nabels auf. Die Lendenwirbelsäule zeigt starke Lordose. Die 12. Rippe ist bei schwerer Ausprägung dicht über dem Darmbeinkamm zu tasten. Neurologisch können die Achillessehnenreflexe fehlen, die Patellarsehnenreflexe (L2–4) abgeschwächt sein. Die Ischiasdruckpunkte sind oft schmerzhaft. Manchmal lassen sich auch radikuläre Sensibilitätsausfälle nachweisen. Bei Fortschreiten degenerativer Vorgänge mit Spangenbildung kommt es zum Stillstand, und die Schmerzen lassen nach. 3Diagnostik und Therapie. Auf seitlichen und schrägen Aufnahmen der Lendenwirbelsäule ist die Antelisthesis des 5. LWK und die Spaltbildung des Gelenkfortsatzes zu sehen (. Abb. 35.12). 4 Therapeutisch versucht man zunächst, die gestörte Statik der unteren Wirbelsäule durch ein Stützkorsett zu bessern. 4 Versteifungsoperationen sind nicht notwendig, da sich die Wirbelsäulenverschiebung durch Spangenbildung selbst versteift. 4 Kommt es zu Bandscheibenvorfällen, Wurzelkompression oder gar zu einem Kaudasyndrom, werden diese nach den vorne (7 Kap. 31) angegebenen Regeln operiert. 35.6.3 Lumbalisation und Sakralisation Diese beiden Assimilationsvorgänge am lumbosakralen Übergang der Wirbelsäule werden als lumbosakrale Übergangswirbel zusammengefasst. 4 Lumbalisation: Bei dieser häufigeren Entwicklungsstörung ist der 1. Sakralwirbel nicht in den Verband des Kreuzbeins einbezogen. Durch einseitige oder doppelseitige, mangelhafte Ausbildung seiner Seitenteile ist er der Form der Lendenwirbel angeglichen. Auf der Röntgenaufnahme ist er als überzähliger Lendenwirbel zu erkennen.

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Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

4 Sakralisation: Bei der Sakralisation ist der Querfortsatz des untersten Lendenwirbelkörpers ein- oder doppelseitig vergrößert und hat Schaufelform wie der seitliche Flügel des Kreuzbeins. Man findet die verschiedensten Grade der Angleichung an das Sakrum von der Verbreiterung der Querfortsätze ohne Kontakt mit dem Kreuzbein bis zur vollständigen Verschmelzung.

. Abb. 35.12. Spondylolisthesis (L5 über S1; seitliche Nativaufnahme der Lendenwirbelsäule). Außer dem um etwa 1/3 des Wirbelkörperdurchmessers nach ventral versetzten Wirbelkörper erkennt man die Unterbrechung des Wirbelbogens. (M. Forsting, Essen)

3Symptome. Die lumbosakralen Übergangswirbel müssen nicht notwendig Beschwerden verursachen. Sie können aber klinische Bedeutung erlangen, wenn die darüber liegende Bandscheibe infolge abnormer statischer Belastung degeneriert, nach medial oder lateral in den Wirbelkanal vordringt und reaktive spondylotische Veränderungen an den benachbarten Wirbelkörpern auslöst. In den überzähligen Gelenken entsteht besonders leicht eine Arthrose. Bei einseitiger Assimilation bildet sich eine Skoliose der unteren Wirbelsäule aus. Die häufigste Beschwerde ist Kreuzschmerz (Lumbago). Nervenwurzelkompression mit Ischiassyndrom ist dagegen eine seltene Folge. Bei der Untersuchung findet man die Lendenlordose aufgehoben, die paravertebralen Muskeln sind verspannt. Die untere Wirbelsäule ist klopfempfindlich und in der Dreh-, mehr aber noch in der Beugebewegung eingeschränkt. Das Zeichen nach Lasègue kann positiv sein. Reflexabschwächung, Paresen und radikuläre Gefühlsstörungen gehören nicht zur Symptomatik. 3Diagnostik und Therapie. Nachweis durch Nativröntgen der Wirbelsäule. Das Abzählen der Wirbelkörper kann Schwierigkeiten bereiten. Immer muss man sich am 12. BWK (Rippenansatz) orientieren. Diese Orientierung versagt, wenn gleichzeitig noch größere Rippenstummel am 1. LWK zu sehen sind. Die Therapie besteht in vorübergehender Schonung, Muskelmassagen, Anwendung der heißen Rolle und anschließend vorsichtigen, gymnastischen Übungen.

In Kürze

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Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung Krankheiten, die das ZNS während seiner Entwicklung und Reifung treffen. Pränatale Schädigungen durch Sauerstoffmangel des embryonalen oder fetalen Nervensystems, durch Infektionskrankheiten, Alkohol-, Drogen- oder Nikotinmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft. Symptome: Mikrozephalie, psychomotorische Retardierung, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität, andere Fehlbildungen. Perinatale Schädigungen: Stauung in großen Hirnvenen und Sinus führt zu ödematöser Durchtränkung des Gewebes und Stauungsblutungen. Dadurch ausgedehnte oder herdförmige Nekrosen. Postnatale frühkindliche Hirnschädigungen durch bakterielle

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Infektionskrankheiten des Säuglings und Kleinkinds. Symptome: Bewegungsstörung, geistige Behinderung mit Verhaltensstörung, Anfälle. Zentrale Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirnschädigung. Spastische Parese mit spastischer Diplegie der Beine, v.a. Adduktoren, Strecker im Kniegelenk und Plantarflektoren des Fußes, Gangstörung. Pränatal entstandene infantile Hemiplegie: Gelähmte Gliedmaßen bleiben im Längen- und Dickenwachstum zurück, zentrale Bewegungsstörung, Sprechstörungen, fokale oder generalisierte Anfälle. Extrapyramidale Bewegungsstörungen mit schwerer, motorischer Beeinträchtigung,

745 35.6 · Fehlbildungen der Wirbelsäule

dadurch Intelligenz beeinträchtigt, fokale oder generalisierte Anfälle. Antiepileptische Therapie. Minimale frühkindliche Hirnschädigung. Symptome: Leichtes, motorisches Ungeschick, Konzentrationsstörungen, mangelhafte Artikulation, unregelmäßige Handschrift.

Hauterscheinungen, bilaterale Akustikusneurinome (VestibularisSchwannome), andere Neurinome. Chirurgische Therapie bei oligosymptomatischen Fällen mit Akustikusneurinom oder wenigen, umschriebenen peripheren Neurinomen.

Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube

Hydrozephalus Vergrößerung der Liquorräume auf Kosten der Hirnsubstanz. Hydrocephalus occlusus: Symptome: Enthemmte Greifreflexe, Somnolenz, Verlangsamung, Antriebsarmut durch Behinderung des Liquorabflusses. Hydrocephalus malresorptivus: Störung der Resorption des Liquors in den Pacchioni-Granulationen des Subarachnoidalraums über den Hemisphären. Therapie: Sofern kein Stillstand: Shunt-Operation, Liquoraußenableitung.

Arachnoidalzysten Umschriebene Erweiterungen des Subarachnoidalraums, meist durch frühkindliche Anlagestörung der Meningen entstanden. Fokale neurologische Symptome mit fokaler Epilepsie oder Halbseitenlähmung, Hydrozephalus, meist aber symptomlos. Medikamentöse Therapie, Operation bei akuten neurologischen Symptomen.

Syringomyelie Symptome setzen zwischen 20. und 40. Lebensjahr v.a. bei Männern ein: Reflexdifferenzen, trophische Störungen und Verstümmelungen an Händen, Horner-Syndrom, segmentale Verminderung der Schmerzempfindung, Endstadium mit kompletter Querschnittslähmung. Therapie: Shunt-Operation, Krankengymnastik, subokzipitale Dekompression, medikamentöse Therapie gegen Spastik und Schmerzen. Differentialdiagnose: Intramedulläre Gliome, Spinalis-anterior-Syndrom, lumbosakrale Spina bifida, HMSN, hereditäre, sensible Neuropathie.

Basiläre Impression oder Invagination. Trichterförmige Einstülpung der Umgebung des Foramen occipitale magnum in hintere Schädelgrube durch Entwicklungsstörung oder sekundär als Folge von Krankheiten. Frühsymptome: Hartnäckige Kopfschmerzen, bei Drehbewegungen des Kopfes anfallsartige, vegetative Symptome, Nystagmus, zerebelläre Ataxie. Operative Therapie. Differentialdiagnose: Tumor der hinteren Schädelgrube. Atlasassimilation. Symptome treten >10 J. auf: Atrophische Zungenlähmung, rotierender Spontan- oder Blickrichtungsnystagmus, Dysarthrophonie, Schluckstörungen, Kopfschmerzen, Gaumensegelparese. Operative Therapie. Klippel-Feil-Syndrom. Symptome: Abnorm kurzer Hals mit tiefstehender Nacken-Haar-Grenze, hochstehende Schulter, eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, radikuläre Parästhesien, Schwindel- und synkopale Anfälle, Sensibilitätsausfälle in Händen und Armen, Blasenlähmung durch Verschmelzung mehrerer Halswirbelkörper und Dornfortsätze zu Blockwinkel und Bogenspalte. Therapie: Doppelseitig partielle Resektion der obersten Rippen. Chiari-Fehlbildungen. Symptome: Einklemmungssymptome, Zirkulationsstörungen in Vertebralarterien, Bewegungseinschränkung des Kopfes, Lähmung kaudaler Hirnnerven, Nystagmus. Therapie: Shunt-Operation, okzipitale Erweiterung. Dandy-Walker-Syndrom. Symptome treten im 2. Lebensjahrzehnt ein: Kopfschmerzen, Para-, Tetraspastik, zerebelläre Ataxie, Stauungspapille, im Endzustand allgemeiner Hirndruck. Therapie: Shunt-Operation

Phakomatosen

Fehlbildungen der Wirbelsäule

Neurokutane Krankheiten mit Nävi und Tumorbildung. Prävalenz: 3/100.000 Einwohner.

Spina bifida. Symptome: Lokale Hypertrichose über Defektmissbildung oder umschriebene Einziehungen der äußeren Haut, distale, schlaffe Paresen der Beine, trophische Störungen an Füßen, radikuläre oder reithosenförmig angeordnete Sensibilitätsstörungen. Orthopädische und neurochirurgische Therapie.

Neurofibromatose (NF). NF 1: Symptome: Hautveränderungen (Café-au-lait-Flecken, Hautfibrome), Astrozytome (Optikusund Hirnstammgliome), evtl. lokaler Riesenwachstum im Gesicht, an Kopf oder Extremitäten. NF 2: Symptome: Keine

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Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Spondylolisthesis. Symptome: Schmerzen im Kreuz und im Segment L5 und S1, Verkürzung der Taille mit querer Hautfalte unterhalb des Nabels, Lendenwirbelsäule mit starker Lordose. Therapie: Stützkorsett, Operation bei Bandscheibenvorfall.

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Lumbalisation und Sakralisation. Symptome: In überzähligen Gelenken Arthrose, bei einseitiger Assimilation: Skoliose der unteren Wirbelsäule; Kreuzschmerz, untere Wirbelsäule in Beugebewegung eingeschränkt. Therapie: Schonung, Muskelmassagen, Anwendung der heißen Rolle, Krankengymnastik.

36 36 Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert 36.1 Sick-building-Syndrom – 748 36.2 Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit – 749 36.3 Fibromyalgie-Syndrom – 751 36.4 Chronisches Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS) – 751 36.5 Chronischer, täglicher Kopfschmerz – 753 36.6 Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion – 753 36.7 Simulationssyndrome – 755 36.7.1 Münchhausen-Syndrom – 756 36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom – 757

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

> > Einleitung

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Spätestens seit dem Beginn des Industriezeitalters hat es immer wieder Beschwerdesyndrome gegeben, die bei bestimmten Berufsgruppen oder unter bestimmten sozialen Voraussetzungen auftraten, sich »endemisch« ausbreiteten und später wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit und dem Spektrum der Beschwerdekomplexe verschwanden. Typische Beispiele waren »nervöse« Störungen durch den Lärm vorbeifahrender Eisenbahnzüge oder das »Railway spine-Sydrom«, Rückenschmerzen, die auf Erschütterungen beim Fahren über holprige Eisenbahnschwellen zurückgeführt wurden. Auch heute gibt es ähnliche Wellen: Das Computermaussyndrom, Beschwerden durch »Elektrosmog«, der epidemisch genutzte Begriff des Mobbing – eines Problems, das es in der Tat gibt – das aber jetzt schon beim leisesten Anklang eines kritischen Wortes als Killerargument in die Debatte eingeführt wird. Oft sind es die Definitionen mancher Fachleute, die zur explosionsartigen Vermehrung von »Krankheitsfällen« führen und so die Inzidenz mancher Syndrome in astronomische Höhen treiben (z.B. die HWS-Distorsion Grad I oder die diagnostischen Kriterien für das chronische Erschöpfungssyndrom). Manche sind so gefasst, dass es auch beim besten Willen schwer fällt, nicht von dem »Problem« betroffen zu sein. Eine Bedingung für das Auftreten und die rasche Verbreitung solcher Endemien ist die Einführung neuer, technischer Entwicklungen oder biologisch/chemischer Substanzen, die als bedrohlich erlebt werden. Eine andere ist offensichtlich die Bereitschaft der Gesellschaft, einschließlich mancher Ärzte, solche Beschwerdekomplexe als Krankheit anzuerkennen und die Betroffenen im Sozialsystem zu entschädigen. In diesem Kapitel werden Beispiele gegeben, die heute besonders aktuell sind und an denen auch der Einfluss von Medien und von Interessengruppen deutlich wird. Interessant ist auch, dass die vehemente Ablehnung wissenschaftlich begründeter Interpretationen (Ablehnung der »Schulmedizin«) Hand in Hand geht mit einer besonderen Affinität zu alternativen, manchmal magischen Therapieansätzen. Nicht selten halten sich die Patienten für medizinisch vorgebildet. Solche Patienten sind ideale Plazebo-Responder, wenn die alternativmedizinische Maßnahme nur abstrus genug ist (Geistheiler, Operationen mit bloßen Händen, Bioresonanz, Bach-Blüten, Kolonentgiftung und viele mehr). Hierfür werden bereitwillig horrende Summen gezahlt, während die Zuzahlung zu einem zugelassenen Medikament als Zumutung empfunden wird. Dieser Problembereich entzieht sich auch einer zivilisierten Diskussion. Jeder vorsichtige Zweifel an der Theorie zu Krankheitsentstehung und Therapieoptionen führt unter guten Voraussetzungen zum Abbruch des therapeutischen Kontakts und zur Enttäuschung über das fehlende Verständnis des Arztes, im schlechten Fall zu offener Ablehnung, Aggressivität und dem Vorwurf, die Probleme des Patienten mit voller Absicht nicht verstehen zu wollen und mit dem vermeintlichen Verursacher unter einer Decke zu stehen. Es folgt der Rückzug in »Betroffenen-Subkulturen«. Nicht selten

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werden Angehörige symbiotisch in die wahnhafte Entwicklung einbezogen, die nach der Phase der »Assistenz« dann auch symptomatisch werden können.

Vorbemerkung In diesem Kapitel werden zunächst Befindlichkeitsstörungen beschrieben, die von den Betroffenen mit bestimmten Noxen oder Lebensumständen in Beziehung gesetzt werden. Die Störungen sind relativ weit verbreitet und haben erhebliche, sozialmedizinische Bedeutung erlangt. Frauen sind häufiger betroffen. Bei manchen Personen kann sich eine sehr schwere Variante entwickeln, bei der ein offen aggressives Verhalten all denen gegenüber entsteht, die die empfundene Kausalität nicht bestätigen. Von Interessengruppen und Medizinern werden die Befindlichkeitsstörungen kontrovers diskutiert. Viele dieser Syndrome sind schwer objektiviertbar oder nur vermeintlich durch den Einsatz nichtvalidierter Instrumente »nachweisbar«, vieles ist Glaubenssache, subjektiv, fanatisiert und nicht diskutierbar. Da die Sachlage so ist, geben auch die Autoren ihr subjektive, persönliche Bewertung, die sicher von vielen Betroffenen und manchen medizinisch Tätigen so nicht geteilt wird. 36.1

Sick-building-Syndrom

3Definition und Inzidenz. Unter dieser Bezeichnung wird seit etwa 20 Jahren eine Kombination von Beschwerden beschrieben, die von Personen geklagt wird, die in modernen Bürogebäuden arbeiten. Die Inzidenz ist nicht ermittelt. Publizierte Schätzungen, dass »Hunderttausende von Büroarbeitern« täglich unter entsprechenden Beschwerden leiden, sind nicht durch Daten gestützt. Frauen sollen dreimal so häufig wie Männer betroffen sein. 3Symptome. Die Beschwerden sind in der Regel nur während des Aufenthalts in dem speziellen Gebäude vorhanden, werden von manchen Betroffenen aber auch ständig empfunden Zu den Symptomen zählen: trockene Augen, verstopfte Nase, aber auch Nasenlaufen und Niesen, Reizempfindungen im Rachen, Atembeschwerden, Engegefühl um die Brust, Trockenheit, Jucken und Rötung der Haut. Diese Beschwerden werden mit einer Reihe von Verlegenheitsdiagnosen versehen: toxische Rhinitis, Asthma, Kontaktdermatitis. Allgemeine Beschwerden sind: Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, periodische oder chronische Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Antriebsarmut und Gleichgültigkeit, Gliederschmerzen. Diese Symptome werden von manchen behandelnden Ärzten als Migräne, rheumatoide Arthritis oder »allgemeine Immunschwäche« diagnostiziert. 3Ätiologie. Erwägungen zur Ätiologie stellen die klimatischen Bedingungen in den Innenräumen der Gebäude und insbesondere eine mögliche Kontamination der Luft in Klima-

749 36.2 · Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit

anlagen in den Vordergrund. Allgemein wird die Rezirkulation von Luft zuungunsten einer ausreichenden Zufuhr von Außenluft angesprochen. Speziell werden mangelnde Luftbefeuchtung, Beimengung von toxischen Chemikalien oder Mikroben diskutiert. Andere Erwägungen beziehen sich auf Bedingungen, die nicht an das Raumklima gebunden sind, wie Bildschirmarbeit, zu helle, blendende, aber auch unzureichende Beleuchtung. Bisher ist keine Mitteilung publiziert worden, die quantitative Angaben über die inkriminierten Noxen enthält, so dass Art und Grad der Belastung erforscht werden konnten. Die ätiologischen Erwägungen enthalten häufig den Hinweis auf eine multifaktorielle Genese der unterstellten Schädigung, ohne dass die einzelnen Faktoren spezifiziert werden. Gerne wird eine besondere, individuelle Empfindlichkeit gegenüber Noxen, die unter der Nachweisgrenze liegen, postuliert. Studienlage: Studien zur Aufklärung der Bedingungen sind nie quantitativ, valide und reliabel. Die Ergebnisse sind mehrdeutig. Der aus lokalen und allgemeinen Beschwerden variabel zusammengesetzte Komplex von Symptomen ist meist nicht zu objektivieren. Fragebogenaktionen beziehen sich auf die Befindlichkeit der Betroffenen und ihre Einschätzung der Umweltbedingungen. Dabei wurde aber festgestellt, dass das Arbeiten in Gebäuden, die als »krank« und solchen, die als »gesund« bezeichnet wurden, mit gleichartigen Beschwerden assoziiert war. Auch führte eine Veränderung der Umweltbedingungen zum Besseren hin im Blindversuch nicht zu einer Abnahme der Beschwerden. Bei den Noxen fehlen Daten darüber, welche Substanzen solche oder ähnliche Beschwerden auslösen. Auch ist das Dosis-Wirkungs-Verhältnis nicht dargelegt. Schließlich fehlen bei den als allergisch angesprochenen Beschwerden Daten über die Anwesenheit von spezifischem IgE und Freisetzung von Mediatoren u.Ä. bei den Betroffenen. Vorbestehende Krankheiten und Reaktionen werden im Allgemeinen nicht erfasst, andere Ursachen als die speziell gesuchten nicht in die Differentialdiagnose aufgenommen. Anderseits fanden sich in einigen Studien Hinweise auf psychologische Variablen, z.B. hohe Arbeitsbelastung, Sorgen um den Arbeitsplatz. Diese legen den Schluss nahe, dass die psychologischen Umstände der Arbeit wenigstens so bedeutsam für das Befinden der Betroffenen ist wie die Verhältnisse am Arbeitsplatz. Nach mehreren amerikanischen Studien wurden die Beschwerden als massensoziogen bezeichnet, die auch in der Durchschnittsbevölkerung vorkommen und durch die Erfahrung ausgelöst werden, dass andere Personen in gleicher Umgebung ebenfalls derartige Beschwerden klagen. In diesen Arbeiten wird vorgeschlagen, den schlecht definierten Terminus »Sick-building-Syndrom« fallen zu lassen. > Das sog. Sick-building-Syndrom besteht aus vielfältigen

Beschwerden und allgemeiner Leistungsminderung. Die Symptomatik wird von den Betroffenen vor allem

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auf raumklimatische Bedingungen zurückgeführt. Nach der variablen Symptomatik und dem Ausfall der entsprechenden Laboruntersuchungen ist eine allergische, immunologische oder toxische Auslösung nicht wahrscheinlich. ä Der Fall Ein Lehrerehepaar stellt sich in der Sprechstunde mit nahezu gleichartigen Beschwerden vor: Die Konzentration habe nachgelassen, man könne sich auf den Unterricht nicht mehr so gut vorbereiten, man sei den Schülern gegenüber weniger tolerant, insgesamt weniger belastbar, habe Schlafstörungen, leide unter heftigen Kopfschmerzen. Die Haut sei deutlich blasser. Der Mann klagt über Appetitlosigkeit, die Frau über Gewichtszunahme. Der Schlaf sei gestört, am Morgen sei man überhaupt nicht mehr richtig ausgeruht. Das Ganze sei nicht nur während der Unterrichtszeit, sondern auch in der unterrichtsfreien Zeit und an Wochenenden vorhanden. Nein, mit dem Stress in der Schule habe es sicherlich nichts zu tun, denn der habe im Vergleich zur Vergangenheit nicht zugenommen. Lediglich während des Urlaubs, wenn man sich von zu Hause entferne, sei eine Besserung festzustellen. Man habe deswegen von einem Umweltinstitut die Umweltbelastung des Hauses ausmessen lassen. Dabei wurde eine zwar nur geringe, aber doch deutliche Erhöhung der Substanz XX und der Substanz XY festgestellt. Vor Jahren habe man, z.T. in Eigenarbeit, das Haus gründlich renoviert und dabei wohl auch Farben benutzt, in denen solche Substanzen enthalten seien. In der Zwischenzeit seien sie bei einem bekannten Spezialisten gewesen, der auch im Blut eine Belastung mit solchen Substanzen festgestellt habe. Gleichzeitig bestünde auch ein erhöhter Quecksilberspiegel im Blut. Die vorsichtige Warnung vor der Übernahme solcher Hypothesen wurde von dem Ehepaar nicht akzeptiert. Einige Monate später, nach einer Reihe von Detoxifizierungsbehandlungen, sind die Beschwerden unverändert vorhanden. Im Übrigen vertreten beide die Überzeugung, dass die Entgiftung nur deshalb nicht wirksam sei, weil neue, schädigende Substanzen, die man noch gar nicht kenne, jetzt im Körper seien. Und welche weiteren Belastungen in der Umwelt auch noch zu der Krankheit beitrügen, wisse man eben nicht. Ausschließen könne man es jedenfalls nicht. Insgesamt gehe es jedenfalls so nicht mehr weiter, und man habe deshalb vorsorglich schon einmal die Pensionierung beantragt.

36.2

Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit

3Definition und Terminologie. Dieser Beschwerdekomplex wurde bisher als multiple chemical sensitivities (MCS) beschrieben, jedoch hat der zuständige Ausschuss der Weltgesundheitsorganisation empfohlen, statt dessen den auch nicht besseren Terminus »Idiopathic Environmental Intolerance« zu verwenden, der keine spezielle ätiologische Zuordnung unterstellt. Auch

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Exkurs Neurologische Störungen durch elektromagnetische Wellen, besonders bei Mobiltelefonen oder in der Nähe von Überlandleitungen (»Elektrosmog«) Es häufen sich Mitteilungen über Fälle, bei denen neurologiEs gibt allerdings keine überzeugenden Hinweise darauf, sche Befindlichkeitsstörungen, aber auch das Entstehen von dass biologische Effekte, die man in In-vitro-Experimenten oder Tumoren, mit dem Gebrauch von Mobiltelefonen in Verbinin Tiermodellen finden konnte, in irgendeiner Weise eine Auswirdung gebracht werden. Auch hier gab es schnell Wissenschaftkung auf die neurologischen Funktionen haben könnten. Dies ler, die einen Beleg für den kausalen Zusammenhang zwischen gilt auch für Untersuchungen an freiwilligen Probanden, bei Schlafstörungen, Gedächtnisstörung, Konzentrationsmangel, denen EEG-Befunde dahingehend interpretiert wurden, dass eine Tinnitus, Schwindel und Kopfschmerzen einerseits und dem Abflachung des EEG-Grundrhythmus unter Einfluss von elektrohäufigen Gebrauch von Mobiltelefonen herstellten. Besonderes magnetischen Wellen gefunden wurde. Untersuchungen, wie Aufsehen erregte ein Fall vor Gericht, bei dem es um eine hohe solche elektromagnetischen Wellen den Schlaf beeinflussen, Entschädigung ging, da ein Akustikusneurinom in Zusammenerbrachten stark divergierende Ergebnisse: So wurde sowohl eine hang mit dem häufigen Gebrauch eines Handy gebracht wurVerlängerung als auch eine Verkürzung der Schlafdauer oder der de. Interessant war allerdings, dass das Akustikusneurinom Traumphasen beschrieben. Bei den meisten Probanden blieb der rechts war, der Betroffene allerdings Linkshänder war (und auch Nachtschlaf unverändert. überwiegend links telefonierte), was aber erst in der Revision bedeutsam wurde.

die besonders in Deutschland häufige »Amalgamunverträglichkeit« gehört zu diesem Symptomenkomplex.

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3Symptome und Verlauf. Unter der Bezeichnung MCS sind in der Literatur der letzten Jahre ätiologisch ungeklärte Beschwerden verschiedenster Art beschrieben worden, von denen hier Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, Tagesmüdigkeit, Konzentrationsschwäche, Muskelschmerzen und Geruchsüberempfindlichkeit genannt werden. Diese Beschwerden werden von den Betroffenen und einigen Ärzten so interpretiert, dass bereits kleinste Mengen chemischer Substanzen heftige subjektive Symptome auslösen. Es wurden die verschiedensten Substanzen als Auslöser angegeben. Toxikologische Untersuchungen ergaben widersprüchliche Befunde und Interpretationen. Die unterstellten Noxen waren nur bei einer sehr kleinen Zahl von Menschen schädlich wirksam. Diese Patientengruppe fühlt sich in ihrer Gesundheit und damit in Lebensfreude und Leistungsfähigkeit so stark beeinträchtigt, dass sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen und auch nicht mehr am geselligen Leben teilnehmen können. Das Leidensgefühl und die Tatsache, dass es den meisten Ärzten nicht gelingt, eine stichhaltige und auch von anderen Kollegen akzeptierte Diagnose zu stellen, treibt die Patienten von Arzt zu Arzt. 3Therapie. Versuche symptomatischer Therapie bleiben wirkungslos. Anstatt in einer erfolgreichen Therapie mündet der Leidenszustand der Patienten schließlich oft in juristischen Auseinandersetzungen mit Industriebetrieben, die sich jahrelang hinziehen und im Laufe derer sich die Beschwerden weiter verstärken. Stellungnahme der WHO zu MCS Der Beschwerdekomplex wird nicht als neurotoxisch angesehen, weil die als Ursache vermuteten chemischen Verbindungen in

vielen Fällen nicht nachweisbar sind. Ferner lässt sich fast immer der Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht führen. Beides kann bedeuten, dass die Substanz in einer so geringen Dosis vorhanden ist, dass sie nicht gemessen werden kann oder dass der unterstellte Zusammenhang zwischen Noxe und Beschwerden nicht vorliegt. Eine neurotoxisch ausgelöste Gesundheitsstörung müsste nach Beendigung der Exposition nachlassen oder ganz abklingen. Ähnliche Einwände gelten für die Unterstellung, dass elektromagnetische Wellen einen der genannten Beschwerdekomplexe auslösen. Persistierende, toxische Effekte sind bisher nicht nachgewiesen worden, ebenso wenig eine andauernd verminderte Toleranz gegenüber kleineren (kleinsten) Dosen der vermuteten Substanzen. Es gibt auch keine feste Beziehung zwischen Art der Substanz und Art der Symptome, wie man sie beim Mechanismus einer toxischen Schädigung erwarten müsste. Vielmehr sind die oben genannten allgemeinen Symptome bei den verschiedensten Beschwerdekomplexen zu erfahren (s.u.). MCS oder idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeit ist laut WHO keine Krankheit. »Anderseits ist es offensichtlich, dass die Betroffenen leiden, dass sie diese Leiden auf Umwelteinflüsse zurückführen und dass sie ärztliche [und nicht juristische, Anm. des Autors] Hilfe brauchen. Dabei sollten im weitesten Sinne des Wortes psychotherapeutische Verfahren im Vordergrund stehen. Aggressive Behandlungsverfahren, wie Chelattherapie oder andere Formen der Entgiftung« sollten nicht angewendet werden. Es wäre wünschenswert, wenn die Öffentlichkeit von fachkundiger Seite besser als bisher informiert würde« (Ende der WHO-Stellungnahme). Die American Academy of Allergy and Immunology, die American Medical Association, das American College of Physicians und die International Society of Regulatory Toxicology and

751 36.4 · Chronisches Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS)

Pharmacology haben dem Beschwerdekomplex keinen Krankheitsstatus zuerkannt. Die idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit, früher als multiple Überempfindlichkeit gegenüber Chemikalien bezeichnet, ist ein schlecht abgrenzbarer, hartnäckiger, rein subjektiver Beschwerdezustand, der von den Betroffenen mit verschiedenen Umwelteinflüssen in Beziehung gesetzt wird. 36.3

Fibromyalgie-Syndrom

3Definition. Seitdem 1983 in den USA ein zweibändiges Werk unter dem Titel: »Myofaszialer Schmerz und Funktionsstörung: das Triggerpunkt-Handbuch« erschien, wird die Diagnose Fibromyalgie-Syndrom bei Personen gestellt, die chronisch unter Schmerzen in ausgedehnten Regionen der Weichteile klagen und bei denen von einer Vielzahl von Druckpunkten (z. B. bis zu 30 an einem Arm) heftige Schmerzen ausgelöst werden können. Diese Schmerzen werden nicht, jedenfalls nicht nur, am Ort der Stimulation, sondern auch in weit entfernten Körperregionen empfunden.

phäenkiller-Syndrom (7 Abschn. 36.7.2) werden immer aufwendigere Untersuchungs- und Behandlungsverfahren eingesetzt. Stationäre Rehabilitationsbehandlung bleibt ohne Erfolg. Früher oder später wird der Betroffene berentet. Die Beschwerden lassen danach aber kaum nach, so dass das therapeutische Problem offen bleibt. Sozialmedizinische Bedeutung. Die Kosten für die privaten Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit werden in Kanada mit 200 Mio. Dollar pro Jahr und die allgemeinen Berufsunfähigkeitskosten in den USA mit 8 Mrd. Dollar pro Jahr angegeben. > Beim Fibromyalgie-Syndrom geben die Betroffenen

spontane Schmerzen von multipler Lokalisation an. Durch Druck auf (inkonsistente) »Schmerzpunkte« lassen sich lokale, aber auch weit entfernt lokalisierte Schmerzen auslösen. Eine überzeugende pathogenetische Hypothese fehlt. Alle diagnostischen Maßnahmen führen zu normalen Befunden.

36.4 3Symptome. Die spontanen Schmerzen beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit und, wie die Betroffenen berichten, auch die Lebensfreude. Allgemeine Symptome, die regelmäßig geklagt werden, sind Müdigkeit und schlechter Schlaf. Bei unabhängigen Nachuntersuchungen konnten schmerzauslösende Triggerpunkte nur bei 18% der Untersuchten nachgewiesen werden, was innerhalb des Plazebobereichs von 30% liegt. Blindversuche sind in der Literatur nicht berichtet. Den Muskelschmerzen entsprechen keine pathologischen Veränderungen im EMG. Die Muskelbiopsie ergibt ein normales Ergebnis. Die Laboruntersuchungen fallen ebenfalls normal aus. Im EEG sind von einigen Autoren α-Wellen im Muster des nonREM-Schlafs beschrieben worden (sog. α-δ-Schlaf), aber der Befund war häufig nicht reproduzierbar. Das American College of Rheumatology hat diagnostische Kriterien für die Diagnose des Fibromyalgie-Syndroms herausgegeben, die so weit gefasst sind, dass danach etwa 10% der weiblichen Bevölkerung die Kriterien erfüllen. 3Ätiologie. Die Beschwerden bleiben ätiologisch unaufgeklärt. Manche Ärzte unterstellen eine rheumatologische Krankheit, manche nehmen eine »neuroendokrinologische Autoimmunerkrankung« an, andere ziehen sich auf die Einordnung als »idiopathisch« zurück, wieder andere nehmen einen Serotoninmangel im Gehirn an. Die Existenz eines traumatischen Fibromyalgie-Syndroms ist nicht belegt. 3Therapie und Verlauf. Die Schmerzen sind therapeutisch nicht oder nur geringfügig zu beeinflussen. Blockierung der 5HT3-Rezeptoren in den Muskeln ist nur vorübergehend wirksam und erlaubt keine ätiologischen Schlüsse. Wie beim sog. Kory-

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Chronisches Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrome, CFS)

Der Beschwerdekomplex ist auch als Neuromyasthenie, myalgische oder »Yuppie Flu« beschrieben worden. 3Inzidenz und Prävalenz. Die Inzidenz wird mit einer sehr großen Streuung angegeben, möglicherweise aufgrund uneinheitlicher Kriterien für die Diagnose. Eine Publikation schätzt die Prävalenz auf 24%! Für Deutschland gibt eine Selbsthilfegruppe für CFS-Erkrankte an, dass 300.000 Personen erkrankt seien. Frauen zwischen 20 und 50 Jahren sollen häufiger als Männer betroffen sein. Das Beschwerdesyndrom ist in fast allen Industrieländern, nicht dagegen in Schwellenländern, beschrieben worden. Verwandt ist auch das »Golfkrieg-Syndrom«. 3Ätiologie. Die Vielzahl der Hypothesen schließt ein: 4 chronische Virusinfektionen, 4 Zustand nach Virusinfektion (am häufigsten wird das Epstein-Barr-Virus genannt, Zytomegalie bei Golfkriegveteranen), 4 Umweltbelastung, 4 immunologische Veränderungen Abnahme von aktivierten T-Zellen, vermehrte Expression von Interleukin-2-Rezeptoren, verstärkte Zytokinexpression) 4 abnormer Serotoninstoffwechsel oder endokrine Funktionsstörungen, 4 mitochondriale Defekte, 4 chronische Borreliose, 4 Auslösung durch Getreide und Milchprodukte, 4 chronische Depression oder somatoforme psychiatrische Störung, 4 psychologisch bedingtes Rückzugsverhalten.

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Bei Erörterung infektiöser Ursachen wird oft übersehen, dass mit den modernen, empfindlichen Nachweisverfahren Antikörpertiter auch nach erfolgreich behandelter Infektion lebenslang positiv bleiben. Manche »integrativen« Hypothesen sind Leerformeln, z.B. »es handelt sich wahrscheinlich um eine Störung der komplexen Regulation des psychoneuroendokrino-immunologischen Netzwerkes«. 3Symptome. Das Kernsymptom ist, gemäß einer Definition des Center for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, ein 6 Monate oder länger andauernder Erschöpfungszustand mit grippeähnlichen Symptomen, der Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigt. Zusätzlich werden variable somatische und psychische Beschwerden geklagt. 60–80% der Betroffenen klagen über Schlafstörungen, bei 50–80% bestand oder besteht eine psychiatrische Störung, meist depressiver Natur, oder eine Angststörung. Die operationalen, schwer objektivierbaren Kriterien, die das CDC für die Diagnose angegeben hat, sind in . Tabelle 36.1 aufgeführt. Daneben gibt es leicht davon abweichende britische und australische Listen von Kriterien. Auffällig ist die Überlappung der Symptomatik mit der anderer Beschwerdekomplexe, die in diesem Kapitel erörtert werden. Die Diagnose ist (noch) nicht in eines der bekannten Diagnosesysteme aufgenommen worden. 3Diagnostik. Zusatzuntersuchungen ergeben uneinheitliche Befunde: Mit standardisierten Fragebögen erfährt man die Beschwerden, die oben genannt sind. In neuropsychologischen Tests findet man lediglich – nicht unerwartet – eine Verlängerung der Antwortzeit bei Aufgaben mit Zeitbegrenzung. Laboruntersuchungen, einschließlich modernster immunologischer Tests stützen keine einheitliche, ätiologische Hypothese. Areale von regionaler kortikaler Minderdurchblutung in der SPECT-Untersuchung sind schwer zu interpretiere.

Im T2-gewichteten MRT sind multiple Herde im Marklager der Großhirnhemisphären beschrieben worden. Diese fanden sich aber auch bei gesunden Kontrollpersonen, und es dürfte sich dabei um häufig zu findende, nichtpathologische Veränderungen handeln (sog. UBOs, unidentified bright objects). Kernspinspektroskopie in Muskeln (selten ausgeführt) hat normale Befunde ergeben. Elektrophysiologische Untersuchungen, einschließlich der Registrierung ereigniskorrelierter Potentiale, erlaubten keine Unterscheidung zwischen Kranken und gesunden Kontrollpersonen. Erst kürzlich musste ein bekannter Forscher auf diesem Gebiet in einem Gerichtsverfahren eingestehen, dass Daten, die er in einem Gutachten für die Verbindung des Chronic-fatigue-Syndroms zu Umweltgiften vorgelegt hatte, nicht korrekt waren. 3Verlauf und Therapie. Der Verlauf ist wellenförmig, aber insgesamt chronisch, mit einer Dauer von 2,5 Jahren oder sehr viel länger. Charakteristika, die den Verlauf bestimmen, sind nicht bekannt. 4 Eine rationale oder wenigstens erfolgreiche Therapie ist nicht bekannt. 4 Bei dieser Lage ist es wichtig, dass der behandelnde Arzt den Patienten »annimmt« und ihm ein Behandlungsprogramm anbietet, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt: 5 Physiotherapie, 5 Übungsbehandlung, gegebenenfalls Akupunktur, 5 tri- oder tetrazyklische Antidepressiva in kleinen Dosen, 5 Verhaltenstherapie. Sozialmedizinische Beurteilung. Man kann überlegen, ob das chronische Müdigkeitssyndrom nicht den Platz einnimmt, den im vergangenen Jahrhundert die »Neurasthenie« eingenommen hatte, damals definiert als ätiologisch heterogene »reizbare Schwäche«. Hierzu ein Zitat von Möbius (1894):

. Tabelle 36.1. Kriterien für die Diagnose des chronischen Müdigkeitssyndroms

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Hauptkriterium: andauernde Müdigkeit oder Ermüdbarkeit für mindestens 6 Monate, die – nicht durch eine andere Krankheit erklärt werden kann, – neu aufgetreten ist, – nicht Folge einer chronischen Belastungssituation ist, – durch Bettruhe nicht zu beheben ist und – die durchschnittliche Leistungsfähigkeit deutlich vermindert. Nebenkriterien (wenigstens 4 davon müssen ebenfalls mindestens 6 Monate nach Einsetzen der Müdigkeit bestanden haben): – Halsschmerzen – Schmerzhafte axilläre oder zervikale Lymphknoten – Muskelschmerzen – Wandernde, nicht entzündliche Gelenkschmerzen – Neu aufgetretene Kopfschmerzen – Schwierigkeiten in der Konzentration und im Kurzzeitgedächtnis – Keine Erholung nach dem Schlaf – Mehr als 24 h andauernde Müdigkeit nach früher gewohnten Belastungen

753 36.6 · Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion

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Exkurs Neurologische Beschwerden bei Trägerinnen von Silikonimplantaten Diese Beschwerden ähneln weitgehend denen des Chronic7-stelligen Bereich, was nicht zuletzt durch die Besonderheiten fatigue-Syndroms. Seit ersten Entschädigungsentscheidungen des amerikanischen Gerichtssystems begründet ist. nehmen die Klagen über diese Art von Beschwerden zu. Von Bedeutung ist, dass alle kausalen Aussagen zu diesem Es gibt keine schlüssigen Beweise für eine toxische BegrünBeschwerdekomplex von nur einer Untersuchergruppe stammen dung solcher Beschwerden bei intakten Implantaten. Dennoch (die dann auch vor Gericht als Gutachter auftrat und an den rechnet man in den USA mit Entschädigungssummen im Entschädigungen beteiligt wurde).

»Der neue Name [d.h. Neurasthenie] bezauberte Ärzte und Laien, so dass die »neue Krankheit« rasch Bürgerrecht erhielt.« Neurasthenie findet sich übrigens jetzt wieder im Diagnosesystem der Psychiatrie. Die sozialmedizinische Beurteilung verlangt angesichts der krass uneinheitlichen Meinungsäußerungen vonseiten der Forscher und Ärzte eine gut fundierte eigene Meinungsbildung. Interessengruppen neigen dazu, der »Schulmedizin« zu unterstellen, dass sie sich Fortschritten in der Erkenntnis entgegenstellt. 36.5

Chronischer, täglicher Kopfschmerz

In der Internationalen Klassifikation der Kopfschmerzen wird die Bezeichnung chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp verwendet. Diese Form macht etwa 40% der Patienten aus, die sich in einer Kopfschmerzklinik vorstellen. 3Symptome und Diagnose. Die operationalen diagnostischen Kriterien sind: Kopfschmerzhäufigkeit wenigstens 15 Tage pro Monat oder 180 Tage pro Jahr über wenigstens 6 Monate hinweg mit wenigstens zwei der nachfolgend genannten Schmerzcharakteristika: 4 drückender oder ziehender Schmerz, 4 leichte bis mäßige Intensität, die tägliche Aktivitäten beeinträchtigt, aber nicht unmöglich macht, 4 beidseitige Lokalisation, 4 keine Verstärkung durch körperliche Aktivität, ferner: kein Erbrechen, 4 nur eines der Kriterien Übelkeit, Licht- oder Geräusch-Überempfindlichkeit, 4 Ausschluss einer zugrunde liegenden Krankheit. Viele Patienten sind emotional instabil, was man als Mitursache oder Folge der Kopfschmerzsymptomatik ansehen kann. 3Ätiologie. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Kopfschmerzen. Bei einem Teil der Patienten hat sich der tägliche Kopfschmerz aus einer periodisch verlaufenden Migräne entwickelt und hat diese abgelöst oder tritt in den Intervallen zwischen Kopfschmerzattacken auf. Bei anderen Patienten liegt ein durch Analgetika oder Ergotamin induzierter Kopfschmerz vor. Die Analgetika sind vor allem Parazetamol und Azetylsalizylsäure in

Kombinationspräparaten. Eine Sondergruppe ist die Hemicrania continua. Sie bessert sich zuverlässig auf Indometacin, was als diagnostisches Kriterium gewertet wird. 3Therapie und Prognose. Sie beginnt, nach eingehender Beratung über die pathogene Bedeutung von chronisch eingenommenen Schmerzmitteln, mit 4 abruptem Absetzen der bisher genommenen Medikamente, am besten unter stationären Bedingungen; 4 gleichzeitig gibt man symptomatisch Naproxen, 4 gefolgt von der Einleitung einer Prophylaxe mit Amitryptilin. Die Prognose ist nur bei straffer Führung der Patienten gut. 36.6

Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion

Von chronischen oder Spätfolgen nach HWS-Distorsion spricht man, wenn von einem Unfall Betroffene länger als 6 Monate nach dem Trauma über Beschwerden klagen und auf den Unfall zurückführen. 3Inzidenz. Die Inzidenz steht nicht in Beziehung zu der Schwere des initialen Traumas, sondern zu außermedizinischen Umständen. Versicherte klagen häufiger, länger und über schwerere Befindlichkeitsstörungen als nicht Versicherte, und eine ermutigende Einstellung der behandelnden Ärzte wirkt sich günstig aus. Übervorsichtige Einstellung mit langer Krankschreibung, Verordnung von Halskrausen und Äußerungen über zweifelhafte Prognose dagegen wirken intensivierend auf die Beschwerden. Im Lancet wurde 1996 eine aufschlussreiche Untersuchung publiziert: In Litauen ist die PKW-Insassen-Unfallversicherung fast unbekannt. Personen, die eine traumatische HWS-Distorsion erlitten hatten, klagten dort nicht häufiger über Nacken- und Kopfschmerzen als gesunde und arbeitsfähige Kontrollpersonen. 3Symptome. Die lokalen Beschwerden schließen Nackenund Hinterkopfschmerzen, Schmerzen, die in einen Arm oder beide Arme ausstrahlen, auch Kopf- und Augenschmerzen ein. Die Ausstrahlung lässt sich oft der segmentalen Innervation nicht

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Exkurs Hypothesen und Legenden zur Ätiologie von HWS-assoziierten Beschwerden Zur Erklärung von Gedächtnisstörungen, aber auch von TinniNeuerdings werden die chronischen Beschwerden nach tus und Sehstörungen wie Doppelbildern und GesichtsfeldHWS-Distorsion auf eine traumatisch verursachte Instabilität in defekten, wird oft darauf verwiesen, dass die A. vertebralis in den Gelenken C0/C1 und C1/C2 zurückgeführt. Diese soll v.a. einem Knochenkanal der HWS verläuft und mit ihren Endästen durch eine erworbene Schädigung und damit Asymmetrie der Hirnstamm (Augenmuskelkerne), Innenohr, die Repräsentation Ligamenta alaria erklärt werden. Diese Bänder verbinden die der Gesichtsfelder in der Sehrinde und »Gedächtnisstrukturen« Spitze des Dens axis mit der Gelenkfläche der Kondylen des im basalen Temporallappen versorgt. Hinterhauptbeins und stabilisieren die Bewegungen in den Diese Interpretation übersieht die Ausgleichs- und VerKopfgelenken. Die Untersuchungen, die der Hypothese einer teilerfunktion des Circulus arteriosus Willisii. Eine vaskuläre traumatischen Instabilität zugrunde liegen, sind allerdings nicht Hypothese würde voraussetzen, dass eine Unterbrechung des an lebenden Personen ausgeführt worden. Der Nachweis dieser Zuflusses zum hinteren Hirnkreislauf von der Dauer einer ZehnInstabilität am Patienten soll mit speziellen funktionellen, radiotelsekunde die Durchströmung in der A. basilaris, in den von logischen Techniken (CT und MRT) möglich sein. Einige radiologidieser fast rechtwinklig abgehenden langen, zirkumferenten sche Institute haben sich auf diese Untersuchungstechniken Brückenarterien, in der aus der A. cerebelli inferior anterior und spezialisiert. der von dieser oder von der A. basilaris abgehenden A. auditiva Gegen die dabei erhobenen Befunde sind gravierende meinterna und noch weiter distal davon in deren Endästen, thodologische Einwände erhoben worden, und auch die ErstbeR. cochlearis und R. vestibularis unter eine kritische Grenze schreiber sind vorsichtig von ihren Mitteilungen abgerückt. Die vermindert. Für den Hippocampus müsste sich die Durchbluangesprochene Hypothese kann deshalb, bevor ein Konsens tungsminderung jenseits der A. basilaris in den Aa. communierreicht ist, nicht zur Grundlage von ätiologischen Interpretatiocantes posteriores und in den Aa. chorioidea posteriores ausnen gemacht werden. wirken. Die temporobasalen Gedächtnisstrukturen werden aber auch – und zu einem erheblichen Anteil – aus der A. chorioidea anterior aus der A. carotis interna versorgt.

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zuordnen. Nervale Beziehungen zwischen der HWS und der Augenregion oder der Stirn bestehen nicht. Die allgemeinen Beschwerden sind: Tagesmüdigkeit, Schlafstörung, Angst, Geräuschempfindlichkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit und verminderte Belastbarkeit, Sehstörungen der verschiedensten Art bis zur Wahrnehmung von Doppelbildern sowie Hörminderung mit Ohrgeräuschen und Gleichgewichtsstörungen. Verschiedene Untersucher heben unterschiedliche Schwerpunkte in diesem Spektrum von Missbefinden hervor, und gleichartige Beschwerden werden bei der Mehrzahl der in diesem Kapitel beschriebenen Befindlichkeitsstörungen, aber auch in einem hohen Prozentsatz der Durchschnittsbevölkerung erhoben: In einem Schweizer Kollektiv von 15.300 Personen klagten etwa 45% der Befragten über Müdigkeit und Kopfschmerzen. 3Neurologische Untersuchung und Diagnostik. Bei der neurologischen Untersuchung werden fast immer Normalbefunde erhoben. Elektrophysiologische Untersuchungen bleiben ohne pathologischen Befund, wenn die in 7 Kap. 1 genannten Kriterien für die Feststellung von sog. Denervierungspotentialen und die Abhängigkeit der Nervenleitgeschwindigkeit von der Raumtemperatur berücksichtigt werden. Nach Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule werden Steilstellung und Bewegungseinschränkung bei Funktionsaufnahmen beschrieben, Veränderungen, die nur im Zusammenhang mit starken, objektiven Befunden als pa-

thologisch bewertet werden können. Degenerative Veränderungen sind in der Regel altersentsprechend. Neuropsychologische Störungen werden vor allem als Beeinträchtigung von Konzentration und Merkfähigkeit beschrieben. In Testuntersuchungen fällt die Langsamkeit der Antworten und eine verminderte Merkspanne auf. Diese Tests sind, wie leicht einsichtig, stark von der aktiven Mitarbeit des Untersuchten abhängig. Die Feststellung, ob der Proband gut motiviert und leistungsbereit war, gehört zu jedem einschlägigen Befund, und es ist bekannt, dass Depressivität die Leistungsbereitschaft hemmt. Um die Frage der Gedächtnisstörungen auf eine objektive Grundlage zu stellen, wurden in der Schweiz 2 Gruppen von Personen 6 Monate nach einer Halswirbelsäulendistorsion mit einem Test untersucht, der zuverlässig quantitative und qualitative Aspekte des Lernens überprüft. Die eine Gruppe umfasste Patienten, die noch Beschwerden klagten, die andere Gruppe war beschwerdefrei. Es fanden sich keine systematischen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. > Das Syndrom der Spätfolgen nach traumatischer Hals-

wirbelsäulendistorsion besteht aus therapieresistenten lokalen Schmerzen und allgemeinen Beschwerden von Müdigkeit bis Gedächtnisstörungen. Objektivierbare pathologische Befunde sind nicht festzustellen,

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755 36.7 · Simulationssyndrome

Theorien zur Pathogenese sind unplausibel. Es besteht eine positive Beziehung zwischen der Möglichkeit, eine materielle Entschädigung für Folgen des Unfalls zu erlangen, und dem Auftreten und der Dauer der Beschwerden.

Zusammenfassung der bisher besprochenen Beschwerdekomplexe Die in der Literatur und mehr noch in der Praxis als ätiologisch abgrenzbar beschriebenen Beschwerdesyndrome haben wichtige Leitsymptome gemeinsam: 4 Kopfschmerzen, 4 Tagesmüdigkeit, 4 Leistungsschwäche, 4 Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, 4 wandernde Schmerzen. Diese Beschwerden werden auf Befragen von einem nennenswerten Prozentsatz der Durchschnittsbevölkerung geklagt, und sie gehören auch zu der Symptomatik somatoformer, depressiver Störungen des Befindens. Objektivierbare, pathologische Befunde sind fast nie zu finden, und wenn sie beschrieben werden, stehen sie alternativen Interpretationen offen. Weder endokrinologisch noch immunologisch noch toxikologisch noch indirekt über allgemeine Laboruntersuchungen ist die Spezifität der beschriebenen Symptomenkomplexe wahrscheinlich gemacht worden. Es ist bemerkenswert, dass sie versicherungsrechtlich und juristisch als Krankheiten anerkannt werden, obwohl diese Anerkennung durch die zuständigen medizinischen Fachgesellschaften nicht ausgesprochen wird. Der Einwand von Interessengruppen, dies zeige die Voreingenommenheit der Schulmedizin, kann nicht überzeugen, denn auf anderen Gebieten, z.B. hinsichtlich der Akupunktur oder der additiven Verordnung von alternativen Behandlungsverfahren, deren Wirksamkeit nicht erwiesen ist, hat sich die Schulmedizin einem möglichen Fortschritt nicht verschlossen. Aus unserer Sicht handelt es sich um massenpsychologische Phänomene, die zivilisationsbedingte Ängste ausdrücken und zu deren Ausbreitung ein Mangel an ermutigender Aufklärung durch kompetente Ärzte ebenso beiträgt wie die Verbreitung von unbewiesenen, oft unplausiblen Annahmen in der Öffentlichkeit. Es gibt vergleichbare Phänomene in vergangenen Zeiten: So wurde nach der Einführung der Eisenbahn befürchtet, dass sich die Erschütterungen in den Waggons schädlich auf die Wirbelsäule der Fahrgäste auswirken und einen Krankheitszustand auslösen könnten, der als railway spine bezeichnet wurde. Vermutlich waren die Erschütterungen in den Pferdekutschen stärker. Railway spine geriet bald in Vergessenheit. Ebenso verschwand in Australien sehr schnell die »Eisenbahnerhand« in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts, nachdem diese Diagnose die Arbeit an der Errichtung der Eisenbahnlinien des Kontinents epidemieartig lahmgelegt hatte: Per Gesetz wurde diese »Diagnose« nicht

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mehr als Krankheit anerkannt. Handbeschwerden bei einseitiger körperlicher Tätigkeit tauchen immer wieder in verschiedenen Verkleidungen auf, zurzeit ist es der »Mausarm« oder die »Keyboardhand«. Die Liste der unscharf definierten Syndrome ließe sich verlängern: In den angloamerikanischen Ländern wird repetitive strain injury von bestimmten Kreisen lebhaft vertreten, obwohl die Kriterien repetitive und strain nicht klar definiert sind und injury bisher nicht objektiviert werden konnte. Weitere Beispiele aus der jüngeren Zeit sind die »Bildschirmblindheit« und die »Informationsmüdigkeit«. Fehlende Objektivierbarkeit ist per se kein sehr starkes Argument gegen die Existenz dieser Gruppe von Beschwerden, wohl aber das wellenförmige Kommen und Gehen und die geographisch unterschiedliche Inzidenz unter gleichen Arbeitsbedingungen, in deutlicher Abhängigkeit vom sozialmedizinischen Umfeld, einschließlich der Gewährung einer Entschädigung. 36.7

Simulationssyndrome

3Definition. Simulationssyndrome (engl. factitious disorders = »künstliche« oder »gemachte Krankheiten«) sind weitaus häufiger als gemeinhin angenommen. Man unterscheidet verschiedene Varianten, bei denen zunächst die Unterscheidung zwischen bewusstseinsnaher, böswilliger Täuschung (malingering) und der psychogenen Symptomgestaltung, die in ihrer Ausprägung zwar willkürlich ist, der allerdings eine oft unbewusste, psychiatrische Basis zugrunde liegt. Im ersten Fall liegt dann auch ein sekundärer Krankheitsgewinn nahe, der finanziell (Entschädigung) oder auch der Triumph, andere an der Nase herumgeführt zu haben, sein kann. Im zweiten Fall ist ein fließender Übergang zur somatoformen Störung zu erkennen, auch wenn es gewisse Unterschiedskriterien gibt. 3Allgemeine Symptome und Charakteristika. Allen gemeinsam ist die Neigung, unter dramatischen Umständen, verbunden mit vermeintlich klaren, objektiven Befunden (Blut im Urin, Stauungsödem, Anämie nach selbst durchgeführtem Aderlass, Sepsis durch Eigeninfektion u.v.m.) in Notaufnahmen zu erscheinen und dort zum »Fall des Tages« zu avancieren, oft in den Abend- und Nachtstunden in der Hoffnung, auf weniger erfahrenes Personal zu treffen. Es sind Fälle bekannt, die auf einer Art Wanderschaft in wenigen Jahren Hunderte Notaufnahmen, mit immer wechselnden, dramatischen Symptomen aufgesucht haben und in der Regel auch stationär aufgenommen wurden. Oft reisen diese Patienten unter falschem Namen, mit geliehener Identität, die auch Anerkennung hervorrufen soll: Natürlich sind sie privatversichert, haben aber die Versicherungskarte nicht dabei. Sie sind ehemaliger Fighterpilot, emeritierter Professor, verarmter Adel oder früherer Sportstar. Am nächsten Morgen findet man das Bett verlassen und bleibt auf der Rechnung sitzen.

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Mittelalte Männer dominieren in dieser Gruppe. Auch Angehörige medizinischer Berufe können hier zu großen Auftritten gelangen: Hypoglykämie durch Insulininjektion und die bei manchen jungen Damen beobachteten wechselnden Pupillenanomalitäten, die sicher bei den ersten 1- bis 2-mal ein MRT, früher eine Karotisangiographie nach sich zogen. Wir erinnern uns noch sehr gut an die differentialdiagnostischen Probleme, die wir mit einer jungen OP-Schwester hatten, die in der prä-CT-Ära mehrere Male mit einer weiten, lichtstarren Pupille und Kopfschmerzen zu uns kam, zweimal angiographiert wurde, bis uns auffiel, dass am nächsten Morgen die Seite gewechselt hatte. Die Augentropfen im Nachttischschrank erleichterten dann die Diagnose. Während oft der Wunsch nach einer Unterbringung für die Nacht, an rezeptpflichtige Schmerzmittel zu kommen oder einer finanziellen Abfindung nach Bagatellverletzung als Auslöser zur bewussten Vortäuschung von Symptomen führend sind, sind auch subtilere Formen des Krankheitsgewinns auch möglich. Diese reichen von Einflussnahme auf Familienstrukturen (Tochter soll nicht wegziehen), Steigerung der Selbsteinschätzung bis hin zu autoaggressiven Verhaltensweisen. Man schätzt, dass etwa 1% der Notfallpräsentationen in diese Kategorien gehört.

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3Ethische und juristische Aspekte. Verbunden hiermit sind eine Reihe ungelöster medizinisch ethischer Aspekte: 4 Darf man den Patienten mit dem Verdacht konfrontieren? 4 Ist Videobeobachtung erlaubt? 4 Dürfen wir den Patienten heimlich beobachten (»Habe Herrn X eben auf dem Flur gesehen, da ging er ganz flott und ohne Probleme.«)? Versicherungen haben Detektive auf Simulanten angesetzt, die bei angeblich unbeweglichen Rollstuhlfahrern gelungene Video-Dokumentationen von erfolgreichem Training im Fitness-Center vorlegten. 4 Dürfen wir die Patienten ohne deren Willen an die Psychiatrie verweisen? 4 Was ist mit den Büchern in den Ambulanzen, in denen die immer wiederkehrenden Kandidaten aufgelistet sind? 4 Wann müssen wir Polizei oder Versicherungen informieren (besonders bei großer Eigen- oder Fremdgefährdung, s.u., Münchhausen-by-proxy)? 4 Und schließlich: Wer zahlt bei selbstinduzierten Schäden? 36.7.1 Münchhausen-Syndrom Diese Verhaltensstörung wurde 1951 beschrieben. Patienten mit Münchhausen-Syndrom suchen unter dramatischen Umständen Krankenhäuser auf, unterziehen sich unangenehmen, oft schmerzhaften, auch risikobehafteten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und verlassen die Krankenhäuser bald auf eigenen Wunsch. Dann stellt sich heraus, dass die Angaben zur Person und zur Vorgeschichte ebenso falsch waren, wie die bei der Aufnahme dargebotenen Symptome. Die Inzidenz ist

nicht bekannt. Sie ist vermutlich gering. Dennoch ist die Kenntnis des Syndroms wichtig, wenn man nicht indizierte, konservative und operative Behandlungen vermeiden will. 3Symptome. Es gibt lokale und Allgemeinsymptome. Die lokalen treten in drei Varianten auf: 4 Beim akuten abdominellen Typ klagen Patienten so intensiv und so charakteristisch über Bauchbeschwerden und verstehen es, so überzeugend pathologische Tastbefunde zu imitieren, dass sie gewöhnlich als Notfall operiert werden. Nach häufigen Bauchoperationen bilden sich sekundäre Verwachsungen aus, die ihrerseits zu Beschwerden und Symptomen Anlass geben und zu weiteren Krankenhausaufenthalten mit Operationen führen. 4 Der hämorrhagische Typ ist darauf spezialisiert, dass Blutungen aus der Lunge oder aus dem Magen auftreten, die Gastrooder Bronchoskopie nach sich ziehen. 4 Der neurologische Typ äußert plötzliche, heftige Kopfschmerzen, die den Verdacht auf eine Subarachnoidalblutung lenken oder bekommt plötzliche Anfälle von Bewusstlosigkeit oder Lähmungen. Allgemein täuschen die Patienten nicht nur Krankheitssymptome vor, sondern schmücken auch ihre Lebensgeschichte reichhaltig aus: Sie geben falsche Namen, Adressen und Berufe an, und sie berichten dramatische biographische Details, die sich bei Überprüfung als unwahr erweisen. Die Patienten lassen mit einer bemerkenswerten Toleranz invasive diagnostische Maßnahmen, z. B. Angiographie, und Behandlungsverfahren, z. B. Operationen, selbst tagelange, maschinelle Beatmung über sich ergehen. Nach wenigen Tagen brechen sie Streitigkeiten mit Schwestern und Ärzten vom Zaun und verlassen auf eigene Verantwortung das Krankenhaus, zuweilen noch bevor ihre Wunden verheilt sind. Kurze Zeit später suchen sie mit den gleichen Beschwerden ein anderes Krankenhaus auf. Die Symptomatik bleibt stets konstant. 3Therapie und Verlauf. Versuche, diese schwere Verhaltensstörung zu behandeln, sind erfolglos geblieben, weil die Patienten die Störung nicht reflektieren und/oder diskutieren. Sie sind selten süchtig, selten Vagabunden oder Betrüger in anderen Lebensbereichen. Sie haben keinen Vorteil durch ihr Verhalten, sondern fügen sich, nach unseren Maßstäben, Schaden zu. Psychiatrisch wird diese Verhaltensabnormität in den Bereich der Selbstverletzungen eingeordnet. Es scheint, dass sie auf einem speziellen Gebiet lügen um des Lügens willen und aus den ihnen zugefügten Schmerzen einen sekundären Krankheitsgewinn erzielen. Es gibt Fälle, in denen die Einweisungsgründe so schwere Selbstverletzungen einschlossen, dass die Patienten nicht überlebten. Andere Patienten sterben an Komplikationen der von ihnen provozierten Eingriffe. Eine psychologisch orientierte Therapie ist selten möglich, weil die Patienten immer wieder den Arzt wechseln.

757 36.7 · Simulationssyndrome

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Exkurs Münchhausen by proxy Es gibt eine Variante des Syndroms, im Englischen als »Münchhausen by proxy« bezeichnet. Dabei setzen Mütter ein Kind unter Vorgabe falscher Symptome (Blut in der Windel, Krämpfe) der Krankenhausaufnahme und teilweise gravierenden, diagnostischen Maßnahmen aus, ohne dass eine medizinische

36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom Das Koryphäenkiller-Syndrom (KKS) hat Ähnlichkeiten mit dem Münchhausen-Syndrom, unterscheidet sich davon aber in wichtigen Charakteristika und, soweit erkennbar, in der Psychodynamik. 3Symptome und Interaktionen. Eine diffuse Symptomatik ist führend, die sich auf Organe im Brustkorb oder Bauch, auf Schmerzen, Sensibilitätsstörungen oder Bewegungsstörungen bezieht, die eindrucksvoll als extrem bedrückend geschildert wird, aber nicht für definierte Krankheiten typisch ist. Durch die Heftigkeit und gleichzeitige Unbestimmtheit dieser Beschwerden fühlen sich viele Ärzte aufgefordert, mit großem persönlichen und apparativen Einsatz diagnostische Maßnahmen zu veranlassen, die sie bei einem Durchschnittspatienten nicht für angemessen halten würden. Der hohe diagnostische Aufwand führt aber nicht zur Diagnose. Der Patient wird ungeduldig, der Arzt kommt an die Grenzen seiner Möglichkeiten und überweist den Patienten an einen bekannten Spezialisten, die Koryphäe, der seinerseits große, wiederum vergebliche, aber immer teurer werdende diagnostische Anstrengungen unternimmt. Die Beschwerden werden stärker, die Untersuchungen aufwendiger und invasiver, und der Patient, der gewöhnlich einen Aktenordner mit Vorbefunden bei sich hat und inzwischen über gute differentialdiagnostische Kenntnisse verfügt, treibt einen Arzt nach dem anderen mit drängenden Fragen, auch unter kri-

Veranlassung dafür besteht und ohne dass ein psychologisches Motiv erkennbar ist. Es einfach in die Nähe der Kindesmisshandlung zu rücken, ist zu simpel. Hier liegt eine schwere psychische Abnormität mit Neigung zu Selbst- und Fremdgefährdung vor.

tischem Hinweis auf frühere Untersucher und Forderungen nach besserer Diagnostik, in die Verzweiflung. Oft werden aber auch Voruntersuchungen verschwiegen, wodurch solche Patienten leicht auf 3–4 MRTs unterschiedlicher Körperregionen innerhalb weniger Monaten kommen. Da es zu keiner klaren Diagnose kommt, sind die probatorisch vom Arzt vorgeschlagenen Therapien mit erkennbarer Unsicherheit auf seiner Seite belastet. Die fortgesetzten Fehlschläge führen zur Enttäuschung auf beiden Seiten, die den oben beschriebenen Mechanismus in Gang hält. Diese Patienten sind zugleich häufige Opfer von Scharlatanen und sektiererischen Außenseitermethoden. Die Verfügbarkeit ungefilterter Informationen im Internet ist in diesem Zusammenhang keine Entlastung. Das weiteres Charakteristikum ist, dass sich keine stabile Beziehung zwischen Patient und Arzt entwickelt. Vielmehr bleibt die Beziehung oberflächlich und wird bald von Misstrauen und Enttäuschung geprägt, so dass beide Seiten den Wunsch verspüren, die Beziehung durch Überweisung an einen anderen Spezialisten zu beenden. 3Therapie. Die Therapie ist denkbar schwierig, weil der Patient keinen seelischen Leidensdruck hat und voll in der Konversion ins Körperliche aufgeht. Der behandelnde Arzt sollte erkennen, dass seine diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen Abwehrmechanismen ausdrücken, und muss die Kraft entwickeln, die Tatsache anzusprechen, dass bei dem Patienten eine psychische Fehlentwicklung vorliegt.

In Kürze Sick-building-Syndrom

Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit

Symptome: Lokale Symptome wie trockene Augen, verstopfte Nase, Reizempfindungen im Rachen, Atembeschwerden, Engegefühl um die Brust, Jucken und Rötung der Haut, allgemeine Symptome wie Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, periodische oder chronische Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Antriebsarmut und Gleichgültigkeit, Gliederschmerzen. Ätiologie: Unklar; vermeintlich klimatische Bedingungen in Innenräumen der Gebäude, mögliche Kontamination der Luft in Klimaanlagen.

Symptome: Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, Tagesmüdigkeit, Muskelschmerzen, Konzentrationsschwäche, Geruchsüberempfindlichkeit. Ätiologie: Unklar; angeblich verschiedene Umwelteinflüsse.

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Fibromyalgie-Syndrom Symptome: Spontane Schmerzen von multipler Lokalisation, Druck auf (inkonsistente) »Schmerzpunkte« löst lokale oder weit

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Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

entfernt lokalisierte Schmerzen aus, allgemeine Symptome wie Müdigkeit, schlechter Schlaf. Ätiologie: Existenz eines traumatischen Fibromyalgie-Syndroms ist nicht belegt.

Chronisches Erschöpfungssyndrom Symptome v.a. bei Frauen zwischen 20–50 J.: Erschöpfungszustand mit grippeähnlichen Symptomen >6 Monate, Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, variable somatische und psychische Beschwerden. Ätiologie: Unklar; angeblich u.a. chronische Virusinfektionen, Umweltbelastung, abnormer Serotoninstoffwechsel oder endokrine Funktionsstörungen, mitochondriale Defekte.

Chronischer, täglicher Kopfschmerz Symptome: Drückender oder ziehender Schmerz von leichter bis mäßiger Intensität, beidseitige Lokalisation, keine Verstärkung durch körperliche Aktivität, Übelkeit, Licht- oder Geräusch-Überempfindlichkeit. Häufigkeit: ≥15 Tage/Monat oder 180 Tage/Jahr über ≥6 Monate. Ätiologie: Aus periodisch verlaufender Migräne entwickelt, Analgetikum- oder Ergotermin induziert. Therapie: Abruptes Absetzen der bisher genommenen Medikamente, symptomatische Naproxen-Gabe, Amitryptilin-Prophylaxe.

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Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion Beschwerden treten >6 Monate nach Trauma auf und sind auf Unfall zurückzuführen. Symptome: Lokale Beschwerden wie Nacken-, Hinterkopf- und Augenschmerzen. Allgemeine Beschwerden wie Tagesmüdigkeit, Schlaf-, Seh-, Gleichgewichtsstörungen, Reizbarkeit, Angst, Geräuschempfindlichkeit, Unkonzentriertheit, Hörminderung.

Simulationssyndrome Münchhausen-Syndrom. Verhaltensstörung, bei der Patienten mit vorgetäuschten Krankheitssymptomen unter dramatischen Umständen Krankenhäuser aufsuchen, sich unangenehmen, oft schmerzhaften, auch risikobehafteten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen unterziehen und auf eigenen Wunsch die Krankenhäuser verlassen. Koryphäenkiller-Syndrom. Verhaltensstörung mit hartnäckigen, aber untypischen Beschwerden, die trotz intellektuellem und apparativem Aufwand keiner definierten Krankheiten zuzuordnen ist. Es kommt zu keiner klaren Diagnose oder Therapie, Patient wird an anderen Spezialisten überwiesen.

Anhang A1 Skalen

– 761

A2 Danksagung

– 789

A3 Abbildungsquellen

– 791

A4 Weiterführende Literatur A5 Sachverzeichnis

– 795

– 793

A1 A1 Skalen NIH Stroke Scale – Deutsche Übersetzung – 762 Barthel-Index – 768 Basisprotokoll der Behinderung bei MS (inkl. Kurtzke/EDSS-Skala) – 769 Webster-Skala (Parkinson) – 776 UPDRS-Skala (Unified Parkinson’s Disease Rating Scale) – 778 Mini Mental Status Test – 786

762

Anhang

NIH Stroke Scale – Deutsche Übersetzung Der Untersucher muss eine Antwort wählen, auch wenn eine vollständige Untersuchung durch Hindernisse wie einen endotrachealen Tubus, Sprachbarrieren, orotracheales Trauma oder Verbände beeinträchtigt ist. Ein Score von 3 ist nur dann erreicht, wenn sich der Patient auf Schmerzreize (außer reflexbedingte Lageänderungen) nicht bewegt.

1a. Bewusstseinszustand • Wach, unmittelbar antwortend . . . . . . . . . • Benommen, aber durch geringe Stimulation . . zum Befolgen von Aufforderungen, Antworten oder Reaktionen zu bewegen • Stuporös, bedarf wiederholter Stimulation um aufmerksam zu sein, oder ist somnolent und bedarf starker oder schmerzhafter Stimuli zum Erzielen von Bewegungen (keine Stereotypien) • Koma, antwortet nur mit motorischen oder . . vegetativen Reflexen oder reagiert gar nicht, ist schlaff und ohne Reflexe

. . . 0 . . . 1 . . . 2

. . . 3

Der Patient wird nach dem Monat und dem Alter gefragt. Die Antwort muss korrekt sein – es gibt keinen Punkt für fast zutreffende Antworten. Aphasische und stuporöse Patienten, die die Fragen nicht verstehen, erhalten den Score 2. Patienten, die aufgrund einer Intubation, eines orotrachealen Traumas, einer schweren Dysarthrie jeglicher Genese, Sprachbarriere oder irgendeines anderen Problems, das unabhängig von der Aphasie besteht, nicht sprechen können, erhalten den Score 1. Es ist wichtig, dass nur die zuerst gegebene Antwort bewertet wird und dass der Untersucher dem Patienten nicht mit verbalen oder non-verbalen Hinweisen »hilft«.

1b. • • •

Fragen zum Bewusstseinszustand Beantwortet beide Fragen richtig . . . . . . . . . . .  0 Beantwortet eine Frage richtig . . . . . . . . . . . . .  1 Beantwortet keine Frage richtig . . . . . . . . . . . .  2

Der Patient wird gebeten, die Augen zu öffnen und zu schließen und danach die nicht-paretische Hand zu schließen und zu öffnen. Können die Hände nicht benutzt werden, kann ersatzweise eine andere einschrittige Aufforderung gegeben werden. Eindeutige Versuche, die aufgrund einer Schwäche nicht vollständig ausgeführt werden können, werden als erfolgreich bewertet. Falls der Patient auf die Aufforderung nicht reagiert, soll die Bewegung vorgemacht (Pantomime) und das Ergebnis notiert werden (d.h. befolgt keine, ein oder zwei Anweisungen). Patienten mit Trauma, Amputation oder anderen körperlichen Beeinträchtigungen sollen passende einschrittige Aufgaben erhalten. Nur der erste Versuch wird bewertet.

1c. • • •

Aufforderung zur Ermittlung des Bewusstseinszustandes Führt beide Aufgaben richtig aus . . . . . . . . . . .  0 Führt eine Aufgabe richtig aus . . . . . . . . . . . . .  1 Führt keine Aufgabe richtig aus . . . . . . . . . . . .  2

Es werden nur die horizontalen Augenbewegungen untersucht. Willkürliche oder reflektorische (oculocephale) Augenbewegungen wurden bewertet, aber es findet keine kalorische Prüfung statt. Wenn der Patient eine konjugierte Blickdeviation zeigt, die durch willkürliche oder reflektorische Aktivität überwunden werden kann, beträgt der Score 1. Patienten mit isolierter peripherer Augenmuskelparese (III., IV.

2. Blickbewegungen • Normal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0 • Partielle Blickparese. Dieser Punktwert wird . . . . .  1 vergeben, wenn die Blickrichtung von einem oder beiden Augen abnormal ist, jedoch keine forcierte Blickdeviation oder komplette Blickparese besteht.

A1

763 A1 · Skalen

oder VI. Hirnnerv), erhalten den Score I. Blickbewegungen können bei allen aphasischen Patienten untersucht werden. Patienten mit Augenverletzung, -verband, vorbestehender Blindheit oder einer anderen Erkrankung des Visus oder des Gesichtsfeldes, sollen anhand von reflektorischen Bewegungen und einer vom Untersucher zu treffenden Auswahl untersucht werden. Das Herstellen eines Blickkontakts und nachfolgende Bewegungen im Gesichtsfeld des Patienten können gelegentlich helfen eine partielle Blickparese abzuklären.



Forcierte Blickdeviation oder komplette . . . . . . .  2 Blickparese, die durch Ausführen des oculocephalen Reflexes nicht überwunden werden kann.

Die Gesichtsfelder (obere und untere Quadranten) wurden in Gegenüberstellung getestet, wobei Fingerzählen oder visuelle Gesten verwendet werden sollen. Patienten sollten zur Durchführung ermuntert werden; wenn sie korrekt auf die sich bewegende Hand blicken, wird dies als normal bewertet. Bei unilateraler Blindheit oder Z.n. Enukleation wird das Gesichtsfeld anhand des verbliebenen Auges bewertet. Der Score 1 wird nur dann vergeben, wenn eine eindeutige Asymmetrie, Quadrantenanopsie eingeschlossen, vorliegt. Wenn ein Patient aus irgendeinem Grund blind ist, so wird dies als Score 3 bewertet. Anschließend wird eine Untersuchung beider Seiten simultan durchgeführt. Wenn eine unilaterale Auslöschung besteht, erhält der Patient den Score 1 und das Ergebnis wird bei der Beantwortung von Frage 11 benutzt.

3. • • • •

Gesichtsfeld Keine Gesichtsfeldeinschränkung . . . . . . Partielle Hemianopsie . . . . . . . . . . . . . Komplette Hemianopsie . . . . . . . . . . . Bilaterale Hemianopsie (Blindheit inklusive kortikaler Blindheit)

Fordern Sie den Patienten verbal oder durch Pantomime auf, die Zähne zu zeigen, die Augenbrauen hochzuziehen und die Augen zu schließen. Bei wenig reagierenden oder verständnisunfähigen Patienten wird die Symmetrie der Gesichtszüge auf schmerzhafte Stimuli bewertet. Falls Gesichtsverletzungen, -verbände, ein orotrachealer Tubus, Pflaster oder andere physikalische Hindernisse das Gesicht verdecken, sollen diese soweit möglich entfernt werden.

4. Facialisparese • Normale symmetrische Bewegungen . . . . . . . • Geringe Parese (abgeflachte Nasolabialfalte, . . . Asymmetrie beim Lächeln) • Partielle Parese (vollständige oder fast . . . . . . vollständige Parese des unteren Gesichts) • Vollständige Parese von einer oder zwei . . . . . Seiten (Fehlen von Bewegungen im oberen und unteren Teil des Gesichts)

Die Extremität wird in die passende Lage gebracht: ausgestreckte Arme (Handflächen nach unten) in 90°-Position (sitzender Patient) oder in 45°-Position (liegender Patient) und gestreckte Bein in 30°-Position (Beine stets am liegenden Patienten untersuchen). Ein Absinken liegt vor, wenn ein Arm vor Ablauf von 10 Sekunden oder ein Bein vor Ablauf von 5 Sekunden absinkt. Ein aphasischer Patient wird durch Nachdrücklichkeit in der Stimme und Pantomime unterstützt, jedoch sollen keine Schmerzstimuli angewendet werden. Die Extremitäten werden nacheinander getestet, wobei mit dem nicht-paretischen Arm begonnen wird. Nur bei Amputation oder Gelenkversteifung an Schulter oder Hüfte darf

5 & 6 Motorik von Armen und Beinen: 5. Arme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . links … rechts • Kein Absinken, die Extremität wird . . . . . .  0 …  0 über 10 Sekunden in der 90°- (oder 45°-) Position gehalten. • Absinken, Extremität wird zunächst . . . . .  1 …  1 bei 90° (oder 45°) gehalten, sinkt aber vor Ablauf von 10 Sekunden ab; das Bett (oder eine andere Unterlage) wird nicht berührt • Anheben gegen Schwerkraft möglich, . . . .  2 …  2 Extremität kann die 90°- (oder 45°-) Position nicht erreichen oder halten, sinkt auf das

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

0 1 2 3

. . 0 . . 1 . . 2 . . 3

764

Anhang

der Score »9« vergeben werden und der Untersucher muss dies schriftlich begründen.

Bett ab, kann aber gegen Schwerkraft angehoben werden • Kein (aktives) Anheben gegen . . . . . . . . .  3 …  3 Schwerkraft, Extremität fällt • Keine Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . .  4 …  4 • Amputation, Gelenkversteifung: . . . . . . . .  9 …  9  bitte erklären: __________________________________ 6. Beine • Kein Absinken, Bein bleibt über 5 . . . . . . .  0 …  0 Sekunden in der 30°-Position • Absinken, Bein sinkt am Ende der . . . . . .  1 …  1 5-Sekunden-Periode, berührt das Bett jedoch nicht • Aktive Bewegung gegen Schwerkraft, . . . . .  2 …  2 das Bein sinkt binnen 5 Sekunden auf das Bett ab, kann aber gegen die Schwerkraft gehoben werden • Kein Anheben gegen die Schwerkraft, . . . .  3 …  3 Bein fällt sofort auf das Bett • Keine Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . .  4 …  4 • Amputation, Gelenkversteifung: . . . . . . .  9 …  9  bitte erklären: __________________________________

Mit diesem Item sollen Hinweise für eine unilaterale Kleinhirnläsion gefunden werden. Untersuchen Sie bei geöffneten Augen. Sollte ein Gesichtsfeldausfall vorliegen, stellen Sie sicher, dass die Untersuchung im intakten Bereich des Gesichtsfeldes durchgeführt wird. Der Finger-Nase-Finger- und der Knie-Hacke-Versuch wird auf beiden Seiten durchgeführt; eine Ataxie wird nur dann festgestellt, wenn sie über eine muskuläre Schwäche hinaus vorhanden ist. Eine Ataxie wird bei Patienten mit Verständnisschwierigkeiten oder Plegie als fehlend gewertet. Nur im Falle einer Amputation oder Gelenkversteifung kann dieses Item als 9 gewertet werden, und der Untersucher muss dies schriftlich begründen. Bei Vorliegen einer Blindheit lassen Sie den Patienten einen einfachen Finger-Nase-Versuch durchführen.

7. • • •

Extremitäten Ataxie fehlend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0 in einer Extremität vorhanden . . . . . . . . . . . . .  1 in zwei Extremitäten vorhanden . . . . . . . . . . . .  2

Falls vorhanden, besteht die Ataxie in Rechtem Arm • Nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 • Ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2 • Amputation, Gelenkversteifung; . . . . . . . . . . .  9  bitte erklären: __________________________________ Linkem Arm • Nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 • Ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2 • Amputation, Gelenkversteifung; . . . . . . . . . . .  9  bitte erklären: __________________________________ Rechtem Bein • Nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 • Ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2 • Amputation, Gelenkversteifung; . . . . . . . . . . .  9  bitte erklären: __________________________________ Linkem Bein • Nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 • Ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2 • Amputation, Gelenkversteifung; . . . . . . . . . . .  9  bitte erklären: __________________________________

A1

765 A1 · Skalen

Wahrnehmung von oder Grimassieren auf Nadelreize, oder Abwehrreaktion auf Schmerzreize beim somnolenten oder aphasischen Patienten. Nur Sensibilitätsstörungen, die auf einen Schlaganfall zurückgeführt werden können, werden als abnorm bewertet; der Untersucher sollte so viele Körperregionen untersuchen (Arme (nicht Hände), Beine, Stamm, Gesicht) wie zur akkuraten Feststellung halbseitiger Sensibilitätsstörungen erforderlich sind. Ein Punktwert von 2 (»schwer oder vollständig«) sollte nur vergeben werden, wenn ein schwerer oder vollständiger Sensibilitätsverlust deutlich nachgewiesen werden kann. Stuporöse und aphasische Patienten werden deshalb wahrscheinlich mit einer 1 oder einer 0 bewertet werden. Ein Patient mit Hirnstamminsult und beidseitigem Sensibilitätsverlust wird mit einer 2 bewertet. Ein Patient, der nicht antwortet und tetraplegisch ist, wird mit 2 bewertet. Komatöse Patienten (Item 1 a = 3) werden bei diesem Item als 2 eingestuft.

8. Sensibilität • Normal; kein Sensibilitätsverlust . . . . . . . . . . .  0 • Leichter bis mittelschwerer Sensibilitätsverlust; . . .  1 Patient empfindet Nadelstiche auf der betroffenen Seite als weniger scharf oder stumpf, oder es besteht ein Verlust des Oberflächenschmerzes für Nadelstiche, doch nimmt der Patient die Berührung wahr. • Schwerer bis vollständiger Sensibilitätsverlust; . . .  2 Patient nimmt die Berührung von Gesicht, Arm und Bein nicht wahr.

Die meisten Informationen über das Sprachverständnis werden bereits in den vorhergehenden Untersuchungsabschnitten gewonnen. Der Patient wird gebeten zu beschreiben, was auf dem beigefügten Bild geschieht, die Gegenstände auf dem Erkennungsbogen zu benennen und die Satzliste vorzulesen. Das Verständnis wird sowohl anhand der hierbei gegebenen Antworten als auch durch alle Antworten auf Aufforderungen in der bisherigen allgemein-neurologischen Untersuchung beurteilt. Falls ein Visusverlust die Ausführung der Aufgaben behindert, bitten Sie den Patienten, Gegenstände, die in seine Hand gelegt werden, zu identifizieren, Gesprochenes nachzusprechen und eigenständig Sätze zu formulieren. Der intubierte Patient wird gebeten, schriftlich zu antworten. Komatöse Patienten (Item 1 a = 3) werden bei diesem Item als 3 eingestuft. Bei stuporösen oder eingeschränkt kooperativen Patienten muss der Untersucher einen Punktwert festlegen, jedoch sollte ein Wert von 3 nur vergeben werden, wenn der Patient stumm ist und keine einzelnen Aufforderungen befolgt.

9. Sprache • Keine Aphasie; normal . . . . . . . . . . . . . . . . • Leichte bis mittelschwere Aphasie; deutliche . . . . Einschränkung von Umfang oder Art des Ausdruckes. Die Einschränkung des Sprachverständnisses, keine relevante Einschränkung von Umfang oder Art des Ausdruckes. Die Einschränkung des Sprachvermögens und/oder des Sprachverständnisses macht die Unterhaltung über die vorgelegten Untersuchungsmaterialien jedoch schwierig bis unmöglich. Beispielsweise kann der Untersucher in einer Unterhaltung über die vorgelegten Materialien anhand der Antwort des Patienten ein Bild oder eine Wortkarte zuordnen. • Schwere Aphasie, die gesamte Kommunikation . . findet über fragmentierte Ausdrucksformen statt: Der Zuhörer muss das Gesagte in großem Umfang interpretieren, nachfragen oder erraten. Der Umfang an Information, der ausgetauscht werden kann, ist begrenzt; der Zuhörer trägt im Wesentlichen die Kommunikation. Der Untersucher kann die vorgelegten Materialien anhand der Antworten des Patienten nicht zuordnen. • Stumm, globale Aphasie; keine verwertbare . . . . Sprachproduktion oder kein Sprachverständnis

Auch wenn der Eindruck eines Normalbefundes besteht, sollte der Patient aufgefordert werden aus der beigefügten Liste Wörter vorzulesen oder zu wiederholen, um eine adäquate Sprachprobe zu erhalten. Im Falle einer schweren Aphasie

. 0 . 1

. 2

. 3

10. Dysarthrie • Normal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0 • Leicht bis mittelschwer; der Patient spricht . . . . .  1 zumindest einige Wörter verwaschen und kann,

766

Anhang

kann die Artikulation von Spontansprache bewertet werden. Nur im Falle einer Intubation oder anderer mechanischer Behinderungen der Sprachproduktion sollte dieses Item als 9 bewertet werden und der Untersucher muss dies schriftlich begründen. Dem Patienten soll nicht mitgeteilt werden, warum er/sie getestet wird.

schlimmstenfalls, nur mit Schwierigkeiten verstanden werden • Schwer; die verwaschene Sprache des . . . . . . . . .  2 Patienten ist unverständlich und beruht nicht auf einer Aphasie oder übersteigt das auf eine Aphasie zurückzuführende Maß oder Patient ist stumm/anarthrisch • Intubation oder andere mechanische . . . . . . . . .  9 Behinderungen;  bitte erklären: __________________________________

Ausreichende Informationen um einen Neglect erkennen zu können, sollten bereits während der vorangehenden Untersuchungen erhalten worden sein. Sollte der Patient einen schweren Visusverlust haben, der eine gleichzeitige visuelle Reizung beider Seiten unmöglich macht und die Reizung der Haut normal sein, so ist der Punktwert normal. Sollte der Patient eine Aphasie haben, aber beide Seiten zu beachten scheinen, so ist der Punktwert normal. Das Vorliegen eines räumlich-visuellen Neglects oder einer Anosognosie sollte ebenfalls als Hinweis auf eine Abnormalität gewertet werden. Da eine Abnormalität nur bei Vorhandensein gewertet wird, kann dieser Punkt immer untersucht werden.

11. Auslöschung und Nichtbeachtung (früher: Neglect) • Keine Abnormalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  0 • Visuelle, taktile, auditive, räumliche oder . . . . . .  1 personenbezogene Unaufmerksamkeit oder Auslöschung bei der Überprüfung von gleichzeitiger bilateraler Stimulation in einer der sensiblen Qualitäten • Schwere halbseitige Unaufmerksamkeit oder . . . .  2 halbseitige Unaufmerksamkeit in mehr als einer Qualität. Kein Erkennen der eigenen Hand oder Orientierung nur zu einer Seite des Raums.

Bitte addieren Sie alle Punktwerte.

Gesamtpunktwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  (Bitte beachten: Fragen 5 a und 5 b: Eine Bewertung mit 9 = »Amputation« bitte als 0 zählen. Frage 10: Eine Bewertung mit 9 = »Intubation oder andere mechanische Behinderung« bitte als 0 zählen.)

© der deutschen Version: Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 1998. Nach Dr. K. Berger et al., Fortschr. Neurol. Psychiat. 67 (1999) 81 – 93, Thieme Verlag

767 A1 · Skalen

STUHL

Wissen Sie schon

KREIS

Auf der Erde

DREIECK

Ich ging von der Arbeit nach Hause

TROPFEN FÜNFZEHN

Am Tisch im Esszimmer

SIEBENHUNDERTEINUNDZWANZIG

Sie hörten ihn gestern abend im Radio sprechen

A1

768

Anhang

Barthel-Index Punkte Essen und Trinken

nicht möglich

0

braucht Unterstützung, z.B. beim Schneiden von Fleisch, Aufstreichen von Butter etc. oder benötigt eine spezielle Diät

5

selbstständig Baden/Duschen Persönliche Hygiene

An-/Ausziehen

nicht selbstständig möglich

0

kann selbstständig Vollbad oder Dusche nehmen

5

braucht Unterstützung bei der persönlichen Pflege

0

kann sich Hände und Gesicht waschen, kämmen, Zähne putzen, rasieren, Make-up benutzen (Toilettenartikel können bereitgestellt werden)

5

abhängig

0

benötigt Hilfe; mind. die Hälfte des Aufwandes wird vom Patienten selbst geleistet innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens

5

selbstständig beim Auswählen der Kleidung, An- und Ausziehen einschl. Verschlüsse (Knöpfe, Reißverschluss) und Schnürsenkel Stuhlkontrolle

inkontinent oder unselbstständig (benötigt Einläufe) gelegentliches Einkoten/Missgeschick (max. 1/Woche) kontinent, keine Missgeschicke

Harnkontrolle

Treppauf-/ Treppabsteigen

5 10 0 5

unselbstständig selbstständig einschl. An-/Ausziehen, Kleidung reinhalten, Anus säubern

Mobilität (auf ebenem Untergrund)

0

gelegentliches Einnässen/Missgeschick (max. 1/Tag)

teilselbstständig, aber Hilfsperson nötig Transfer (Bett-Rollstuhl und zurück)

10

inkontinent oder unselbstständig (Blasenkatheter) kontinent Tag und Nacht

Toilettenbenutzung

10

10 0 5 10

nicht möglich, keine Sitzbalance

0

kann sitzen, muss aber von 1 bis 2 Personen aus dem Bett gehoben werden bzw. benötigt deutliche Hilfestellung

5

geringe Hilfe oder Aufsicht durch 1 Person für einen oder mehrere Teilschritte erforderlich

10

selbstständig in allen Bereichen, fährt sicher an das Bett, betätigt Bremsen, hebt die Fußstützen, wechselt in das Bett, legt sich nieder, kann allein aufrecht auf der Bettkante sitzen, die Position des Rollstuhls korrigieren; analog zurück

15

immobil, auf Hilfe angewiesen, kann weniger als 50 m gehen

0

selbstständiger Gebrauch des Rollstuhls; sollte um Ecken, an Tisch, Bett oder Toilette fahren u. auf der Stelle drehen können; Mindeststrecke 50 m

5

auf Hilfe oder Aufsicht angewiesen, mind. 50 m mit geringer Unterstützung

10

kann mind. 50 m gehen; Hilfsmittel wie Prothesen, Gehstützen können eingesetzt werden, jedoch kein Rollator; Gebrauch der Hilfsmittel selbstständig

15

nicht möglich

0

benötigt Hilfe oder Aufsicht

5

bewältigt ein Stockwerk ohne Hilfe, Gebrauch von Geländer, Gehhilfe möglich Variation der Barthel-Punktzahl zwischen:

(Nach: Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, www.dsg-info.de, 2006)

10 0–100

769 A1 · Skalen

Basisprotokoll der Behinderung bei MS I. Funktionelle Systeme (FS) (Funktionsbeeinträchtigung Nach WHO: Impairment) 1. Pyramidenbahn (Kraftmaß nach Medical Research Council) 0 keine Aktivität 1 Muskelkonzentrationen ohne Bewegungseffekt 2 Bewegung unter Ausschaltung der Schwerkraft 3 Bewegung gegen die Schwerkraft 4 Bewegung gegen einigen Widerstand 5 Bewegung gegen maximalen Widerstand (normal) 01234569-

normal abnormale Befunde ohne Behinderung minimale Behinderung leichte oder mittelschwere Paraparese oder Hemiparese (5 bis 3); schwere Monoparese (3 bis 1) ausgeprägte Paraparese oder Hemiparese (3 bis 1); mittelschwere Tetraparese (4 bis 2); Monoplegie (0) Paraplegie, Hemiplegie, ausgeprägte Tetraparese (2 bis 1) Tetraplegie unbekannt

2. Kleinhirn 0 - normal 1 - abnormale Befunde ohne Behinderung 2 - leichte Ataxie (benötigt keine Hilfe). Erkennbarer Tremor 3 - mäßige Rumpf- oder Extremitätenataxie (benötigt Stock, Abstürzen an Wänden, etc. Funktion zeitweise erschwert) 4 - schwere Extremitätenataxie (benötigt Stützen oder Hilfsperson. Funktion konstant erschwert) 5 - Unfähigkeit zu koordinierten Bewegungen infolge Ataxie 9 - unbekannt Zusatzbefunde (bezüglich Kraft) 0 - Schwäche beeinflusst Untersuchungsergebnisse nicht 1 - Schwäche (Grad 3 oder schwächer bei Pyramidenfunktion), beeinflusst Untersuchung 9 - unbekannt 3. Hirnstamm 0 - normal 1 - abnorme Untersuchungsbefunde 2 - mäßiger Nystagmus oder anderweitig leichte Behinderung

3 - ausgeprägter Nystagmus, deutliche Paresen von äußeren Augenmuskeln, mäßige Funktionsstörungen anderer Hirnnerven 4 - deutliche Dysarthrie oder andere ausgeprägte Funktionsstörungen 5 - Unfähigkeit zu sprechen oder zu schlucken 9 - unbekannt 4. Sensorium 0 - normal 1 - Abschwächung von Vibrationssinn oder ZahlenErkennen an einer oder zwei Extremitäten 2 - leichte Verminderung von Berührungs-, Schmerzoder Lageempfindung; und/oder mäßige Abschwächung des Vibrationssinnes in einer oder zwei Extremitäten; oder Verminderung entweder des Vibrationssinnes oder des Zahlenerkennens allein an drei oder vier Extremitäten 3 - mäßige Verminderung von Berührungs-, Schmerzoder Lageempfindung sowie/oder Verlust der Vibrationsempfindung in einer oder zwei Extremitäten; oder leichte Verminderung von Berührungs- oder Schmerzempfindung sowie/oder mäßige Verminderung in allen propriozeptiven Tests in drei oder vier Extremitäten 4 - deutliche Verminderung von Berührungs-, Schmerzempfindung und Propriozeption an einer oder kombiniert an einer oder zwei Extremitäten; oder mäßige Verminderung von Berührungs- oder Schmerzempfindung sowie/oder schwere Einschränkung der Propriozeption in mehr als zwei Extremitäten 5 - weitgehender Sensibilitätsverlust in einer oder zwei Extremitäten; oder mäßige Verminderung der Berührungs- oder Schmerzempfindung und/oder Verlust der Propriozeption am größten Teil des Körpers 6 - weitgehender Sensibilitätsverlust unterhalb des Kopfes 9 - unbekannt 5. Blasen- und Mastdarmfunktionen (Bewertung der schlechteren Funktion) 0 - normal 1 - leichtes Harnverhalten, leichter Harndrang 2 - mäßig ausgeprägtes Harn- und/oder Stuhlverhalten. Mäßig ausgeprägter imperativer Harn-, beziehungsweise Stuhldrang. Seltene Harninkontinenz. Gelegentliche Verwendung von Laxanzien, intermittierend Selbstkatheterisierung, manuelle Blasen- beziehungsweise Darmentleerung 3 - häufige Urininkontinenz

A1

770

Anhang

4 - beinahe konstante Katheterisierung und konstante Verwendung von Hilfsmitteln zur Stuhlentleerung 5 - Verlust der Blasenfunktion 6 - Verlust von Blasen- und Darmfunktion 9 - unbekannt 6. Sehfunktionen (Visus korrigiert) 0 - normal 1 - Skotom, Visus größer als 1,2 2 - schwächeres Auge mit Skotom und Visus 1,2 bis 0,6 3 - schwächeres Auge mit ausgedehntem Skotom, oder mäßige Gesichtsfeldeinschränkung, aber mit maximalem Visus von 0,6 bis 0,4 4 - schwächeres Auge mit deutlicher Gesichtsfeldeinschränkung und maximalem Visus von 0,4 bis 0,2; Grad 3 plus maximaler Visus des besseren Auges 0,6 oder weniger 5 - schwächeres Auge mit maximalem Visus unter 0,2. Grad 4 plus maximaler Visus des besseren Auges von 0,6 oder weniger 6 - Grad 5 plus maximaler Visus des besseren Auges von 0,2 oder weniger 9 - unbekannt 7. Zerebrale Funktionen 0 - normal 1 - Stimmungsschwankungen 2 - leichte organische Wesensveränderung 3 - mäßiggradige organische Wesensveränderung 4 - ausgeprägte organische Wesensveränderung 5 - schwere Demenz 9 - unbekannt 8. Andere Funktionen 0 - keine 1 - andere neurologische Befunde, die auf die MS zurückzuführen sind 9 - unbekannt A Zusatzbefund Spastizität 0 - nicht vorhanden 1 - vorhanden 9 - unbekannt B Zusatzbefund Kontrakturen 0 - nicht vorhanden 1 - vorhanden 9 - unbekannt C Zusatzbefund Haut 0 - kein Dekubitus 1 - mindestens ein Dekubitus 9 - unbekannt

D Zusatzbefund Harnwegsinfekt 0 - selten HWI 1 - häufig HWI 9 - unbekannt E

Zusatzbefund Sehnervenpapille 0 - temporale Abblassung nicht vorhanden 1 - temporale Abblassung vorhanden 9 - unbekannt

II. Leistungsskala (Nach Kurtzke J. F.: Rating neurologic impairment in multiple sclerosis: an expanded disability status scale (EDSS) Neurology (1983), 33, 1444 - 1452 (Die Angaben der Grade beziehen sich auf die Untersuchung der funktionellen Systeme (FS) 0.0 - normale neurologische Untersuchung (Grad 0 in allen funktionellen Systemen) 1.0 - keine Behinderung, minime Abnormität in einem funktionellen System (d.h. Grad 1) 1.5 - keine Behinderung, minime Abnormität in mehr als einem FS* (mehr als einmal Grad 1) 2.0 - minimale Behinderung in einem FS (ein FS Grad 2, andere 0 oder 1) 2.5 - minimale Behinderung in zwei FS (zwei FS Grad 2, andere 0 oder 1) 3.0 - mäßiggrade Behinderung in einem FS (ein FS Grad 3, andere 0 oder 1) oder leichte Behinderung in drei oder vier FS (3 oder 4 FS Grad 2, andere 0 oder 1), aber voll gehfähig 3.5 - voll gehfähig, aber mit mäßiger Behinderung in einem FS (Grad 3) und ein oder zwei FS Grad 2; oder zwei FS Grad 3; oder fünf FS Grad 2 (andere 0 oder 1) 4.0 - gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 500 m. Aktiv während ca. 12 Stunden pro Tag trotz relativ schwerer Behinderung (ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1) 4.5 - gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 300 m. Ganztägig arbeitsfähig. Gewisse Einschränkung der Aktivität, benötigt minimale Hilfe, relativ schwere Behinderung (ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1) 5.0 - gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 200 m Behinderung schwer genug, um tägliche Aktivität zu beeinträchtigen (z.B. ganztägig zu arbeiten ohne besondere Vorkehrungen). (Ein FS Grad 5,

* Ausgenommen zerebrale Funktionen (7), Grad 1

771 A1 · Skalen

5.5 -

6.0 -

6.5 -

7.0 -

7.5 -

8.0 -

8.5 -

9.0 -

9.5 -

10 -

übrige 0 oder 1; oder Kombination niedrigerer Grade, die aber über die Stufe 4.0 geltenden Angaben hinausgehen) gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 100 m. Behinderung schwer genug, um normale tägliche Aktivität zu verunmöglichen (FS-Äquivalente wie Stufe 5.0) bedarf intermittierend, oder auf einer Seite konstant, der Unterstützung (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 100 m ohne Rast zu gehen. (FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 3 plus) benötigt konstant beidseits Hilfsmittel (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 20 m ohne Rast zu gehen (FS-Äquivalente wie 6.0) unfähig, selbst mit Hilfe, mehr als 5 m zu gehen. Weitgehend an den Rollstuhl gebunden. Bewegt den Rollstuhl selbst und transferiert ohne Hilfe (FS-Äquivalente Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 4 plus, selten Pyramidenbahn Grad 5 allein) unfähig, mehr als ein paar Schritte zu tun. An den Rollstuhl gebunden. Benötigt Hilfe für Transfer. Bewegt Rollstuhl selbst, aber vermag nicht den ganzen Tag im Vollstuhl zu verbringen. Benötigt eventuell motorisierten Rollstuhl (FS-Äquivalente wie 7.0) Weitgehend an Bett oder Rollstuhl gebunden; pflegt sich weitgehend selbständig. Meist guter Gebrauch der Arme (FS-Äquivalente Kombinationen meist von Grad 4 plus in mehreren Systemen) Weitgehend ans Bett gebunden, auch während des Tages. Einiger nützlicher Gebrauch der Arme, einige Selbstpflege möglich (FS-Äquivalente wie 8.0) Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren (FS-Äquivalente sind Kombinationen, meist Grad 4 plus) Gänzlich hilfloser Patient. Unfähig zu essen, zuschlucken oder zu kommunizieren (FS-Äquivalente sind Kombinationen von fast lauter Grad 4 plus) Tod infolge MS

III. Leistungsvermögen 1. Treppensteigen (Fähigkeit, etwa 12 Stufen hoch- und niederzusteigen) 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Stock, Krücke oder Geländer oder ähnliches 3 - benötigt Unterstützung durch Hilfsperson 4 - unmöglich (benötigt mechanische Aufzüge) 2. Gehen (Fähigkeit, auf ebenem Boden 50 m ohne Rast zu gehen) 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Stock, Krücke, Prothesen oder ähnliches 3 - benötigt Unterstützung durch Hilfsperson oder mechanischen Rollstuhl, den der Patient selbst besteigen, manövrieren und wieder verlassen kann 4 - Gangunfähigkeit, Rollstuhlabhängigkeit, benötigt eventuell motorisierten Rollstuhl 3. Transfer (Wechsel von Toilette - (Roll-)Stuhl - Bett) 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Hilfsmittel und Einrichtungen wie Handstützen, Geländer, Haltegriffe etc. 3 - benötigt Unterstützung durch Hilfsperson 4 - muss vollständig durch Hilfsperson transferiert (gehoben, getragen) werden 4. Stuhlgang 0 - normal 1 - Verstopfung, durch faserreiche Diät, Laxanzien, gelegentliche Einläufe oder Suppositorien, die der Patient selbst verabreicht, behebbar 2 - Verstopfung, regelmäßige Anwendung von Laxanzien, Einläufen oder Suppositorien durch den Patienten selbst 3 - Verstopfung, Verabreichung von Einläufen oder Suppositorien durch Hilfsperson. Benötigt Hilfe zur Reinigung. Gelegentliche Stuhlinkontinenz 4 - Stuhlinkontinenz 5. Blasenfunktion 0 - normal (auch wenn Medikamente verwendet werden müssen) 1 - gelegentliches Harnverhalten, beziehungsweise Harndrang, gelegentliche Anwendung von Medikamenten 2 - häufig Harnverhalten oder Harndrang. Selbstkatheterisierung, regelmäßige Anwendung von Medikamenten

A1

772

Anhang

3 - gelegentlich Harninkontinenz, Katheterisierung durch Hilfsperson 4 - häufig Inkontinenz 6. Bad (Waschen und Trocknen) 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Hilfsmittel und Einrichtungen wie Handstützen und Haltegriffen etc. 3 - benötigt Unterstützung durch Hilfsperson 4 - muss vollständig von Hilfsperson gewaschen, gebadet und getrocknet werden 7. An- und Auskleiden 0 - normal 1 - übliche Kleidung wird mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe an- und ausgezogen 2 - benötigt angepasste Kleidung (z.B. nur vorne schließende), beziehungsweise Bestandteile (z.B. Spezialverschlüsse an Kleidern und Schuhen), um sich selber an- und auszuziehen 3 - benötigt teilweise Unterstützung durch Hilfsperson 4 - muss vollständig von Hilfsperson an- und ausgezogen werden 8. Körperpflege 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Spezialgeräte (Elektrorasierer, elektrische Zahnbürste, spezielle Kämme und Bürsten, Armstützen) 3 - benötigt teilweise Unterstützung durch Hilfsperson 4 - Körperpflege ausschließlich von Hilfsperson durchgeführt 9. Essen (Einnahme, Kauen, Schlucken von fester und flüssiger Nahrung und Handhabung benötigter Instrumente) 0 - normal 1 - mit einiger Mühe, aber ohne Hilfe 2 - benötigt Hilfsmittel (Spezialbesteck, Trinkhalme) oder spezielle Zubereitung, isst aber selbständig 3 - Essenseingabe durch Hilfsperson; Einnahme fester Speisen unmöglich wegen Dysphagie. Allenfalls selbständige Handhabung der Magensonde, beziehungsweise Witzel-Fistel 4 - muss durch Hilfsperson ernährt werden 10. Sehen 0 - normal, vermag kleinere als durchschnittliche Druckschrift zu lesen (mit oder ohne Brille/Linsen), keine Doppelbilder

1 - vermag Druckschrift zu lesen, gelegentlich Doppelbilder 2 - benötigt Vergrößerungsglas, beziehungsweise Großschrift zum Lesen, häufig Doppelbilder 3 - vermag nur sehr große Schrift (Zeitungsüberschriften) zu lesen. Konstant Doppelbilder 4 - Leseblindheit 11. Sprechen und Hören 0 - normal, subjektiv keine Hörminderung, Aussprache und Sprachfluss adäquat 1 - Beeinträchtigung von Gehör und Sprachäußerung ohne Erschwerung der Kommunikation 2 - die Kommunikation erschwerende Beeinträchtigung von Gehör oder Sprachäußerung 3 - ausgeprägte, durch Zeichensprache und Lippenlesen kompensierbare Hörminderung und/oder schwere durch Zeichensprache oder schriftliche Kommunikation kompensierbare Sprechstörung 4 - ausgeprägte, nicht kompensierbare Taubheit und/ oder Sprechstörung 12. Medizinische Probleme (Allgemeinmedizinische, neurologische oder orthopädische Störungen, einschließlich Komplikationen wie Kontrakturen, Dekubitalgeschwüre, Harnwegsinfekte) 0 - keine wesentliche Störung 1 - Störung, die keiner besonderen Behandlung bedarf. Erhaltungstherapien. Ärztliche Untersuchungen seltener als vierteljährlich notwendig 2 - ärztliche Untersuchungen häufiger als vierteljährlich, aber seltener als wöchentlich notwendig 3 - regelmäßige (mindestens wöchentliche) Untersuchung. Behandlung, Pflege durch Arzt oder Krankenschwester notwendig 4 - tägliche Untersuchung, Behandlung, Pflege durch Arzt oder Krankenschwester notwendig. Meist im Krankenhaus oder Heim 13. Stimmung, Gemütsverfassung (Angst, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Sinnestäuschungen, Euphorie, Halluzinationen etc.) 0 - kein Problem 1 - Störung vorhanden von Zeit zu Zeit, aber ohne Einfluss auf den Alltag 2 - Schwierigkeiten, die den Alltag beeinträchtigen, die der Patient aber bis auf Medikamentenverschreibung selbständig zu regeln vermag

773 A1 · Skalen

3 - Schwierigkeiten, die den Alltag beeinträchtigen und dauernd einer Behandlung bedürfen, die über die Verabreichung von Medikamenten hinausgeht. (Psychotherapie, Krankenhausaufenthalt, psychiatrische Hospitalisation) 4 - Schwierigkeiten, die durch keine Maßnahmen wesentlich verbessert werden können 14. Intelligenz (Gedächtnis, Denken, Urteilen, Abschätzen, Orientierung) 0 - kein Problem 1 - Störung vorhanden, aber ohne Einfluss auf den Alltag 2 - Schwierigkeiten, die sich auf den Alltag auswirken, die aber selbständig, auch ohne Hilfsmittel, geregelt werden können 3 - Schwierigkeiten, die den Alltag beeinträchtigen und Unterstützung durch Hilfspersonen erfordern 4 - Schwierigkeiten, die die meisten alltäglichen Aktivitäten verunmöglichen (ausgeprägte Verwirrtheit, Gedächtnisschwund) 15. Ermüdbarkeit (Gefühl von Schwäche und Mattigkeit, das alle Funktionen der Bewegung und Koordination, gelegentlich auch des Sehens und Fühlens beeinträchtigt. Es kann nur kurzzeitig vorübergehend auftreten oder auch über Stunden bis Tage. Ein von MS-Patienten sehr häufig geklagtes Symptom) 0 - keine Ermüdbarkeit 1 - Ermüdbarkeit vorhanden ohne Beeinträchtigung elementarer Körperfunktionen 2 - Ermüdbarkeit führt kurzzeitig und vorübergehend zu Beeinträchtigung elementarer Körperfunktionen 3 - Ermüdbarkeit führt kurzzeitig zu einem Verlust, beziehungsweise häufig zu einer Beeinträchtigung elementarer Körperfunktionen 4 - Ermüdbarkeit verunmöglicht längerdauernde körperliche Aktivitäten 16. Sexualität 0 - keine sexuellen Probleme 1 - sexuell weniger aktiv als früher und/oder sexuelle Probleme, aber deswegen nicht »beunruhigt« 2 - sexuell weniger aktiv als früher bei/wegen sexueller Probleme und darob besorgt 3 - sexuell inaktiv, darob besorgt 4 - sexuell inaktiv, deswegen unbesorgt

IV. Erhebung zum sozialen Umfeld (Environmental status) 1. Arbeit (inkl. Schule, Studium etc) 0 - altersentsprechend, normal, beziehungsweise pensioniert 1 - arbeitet ganztags, aber in weniger anspruchsvoller Position 2 - arbeitet mehr als halbtags 3 - arbeitet zwischen einem Viertel und halbtags 4 - arbeitet, aber weniger als ein Viertel 5 - arbeitsunfähig 2. Finanzielle/ökonomische Situation (in Beziehung zur MS) 0 - keine Probleme 1 - Familie hält üblichen Standard ohne Unterstützung von außen, trotz gewisser krankheitsbedingter Einschränkungen 2 - Familie hält üblichen Standard mit Hilfe einiger Unterstützung von außen 3 - Familie hält üblichen Standard dank Invalidenrente, Pension etc. 4 - Familie hält üblichen Standard dank Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten 3. Wohnsituation (in Beziehung zur MS) 0 - keine Veränderung notwendig 1 - geringfügige Veränderungen notwendig 2 - ausgedehntere Veränderungen notwendig 3 - größere Veränderungen und Zusätze notwendig 4 - Wohnungswechsel notwendig 5 - privates Wohnen nicht mehr möglich (Heim etc.) 4. Fremde Hilfe und Unterstützung (in Beziehung zur MS) 0 - nicht darauf angewiesen 1 - kleinere Hilfeleistungen (z.B. durch Verwandte), persönliche Unabhängigkeit gewahrt 2 - benötigt Hilfe während täglich bis zu einer Stunde zur Wahrung der persönlichen Unabhängigkeit 3 - benötigt Hilfe während bis zu drei Stunden zur Verrichtung von Alltagstätigkeiten 4 - benötigt Hilfe während mehr als drei Stunden täglich, aber nicht dauernd, und kann zu Hause leben 5 - benötigt dauernd Hilfe, Pflege oder Überwachung, kann nicht für längere Zeit allein gelassen werden

A1

774

Anhang

5. Transport 0 - keine Probleme, selber Auto zu fahren oder öffentliche Transportmittel zu benutzen 1 - vermag trotz kleinerer Behinderung jedes Transportmittel zu benutzen 2 - vermag trotz Schwierigkeiten öffentliche Transportmittel zu benutzen. Benötigt Umbau der Steuereinrichtung des eigenen Wagens 3 - vermag nicht öffentliche, aber private Transportmittel zu benutzen, fährt nicht selbst Auto, aber kann gefahren werden 4 - benötigt professionelle Transportdienste (Taxis etc.) 5 - benötigt Ambulanz 6. Soziale Dienste 0 - nicht benötigt 1 - einmal monatlich oder seltener beansprucht 2 - weniger als eine Stunde pro Woche 3 - weniger als eine Stunde pro Tag 4 - ein bis vier Stunde pro Tag 5 - mehr als vier Stunden pro Tag 7. Gesellschaftliche Aktivität 0 - gesellschaftlich aktiv wie zuvor 1 - erhält gewohnte gesellschaftliche Aktivität trotz gewisser Schwierigkeiten aufrecht 2 - einige Einschränkungen gesellschaftlicher Aktivitäten, wie Änderung von Art und Häufigkeit und vermehrte Abhängigkeit von anderen 3 - deutliche Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Aktivität, weitgehend abhängig von Aktionen anderer, aber fähig zu Eigeninitiative 4 - gesellschaftlich nicht aktiv, außer auf Initiative anderer 5 - keine gesellschaftliche Aktivität

A1

775 A1 · Skalen

Patient:

Datum:

Untersucher:

Basisprotokoll der Behinderung bei MS (Empfehlung der IFMSS)

I.

Funktionelle Systeme 1. Pyramidenbahn 3. Hirnstamm 5. Blase und Mastdarm 7. Zerebrale Funktionen

Zusatzbefunde A) Spastizität B) Kontrakturen C) Haut D) Harnwegsinfekt E) Sehnervenpapille

   

2. 4. 6. 8.

Kleinhirn Sensorium Sehfunktion Andere

   

     

II. Erweiterte Leistungsskala nach Kurtzke III. Leistungsvermögen 1. Treppensteigen 3. Transfer 5. Blasenfunktion 7. An- und Auskleiden 9. Essen 11. Sprechen und Hören 13. Stimmung, Gemütsverfassung 15. Ermüdbarkeit

       

2. 4. 6. 8. 10. 12. 14. 16.

IV. Erhebung zum sozialen Umfeld 1. Arbeit 3. Wohnen 5. Transport 7. Gesellschaftliche Aktivität

   

2. Finanzielle/ökonomische Situation 4. Fremde Hilfe und Unterstützung 6. Soziale Dienste

Gehen Stuhlgang Bad Körperpflege Sehen Medizinische Probleme Intelligenz Sexualität

(Nach Sonderdruck aus J. Kesselring: Multiple Sklerose, Verlag Kohlhammer)

          

776

Anhang

Webster-Skala (Parkinson) 1. Bradykinesie der Hände normal

0

angedeutete Verlangsamung

1

maßig, Mikrographie

2

schwer, deutliche Funktionsbeeinträchtigung

3

keiner

0

angedeutet

1

mäßig

2

schwer (besteht auch unter Medikamenten)

3

2. Rigor

3. Haltung normal

0

Kopf bis 12,5 cm nach vorne

1

Kopf bis 15 cm nach vorne, Armbeugung

2

Kopf mehr als 15 cm nach vorne, Armbeugung über die Hüfte

3

4. Mitschwingen der Arme normal

0

ein Arm vermindert

1

ein Arm schwingt nicht

2

beide Arme schwingen nicht

3

5. Gangbild normal

0

Schrittverkürzung auf 30-45cm

1

Schrittverkürzung auf 15-30cm

2

Schrittverkürzung auf unter 10cm, Stotterschritte

3

6. Tremor keiner

0

Amplitude < 2,5cm

1

Amplitude < 10cm

2

Amplitude > 10cm, Essen/Schreiben unmöglich

3

A1

777 A1 · Skalen

7. Gesicht normal

0

ausgedehnte Hypomimie

1

mäßige Hypomimie, Mund zeitweise offen

2

eingefrorenes Gesicht, Speichelfluss

3

8. Seborrhö keine

0

vermehrt

1

ölige Haut, dünner Film

2

dicker Film gesamter Kopf

3

9. Sprechen normal

0

heiser, schlecht moduliert

1

heiser, monoton, undeutlich

2

Palilalie

3

10. Selbständigkeit normal

0

beeinträchtigt, aber erhalten

1

teilweise auf Hilfe angewiesen, braucht sehr viel Zeit zu allem

2

vollständig abhängig

3

Werte: maximale Punktzahl (schwerste Ausprägung des Parkinson-Syndroms) minimale Punktzahl (kein Parkinson-Syndroms)

30 0

leichtes Parkinson-Syndrom mittelschweres Parkinson-Syndrom schweres Parkinson-Syndrom

1–10 11–20 20–30

(Nach: Webster D.D., Critical analysis of the disability in Parkinson’s disease (1968). Med. Treatm. 5: 257-282)

778

Anhang

UPDRS-Skala (Unified Parkinson’s Disease Rating Scale) STADIUM

War der Patient zum Zeitpunkt der Untersuchung im ON- oder OFF-Stadium?

ON

OFF

O

O

I) KOGNITIVE FUNKTIONEN, VERHALTEN UND STIMMUNG (1-4) 1. Intellektuelle Einschränkung • Keine. • Leicht. Vergesslichkeit mit teilweiser Erinnerung an Ereignisse und keine anderweitigen Schwierigkeiten. • Mäßiger Gedächtnisverlust mit Desorientierung und mäßigen Schwierigkeiten beim Meistern komplexer Probleme. Leichte, aber definitive Einschränkung zu Hause mit der Notwendigkeit einer gelegentlichen Hilfe. • Schwerer Gedächtnisverlust mit zeitlicher und häufig örtlicher Desorientierung. Schwere Einschränkung bei der Bewältigung von Problemen. • Schwerer Gedächtnisverlust, Orientierung nur zur Person erhalten. Kann keine Urteile fällen und keine Probleme lösen. Benötigt bei der persönlichen Pflege viel Hilfe. Kann nicht mehr alleine gelassen werden. 2. Denkstörungen (als Folge von Demenz oder Medikamentenintoxikationen) • Keine. • Lebhafte Träume. • »Gutartige« Halluzinationen mit erhaltener Einsicht. • Gelegentliche bis häufige Halluzinationen und Wahnvorstellungen; keine Einsicht; könnte sich störend auf die täglichen Aktivitäten auswirken. • Persistierende Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder floride Psychose. Kann sich nicht selbst versorgen. 3. Depression • Nicht vorhanden. • Zeitweise Traurigkeit oder Schuldgefühl stärker als normal, niemals Tage oder Wochen anhaltend. • Anhaltende Depression (1 Woche oder länger). • Anhaltende Depression mit vegetativen Symptomen (Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Verlust des Interesses). • Anhaltende Depression mit vegetativen Symptomen und Selbstmordgedanken oder -absichten. 4. Motivation/Initiative • Normal. • Weniger energisch als sonst; stärker passiv. • Fehlende Initiative oder Desinteresse an nicht routinemäßigen Aktivitäten. • Fehlende Initiative oder Desinteresse an täglichen (routinemäßigen) Aktivitäten. • In sich gekehrt, völliges Fehlen von Motivation.

0 1 2

3 4

0 1 2 3 4

0 1 2 3 4

0 1 2 3 4

779 A1 · Skalen

II. AKTIVITÄTEN DES TÄGLICHEN LEBENS (5–17) 5. Sprache • Normal. • Leicht beeinträchtigt. Keine Verständigungsschwierigkeiten. • Mäßig beeinträchtigt. Wird bisweilen gebeten, etwas zu wiederholen. • Stark beeinträchtigt. Wird häufig gebeten, etwas zu wiederholen. • Meistens unverständlich.

0 1 2 3 4

6. Speichelsekretion • Normal. • Gering, aber eindeutig vermehrter Speichel im Mund; nachts gelegentlich Speichelaustritt. • Mäßig vermehrte Speichelsekretion; eventuell minimaler Speichelaustritt. • Deutlich vermehrte Speichelsekretion mit leichtem Speichelaustritt. • Ausgeprägter Speichelaustritt, muss ständig Papiertuch oder Taschentuch benutzen.

0 1 2 3 4

7. Schlucken • Normal. • Seltenes Würgen/ Verschlucken. • Gelegentliches Würgen/ Verschlucken. • Weiche Nahrung erforderlich. • Ernährung über Magensonde oder Gastrostomie erforderlich.

0 1 2 3 4

8. Handschrift • Normal. • Etwas langsam oder klein. • Mäßig langsam oder klein; sämtliche Wörter leserlich. • Stark beeinträchtigt; nicht alle Wörter leserlich. • Die Mehrzahl der Wörter ist unleserlich.

0 1 2 3 4

9. Speisen schneiden und mit Utensilien umgehen • Normal. • Etwas langsam und unbeholfen, aber keine Hilfe erforderlich. • Kann die meisten Speisen schneiden, jedoch unbeholfen und langsam; etwas Hilfe erforderlich. • Speisen müssen von jemandem geschnitten werden, kann aber noch langsam essen. • Muss gefüttert werden.

0 1 2 3 4

10. Anziehen • Normal. • Etwas langsam, aber keine Hilfe erforderlich. • Gelegentliche Hilfe beim Knöpfen, beim Schlüpfen in die Ärmel. • Beträchtliche Hilfe erforderlich, kann aber manches alleine schaffen. • Hilflos.

0 1 2 3 4

11. Hygiene • Normal. • Etwas langsam, aber keine Hilfe erforderlich. • Braucht beim Duschen und Baden Hilfe; oder bei Körperpflege sehr langsam. • Braucht beim Waschen, Zähnebürsten, Haare kämmen und beim Gang auf die Toilette Hilfe. • Dauer-Blasen-Katheter oder andere mechanische Hilfsmittel

0 1 2 3 4

A1

780

Anhang

12. Umdrehen im Bett und Bettwäsche zurechtziehen • Normal. • Etwas langsam und unbeholfen, benötigt aber keine Hilfe. • Kann sich allein, jedoch unter großen Schwierigkeiten, herumdrehen und die Bettwäsche zurechtziehen. • Beginnt, kann sich aber nicht alleine im Bett umdrehen oder die Bettwäsche zurechtziehen. • Hilflos.

3 4

13. Fallen (unabhängig von Starre) • Kein. • Seltenes Fallen. • Gelegentliches Fallen, weniger als einmal pro Tag. • Fällt durchschnittlich einmal pro Tag. • Fällt häufiger als einmal pro Tag.

0 1 2 3 4

14. Erstarren beim Gehen • Kein Erstarren. • Seltenes Erstarren beim Gehen; eventuell verzögerter Start. • Gelegentliches Erstarren beim Gehen. • Regelmäßiges Erstarren. Gelegentliches Fallen nach Erstarren. • Häufiges Fallen nach Erstarren.

0 1 2 3 4

15. Laufen • Normal. • Leichte Schwierigkeiten. Eventuell fehlendes Mitschwingen der Arme, eventuell Neigung das Bein nachzuziehen. • Mäßige Schwierigkeiten, benötigt jedoch wenig oder keine Hilfe. • Schwere Gehstörung, benötigt Hilfe. • Kann selbst mit Hilfe nicht mehr gehen.

0 1 2

0 1 2 3 4

16. Tremor • Kein Tremor. • Leicht und selten auftretend. • Mäßig; für den Patienten lästig. • Stark, bei zahlreichen Aktivitäten hinderlich. • Ausgeprägt; bei den meisten Aktivitäten hinderlich.

0 1 2 3 4

17. Sensorische Beschwerden infolge von Parkinsonismus • Keine Beschwerden. • Gelegentliches Taubheitsgefühl, Kribbeln oder leichte Schmerzen. • Häufiges Taubheitsgefühl, Kribbeln oder Schmerzen, nicht störend. • Häufig schmerzhafte Empfindungen. • Unerträgliche Schmerzen.

0 1 2 3 4

781 A1 · Skalen

III. MOTORISCHE UNTERSUCHUNG (18–31) 18. Sprache • Normal. • Leichte Abnahme von Ausdruck, Diktion und/oder Volumen. • Monoton, verwaschen, aber verständlich; mäßig behindert. • Deutliche Beeinträchtigung, schwer zu verstehen. • Unverständlich.

0 1 2 3 4

19. Gesichtsausdruck • Normal. • Minimal veränderte Mimik, könnte ein normales »Pokergesicht« sein. • Leichte, aber eindeutig abnorme Verminderung des Gesichtsausdruckes. • Mäßig verminderte Mimik; Lippen zeitweise geöffnet. • Maskenhaftes oder erstarrtes Gesicht mit stark oder völlig fehlendem Ausdruck; Lippen stehen um 7 mm auseinander. 20. Ruhetremor G = Gesicht, RH = rechte Hand, LH = linke Hand, RF = rechter Fuß, LF = linker Fuß • Keine. G RH • Leicht und selten vorhanden. G RH • Geringe Amplitude persistierend; oder mäßige Amplitude, aber nur G RH intermittierend. • Mäßige Amplitude, die meiste Zeit vorhanden. G RH • Ausgeprägte Amplitude, die meiste Zeit vorhanden. G RH 21. Aktions- oder Haltungstremor der Hände R = rechts, L = links • Fehlt. • Leicht; bei Bewegung vorhanden. • Mäßige Amplitude, bei Bewegung vorhanden. • Mäßige Amplitude, sowohl bei Haltung als auch Bewegung. • Ausgeprägte Amplitude; beim Essen störend.

0 1 2 3 4

LH RF LF LH RF LF LH RF LF

0 1 2

LH RF LF LH RF LF

3 4

R R R R R

L L L L L

0 1 2 3 4

22. Rigidität Geprüft bei passiver Bewegung der großen Gelenke am sitzenden Patienten. Zahnradphänomen kann ignoriert werden. N = Nacken, ROE = rechte obere Extremität, LOE = linke obere Extremität, RUE = rechte untere Extremität, LUE = linke untere Extremität • Fehlt. N ROE LOE RUE LUE 0 • Leicht oder nur erkennbar bei Aktivierung durch N ROE LOE RUE LUE 1 spiegelbildliche oder andere Bewegungen. • Leicht bis mäßig. N ROE LOE RUE LUE 2 • Ausgeprägt, jedoch voller Bewegungsumfang bleibt erreicht. N ROE LOE RUE LUE 3 • Stark; Schwierigkeit beim Ausführen aller Bewegungen. G RH LH RF LF 4

A1

782

Anhang

23. Fingerklopfen Patient berührt in rascher Reihenfolge und bei größtmöglicher Amplitude und mit jeder Hand gesondert den Daumen mit dem Zeigefinger. R = rechts, L = links • Normal. R L 0 • Leichte Verlangsamung und/oder Verringerung der Amplitude. R L 1 • Mäßig eingeschränkt. Eindeutige und frühzeitige Ermüdung. Bewegung kann R L 2 gelegentlich unterbrochen werden. • Stark eingeschränkt. Verzögerter Start der Bewegungen oder Unterbrechung R L 3 fortlaufender Bewegungen. • Kann die Aufgabe kaum ausführen. R L 4 24. Handbewegungen Patient öffnet und schließt die Hände in rascher Reihenfolge bei größtmöglicher Amplitude und mit jeder Hand gesondert. R = rechts, L = links • Normal. R L • Leichte Verlangsamung und/oder Verringerung der Amplitude. R L • Mäßig eingeschränkt. Eindeutige und frühzeitige Ermüdung. Bewegung kann R L gelegentlich unterbrochen werden. • Stark eingeschränkt. Verzögerter Start der Bewegungen oder Unterbrechung R L fortlaufender Bewegungen. • Kann die Aufgabe kaum ausführen. R L 25. Rasch wechselnde Bewegungen der Hände Pronation-Supinations-Bewegung der Hände, vertikal oder horizontal, mit größtmöglicher Amplitude, beide Hände gleichzeitig. • Normal. R L • Leichte Verlangsamung und/oder Verringerung der Amplitude. R L • Mäßig eingeschränkt. Eindeutige und frühzeitige Ermüdung. Bewegung kann R L gelegentlich unterbrochen werden. • Stark eingeschränkt. Verzögerter Start der Bewegungen oder Unterbrechung R L fortlaufender Bewegungen. • Kann die Aufgabe kaum ausführen. R L 26. Agilität der Beine Der Patient klopft in rascher Reihenfolge mit der Ferse auf den Boden und hebt dabei das ganze Bein an. Die Amplitude soll mindestens 7,5 cm betragen. • Normal. R L • Leichte Verlangsamung und/oder Verringerung der Amplitude. R L • Mäßig eingeschränkt. Eindeutige und frühzeitige Ermüdung. Bewegung kann R L gelegentlich unterbrochen werden. • Stark eingeschränkt. Verzögerter Start der Bewegungen oder Unterbrechung R L fortlaufender Bewegungen. • Kann die Aufgabe kaum ausführen. R L

0 1 2 3 4

0 1 2 3 4

0 1 2 3 4

27. Aufstehen vom Stuhl Patient versucht mit vor der Brust verschränkten Armen von einem geradelehnigen Holz- oder Metallstuhl aufzustehen. • Normal. 0 • Langsam; kann mehr als einen Versuch benötigen. 1 • Stößt sich an den Armlehnen hoch. 2 • Neigt zum Zurückfallen und muß es eventuell mehrmals versuchen, kann jedoch ohne Hilfe aufstehen. 3 • Kann ohne Hilfe nicht aufstehen. 4

783 A1 · Skalen

28. Haltung • Normal aufrecht. • Nicht ganz aufrecht, leicht vorgebeugte Haltung; könnte bei einem älteren Menschen normal sein. • Mäßig vorgebeugte Haltung; eindeutig abnorm, kann leicht zu einer Seite geneigt sein. • Stark vorgebeugte Haltung mit Kyphose; kann mäßig zu einer Seite geneigt sein. • Ausgeprägte Beugung mit extrem abnormer Haltung.

0 1 2 3 4

29. Gang • Normal. • Geht langsam, kann einige kurze Schritte schlurfen, jedoch keine Festination oder Propulsion. • Gehen schwierig, benötigt aber wenig oder keine Hilfe; eventuell leichtes Trippeln, kurze Schritte oder Propulsion. • Starke Gehstörung, benötigt Hilfe. • Kann überhaupt nicht gehen, auch nicht mit Hilfe

3 4

30. Haltungsstabilität Reaktion auf plötzliches Verlagern nach hinten durch Ziehen an den Schultern des Patienten; der mit geöffneten Augen und leicht auseinanderstehenden Füßen geradesteht. Der Patient ist darauf vorbereitet. • Normal. • Retropulsion, gleicht aber ohne Hilfe aus. • Fehlen einer Haltungsreaktion; würde fallen, wenn er nicht vom Untersucher aufgefangen würde. • Sehr instabil; neigt dazu, spontan das Gleichgewicht zu verlieren. • Kann nicht ohne Unterstützung stehen.

0 1 2 3 4

31. Bradykinesie und Hypokinesie des Körpers Kombination aus Langsamkeit, Zögern, verminderten Mitbewegungen der Arme, geringe Bewegungsamplitude und allgemeine Bewegungsarmut. • Keine. • Minimale Verlangsamung, Bewegung wirkt beabsichtigt; könnte bei manchen Menschen normal sein. Möglicherweise herabgesetzte Amplitude. • Leichte Verlangsamung und Bewegungsarmut, die eindeutig abnorm sind. Alternativ auch herabgesetzte Amplitude. • Mäßige Verlangsamung und Bewegungsarmut oder Herabsetzung der Amplitude. • Ausgeprägte Verlangsamung, Bewegungsarmut oder Herabsetzung der Amplitude.

0 1 2

0 1 2 3 4

IV. KOMPLIKATIONEN DER BEHANDLUNG (in der vergangenen Woche) A) Dyskinesien (32-35) 32. Dauer: Zu welcher Tageszeit treten die Dyskinesien auf? • Keine. • 1–25% des Tages. • 26–50% des Tages. • 51–75% des Tages. • 76–100% des Tages.

0 1 2 3 4

A1

784

Anhang

33. Behinderung: Wie hinderlich sind die Dyskinesien? Anamnestische Angaben; können durch Untersuchung in der Sprechstunde modifiziert werden. • Keine Behinderung. • Leichte Behinderung. • Mäßige Behinderung. • Starke Behinderung. • Vollständige Behinderung.

0 1 2 3 4

34. Schmerzhafte Dyskinesien: Wie schmerzhaft sind die Dyskinesien? • Keine schmerzhaften Dyskinesien. • Leicht. • Mäßig. • Stark. • Ausgeprägt.

0 1 2 3 4

35. Auftreten von Dystonie am frühen Morgen Anamnestische Angaben. • Nein. • Ja.

0 1

B) Klinische Fluktuationen (36-39) 36. Gibt es nach einer Medikamenteneinnahme zeitlich vorhersagbare »OFF«-Perioden? • Nein. • Ja.

0 1

37. Gibt es zeitlich nicht vorhersagbare »OFF«-Perioden? • Nein. • Ja.

0 1

38. Treten »OFF«-Perioden plötzlich auf, z.B. innerhalb von wenigen Sekunden? • Nein. • Ja.

0 1

39. Für welche Dauer befindet sich der Patient tagsüber durchschnittlich im »OFF«-Stadium? • Überhaupt nicht. • 1–25% des Tages. • 26–50% des Tages. • 51–75% des Tages. • 76–100% des Tages.

0 1 2 3 4

C) Anderweitige Komplikationen (40-42) 40. Leidet der Patient an Appetitlosigkeit, Übelkeit oder Erbrechen? • Nein. • Ja.

0 1

41. Leidet der Patient an Schlafstörungen, z.B. Schlaflosigkeit oder Schläfrigkeit? • Nein. • Ja.

0 1

A1

785 A1 · Skalen

42. Hat der Patient orthostatische Symptome? • Nein. • Ja.

0 1

Blutdruck-RR [mm Hg] Pulsfrequenz [/min] Körpergewicht [kg]

V. Modifizierte Schwab und England Skala Aktivitäten des täglichen Lebens 100% Völlig unabhängig. Kann sämtliche Verrichtungen ohne Verlangsamung. Schwierigkeiten oder Behinderung ausführen. Völlig gesund. Keine Schwierigkeiten wahrgenommen.

ON

OFF

90%

Völlig unabhängig. Kann sämtliche Verrichtungen mit geringer Verlangsamung, Schwierigkeiten und ON Behinderung ausführen. Kann doppelt so lange dazu brauchen. Schwierigkeiten werden bewusst.

OFF

80%

Bei den meisten Verrichtungen völlig unabhängig. Braucht dafür doppelt so viel Zeit. Ist sich der Schwierigkeiten und Verlangsamung bewusst.

ON

OFF

70%

Nicht völlig unabhängig. Bei manchen Verrichtungen größere Schwierigkeiten. Braucht für einige drei- bis viermal so lange. Muss einen großen Teil des Tages auf die Verrichtungen verwenden.

ON

OFF

60%

Leichte Abhängigkeit. Kann die meisten Verrichtungen ausführen, jedoch äußerst langsam und unter viel Anstrengung; manche unmöglich; Fehler.

ON

OFF

50%

Stärker abhängig. Hilfe bei der Hälfte der Verrichtungen, langsamer usw. Schwierigkeiten bei allem.

ON

OFF

40%

Sehr abhängig. Kann bei sämtlichen Verrichtungen mithelfen, nur einige allein sehr langsam.

ON

OFF

30%

Kann bei Anstrengungen hier und da einige Verrichtungen allein ausführen oder beginnen. Benötigt viel Hilfe.

ON

OFF

20%

Kann nichts allein tun. Kann bei manchen Verrichtungen etwas mithelfen. Stark behindert.

ON

OFF

10%

Völlig abhängig, hilflos. Völlig behindert.

ON

OFF

0%

Vegetative Funktionen wie Schlucken, Blasen- und Stuhlentleerung sind ausgefallen. Bettlägerig.

ON

OFF

(Nach KNP, Kompetenznetz Parkinson der DGN, 2005)

786

Anhang

Mini Mental Status Test 1. Orientierung Pro richtige Antwort 1 Punkt 1. Jahr 2. Jahreszeit 3. Datum 4. Wochentag 5. Monat 6. Bundesland/ Kanton 7. Land 8. Stadt/ Ortschaft 9. Klinik/ Spital/ Praxis 10. Stockwerk 2. Merkfähigkeit Begriffe langsam und deutlich vorsprechen, anschließend den Patienten die Worte wiederholen lassen. Pro richtiges Wort beim ersten Durchgang 1 Punkt. 11. »Auto« 12. »Blume« 13. »Kerze« Wenn beim ersten Durchgang nicht alle drei Worte genannt werden, Vorgang komplett wiederholen, bis alle drei Worte genannt werden. Anzahl der nötigen Wiederholungen notieren.

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

1 1 1 0–3

3. Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit Von 100 je 7 subtrahieren lassen (bis zu fünf Subtraktionen). Pro richtige Subtraktion 1 Punkt. 14. »93« 15. »86« 16. »79« 17. »72« 18. »65« Wenn der Patient die Aufgabe nicht lösen kann oder möchte, »RADIO« rückwärts buchstabieren lassen. 1 Punkt pro Buchstabe an richtiger Position 19. O-I-D-A-R

0–5

4. Erinnerungsfähigkeit 20. »Auto« 21. »Blume« 22. »Kerze«

1 1 1

5. Sprache 23. Armbanduhr benennen 24. Bleistift benennen 25. Nachsprechen des Satzes: »Sie leiht ihm kein Geld mehr.« 26. Kommandos befolgen: • Blatt Papier in die rechte Hand... • in der Mitte falten... • auf den Boden legen 27. Anweisung auf Seite 787 vorlesen und befolgen 28. Schreiben eines vollständigen Satzes (auf Seite 787) 29. Nachzeichnen (auf Seite 787) Gesamtpunktzahl

1 1 1 1 1

1 1 1

1 1 1 1

787 A1 · Skalen

(Nach KNP, Kompetenznetz Parkinson der DGN, 2005)

A1

789

A2

A2 Danksagung Die folgenden Kolleginnen und Kollegen aus der Neurologischen Klinik Heidelberg, wenn nicht anders gekennzeichnet, haben die genannten Kapitel kritisch gegengelesen und durch ihre Ergänzungen deutlich verbessert. Prof. Dr. Brigitte Wildemann, Heidelberg Kapitel 1 Neurologische Untersuchung Kapitel 13 Paraneoplastische Syndrome Prof. Dr. Hans-Michael Meinck, Heidelberg Kapitel 1 Neurologische Untersuchung Kapitel 13 Elektrophysiologische Untersuchung Kapitel 31 Periphere Nerven OÄ Dr. Brigitte Storch-Hagenlocher, Heidelberg Kapitel 4 Liquoruntersuchung Kapitel 13 Paraneoplastische Syndrome Kapitel 22 Multiple Sklerose Prof. Dr. Peter Schellinger, Heidelberg Kapitel 4 Neuroradiologische Untersuchungen Kapitel 5 Ischämie PD Dr. Jochen Fiebach, Neuroradiologie Heidelberg, jetzt Uni Essen Kapitel 4 Neuroradiologie OA Dr. Peter Ringleb, Heidelberg Kapitel 4 Ultraschall Kapitel 5 Ischämie OA Dr. Martin Krause, Heidelberg Kapitel 4 Elektrophysiologie Kapitel 23 Krankheiten der Basalganglien Dr. Christian Schwark, Heidelberg, jetzt Nordwest-Krankenhaus Frankfurt Kapitel 4 Biopsien Kapitel 34 Muskelkrankheiten PD Dr. rer. nat. Caspar Grond-Ginsbach, Heidelberg Kapitel 4 Molekulargenetische Methoden Kapitel 24 Ataxien Prof. Dr. Markus Schwaninger, Heidelberg Kapitel 4 Molekulargenetische Methoden Kapitel 16 Kopfschmerzen Kapitel 28 Metabolische Erkrankungen

Dipl.-Psych. Claudia Jansen, Heidelberg Kapitel 3 Neuropsychologie Dipl.-Psych. Johanna Mair-Walther, Heidelberg Kapitel 3 Neuropsychologie Dipl.-Psych. Klaus Hess, Heidelberg Kapitel 3 Neuropsychologie Kapitel 25 Demenzen Dr. Andreas Hug, Heidelberg Kapitel 6 Blutungen Kapitel 32 Polyneuropathien Prof. Dr. Thorsten Steiner, Heidelberg Kapitel 6 Blutungen Kapitel 9 Subarachnoidalblutung PD Dr. Christian Berger, Heidelberg, jetzt Sargans, Schweiz Kapitel 7 Sinusthrombosen Prof. Dr. Marius Hartmann, Neuroradiologie Heidelberg Kapitel 8 Gefäßmissbildungen Kapitel 9 Subarachnoidalblutung Prof. Dr. Hans-Henning Steiner, Neurochirurgie Heidelberg Kapitel 9 Subarachnoidalblutung Dr. Rainer Kollmar, Heidelberg Kapitel 10 Spinale Durchblutungsstörungen OÄ Dr. Elisabeth Vog-Schaden, Heidelberg, Krankenhaus Speyererhof Kapitel 11 Tumoren PD Dr. Simone Wagner, Heidelberg Kapitel 11 Tumoren Dr. Hagen Huttner, Heidelberg Kapitel 12 Spinale Raumforderung Kapitel 21 Spinaler Abszess Dr. Corinna Schranz, Heidelberg, jetzt Nordwest-Krankenhaus Frankfurt Kapitel 14 Epilepsien Kapitel 30 Neurologische Störungen bei Medikamenten und Intoxikationen Dr. Alexander Gutschalk, Heidelberg Kapitel 14 Epilepsien

790

Anhang

OA Dr. Roland Veltkamp Kapitel 15 Synkopen

weiterhin in dieser Auflage wieder finden, bereitgestellt haben. Namentlich genannt seien:

Prof. Dr. Michael Fetter, Neurologische Klinik Karlsbad-Langensteinbach Kapitel 17 Schwindel

Prof. Dr. Herman Zeumer, Hamburg Prof. Dr. Bernd Ringelstein, Münster Prof. Dr. Armin Thron, Aachen Prof. Dr. Andreas Ferbert, Kassel Prof. Dr. Hartmut Brückmann, München Prof. Dr. Michael Forsting, Essen und Prof. Dr. Klaus Sartor, Heidelberg

Prof. Dr. Uta Meyding-Lamadé, Heidelberg, jetzt Nordwest Krankenhaus Frankfurt Kapitel 18 Bakterielle Entzündungen Kapitel 19 Virale Entzündungen Dr. Christian Jacobi Kapitel 18 Bakterielle Entzündungen Kapitel 20 Andere Entzündungen Dr. Manja Kloss, Heidelberg Kapitel 23 Krankheiten der Basalganglien Dr. Thorsten Lenhard, Heidelberg Kapitel 25 Demenzen Dr. Christoph Lichy, Heidelberg Kapitel 26 Trauma PD Dr. Karl Kiening, Neurochirurgie Heidelberg Kapitel 26 Trauma Dr. Sonja Külkens, Heidelberg Kapitel 27 Spinales Trauma Prof. Dr. Volker Schuchardt, Lahr Kapitel 29 Alkoholschäden und Krankheiten des Nervensystems Dr. Eric Jüttler, Heidelberg Kapitel 33 Motoneuronale Krankheiten Dr. Andrea Viehöver, Heidelberg Kapitel 35 Entwicklungsstörungen des Nervensystems Dr. Inga Harting, Neuroradiologie Heidelberg Kapitel 35 Entwicklungsstörungen des Nervensystems Herr Prof. Dr. Stefan Schwab, Heidelberg, jetzt Universitätsklinik Erlangen hat an den Kapitel 1, 5 und 6 und den intensivmedizinischen Aspekten neurologischer Krankheiten tatkräftig mitgearbeitet. Wie im Vorwort erwähnt, sind die meisten neuroradiologischen Abbildungen von den Herren Professoren Hartmann, Hähnel und Kress, Oberärzte der Neuroradiologischen Abteilung der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg zur Verfügung gestellt worden. Weiterhin gilt mein Dank den Kollegen und Freunden, die Abbildungen für frühere Auflagen, die sich zu einem Teil

Weitere Abbildungsquellen sind in den Legenden genannt. Besonders hilfreich waren in der Aktualisierung verschiedener Abschnitte die Bücher »Diagnostik und Therapie neurologischer Krankheiten« von Thomas Brandt, Johannes Dichgans und HansChristoph Diener sowie die »Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie«, herausgegeben von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, unter Federführung von Hans-Christoph Diener. Die Leitlinien in diesem Buch orientieren sich weitgehend an denen der DGN 2005, Kürzungen und Ausnahmen sind speziell gekennzeichnet. An vielen Stellen finden sich in diesem Buch auch Anklänge und Zitate der internationalen Literatur und, noch wichtiger, Auffassungen und Einstellungen, die durch den kontinuierlichen Austausch mit vielen internationalen Kollegen stammen. Hier nenne ich meine Freunde Allan Ropper, Boston, Daniel Hanley, Baltimore, Markku Kaste, Helsinki, Julien Bogousslavsky, Lausanne, Steve Davis und Geoffrey Donnan, Melbourne, Australien, Didier Leys, Lille, Frankreich, und Michael Brainin, Maria Gugging, Österreich, mit denen ich in ständiger Diskussion bin. Schlussendlich ist ein wesentlicher Teil der Positionen und Entwicklungen in den Kapiteln der Vaskulären Krankheiten des Nervensystems auch auf die enge Kooperation mit Herrn Prof. Dr. Michael Hennerici, Leiter der Neurologischen Klinik des Klinikums Mannheims und »Amtsbruder« als Professor für Neurologie an der Universität Heidelberg zurückzuführen. Allen gemeinsam gilt mein herzlicher Dank. In gewohnter Souveränität haben Frau Marion Wilczek und Frau Petra Günter mich bei der Arbeit am Buch unterstützt, Frau Pia Schnitzer hat tatkräftig bei der Zusammenfassung der Skalen geholfen. Nun könnte man sich fragen, bei so viel Danksagung, was ist denn noch an Eigenarbeit übrig geblieben? Ich darf sagen, eine ganze Menge, denn all die Einflüsse, Informationen und Entwicklungen müssen gesichtet, verarbeitet und ein gemeinsames Konzept gegossen werden. Ob dies gelungen ist bleibt der Beurteilung der Leserinnen und Leser überlassen, denen ich, zu guter Letzt, dafür danke, dass Sie sich bis zur Danksagung in diesem Buch durchgearbeitet haben.

Werner Hacke Heidelberg, April 2006

791

A3

A3 Abbildungsquellen Rechtsinhaber

Abbildungen

A. Aschoff, Heidelberg R. Bieniek, Bonn H. Brückmann, München H. Buchner, Recklinghausen A. Ferbert, Kassel M. Forsting, Essen U. Haberkorn, Heidelberg S. Hähnel, Heidelberg

11.8a,b 15.1 11.17 a-d; 11.20 a,b; 25.1; 26.1a, b; 26.2 2.3; 2.4; 4.9; 4.10; 31.13; 32.1; 34.3 1.18a,b; 1.38; 1.39; 23.5a,b; 23.6a,b; 23.7; 31.4; 31.5; 31.7; 31.8; 33.1; 34.2a-c 9.8a-d; 11.3a-d; 35.12 25.2 4.18; 4.20; 5.35; 5.37a,b; 6.6; 8.9; 8.14; 9.5 a,b; 9.9a-c; 10.2; 10.03; 18.7 a, b; 20.1a-d; 29.2; 33.2 5.15b; 5.17a,b; 5.18; 5.20; 5.22a,b,c; 5.24; 5.25; 5.32a,b,c; 5.33a-c; 5.36; 6.2i; 6.4; 6.5a,b; 6.7a,b; 7.1; 8.1b; 8.3a,b; 8.5a-d; 8.6; 8.10a-e; 8.19a-c; 9.2; 9.10; 11.11a-c; 11.12a,b; 11.13a-c; 11.19a,b; 11.27a-d; 21.1; 22.7; 29.3; 31.14 5.26a–d 3.1 4.1; 5.23a,b; 7.2a; 8.17; 11.23; 11.26a,b; 11.28a,b 4.4a-c, 23.5; 23.8 11.20a-d; 11.25; 12.3; 14.5; 16.2; 22.5; 22.6 a,b; 26.3; 28.1; 28.3a-c; 31.12; 35.2 5.15a,c,d; 5.19a,b; 6.3 11.7a-f 5.30 5.31a,b 8.15; 34.7 1.40 8.15; 34.7 4.25; 4.27; 4.28; 5.27b 5.15a,c,d; 5.26a–d; 6.2a-h; 7.2b; 8.1a; 8.7; 8.8a,b; 8.11a,b; 9.7a,b; 9.8a-d; 11.4; 11.5a,b; 11.7a-f; 11.15; 11.18a,b; 11.22; 18.4; 18.9; 19.2; 28.2a-c; 34.4; 35.3; 35.4; 35.6a-d; 35.8; 35.10a,b; 35.11; 4.19 4.15; 14.4 32.3a–d; 34.8a-c 16.1a,b 4.21 11.6a-d; 18.2a–d; 18.3a–c 1.24a,b; 8.2a,b; 8.18; 11. 14; 11.16; 12.2; 31.11; 35.5; 35.7 23.8 6.8a,b 34.1a-d 11.7a-f; 11.9 11.6a-d; 18.2a–d; 18.3a–c; 18.5 5.28; 5.29; 9.6 11.21a,b 4.16a,b; 5.14a,b; 6.9; 9.3; 9.7c; 11.24a-c; 24.2; 25.3

M. Hartmann, Heidelberg

S. Heiland, Heidelberg W. Huber, Aachen O. Jansen, Kiel M. Krause, Heidelberg B. Kress, Heidelberg R. von Kummer, Dresden K. Kunze, Heidelberg S. Meairs, Mannheim D. Mereles, Heidelberg D. Petzold, Heidelberg G. Pilleri M. Richter, Heidelberg P. Ringleb, Heidelberg K. Sartor, Heidelberg

P. Schellinger, Heidelberg M. Scherg, Heidelberg J.M. Schroeder, Aachen W. Seeger, Freiburg Ch. Stippich, Heidelberg B. Storch-Hagenlocher, Heidelberg A. Thron, Aachen V. Tronnier, Heidelberg A. Unterberg, Heidelberg Th. Voit, Essen M. Wannenmacher, Heidelberg B. Wildemann, Heidelberg R. Winter, Heidelberg C. Wüster, Bad Herrenalb H. Zeumer, Hamburg

793

A4

A4 Weiterführende Literatur Adams JH, Duchen LW (2002) Greenfield’s neuropathology, 7th edn. Arnold, London Adams RD, Victor M, Ropper AH (2005) Principles of neurology, 8th edn. McGraw-Hill, New York Aldrich M (1999) Sleep medicine. Oxford University Press, New York Asmuss H (2003) Nervenkompressionssyndrome, Diagnostik und Chirurgie. Springer, Berlin Heidelberg New York Bähr M, Frotscher M (2003) Duus’ neurologisch-topische Diagnostik, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart Birbaumer N, Schmidt RF (2006) Biologische Psychologie, 6. Aufl. Springer Medizin Verlag,Heidelberg Bogousslavsky J (2003) Acute stroke treatment, 2nd edn. Dunitz, London Bogousslavsky J, Fisher M (1998) Textbook of neurology. ButterworthHeinemann Brandt T (2003) Vertigo, its multisensory syndromes, 3rd edn. Springer, Berlin Heidelberg New York Brandt T, Dichgans J, Diener H (2003) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen, 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Büdingen HJ, v. Reutern GM (2000) Ultraschalldiagnostik der hirnversorgenden Arterien. Dopplersonographie der extra- und intrakraniellen Arterien. Duplexsonographie, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Burchardi H, Larsen R, Schuster H-P, Suter P (2003) Die Intensivmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York Caplan LR (1995) Brain ischemia, basic concepts and clinical relevance. Springer, Berlin Heidelberg New York Chiappa KH (1997) Evoked potentials in clinical medicine, 3rd edn. Williams & Wilkins, Baltimore Compston A, McDonald IR, Noseworthy J et al (2005) McAlpine’s multiple sclerosis, 4th edn. Churchill Livingstone, Edinburgh Compston A, Ebers G, Matthews B et al (1998) Genetic susceptibility to multiple sclerosis. In: Compston A et al (eds) McAlpine’s multiple sclerosis, 3rd edn. Churchill Livingstone, Edinburgh, pp 101–142 Conrad B, Bischoff C, Benecke R (2005) Das EMG-Buch. Antworten auf alle Fragen zu Methodik und Befundinterpretation. Thieme, Stuttgart Darel-Robert B (1993) The polymerase chain reaction: application to nervous system disease. Ann Neurol 34: 513–523 Davis S, Fisher M, Warach S (2003) Magnetic Resonance Imaging in stroke. Cambridge University Press, Cambridge Davis SM, Donnan GA, Grotta JF, Hacke W (eds) (1997) Interventional therapy in acute ischemic stroke. Blackwell Neuroscience Deuschl G, Reichmann H (2006) Gerontoneurologie. Thieme, Stuttgart Diener H (1997) Kopf- und Gesichtsschmerzen. Diagnose und Behandlung in der Praxis. Thieme, Stuttgart Diener H (2005) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Diener H, Limmroth V (2002) Neurologie für den Praktiker. Steinkopff, Darmstadt Diener H, Hacke W, Forsting M (2004) Schlaganfall. Thieme, Stuttgart Dudel J, Menzel R, Schmidt R (2001) Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Duvernoy HM (1999) Human brain stem vessels. Springer, Berlin Heidelberg New York Engel AG (ed) (1999) Myasthenia gravis and myasthenic disorders. Oxford University Press, Oxford

Engel JD, Asbury AK (2004) Peripheral neuropathy. Lancet 363: 2151–2161 Fahn S, Marsden CD, Jankovic J (1999) Principles and practice of movement disorders. Churchill Livingstone, Edinburgh Fiebach J, Schellinger AP (2003) Stroke MRI. Springer, Berlin Heidelberg New York Forsting M, Jansen O (2005) MRT des Nervensystems. Thieme, Stuttgart Gazzaniga MS (ed) (2000) The new cognitive sciences, 2nd edn. The Bradford Book, MIT Press, Cambridge, MA Glaser J (1999) Neuro-ophthalmology. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Goldblatt D, Joynt RJ (eds) (1992) Neurology of HIV infection. Thieme, Stuttgart (Seminars in Neurology, vol 12, no 1) Goldblatt D, Joynt RJ (eds) (1992) Central nervous system infections. Thieme, Stuttgart (Seminars in Neurology, vol 12, no 3) Greenberg HS, Chandler WF, Sandler HM (1999) Brain tumors. Oxford University Press, New York Griggs R, Mendell J, Miller R (1995) Evaluation and treatment of myopathies. Davis, Philadelphia Hacke W, Donnan G, Fieschi C et al (2004) Association of outcome with early stroke treatment: pooled analysis of ATLANTIS, ECASS and NINDS rtPA stroke trials. Lancet 363: 768–774 Hacke W, Hanley DF, Einhäuptl KM et al (eds) (1994) Neurocritical care. Springer, Berlin Heidelberg New York Hacke W, Henerici M, Gelmers H, Krämer J (1991) Cerebral ischemia. Springer, Berlin Heidelberg New York Hacke W et al for the European Stroke Initiative Executive Committee and the EUSI Writing Committee (2003) European Stroke Initiative Recommendations for Stroke Management – Update 2003. Cerebrovasc Dis 16: 311–337 Haerer AF (1992) De Jong’s the neurological examination, 5th edn. Lippincott, Philadelphia Haines DE (1995) Fundamental neuroscience. Churchill Livingstone, New York Harding AE (1995) Inherited ataxias. Curr Opin Neurol 8 (4): 306–309 Hartje W, Poeck K (2002) Klinische Neuropsychologie, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart Illa I, Dalakas MC (1998) Dermatomyositis, polymyositis and inclusion body myositis: current concepts. Rev Neurol 154 (1): 13–6 Jerusalem F, Zierz S (2003) Muskelerkrankungen. Klinik, Therapie, Pathophysiologie, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Johnson RT, Griffin JW (1997) Current therapy in neurologic disease, 5th edn. Mosby, St Louis Kase C, Caplan LR (1994) Intracerebral hemorrhage. Butterworth-Heinemann, Boston Klein CJ (2004) Pathology and molecular genetics of inherited neuropathy. J Neurol Sci 15/220: 141–143 Kluge H, Wieczorek V, Linke E et al (2005) Atlas der praktischen Liquorzytologie. Thieme, Stuttgart Kummer R von, Bacao L, Menelfe C (1995) Early CT diagnosis of hemispheric brain infarction. Springer, Berlin Heidelberg New York Leigh RJ, Zee DS (1999) The neurology of eye movements, 3rd edn. Oxford University Press, New York Levin KH (2004) Variants and mimics of Guillain Barre syndrome. Neurologist 10: 61–74

794

Anhang

Ludin HP (1995) Das Parkinson-Syndrom, 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Ludin HP, Tackmann W (1984) Polyneuropathien. Thieme, Stuttgart Martin JB (1993) Molecular genetics in neurology. Ann Neurol 34: 757– 773 Mumenthaler M, Mattle H (2002) Neurologie. Thieme, Stuttgart Mumenthaler M, Schliack H, Stöhr M (2003) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart Neuerburg-Heusler D, Hennerici M (1999) Gefäßdiagnostik mit Ultraschall, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Nieuwenhuys R, Voogd J, van Huijzen C (1988) The human central nervous system. A synopsis and atlas, 3rd edn. Springer, Berlin Heidelberg New York Nieuwenhuys R, Voogd J, van Huijzen C (1991) Das Zentralnervensystem des Menschen, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Olesen J, Bousser MG (eds) (2000) Genetics of headache disorders. Lippincott, Philadelphia ONIM – Online Mendelian Inheritance in Man. Johns Hopkins University, Rauschelbach HH, Jochheim KA (2000) Das neurologische Gutachten, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart Ropper AH, Wijdicks EFM, Truax BT (1991) Guillain-Barré-syndrome. Davis, Philadelphia Sartor K (ed) (1992) MR-imaging of the skull and brain. Springer, Berlin Heidelberg New York Sartor K (1996) Neuroradiologie. Thieme, Stuttgart Scheld W, Whitley R, Durack D (1997) Infections of the central nervous system, 2nd edn. Lippincott-Raven, Philadelphia Schlegel U, Weller M, Westphal M (2003) Neuroonkologie. Thieme, Stuttgart Schliack H, Mumenthaler M, Stöhr M (1998) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. Thieme, Stuttgart Schmidt RF, Thews G, Lang F (2004) Physiologie des Menschen, 29. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Schröder JM, Hopf HC, Wagner B, Amelung F (1989) Neuromuskuläre Krankheiten. Springer, Berlin Heidelberg New York Stefan H (1999) Epilepsien. Diagnose und Behandlung, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Stöhr M (1996) Iatrogene Nervenläsionen, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart Stöhr M, Brandt T, Einhäuptl KM (1998) Neurologische Syndrome in der Intensivmedizin, 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Sturm W, Herrmann M, Wallesch CW (2000) Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie. Swets & Zeitlinger, Lisse/NL Toyka KV (1988) Klinische Neuroimmunologie. Diagnostik, Pathophysiologie, Therapie. VCH, Weinheim Warlow C, Dennis MS, J van Gijn et al (2001) Stroke: a practical guide to management. Oxford University Press, New York Warach S, Davis S, Fisher M (2003) Magnetic Resonance Imaging in stroke. Cambridge University Press, Cambridge Weir B (ed) (1999) Subarachnoid hemorrhage: causes and cures. Oxford University Press, New York Wildemann B, Fogel W, Grau A (2002) Therapieleitfaden Neurologie. Kohlhammer, Stuttgart

795

A5 Sachverzeichnis Hauptfundstellen sind mit fetter Schrift gekennzeichnet. . Verweis auf Abbildungen

A Aachener Aphasie-Test (AAT) 97 Absence 358, 364 – Kindesalter 365 Absencenstatus 371, 382 Abszess – epiduraler 259, 439, 485, 487 . – extraduraler 341 – intramedullärer 341, 485 – intraspinaler 259 – spinaler 485, 486 – temporaler 440 . – zerebraler 438–441 Acetylcholinesterase 350 Acetylcholinrezeptor 710, 711 Acetylsalicylsäure 206, 211, 212 Achillessehnenreflex 36, 36 . Aciclovir 458 ACTH 158, 324 Adams-Stokes-Anfall 390 Addison-Krankheit 709 Adduktorenreflex 36 ADEM 7 Enzephalomyelitis, akute disseminierte Adenom (7 auch Hypophysenadenom) – ACTH-produzierendes 324 – hormonaktives 322–325 – hormoninaktives 322, 326 – Hypophyse 7 Hypophysenadenom – Prolaktin-produzierendes 324, 325 – Wachstumshormon-produzierendes 324 Aderhautangiom 256 ADH 158 Adie-Syndrom 23, 444 adrenokortikotropes Hormon 324 Adversivanfall 21, 362 Affenhand 639, 687 Ageusie, medikamenteninduzierte 617 Agnosie 109 5-HT-Agonisten 402, 403, 404, 406 Agrammatismus 97 Aggressivität 116, 117 Agyrie 734 AIDS 458, 466, 467, 555 – manifestes 466

– opportunistische ZNS-Infektionen 458 – Demenz 467, 555 AIDS-related complex 466 Akkommodation 22, 24 Akkommodationslähmung, medikamenteninduzierte 616 Akromegalie 324, 324 ., 709 Aktinomykose 448 Aktionsmyoklonie 49, 351 Aktionspotential 128 Akustikusneurinom 320, 321, 322 ., 737, 750 Alertness 111 – phasische 111 – tonische 111 Alexie 109 Alkoholdelir 600–603 – Leitlinien 603 – Pathogenese 600 – Therapie 602, 603 – unvollständiger 600 Alkoholdemenz 607 Alkoholembryopathie 608, 726 Alkoholentzugsdelir 613 Alkoholepilepsie 608 Alkoholhalluzinose 603 Alkoholintoxikation, akute 599 Alkoholkonsum – Nervenschäden 598–608 – Risiko für intrazerebrale Blutungen 225 – Schlaganfallrisiko 175 Alkoholmyopathie 608 Alkoholpsychose 599, 600 Alkylanzien 336 Allästhesie 62 Allodynie 60 ALS 7 Lateralsklerose, amyotrophische Alzheimer-Demenz (7 auch Demenz, Alzheimer-) 548 – familiäre 549 – Fibrillenveränderung 548 – genetische Ursache 159 – Hirnvolumenminderung 548, 548 . Amantadin 516, 519, 521 Amaurose 7 Amaurosis fugax 183 Ambidexter 102

Amnesie 110, 111 – anterograde 110 – – Schädel-Hirn-Trauma 563 – Definition 110 – globale 111 – posttraumatische 563 – retrograde 111 – – Schädel-Hirn-Trauma 563 Amöbiasis 479, 480 Amphetamine, Sympathikotonus 616 Amputationsschmerz 61 Amygdalo-Hippokampektomie, selektive 383, 384 . Amyloidangiopathie 178, 225 – intrazerebrale Blutung 225 Amyloidose 661, 674, 736 – Polyneuropathie 674 – primäre 661 Amyloidplaque, extrazelluläre 548 Amyotrophie, hereditäre, proximale, neurogene 686, 687 amyotrophische Lateralsklerose 7 Lateralsklerose, amyotrophische Analeptika 395 Analgesie 59–61 – psychogene 60 Analgetika, Abhängigkeit 612 Analreflex 37, 130 Anämie, perniziöse 585 Anamnese 4–6 Anästhesie 59 Anastomose 168, 169 . Anenzephalie 734 Aneurysma – Aorta 281 – Ausschaltung 272 – fusiformes 264 – intradurales 573 – intrakranielles 251, 252 – Lokalisation 271 – ophthalmoplegisches 251, 626 – Ruptur 263, 266 – sakkuläres 265 . – Therapie 272–275 – – Clipping 272 – – Coiling 272 – Vena cerebri magna Galeni 249, 250 .

A

796

Anhang

Anfall – atonischer 358 – epileptischer 293, 437, 294, 360, 363, 364, 372, 381 – – Amnesie 363, 364 – – Auslöser 360 – – bei Hirntumoren 293, 294 – – medikamenteninduzierter 614 – – bei Meningitis 437 – – Schwangerschaft 381 – – Therapie 372 – fokaler 358, 361–364 – – einfacher 361, 362 – – komplexer 362, 363 – – Therapie 382 – generalisierter 358, 364–368 – – Kindesalter 364, 365 – hypoglykämischer 392 – klonischer 358 – myoklonischer 358, 366 . – narkoleptischer 613 – psychogener 385, 393 – synkopaler 389–398 – tonisch-klonischer 358, 367, 368 Angiitis, allergische 178 Angiographie 149–152, 198, 199, 229, 259 – 7 CT-Angiographie – DSA 149 – intraarterielle 149 – intrazerebrale Blutung 229 – spinale 152, 259 – Subarachnoidalblutung 271 – therapeutisch-interventionelle 152 – zerebrale Durchblutungsstörungen 198, 199 Angiom 245–248, 256 – Aderhaut 256 – arteriovenöses 246 . – Bestrahlung 247 – Blutungsneigung 245 – Diagnostik 246, 247, 249 – Einteilung 245 – Embolisierung 247, 248 . – spinales 506 – Symptomatik 245, 246, 258 – Therapie 247, 248 – venöses 245, 249 Angiomatose, kortikale 257 . Angioplastie, perkutane, transluminale 213 Anhidrose 65 Anisokorie 22, 88 Ankleideapraxie 107 Anorexia nervosa, Polyneuropathie 667

Anosmie 7, 293, 563, 615 – bei Hirntumoren 293, 320 – medikamenteninduzierte 615 – posttraumatische 563 Anosognosie 109 Antecollis 47 Anteriorinfarkt 185 Antikoagulation 204, 212 – Durchführung 204 – Indikationen 204 – Schlaganfall 212 Antikörper, antineuronale 158 Antiparkinson-Medikamente, Halluzination 613 Anulus fibrosis, Aufbrechen 648, 649 . Aorta – Abklemmung 281 – Arteriosklerose 281 – Embolie 177 Aortenaneurysma 281 Aortenarteriosklerose 183 Aortenbogen 166 . Aortenstenose 281 apallisches Syndrom 85, 570, 578 Aphasie 96–103, 112, 293, 552, 553 – 7 Broca-Aphasie – 7 Wernicke-Aphasie – bei Alzheimer-Demenz 549 – amnestische 100–103, 293, 552, 553 – – bei Hirntumoren 293 – Definition 96, 97 – bei Demenz 112 – globale 99, 100, 101–103 – bei Hirntumoren 293 – Klassifikation 97, 101 – Lateralisierung 101, 102 – Lokalisation 101–103 – bei mehrsprachigen Patienten 102 – primär progressive 553, 554 – Therapie 103 – vaskuläre Demenz 552 Apnoe, posthyperventilatorische 81 Apnoeprüfung 91 Apomorphin-Test 515 Apoplex 7 Schlaganfall Apraxie 104–106, 549 – bilaterale 106, 549 – bukkofaziale 104, 105 – Definition 104 – ideatorische 105, 106 – ideomotorische 104 – – linksseitige 106 – konstruktive 106, 107

Aquäduktstenose 729 Arachnitis 341 Arachnoidalzyste 731, 732, 732 . Arachnopathie 654, 655 Arbeitsgedächtnis 7 Kurzzeitgedächtnis Archicerebellum 49, 54 Armeigenreflex 34 Armhalteversuch 38 Arnold-Chiari-Fehlbildung 734, 741 Arreflexie 543 Arsen-Polyneuropathie 669 Arteria basilaris 166 ., 167, 739 . – Aneurysma 251, 264 – Arteriosklerose 185 – Stenose 445 . – Thrombose 186, 205, 206 ., 207 ., 606 – Verschluss 186, 187 Arteria carotis – communis 166 ., 167 – externa 166 ., 167 – interna 166, 166 ., 167, 169 . – – Aneurysma 253 ., 264 – – Arteriosklerose 181 – – Dissektion 562 – – Riesenaneurysma 253 . Arteria cerebri media 167 Arteria cerebelli superior 167 Arteria cerebelli inferior – anterior 167 – posterior 167 Arteria cerebri anterior 167, 169 . – Aneurysma 264 – Arteriosklerose 185 Arteria cerebri media 169 . – Dissektion 573 Arteria cerebri posterior 167 – Verschluss 187 Arteria chorioidea posterior 168 Arteria communicans – anterior 167 – – Aneurysma 264, 272 . – posterior 168 – – Aneurysma 264, 272 ., 626 Arteria labyrinthi 167 Arteria lenticulostriata 167, 169 . Arteria ophthalmica, Arteriosklerose 183 Arteria-radicularis-magna-Syndrom 283, 285 Arteria spinalis anterior 282 Arteria-spinalis-anterior-Syndrom 281, 283 ., 285 Arteria spinalis posterior 282 Arteria striata anterior 169 .

797 A5 · Sachverzeichnis

Arteria subclavia 166 ., 167, 184 . – Stenose 184 . Arteria thalamoperforans posterior 168 Arteria vertebralis 166 ., 167, 184 ., 739 . – Aneurysma 264 – Arteriosklerose 185 – Dissektion 187, 577 – Elongation 265 . – Verschluss 189 Arteriitis cranialis (temporalis) 216, 251, 412, 413 Arteriolosklerose, intrazerebrale 177 Arteriopathie – dilatative 176 – zerebrale autosomal-dominante 219 Arteriosklerose – Ätiologie 175–178 – Hirngefäße 176, 177 – Lokalisation 175 arteriovenöse Missbildungen 7 Missbildungen, arteriovenöse Arthritis, rheumatoide – Myasthenie 715 – Polyneuropathie 670 Arthrose, Halswirbelsäule 6 Artikulationsstörungen 97 Aspergillose 483 Assoziationskortex 8, 105, 105 . – motorischer 105, 105 . – visueller 105, 105 . Asterixis 587, 588 Astrozytom 292, 307–309, 309 ., 310, 311, 314, 737 – 7 Gliom – anaplastisches 309, 310, 314 – Diagnostik 307 – diffuses 314 – Epidemiologie 292, 307 – Epilepsie 368, 370 . – pilozytisches 307, 308, 340 – spinales 340 – Symptomatik 307 – Therapie 307 Ataxie 44, 52, 293, 541–544, 586, 594, 739, 742 – autosomal-dominante 543, 544 – autosomal-rezessive 543, 544 – degenerative 541–544 – Diagnostik 542, 543 – Einteilung 542 – familiäre episodische 543 – bei Hirntumoren 293

– paraneoplastische zerebelläre Degeneration 349 – sensible 52 – spinale 52 – spinozerebelläre 543, 544 – zerebelläre 52, 542, 542 ., 544, 586, 594, 739, 742 – – medikamenteninduzierte 615 Atemstörungen 81, 82, 82 . – Koma 82 – zentrale 81 Athetose 47, 531, 532 – double 531 Atlasassimilation 740 Atlasschleife 167 Atmung – ataktische 81, 82 Atmungskette 171 . Atrophie, olivopontozerebelläre 523 Atropinvergiftung 616 Attacke, transitorisch-ischämische 178, 180 Attackenschwankschwindel, phobischer 420 Attackenschwindel 416 . Aufmerksamkeit 111, 112 – Funktionen 111 – gerichtete 111 – geteilte 112 – Lokalisation 112 Aufmerksamkeitsstörungen 111, 112 Augenbewegungen 11, 13, 16 – 7 Blickmotorik – 7 Okulomotorik – Blickeinstellbewegungen 11 – Folgebewegungen 11, 13, 16 – rasche 16 Augenfeld, frontales 16 – Läsion 17 Augenhintergrund, Spiegelung 8, 9 Augenmuskel 10, 10 ., 11 Augenmuskellähmung 1, 49, 593, 718 Augenmuskelnerven 14 . Aura – Epilepsie 363, 367 – Migräne 400, 401 Ausdrucksbewegungen 104 Autoantikörperdiagnostik 350 AVM 7 Missbildungen, arteriovenöse Azathioprin 502, 504 Azetylcholin 64

A–B

B Babinski-Reflex 4, 37, 586 Balkenagenesie 734 Balkenhypogenesie 734, 735 . Ballismus 46, 526, 527 Bandscheibendegeneration 649 . Bandscheibenprotrusion 648 Bandscheibenvorfall 648–654 – lumbaler lateraler 652–654 – lumbosakraler 650, 651 – medialer 648 – thorakaler 648 – zervikaler 648, 649, 650 . Barany-Zeigeversuch 51 Barbiturate – EEG-Veränderungen 612 – Entzugskrampf 614 – Hirnstammsymptome 615 – Vergiftung 613 Basalganglien 45, 45 ., 56 Basalganglienkrankheiten 510–540 Basalganglienblutung 227, 233, 234 . – operative Therapie 233 Basalganglieninfarkt, isolierter 189 Basalgangliensyndrom 44–47 Basilarisaneurysma 251, 264 Basilarismigräne 401 Basilarisspitze, Verschluss 187 Basilarisstenose 445 . Basilarissyndrom 186 Basilaristhrombose 186, 205, 206 ., 207 ., 606 Bauchhautreflex 36 Bayliss-Effekt 170 Beckengürteldystrophie 698, 699 Becker-Kiener-Krankheit 697, 699 Begleitschielen, angeborenes 11 Behçet-Krankheit 215, 435, 506 Behinderung, geistige 725 Beidhänder 102 Beineigenreflex 35, 36 Beinhalteversuch 38 Benzodiazepine 375 – EEG-Veränderungen 612 – Hirnstammsymptome 615 – – Benzodiazepindelir 602 Bereitschaftspotential 1342 Beriberi-Syndrom 666 Berührungsempfindung 56 Beschäftigungsdystonie 528, 529 Beschleunigungsschertrauma 565, 567 .

798

Anhang

Beschleunigungstrauma 568, 578–580 Bestrahlung 7 Strahlentherapie Beugespastik 577 Bewegungskrankheit 422 Bewegungsskoordination 49–52 Bewegungssteuerung 42 Bewegungsstörungen – 7 Apraxie – choreatische 46, 524–526 – extrapyramidale 727 – hyperkinetiche 45 – hypokinetische 45 Bewegungsunruhe 39, 63 – unwillkürliche 63 Bewusstheit, Störungen 79 Bewusstlosigkeit 82–84, 86–89, 564 – 7 Koma – 7 Synkope – akute 82 – Dokumentation 564 – Leitsymptome 83 – neurologische Untersuchung 86–89 – Notfallbehandlung 89 – primäre 82 – sekundäre 82 – Ursachen 82–84 Bewusstseinsstörung 77–92, 240, 391, 613 – Einteilung 78–82 – Glukosemangel im Gehirn 391 – Hypoglykämie 169 – medikamenteninduzierte 613 – Nierenversagen 58 – postparoxysmale 83 – posttraumatische 563, 564 – psychogene 83, 84 – quantitative 78, 79 – Sinusthrombose 240 – Subarachnoidalblutung 267 Bewusstseinstrübung 24, 78, 79, 363 – Epilepsie 363 – Leitsymptome 79 – Pupillenstörungen 24 Bickerstaff-Enzephalitis 470 Bielschowsky-Zeichen 12 ., 16, 626 Bing-Horton-Kopfschmerz 405 Biopsie 156, 157, 199 – Arteria temporalis 157 – Hirn 157 – Hirnhaut 157 – Muskel 156, 157 – Nerven 157 Bizepssehnenreflex 33, 34, 34 .

Blase – autonome 67 – Innervation 66, 67 . Blasenentleerung 7 Miktion Blasenfunktionsstörungen 65–67 – frontale Blasenlähmung 661 Blasenstörung, frontale 67 Bleivergiftung, Polyneuropathie 668 Blepharospasmus 47, 528, 529 . Blickbewegungen – 7 Augenbewegungen – 7 Blickmotorik – 7 Okulomotorik – horizontale 16 – Steuerung 14 ., 15 . – vertikale 16 – willkürliche 15 . Blickdysmetrie 16, 21, 53 Blickeinstellbewegungen 11 Blicklähmung 16, 17, 17 ., 18, 511 – pontine 16, 18 – supranukleäre 18 – – progressive 511 – vertikale 18 Blickmotorik 12–18 – 7 Augenbewegungen – 7 Okulomotorik – anatomische Grundlagen 14 – funktionelle Grundlagen 14 – Störungen 15–18, 84 – Verschaltung 14, 14 . Blickmyoklonie 21 Blickparese 7 Blicklähmung Blickrichtungsnystagmus 21 Blickstabilisierung 52, 53 Blickwendung, konjugierte 11 Blickzentrum 14 Blindheit, kortikale 8, 187 Blinkreflex 129 Blitz-Nick-Salaam-Krampf 364, 365 Blutfluss, zerebrale 7 Hirndurchblutung Blut-Hirn-Schranke, Schädigung 295 Bluthochdruck 7 Hypertonie Blutung – 7 Hämatom – heparinbedingte 232 – hypertensive 225 – intraparenchymale 285 – intraventrikuläre 226 ., 228 – intrazerebrale – – Ätiologie 224, 225 – – Diagnostik 228–230

– – Epidemiologie 224 – – offene Evakuation 232 – – medikamentös bedingte 227 – – Prognose 233 – – Rehabilitation 233 – – Risikofaktoren 224, 225 – – spontane 223–230 – – Symptomatik 227, 228 – – therapeutische Leitlinien 233 – – Therapie 230–234 – multilokuläre 228 – perimesenzephale 271, 275, 276 – thrombolyseassoziierte 232 Boeck-Sarkoidose 455 Borrelia burgdorferi 444 Borrelliose 7 Neuroborreliose Botulinumtoxin 528, 530, 533, 630, 679 Botulismus 679, 680 Bourneville-Pringle-Syndrom 738, 738 . Brachium – conjunctivum 50 – pontis 50 Bradykardie, reflektorische 83 Bradykinese 46, 516 Brillenhämatom 562 Broca-Aphasie 97, 98, 101–103 Bronchialkarzinom – Hirnmetastasen 328, 329 – Lambert-Eaton-Syndrom 349 – limbische Enzephalitis 351 – Myopathie 352 – POM 351 Brown-Séquard-Syndrom 71, 71 ., 72, 735 Brückenblutung 226 ., 228 Brückenfuß, Läsion 44 Brückensyndrom 186 Brudzinski-Versuch 57 Brustmarkläsion 73, 74 BSE 472 Bulbärhirnsyndrom 80, 81 Bulbärparalyse, progressive 686, 689 Bulbocavernosusreflex 130 Bulbus, konjugierte Abweichung 7 Déviation conjugée Bulbusbewegungen 7 Augenbewegungen Bulbusstellung 11 Bulldog-Reflex 114 Burning feet 666

799 A5 · Sachverzeichnis

C CADASIL 219, 220 . Café-au-lait-Flecken 736, 737 Calpain-3 696 Candidiasis 483 Capsula interna 43 ., 44 Carbamazepin 375 Carnitinmangel, muskulärer 707, 708 Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel 320 Cauda equina 69, 742 – Claudicatio 258, 284, 285, 655 CBF 169, 170, 172 Central-core-Myopathie 709 Cerebellum 7 Kleinhirn Chamäleonzunge 46 Charcot-Marie-Tooth-Krankheit 671 Charcot-Trias 495 Chemonukleolyse 648, 654 Chemotherapie – intrathekale 332, 333 – Nebenwirkungen 335, 336 – Neurotoxizität 336 Cheyne-Stokes-Atmung 81, 82 Chiari-Fehlbildung 730, 741, 741 . chinese food headache 408 Chloridkanalkrankheit 704 Chlostridium tetani 445 cholinerge Krise 714 Cholinesterase 710 Chorea – Huntington 159, 524, 525, 555 – – genetische Ursache 159 – minor 526 – Schwangerschaft 526 Chorionkarzinom 317 Chronic-fatigue-Syndrom 751, 752 Churg-Strauß-Syndrom 178, 670 Chvostek-Zeichen 423 Circulus arteriosus Willisii 166, 166 ., 168, 168 ., 264 – Variationen 168 CJK 7 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit Claudicatio – intermittens, vaskuläre 655 – spinalis (Cauda equina) 258, 284, 285, 655 Clopidogrel 212 Clostridium botulinum 445 Cluster-Kopfschmerz 251, 405, 406 – Therapie 406 CO2-Stimulation 199

Coiling, Karotisaneurysma 273, 273 . Commotio cerebri 561, 563 Computertomographie 141, 142 . – Angiom 246, 246 . – Epilepsie 360 – Hirntumoren 298, 299 ., 304 ., 305 . – intrazerebrale Blutung 228, 229, 229 . – multiple Sklerose 497 – Schädelfraktur 562 – Schädel-Hirn-Trauma 565, 566 . – spinale 143 – Subarachnoidalblutung 270, 270 ., 277 . – zerebrale Durchblutungsstörungen 188–192, 190 .–193 . – zerebrale Mikroangiopathie 552 . – zervikale 143 COMT-Inhibitor 516, 519 Conn-Syndrom 705 Contusio cerebri 561 Conus medullaris, Läsion 74 Corpus geniculatum laterale 7, 9 Corpus restiforme 50 Corpus striatum 44 CO-Vergiftung 613 Coxsackie-Meningitis 462 Cremasterreflex 37 Crescendo-TIA 180 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit 471–474, 555 – familiäre 474 – nvCJK 473 Critical-illness-Polyneuropathie 666 Cross-face-Plastik 629 CT 7 Computertomographie CT-Angiographie 141, 142 – bei Sinusthrombose 238, 238 . – bei Subarachnoidalblutung 271 Curschmann-Steinert-Krankheit 702, 703, 705 Cushing-Reflex 83, 298 Cushing-Syndrom 611, 709 Cyclophosphamid, multiple Sklerose 498, 499, 504

D Dämmerzustand, postparoxysmaler 384, 385 Dandy-Walker-Syndrom 730, 734, 742, 742 . Daueraufmerksamkeit 112

B–D

Dauerkopfschmerz 407 Dauerschwindel 416 . Debilität, Definition 96 Degeneration – hepatolentikuläre 586–58 – kortikobasale 55, 511, 524 – paraneoplastische zerebelläre 349, 542, 54 – striatonigrale 522, 523 Dekompressionsoperation 208 Delir 82, 600–602, 613 – 7 Alkoholdelir – bei Medikamentenentzug 613 delirantes Syndrom 567 Delirium tremens 600–602 Demenz 112-114, 546–556 – alkoholbedingte 607 – Alzheimer- 548–550 – bei Epilepsie 384 – frontotemporale 553, 554 – kortikale 113 – Lewy-Körper-Typ 511, 554, 555 – Stadienmodell 113 – subkortikale 113 – vaskuläre 551–553 Depression, medikamenteninduzierte 612 Dermatom 68 Dermatomyositis 352, 715–717, 716 . – tumorassoziierte 352 Dermoid 327, 345 Desmin 696 Detrusorhyperreflexie 65 Detrusorhyporeflexie 65 Detrusorkontraktilität 65 Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie 66 Déviation conjugée 17, 17 . Devic-Syndrom 505 Dezerebration 43 ., 44, 84, 85, 570 – chronische 85 – traumatische 570 Dezerebrationshaltung 84, 84 ., 89 Dezerebrationssyndrom 84–86 Diabetes – Mikroangiopathie 183 – Schlaganfallrisiko 175 Diadochokinese 50 Diagnostik – bildgebende 7 unter den einzelnen Verfahren – DNA- 158, 159 – Hormone 158 – kardiologische 199, 201 – laborchemische 120–122, 156–158

800

Anhang

Diagnostik – molekulargenetische 158 – neurologische 5 Dialyse – Enzephalopathie 590 – Polyneuropathie 666 Diamox-Stimulation 199 Diffusionsmagnetresonanztomographie 146 digitale Subtraktionsangiographie 7 Subtraktionsangiographie, digitale Diplegie, spastische 727 Diskonnektionssyndrom 109 Diskusprolaps (-hernie) 7 Bandscheibenvorfall Dissektion 177, 178, 179, 183, 187, 212, 278, 573 – Antikoagulation 212 – arterielle, traumatische 573 Diszitis 341 Diuretika, muskuläre Störungen 671 Dopa-Entzugssyndrom 522 Dopaminagonisten, Bewusstseinsstörungen 613 Dopaminantagonisten 516, 517 Dopamin-Präkursor 516 Dopa-Stoffwechsel 516, 516 . Dopplersonographie – extrakranielle 153, 153 ., 154 – transkranielle 154, 154 . – – Gefäßspasmen 269 . – – Subarachnoidalblutung 272 Dottersackkarzinom 317 Down-beat-Nystagmus 20 Dreigläserprobe 121 Druchgangssyndrom, posttraumatisches 602 Drucksteigerung, intrakranielle 7 Hirndruck, erhöhter DSA 7 Subtraktionsangiographie, digitale Duchenne-Aran-Krankheit 687, 688, 701 Duchenne-Muskeldystrophie 697, 698, 699 Ductus craniopharyngicus, embryonaler 316 Duplexsonographie 154, 155, 196, 197 ., 198 – extrakranielle 154, 155 – intrakranielle 155 Durafistel 254 ., 258, 259 ., 260, 506 Durchblutung, zerebrale 7 Hirndurchblutung Durchblutungsstörungen – spinale 259, 280–286

– zerebrale 164–219 Durchgangssyndrom 602 Dysarthrie 727 Dysarthrophonie 97, 98 Dysästhesie 59 Dysautonomie, familiäre 681 Dysdiadochokinese 53, 62, 186, 615 Dysequilibriumsyndrom 590 dysexekutives Syndrom 112 Dyskinesie, paroxysmale, medikamenteninduzierte 614 Dysmetrie 53 Dysphagie 528 Dysphonie – laryngeale 47 – spasmodische 47 Dysplasie, fokale kortikale 734 Dyspraxie, sympathische 106 Dysreflexie, autonome 578 Dystonie 46, 47, 159, 527–531 – bewegungsinduzierte 531 – Dopa-responsive 159 – fokale 47, 527, 528 – generalisierte 46, 530, 530 . – juvenile 531 – segmentale 527, 528 – – zervikale 47 – therapeutische Leitlinien 531 – zervikale 47, 527, 528, 528 . Dystrophia myotonica Steinert 702, 702 ., 703 Dystrophin 696, 697, 698 .

E E605 613 EBV 462 Echinokokkose 480 Echokardiographie – transösophageale 199 – transthorakale 199 Echolalie 293 Echopraxie 293 Echovirus-Meningitis 462 ECT 7 Emissions-Computertomographie EDSS 495 EEG 7 Elektroenzephalographie Eigenreflex 31, 32, 34–36, 39 Eineinhalb-Syndrom 18, 185 Einklemmung 7 Herniation Einschlusskörperchenmyositis 718

Eiscreme-Kopfschmerz 408 Eklampsie 225, 381, 589 Elektroenzephalographie 134–138, 137 . – Ableitungen 134, 135 – Computeranalyse 135 – bei Creutzfeldt-Jacob-Krankheit 473, 473 . – bei Epilepsie 359, 360, 364 ., 366 ., 369 . – Herdbefunde 136 – Hyperventilation 134, 135 – Krampfpotentiale 137, 138 – bei Narkolepsie 394 – Photostimulation 136, 137 – bei Schädel-Hirn-Trauma 564 – im Schlaf 135 – Wellenformen 135 Elektromyographie 123–127, 125 ., 342, 350, 662, 691, 702, 711 – bei amyotrophischer Lateralsklerose 691 – Faszikulationen 124 – Fibrillationen 124, 125 – bei Myasthenie 711 – myotone Entladungen 124 – bei Myotonien 702 – bei Polyneuropathie 662 – bei zentralnervösen Störungen 127 Elektroneurographie 127, 128, 654 Elektronystagmographie 140 Elektrosmog 750 Elektrotrauma, Rückenmark 580, 581 Embolie – arterioarterielle 177, 183 – kardiale 175, 177, 180, 182 Embolisierung – Angiom 247, 248 . – arteriovenöse Fistel 252 – Meningeom 318 embryonales Karzinom 7 Karzinom, embryonales Embryopathie 725 Emerin 696 EMG 7 Elektromyographie Emissions-Computertomographie 148 Empyem, subdurales 439, 440 . Encephalitis pontis et cerebelli 503, 504 Endstrominfarkt 176, 180, 181 ., 182 . ENG 7 Elektroneurographie Engpasssyndrom 625 Enkodierung 109, 110 Enolase, neuronenspezifische 158, 302 Entamoeba histolytica 478 Entzugsdelir 600–602

801 A5 · Sachverzeichnis

Entzugskrampf 614 Enzephalitis 351, 368, 456–464, 503, 504 – bulbäre 351 – limbische 351, 353 – virale 456–464 – – Herpes simplex 457–459 Enzephalomalazie 726 Enzephalomyelitis – akut demyelinisierende 469 – akute disseminierte 505, 505 ., 506 – parainfektiöse 469 – paraneoplastische 350 Enzephalopathie – bovine, spongiforme 472 – hepatische 488, 588, 589, 589 . – – chronische 488 – hepatoportale 588, 589 – subkortikale arteriosklerotische 181 ., 182, 188, 551, 693 – urämische 589 Enzephalozele 734, 735 . EP 7 Potential, evoziertes Ependymom 292, 312, 313, 313 ., 340, 345, 346, 346 . – anaplastisches 313 – spinales 340, 345, 346, 346 . EPH-Gestose, Epilepsie 381 Epidermoid 327, 345 – Kauda 345 Epiduralhämatom 7 Hämatom, epidurales Epiglottisparese 29 Epilepsia partialis continua 371 Epilepsie 49, 293, 356–388, 608 – 7 Anfall, epileptischer – alkoholbedingte 608 – Aura 363, 367 – Berufseignung 385 – Demenz 384 – Diagnostik 360, 361 – – prächirurgische 361 – Elektroenzephalographie 138 – Fahrtauglichkeit 385, 386 – fokale 358, 360 – GABA 359 – genetische Beratung 359 – bei Hirntumoren 293 – idiopathische 357 – Klassifikation 358 – kryptogene 357 – Lebensführung 372 – myoklonische 49, 366, 367 – myoklonisch astatische 365 – Notfalltherapie 371, 372

– Pathophysiologie 359 – psychische Störungen 384, 385 – Schwangerschaft 381 – sozialmedizinische Aspekte 385, 386 – symptomatische 357 – temporale 363 – Therapie 371–385 – – chirurgische 382–384 – – konservative 371–382 – – Leitlinien 379 – – Therapieresistenz 378, 379 – traumatische 572, 573 – Verstimmungszustand 384 – vertiginöse 362 – Wesensänderungen 384 epileptischer Anfall 7 Anfall, epileptischer Episode – amnestische 396, 397, 404 – psychotische 613 Epstein-Barr-Virus-Infektion 462 Equinovarus-Fuß 672 Erb-Lähmung 632 Erektionsstörungen 67, 68 Ergotherapie, Schlaganfall 209 Erregungsleitungsgeschwindigkeit 7 Nervenleitgeschwindigkeit Erschöpfungssyndrom, chronisches 751, 752 Esophorie 11 Ethosuximid 375 exercise headache 408 Exophorie 11 Exophthalmus 10 Extinktion 108 Exzitotoxizität 170

F Facettensyndrom 655 Fallhand 638, 638 ., 639 Faltenzunge 630 Falxmeningeom 319 . Farbbenennungsstörung 109 Fasciculus arcuatus 105, 105 . Fasciculus cuneatus 55 Fasciculus graciis 55 Faszikulieren 39, 124 Fazialiskontraktur 629 Fazialislähmung 627–629, 562 – doppelseitige 628 – idiopathische 628

– inkomplette 628 – komplette 629 – periphere 627–629 – posttraumatische 562 – therapeutische Leitlinien 629 Feinbeweglichkeit 50 Feinmotorik, gestörte 62 Felbamat 376 Felsenbeinlängsfraktur 562 Femoralislähmung 644 α-Fetoprotein, Hirntumoren 300 Fettembolie 217 Fettstoffwechselstörungen, Schlaganfallrisiko 175 Fibrillation 124, 126 Fibromyalgie 717, 751 Fibularisphänomen 423 Filum terminale, Elongation 743 Finger-Finger-Versuch 50 Fingerflexorenreflex 34, 633 Finger-Nase-Versuch 50, 50 . Fingerperimetrie 8, 8 . FISH 160 Fisher-Syndrom 13 Fistel, arteriovenöse 252–258, 260 – durale 252 – Embolisierung 252 Fixationsnystagmus, angeborener 20 Fixationspendelnystagmus 20 Fixationssuppression 53, 53 . Flechsig-Regel 110 Fleckfieber-Enzephalitis 448 floppy infant syndrome 687, 727 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung 160 Flush-Syndrom 392 Folgebewegungen 11, 13, 16 Folsäureantagonisten 336 Foramen ovale offenes 211 – Schlaganfallrisiko 174 – sonographischer Nachweis 198 . – transösophageale Echokardiographie 200 . Foramen-Magendii-Blockade 729 Foramen-Monroi-Blockade 729 Formatio reticularis 16, 17, 56 – paramediane 16 – parapontine 17 Fremdreflex 33, 36, 37 Frenzelbrille 416 Friedreich-Ataxie 159, 542, 542 ., 543, 586 Froment-Zeichen 640, 640 . Frontalhirnsyndrom 112

D–F

802

Anhang

Frühsommer-Meningoenzephalitis 444, 462, 470 – Impfung 470 FSME 444, 462, 470 – Impfung 470 Fußgreifreflex 114 F-Welle 130

G GABA 45 Gabapentin 376 Gangataxie 53, 615 Ganglion Gasseri – Thermokoagulation 410, 411 – Varizellenlatenz 456 Ganglionitis ciliaris 444, 626 Gangliosidose 591 Gangstrecke 52 Garcin-Syndrom 30 Gaucher-Krankheit 591 Gaumensegelparese 689 Gedächtnis – prozedurales 111 – Strukturmodell 109, 111 . Gedächtnisstörungen 109–111, 552 – 7 Amnesie Gefäßfehlbildungen 225, 244–261 – 7 Aneurysma – 7 Fistel – 7 Missbildungen, arteriovenöse – arteriovenöse 245–248 – intrazerebrale Blutung 225 – neurokutane 256 – spinale 258–260 Gefäßspasmus, zerebraler 268, 268 ., 274 Gehirn – Energiebedarf 16 – Gefäßversorgung 16, 166, 166 ., 169 ., 171 . – – Anastomosen 168, 169, 169 . – Sauerstoffbedarf 16 – Stoffwechsel 166, 170 Gehirnentzündung 7 Enzephalitis Gehirnerschütterung 561 Gehirnjogging 550, 551 Gehirnquetschung 561 Gehörorgan, Blut- und Nervenversorgung 418 . Gelegenheitsanfall 357 Gelegenheitskrampf 600

Gerinnungsstörungen, Risiko für intrazerebrale Blutungen 224, 225 Germinom 317, 332 Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Krankheit 474 Geruchswahrnehmung 7 Geschmacksschwitzen 70 Geschmacksstörung, Fazialislähmung 627 Geschmacksverlust, medikamenteninduzierter 617 Geschmackswahrnehmung 27 Gesichtsapraxie 7 Apraxie, bukkofaziale Gesichtsfeld, hemianopisches 8, 9 Gesichtsfeldausfall 9, 183 . – bitemporaler 9 – homonymer 9 Gesichtsfeldprüfung 8 Gesichtslähmung 627 ., 627–629 – 7 Fazialislähmung – zentrale 88 Gesichtsschmerz, atypischer 412 Gesichtstic 528, 529 Glasgow-Koma-Skala 79, 565 Glatiramiracetat 500, 501, 504 Glaukomanfall 407 Gleichgewichtsorgan, Blut- und Nervenversorgung 418 . Gliadin-Antikörper 663 Gliaprotektion 578 Gliedergürteldystrophie 699, 700, 700 . Gliedmaßenapraxie 104 Glioblastom (Glioblastoma multiforme) 310, 311, 311 ., 314 Gliomatosis cerebri 319 Gliose, reaktive 471 Globus pallidus 44 Glossodynie 412 Glossopharyngeusneuralgie 412 Glutamat-Decarboxylase 506 Glykogenhaushalt, törungen 707 Glykolyse 171 . Glyzerinrhizolyse 411 Golgi-Sehnenapparat 32, 33 Gonadotropine 158 Gordon-Kniephänomen 46 Gradenigo-Syndrom 13, 30 Grand-mal-Anfall 358, 364, 367, 368, 369 ., 600 – 7 Anfall, tonisch-klonischer Grand-mal-Status 368 Greifen, orales 114, 115 Greifreflex 114

Grenzstrangläsion 69 Grenzzoneninfarkt 85, 176, 180, 181 ., 182 . Grimassieren 525 GSC 79 Guillain-Barré-Syndrom 86, 660, 661, 674–678, 679 Guillain-Mollaret-Dreieck 49 Gürtelrose 459, 460

H Hahnentritt 646 Halbbasissyndrom 30 Halbseitenlähmung 89, 401 Halbseitensymptom 183 Halluzination 393, 394, 613 – hypnagoge 393, 394 – medikamenteninduzierte 613 Halsmarkläsion 73 Halswirbelsäule – Arthrose 6 – Distorsion 578–580, 753, 754 Haltetremor 535 Halteversuch 38 Hämangioblastom 256, 257 . Hämatom – 7 Blutung – epidurales 565, 571 – intrakranielles 269 – intrazerebrales 572 – subdurales 565, 571, 572 – – akutes 571 – – chronisches 572 – traumatisches 568, 571 Hämatomyelie 285 Hämatotympanon 562 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest 96 Hämodilution, hypervolämisch-hypertensive 208, 274 Hämophilie, Blutungsbehandlung 232 Hämorrhagie, parenchymatöse 228 . Handgreifreflex 114, 549 – pathologischer 549 Händigkeit 102, 103 HAWIE 96 β-HCG, Hirntumoren 300 HELLP-Syndrom, Epilepsie 381 Helminthen 478 Hemianopsie 8, 9, 109, 362, 401, 589 – binasale 9

803 A5 · Sachverzeichnis

– bitemporale 7 – homonyme 7, 63, 109, 401 Hemiataxie 186 Hemiathetose 531 Hemikranie, chronische paroxysmale 405, 406 Hemilaminektomie 654 Hemiparese 43, 43 ., 63 – kapsuläre 43, 43 . Hemiplegie – infantile 727 Hemisphäre, sprachdominante 103, 104, 105 . Hemisphärenblutung, zerebelläre 226 . Hemisphärektomie, Epilepsie 383 Heparin 203, 204 Herdenzephalitis, septisch-embolische 218 Herdsymptome – neurologische 570 – zerebrale, bei Hirntumoren 293–295 Herniation – foraminale 296 . – subfalziale 296 ., 297 – Symptomatik 297, 298 – tonsilläre 297 – transtentorielle 296 ., 297 Herpes-simplex-Enzephalitis 457–459, 458 .–460 . Herpes-zoster-Infektion 460, 461 Herz, Denervierung 665 Herzenzephalitis, embolisch-metastatische 441 Herzinfarkt, stummer 665 Herzkreislaufregulation, Störungen 70 Heterophorie 11 Heterotopie 734, 735 . Hinterstrangläsion 72 Hinterstrangstimulation 655 Hinterwurzelfasern 44 Hippel-Lindau-Krankheit 256 Hippocampussklerose 383 . Hirayama-Krankheit 686, 688 Hirn 7 Gehirn Hirnabszess 438–441 Hirnarterien 166–168, 176, 180 Hirnbasis, mediale 6 Hirnbiopsie 159, 300 Hirndruckerhöhung 207, 231, 242, 275, 295–297, 306, 307, 569 – Symptome 296, 297 – Behandlung 207, 231, 275, 306, 307, 569 – gutartige 242 – bei Hirntumoren 295–297

Hirndurchblutung 169–172, 199 – CO2-Reaktivität 170, 171 ., 199 – Perfusionsdruck 169 – Regulation 170 Hirnhaut, Biopsie 157 Hirnhautentzündung 7 Meningitis Hirninfarkt – 7 Infarkt, ischämischer – 7 Ischämie, zerebraler Hirninvolution, altersbedingte 547 Hirnkontusion, Pathophysiologie 568 Hirnmetastasen – Primärtumor 328, 331 – solitäre 329 Hirnnervenlähmung, diabetische 665 Hirnnervenläsionen 626–632 Hirnnervensyndrome 6 Hirnödem – bei Elektrotrauma 581 – bei Hirntumoren 295–297 – traumatisches 568 – vasogenes 295 . – zytotoxisches 295, 296 . Hirnrinde, sensible Projektionsfelder 62 Hirnrindenatrophie 607 Hirnschädigung – minimale frühkindliche 728 – perinatale 725, 727 – postnatale frühkindliche 726, 727 Hirnschwellung, globale traumatische 565, 566 . Hirnsklerose, tuberöse 738, 738 . Hirnstamm, Status lacunaris 188 Hirnstammblutung 228, 233 Hirnstammenzephalitis 457, 606 Hirnstammgliom 737 Hirnstamminfarkt 185, 189 Hirnstammkompression 567 Hirnstammkontusion 567, 570 – primäre 570 Hirnstammläsion 44, 567, 568 Hirnstammpotential – frühes akustisches 133, 134 ., 567 Hirnstammsyndrom 84–86, 606 – akutes 606 Hirnstimulation – bei generalisierter Dystonie 53 – bei Parkinson-Syndrom 521 Hirntod, dissoziierter 80, 90–92, 570 Hirntrauma 561, 563–571 – mit Kommotionssyndrom 561, 563, 564 – mit Kontusionssyndrom 561, 564, 565 Hirntumoren 288–338

F–H

– astrozytäre 307–311 – Chemotherapie 306 – intrakranielle, Einteilung 290 – maligne 290, 291, 314 – Metastasen 291, 327–333 – oligodendrogliale 312 – Strahlentherapie 301, 302 – Tumormarker 300, 302, 303 Hirnvenen 236, 237 Hirnvenenthrombose 235–243 – Wochenbett 381 Hirnverletzung – offene 571 – penetrierende 573 Hishimoto-Thyreoiditis 715 HIV-Infektion 441, 464–468, 679 – Enzephalopathie 467 – Meldepflicht 465 – Meningitis 467 – Neuropathie 679 Hodgkin-Erkrankung 7 Morbus Hodgkin Hoehn-Yahr-Skale 514 Hoffmann-Klopfzeichen 647 Hoffmann-Reflex 129 Höhenschwindel 423 Holmes-Tremor 532, 534 Homunculus 55 Hormondiagnostik 158 Horner-Syndrom 22, 25, 26, 11, 186, 187, 251, 582, 633, 733, 739 – peripheres 251 – postganglionäres 25 – präganglionäres 25 – zentrales 25 Hörstörungen, Streptomycin-induzierte 617 H-Reflex 129 Hundespulwurm 480 Hungerpolyneuropathie 666 Huntington-Krankheit 7 Chorea Huntington Hustensynkope 391 Hydrocephalus – 7 Hydrozephalus – arresorptivus 726, 728 – communicans 83, 85, 269, 728 – e vacuo 728 – internus 568, 733 – malresorptivus 728, 730 – occlusus 83, 312, 437, 728, 729, 730, 739 Hydrozephalus 268, 275, 728–731 – 7 Hydrocephalus – akuter 730 – chronischer 730 – bei Subarachnoidalblutung 268

804

Anhang

Hypakusis 594 Hypalgesie 59, 61 Hypästhesie 59, 61, 62 – segmentale 62 – taktile 61 Hyperalgesie 60 Hyperbilirubinämie 725 Hyperekplexie, familiäre 536 Hyperhidrose 69 Hyperhomozysteinämie 175 Hyperkapnie 81 Hyperkinese 45, 46, 525, 288, 614, 727 – bei Chorea Huntington 525 – extrapyramidale 588, 727 – okuläre 21 – medikamenteninduzierte 614 Hypermetrie 53, 615 Hypernephrom, Hirnmetastasen 328, 329, 331 . Hyperpathie 60, 63 Hypersekretionshydrozephalus 728 Hypersexualität 67 Hypersonmie 393 hypertensive Krise 219, 220 Hyperthermie, maligne 83, 159, 618, 709 Hyperthyreose – Myasthenie 714 – Myopathie 708 hypertone Krise 578 Hypertonie, Schlaganfallrisiko 174 Hyperventilation, Epilepsie 360 Hyphidrose 65 Hypoglossusparese 31 ., 251, 631, 632 Hypoglykämie, Bewusstseinsstörungen 169 Hypogonadismus, sekundärer 326 Hypokalzämie 423 Hypokapnie 81 Hypokinese 45 Hypoparathyreoidismus 511 Hypophonie 512 Hypophysenadenom 322–325, 323 ., 325 . Hypophyseninsuffizienz 326 Hypotension, primäre, orthostatische 522 Hypothermie 207, 208, 578 Hypothyreose, Myopathie 708

I Idiotie, amaurotische 591 Ilioinguinalis-Syndrom 655

Imitationsversuch 51 Immunglobuline, multiple Sklerose 500 Immuntherapie, paraneoplastische Syndrome 353 Impfenzephalitis 470 Impression, basiläre 738, 739 Impressionsfraktur 562 Impulsiv-Petit-mal-Anfall 364, 366 Impulskontrolle, gestörte 112 Infarkt – ischämischer 164–219, 402 – – 7 Ischämie, zerebrale – – 7 Schlaganfall – – flüchtiger 180 – – lakunärer 180, 181 ., 182, 182 ., 187, 188 – – maligner 183 – – migränöser 402 – thorakaler spinaler 284 . – vaskulitischer 188 Infarktschwelle 166, 171 ., 172 Infarzierung, hämorrhagische 228 . Infektion, opportunistische 335 Influenza-A-Virus, Enzephalitis 463 Influenza-B-Virus, Enzephalitis 463 Informationsverarbeitung, Prozessmodell 109 Innervation, segmentale sensible 57 ., 58 . Insomnie 393 Inspektion, Kopf 6 Instinktbewegungen 113, 114 Intelligenz 96 Intelligenzquotient 96 Intelligenzstrukturtest 96 Intentionstremor 615 intrazerebrale Blutung 7 Blutung, intrazerebrale Invagination, basiläre 738, 739 Ischämie, zerebrale – 7 Infarkt, ischämischer – 7 Schlaganfall Ischämieschwelle 170 Ischiadikuslähmung 645, 646 – hochliegende 645, 646 Ixodes ricinus 444

J Jackson-Anfall 293, 362 – motorischer 293 – sensibler 293

Jannetta-Operation 410, 411 Janz-Syndrom 366 Jargon-Aphasie 98, 99 Jendrassik-Manöver 32

K Kallosotomie, Epilepsie 383 Kalottenfraktur 562 Kalziumkanalkrankheit 704 Kanalopathie 704, 705 Kapsel, innere 7 Capsula interna Karotidodynie 413 Karotisaneurysma 251, 252 ., 265 ., 273 – Coiling 273, 273 . Karotisangiographie 149, 150 ., 239 . Karotisdissektion 187 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel 252–255, 254 . Karotisstenose 175, 183, 210, 211 – Operation 210, 211 – – Karotis-Thrombendarteriektomie 212, 213, 215 – Schlaganfallrisiko 175 Karotisstenting 210, 213, 214 ., 215 Karpaltunnelsyndrom 324, 625, 639, 640, 666 Karzinom, embryonales 317 Kataplexie 393, 394 Katerkopfschmerz 408 Kaudasyndrom 74, 737 Kaudatumor 345 Kausalgie 60 Kavernom 245, 248–250, 250 ., 258 – intramedulläres 258 Kavernosussyndrom 251 Kearns-Sayre-Syndrom 594 Keilbeinflügelmeningeom 320 Keilbeinflügelsyndrom 13, 30 Keimzelltumoren 317 Kennedy-Syndrom 30, 159, 320, 693 Kernig-Versuch 57 Kieferöffnungsreflex 129 Kinetose 422 Kleinhirn 49, 50 . Kleinhirnataxie 53 Kleinhirnatrophie, alkoholbedingte 542 Kleinhirnblutung 228 Kleinhirnbrückenwinkelmeningeom 320 Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom 6, 30 Kleinhirndruckkonus 297

805 A5 · Sachverzeichnis

Kleinhirnfunktion 49, 50 ., 186 – Untersuchung 50 Kleinhirninfarkt 185, 189, 191 ., 208 – Dekompressionsoperation 208 Kleinhirnrinde, Spätatrophie 607 Klippel-Feil-Syndrom 740 Klüver-Bucy-Syndrom 116 Knie-Hacken-Versuch 50, 50 ., 607 – pathologischer 607 Knipsreflex 34 Knochenszintigraphie 300 Koagulopathie 178 Kokain, Pupillenerweiterung 616 Kolliquationsnekrose 581 Kolloidzyste, III. Ventrikel 327, 327 . Koma 78–83, 565, 588, 589 – Atemstörungen 82 – nach Hypoxämie 83 – nach Kreislaufversagen 83 – bei Leberausfall 588, 589 – metabolisches 81, 83 – vegetative Regulationsstörungen 83 Kommissuralarteriensyndrom 281 Kommotionssyndrom 561, 563, 564 Kommunikationsskala 102 Kompartmentsyndrom 719 Kompressionssyndrom 625 Kongestionshyperämie 258 Kontrastmittelangiographie 147 Kontusionssyndrom 561, 564, 565 Konus-Kauda-Syndrom 582 Konusläsion 74 Konvergenzbewegung 13, 22 Konvergenzparese 18, 729 Konvexitätsmeningeom 320 Konzentration 111 Konzeptbildung 112 Koordination 49 Koordinationsstörungen 52, 97 – 7 Ataxie – zerebelläre 97 Kopfhaltung, kompensatorische 11, 12 . Kopfschmerz 294, 321, 399–408, 753, 611 – 7 Migräne – 7 Spannungskopfschmerz – chronischer 753 – einseitiger 405 – koitaler 408 – medikamenteninduzierter 407, 611 – posttraumatischer 407 – trigeminoautonomer 405, 406 – tumorbedingter 294, 321 – zervikogener 407

Kopftetanus 446 Kornealreflex 27, 88 Korsakow-Psychose 604, 605 Korsakow-Syndrom 567 Kortex – somatosensorischer, Somatopie 55, 55 . – supplementmotorischer 42 Kortison-Tagesprofil 158 Koryphäenkiller-Syndrom 757 Krallenhand 672 Krallenzehe 672 Krampfpotential 137, 138 Kraniopharyngeom 326 Kreatinkinase 696 Kreislaufstörungen 83 Kribbelparästhesie 647 Krokodilsträne 629 Kryoglobulinämie 670 Kryokoagulation, Ganglion Gasseri 411 Kryptokokkenmeningitis 467 Kryptokokkose 483 Kugelberg-Welander-Krankheit 686 Kulissenphänomen 29 Kupferstoffwechsel, gestörter 586 Kuru 474 Kurzzeitgedächtnis 109

L Labordiagnostik 120–122, 156–158 Labyrinthausfall, akuter 419 Lachen, pathologisches 115, 116, 116 . Lachschlag 394 Lagerungsprüfung, Schwindel 417, 417 . Lagerungsschwindel, benigner, paroxysmaler 416–419 Lagewahrnehmung, gestörte 661, 672 Lähmung 38–44, 704–706 – 7 Parese – dyskaliämische 704, 705 – hyperkaliämische 705, 706 – hypokaliämische 705 – normokaliämische 706 – periodische 704–706 – periphere 38, 39, 40 – psychogene 38 – schlaffe 39 – zentrale 38, 41–44 Lähmungsschielen, erworbenes 11 Laktatazidose 593

Laktat-Ischämie-Test 157, 696, 707, 708 Lakune 177, 180, 181 ., 182 ., 187, 188 Lambert-Eaton-Syndrom 349, 350, 715 Laminin-2 696 Laminprotein 696 Lamotrigin 376 Lance-Adams-Syndrom 523 Langzeit-EEG 135 Langzeitgedächtnis 109 Lasègue-Zeichen 57, 651 Lateralsklerose – amyotrophe 259, 351, 689–693 – paraneoplastische 351 – Parkinson-Demenz-Syndrom 693 – primäre 684 Laterocollis 47 L-Dopa 517, 533, 538 L-Dopa-Test 515, 537 Leberausfallskoma 588, 589 Legionellose 449 Leistungsprüfsystem 96 Leitungsstörungen 109, 110 Lennox-Gastaut-Syndrom 364, 365 Lepra 678, 679 – lepromatöse 678 – tuberkuloide 678 Leptomeningitis 427 Leptospirose 448 Leriche-Syndrom 284 Leukenzephalopathie – progressive multifokale 468 – reversible 594, 595, 595 . Leukodystrophie, metachromatische 591–593 Leukomalazie, periventrikuläre 726 Leukotriene 170 Levetiracetam 377 Lewy-Körper-Demenz 7 Demenz, vom Lewy-Körper-Typ Lhermitte-Zeichen 58 Libidoverlust 69 Lichtreaktion – direkte 22, 22 . – konsensuelle 22 Lidheber 10, 11 Lidspalte 10 Linkage 158 Linsenkern 44 Linsenkerninfarkt 182 ., 184 Lipohyalinose 182 Lipom – intrakranielles 327 – spinales 345

H–L

806

Anhang

Liquor – Eiweißgehalt 121, 122 – Glukosekonzentration 121, 123 – Immunglobuline 122 – oligoklonale Banden 122, 123 . – Proteinprofil 121, 122, 122 . – Xanthochromie 121 – Zellzahl 121 Liquordiagnostik 120–123 – immunzytologische 123 – mikrobiologische 122 – molekularbiologische 122 Liquordruckmessung 120, 121, 731 Liquorpunktion 120 Liquorstatus 121 Liquorunterdrucksyndrom, postpunktionelles 121 Liquoruntersuchung 7 Liquordiagnostik Liquorzirkulation, gestörte 728 Lissenzephalie 734, 735 . Listerienmeningitis 436, 437 Little-Krankheit 727 Lobärblutung 226 ., 227 Locked-in-Syndrom 85, 86, 186 Logopädie, Schlaganfall 209 Long-loop-Reflex 130 LPS 96 Lues, cerebrospinalis 441, 442 Luftembolie 218, 219 . Lumbago 654 – 7 Bandscheibenprolaps Lumbalisation 743, 744 Lumbalmarkläsion 74 Lumbalpunktion 120, 120 ., 121, 271, 272 . Lupus erythematodes, systemischer 178, 179, 670 Lymphadenopathiesyndrom 466 Lymphom, intrakranielles malignes 333, 334 Lungenkarzinom 7 Bronchialkarzinom Lyse 7 Thrombolyse Lyssa 464 – 7 Tollwut

M Magnetenzephalographie 138, 138 ., 139, 140 Magnetresonanzangiographie 146, 147, 147 .

Magnetresonanztomographie 143–148, 144 ., 145 . – diffusionsgewichtete 146 – funktionelle 147, 148, 148 . – Kontraindikationen 147 – perfunktionsgewichtete 146 Magnetstimulation, transkranielle 130, 131, 131 . Makroadenom 322, 326 Makroangiopathie 179, 180, 181 ., 183 Makuladegeneration 594 Malaria 478, 480 Mammakarzinom – Hirnmetastasen 328, 329 – POM 351 MAO-Hemmer 516, 519 Marasmus 669 Marchiafava-Bignami-Syndrom 607, 608 Marker, neuronale 158 Markscheidenläsion 127, 625 Maschinenatmung 81, 82 Masern 469 Masernvirus, Enzephalitis 464 Massenblutung, hypertensive 225, 234 . Masseterklonus 27 Masseterreflex 27, 27 ., 129 Mastdarmlähmung 661 Mayer-Grundgelenkreflex 36 McArdle-Syndrom 707 Mc-Donald-Diagnosekriterien 493 Mediainfarkt 189, 191, 208 . Medianuslähmung 639, 640 . Mediasyndrom 183 Medikamentenabhängigkeit 612 Medikamentenabusus, chronischer 612, 613 Medikamentenentzugsdelir 602 Medulloblastom 314, 315, 317 ., 332 Medusenhaupt 249 MEG 7 Magnetenzephalographie Megadolichobasilaris 264 Megaloblastenanämie 585 Meige-Syndrom 47, 529 MELAS-Syndrom 594 Melkersson-Rosenthal-Syndrom 630 Menière-Krankheit 420–422 Meningen 7 Hirnhaut Meningeom 292, 318, 319, 320, 320 ., 343–345, 685 – anaplastisches 318, 320 – frontales 320 – parasagittales 320, 685 – spinales 340, 344, 345

Meningeosis – blastomatosa 329, 330 – carcinomatosa 435 – lymphatica 333 . – neoplastica 332 Meningismus, Subarachnoidalblutung 266 Meningitis 278, 427–437, 442, 453–470 – akute, eitrige 427–434 – aseptische 467 – bakterielle 427–437 – – therapeutische Leitlinien 434 – basale 626 – Erregerspektrum 427, 428, 453, 454 – fortgeleitete 427 – frühluische 442 – hämatogene 427 – lymphozytäre 444, 453–455 – – akute 453–455 – – chronische 455 – traumatische 436 – tuberkulöse 434 – virale 453–470 Meningokokkensepsis 429 Meningomyelozele 742 Meningosarkom 318 Meningozele 742 Meralgia paraesthetica 624 MERRF-Syndrom 594 Metastasen – extradurale 343 – infratentorielle 328 – solide 327, 328 – spinale 340 – supratentorielle 328 Migraine cervicale 407 Migräne 400–404, 753 – 7 Kopfschmerz – mit Aura 400, 401 – ohne Aura 400 – familäre hemiplegische 401 – komplizierte 401 – ophthalmologische 251 – vestibuläre 422 – zyklusgebundene 404 Mikroadenom 322 Mikroangiopathie, zerebrale 177, 179, 180, 181 ., 182, 551 Mikroatherom 177 Mikrozephalie 725 Miktion, Physiologie 66 Miktionsstörungen 65–67 Miktionssynkope 392

807 A5 · Sachverzeichnis

Miktionszentrum – pontines 66, 67 . – sakrales 66, 67 . Miller-Fisher-Syndrom 677 Mini-Mental-Test 113 Minussyndrom 112 Miosis 22, 613, 616 – medikamenteninduzierte 613, 616 Missbildungen, arteriovenöse 245–248 – spinale 258, 260 Mitosehemmstoffe 336 Mitoxantron 499, 502, 504 Mittelhirnblutung 228 Mittelhirnsyndrom, akutes 80, 81, 85, 186 Moebius-Syndrom 13 Monoaminooxidase-Hemmer 516, 519 Monokelhämatom 562 Mononeuritis multiplex 660 Mononeuropathie bei Diabetes 665 Monoparese, kortikale 43, 43 . Morbus Addison 709 Morbus Alzheimer 7 Alzheimer-Krankheit Morbus Behçet 216, 435, 506 Morbus Boeck 435, 455, 456 Morbus Cushing 611, 709 Morbus Gaucher 591 Morbus Hodgkin 333, 351 Morbus Menière 7 Menière-Krankheit Morbus Refsum 663, 671 Morbus Sudeck 680 Morbus Tay-Sachs 591 Morbus Whipple 449, 449 . – – zerebraler 449 Morbus Wilson 511, 586–588 Motoneuron 39, 40 – Degeneration 683–688 motorische Einheit 123–125, 125 . motorisches System 41 . Motorkortex 41 Moya-Moya-Syndrom 179, 218, 219 . MR-Angiographie 7 Magnetresonanzangiographie MRT 7 Magnetresonanztomographie Müdigkeitssyndrom, chronisches 751, 752 Mukopolysaccharidose 591 Multiinfarktdemenz 551 – 7 Demenz, vaskuläre Multiinfarktsyndrom 188 multiple chemical sensitivity 749, 750 multiple Sklerose 131, 259, 489–505, 685 – Cyclophosphamid 498, 499, 504 – Genetik 490 – IgG-Produktion 496

– Immunglobuline 500, 502 – immunpathogenetische Subtypen 491 – Interferontherapie 499–501, 504 – Kortikoide 498 – Mitoxantron 499 – Plasmapherese 499 – und Schwangerschaft 494 – Verlaufsformen 492, 492 . Multisystematrophie, Parkinson-Typ 511, 522, 523 Münchhausen by proxy 757 Münchhausen-Syndrom 756 Mundgreifreflex, pathologischer 549, 554 Musculus biceps brachii, Innervation 638 Musculus biceps femoris, Innervation 645 Musculus brachialis, Innervation 638 Musculus brachioradialis, Innervation 638 Musculus deltoideus, Innervation 637 Musculus flexor carpi ulnaris, Innervation 640 Musculus glutaeus maximus, Innervation 644, 645 Musculus iliopsoas, Innervation 644 Musculus levator palpebrae 10, 11 Musculus lumbicalis, Innervation 639, 640 Musculus obliquus inferior 10 Musculus obturator externus, Innervation 645 Musculus orbicularis oris 689 Musculus peronaei, Innervation 646 Musculus pronator quadratus, Innervation 639 Musculus pronator teres, Innervation 639 Musculus rectus inferior 10 Musculus rectus lateralis 10 Musculus rectus medialis 10 Musculus rectus superior 10 Musculus supinator teres, Innervation 638 Musculus supraspinatus, Atrophie 649 Musculus tibialis anterior, Innervation 646 Musculus tibialis posterior, Innervation 646 Musculus triceps brachii, , Innervation 638 Musculus triceps surae, Innervation 646 Muskelatrophie – bulbospinale 693 – peronäale 671 – progressive spinale, Duchenne-Aran 687, 688, 701 – spinale 160, 685–688 – – Hirayama 686, 688 – – infantile 686 – – juvenile distale 688

L–M

– – Kugelberg-Welander 686 – – Werdnig-Hoffmann 686, 687 Muskelbelastungstest 157, 158 Muskelbiopsie 156, 157, 664, 690, 696, 697, 711 – Indikationen 157 Muskeldystrophie – fazioskapulohumerale 700 – genetische Beratung 699 – okuläre 701, 718 – okulopharyngeale 701, 718 – progressive 697–700 – – Becker-Kiener 697, 699 – – Duchenne 697, 698, 699 – skapuloperonaeale 701 Muskelhypotonie, generalisierte 593 Muskelkrankheiten – 7 Myopathie – 7 Myositis Muskeltonus, reduzierter 53 Mutismus, akinetischer 85 myasthene Krise 713, 714 Myasthenia gravis pseudoparalytica (Myasthenie) 350, 709 – akute 617 – generalisierte 710–713 – hereditäre 714 – medikamenteninduzierte 714 – bei Neugebroenen 714 – okuläre 710, 713 . Mycobacterium tuberculosis 435, 435 . Mydriasis 22, 613, 616 – CO-Vergiftung 613 – medikamenteninduzierte 616 Myelinolyse, zentrale pontine 506, 591, 606, 606 ., 607 Myelinprotein, basisches 491, 497 Myelitis 341, 351, 488 – paraneoplastische 351 Myelo-Computertomographie 143, 152, 341 – bei Bandscheibenvorfall 654 Myelographie 152, 650 – bei Bandscheibenvorfall 654 – bei Gefäßfehlbildungen 260 Myelomalazie 281 Myelopathie – chronische zervikale 506, 693 – progressive vaskuläre 284 – zervikale 259, 506, 650, 651 ., 693 Myelozele 742 Myklonusepilepsie 7 Epilepsie, myoklonische Mykosen, ZNS 481–483

808

Anhang

Myoadenylatdesaminasemangel 696 Myoglobinurie 707 Myoklonie (Myoklonus) 21, 48, 49, 366, 535–538 – bilateral massive 366 – epileptische 49, 537 – essentielle 536 – kortikale 49 – bei metabolischer Enzephalopathie 536 – okulopalatine 21 – physiologische 49 – posthypoxische 523, 536 – spinale 536 – subkortikale 49 – symptomatische 49, 536 Myokymie, hemifaziale 494 Myopathia distalis – juvenilis hereditaria 701 – tarda hereditaria 688, 701 Myopathie 126, 127, 352, 467, 617, 618, 688, 695–720 – endokrine 708, 709 – HIV-assoziierte 467 – bei Hyperthyreose 708 – bei Hypothyreose 708 – medikamenteninduzierte 617, 618 – metabolische 707 – mitochondriale 707 – okuläre 717, 718 – steroidbedingte 617 – toxische 709 – tumorbedingte 352 Myositis 715–717, 718, 618 – Einschlusskörperchen 718 – medikamenteninduzierte 618 – okuläre 718 Myosonographie 696 Myotonia congenita 702 Myotonie 700–702 – dystrophische 702, 703 – – Curschmann-Steinert 705 – kongenitale 705 – proximale myotone 703 – symptomatische 703 Myxovirusinfektion 463, 464

N Nackenbeugezeichen 58 Nackenmuskulatur 6 Nackensteifigkeit 6, 88, 428

Nadelmyographie (7 EMG) 124, 711 Naevus flammeus 256, 257 . Narkolepsie 393–395, 613, 707 – monosymptomatische 394 Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom 394 Natalizumab 500, 501, 504 Natriumkanalkrankheit 704 Neglect 17, 107, 108 – motorischer 108 – sensibler 108 – supramodaler 107, 108 – visueller 108 Nematoden 478 Neocerebellum 49, 54 Neologismus 98 Nervenbiopsie 157, 664, 690 Nervendehnungsschmerz 57 Nervenkrankheit 7 Neuropathie 127 Nervenläsionen – axonale 625 – iatrogene 624 Nervenleitgeschwindigkeit 127, 128, 662 – motorische 127, 128, 128 . – sensibel-antidrome 128 – sensibel-orthodrome 128, 662 – sensible 662 Nervenscheidentumoren 320, 321 Nervenschmerz 7 Neuralgie Nervenstimulation, transkutane elektrische 647 Nervus abducens 10 – Lähmung 11, 12, 12 ., 626 – Neurinom 322 Nervus accessorius 29, 631 – Neurinom 320, 321, 322 ., 737, 750 Nervus axillaris, Lähmung 637 Nervus cutaneus femoris lateralis, Lähmung 644 Nervus facialis 28, 627 . – Lähmung 7 Fazialislähmung – Untersuchung 28, 28 . Nervus femoralis, Lähmung 644 Nervus glossopharyngeus 29 – Neuralgie 412 Nervus glutaeus – inferior, Lähmung 645 – superior, Lähmung 644, 645 Nervus hypogastricus 66 Nervus hypoglossus 31 – Lähmung 31 ., 251, 631, 632 Nervus-ilioinguinalis-Syndrom 655 Nervus ischiadicus, Lähmung 645, 646 Nervus lingualis 412

Nervus medianus, Lähmung 639, 640 . Nervus musculocutaneus, Lähmung 638 Nervus obturatorius, Lähmung 645 Nervus oculomotorius 9, 10, 10 ., 11, 12 – Lähmung 11, 12 ., 186, 267, 297, 625, 626 Nervus olfactorius 6, 7 Nervus opticus 7–9 – Atrophie 8, 9 ., 443, 592, 671 – Gliom 307, 308 ., 737 – Meningeom 320 – Neuritis 8, 9 ., 493, 494, 500, 615 Nervus pelvicus 66 Nervus peronaeus communis, Lähmung 645, 646 Nervus phrenicus, Lähmung 73 Nervus radialis, Lähmung 638, 638 . Nervus statoacusticus 28, 29 – Schädigung 616, 617 Nervus suprascapularis 634, 634 . Nervus thoracicus anterior, Lähmung 636 Nervus thoracicus longus, Lähmung 635 Nervus thoracodorsalis, Lähmung 635 Nervus tibialis, Lähmung 646 Nervus trigeminus 26, 27 – Kompression 409, 409 ., 410, 410 . – Neuralgie 408–411, 494 – Neurinom 322 Nervus trochlearis 10 – Lähmung 10, 11, 12 ., 16, 626 Nervus ulnaris, Lähmung 640 Nervus vagus 29 Nervus vestibularis 419 ., 616 – Neuritis 419 Nervus vestibulocochlearis 28, 29 Netzhautblutung, bei erhöhtem Hirndruck 297 Neugeborenenmyasthenie 714 Neuralgie 60 Neurinom 320, 340, 343, 344, 736, 737 – spinales 340, 343, 344 – thorakales 737 . Neuritis nervi optici 8, 9 ., 493, 494, 500, 615 Neuritis vestibularis 419 Neuroblastom, spinales 344 . Neuroborreliose 444, 445 – Diagnostik 444 – Symptomatik 444 Neurobruzellose 448 Neurofibromatose 736, 737 – Diagnostik 736 – Einteilung 736

809 A5 · Sachverzeichnis

– genetische Ursache 161 Neuroleptikasyndrom, malignes 709 Neurolues 441, 442, 468 Neurolyse, interfaszikuläre 647 Neuromyelitis optica 505 Neuromyotonie 353 Neurone – postganglionäre 64 – präganglionäre 64 Neuropathie – akut demyelinisierende 674 – distale, symmetrische 679 – hereditäre 673 . – – motorische und sensible 661, 670–673 – – sensible 736 – – sensorische autonome 672 – HIV-assoziierte 679 – hypertrophische Dejerine-Sottas 671 – multifokale motorische 688 – – motorische 693 – – motorische 677 – – subakute 679 – periphere 127 – sensible 353 – subakute sensorische 352 – tomakulöse 672 – vegetative 678 – – bei Diabetes 665 Neuroprotektion 578 Neurotoxizität, Chemotherapeutika 336 Neurozystizerkose 480 Niemann-Pick-Krankheit 591 Niereninsuffzienz 589, 590 Nierenversagen, akutes 589 Ninhydrintest 65 Nitrosoharnstoffe 336 NO 7 Stickoxid Nokardiose 448 Non-Hodgkin-Lymphom 330, 333 Noradrenalin 64 Noradrenalinsturm 600 Normaldruckhydrozephalus 555, 556 NO-Synthesetase 170 Notfalldiagnostik 86–89, 143 Notfalluntersuchung, neurologische 86–88 Nothnagel-Syndrom 186 NSE 158 Nucleus – caudatus 44 – reticularis caudalis pontis 393 – subthalamicus 45 Nulllinien-EEG 91, 91 . nvCJK 473

Nystagmus 12, 19–21, 44, 140, 544, 567 – 7 Schwindel – angeborener 19 – dissoziierter 21 – erworbener 19 – kalorischer 567 – optokinetischer 13, 16, 18, 19 – pathologischer 19–21 – physiologischer 19 – Provokationsverfahren 19 – retractorius 17, 18, 20 – vestibulärer 17 – – richtungsbestimmter 20 – zentraler 44 – zerebelläre Ataxie 544

O Oberflächensensibilität 59 ., 61 Objektagnosie, visuelle 109 Obliquus-superior-Myoklonie 17 Ocular-tilt-Reaktion 16–18 OFO-Test 197 Okklusivhydrozephalus 268 Okulomotorik – Störungen 494, 525, 606 – Untersuchung 88 Okulomotoriuslähmung (7 N. oculomotorius) 11, 12 ., 186, 267, 297, 625, 626 – äußere 626 – bei Herniation 297 – innere 267 – komplette 625, 626 Okzipitallappen 16 Olfaktorius 7 Nervus olfactorius Olfaktoriusrinne 30 Oligoastrozytom 314 Oligodendrogliom 312, 313 ., 314 – anaplastisches 312 Ophthalmoplegia interna 626 Ophthalmoplegie 15, 15 .. 251, 524, 594, 626 – chronisch progressive externe 594 – diabetisches 251 – internukleäre 15, 15 ., 185 – progressive supranukleäre 524 Oppenheim-Reflex 37 opportunistische Infektion 335 Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom 351 Optikusatrophie 8, 9 ., 592, 671 – doppelseitige 592

M–P

– tabische 443 Optikusgliom 307, 308 ., 737 Optikusneuritis 8, 9 ., 493, 494, 500, 615 Optikusneuropathie, Lebersche 594 Orbicularis-oculi-Reflex 129, 129 . Orbitaspitzen-Syndrom 30 Orbitopathie, endokrine 708, 708 . Orgasmuskopfschmerz 408 Orientierungsstörung, räumliche 107 Osmotherapie, Schlaganfall 207 Overlap-Syndrom 696 Oxcarbazepin 377

P Pachymeningeosis haemorrhagica interna 572, 608 Paläocerebellum 49, 54 Pallanästhesie 59 Pallhypästhesie 59 Pallidotomie 521 Palmomentalreflex 115 Panarteriitis nodosa 178, 179, 669 Pancoast-Tumor 344 Pandysautonomie 624, 680 Panenzephalitis – bei Masern 470 – bei Röteln 470 – subakut-sklerosierende 470 PAP 303 Papaverin, intraarterielle Infusion 274 Papez-Schleife 110 Papillenödem 615 Paralyse 39, 443 – progressive 443 Paramyotonia congenita 703 Paramyotonie 703, 705 paraneoplastische Syndrome 348–354 paraneoplastische zerebelläre Degeneration 349 Paraparese, zentrale 74 Paraphasie 97–99 – phonematische 98, 99 – semantische 98, 99 Paraplegie, bei multipler Sklerose 494 Parapraxie 104 Parästhesie 59, 401 – halbseitige, Migräne 401 Parasympathikus 64 Parese 39 – 7 Lähmung

810

Anhang

Parietallappenanfall 362 Parinaud-Syndrom 18, 315, 729 Parkinsonismus – akinetischer 614, 693 – enzephalitischer 523 Parkinson-Syndrom 45, 511–524 – akinetische Krise 521 – akinetisches 614 – akinetisch-rigides 514 – Äquivalenztyp 514 – atypisches 511 – Bradykinse 516 – Depression 514, 516 – Frühsymptome 512 – Hirnstimulation 521 – idiopathisches 511–522 – Körperhaltungsstörung 511, 513, 513 . – medikamenteninduziertes 523, 614 – postenzephalitisches 523 – posthypoxisches 523 – psychotische Epidsode 613 – Ruhetremor 511 – Stimmungsveränderungen 514 – symptomatisches 511 – toxisches 523 – tremordominantes 514 Patellarsehnenreflex 35, 36, 36 . PCR 121, 123, 160 Penumbra 166, 170, 172 Perfusionscomputertomographie, zerebrale Durchblutungsstörungen 189, 189, 192 . Perfusionsdruck 169, 295 – zerebraler, verminderter 295 Perfusionsmagnetresonanztomographie 1468 Perimetrie 8 Perkussionsmyotonie 701 Perseveration 104, 293 Persönlichkeitsfragebogen, -test 96 Persönlichkeitstest 96 PET 148, 149 – Hirntumoren 300 Petit-mal-Anfall 364, 365 – altersgebundener 364, 365 – pyknoleptischer 365 Pfeiffersches Drüsenfieber 469 Phakomatose 736–738 Phantomschmerz 61 Phasenkontrastangiographie 147 Phenobarbital 375 Phenytoin 375 Phosphorylasemangel 707 Photostimulation, Epilepsie 360

Phytansäure 663 Pick-Körper 554 Pick-Syndrom (-Komplex) 553, 554 Piloarrektion 65 Pilocarpin 65 Pilzinfektionen, ZNS 481–483 Pinealom 315, 316 . Pineoblastom 315 Piokilotonus 525 Plaque – Morphologie 176 – sonographische Darstellung 198 . Plasmapherese – Guillain-Barré-Syndrom 676 – Myasthenie 712 Plasminogenaktivator 203 Plasmozytom 342, 343 Plectin 696 Pleozytose 121 Plexus brachialis 69, 632–634, 632 . Plexus lumbosacralis 69, 617, 642–647, 643 . Plexuskarzinom 315 Plexuslähmung 582, 532, 633 – komplette 633 – obere 632 – traumatische 633 – untere 633, 688 Plexuspapillom 315 Plexusschädigung 40, 62 Plexustumoren 315 Pneumokokkenmeningitis 437 . Pockenschutzimpfung 469 Poliodystrophie 591 Polioencephalopathia haemorragica superior 604 Poliomyelitis acuta anterior 463 Polyarthritis – mit Densbefall 48 – rheumatische, chronische 278 Polygraphie, Schlafapnoesyndrom 396, 396 . Polymeraskettenreaktion 121, 123, 160 Polymikrogyrie 726, 734 Polymyalgia rheumatica 717 Polymyositis 352, 701, 714, 715–717, 716 . – tumorbedingte 352 Polyneuritis – cranialis 678 – allergische 678 – serogenetische 678 Polyneuropathie 659–682, 701 – 7 Guillain-Barré-Syndrom 660

– – – – – – – –

alkoholbedingte 604, 660 bei Amyloidose 674 bei Arsenvergiftung 669 akute 467 autonome 665 . axonale 660, 662 bei Bleivergiftung 668 chronisch inflammatorische demyelinisierende 677, 693 – chronische motorische 693 – diabetische 660, 664, 665, 665 . – – distale, sensomotorische 664, 665 – – proximale assymmetrische 665 – distale symmetrische 660 – dysproteinämische 680 – entzündliche 661 – bei Gammopathie 660 – hepatische 666 – bei Kollagenosen 661 – Lepra 678, 679 – lösungsmittelinduzierte 667 – medikamenteninduzierte 617, 667 – metabolische 624, 661, 664–667 – nephrogene 590, 660 – paraneoplastische 660, 680 – bei Porphyrie 660, 661, 674 – primärer Markscheidenbefall 660, 662 – bei primärer Amyloidose 661 – proximal betonte 701 – bei rheumatoider Arthritis 670 – bei Schilddrüsenkrankheit 666 – symmetrische sensomotorische 666 – bei Thalliumvergiftung 668 – toxische 624, 661, 667–669 – bei Urämie 666 – bei Vaskulitiden 669, 670 – vitaminmangelbedingte 666, 667 Polyphasie 126 Polyradikulitis (7 Guillain-Barrè-Syndrom) 467, 680 POM 351 Ponsblutung 226 ., 228 Ponsgliom 309 Ponsinfarkt, paramedianer 186 Porenzephalie, agenetische 726 Porphyrie, akute intermittierende 590, 591 Positronen-Emissions-Tomographie 148, 149 – bei Alzheimer-Demenz 550 . – bei Hirntumoren 300 Posteriorinfarkt 189, 192 ., 445 . – doppelseitiger 189, 192 . Postpoliosyndrom 688, 689, 701

811 A5 · Sachverzeichnis

Post-Thymektomie-Myasthenie 713 Prädelir 600 Prätektalsyndrom 18 Pregabalin 377 primitiv neuroektodermale Tumoren 314–318 Prione 471 Prionkrankheiten 471–474 Problemlösen 112 Prolaktin 158 – hormonaktive Adenome 324 Prolaktinom 324, 325 Pronatorreflex 33, 34, 35 . Propulsion 46 Prosodie 98, 101 Prostatakarzinom, Hirnmetastasen 328, 329 Proteolipoprotein 491, 501 Protozoenerkrankungen, ZNS 478–480 Protrusio bulbi 718 PSA 303 Pseudoaneurysma 264, 277, 278, 573 – nach Dissektion 573 – mykotisches 277, 278 Pseudobulbärparalyse 693 Pseudotumor cerebri 242 psychoorganisches Syndrom 570 Psychose – alkoholassozierte 599, 600 – dopamininduzierte 520 – epileptische 385 – traumatische 564 PTA 213 Ptose 11 Punktionsnadel 120 Pupille – Konvergenzreaktion 23 – paralytische 24 – tonische 24 Pupillenentrundung 22 Pupillenerweiterung 22, 616, 626 – einseitige 626 – bei Kokain 616 Pupilleninnervation 23 Pupillenreaktion 21, 22, 24 . Pupillenreflex 22, 22 ., 23, 88 – Anatomie 23 – direkter 22, 22 . – Störungen 22 Pupillenstarre 22 – absolute 22 – amaurotische 22 – reflektorische 22

Pupillenstörungen 23, 24, 44, 297, 298, 443, 444, 616 – bei erhöhtem Hirndruck 297, 298 – Bewusstseinstrübung 24 – luische 443, 444 – medikamenteninduzierte 616 – progressive Paralyse 443 Pupillenverengung 22 Pupillenweite 21, 22 Pupillomotorik 12, 21–25, 70, 84, 88 Pupillotonie 23, 444 Puppenkopfphänomen 18 Purpura, thrombotisch-thrombozytopenische 232 Putamen 44 Pyknolepsie 365 Pyramidenbahn 40 – Degeneration 684 Pyrimidinanaloga 336

Q Quadrantenanopsie 7 Querschnittslähmung, -syndrom 69, 71, 73, 340, 578 – akute 578 – hohe 73 – komplette 577 – psychogene 259 – Schweißsekretion 69 – Sexualfunktion 69 – thorakale 581 – traumatische 576–578 – zervikale 581

R Rabies 464, 464 Rachischisis 742 Radialislähmung 638, 638 ., 639 – mittlere 638 – obere 638 Radicularis-magna-Syndrom 283, 285 Radionekrose 247 Radiusperiostreflex 33, 34, 35 . Rankin-Skala 173 Rauchen, Schlaganfallrisiko 175 Reaktionsbereitschaft 111 Reaktivität, Untersuchung 88

Rebound-Phänomen 51 Recklinghausen-Krankheit 7 Neurofibromatose Reflex – okulozephaler 88 – optokinetischer 13 – vestibulookulärer 13, 54 Reflexblase 67 Reflexdystrophie, sympathische 680 Reflexmyoklonie 49 Reflexpolygraphie 130 Reflexsteigerung 34 Reflexsynkope 391 Reflextachykardie 675 Reflexuntersuchung 33, 34, 129, 130 Refsum-Krankheit 663, 671 Reizpleozytose 455 REM-Schlaf 135 Restless-legs-Syndrom 537, 538, 590, 666 Retikularissystem 7 Formatio reticularis Retinitis pigmentosa 671 Retrobulbärneuritis 494, 498 . Retrocollis 47 Retropulsion 46 Rezeptorenstörung, zentrale 81 Rhabdomyolyse 618 Rickettsiose 448 Riesenwuchs 324 Riesenzellarteriitis 216 Rigor 6, 46, 511, 513, 514 – Nackenmuskulatur 6 – bei Parkinson-Syndrom 511, 513, 514 Rinderwahnsinn 472 Rinne-Versuch 29 Robertson-Phänomen 22–24 Robertson-Pupille 23 Romberg-Versuch 51 Rotationsbewegung 16 Rotationstrauma 568 Röteln 469 Rötelnpanenzephalitis 470 Rot-Grün-Farbstörung 615 rtPA 203–205 Rubersyndrom, oberes 186 Rückenmark 72 . – Anatomie 70, 70 . – Blutversorgung 258, 258 ., 281, 282, 283 . – Durchblutung 282 – Elektrotrauma 581 – Strahlenschäden 581

P–R

812

Anhang

Rückenmarkschädigung – Höhenlokalisation 72 – traumatische 576–578 – zentrale 72 Rückenmarksyndrom 70–74, 457, 577 – vorderes 577 – zentrales 577 Rückenmarktrauma 576–578 Rückenmarktumoren 259, 339–347, 740 – 7 Tumoren, spinale Rückenschmerzen, chronische, therapieresistente 655 Ruhetremor 48, 514, 535 Rumpfataxie 51, 52 Rumpfreflex 35

S Sakkade 13, 16 Sakkadenstörung 16 Sakkotomie 422 Sakralisation 744 SCC 302 Schädelbasis, Anatomie 32 . Schädelbasisbruch 562 Schädelbasissyndrom 30, 31 Schädelfraktur 562, 572 – Spätabszess 572 Schädel-Hirn-Trauma 141, 561, 562, 563, 565 Schädelprellung 561, 562 Schaukelnystagmus 17, 20 Schellong-Test 515 Schiefhals 527, 528, 528 . Schielen 7 Strabismus Schilddrüsenhormone 158 Schillingtest 585 Schistosoma 478 Schizenzephalie 726 Schizophrenie, Virusenzephalitis 457 Schlaf – paradoxer 135, 393 – REM 135 Schlafanfall, imperativer 393, 394 Schlafapnoesyndrom 395, 396 – Polygraphie 396, 396 . Schlaflabor 135 Schlaflähmung 393, 394 Schlaflosigkeit, familiäre tödliche 474 Schlafstörungen 393–396 Schlaganfall 164–219, 368

– 7 Infarkt, ischämischer – 7 Ischämie, zerebrale – Blutdruckbehandlung 202, 203 – Blutzuckerkontrolle 202 – Dekompressionsoperation 208 – hypertensive Volumentherapie 208 – Hyperventilation 207 – Hypothermie 207, 208 – Intensivmedizin 206–208 – Krankengymnastik 209 – Logopädie 209 – Migräne-assoziierter 219 – Notfallversorgung 201, 202 – Osmotherapie 207 – Oxygenierung 202 – Prognose 172, 173 – Prophylaxe 209–215 – – primäre 210 – – sekundäre 210–215 – Rehabilitation 209 – Rezidiv 173 – Thrombolyse 203–206 – Thromboseprophylaxe 203 Schleudertrauma 578–580 Schlucksynkope 391, 392 Schmerz – nach Amputation 61 – chronischer 61 Schmerzempfindung 56, 59, 60 Schmerzsyndrom – komplexes, regionales 680 – myofasziales 717 Schmetterlingsgliom 293 Schock – hypovolämischer 82 – spinaler 71 Schockblase 65 Schreckmyoklonie 536 Schreibkrampf 528, 529, 529 . Schriftprobe 52 Schulteramyotrophie, neuralgische 633, 634 Schulterschütteln 53 Schwangerschaftschorea 526 Schwannom 320, 322 ., 737 Schweißsekretion – funktionelle Anatomie 68 – gestörte 65, 68, 69 Schwerpunktpolyneuropathie 660 Schwindel 416–423 – 7 Nystagmus Schwitzen – emotionales 69 – gustatorisches 70

– pharmakologisches 69 – Störungen 65 – thermoregulatorisches 69 Schwurhand 639 Scrapie 472 Segawa-Syndrom 159 Sehbahn 7 ., 7, 8 Sehkraft 8 Sehrinde 8, 9 Sehstörungen 9, 615, 616 – medikamenteninduzierte 615, 616 Semont-Manöver 418 Sensibilität 54–61 Sensibilitätsprüfung 56–58 Sensibilitätsstörungen 59–61, 661, 662 – dissoziierte 59, 62 – lokalisatorische Bedeutung 62 – bei Polyneuropathie 661, 662 – psychogene 60 – komplexe 61 SEP (Potential, somatosensibel evoziertes) 132, 133, 133 ., 341, 567, 651 Serotonin-Re-uptake-Inhibitoren, selektive 520 Sexualfunktionsstörungen 67–69 Sexualhormone 158 Sexualverhalten, enthemmtes 116, 117 Shy-Drager-Syndrom 522 Sick-building-Syndrom 748, 749 Siebbeinplattenfraktur 562 Simulationssyndrom 755, 756 Single-Photon-Emissions-Tomographie 148, 149 Sinus, duraler, Anatomie 236 Sinus cavernosus 254 . – Fistel 573 – Syndrom 13, 30 – Thrombose 238, 240, 251 Sinus sagittalis superior 238 . – Thrombose 240 Sinus transversus, Thrombose 238, 240 Sinusthrombose (auch Sinusvenenthrombose) 225, 237, 238, 240–242, 251 – aseptische 237 – septische 237, 238 Sitzstabilität 51 Sjögren-Syndrom 670 Skalenussyndrom 634 Skew-Deviation 16, 17 Sklerose – multiple 7 multiple Sklerose – tuberöse 160 – konzentrische 505

813 A5 · Sachverzeichnis

Skotom – binokulares, Migräne 401 – hemianopisches 9 SLE 178, 179, 670 Slow-virus-Infektionen 470 Sneddon-Syndrom 179, 217 Somnolenz 78, 613 Sopor 78 Southern-Hybridierung 160 Spannungskopfschmerz 406, 753 – chronischer 406 – episodischer 406 Spasmus – hemifacialis 529, 630, 631 – infantiler 365 Spätdyskinesie, neuroleptikainduzierte 615 SPECT 148, 149 – bei Parkinson-Syndrom 515 Spektroskopie 146 Sphincter-ani-Reflex 130 Sphingosin-Rezeptorenblocker 500 Spina bifida 736, 742, 743 – mit Meningomyelozele 742 – mit Meningozele 742 – occulta 742 Spinalerkrankung, funikuläre 259, 585, 586, 685 Spinalis-anterior-Syndrom 281, 283 ., 285, 735 Spinalparalyse, spastische 684, 685 Spinalwurzelschädigung 69 Spiral-Computertomographie 141 Spitzfuß 646, 727 – bei Peronäuslähmung 646 Split-Brain-Operation 110 Spondylararthrose 654 Spondylitis 341 Spondylodiszitis 485, 486 ., 487 . Spondylolisthesis 654 Spondylose 654 Spontannystagmus, rotierender 20, 420 Spontansprache 97–100 Sponylolisthesis 743, 744 . Sprachautomatismus 99 Sprachdominanz 102 Sprachleistungen 97 Sprachregion 103, 103 . Sprachtest 97 Sprachverständnis 97, 98, 101 Sprechen – skandierendes 53 – spontanes 97–100 – Telegrammstil 97

Sprechflüssigkeit 97 Sprechstörungen 97 – artikulatorische 97, 98 Sprue 666 squamous cell carcinoma antigen 302 SSRI 520 Stammganglienblutung 226 ., 227 Standataxie 52, 615 Startle-Erkrankung 536 Statine, Myopathie 618 Status dysraphicus 734 Status epilepticus 368–371, 379, 381, 382 Status lacunaris 188 Status migraenosus 401 Status psychomotoricus 371, 382 Stauungshämorrhagie 581 Stauungspapille 9 ., 297, 742 – bei erhöhtem Hirndruck 297 Steele-Richardson-Syndrom 524 Steppergang 646 Stereognosie 57 Steroidmyopathie 617 Stichstoff-Lost-Derivate 336 Stickoxid 170 Stiff-person-Syndrom 351, 506 – paraneoplastisches 351 Stimulationselektromyographie 128, 711 – bei Myasthenie 711 Strabismus 11 – concomitans 11 – paralyticus 11 Strahlen(leuk)enzephalopathie 335, 581 Strahlenmyelopathie 581 Strahlennekrose 335, 581 Strahlentherapie 247, 301, 302, 305 ., 328, 335 – interstitielle 301 – stereotaktische 247, 301, 305 . Strahlenvaskulitis 335 Streckspastik 577 Streptomycin – Hörstörungen 617 – Nervenschädigung 616, 617 Stummheit 7 Mutismus Stumpfschmerz 61 Sturge-Weber-Krankheit 256, 257 . Subarachnoidalblutung 224, 251, 262–279 – Komplikationen 267, 267 ., 268–270 – nichtperimesenzephale ohne Aneurysma 276 – perimesenzephale 271, 275, 276 – präpontine 275, 276, 276 . – Schweregrad 266

R–T

– spinale 278 – traumatische 572 Subclavian-Steal-Syndrom 184, 392 Subduralhämatom 7 Hämatom, subdurales 571 Subklavia-Anzapfsyndrom 184 ., 392 Subklaviastenose 184 ., 213 Subokzipitalpunktion 120 Substantia nigra 45 Subtraktionsangiographie, digitale 149–151, 150 . Sudeck-Syndrom 680 Sulcus-ulnaris-Syndrom 640, 641, 641 . Sulkokommissuralsyndrom 283, 285 Sumatriptan 402, 403 SUNCT-Syndrom 406 Supinatorlogensyndrom 624, 638 Supraskapularissyndrom 634, 634 . Sylvische Furche 167, 270 Sympathikus 63 ., 64, 64 ., 68 Syndrom, apallisches 85, 570, 578 Synkope 390–393 – bei neurologischen Krankheiten 392 – vasovagale 390 – vegetative 390 Syphilis 441 Syringobulbie 733 Syringomyelie 578, 688, 693, 732, 733, 735 . – symptomatische 732 – traumatische 578

T Tabak-Alkohol-Amblyopie 608 Tabes doralis 443 Tachykardie, paroxysmale 675 Taenia solium 480 Takayashu-Arteriitis 178, 179, 216 Tarsaltunnelsyndrom 624, 646, 647 Tasterkennen 57 Tau-Potein 549 Taxane 336 Tay-Sachs-Krankheit 591 Teleangiektasie, kapilläre 245, 249 Telegrammstil 97 Telethonin 696 Temperaturempfindung 56, 733 Temperaturregulation 69 Temperaturregulationsstörungen 83 Temporallappenepilepsie 363, 383

814

Anhang

Temporallappenresektion 383, 384 . TENS 647 Tensilon-Test 350, 711, 714 Teratom 317 Territorialinfarkt 177, 180, 181 ., 182 ., 183 Tetanie 423, 424 Tetanus 446, 447 – generalisierter 446 – lokaler 446 tethered cord 743 Tetraparese 43 ., 44, 73, 84, 494 Thalamotomie 521 Thalamus 62 Thalamusblutung 226 ., 227, 228 Thalamushand 64 Thalamusstimulation 655 Thalamussyndrom 63 Thallium-Polyneuropathie 668 Thenaratrophie 687 Thermanästhesie 59, 61 Thermhypästhesie 59, 61 Thermokoagulation, Ganglion Gasseri 410, 411 Thrombolyse 203–206 – intraarterielle 205 – intraventrikuläre 231, 231 . – systemische 203, 204 Thromboseprophylaxe 203 thrombotisch-thrombozytopenische Purpura 232 Thrombozytenaggregationshemmer 206, 211 Thymektomie 712, 713 Thymom 709, 712 ., 713 Thymushyperplasie 709 TIA 178, 180 Tiagabin 377 Tibialis-anterior-Syndrom 719 Tibialis-posterior-Reflex 36 Tic douloureux 409 Tics 538 – vokale 538 Tiefensensibilität 52, 59 ., 61, 63, 586 – gestörte 72, 586 – herabgesetzte 63 Time-of-flight-Angiographie 147, 147 . Titin 696 Tod 7 Hirntod TOF-Magnetresonanzangiographie 147, 1479 . Tollwut 464 – Impfung 469, 470 Tolosa-Hunt-Syndrom 12 ., 13, 251, 626

Tonusverlust, affektiver 393 Topiramat 377 Torticollis spasmodicus 527, 528, 528 . Tourette-Syndrom 538 Toxocara canis 478 Toxoplasma gondii 478 Toxoplasmose 467, 478, 479 – akute 479 – chronisch-rezidivierende 479 – bei HIV-Infektion 467 – konnatale 479 TPS 303 Tränensekretion, gestörte 627 Transferrin, carbodefizientes 663 transient global amnesia (TGA) 396, 397 transitorisch-ischämische Attacke 178, 180 transkranielle Magnetstimulation 7 Magnetstimulation, transkranielle (TKMS) Transsektion, subpiale 383 Trematoden 478 Tremor 47, 48, 532–535, 615 – alkoholinduzierter 535 – dystoner 532, 534, 535 – essentieller 48, 532, 533, 533 ., 535 – medikamenteninduzierter 532, 534, 615 – orthostatischer 532, 534, 535 – bei Parkinson-Syndrom 48, 48 ., 511, 513, 514, 516, 532 – bei peripherer Neuropathie 532, 534 – physiologischer 47, 532, 533 – – verstärkter 532, 533, 535 – psychogener 532, 535 – toxischer 532 – zerebellärer 48, 503, 532, 534, 535 Treponema 444 Trichinose 480 Trigeminus 7 Nervus trigeminus Trigeminusneuralgie 408–411, 494 Triptane 402 Trismus 88, 446 Trizepssehnenreflex 33, 34, 35 . Trochlearislähmung 626 Trophikstörungen 64 Trousseau-Zeichen 423 Trümmer-Zeichen 34 Truncus brachiocephalisus 166 ., 167 TSH 158 Tuberculum sellae, Meningeom 320 Tuberkulostatika 436 Tumoren – 7 Hirntumoren – astrozytäre 7 Astrozytom

– epdendymale 7 Ependymom – hormoninaktive 326 – hormonproduzierende 324 – meningeale 343 – mesenchymale 318, 319a – primitive neuroektodermale 314–318 – spinale 339–347 – – extradurale 340, 343 – – extramedulläre 340, 341, 343, 345 – – intradurale 340, 345 – – intramedulläre 341, 345 Tumormarker, Hirntumoren 300, 302, 303

U Überlaufblase 65 Überschussbewegungen 104 Überträgerstoffe 64 . Ulnarislähmung 640 Ultraschalluntersuchung 7 Sonographie Unterberger-Tretversuch 52 Unverträglichkeit, idiopathische, umweltbezogene 749, 750 Up-beat-Nystagmus 20 Urämie 590, 666 – chronische, Polyneuropathie 666 Urodynamographie 130 Urokinase 203 Uroporphyrinogen 591

V Vagusnervstimulation 383 Valproinsäure 375 Varicosis spinalis 258 Varizella Zoster 456, 459–462 Vaskulitis – bei bakterieller Meningitis 437 – isolierte, des ZNS 216 – luische 445 . Vasomotorenreserve 156, 199 Vasospasmus 7 Gefäßspasmus Vena cerebri magna Galeni, Aneurysma 249, 250 . Ventrikeldrainage 231, 731 Ventrikulographie 152 VEP 7 Potential, visuell evoziertes Verhalten, enthemmtes 116, 117 Verhaltensstörungen bei Hirntumoren 294

815 A5 · Sachverzeichnis

Vernachlässigung 7 Neglect Verschlusshydrozephalus 7 Hydrocephalus occlusus Vertebralisangiographie 149 Vertebralisdissektion 187 Vertebralisverschluss 189 Verwirrtheit 79, 80 Verzögerungstrauma 568 Vestibulariskern 16 Vestibularisparoxysmie 422 Vestibulopathie, bilaterale 419 Vibrationsempfindung 56, 57 ., 59, 661, 672 Video-EEG 135 Vigabatrin 376 Vigilanzstörung 394 Virusenzephalitis 7 Enzephalitis, virale Visusausfall 9 Viszeromegalie 324 Vitamin-B12-Mangel 585 Vitamin-B12-Stoffwechsel 586 VOR 13 Vorderhorn, Schädigung 73 Vorhofflimmern 174, 183, 211 Vorhofseptumaneurysma 174, 199, 200 . Vulpian-Bernhard-Krankheit 686

W Wachkoma 85 Wachstumshormon 158, 324 Wada-Test 103 Wahrnehmung, sensible 56 Wallenberg-Arterie 167 Wallenberg-Syndrom 185, 186 Waller-Degeneration 628, 660 Warnblutung 264 Wartenberg-Zeichen 36 Weber-Syndrom 186 Weber-Versuch 29 Wegener-Granulomatose 178, 179 Weinen, pathologisches 115, 116, 116 . Werdnig-Hoffmann-Krankheit 686, 687 Wernicke-Aphasie 98, 99, 101–103, 105 ., 293 Wernicke-Enzephalopathie 604–606, 605 ., 667 Wernicke-Korsakow-Syndrom 602, 604–606 Westphal-Edinger-Kerne 23 West-Syndrom 365 Whipple-Krankheit 449, 449 .

Willison-Analyse 127 Willkürnystagmus 19 Wilson-Krankheit 7 Morbus Wilson Windpocken 469 Wochenbettsinusthrombose 237 Wortfindungsstörung 100, 101 Wulpian-Bernhard-Krankheit 688 Würgereflex 88 Wurminfektionen, ZNS 480, 481 Wurzelneurinom 737 Wurzelsyndrom 652

X Xaliproden 500 Xanthochromie, Liquor 121 Xanthomatose, zerebrotendinöse 543

Z Zahnradphänomen 46 Zerebellitis, Zoster 461 Zerebellum 7 Kleinhirn Zieltremor 50, 53 Zirkumferenzarterien 168 ZNS-Lymphom 333, 334, 334 ., 468 – HIV-assoziiertes 468 Zöliakie 666 Zoster – ophthalmicus 412, 461 – oticus 461 – Enzephalitis 459, 460 – Myelitis 459, 460 – Neuritis 459, 460 – Vaskulitis 461 – Zerebellitis 461 Zungenatrophie 31 . Zwerchfellparese 649 Zyklorotation 16, 17 Zystizerkose 480, 481 . Zytomegalievirusinfektion 462, 467 Zytopathie, mitochondriale 593 Zytostatika, Polyneuropathie 667

T–Z