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German Pages 328 [332] Year 2011
Bausteine zur Geschichte der Edition Herausgegeben von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta
Band 3
Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren
Herausgegeben von Roland S. Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta
De Gruyter
ISBN
978-3-11-025136-4 e-ISBN 978-3-11-025138-8 ISSN 1860-1820
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: Rüdiger Nutt-Kofoth, Münster Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung ..................................................................................................... VII Thomas Bein Karl Lachmann – Ethos und Ideologie der frühen Editionswissenschaft.....
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Jochen Strobel Heinrich Düntzer. Edition und akademisches Scheitern ..............................
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Per Röcken Karl Goedeke. Anmerkungen zu Biographie, philologischer Praxis und fachhistorischer Beurteilung .................................................................
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Bernd Hamacher Michael Bernays – „lettern, die die welt bedeuten“ .....................................
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Günter Arnold Zwischen nationaler Aufgabe und wissenschaftlicher Erkenntnis − der Editor Bernhard Suphan ...................................................
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Klaus Gerlach Bernhard Seuffert und Wielands gesammelte Schriften. Das Problem der Institutionalisierung von Editionen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen................................................................... 113 Ulrich Joost Albert Leitzmann der Editor ........................................................................ 129 Luigi Reitani Die Entdeckung der Poesie. Norbert von Hellingraths bahnbrechende Edition der Werke Hölderlins....................................................................... 153
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Inhalt
Klaus Kastberger Reinhold Backmann: „Zur Fertigstellung der Grillparzer-Ausgabe im Dienst belassen“...................................................................................... 167 Barbara Hunfeld Um der Sache willen. Eduard Berend und die Jean-Paul-Ausgabe.............. 181 Rüdiger Nutt-Kofoth Friedrich Beißner. Edition und Interpretation zwischen Positivismus, Geistesgeschichte und Textimmanenz ................................... 191 Bodo Plachta Ernst Grumach und der ‚ganze Goethe‘ ....................................................... 219 Walter Fanta „Man kann sich das nicht vornehmen“. Adolf Frisé in der Rolle des Herausgebers Robert Musils ........................................................................ 251 Axel Gellhaus Beda Allemann und die Bonner Celan-Ausgabe im Kontext (nicht nur) der Wissenschaftsgeschichte ...................................................... 287 Personenregister ........................................................................................... 301
Einleitung
Die Geschichte des wissenschaftlichen Edierens konstituiert sich nicht allein durch Editionen, die im Laufe der Zeit erarbeitet und publiziert wurden, sowie durch die ihnen zugrunde liegenden methodischen Konzeptionen, sondern ist in erheblichem Maße auch von Wissenschaftlern geprägt, die häufig über lange Zeiträume hinweg praktische Arbeit und theoretisch-methodische Reflexion in konkreten Editionsprojekten miteinander verbunden haben. Gerade die Kombination aus Reflexion und Praxisorientierung hat in der historischen Rückschau zu einer bemerkenswerten Ausdifferenzierung insbesondere der germanistischen Editionswissenschaft beigetragen, die heute als besondere disziplinäre Stärke anerkannt wird. Dieser Prozess ging stets mit der Weiterentwicklung editorischer Operationen im Rahmen praktischer Editionstätigkeit einher. Insofern ist die Geschichte der wissenschaftlichen Edition durchaus als Koppelung von methodischer Entwicklung und deren Umsetzung in einzelnen Editionen abbildbar, wie es die beiden ersten Bände der Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition zu dokumentieren versucht haben.1 Aber sie hat noch eine weitere Dimension, denn sie ist auch als eine Geschichte von einzelnen (Editions-)Wissenschaftlern darstellbar. Wenn der vorliegende Band diesen Fokus auf die Geschichte des Edierens anwendet, tut er dies nicht, weil sich zur Reihe der modischen und zeitlich eng aufeinanderfolgenden ‚turns‘, die in der (Literatur-)Wissenschaft seit einiger Zeit ausgerufen werden, nun auch ein ‚biographical turn‘ gesellt hat.2 Stattdessen lässt sich auf die Perspektivenverschiebung der mit diesem ‚turn‘ einhergehenden „methodischen Erneuerung der Biographik“3 verweisen: ____________ 1
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Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005; Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005. Vgl. Anita Runge: Wissenschaftliche Biographik. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Hrsg. von Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2009, S. 113–121, hier S. 113, Anm. 5. Runge 2009 (Anm. 2), S. 113. – Siehe auch die Feststellung bei Bernhard Fetz: Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie. In: Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hrsg. von Bernhard Fetz unter Mitarbeit von Hannes
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Einleitung
Die neue, reflektierte Biographie begreift den untersuchten Menschen zwar als ein einzigartiges, moralisch gesprochen autonomes, historisches Individuum, doch zugleich begreift sie ihn als Teil seiner historischen Lebenswelten. Die untersuchte Person steht nicht mehr länger für sich selbst, sondern wird vielmehr als Teil einer Sozialgruppe interpretiert. Die moderne biographische Forschung geht, da sie Individuum und Gesellschaft nicht mehr länger als Dichotomie begreift, von einem soziologischen Begriff der historischen Persönlichkeit aus. [...] Biographie verknüpft in diesem Sinne Gesellschaftlichkeit, Kultur und Subjektivität.4
Für die Biografie des literarischen Autors ist als Tertium comparationis zum Verhältnis von Individuellem (Autor) und Allgemeinem (Gesellschaft) das ‚Werk‘ benannt worden, eine Ordnungsgröße, die sich etwa für den politischen Akteur so nicht ergibt. So wird das Werk zur „heikle[n] Kategorie, weil es sich weder aus dem psychischen Potential des Individuellen noch aus den normativen Ordnungsmustern der Gesellschaft direkt ableiten lässt.“5 Doch auch der Wissenschaftler bringt Werke hervor: seine wissenschaftlichen Produkte. Für den Editor sind dies insbesondere Editionen und ihre wissenschaftlichen Begleitpublikationen. Daher sind die Leistungen, die die ‚neue Biografik‘ zu erbringen vermag, nicht nur für den literarischen Autor, sondern ebenso für den Wissenschaftler, hier im Speziellen den Editor, fruchtbar: Die Biographie freilich muss weniger und zugleich mehr tun als Geschichte zu erzählen, um Werke zu beleuchten; sie hat sich zu konzentrieren auf die Darstellung eines individuellen Lebensentwurfs, der seinerseits in produktiver Verbindung mit den kulturellen und sozialen Leitkategorien der jeweiligen Zeit steht. Auf diese Weise erlaubt es die Biographie, das Werk im Netz seiner Beziehungsfelder aufzusuchen und derart vor den Reduktionen zu retten, die eine ahistorische, allein auf den isolierten Text konzentrierte Philologie zu betreiben droht.6
Die Biografik weiß seit längerem um die Narrativität des Biografischen und um den Konstruktionscharakter des biografischen Erzählens, extremere Positionen sprechen gar von der ‚Fiktion des Faktischen‘ (Hayden White) oder der ‚biografischen Illusion‘ (Pierre Bourdieu).7 Doch teilt die Biografik dieses __________
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Schweiger. Berlin, New York 2009, S. 3–66, hier S. 6: „Die Biographie, und dieser Schein scheint nicht zu trügen, ist aus ihrer Schattenexistenz ans Licht auch der Academia getreten“. Hans Erich Bödeker: Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand. In: Biographie schreiben. Hrsg. von Hans Erich Bödeker. Mit Beiträgen von Hans Erich Bödeker u. a. Göttingen 2003 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. 18), S. 9–63, hier S. 20. Peter-André Alt: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hrsg. von Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 23–39, hier S. 28. Alt 2002 (Anm. 5), S. 32. Diese Positionen sind kritisch aufgearbeitet bei Ansgar Nünning: Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion. In: Handbuch Biographie 2009 (Anm. 2), S. 21–27, und Christian Klein: Lebens-
Einleitung
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Problem mit jeder Präsentation von Vergangenem, weil die Struktur der jeweiligen Präsentation nicht oder zumindest nicht allein der Sache selbst, sondern immer oder zumindest immer zugleich auch den Vorannahmen des Präsentators entstammt. Dieses Dilemma ist nur durch Selbstreflexion des Verfahrens aufzuheben.8 Weil die ‚neue Biografik‘ dies auch im Feld der Wissenschaftsgeschichte tut, lässt sich so auch ihr jüngerer Erfolg erklären, nämlich „wie sehr sich die wissenschaftshistorische Biographik mittlerweile neben der philosophisch orientierten Wissenschaftsgeschichte, wie auch der Sozialgeschichte der Wissenschaften profiliert hat.“9 Entscheidend dafür ist das Bewusstsein der Vielschichtigkeit historischer Wirklichkeit, die konsequenterweise komplexe Zugriffe für die (Re-)Konstruktion von Geschichte benötigt: Trennt man nicht mehr zwischen der Wissenschaft als solcher und ihren sozialen und sonstigen Bedingungen, sondern bezieht sich auf sozialkonstruktivistische Modelle der Wissenskonstruktion, so kehrt unversehens das historische Individuum in das Zentrum des Geschehens zurück. Jedenfalls ist die bequeme Trennung in Person und Werk kaum aufrecht zu erhalten.10
Die Geschichtsschreibung der Germanistik hat erst relativ spät den biografischen Fokus als einen möglichen stärker genutzt. Noch das Grundlagenwerk von Klaus Weimar aus dem Jahr 1989 verstand den Gelehrten eher als Funktionsträger des sich ausbildenden wissenschaftlichen Systems der Germanistik denn als historisches Individuum: „Die Wissenschaftler kommen als Angehörige ihres Fachs und als Träger oder Realisatoren der Tätigkeit ‚Wissenschaft‘ in großer Zahl vor, nicht aber [...] nach Leben, Taten und Meinungen.“11 Gelegentlich kam die Rollenfunktion der Individuen innerhalb des „Sozialsystem[s] Germanistik“, etwa als „Liebhaber, Gelehrte, Experten“, zum Tragen.12 Doch arbeitet die Fachgeschichtsschreibung spätestens seit dem Projekt des Interna__________
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beschreibung als Lebenserschreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften. In: Grundlagen der Biographik 2002 (Anm. 5), S. 69–85. Vgl. Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Mit Beiträgen von Uwe Meves u. a. Stuttgart, Weimar 1994, S. 550–575, hier S. 551 über die „Tatsache, daß Präsentation von Ergebnissen immer Konstruktion und nicht einfach Abbildung ist und daß diese Konstruktionen nur mit unterschiedlicher textinterner (!) Komplexität ausgestattet sind. Biographik kann nun in besonderer Weise als Fokus für die hier kurz angerissenen Problemfelder gelten“. Christoph Gradmann: Nur Helden in weißen Kitteln? Anmerkungen zur medizinhistorischen Biographik in Deutschland. In: Biographie schreiben 2003 (Anm. 4), S. 243–284, hier S. 266. Gradmann 2003 (Anm. 9), S. 266 f. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 10. Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 1994 (Anm. 8), S. 48– 114.
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Einleitung
tionalen Germanistenlexikons13 daran, auch den Blick auf „Leben, Taten und Meinungen“ zu ermöglichen. Die im Zusammenhang mit der Lexikonerarbeitung 2000 vorgelegte Sammlung Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts ist sich dabei der „Gefahr, die Wissenschaftsgeschichte zu biographisieren“, durchaus bewusst, entgeht ihr jedoch durch ihr Anliegen, gerade das Wechselverhältnis zwischen den „langfristige[n] Prozesse[n] [...], die sich zumeist hinter dem Rücken der beteiligten Subjekte abspielen“, und der „Rolle“ der Wissenschaftler innerhalb dieser Prozesse herauszuarbeiten.14 Ähnlich versteht eine der wenigen expliziten Germanisten-Biografien, nämlich jene zu Hans Pyritz (1905–1958), ihr Verfahren als „sozialgeschichtlich inspiriert[ ], alltagsgeschichtlich orientiert[ ], auf die komplexe Welt der Wissenschaft ausgerichtet[ ]“.15 Dass sich Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Politikgeschichte und Alltagsgeschichte unter Umständen nur mit Verlust trennen lassen, kann schon die Autobiografie des Wissenschaftlers lehren. Einer der Fälle, in denen ein germanistischer Literaturwissenschaftler, ja gar ein Editor eine solche verfasst hat, ist derjenige Georg Witkowskis (1863–1939). Seine 2003 aus dem Nachlass publizierten „Erinnerungen“ enthalten u. a. Kapitel über die „Kinderjahre“, „Die Schule“, seine Gattin „Pietchen“, „Freunde und Freundinnen“. Das Kapitel „Wissenschaft“ umfasst nur gute 50 der über 500 Buchseiten.16 Auch wenn die Eigenperspektive des Wissenschaftlers auf sein Leben nicht diejenige eines späteren Biografen sein muss, zeigt das Beispiel doch die Komplexität der Aufgaben und Entscheidungen, die der Biograf für seinen Blick auf den Biografierten gewärtigen muss. Dass die biografische Annäherung inzwischen auch eine Perspektive für die Geschichte des Edierens bilden kann, lässt sich anhand zweier Publikationen zeigen, die einen Wechsel des methodischen Zugangs verdeutlichen. Als Magdalene Lutz-Hensel 1975 ihre Studie über Prinzipien der ersten textkritischen ____________ 13
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Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Bearb. von Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt u. a. 3 Bde. Berlin, New York 2003. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. VII (Vorwort). Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz. Berlin 2000, S. 17. Georg Witkowski: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig 2003. – Andere Germanisten-Autobiografien stellen die gelehrte Welt allerdings durchaus stärker in den Mittelpunkt; s. etwa Benno von Wiese: Ich erzähle mein Leben. Erinnerungen. Frankfurt/Main 1982; zur letzteren Autobiografie liegt nun das wissenschaftsbiografische Pendant vor: Klaus-Dieter Rossade: „Dem Zeitgeist erlegen“. Benno von Wiese und der Nationalsozialismus. Heidelberg 2007 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. 9). – Zu Autobiografien von Editoren aus dem vorliegenden Band (Heinrich Düntzer und Adolf Frisé) siehe S. 23 f. und 255.
Einleitung
XI
Editionen mittelhochdeutscher Dichtung vorlegte, dienten die Namen im Untertitel „Brüder Grimm – Benecke – Lachmann“ nur als Platzhalter für editorische Verfahren. Ihr wissenschaftsgeschichtlicher Zugriff war zwar methodenkritisch angelegt, doch wird als erstes Kapitel eine „Biographische Notiz“ angeführt, die also unverzichtbar bleibt, auch wenn sie nur gute drei von über 500 Seiten einnimmt.17 Harald Weigel versteht anderthalb Jahrzehnte später seine Studie über Karl Lachmann (1793–1851) nicht methodenanalytisch, sondern wissenschaftsbiografisch, indem er den Gelehrten und sein Werk als untrennbare Verschränkung begreift und damit für einen Teil der Studie die Biografie als die notwendige Darstellungsform begründet: Lachmann lebte seine Edition. Der Herausgeber mag die Objektivität in der Textverwaltung begründet haben, zugleich aber betrachtete er die Wissenschaft als eine Form des Lebens. Deshalb schien es mir unerläßlich, die Genese der Philologenexistenz in der Biographie nachzuvollziehen [...].18
Erst wenn wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten vielfältige Aspekte aus der Bandbreite des Historischen aufgreifen, also auch die biografische Dimension der Wissenschaftsgeschichte berücksichtigen, können z. B. Fragen gestellt werden, wie sie das Schlusskapitel einer jüngeren Arbeit zu den Brüdern Grimm, den wohl am häufigsten wissenschaftsgeschichtlich(-biografisch) untersuchten Germanisten,19 formuliert: „Disziplingenese aus der Sphäre des Privaten?“20 Obwohl sich der vorliegende Band dem biografischen Fokus auf Editoren, und unter diesen speziell neugermanistischen Editoren, widmet, tut er dies nicht, weil der darin einen an sich bedeutsamen Zugriff auf eine Geschichte des Edierens sieht, sondern weil er die biografische Perspektive lediglich als einen möglichen Ansatz zur Annäherung an die Disziplingeschichte versteht. In diesem Sinne ergänzt der Band die in den oben schon genannten ersten ____________ 17
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Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Eine methodenkritische Analyse. Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen. 77), S. 11–14. Harald Weigel: „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition. Freiburg/Breisgau 1989, S. 17. Jüngeren Datums etwa mit unterschiedlichen Akzentsetzungen in Hinblick auf den systemischen oder biografischen Zugang zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik: Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert. Hildesheim 1997 (Spolia Berolinensia. 11). – Hans-Georg Schede: Die Brüder Grimm. München 2004. – Die Grimms – Kultur und Politik. Hrsg. von Bernd Heidenreich und Ewald Grothe. 2., überarb. Aufl. Frankfurt/Main 2008. – Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. 2. Aufl. Berlin 2010. Ina Lelke: Die Brüder Grimm in Berlin. Zum Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main u. a. 2005 (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. 9), S. 309.
XII
Einleitung
beiden Bänden der Reihe aufgerissenen Perspektiven ganz im Sinne eines weiteren Bausteins zur Geschichte der Edition. Auch unter den Diffizilitäten des biografischen Zugriffs versucht der Band eine gewisse einheitliche Perspektive anzubieten. Sie besteht in der wissenschaftsbiografischen Orientierung, die im Sinne des Anliegens der Reihe – und auch um Abhandlungen in der umfangsmäßig begrenzten Aufsatzform zu ermöglichen – derjenigen eines umfassenden alltagsbiografischen Ansatzes vorgezogen wurde. Privates ist also nur nachrangiges Interessengebiet der hier vorgelegten Aufsätze. Stattdessen soll der wissenschaftliche Anteil im Leben der vorgestellten Personen in den Vordergrund gerückt werden, damit dann aber auch individuelle Dispositionen, unterschiedlichste soziale, politische, institutionelle oder bildungspolitische Kontexte, wissenschaftliche bzw. soziale Netzwerke, in deren Rahmen sich Editionen realisiert haben. All dies sind Aspekte, die auf wissenschaftliche Konzeptionen und die konkrete textphilologische Arbeit Auswirkungen hatten. So ließe sich etwa bemerken, dass die innovativen Editionen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein häufig von Privatgelehrten, Archivaren, Lehrern u. a. und kaum von den germanistischen Lehrstühlen aus initiiert wurden. Dagegen gelang es anderen Editoren erstaunlicherweise, ihre konzeptionellen und methodischen Vorstellungen so zu platzieren, dass eine Kontinuität der methodischen Debatte – mit fruchtbaren und weniger fruchtbaren Phasen – bis in die Gegenwart festzustellen ist, was nicht zuletzt die Basis für die hohe Wertschätzung neugermanistischer Editionstätigkeit auch in internationaler Hinsicht legte. Eine auf die editorisch-philologischen Akteure gerichtete Perspektive kann daher den Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Edition (gerade auch vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik) nicht nur erweitern, sondern auch auf den ersten Blick nicht sichtbare Bedingungen für methodisch-theoretische Vorannahmen, praktische Weichenstellungen und sogar das Zustande- oder Nichtzustandekommen von Editionen erläutern bzw. transparent machen. Solche (und weitere) Phänomene stärker in das Blickfeld der Fachgeschichte zu rücken ist Ziel dieses Sammelbandes. Der Untertitel: Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren, meint daher zum einen die biografisch-berufliche Institutionalisierung des jeweiligen Gelehrten, zum anderen dessen literaturwissenschaftliche Position (z. B. die Zugehörigkeit zu ‚Schulen‘), die sich gerade auch mit Bezug auf seine anderen gelehrten Tätigkeiten in ein Verhältnis zum editorischen Arbeiten setzen lässt, dann aber auch allgemeine zeitgeschichtliche Umstände oder sonstige biografische Zusammenhänge.
Einleitung
XIII
Wissenschaftsgeschichte in Biografien steht natürlich immer unter dem Verdacht, Personengeschichte statt Strukturgeschichte zu schreiben, in den persönlichen Konstellationen die großen Zusammenhänge der Sach-, Methoden- und Theoriegeschichte aus den Augen zu verlieren. Indem der biografische Fokus aber – wie der Untertitel bewusst ausführt – als ein „Rahmen“ in Hinblick auf das Erkenntnisinteresse einer „Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren“ gedacht ist und sich zugleich wiederum nur als ein Baustein zu einer Geschichte der Edition versteht, mag Befürchtungen, ein solcher Ansatz könne sich im Biografismus verlieren, entgegengewirkt werden. Insofern könnte ein kultursoziologischer Ansatz im Sinne von Pierre Bourdieus Feld-Theorie fruchtbar gemacht werden. Bourdieu hat sein Konzept sowohl für das Feld der universitären Gelehrsamkeit21 als auch für dasjenige der Literatur22 expliziert. Sein Kern geht von einer personenbezogenen Konstituente aus. So lässt sich danach fragen, wie der Habitus eines Gelehrten (in diesem Sinne also die „Einheit seiner Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster“) „auf eine bestimmte Situation im Gefüge der [Wissenschaft] trifft, im hier geltenden Raum des Möglichen, in dem der [Wissenschaftler] seinen Ort sucht.“23 Insofern lassen sich die Gelehrten als Akteure innerhalb des Feldes Literaturwissenschaft verstehen, in dem jeder eine bestimmte oder auch wechselnde Position einnimmt und damit das Feld strukturiert. Mit den bei Bourdieu als Beschreibungsinstrumentarium für diese Positionen verwendeten, dem Akteur im Feld in unterschiedlichem, auch wechselndem Maße zukommenden Kapitalsorten (etwa symbolisches, kulturelles, soziales, ökonomisches Kapital)24 ließe sich der Status des Gelehrten innerhalb des literaturwissenschaftlichen,25 auch spezieller des editorischen Feldes beschreiben. ____________ 21 22 23
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Pierre Bourdieu: Homo academicus. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt/Main 1988. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main 1999. Markus Joch, Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hrsg. von Markus Joch und Norbert Christian Wolf. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 108), S. 1–24, hier S. 1; im Original steht anstelle des Klammertextes „Literatur“ und „Autor“. – Zur Feldtheorie s. auch besonders Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, bes. S. 71–107. – Zum Habitus-Konzept im Zusammenhang mit dem Biografischen s. jetzt Christian Klein: Grundfragen biographischen Schreibens. In: Handbuch Biographie 2009 (Anm. 2), S. 424–428, hier S. 426–428. Eine weitere Differenzierung der Kapitalsorten bei Bourdieu wäre allein schon dem Register in Bourdieu 1988 (Anm. 21), S. 415, zu entnehmen. Eine Anwendung des Habitus-Begriffs neuerdings bei Rainer Rosenberg: Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus. Bielefeld 2009.
XIV
Einleitung
Ob mit oder ohne eine solche prononcierte Theorie kann allemal über die Bedeutung verschiedener Faktoren nachgedacht werden, die für die Position eines Wissenschaftlers im literaturwissenschaftlichen Feld konstitutiv sein können. In unserem Zusammenhang wichtig wäre also die Frage nach der Bedeutung solcher Faktoren für die Position des Gelehrten als Editors und für die Ausbildung und öffentliche Wahrnehmung seiner Editionskonzeption. Veranschlagen ließen sich in Hinblick auf die Editionsvorstellung eines Wissenschaftlers also etwa seine Verbindung zu literaturwissenschaftlichen Theorien, der Zusammenhang dieser Editionsvorstellung mit eigenen interpretativen Verfahren, Anknüpfungen an akademische Lehrer, institutionelle, projektbedingte, äußere Vorgaben, die persönliche Protektion eines Gelehrten durch Dritte, aber auch die individuelle, also etwa die charakterliche, mentale Disposition eines Gelehrten. Einen Einfluss kann auch die allgemeine, zeitgeschichtliche Situation haben. Und schließlich ist der Faktor der Kontingenz nicht ganz unberücksichtigt zu lassen, denn manche Entwicklung kann statt durch – zumindest im Nachhinein offensichtliche – logisch-strukturelle Abfolgen auch einfach durch Zufall bedingt sein. Solche und andere Faktoren zu befragen kann helfen, die Struktur des historischen Prozesses und die zugehörigen Antriebskräfte sichtbarer und verständlicher zu machen. Auch Besonderheiten (und Gefahren) der Fachentwicklung werden auf diese Weise durchaus greifbarer: Das Edieren hat die Germanistik seit ihren institutionellen Anfängen um den Beginn des 19. Jahrhunderts begleitet, ja es machte zunächst eine der hauptsächlichen Aktivitäten des neu entstehenden Faches aus. Das hat sich im weiteren Verlauf der Fachgeschichte – und dies stringenterweise mit Auswirkungen auf die editorischen Akteure – verändert, zumindest ist das Verhältnis des Edierens zu anderen Arbeitsfeldern der Literaturwissenschaft durchaus schwankend. Doch bleibt das Herstellen von Editionen eine unabdingbare Basistätigkeit der Literaturwissenschaft und damit ein mal mehr, mal weniger geschätzter Kern des Faches. Die Konstituierung und Etablierung eines Teilgebiets Editionswissenschaft seit den 1970er Jahren hat zwar zur Statusstärkung des editorischen Arbeitens erheblich beigetragen, doch hat sich mit diesem Gewinn auch ein gewisser Konvergenzverlust eingestellt. Seit genau diesen 1970er Jahren befindet sich nämlich die Literaturwissenschaft aufgrund der zahlreichen sich neu entwickelnden differenten methodischen und theoretischen Zugriffe auf Literatur in einem Prozess der Divergenz. Die Gefahr für verschiedenste, nicht immer auf den ersten Blick kompatible Teilfächer oder ganz unterschiedliche theoretische und methodische Interessen besteht nun auch darin, keine Anschlüsse mehr an andere Teilbereiche der Literaturwissenschaft zu suchen. Daraus kann sich eine nicht ganz unproble-
Einleitung
XV
matische Segmentierung, ein Zerfall in kleine kommunikationslos nebeneinanderstehende, nach außen abgeschlossene Diskussionsfelder entwickeln. Eine solche tendenzielle ‚Verinselung‘ der als Teilfach etablierten Editionswissenschaft und ihrer Akteure kann man neben all ihren bedeutenden Leistungen der letzten Jahrzehnte durchaus feststellen. Dem sollte im Sinne des Edierens als konstitutiven Elements des Gesamtfaches Literaturwissenschaft entgegengearbeitet werden. Das gilt nicht nur für die Methoden- und Theoriediskussion, sondern natürlich auch für die Fachgeschichtsschreibung, also für das Anliegen dieses Bandes. Im vorliegenden Band werden nun Editoren von Karl Lachmann am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu Beda Allemann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt. Dabei stehen zwischen herausragenden Vertretern ihrer Disziplin wie Lachmann selbst oder etwa Friedrich Beißner in der Editionswissenschaft fast schon vergessene oder als Außenseiter angesehene Gelehrte wie etwa Michael Bernays, Heinrich Düntzer oder Adolf Frisé. Auch diese Namen innerhalb einer historischen Perspektive auf das Edieren wieder oder neu ins Bewusstsein zu bringen ist eine Zielsetzung dieses Unternehmens. Gleichzeitig sind sich die Herausgeber bewusst, dass hier nur eine äußerst begrenzte Auswahl von Editionsphilologen in Augenschein genommen worden ist. Vielfach waren ganz einfach praktische Gründe – in besonderem Maße die überraschend große Menge an bislang ungehobenem Material in den einzelnen Gelehrtennachlässen – dafür verantwortlich, dass der ein oder andere ‚prominente‘ Name fehlt. Insofern steht hinter den behandelten Gelehrten keine qualifizierende Auswahl in Hinblick auf eine etwaige mindere Einschätzung der hier Nicht-Präsentierten, sondern es handelt sich allein um ausgewählte Beispiele für das Verhältnis von Gelehrtenbiografie und Edition. Ein Kriterium war allerdings tragend: Lebende Editoren sollten ausgeschlossen bleiben. Die größere Anzahl der vorliegenden Beiträge wurde zunächst auf einer Tagung präsentiert, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Kommission für allgemeine Editionswissenschaft der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition vom 2. bis 4. April in Marbach am Neckar stattfand. Der Vortrag über Ernst Beutler konnte für den vorliegenden Band leider nicht schriftlich ausgearbeitet werden. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei für die finanzielle Förderung der Tagung, den Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach für ihre wertvolle Unterstützung während der Tagung nachdrücklich gedankt. Marbach am Neckar, Hamburg/Wuppertal, Amsterdam im August 2010 Roland S. Kamzelak, Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta
Thomas Bein
Karl Lachmann – Ethos und Ideologie der frühen Editionswissenschaft
Vorbemerkung Ein Beitrag über Karl Lachmann (1793–1851) innerhalb eines Sammelbandes, der sich wegweisenden neugermanistischen Editoren und ihren Methoden widmet, wirkt einerseits deplatziert, denn seine einzige neugermanistische Textausgabe, die Lessing-Ausgabe, ist der aktuellen Lessingforschung nur noch von wissenschaftshistorischem Wert; für die Germanistik wesentlicher ist Lachmanns mediävistisches Editionswerk. Andererseits aber gehört Karl Lachmann insofern in einen solchen Band, als mit ihm allererst ein methodologisch fundiertes Edieren in den Gründerjahren der Germanistik begann, in einer Zeit, in der es eine ‚Neugermanistik‘ im engeren Sinne noch gar nicht gab. Dieser Beitrag befasst sich nicht mit Details von Lachmanns Editionen, sondern versucht, Lachmanns Sicht auf das, was man heute ‚Textkonstitution‘ nennt, zu umreißen und seine lang anhaltende Wirkung zu begründen
1. Karl Lachmann ist vor allem den Altgermanisten durch seine germanistischmediävistischen Ausgaben bis heute bestens bekannt: So hat er 1827 die erste wissenschaftliche Walther von der Vogelweide-Edition herausgegeben – und fast 200 Jahre später sind wir immer noch damit befasst herauszufinden, was er sich hier und da gedacht, warum er sich wie entschieden hat, ob man diese Entscheidungen weiterhin tragen kann oder ob man sie revidieren muss. Manchmal, nicht oft, freut man sich heimlich, wenn man dem Übervater der Editionsphilologie einen echten Fehler nachweisen kann, häufiger aber schaut
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Thomas Bein
man nur bewundernd auf seine Arbeit, denn was er zu Beginn des 19. Jahrhunderts1 leistete – noch fast ohne alle Hilfsmittel –, ist erstaunlich. Im Alter von 21 Jahren (1814) promovierte er über Tibull, ein Jahr später habilitierte er sich in Göttingen mit einer Arbeit über Marcilius, Tibull und Statius.2 Seine altphilologischen Studien unterbrach er 1815 und wollte unbedingt, gegen den Willen seines Vaters, in den Krieg gegen Napoleon ziehen. Er schrieb und sang den Kameraden ein Kampflied, dessen letzte Strophe hier zitiert sei: Wohlauf denn, Jäger, zum Streiten, Zur ernsten, blutgen Jagd! Steh Hoffnung uns hold zur Seiten, Und Kraft, und Muth zur Schlacht. Der über uns im Himmel Lenkt uns mit starker Hand. Willkommen, Schlacht und Getümmel Für König und Vaterland!3
Zum Kampfeinsatz kam es jedoch nicht; stattdessen habilitierte sich Lachmann 1816 ein zweites Mal in Berlin, um dort lehren zu können. Seine Probevorlesung widmete sich – ein völliges Novum – einem altgermanistischen Thema; Lachmann sprach über die „Ursprüngliche Form des Nibelungenliedes“, eine Vorlesung, die in gedruckter Form unter dem Titel Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth Furore machte und lange Zeit zu einem der heftigsten und kontroversesten Streitfälle der Altgermanistik wurde. Lachmann übertrug hier erstmals altphilologische Vorstellungen auf die Verhältnisse der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur, was auch später noch bei vielen seiner altgermanistischen Editionen zu einem grundsätzlichen Problem wurde.4
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Vgl. allgemein zur Geschichte der altgermanistischen Textkritik: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt/Main u. a. 1995 (mit umfangreicher Bibliographie). Vgl. die knappe, aber sehr informative Lebens- und Werkskizze von Uwe Meves: Karl Lachmann (1793–1851). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 20–32. Abgedruckt in: Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie. Berlin 1851, S. 28. Vgl. Kleinere Schriften zur classischen Philologie. Von Karl Lachmann. Hrsg. von J. Vahlen. Berlin 1876. – Vgl. die umfassenden kritischen Aufarbeitungen der Lachmann’schen Methodik durch Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2., erw. und überarb. Aufl. Autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von Dieter Irmer. Hamburg 1971, und Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm – Benecke – Lachmann. Berlin 1975.
Karl Lachmann
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Bleiben wir aber zunächst bei dem Lebenswerk Lachmanns und konzentrieren wir uns nur auf die Texteditionen. Es bietet sich uns folgendes beeindruckendes Bild: Altphilologische Ausgaben:5 1816: Properz, carmina 1829: Properz, elegiae 1829: Tibull 1829: Catull 1831: Terenz 1845: Aviani fabulae 1845: Babrii fabulae Aesopeae 1850: Lucrez 1876: Lucilius (aus seinem Nachlass hrsg. von Johannes Vahlen) Germanistisch-mediävistische Ausgaben (ohne Folgeauflagen): 1820: Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des 13. Jahrhunderts 1826: Nibelungenlied 1827: Iwein (zusammen mit G. F. Benecke) 1827: Walther von der Vogelweide 1833: Wolfram von Eschenbach 1833: Hildebrandslied 1838: Hartmann von Aue, Gregorius 1840: Zwanzig alte Lieder von den Nibelungen 1841: Ulrich von Lichtenstein (mit Anmerkungen von Theodor von Karajan) 1841: Bruchstücke aus den Nibelungen 1857: Des Minnesangs Frühling (mit Moriz Haupt), nach Lachmanns Tod erschienen Neugermanistische Ausgaben: 1837: Goethe, Als Nicolai die Freuden des jungen Werthers geschrieben hatte 1838–1840: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe Bibel-Ausgaben: 1831: Novum Testamentum Graece 1842–1850: Novum Testamentum Graece et Latine Sonstige: 1825: Specimina linguae Francicae 1833: Philipp Buttmann, Griechische Grammatik 1839: Clemens August Carl Klenze, Philologische Abhandlungen 1841: Opus Goeschenii ____________ 5
Vgl. Harald Weigel: „Nur was du nie gesehn wird ewig dauern“. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition. Freiburg/Breisgau 1989, S. 233–235.
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Thomas Bein 1842: Goescheniania ed. tertia 1848–1852: Die Schriften der römischen Feldmesser (mit F. Blume, A. Rudorff), teilweise nach Lachmanns Tod erschienen
2. Im Folgenden seien die altphilologischen und die theologischen Editionen ausgeblendet. Dazu nur so viel: Ebenso wie die alt- und neugermanistischen Editionen galten und gelten sie als Meilensteine der Editionskunst und sind teilweise bis heute nicht wirklich ersetzt.6 Dies gilt gleichfalls für einige mediävistische Editionen und in gewisser Hinsicht auch für die zwölfbändige Lessing-Ausgabe. Am kurzlebigsten war Lachmanns Nibelungenausgabe. Er hatte den Text der Handschrift A für die älteste Version gehalten, was man allerdings heute bezweifelt; offenbar unterschätzte Lachmann die Komplexität der Überlieferung, zudem hatte er das Phänomen von Textkontaminationen nicht bedacht.7 Anderen mediävistischen Editionen war ein sehr viel längeres wissenschaftliches Leben beschert, wenn sie auch freilich teilweise überarbeitet worden sind: Der Iwein wird nach wie vor in der Lachmann’schen Fassung gelesen,8 die Lieder und Töne Walthers von der Vogelweide gehen nach Cormeaus Überarbeitung der von Kraus’schen Edition wieder stärker auf Lachmann zurück,9 der Parzival ist bis vor Kurzem ausschließlich in Lachmanns Version zu lesen gewesen,10 und die kanonisch gewordene Lyriksammlung Des Minne____________ 6
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Vgl. u. a. Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts. In: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966. Hrsg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder. Berlin 1968, S. 12–30. – Winfried Ziegler: Die „wahre strenghistorische Kritik“: Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Hamburg 2000. Vgl. Helmut Brackert: Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes. Berlin 1963. – Aktuelle Hinweise in: Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 3. neu bearb. und erw. Aufl. Berlin 2009. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von G. F. Benecke und K. Lachmann. Neu bearb. von Ludwig Wolff. Berlin 1968. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996. Vgl. jetzt aber die Ausgabe zu Wolfram von Eschenbach: Parzival. Auf der Grundlage der Handschrift D hrsg. von Joachim Bumke. Tübingen 2008. Vgl. ferner das ‚Parzival-Projekt‘ von Michael Stolz (http://www.parzival.unibas.ch/projpraes.html) und dazu einschlägige Publikationen von Michael Stolz, zuletzt: Intermediales Edieren am Beispiel des ‚Parzival‘-Projekts. In: Wege zum Text. Grazer germanistisches Kolloquium über die Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert (17.–19. September 2008). Hrsg. von Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter. Tübingen 2009 (Beihefte zu editio. 30), S. 213–228.
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sangs Frühling hat auch in der jüngsten Überarbeitung von 1988 noch Lachmann’sche Spuren.11 Und auch Lachmanns Lessingausgabe – in der Überarbeitung von Wendelin von Maltzahn (2. Aufl.) und Franz Muncker (3. Aufl.)12 – ist bislang in ihrer Art als Gesamtausgabe noch nicht ersetzt – trotz vieler und guter editorischer Bemühungen um Lessings Texte, die bis in die jüngste Zeit hineinreichen.13 Erstaunlich ist also nicht nur Lachmanns ungeheuere Produktivität, erstaunlich ist zudem sein fast zwei Jahrhunderte währendes lebendiges Nachwirken, das kaum einem anderen Philologen der ersten Stunde zuteil wurde. Selbst die Brüder Grimm reichen da – sieht man vom Projekt des Deutschen Wörterbuches ab – nicht an Lachmann heran. Ihre Textausgaben sind heute nur noch in forschungsgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam. Was aber zeichnet die Langlebigkeit Lachmanns aus? Warum arbeiten wir uns – teilweise zumindest – noch heute an Lachmanns editorischen Vorgaben ab? Im Folgenden soll weniger auf Detailfragen rund um Lachmanns Ausgaben eingegangen werden, sondern es wird versucht, den großen und lang andauernden Erfolg Lachmanns zu umreißen und zu begründen. ‚Erfolg‘ meint nicht ‚fehlerloses wissenschaftliches Arbeiten‘, vielmehr definiert sich wissenschaftlicher ‚Erfolg‘ bei Lachmann zum einen in der Grundlegung und strengen Überwachung einer wissenschaftlichen Ethik, zum anderen aber auch in wissenschaftlicher Provokation: so heißgeliebt und geachtet Lachmann bei den einen war, so tief verhasst war er anderen. Aber auch das ist Erfolg: in einer Disziplin so zu provozieren, dass heftiger Widerspruch aufkommt. Erst dies garantiert so etwas wie wissenschaftlichen Fortschritt (wenn es einen solchen ____________ 11
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Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt. Leipzig 1857. – Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988. G. E. Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3., auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 1–23. Stuttgart, Leipzig; Berlin, Leipzig 1886–1924, Nachdruck: Berlin 1968. – Vgl. dazu auch das Lessing-Internetportal: http://lessing-portal.hab.de/index.php?id=92; hier werden die Texte der Lachmann-Muncker’schen Edition online und als pdf-Download zugänglich gemacht. Vgl. die Übersicht bei Monika Fick: Lessing Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. 2. Aufl. Stuttgart 2004, S. 54–58, sowie den Beitrag von Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 315–327. – Vgl. ferner Winfried Woesler, Ute Schönberger: Wie könnte eine neue Lessingausgabe aussehen? In: Literarische Fundstücke. Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen. Festschrift für Manfred Windfuhr. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch und Gertrude Cepl-Kaufmann. Heidelberg 2002, S. 11–31. – Winfried Woesler: Die Lachmann-Munckersche Ausgabe des Lessing-Briefwechsels aus heutiger Sicht – das Problem der verlorenen Briefe. In: Lessing Yearbook 36, 2004/05 (2006), S. 97–107.
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in den Geisteswissenschaften überhaupt gibt),14 zumindest aber kreative Bewegung.
3. Jede Wissenschaft braucht eine ethische Grundlage; sie braucht Maximen redlichen Handelns, Regeln, über deren Einhaltung sich definiert, wer dazugehört. Der analytische Umgang mit Literatur und Sprache im 18. Jahrhundert war in gewisser Weise anarchisch, chaotisch, geprägt von Zufälligkeiten und persönlichen, subjektiven Vorlieben, die sich in teilweise üppig angelegten Büchersammlungen niederschlugen. Gegen Ende des Jahrhunderts allerdings machen sich erste Veränderungen bemerkbar: Geschichte wird mehr und mehr als ein sinnhaft verlaufender, geordneter Prozess betrachtet.15 Daher sollen vergangene Kulturgüter nicht mehr nur gesammelt, sondern auch erklärt werden, es sollen Zusammenhänge deutlich gemacht und die ‚innere Geschichte‘ der Literatur geschrieben werden. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche einer Literaturgeschichtsschreibung (einer Ordnung von Literatur), so durch Erduin Julius Koch 1795/98.16 Andernorts geht man z. T. sehr unterschiedliche Wege, um sich alte Literatur anzueignen: Zum einen versucht man, über die ‚Erneuerung‘ (d. h. poetische Übersetzung) alte Poesie bekannt zu machen und gar der zeitgenössischen Dichtung als Orientierung anzubieten. Zum anderen wird eine solche Erneuerung strikt abgelehnt und stattdessen am ‚Original‘ in seiner ‚originären‘ Sprache und Struktur festgehalten.17 Dieser letztere Weg führt zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des Diskurses über Literatur. Mit Lachmanns Eintritt in die Welt der germanistischen Philologie erhält die junge Disziplin einen Wertekanon, der sich einerseits auf das anzustrebende Ziel der Wissenschaft bezieht und andererseits auf die Art und Weise des Arbeitens, um dieses Ziel zu erreichen. ____________ 14
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Vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Gibt es einen Fortschritt in den Literaturwissenschaften? In: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags 2001. Hrsg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Petra Boden u. a. Bielefeld 2003, S. 79–103. Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. Vgl. Erduin Julius Koch: Grundriss einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. 2 Bde. Berlin 1795/98 (Compendium der Deutschen Literatur-Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. 2 Bde. Zweite vermehrte und berichtigte Ausgabe. Berlin 1795/98). Vgl. Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.
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Historische Texte, so das deklarierte Ziel, sind soweit wie irgend möglich in ihrer ursprünglichen Gestalt wiederherzustellen – eine Maxime, die abgeleitet ist von solchen innerhalb der schon etablierten ‚klassischen Philologie‘. ‚Ursprung‘ und ‚Original‘ werden Leitbegriffe philologischen Arbeitens. Lachmann schreibt in einer Rezension zur Nibelungenausgabe seines Widersachers Friedrich Heinrich von der Hagen (von 1816): Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss.18
Gegenüber der ‚Amateur-Philologie‘ des 18. Jahrhunderts hat eine solche Maxime einen gewaltigen Vorteil: Die Arbeit am Text wird weitgehend losgelöst von subjektiven Geschmacksurteilen und persönlichen Vorlieben, die in beliebige Vereinnahmung historischer Texte münden können. Jetzt ist ein verbindliches Ziel formuliert, dem sich ein jeder Philologe ohne Einschränkungen unterzuordnen hat. Dieses Ziel soll mit „strenge[r] Sorgfalt“ und unter steter Beachtung von „Wahrhaftigkeit“ erreicht werden.19 Die beiden Begriffe prägen bis heute das Ethos einer jeder Wissenschaft, und man kann sie so oder doch zumindest dem Sinn nach in fast jeder Präambel universitärer Grundordnungen finden. Lachmanns Philologie ist eine Rekonstruktionsphilologie. ‚Autor‘ und ‚Original‘ sind Leitmarken für die Rekonstruktion. Kulturinstanzen, denen ein Text nach seiner autorisierten Entlassung in die Welt ausgesetzt ist – Abschreibern, Redaktoren, später auch Setzern und Druckern –, wird grundsätzlich Misstrauen entgegengebracht, denn sie sind verantwortlich für das Entstehen von Varianten – Lachmann nennt sie ‚Fehler‘. Es muss für Lachmann schmerzlich gewesen sein zu realisieren, dass die mittelalterliche Literatur (insbesondere aus der hochhöfischen Zeit um 1200) fast ausnahmslos in Gestalt nicht autorisierter, zeitlich vom Autor oft weit entfernter handschriftlicher Aufzeichnungen begegnet; es gibt kaum Autogra-
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Karl Lachmann: [Rezension der Nibelungenausgabe von Friedrich Heinrich von der Hagen von 1816]. In: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung 132–135, 1817, zitiert nach dem Wiederabdruck in Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur Deutschen Philologie. Hrsg. von Karl Müllenhoff. Berlin 1876, S. 81–114, hier S. 82. Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. von Karl Lachmann. Mit Anmerkungen von G. F. Benecke und K. Lachmann. Zweite Ausgabe. Berlin 1843, Vorrede, S. V. Die Begriffe stehen in folgendem Satzzusammenhang: „aber nur wahrhaftigkeit und sich selbst vergessende strenge sorgfalt kann uns helfen“ (zitiert nach der dritten Ausgabe 1868).
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phen.20 Dieser Problematik versuchte Lachmann mit ‚recensio‘-Arbeiten und stemmatologischen Konstruktionen Herr zu werden. Besser freilich sieht es im Bereich der neueren Literatur aus; Autographe oder ‚Originaldrucke‘ (autorisierte Erstdrucke) sind hier meist in großer Zahl erhalten, so auch im Falle von Lessing. In seinen Rechtfertigungen zur Lessingausgabe skizziert Lachmann sein editorisches Tun: Er strebe „Vollständigkeit, und Wiederherstellung der echten Texte“ an. Lachmann ist es ein Gräuel, wie entstellt und willkürlich manche Lessingtexte bislang zu lesen waren. Er versteht sich als Anwalt des Autors. Bei allen einzelnen Schriften ist der Herausgeber auf die Originaldrucke zurückgegangen [...]. Die Originaldrucke sind genau, selbst in Orthographie und Interpunction, wiedergegeben. Wer davon den Nutzen nicht einsieht, wird wenigstens nicht gestört werden: pedantischer wäre willkürliche Regelung gewesen; sträfliche Trägheit, der Willkür späterer Herausgeber und Setzer zu folgen. Druckfehler der alten Ausgaben mögen hie und da übersehen sein: viele sind verbessert; manche, die mehrfache Besserung gestatteten, absichtlich stehn gelassen.21
Wenn Lachmann auf Lessings Handschriften (Autographe) zurückgreift, hält er sich auch mit Emendationen ganz zurück: „Wo Lessings eigene Handschrift vorlag, sind gewöhnlich auch die Schreibfehler nicht verbessert“.22 Während die Handschrift Lessings als unantastbar betrachtet wird, zögert Lachmann bei den Drucken nicht, diese teilweise zu kontaminieren, um einen anzunehmenden ‚Urtext‘, der als der beste angesehen wird, zu edieren: Der Text Nathans des Weisen ist [...] neu und richtiger als irgend ein früherer, aus den beiden ersten Drucken zusammengesetzt, deren Verschiedenheiten sämtlich angemerkt sind.23
Lachmanns ‚Lessing‘ wird meist als ‚historisch-kritische‘ Ausgabe bezeichnet. Ob dies zu Recht geschieht, ist allerdings fraglich. Denn nach meinem Verständnis ist eine historisch-kritische Ausgabe eine solche, die zwar einen ‚kritischen‘ Text bieten will, jedoch auch genügend Informationen zur Textgenese in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht beinhaltet. Aber von einem ____________ 20
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Vgl. dazu jetzt Volker Honemann: Autographische Überlieferung mittelalterlicher deutscher Literatur. In: Scrinium Berolinense. Tilo Brandis zum 65. Geburtstag. Berlin 2000, Bd. II, S. 821–828 (mit zahlreichen Hinweisen zum mittelalterlichen Autograph). Siehe auch http://www.uni-muenster.de/Fruehmittelalter/Projekte/Autographen/Datenbank.html. Karl Lachmann: Zum Lessing. In: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie (Anm. 18), S. 548–558, hier S. 548. Lachmann, Kleinere Schriften zur deutschen Philologie (Anm. 18), S. 553. Lachmann, Kleinere Schriften zur deutschen Philologie (Anm. 18), S. 554.
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Editionsstil wie ihn etwa die historisch-kritische Hölderlinausgabe von Sattler prägt,24 ist Lachmann meilenweit entfernt. Er interessiert sich eigentlich nicht für Varianten, zumindest nicht in dem Sinne, dass Varianten bruchstückhaft ein Textleben spiegeln, das von eigenem Forschungsinteresse sein könnte. Für ihn sind Varianten gleichsam nur Werkzeuge, mit deren Hilfe er zum Original vordringen will: Sie haben keinen eigenen Wert.
4. Mit dem Formulieren von editorischen Zielen und philologischen Handlungsmaximen allein ist es freilich in einer Textwissenschaft nicht getan, denn sie müssen auch durchgesetzt werden. Das kann eine Person allein nicht bewerkstelligen. Es fügte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts glücklich, dass sich mit Lachmann noch andere Geistesgrößen, die grundsätzlich genauso dachten wie er, zu einem Netzwerk verbanden. Vor allem sind zu nennen Georg Friedrich Benecke, Moritz Haupt und natürlich Jacob und Wilhelm Grimm. Mit diesen fünf Personen fand sich ein enorm produktiver Forscherverband zusammen, der – wenn auch im Detail durchaus verschiedener Meinung – gleichen Grundprinzipien treu war. Die editorische Nähe z. B. zwischen Jacob Grimm und Lachmann zeigt etwa folgendes Diktum Grimms (1822, Deutsche Grammatik): Wir fordern also critische ausgaben [...]. Es ist uns weniger zu thun um die schreibweise eines noch so ausgezeichneten copisten, als darum, allerwärts die ächte lesart des gedichtes zu haben und bisher kennt man wohl verschiedene handschriften mit vorzüglich gutem texte, keine, die einen tadellosen lieferte.25
Und auch in der Wissenschaftsethik sind sich die Kollegen weitgehend einig. Wo ‚strenge Sorgfalt‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘ – aus ihrer Perspektive – fehlen, wird ohne jede Zurückhaltung getadelt. Im Laufe der Zeit entstehen regelrechte Feindbilder, wie etwa in der Person Friedrich Heinrich von der Hagens, Johann Gottlieb Radloffs oder, für Lachmann zumindest, in der Person des Karl Hartwig Gregor Freiherrn von Meusebach.
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Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Bänden und 3 Supplementen. Frankfurt/Main, Basel 1975–2008 (Frankfurter Hölderlin-Ausgabe). Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Zweite Ausgabe. Göttingen 1822, S. IX.
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Die folgenden Zitate mögen für sich sprechen. Lachmann schreibt über von der Hagen: „es ist ein Grauen, daß Hagen [...] nun weit schlechtere Ausgaben liefert als der von Aristarch verhöhnte Zenodot“.26 Jacob Grimm wiederum urteilt über von der Hagens Minnesinger mit den Worten: Es ist immer viel aus dem neuen stof zu lernen, so geschmacklos und zuwider einem einrichtung und ausstattung vorkommen, auch schändliche druckfehler wimmeln darin. In den lebensbeschreibungen zwar fleiß, aber doch nicht der rechte und eine menge unnöthiges oder ungehöriges.27
Nach von der Hagens Berufung nach Berlin (Lachmann hatte gehofft, die Professur selbst zu bekommen, doch das Ministerium hatte anders entschieden und den Erzfeind berufen) tobt Lachmann und schreibt an Jacob Grimm: Hagen [hat] vom staatskanzler das versprechen [...] In Berlin sagt man, skandal sei nicht wohl zu vermeiden gewesen in Breslau, wo Hagens weib als hure gedient hat und auf der straße mit vornamen genannt wird. [...] [ich habe] 2 tage gewütet, dann ist davon todtmüdigkeit übergeblieben und ein fast unüberwindlicher ekel vor allem arbeiten. [...] ich bin stolz genug zu glauben ich oder niemand in Preußen hatte auf die Stelle ein recht. [...] Auch bin ich der Berliner universität viel zu gut, als daß ich ihr diesen seichten süßen schmeichlerischen und dem studium verderblichen Hagen gönnte.28
Doch nicht nur von der Hagen, auch Johann Gottlieb Radloff, ein Bonner Professor für deutsche Sprache, ist den Philologen um Lachmann ein Dorn im Auge. Jacob Grimm äußert sich eindeutig über Radloffs Charakter: Radloff [...] ist einer von den wenigen persönlich widerlichen Menschen, die mir untergekommen sind; bei seiner Berufung nach Bonn, wo er gewiss keinen Nutzen stiftet, müssen seltsame Zeichen gewaltet haben. Äußerlich bettelhaft kriechend, ist er hinterher tückisch und eingebildet. [...] Und nun lügt er so unverschämt und grob [...].29
Die Macht von Lachmann, den Grimms und anderen Gleichgesinnten ist groß; sie haben weitreichende Kontakte zu Verlegern, zu Zeitschriften, zu Rezensionsorganen und können den Gang der frühen Germanistik mit Vehemenz steuern. Von der Hagen, dessen Editionen uns heute nahezu modern anmuten, kommt gegen dieses Bollwerk nicht an: Seine Grundüberzeugung, einer Editi____________ 26
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Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Im Auftrage und mit Unterstützung der Preussischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von Konrad Burdach. 2 Bde. Jena 1927, Bd. II, S. 815. Grimm-Lachmann-Briefwechsel (Anm. 26), Bd. I, S. 437. Grimm-Lachmann-Briefwechsel (Anm. 26), Bd. II, S. 815. Grimm-Lachmann-Briefwechsel (Anm. 26), Bd. I, S. 194.
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on nur eine gute Handschrift zugrunde zu legen, setzt sich in Deutschland erst rund 150 Jahre später durch. In Frankreich allerdings ist eine solche Gegenposition wesentlich früher besetzt durch Joseph Bédier (1864–1938),30 von dem ausgehend sich eine nationalphilologische Debatte entwickelte,31 die bis heute nachwirkt, wie die aufschlussreiche Pariser Tagung Pratiques Philologiques en Europe (2005) zeigte.32 Die zitierten Äußerungen Lachmanns und Grimms, die man fast beliebig vermehren könnte, verdeutlichen ein Weiteres: Wissenschaft als Profession ist fest vernetzter Lebensmittelpunkt. Es gibt keine oder kaum eine Trennung zwischen Forschung und Privatleben; das eine nimmt teil am anderen und vice versa. Es verwundert nicht, dass Jacob Grimm und Lachmann Junggesellen blieben, denn für eine Frau oder eine Familie war wenig bis gar kein Platz in einem solchen Leben. Es wirkt fast grotesk, dass Lachmann einmal schreibt, dass er geglaubt habe, sich exakt zwischen dem 21. und 25. September 1814 verliebt zu haben: ich habe einst geglaubt, Laura zu lieben, zwischen dem 21 und 25 sept. des vorigen jahres. schon auf dem rückwege nach Göttingen habe ich damahls geahndet, daß es nur ein flüchtig vorübergehendes gefühl – wohlgefallen an einer schönen seele – war.33
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass Lachmann seine philologische und sprachliche Kompetenz auch ‚künstlerisch‘ nutzte, ja gar in seinen Alltag einbaute: Er schrieb selbst Gedichte in griechischer und lateinischer Sprache und verfasste in bestem gereimten Mittelhochdeutsch höfische Reimpaarverse, um sich z. B. für die Ablehnung einer privaten Einladung zu entschuldigen: Antwort auf eine Einladung (an K. Köpke) Hêrre, in kann iuch niht verdagen ine müez iu mîn unsælde klagen. iwer gruoz gît mir pîn und swære dem herzen mîn und immer wernde riuwe nu ist daz liep mîn ungemach, daz mich der von Miusebach, ____________ 30 31 32 33
Vgl. Joseph Bédier: La tradition manuscrite du Lai de l’Ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes. In: Romania 54, 1928, S. 161–196, 321–356. Vgl. Arrigo Castellani: Bédier avait-il raison? La méthode de Lachmann dans les éditions de textes du moyen âge. Fribourg 1957. Vgl. Pratiques Philologiques en Europe. Actes de la journée d’étude organisée à l’Ecole des chartes le 23 septembre 2005. Réunis et présentés par Frédéric Duval. Paris 2006. Aus einem Brief an Lücke, zitiert nach Weigel 1989 (Anm. 5), S. 107.
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Thomas Bein der werde wol geborne, an zuht der ûz erkorne, bî dem ich dicke hân die tage vertriben und gar mit süezer sage die naht, daz ich des morgens beit und den slâf überstreit, der hât vor siben nahten mich (oder ê, des wæne ich) mit sîner süezlîchen bete, der er vil gein mir getete, mit friundes manungen minneclîche betwungen, daz ich im morgen quæme und sîne spîse næme, diu mir bereit wære, und ich des niht enbære; wan ich diende im dar an. ouch sagte mir der werde man, dar kœme schœner frouwen vil, dâ wære manger hande spil, rotten, tambûr, tanzen und in dem sale swanzen und in des wunsches gewalt ander manec tagalt, die man gerne hœret unde siht. done kunde ich im versagen niht dar nâch er güetlîche sprach, der volge an mîn ungemach.
Zusammenfassend ist zunächst festzuhalten, dass die Voraussetzungen für eine mächtige Wirkungsgeschichte für die erste Generation der Hochschulgermanisten denkbar günstig waren, denn was den wissenschaftlichen Gegenstand betraf, tat sich eine Goldgräberzeit im besten Sinne auf und ein jeder war auf der Suche nach dem besten und schönsten Stück: Man reiste von Bibliothek zu Bibliothek, durchstöberte die Bücherschätze von Freunden und passionierten Sammlern, Claims wurden abgesteckt, Schürfregeln erlassen, hin und wieder wurde im Nachbargebiet gewildert, der eine und andere fand nichts und erfand dann etwas (literarische Fälschungen), manchmal wurde auch mit Rezensionen scharf geschossen und ein wissenschaftliches Leben vorzeitig beendet. Die Lachmann-Philologie war bis in die 1840er Jahre das anerkannte Maß der Dinge. Es gab zwar Widerspruch und Einwände, doch der Mythos Lachmann war zunächst zu groß, als dass es zu einer reflektierten und unpolemischen Auseinandersetzung hätte kommen können.
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Lachmanns Schüler und Anhänger setzten sein Werk weiter fort, beachteten seine Regeln und verteidigten den Meister, wenn und wo es nötig war. Lachmanns Tradition reicht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein: Der letzte Höhepunkt des Lachmannianismus war in der Altgermanistik mit Carl von Kraus (1868–1952)34 erreicht, doch noch bis in die späteren 1990er Jahre finden sich sehr konservative lachmannische Positionen, besonders durch Werner Schröder vertreten.35 Die Wissenschaft ist aber natürlich nicht bei Lachmann stehen geblieben. Die Auseinandersetzungen mit Lachmanns Methode (besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) hat deutliche Spuren hinterlassen, und es gibt heutzutage keinen Philologen, der Lachmanns Editionen bedenkenlos für ‚zitierfähig‘ halten würde – so auch nicht in der Lessing-Philologie. Wolfgang Albrecht formuliert: „Aus heutiger Sicht ist festzustellen, daß Lachmanns Edition singulären historischen Wert hat; sie ist jedoch, im Unterschied zu allen nachfolgend vorgestellten Ausgaben, längst keine Zitierausgabe mehr.“36 Nach Albrechts Einschätzung ist die Lessing-Edition in der ‚Klassiker‘-Reihe die derzeit beste, wenn sie auch die Lachmann-Muncker’sche nicht wirklich ersetzt.
5. Was trennt uns von Lachmann? Inwiefern sind seine Ausgaben, so lange sie sich auch gehalten haben, aktuellen Bedürfnissen nicht mehr angemessen? An dieser Stelle kann ich nur einige Hauptlinien skizzieren; und von erkannten wirklichen Fehlern und Druckfehlern sowie von der Tatsache, dass wir in den meisten Fällen mehr Textzeugen kennen als Lachmann, sei im Folgenden abgesehen. Unser Bedürfnis nach neuen, andersartigen Editionen hängt zusammen mit den methodologischen Neu- und Umorientierungen innerhalb der letzten 150 Jahre. Waren für Lachmann und Genossen der Autor und das Original die ersten und fast einzigen philologischen Richtmarken, so hat sich dies seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr verändert: Häufig genug ____________ 34 35
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Vgl. Johannes Janota: Carl von Kraus. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 2000 (Anm. 2), S. 141–151. Vgl. z. B. Werner Schröder: Die ‚Neue Philologie‘ und das ‚Moderne Mittelalter‘. In: Germanistik in Jena. Reden aus Anlaß des 70. Geburtstags von Heinz Mettke. 10. Januar 1995. Von Georg Machnik, Klaus Manger, Heinz Endermann, Jens Haustein, Werner Schröder. Jena 1996, S. 33–50. Albrecht 2005 (Anm. 13), S. 318 f.
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wurde diese Veränderung durch bewusste Provokationen ausgelöst, beispielsweise durch die Für-Tot-Erklärung des Autors durch Roland Barthes,37 die Infragestellung dessen, was man einen Text zu nennen pflegte („Le texte n’existe pas“),38 die Glorifizierung von Textvarianten durch Bernard Cerquiglini („Eloge de la variante“)39 oder schließlich durch die Verkündung einer ‚New Philology‘.40 Diese Provokationen haben erfreulich frischen Wind in die Germanistik gebracht, weil man Texte nun, anders als bisher, als kulturelle, ästhetische Gegenstände, die immer in Bewegung waren und sind, betrachten konnte und nicht als statisch ein für allemal festgeschriebene und autorisierte Fassungen. Ich meine, an genau diesem Punkt gehen Lachmann und wir heute auseinander. Unser Blick auf die Literaturgeschichte, unsere Vorstellung von dem, was ein Text ist, haben sich gewandelt. Literarische Kultur ist für uns heute geprägt von Dynamik, die ein interessantes Eigenleben entwickelt und die (nicht nur, aber auch) losgelöst vom Autor und einer ursprünglichen Intention betrachtet werden kann. Viele moderne Ausgaben, sowohl in der Älteren als auch in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, zeugen von diesem Perspektivenwechsel. Neben Sattlers Hölderlin-Ausgabe sind Reuß’ Kafka-Edition,41 die ‚Bonner Celan Ausgabe‘ von Axel Gellhaus42 oder eben neu erarbeitete Lessing-(Teil-)Editionen43 Beispiele dafür. Editionen dieser Art erlauben dem Benutzer, Einblicke in textgenetische und/oder wirkungsgeschichtliche Prozesse zu gewinnen. In der Älteren Germanistik gibt es ebenfalls enorme Veränderungen: Ich nenne stellvertretend hier nur die Hugo von Montfort-Ausgabe von Wernfried Hofmeister, die einerseits aus einer auf einer bestimmten Editionsmethode basierenden Print-Edition besteht, andererseits aber auch Materialerweiterun-
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Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Manteia 5, 1968, S. 12–17. Louis Hay: Le texte n’existe pas. Réflexions sur la critique génétique. In: Poétique 16, 1985, S. 147–158. Bernard Cerquiglini: Eloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989. Dazu Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio. 8), und Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116, 1997, Sonderheft, S. 62–86. http://www.projekt-zipp.de/de/kafka/ausgabe/magazin/fka. Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Andreas Lohr: Die historisch-kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht. In: Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Hrsg. von Axel Gellhaus und Andreas Lohr. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 197–226. Vgl. z. B. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004.
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gen im Internet anbietet.44 Recht neu ist auch die dreibändige NeidhartAusgabe des Salzburger Editorenteams um Ulrich Müller45 – sie ist lediglich als Print-Ausgabe auf dem Markt, allerdings großformatig, sodass erstmals zahlreiche Parallelversionen von Neidhart-Liedern leicht erforscht werden können. Wie einmal die neue Parzival-Ausgabe von Michael Stolz aussehen wird, wissen wir noch nicht genau.46 Nach all den beeindruckenden bisherigen Arbeiten müsste es m. E. wohl eine komplett elektronisch realisierte Ausgabe sein,47 denn in einem gedruckten Buch lässt sich die Verlinkung von Transkriptionen, Lesarten und Handschriften nicht leisten. Solche und ähnliche methodologisch innovative Editionspraktiken trennen uns deutlich von Lachmann. Eines aber führt uns doch immer wieder mit Lachmann zusammen: Eine gewisse Liebe zum und Hingabe an den Gegenstand, wie immer man ihn auch behandeln mag. Seine Rechtfertigung der Lessing-Ausgabe beendet Lachmann, von sich in der dritten Person sprechend, mit folgenden Worten, denen sich wohl jeder Editor wird anschließen können: „Wenigstens hat er mit Liebe, mit Fleiss und Gewissenhaftigkeit, gestrebt dem grossen Geiste, dessen wir durch geistige Fortschritte würdig werden, ein angemessenes Denkmahl zu setzen.“48
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Vgl. Hugo von Montfort. Das poetische Werk. Hrsg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond. Berlin, New York 2005; http://www-gewi.uni-graz.at/ montfort-edition. Vgl. Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. Hrsg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler unter Mitarbeit von Annemarie Eder u. a. Endredaktion: Ruth Weichselbaumer. Bd. 1: Neidhart-Lieder der Pergament-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Bd. 2: Neidhart-Lieder der Papierhandschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Bd. 3: Kommentare zur Überlieferung und Edition der Texte und Melodien in Band 1 und 2, Erläuterungen zur Überlieferung und Edition, Bibliographien, Diskographie, Verzeichnisse und Konkordanzen. Berlin, New York 2007. Vgl. Michael Stolz: Intermediales Edieren am Beispiel des Parzival-Projekts. In: Wege zum Text 2009 (Anm. 10), S. 213–228. Vgl. http://www.parzival.unibe.ch/projpraes.html. Lachmann, Zum Lessing (Anm. 21), S. 558.
Jochen Strobel
Heinrich Düntzer Edition und akademisches Scheitern
1.
Urteile über Düntzer
Den Philologen Heinrich Düntzer scheint heute wie schon vor 100 Jahren nichts so sehr auszumachen wie die Summe der negativen Werturteile über seine Arbeiten und über seine Person. Wer heute über ihn schreibt, kann sich dem Sog dieser Urteile kaum entziehen, er wird sich zwischen einer Vernichtung und einer vorsichtigen Ehrenrettung entscheiden müssen. Der „viel gescholtene[ ]“,1 der „ungeliebte“2 Düntzer, Mann eines „tragische[n] Schicksal[s]“,3 war Namensgeber der „Düntzereien“ oder des „Düntzerns“,4 einer pedantischen, detailversessenen und zugleich unendlich materialreichen, phantasielosen Ausprägung der Deutschen Philologie. Um 1900 galt: „Jeder Dilettant, der eine unmögliche Hypothese unzureichend begründet, beschuldigt seine Kritiker der Düntzerei und ist gerettet.“5 Düntzer – das hieß: „Mangel an poetischem Sinn“,6 Unfähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Passend zu diesen Urteilen ist die Biographie Düntzers mit dem Gesamtverdikt des Scheiterns behaftet, das sich streng genommen nur auf den entscheidenden Bruch in seiner beruflichen Laufbahn bezieht, den Nichtvollzug des Schrittes vom Privatdozenten zum Professor. Faktisch wurden mit ‚gescheitert‘ aber Biographie und Werk in toto belegt, als sei der Lebensweg des modernen Subjekts über einen Karriereknick hinaus nicht mehr zu retten – eine fatale ____________ 1
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Paul Raabe: Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio. 16), S. 3–19, hier S. 4. Raabe 2001 (Anm. 1), S. 6. Richard M. Meyer: [Nachruf auf] Heinrich Düntzer. In: Goethe-Jahrbuch 23, 1902, S. 244– 247, hier S. 247. Hans-Martin Kruckis: Mikrologische Wahrheit. Die Neugermanistik des 19. Jahrhunderts und Heinrich Düntzer. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 41, 1991, S. 270–283, hier S. 270. Meyer 1902 (Anm. 3), S. 244. Meyer 1902 (Anm. 3), S. 246.
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Jochen Strobel
Fehleinschätzung, die erst das mit linearen Erfolgswegen weniger gesegnete späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zu korrigieren beginnt, beispielsweise mittels des Versuchs, Risiken bestimmter Karriereschritte gerecht einzuschätzen. Seit dem 18. Jahrhundert werden individuelle Biographien mit einem spezifischen Glücksanspruch gelebt.7 Hierzu gehört die Option der Selbstverwirklichung in einer beruflichen Karriere – diese wird zunehmend institutionell reguliert – in der Wissenschaft etwa über immer klarer definierte Qualifikationsschritte. Doch sind damit auch die Risiken eines solchen Weges benennbar, ist auch die Kehrseite des Glücksanspruchs definierbar, nämlich das individuelle Scheitern als „wahrgenommene Differenz zum gelungenen Leben“.8 Aus einem partikularen Versagen leitet sich eine Total-Einschätzung ab, für Düntzer vorgenommen durch jeweils öffentlich auftretende Etablierte des universitären Feldes (der Klassischen Philologie, dann der Deutschen Philologie), denen der Nicht-Etablierte wenig mehr als sein Œuvre, seinen Philologen-Fleiß entgegenzusetzen hatte.9 Die Wissenschaftsgeschichte hat sich daran gewöhnt, das Urteil der Zeitgenossen über Düntzer zu übernehmen, wie indirekt zu Lebzeiten auch Düntzer selbst jenes Urteil bestätigte, indem er ein Maximum an Streitbarkeit hervorkehrte. Wenige Gegenstimmen sind zu hören. Aus der Perspektive eines Historiographen des editorischen Kommentars erinnert Hans-Gert Roloff daran, dass Düntzer „in der Goethe-Forschung und in der Erschließung der klassischen Dichter immer wieder große Kenntnis, guter Spürsinn und unermüdlicher Einsatz attestiert werden.“10
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Vgl. zu einer Soziologie und Psychologie des Scheiterns Stefan Zahlmann: Sprachspiele des Scheiterns. Eine Kultur biographischer Legitimation. In: Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten. Hrsg. von Stefan Zahlmann und Sylka Scholz. Gießen 2005, S. 7–31, hier S. 11. Zahlmann 2005 (Anm. 7), S. 13. Vgl. die durch Pierre Bourdieu ermittelte Hierarchisierung des kulturellen Kapitals von Askese und Fleiß bis zu Genie in Ders.: Der Staatsadel. Konstanz 2004 (édition discours. 31), S. 47– 74. Dass ihm seine Zeitgenossen immensen Fleiß nicht absprechen können, spricht noch lange nicht für Düntzer, eher im Gegenteil. Hans-Gert Roloff: Zur Geschichte des editorischen Kommentars. In: editio 7, 1993, S. 1–17, hier S. 2.
Heinrich Düntzer
2.
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Biogramm und Werkübersicht
Düntzers Werk ist unüberschaubar.11 Die Fortführung des Goedeke nennt neben 95 weiteren Buchveröffentlichungen insgesamt 85 Bändchen mit Klassiker-Erläuterungen; hinzu kommen Beiträge in 56 Periodika.12 Der 1813 geborene und 1901 verstorbene Kölner promovierte 1835 in Berlin bei August Böckh in Klassischer Philologie und wurde für dasselbe Fach 1837 in Bonn ohne Arbeit habilitiert. Dort lehrte er neun Jahre lang als Privatdozent, ehe er 1846 als Gymnasialbibliothekar und Privatgelehrter zurück nach Köln wechselte, in Bonn indessen 1849 zum Titularprofessor ernannt wurde.13 Neben Arbeiten zur Klassischen Philologie und zur damals aufstrebenden rheinischen Altertumswissenschaft legte er zahlreiche Publikationen zu Goethe, aber auch zu Schiller und Lessing vor, u. a. ausführliche Biographien.14 Er war Mitherausgeber der Hempel’schen Goethe-Ausgabe, also der kritischen Maßstäben nicht standhaltenden ‚Zwischenlösung‘ nach Goethes Werkausgabe ‚letzter Hand‘ und vor der Weimarer Goethe-Ausgabe.15 Düntzer gab etliche Bände von Kürschners Deutscher National-Litteratur heraus, eine Herder-Ausgabe sowie mehrere Briefwechsel. Die Buchpublikationen wurden begleitet von teils umfangreichen Aufsätzen und Rezensionen sowohl für ein breites Publikum, etwa das der Allgemeinen Zeitung oder der Grenzboten, als auch für die Spezialisten in der Zeitschrift für deutsche Philologie, in der er jeden einzelnen Band der Weimarer Ausgabe einer akribischen Durchleuchtung und teils kritischen Vernichtung unterzog. Für alles dies ist Düntzer bekannt, hierfür war er gefürchtet, wurde er verspottet. Zu prüfen ist, ob Düntzers Außenseiter-Status auch sachlich, also seiner editorischen Praxis nach, gerechtfertigt ist bzw., falls es diese Rechtfertigung nicht gibt, wie er zustande kam. Hans-Martin Kruckis ____________ 11
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Vgl. zu Düntzer allgemein Hans-Martin Kruckis: [Art.] Heinrich Düntzer. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Bd. 1. Berlin, New York 2003, S. 411 f.; ferner Kruckis 1991 (Anm. 4) sowie vor allem die ausführliche Einleitung des Herausgebers in: „Durch Neigung und Eifer dem Goethe’schen Lebenskreis angehören“. Briefwechsel zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Heinrich Düntzer 1842– 1858. 2 Bde. Hrsg. von Berndt Tilp. Frankfurt/Main u. a. 2003 (Forschungen zum Junghegelianismus. 7). Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung. Fortführung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. II,1. Berlin 1998, S. 389–404. Vgl. Verzeichnis der Professoren und Dozenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968. Hrsg. von Otto Wenig. Bonn 1968, S. 60. Z. B. Goethes Leben. Leipzig 1880, 2. Aufl. 1883; Schillers Leben. Leipzig 1881; Lessings Leben. Leipzig 1882 (die Bände umfassen je zwischen 550 und 680 Druckseiten). Vgl. dazu im Kontext Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 95–116.
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Jochen Strobel
legt die These vor: „Streng genommen, hat sich Düntzer nie in einem systematischen Gegensatz zur Forschungspraxis seiner Zeit befunden.“16
3.
Akademischer Werdegang
Aus der Sicht einer Wissenschaftsgeschichte, die Publikationen und Debatten aus Positionskämpfen im wissenschaftlichen Feld heraus erklären will und die zugleich, unabhängig von zeitgenössischen Bewertungen und jenseits der ausschließlichen Konzentration auf akademische ‚Stars‘, nach tatsächlicher wissenschaftlicher Leistung fragt,17 war Düntzers habituelle Ausgangsposition für eine akademische Karriere in Preußen nicht gerade günstig. Er war gläubiger Katholik und überzeugter Rheinländer, wohlhabender Kaufmannssohn und ein Liberaler, als solcher stand er der Revolution von 1848 wohlwollend gegenüber. Wenn es stimmt, dass das universitäre Feld das Machtfeld reproduziert, qua Wissensvermittlung zur Reproduktion staatlicher Machtstrukturen beiträgt – wozu im Zuge Humboldt’scher Reformen das Apolitische des Ideals der Zweckfreiheit gehört –, dann sind Düntzers Karrierechancen von vornherein reduziert,18 ließ sich doch in Bonn nicht übersehen, daß verschiedene begabte und strebsame junge Fachvertreter, die der katholischen Religion und dem Rheinland angehörten, auf der akademischen Laufbahn nicht recht vorwärts zu kommen vermochten.19
Der Konkurrenzkampf, den Düntzer verliert, ist nicht nur der zwischen zahlreichen Privatdozenten, die in der Regel ein entbehrungsreiches Dasein fristen,20 sondern insbesondere der zwischen Privatdozenten und Ordinarien, deren symbolisches Kapital in Zeiten des Innovationsdruckes durchaus in Gefahr ist und denen die Privatdozenten im günstigsten Fall Hörer abspenstig machen.21 In den 1830er Jahren lastet noch mehr auf den Universitäten, nämlich ____________ 16 17
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Kruckis 1991 (Anm. 4), S. 275. Vgl. paradigmatisch für eine derartige ‚Gelehrtengeschichte‘: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit. Hrsg. von Alf Lüdtke und Reiner Prass. Köln u. a. 2008 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. 18). Vgl. Pierre Bourdieu: Homo academicus. Frankfurt/Main 1992. Friedrich von Bezold: Geschichte der rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am Rhein. Bd. 1. Bonn 1920, S. 388. Alexander Busch: Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten. Stuttgart 1959 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie. 5); Petra Emundts-Trill: Die Privatdozenten und Extraordinarien der Universität Heidelberg 1803–1860. Frankfurt/Main u. a. 1987 (Europäische Hochschulschriften. 3/764), S. 184 ff. Vgl. Emundts-Trill 1987 (Anm. 20), S. 25 f.
Heinrich Düntzer
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sinkende Studentenzahlen bei immer mehr Habilitationen, so dass die Zahl der Privatdozenten teils die der ordentlichen Professoren erreicht. Mit dem Wechsel des Ministeriums von Altenstein zu Eichhorn 1840 sinkt zudem die Bereitschaft, Privatdozenten grundsätzlich zum Professor zu ernennen.22 Die 1830er Jahre bringen eine, von ‚oben‘ gesehen, gefährliche Politisierung der Studenten mit sich, zugleich erfolgt seitens der preußischen Regierung ein humboldtkritischer Ruf nach mehr Praxisbezug an den Universitäten. Die Philologie gerät unter Legitimationsdruck, man befürchtet von ihr die Gefahr einer „heidnisch-republikanischen Ansteckung“.23 Trotz zahlreicher, aus der Perspektive des Bonner Ordinarius Friedrich Ritschl jedoch qualitativ nicht hinreichender Publikationen und trotz seines Lehrerfolgs erhält Düntzer keine Professur, ja man rät ihm schließlich, ans Gymnasium zu gehen. Hatte die Universität Bonn noch eineinhalb Jahrzehnte vorher den allerdings international renommierten Quer- und Späteinsteiger August Wilhelm Schlegel verkraftet, so scheinen die 1830er Jahre zunehmend regularisierte Karrierewege bei reduzierten Karrierechancen zu kennen. Bei Düntzers Hinwendung von der klassischen zur deutschen Philologie fehlt das Mittelalter, das in der teils romantisch überkommenen, teils politisch zukunftsträchtigen Gründerzeit einer nationalen Wissenschaft so wichtig war.24 Das entstehende Feld der Deutschen Philologie lässt Düntzer links liegen und wendet sich schon um 1840, zu früh also, einer akademischen Goethe-Exegese zu, in einer Zeit, da August Wilhelm Schlegel die Lektüre der Weimarer Klassiker dem Gebildeten anheimstellt, doch keineswegs an der Universität etabliert sehen will.25 Die Literatur der Gegenwart (und sogar Goethe)26 hat zwar schon seit etwa 1800 einen, wenngleich noch nicht endgültig gesicherten, Platz an deutschen Universitäten – doch außerhalb der deutschen Philologie, die sich hermeneutische Askese auferlegt und sich der Kritik mittelalterlicher Texte widmet. Man könnte folglich behaupten, Düntzers Praxis sei allzu innovativ: Er verlässt voreilig den Boden akademischer Konformität, und das während eines außerordentlich riskanten Schrittes seiner Karriere. ____________ 22 23 24
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Vgl. Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd. 2,1. Halle 1910, S. 408. Zu diesem Themenkomplex vgl. Bezold 1920 (Anm. 19), S. 314, Zitat ebd. Vgl. Bezold 1920 (Anm. 19), S. 389: „Wäre er von der klassischen Philologie zur Germanistik im Sinn eines Lachmann übergegangen, so hätte dies vermutlich zu einem anderen Ausgang geführt, aber die Geschichte der neuen deutschen Literatur hatte noch keine Anerkennung als vollwertiges Fach erlangt.“ Vgl. Bezold 1920 (Anm. 19), S. 388, sowie Kruckis 1991 (Anm. 4), S. 271. Zu den ersten Goethe-Vorlesungen an deutschen Universitäten vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 163 ff.
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Jochen Strobel
Als er mit großem Erfolg Goethes Faust 1841 zum akademischen Gegenstand macht,27 hat der liberale, im Streit um die Göttinger Sieben seines Amtes enthobene Historiker Gervinus gerade seine mit Goethes Tod endende deutsche Literaturgeschichte verfasst. Goethe als politische Losung im Vormärz28 – und zugleich eine Aktualisierung der Philologie –, hier setzt Düntzer an und hier muss, zumal im katholischen Rheinland, die preußische Obrigkeit hellhörig werden. Inneruniversitär läuft eine Vorlesung über Goethes Drama der Tendenz zur disziplinären Spezialisierung und zur fachspezifischen Esoterisierung zuwider, die durch die Habilitation29 und andere hochschulpolitische Maßnahmen hervorgerufen und gestärkt wurde: Düntzer läuft Gefahr, mit einer Goethe-Vorlesung unseriös zu wirken. 150 Hörer einer Vorlesung zur unmittelbaren Gegenwartsliteratur sind bereits ein Politikum.
4.
Philologische Positionskämpfe
Düntzers Bonner Gegner wird der 1839 neuberufene Ordinarius Friedrich Ritschl, zwanzig Jahre später Nietzsches Lehrer, als junger Mann schon ein gefeierter Altphilologe, als „Günstling Berlins“30 für die Rheinländer ein rotes Tuch. Er ist ein methodisch strenger Textkritiker, der kaum noch Gebrauch von der Konjekturalkritik macht, der für ästhetische Fragen wenig übrig hat31 und Düntzer philologische Halbheit vorwirft.32 Das durch Düntzer beantragte Extraordinariat „für Rhetorik, Ästhetik und deutsche Literatur“ lehnt die Fakultät ab.33 Erst in den 1860er Jahren wird die Deutsche Philologie eine „Brotwissenschaft“,34 als sie nämlich zum Ort der Lehrerausbildung wird. ____________ 27
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„Es war der erste von Kundigen hochbelobte Versuch, an einer Hochschule das ungeheure Drama in allen Theilen dem Verständniß zu erschließen. Die Zahl der eingeschriebenen Zuhörer stieg auf fast anderthalb hundert“; Heinrich Düntzer: Mein Beruf als Ausleger. 1835–1868. Leipzig 1899, S. 14. Vgl. etwa Georg Gottfried Gervinus: Über den Göthischen Briefwechsel. Leipzig 1836. Vgl. Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 115–203, hier S. 139. Vgl. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 72. „Besser methodisch irren, als unmethodisch, d.h. zufällig das Wahre finden“; Friedrich Ritschl: Zur Methode des philologischen Studiums (Bruchstücke und Aphorismen). In: Ders.: Kleine philologische Schriften. Bd. 5. Leipzig 1879, S. 19–32, hier S. 27; vgl. auch O. Ribbeck: [Art.] Friedrich Wilhelm Ritschl. In: Allgemeine Deutsche Biographie 28, S. 653–661. Vgl. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 13 und 61. Vgl. Bezold 1920 (Anm. 19), S. 388. Meves 1994 (Anm. 29), S. 177.
Heinrich Düntzer
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Mit 33 Jahren gibt Düntzer auf – um das 35. Lebensjahr herum ist die akademische Laufbahn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblicherweise geschlossen.35 Eine öffentliche Debatte zwischen Düntzer und Ritschl wäre undenkbar; lediglich Gutachten zeugen davon, dass Düntzers Schicksal als Wissenschaftler schon vor Beginn seiner expansiven Publikationstätigkeit besiegelt ist.36 Düntzers frühes, seinen Ruf aber prägendes Scheitern als Privatdozent lässt sich mit institutionellen Gründen erklären, die ihn in ihrer Summe besonders hart trafen. Doch das Resultat, der Gymnasialbibliothekar, der lebenslang weiterpubliziert, ein „verunglückter Professor“,37 belastete seinen Ruf nicht minder. Der Privatgelehrte ohne akademische Anbindung war in der sich von anderen Feldern immer mehr abschließenden Wissenschaftslandschaft ein zunehmend ungeliebtes enfant terrible. Aus der Sicht des verbeamteten Professors unstandesgemäß war erst recht ein Wechsel ins Fach des freien Schriftstellers, das Schreiben für Geld, das Düntzer unverhohlen praktizierte. In diese Rolle ließ sich Düntzer also bereitwillig und bei zunehmender Streitbarkeit drängen. Symbolisches Kapital erwarb er vorwiegend außeruniversitär – das wissenschaftliche musste komplementär schwinden. Allenfalls der Goetheverein Zwickau machte ihn zum Ehrenmitglied,38 akademische Meriten hatte er nicht zu erwarten. Nicht zufällig ist ein anderer, wenngleich einflussreicher Außenseiter über Jahrzehnte Düntzers Verbündeter, nämlich Varnhagen von Ense, der Düntzer gern doch noch eine Professur verschaffen sollte. Richard Moritz Meyers Nachruf ist universitätssoziologisch betrachtet überaus aussagekräftig: Unser Vaterland ist kein günstiger Nährboden für ungebundene wissenschaftliche Thätigkeit. [...] Vorurtheil und Erfahrung wirken zusammen, um uns ein gewisses Mißtrauen gegen den keiner akademischen Korporation angehörigen Forscher einzugeben. [...] Daneben aber ist wirklich gerade für die eigensinnig-individualistische Art des deutschen Gelehrten die Korporation ein unschätzbares Erziehungsmittel [...]. Deshalb ist im Allgemeinen der Gymnasiallehrer als Gegner noch schlimmer als der Universitätsdocent, der Privatgelehrte aber viel ärger noch als jener. Das hat sich gerade an Düntzer gezeigt.39
Düntzers eigenes Resümee enthält die kurz vor seinem Tod erschienene Autobiographie Mein Beruf als Ausleger, deren Titel bereits den eigenen hermeneu____________ 35 36 37 38 39
Vgl. Busch 1959 (Anm. 20), S. 46. Vgl. Briefwechsel Düntzer/Varnhagen 2004 (Anm. 11), S. XLVII. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 83. Vgl. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 4. Meyer 1902 (Anm. 3), S. 245.
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tischen Anspruch zuungunsten von Textkritik und bloßer Kommentierung bloßlegt und damit wohl auf den Lehrer August Böckh zielt, der neben Friedrich August Wolf an einer Erweiterung der Philologie zu einer Altertumswissenschaft im Geiste der Hermeneutik Schleiermachers maßgeblich beteiligt war.40 Düntzer schreibt seiner Biographie Kontinuität zu trotz der scheinbaren Brüche von klassisch-philologischen Anfängen zur Gegenwartsliteratur, von nur akademischer Tätigkeit zur Autorschaft des erfolgreichen Vielschreibers: „Ueberall galt es mir, die Kunst der Auslegung, die von den Griechen mit Recht hochgeschätzte Hermeneutik, gewissenhaft zu üben.“41 Inwiefern er seinen akademischen Lehrern Friedrich Gottlieb Welcker und August Böckh methodisch verpflichtet ist, geht aus seinen Briefwechseln mit diesen hervor. Das betrifft zunächst Düntzers philologisch-hermeneutischen zweibändigen Horaz-Kommentar, dem gerade auch an der „ästhetische[n] Auffassung“ gelegen ist.42 Böckh schreibt seinem Schüler: Die Aufgabe, die Sie lösen, ist nicht leicht; die eigenthümliche lose Gedankenverknüpfung setzt mich beim Lesen des Horaz oft in Verlegenheit, und umso mehr Verdienst muß ich Ihrer Arbeit zuerkennen, die immer auf das Ganze gerichtet, in dessen Verknüpfung und in den Geist des Werkes hineinführt.43
Bei aller Zersplitterung der Einzelbeobachtungen werden sich auch Düntzers Editionen und Kommentare aus dem Bereich der Neueren deutschen Literatur auf das Ganze richten. Zukunftsweisend ist die Berücksichtigung des Forschungsstandes, also das Abwägen bereits bestehender Forschungsmeinungen, das Böckh an Düntzers Arbeit lobt.44 ____________ 40
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Vgl. Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie. In: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hellmut Flashar u. a. Göttingen 1979, S. 103–127, hier S. 110; Rudolf Pfeiffer: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982, S. 222 f.; Briefwechsel Düntzer/Varnhagen 1994 (Anm. 11), S. XXIV; Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 5. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 20 f. Heinrich Düntzer: Kritik und Erklärung der Oden des Horaz. Ein Handbuch zur tiefern Auffassung der Oden des Horaz. Zwei Theile. Braunschweig 1840/46, Zitat: Theil 1, S. III. August Böckh in Berlin an Düntzer am 18. 12. 1842 (zitiert nach: Düntzer 1899, Anm. 27, S. 67). „Ew. Wohlgeboren danke ich recht herzlich für die Zusendung Ihres zweiten Bandes des Commentars über die Horazischen Briefe, welche ich mit Ihrem gefälligen Schreiben vom 18. Sept. in diesen Tagen erhalten habe. [...] Ihre Methode der Erklärung spricht mich sehr an; ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß Ihr Werk von Freunden des Horaz mit großem Nutzen werde gebraucht werden. Die Anführung der verschiedenen Meinungen, mit welcher Sie, nach Ihrer Vorrede, manchem vielleicht einen größeren Dienst als mit Ihren eigenen Erklärungen erweisen zu glauben, ist auf jeden Fall sehr unterhaltend, da darunter Lustiges und Wunderliches sich in hinreichender Fülle befindet. Auch die metrischen Bemerkungen habe ich mit Vergnügen gelesen“; August Böckh in Berlin an Düntzer am 7. 10. 1843. Handschrift im
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Ähnlich gibt Welcker seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass sich Düntzer schon frühzeitig an seiner Methode orientiert habe.45 So schreibt er noch 1865, fast zwanzig Jahre nach Düntzers akademischer Resignation, anlässlich der Übersendung der Neuauflage seiner zwei Bände Die griechische Tragödien mit Rücksicht auf den epischen Cyclus geordnet: Daß Sie sich aus einer so fruchtbaren u erfolgreichen litterärischen Werksamkeit so stark heraus sehnen, um sich von neuem ganz der Philologie zu widmen, beweist mir wie stark der Geistestrieb gewesen ist, mit dem Sie zuerst darauf eingiengen. Sie verstanden damals Bestrebungen von mir, auf welche die Allermeisten nicht eingiengen oder mit Geringschätzung herabsahen. [...] Der neue epische Cyclus steht Ihnen besonders zu, der Sie unter den Ersten den richtigen Gesichtspunkt hinsichtlich des litterärhistorischen Zusammenhangs gefaßt und ins Licht zu setzen beeifert waren.46
Düntzer hat sich niemals ganz aus der Klassischen Philologie zurückgezogen. In den 1860er Jahren bereitet er eine Schulausgabe des Homer vor,47 deren Grundsatz die längst schon in die Goethe-Editorik übertragene Reinigung des Texts von Fremdeinflüssen ist. Aus einem Brief an Welcker geht hervor, dass Düntzers Kriterium die ‚sinn- und sachgemäße Erklärung‘ des Texts ist – überall dort, wo diese nur ‚gewaltsam‘ möglich ist, sich also keine kohärente Be__________
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Nachlass Ernst Crous in der Universitäts- und Stadtbibliothek (USB) Köln. Ich danke der USB Köln für die Erlaubnis, aus Briefen Böckhs und Welckers an Düntzer zitieren zu dürfen. Vgl. zu Düntzers Welcker-Lektüre bereits während seiner Studienzeit Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 8; ebd., S. 40, vermerkt Düntzer über Welckers Vorlesungen zur griechischen Literaturgeschichte: „Diese mit lebhaftestem Gefühl für künstlerische Einheit, vollendete Formreinheit und lebendige Anschauung gegebene Schilderung der edelsten Meisterwerke ist auf mein ganzes Leben von dauerndstem Einfluß gewesen.“ Friedrich Gottlieb Welcker in Bonn an Düntzer am 6. 7. 1865 (USB Köln, Nachlass Crous). – Düntzers resignative Haltung spricht aus einem Brief an Welcker anlässlich des 50. Gründungstages der Bonner Universität: „An dem Tage, wo die Rheinische Universität ihr fünfzigjähriges Fest begeht, wendet sich mein dankbares Gemüth Ihnen, Verehrtester, zu, dessen Lehren und Beistand ich so viel verdankte. Sie nebst Näke haben mich auf dem Wege der Philologie wesentlich gefördert, neben Ihnen bin ich Lassen, Schlegel und zum Theil der Anregung Hüllmanns verpflichtet. Leider kann ich in den Jubel der alma Rhenana nicht einstimmen; diese pia mater hat mich durch die philosophische Facultät und Ritschls leidenschaftlichen Hass auf das schrecklichste misshandelt, und man hat es auch nicht der Mühe wert gehalten, mich, der mehr als acht Jahre, und mit grösserm Erfolge als Herr von Sybel zur Zeit, als Privatdocent gewirkt hat, zu dem Feste zu laden, an welchem viele Officiere und Landbürgermeister als Ehrengäste paradiren“; Heinrich Düntzer o. O., o. J. [1868] an Friedrich Gottlieb Welcker. – Handschrift im Nachlass Welcker in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Bonn, Signatur S 687, Bl. 1r. Für die Erlaubnis, aus Briefen Düntzers aus dem Nachlass Welcker zitieren zu dürfen, danke ich der ULB Bonn, namentlich Herrn Dr. Michael Herkenhoff. Homer’s Odyssee. Erklärende Schulausgabe. Hrsg. von Heinrich Düntzer. H. 1–3. Paderborn 1863/64; sowie Homer’s Ilias. Erklärende Schulausgabe. Hrsg. von Heinrich Düntzer. H. 1–3. Paderborn 1866.
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deutung ergibt, kann es sich nur um Text eines späteren Rhapsoden, nicht Homers selbst, handeln: Mit Homer geht es stetig vorwärts, so dass ich bereits beim Kyklopes angelangt bin. Je mehr ich in das Wesen homerischer Einfachheit und Natürlichkeit einzudringen glaube, um so entschiedener scheiden sich mir beim schrittweisen Fortgange die Stellen aus, die der ursprünglichen Dichtung fremd sind und sie widerlich entstellen. Ueberall, wo eine sach- und sinngemäße Erklärung sich nur gewaltsam ergeben will, zeigt sich ein aufgeflickter Lappen oder die Verderbung, letztere viel seltener als erstere. Leider zeigt sich eine solche Annahme häufiger nöthig, als mir, besonders bei meinem nächsten Zwecke, lieb ist, aber die Beweise sind so überzeugend, dass kein anderer Ausweg möglich. Diese Ausscheidung des Unächten wird vom grössten Einfluss sein auf die gesammte Beurtheilung der Homerischen Gedichte, des Planes und der Einheit, der gesammten dichterischen Ausführung. Aber auch für die Sprache und das Sachliche stellen sich ganz neue Gesichtspunkte heraus, da manches, was als urhomerisch gilt, sich oft nur auf einen späten Rhapsoden gründet.48
Düntzers überzeugtes Anknüpfen an seine akademischen Lehrer ist die Voraussetzung dafür, dass über seiner Mikro-Philologie stets der Anspruch auf eine übergreifende, versöhnende Hermeneutik schwebt. Düntzer ist institutionell dennoch isoliert – Böckh und Welcker bedauern immer wieder, ihm zu keiner Stelle verhelfen zu können. Er prägt daraufhin eine Einzelkämpfermentalität aus, die bei ihm mit einem besonderen Anspruch verbunden ist, das Privileg des Zugangs zur Wahrheit des Texts, seiner ‚Echtheit‘, ‚Reinheit‘, zu besitzen. Freilich macht er den Fehler, „Einheit immer schon über Aggregation gegeben“49 zu sehen, während Böckh Wert darauf gelegt hatte, dass Ideen erst am Material induktiv zu bilden seien. Dass die deutsche Literatur letztendlich dem Sinnhorizont des Nationalen zuzuordnen sei, hätte Düntzer gewiss auch ganz unabhängig von seinen Untersuchungen konstatieren können. Langfristig wirkt sich für ihn zudem ungünstig aus, dass sich in der Deutschen Philologie spätestens seit Karl Lachmann ein antihermeneutisches, verstärkt textkritisches Konzept durchsetzt, das ausgerechnet in der Tradition Ritschls steht.50 Nichtsdestotrotz versucht sich Düntzer an Texten Goethes als Textkritiker.
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Heinrich Düntzer o. O., o. J. [ca. 1862] an Welcker (ULB Bonn, S 687, Bl. 2v). Hans-Martin Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann/Voßkamp 1994 (Anm. 29), S. 451–493, hier S. 478. Vgl. Nikolaus Wegmann: Was heißt einen ‚klassischen‘ Text lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Fohrmann/Voßkamp 1994 (Anm. 29), S. 334– 450, hier S. 404 ff.
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Düntzers ‚Goethe-Philologie‘ I: ‚Kritik‘
An der von ihm mit begründeten Goethe-Editorik mit nationalem Einschlag51 wird Düntzer festhalten; ihm wird vor allem die zunehmende Popularität seiner Arbeiten als Waffe gegen die sich um Gustav von Loeper und bald Wilhelm Scherer entwickelnde Goethe-Philologie dienen. Doch hatte sich schon Jacob Grimm gegen eine Popularisierung seiner Forschungsergebnisse gewandt.52 Wie das Fach Deutsche Philologie mittelalterliche Texte als von Fremdeinflüssen zu reinigende Sprachdenkmäler ansieht, so beginnt sich Düntzer um die ‚Reinheit‘ des Goethe’schen Texts zu bekümmern. Handschriftenkritik kann, solange Goethes Nachlass nicht zugänglich ist, nur die Ausnahme sein, doch die schon bei den Brüdern Grimm zum Standard gewordene Verzeichnung von Varianten53 übernimmt Düntzer für Goethe. Was für die frühen Germanisten zum Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit wird,54 fehlt bei Düntzer durchaus nicht, der sich noch Mitte der 1840er Jahre auf Germanisten- wie Philologentagen zeigt.55 Dass ein ‚populärer‘ Germanist wie Karl Simrock nicht nur als Mann der zweiten Reihe gilt, sondern als außerordentlicher Professor auch noch von seinen Publikationen leben muss, ist Düntzer schmerzlich bewusst.56 Vor allem zwei editorische Innovationen seien in Düntzers Wirken hervorgehoben, eine freilich von einem lemmatisierten Apparat noch entfernte Sensibilität für entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Fragen von Goethes Texten, konkret für Druckfehler in vermeintlich autorisierten Werkausgaben Goethes, zweitens eine damals auf dem editorischen Höhenkamm allerdings nicht durchsetzungsfähige Fokussierung des Kommentars. Im Bereich der Textkritik war Düntzer wohl der erste überhaupt, der angesichts der Mängel der ‚Ausgabe letzter Hand‘ eine kritische Goethe-Ausgabe forderte. Frühzeitig versuchte er auch Handschriften zu berücksichtigen, war hier zu seiner Zeit – und das heißt vor allem in den 1850er Jahren – auf sehr vereinzelte Zufallsfunde angewiesen. Sein Kenntnisstand ist also nicht zu vergleichen mit der Situation nach der Öffnung von Goethes Nachlass. Bereits 1850/51 hatte Düntzer im Auftrag des Verlages Cotta eine Oktavausgabe von Goethes Werken redaktionell betreut – seine editorische Urszene ____________ 51 52 53 54 55 56
Theodor Wilhelm Danzel hatte schon 1846 das erste Programm einer philologischen GoetheRezeption entwickelt; vgl. Kruckis 1994 (Anm. 29), S. 458 ff. Vgl. Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Fohrmann/Voßkamp 1994 (Anm. 29), S. 48–114, hier S. 70. Vgl. Weimar 1989 (Anm. 26), S. 225 f. Vgl. Weimar 1989 (Anm. 26), S. 228 und 239. Vgl. Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 86 f. Vgl. Kolk 1994 (Anm. 52), S. 184, sowie Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 108.
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und zugleich die wohl früheste nachhaltige Bemühung um die ‚Reinigung‘ des Goethe’schen Texts, aus Düntzers Sicht nur eine graduelle Besserung. Düntzer kollationierte „die Ausgabe in vierzig Bänden mit der letzter Hand“ und merkte „die in jene eingeschlichenen Druckfehler“ an.57 Doch darüber hinaus erweiterte er die Palette der editorischen Praktiken zu einer Pionierleistung, denn er hatte „auch die aus den früheren Ausgaben in die letzte Hand übergegangenen Druckfehler bezeichnet, meistentheils die ersten Drucke zu Rathe gezogen.“58 Damit näherte er sich einer ‚kritischen‘ Edition an, die auf einer Kollationierung sämtlicher gedruckter Textträger beruhte, war jedoch dabei in puncto Konjekturen nicht zurückhaltend. Konjekturalkritik war für ihn noch ein Zeichen von Kühnheit, nicht von Unwissenschaftlichkeit.59 Hierin äußert sich bereits die Problematik von Düntzers Vorgehen, denn nicht immer war zu klären, was Druckfehler, was vom Autor gewollte Textänderung war. Doch nicht genug: Düntzer sorgte auch für eine sprachliche Normierung in seinem Sinne, auch dies ein ihn bis zum Schluss kennzeichnendes Unterfangen, das aus seiner Sicht mit kritischem Arbeiten durchaus vereinbar, ja geradezu verbindlich dafür war: Aber zum Besten der Ausgabe habe ich, wozu ich nicht verpflichtet war, auch für bessere Rechtschreibung, Interpunktion und wenigstens in derselben Schrift durchgeführte Gleichmässigkeit der Form gesorgt.60
Ein solches Vorgehen beruht auf der Überlegung, Uneinheitlichkeiten der Schreibung seien dem Autor unbewusst unterlaufen, der von ihm intendierte Text sei sprachlich durchaus einheitlich – und die Konstruktion dieser Einheitlichkeit sei kritisches Edieren im Sinn des Autors. Dies wiederum ist um 1850 Standard der Deutschen Philologie Lachmanns, der mittels Konjekturalkritik normierte mittelhochdeutsche Texte herstellt und damit erst ein ‚klassisches‘ Mittelhochdeutsch konstruiert.61 Salomon Hirzel kritisierte in einer anonymen Rezension „alte und neue Druckfehler, fand Textentstellungen“62 und bedauerte, ____________ 57 58 59
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Heinrich Düntzer: Die Octavausgabe von Goethe’s Werken vom Jahre 1851. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Litteraturen 60, 1878, S. 459–466, hier S. 460. Düntzer 1878 (Anm. 57), S. 460. Vgl. seine Stellungnahme zur Kontroverse zwischen August Böckh und dem Philologen Gottfried Hermann, dessen „kühneres Verfahren Böckh nicht billigen konnte“ (Düntzer 1899, Anm. 27, S. 88.) Düntzer 1899 (Anm. 27), S. 464. Vgl. Weimar 1989 (Anm. 26), S. 226. Birgit Sippel-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf die Editionen deutscher „Klassiker“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14, 1974, Sp. 349–405, hier Sp. 364. (Für den Hinweis auf diesen Aufsatz danke ich Per Röcken, Berlin.)
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daß die geehrte Verlagshandlung, welche bei der Ankündigung dieser Ausgabe die Versicherung gab, daß dieselbe alle Wünsche befriedigen werde, wenigstens die Wünsche derer, welche vor allem endlich einmal einen correcten Text-Abdruck haben möchten, nicht gekannt zu haben scheint.63
Die lebenslange Kontroverse zwischen dem Einzelgänger Düntzer und einer sich – etwa mit Hirzels Edition Der junge Goethe – institutionalisierenden Goethe-Editorik hatte damit eingesetzt. Hirzels vernichtender Ausfall ist angesichts fehlender Vorarbeiten (und gerade in Anbetracht der weiteren, gemächlichen Fortschritte in der Goethe-Edition) ungerecht zu nennen. Bereits 1854 erschienen die praktisch folgenlos bleibenden einschlägigen Arbeiten Düntzers, eine überlieferungskritische Schrift zu Goethes Götz und Egmont64 sowie eine entstehungskritische Schrift, die sich mit mehreren Iphigenie-Entwürfen befasst und wohl erstmals hinsichtlich von Goethes Autorbewusstsein über den Entstehungsprozess reflektiert, damit über die Entwicklung Goethes, namentlich auch die Entwicklung seiner Sprache „zu jener klangvollen Reinheit, zu jener natürlichen, ruhigen Einfachheit“,65 innerhalb deren der lange Entstehungsprozess der Iphigenie ein wichtiges Durchgangsstadium war.66 Doch lagen Düntzer Handschriften vor, die er nun erstmals edierte: ein erster Entwurf aus Knebels Nachlass, die angebliche Abschrift einer zweiten, jambischen Fassung in der Handschrift Lavaters, drei weitere Handschriften einer dritten Fassung.67 Düntzer unternahm einen akribischen Fassungsvergleich, übersah freilich, dass die vermeintliche zweite ‚Fassung‘ in Lavaters Handschrift eine von diesem selbst stammende freie jambische Umschrift der Goethe’schen Vorlage ist. Dass dem so sei, nimmt bereits die Weimarer Goethe-Ausgabe 1897 zumindest an, heute steht es längst fest.68 ____________ 63 64 65
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Salomon Hirzel: [Rez.]. In: Literarisches Centralblatt für Deutschland vom 26. 10. 1850, Nr. 4, S. 86, zitiert nach Sippel-Amon 1974 (Anm. 62), Sp. 364. Vgl. Heinrich Düntzer: Goethe’s Götz und Egmont. Geschichte, Entwicklung und Würdigung beider Dramen. Braunschweig 1854. Die drei ältesten Bearbeitungen von Goethe’s Iphigenie. Hrsg. und mit zwei Abhandlungen zur Geschichte und vergleichenden Kritik des Stückes begleitet von Heinrich Düntzer. Stuttgart, Tübingen 1854, S. V. Vgl. Düntzer 1854 (Anm. 65), S. VI. Vgl. Düntzer 1854 (Anm. 65), S. 187–191. Vgl. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919, Abt. 1, Bd. 39, S. 454. Lavaters Handschrift wird nur im Anhang, in den Lesarten, mitgeteilt: S. 483–553. – Zum heutigen Kenntnisstand vgl. Terence James Reed: Iphigenie auf Tauris. In: Goethe-Handbuch. Bd. 2. Dramen. Hrsg. von Theo Buck. Stuttgart, Weimar 1997, S. 195–228, hier S. 200. Doch spricht diese editionsgeschichtliche Marginalie nicht einmal gegen Düntzers Spürsinn, war von einer unsorgfältigen, rasch hingeworfenen Bearbeitung die Rede und wurde der Text nur auszugsweise mitgeteilt. Dort, wo Goethe möglicherweise geschludert hatte, mochte noch nicht einmal Düntzer auf vollständiger Textedition beharren.
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Nach dem Abdruck der drei Fassungen auf insgesamt 130 Seiten bietet Düntzer einen gut 200 Seiten umfassenden entstehungsgeschichtlichen und damit biographischen Kommentar. Der Fassungsvergleich findet teilweise synoptisch statt, in der Regel aber versucht Düntzer systematisch und detailfreudig Veränderungen der Lexik, der Syntax, der Wortstellung u. a. zu vergleichen. Ein genaues Studium der individuellen Dichtersprache schien nicht nur der Schlüssel zur Annäherung an den Dichter selbst, sondern, etwas profaner, auch der zur Konjekturalkritik. So hatte Lachmann bei der Herstellung eines normalisierten Iwein-Texts „sein durch intensive Sprachstudien erworbenes Sprach- und Stilgefühl“ mehr geleitet als eine kritische Methode.69 Düntzers Bemühungen zielten auf zweierlei ab, auf eine Annäherung an das Bewusstsein des Autors, als dessen Ausdruck er die „wiederholte Durcharbeitung“ eines poetischen Projekts bewertete, und auf die „richtigere[ ] Deutung und Würdigung zahlreicher Stellen“, auf das Textverstehen im Detail also.70 Die zeitgenössische Kritik reagierte mit Unverständnis auf das Buch.71 Es scheint nun, dass Düntzers frühe Arbeiten zur Goethe-Editorik schneller veralteten, als es notgetan hätte, vermutlich stießen sie in dem noch nicht hinreichend goethefreundlichen Klima der 1850er Jahre einfach auf wenig Resonanz. Gut ein Jahrzehnt später jedenfalls ist Michael Bernays der Mann der Stunde.72 Ein weiteres Jahrzehnt später begründet Wilhelm Scherer, abgesichert durch eine erste neugermanistische Professur, Begriff und Institution der ‚Goethe-Philologie‘ und muss Düntzer nur noch eine Randposition zuweisen.73 Das Edieren neuerer deutscher Literatur ist nun aber mit dem Nimbus des
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Vgl. Uwe Meves: Karl Lachmann (1793–1851). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 20–32, hier S. 29. Beide Zitate: Düntzer 1854 (Anm. 65), S. 125. – Tilp irrt, wenn er in Düntzers Arbeitsweise bereits „die Textgenese als philologisches Ziel der Darstellung“ erkennen möchte (Tilp 2003, Anm. 11, S. LXX). Nicht einen langen Arbeitsprozess, sondern mehrere Fassungen als jeweilige ‚Stationen‘ nimmt Düntzer in den Blick. Textgenetisch arbeitet Düntzer freilich, wenn er überhaupt die Textentstehung vor dem Erstdruck zu problematisieren beginnt. „In diesem Drama, wie es künstlerisch vollendet vor uns liegt, erkennt Ref. eine geniale Schöpfung. Aber zu wissen, wie diese allmälig entstanden sei, das hat an sich weiter gar keinen Werth. Es ist ein Curiosum und weiter nichts.“ Zu Düntzers Fassungsvergleich: „Es ist eine völlig inhaltsleere Wortmacherei, wie sie jeder Mensch von einiger Bildung zu seinem Amusement mit Leichtigkeit niederschreiben kann“ (N. N.: Die drei ältesten Bearbeitungen... [Rez.]. In: Leipziger Repertorium der deutschen und ausländischen Literatur 47, 1854, S. 256 f., Zitate S. 257). Vgl. Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. Vgl. den Beitrag Bernd Hamachers im vorliegenden Band sowie Michael Schlott: Michael Bernays (1834–1897). In: Wissenschaftsgeschichte 2000 (Anm. 69), S. 69–79. Siehe Abschnitt 7.
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Professors durchaus vereinbar – Goethe-Editionen erhalten paradigmatische Bedeutung für die Geschichte der Edition überhaupt.74 In einer Kontroverse mit Adolf Schöll und Michael Bernays im Jahr 1866 gibt sich Düntzer als Anhänger der späten Textstufen von Goethes Werken und somit grundsätzlich des Primats der ‚Ausgabe letzter Hand‘ vor einer auf Erstdrucken des jungen Goethe beruhenden Ausgabe zu erkennen – ironischerweise nimmt er frühzeitig eine Position ein, die zehn und zwanzig Jahre später seine Weimarer Gegner um von Loeper, Scherer und Erich Schmidt auszeichnet, deren allzu blauäugige Orientierung an der ‚Ausgabe letzter Hand‘ Düntzer später mit gutem Grund brandmarkt. Wesentlich radikaler und konsequenter als Düntzer zuvor kann Michael Bernays nachweisen, dass Schreiber und Setzer störend auf das Wort Goethes wirkten, dass zumal Goethe selbst irrtümlich einen Raubdruck, die sog. Himburg’sche Ausgabe, für seine vierbändige bei Göschen erschienene Werkausgabe zugrunde legte und durch seine passive Autorisation Fehler in den Text einführte, die sich von Ausgabe zu Ausgabe fortpflanzten und auch in der ‚Ausgabe letzter Hand‘ nicht fehlten. Bernays lehrt erstmals den Entstehungsprozess des Werther von der Handschrift bis zu den stark abweichenden Druckfassungen nachzuvollziehen. Damit verkörpert er einen ganzen Schub editorischen Selbstbewusstseins in der Editionsgeschichte von Goethes Werken, die vor allem mit der Konzentration auf den ‚jungen Goethe‘ Auswirkungen in der Praxis zeitigt, indem der Herausgeber sich von nun an nicht immer als der ‚Testamentsvollstrecker‘ des Autors sehen möchte.75 Bernays räumt ein, dass der ästhetische Genuss auch bei ihm der philologischen Aufgabe, „die kritisch bessernde Hand anzulegen“, im Weg gestanden habe.76 Als Vorläufer des Goethe-Philologen Bernays wird in der Regel nur Lachmann, nicht Düntzer genannt.77 Dabei darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Bernays noch auf die „divinatorische Kraft“ des Kritikers zählen möchte: der „Geist des Kritikers muß sich schöpferisch erweisen.“78 Damit wertet er den Kritiker im Vergleich zum Autor deutlich auf. Insofern Bernays und Düntzer sich dem Fassungsvergleich widmen, nicht schon der Untersuchung von Entstehungsvarianten, sind sie doch beide nach wie vor editorische Avantgarde. Denn den ____________ 74 75 76 77
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Vgl. Nutt-Kofoth 2005 (Anm. 15), S. 95. Vgl. Nutt-Kofoth 2005 (Anm. 15), S. 97 f., Zitat S. 98. Bernays 1866 (Anm. 72), S. 4. Vgl. Karl Robert Mandelkow: Einleitung. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. T. III: 1870–1914. Hrsg., eingeleitet und kommentiert von Karl Robert Mandelkow. München 1979, S. XV–LXVII, hier S. XXIII. Bernays 1866 (Anm. 72), S. 7 f..
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Mut, dem Autor unterlaufende Irrtümer in Gestalt von Überlieferungsvarianten zu emendieren, haben in der Regel erst die Editoren des 20. Jahrhunderts.79 Düntzer traut Goethe – trotz des Lapsus mit der Himburg’schen Ausgabe – grundsätzlich mehr Genauigkeit bei der Revision seiner Texte zu, denn er argumentiert, man habe Himburgs Änderungen stehenlassen müssen, „da Goethe einmal die Himburg’sche [Textgestalt] hat durchgehen lassen.“80 Wie subjektiv Bernays’ Textkritik – kaum anders als die Düntzers – noch ist, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass Bernays als eigentlicher Editor dann doch nicht auftritt und dass der Duktus seines Buches zugleich narrativ und induktiv ist, also seinen Forschungsprozess als Ich-Erzählung dem Leser nachvollziehbar macht. Düntzer weist in seiner Rezension zu Recht darauf hin, dass erstens durch das Heranziehen von Raubdrucken entstehende Textfehler oder auch nur zweitens die Unachtsamkeit Goethes gegenüber der Textgestalt in seinen Werkausgaben noch keine hinreichenden Argumente dafür boten, grundsätzlich auf die früheste autorisierte Textgestalt zurückzugehen, wie Bernays und Samuel Hirzel das mit dem ersten Jungen Goethe taten. Düntzer plädiert vielmehr für einen textkritisch möglichst gut abgesicherten späten autorisierten Text – anders als es jüngere textgenetische Positionen behaupten, ist für Düntzer Überarbeitungspraxis gleich Verbesserung des Texts auf finale Perfektion hin81 – und nimmt eine durchaus legitime Position ein, die freilich im 19. Jahrhundert schon deswegen schwer zu vermitteln war, da der alte Goethe mit seinem kaum verstandenen Spätwerk eine eher geringe Geltung besaß. Düntzer ist Sachwalter des späten Goethe, als, durch Bernays wohlbegründet, der frühe in den Fokus gelangt. In der Hempel’schen Ausgabe ediert er die noch kaum kanonwürdigen Wanderjahre; die Einleitung beginnt mit dem Satz: „Eine fast noch vorurtheilsvollere Ungunst als den zweiten Theil des Faust pflegt Wilhelm Meister’s Wanderjahre zu treffen“82 – der Außenseiter nimmt sich der sperrigeren Texte des Altmeisters an. ____________ 79
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Vgl. Anne Bohnenkamp: Autorschaft und Textgenese. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. 24), S. 62–79, hier S. 66 und 68. [Heinrich Düntzer: Rez.] Zur Kritik des Goethe’schen Textes. In: Allgemeine Zeitung Nr. 359/360 (Beilage), 25. und 26. 12. 1866, S. 5914 f. und 5930 f., hier S. 5914. Vgl. S. 5915 zum Clavigo: „Wenn er [sc. Bernays] hier alle Abweichungen der zweiten und dritten Ausgabe dem Setzer und Corrector zuschreibt, so fehlt dazu jede Berechtigung.“ Vgl. Düntzer 1866 (Anm. 80), S. 5931. Heinrich Düntzer: Vorbemerkung des Herausgebers. In: Goethe’s Werke. Achtzehnter Theil: Wilhelm Meister’s Wanderjahre. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet von Heinrich Düntzer. Berlin o. J., S. 5–24, hier S. 5.
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Der gegen Düntzers Bernays-Rezension polemisierende Adolf Schöll preist ein die Erstdrucke einbeziehendes Kollationieren als editorisches Allheilmittel an, als seien grundsätzlich spätere Ausgaben von fremden Einflüssen, namentlich Druckfehlern, beeinträchtigt.83 Damit nimmt er eine wohl extremere Position als Bernays ein – unter Reinigung von fremden Einflüssen möchte Schöll wiederum nichts als das Zurückgehen auf die früheste autorisierte Ausgabe verstehen, da bei allen Textänderungen in späteren Ausgaben zwischen Druckfehlern und Goethe’schen Entstehungsvarianten nicht klar zu trennen sei. Düntzer spricht er jene editorische Kongenialität ab, die es ihm gestattete, Druckfehler von Autorvarianten zu unterscheiden. Nicht nur auf der Ebene der Konjekturalkritik, sondern auch auf der der Emendation muss Düntzer zurückstecken: Aber woran erkennt man denn diese Aenderungen Goethes in Ausgaben, die doch ebenfalls Druckfehler, auch vererbte, auch von Herrn Düntzer anerkannte enthalten? Er giebt kein objectives Merkmal dafür, kann auch keins geben; was genügen muß, ist – Herrn Düntzers Belieben.84
Nur an einer Stelle, und dann eher sarkastisch als sachlich, bringt Schöll den heutigen Editoren vermutlich am ehesten willkommenen Vorschlag ein, nämlich die Konsultation der Handschrift. Hier zeichnen sich die Vorteile der Berlin-Weimarer Goethe-Partei ab: „Herr v. Loeper kann Herrn Düntzer sagen, daß es im Manuskript steht.“85 Düntzer pocht auf einen von Bernays totgeschwiegenen Aufsatz aus dem Jahr 1857, in dem er bereits „Die Herstellung einer vollständigen kritischen Ausgabe von Goethe’s Werken“ projektiert hatte und zumindest in Teilen den Kenntnisstand Bernays’ und Schölls vorweggenommen hatte.86 Dass Goethe bei der Herausgabe der eigenen Werke nicht genau gearbeitet hatte und sich daher Druckfehler eingeschlichen hatten, weist Düntzer hier in extenso nach und verweist insbesondere auf die vierbändige Göschen-Ausgabe (deren Textgrundlage freilich erst Bernays ermitteln wird). Immer wieder kommt Düntzers ____________ 83
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A. Schöll: Zur Kritik des goetheschen Textes. In: Die Grenzboten 26, 1867, Bd. II, S. 106– 113. – Düntzer kontert in seiner Autobiographie, er habe den von seiner „philologischen Ausbildung gebotenen Grundsatz, auf den ersten überlieferten Wortlaut zurückzugehen, an einem großen Theile von Goethes Werken ausgeführt [...], ehe Bernays für die Wissenschaft zur Welt gekommen war“ (Düntzer 1899, Anm. 27, S. 181). Schöll 1867 (Anm. 83), S. 110. Schöll 1867 (Anm. 83), S. 111. – Diese Bernays-Düntzer-Kontroverse dürfte im Vorfeld des Bismarck’schen Kulturkampfs u. a. auch konfessionell motiviert sein, zumal wenn man bedenkt, dass Antikatholizismus als zentrales Motiv von Bernays’ wissenschaftlicher Tätigkeit genannt wird (vgl. Schlott 2000, Anm. 72, S. 77). Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1857, S. 232–260.
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Fetisch, „die erstrebte Gleichheit in den Formen“, also die organische Einheit von Goethes Stil, zum Tragen.87 Nicht anders als 30 Jahre später die Weimarer Ausgabe beharrt Düntzer auf der ‚Ausgabe letzter Hand‘ als Textgrundlage, da sie schließlich autorisiert sei – hinzukommen müssten die Lesarten der früheren durch Goethe absichtlich vorgenommenen Textänderungen.88 In die künftige Ausgabe wollte Düntzer nicht nur dasjenige aus dem Nachlass aufnehmen, das Goethe zur Publikation bestimmt hatte, sondern alles, worauf „sein Geist sich schöpferisch ausgeprägt hat“89 – das konnte neben den Briefen schlicht alles sein, was sich im Nachlass fand. Wie Lachmann als Lessing-Herausgeber ist Düntzer die Anordnung von Goethes Werken wichtig, die er ausführlich entwickelt. Schließlich ruft er die geplante Goethe-Ausgabe zur nationalen Aufgabe aus. Stets sind Leben und Werk Goethes für ihn eine Einheit, ist ihm die als organisch begriffene deutsche Nationalliteratur insgesamt ein Anliegen, wo man in der Regel nur die Kleinteiligkeit seiner Konjekturen und Kommentare wahrnehmen wollte.90 Was in den fünfziger Jahren noch inopportun war, nämlich eine ‚GoethePhilologie‘, passt in die Jahre 1866/1867 sehr gut. Nun fällt das KlassikerPrivileg, gleichzeitig ist Deutschland auf dem Weg zur nationalen Einheit: Bernays erfüllt mit seinem Buch seine vaterländische Pflicht – Düntzer war zu früh gekommen; und er besitzt zu keinem Zeitpunkt Zugang zu Goethes Nachlass. Dies zwingt ihn, von nun an vorwiegend reaktiv, als Rezensent, an der weiteren Editionsgeschichte von Goethes Werken teilzunehmen.
6.
Düntzers ‚Goethe-Philologie‘ II: ‚Erklärung‘
Parallel zur Konsolidierungsphase der mediävistisch-philologisch ausgerichteten Germanistik seit den 1850er Jahren verfasst Düntzer seine 85 Bändchen mit Kommentaren zu Texten der ‚klassisch‘ gewordenen deutschen Literatur von Lessing bis Uhland. Düntzer begleitet damit auf seine, den KlassikerMarkt bedienende Weise die zunehmende Bedeutung der Deutschen Philologie für die Ausbildung von Lehrern höherer Schulen und indirekt damit auch für den Deutschunterricht, der zu einem bevorzugten Ort der Klassikerexegese wird. Dem Pedanten Raat aus Heinrich Manns berühmtem Roman wäre der Pedant Düntzer zuzugesellen, der mit seinen Erläuterungsbänden dem Schul____________ 87 88 89 90
Düntzer 1857 (Anm. 86), S. 233. Vgl. Düntzer 1857 (Anm. 86), S. 237. Düntzer 1857 (Anm. 86), S. 250. Vgl. Briefwechsel Düntzer/Varnhagen 2003 (Anm. 11), S. XXXVI.
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mann erst die für zeilengenaues Lesen und Examinieren benötigten Materialien an die Hand gibt. Die nationalliberale Ausrichtung von Düntzers Schaffen verändert sich indessen nicht. Das Schlüsseljahr 1854, in dem sowohl der Iphigenie-Band als auch die ersten Kommentare erscheinen, kennzeichnet Düntzers neues, doppelgleisiges Arbeiten, das offenbar einsetzt, sobald ein nachmärzlicher Enttäuschungsschub verwunden ist.91 Darauf deutet auch der Briefwechsel Düntzers mit Varnhagen von Ense hin.92 Düntzers Kompetenz und Arbeitskraft fließen in den 1870er Jahren in die Kommentare zur Italienischen Reise, zum Westöstlichen Divan und zum Faust in den einschlägigen Bänden der Hempel’schen Ausgabe ein, die immerhin noch die zweite Auflage des Goethe-Handbuchs von 1961 zu rühmen weiß.93 Der direkte Vergleich von Düntzers Stellenkommentar in seinem damals singulären Erläuterungsband zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller mit Manfred Beetz’ Kommentarband innerhalb der Münchner Goethe-Ausgabe erbringt erhebliche Lücken und auch Irrtümer des Vorgängers, doch sind viele seiner Erläuterungen korrekt, erweisen sich viele Querverweise als hilfreich.94 Keineswegs ist dieser Stellenkommentar ausschweifend und gängelnd, er beschränkt sich fast immer auf knappe, wenige Zeilen umfassende Lemmata. Eine epische Entlastung erzielt Düntzer durch eine Zweiteilung aller Jahreskapitel seines Erläuterungsbandes. Nach annalistischem Prinzip erfolgt eine werkbiographisch orientierte Darstellung der Beziehung zwischen Goethe und Schiller ‚von Tag zu Tag‘. Erst danach kommen, in kleinerem Schriftgrad, nach Briefnummern geordnet, die besagten Kommentarpassagen. Auf einen detailreichen, manchmal blumigen Fließtext muss der Band also nicht verzichten, er kann dennoch erstaunlich sachliche Information bieten. Neudatierungen und Änderungen der Briefabfolge sowie die Ergänzung fehlender Briefe vervollständigen Düntzers Handbuch. Dem Rezensenten der Allgemeinen Zeitung gilt Düntzer bereits unter Goethes Kommentatoren als ____________ 91
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Allerdings hatte Düntzer auch im Goethejahr 1849 öffentlich zu Goethe als angeblichem „Gewährsmann des revolutionären Verhaltens“ Stellung bezogen (Briefwechsel Düntzer/Varnhagen 2003, Anm. 11, S. XXXII). Vgl. Briefwechsel Düntzer/Varnhagen 2003 (Anm. 11), S. LII ff. Vgl. Ernst Grumach, Waltraud Hagen: Edition. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. von Alfred Zastrau. Bd. 1. 2. Aufl. Stuttgart 1961, Sp. 1993–2061, hier Sp. 2044. Vgl. Heinrich Düntzer: Schiller und Goethe. Uebersichten und Erläuterungen zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Stuttgart 1859, sowie Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 8,1 und 8,2: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hrsg. von Manfred Beetz. München, Wien 1990.
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Jochen Strobel der thätigste, nicht immer geschmackvoll, aber immer voll gründlicher Sorgfalt, manchmal pedantisch, dafür aber auch verläßlich und gelehrt, nicht ohne Breite, dafür aber auch den Gegenstand wo möglich erschöpfend.95
Das erfolgreiche Buch besitzt nicht nur Pioniercharakter in der Geschichte germanistisch-editorischer Kommentare, es dürfte auch zum Politikum geworden sein, erschien es doch im Jahr der Schillerfeiern von 1859. Zumindest steht zu vermuten, dass sein Part darin bestand, das Dioskurenpaar in seinen menschlichen und beruflichen Beziehungen ‚lesbar‘ zu machen. Zweifellos war die Korrespondenz, die 1856 in einer zweiten, durch den MorgenblattRedakteur Hermann Hauff verantworteten Ausgabe erschienen war, schon damals kommentierungsbedürftig.96 Auf eine Stärkung nationaler Identität im Medium des Kommentars richtet sich Düntzers Buch, explizit benannt als „Gabe zur Jubelfeier Schiller’s“, durchaus.97 Der Anlage nach ist der Kommentar durchaus nicht mikrologisch, sondern einer Synthese, eben derjenigen der beiden nationalen Dioskuren, verpflichtet. Vielleicht erstmals werden so aus Briefen, ähnlich wie die sorgfältig edierten Texte des Mittelalters, „kostbare[ ] Denkmäler“,98 dürfen Briefe Einfluss nehmen auf „deutschen Geschmack und Bildung“.99 Düntzers Sprache indessen verzichtet besonders dort, wo sie vom Detail absehen und aufs Ganze gehen kann, auf philologische Nüchternheit und nähert sich mit seiner werkbiographischen Narration bald dem Kitsch an: Unter Italien’s reinem Himmel, im Anschauen seiner wonnigen Natur, seiner ewigen Kunstwerke sollte Goethe’s Sprache jenen wundervollen Farbenschmelz gewinnen, welcher uns zuerst aus ‚Iphigeniens‘ Lilienkelch lieblich zart anlächelt, dann aber aus ‚Tasso’s‘ duftigem Rosengarten mit selenvoller Reinheit uns funkelnd umstrahlt.100
Der im Schillerjahr erschienene Kommentar sowie die bald nach der Revolution und dem Goethejahr 1849 einsetzenden editorischen Neuerungen Düntzers legen die These nahe, dass auch literarische Gedenktage Auslöser editorischer Praktiken sein können. In der aus nationalliberalem Blickwinkel höchst dürftigen Zeit der ‚Reaktion‘ zwischen 1849 und Anfang der 1860er Jahre konnte ____________ 95
N.N.: [Rez.] Schiller und Goethe. Uebersichten und Erläuterungen zu ihrem Briefwechsel. In: Allgemeine Zeitung, Nr. 306, 2. 11. 1859, S. 5001 f., hier S. 5001. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hrsg. von Hermann Hauff. 2., nach den Original-Handschriften vermehrte Ausgabe. Stuttgart, Augsburg 1856. 97 Düntzer 1859 (Anm. 94),Vorwort, S. VI. 98 Düntzer 1859 (Anm. 94), S. VI. 99 Düntzer 1859 (Anm. 94), S. 1. 100 Iphigenie 1854 (Anm. 65), S. 371. 96
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die nationale Mythologie in scheinbar nur sach- und sprachbezogener Kleinarbeit kanalisiert werden. Düntzers Erläuterungen gehorchen seinem hermeneutischen Ehrgeiz; er steht damit im Kontext der etwa 1840 einsetzenden Frühgeschichte eines Klassiker-Kommentars mit „reduzierte[r] Interpretation“, wie man ihn bald in Schulen brauchen konnte, um „das Sinndepot des Dichterlebens und der Dichterseele an[zu]steuern“.101 Schon Lachmann hatte in Vorüberlegungen zu seiner Lessing-Ausgabe auf die wünschbare Ergänzung der Edition durch eine Biographie hingewiesen, zu der er immerhin Vorarbeiten geleistet hatte.102 Die Geschichtsschreibung des editorischen Kommentars hat Düntzers Leistung verdunkelt, obgleich er selbst an dieser Geschichte regen Anteil hat. Dazu gehört die bis fast zur Gegenwart fortbestehende Abstinenz des historischkritischen Edierens gegen Kommentierung – nicht zuletzt waren viele von Düntzers hermeneutisch ambitionierten Erläuterungsbänden seinen puristisch argumentierenden Kritikern gerade recht. Düntzers zahlreiche, nun bald sehr kleinformatige und im Vergleich zum Goethe-Schiller-Kommentar tatsächlich sowohl sachlich kleinteilige als auch exegetisch gängelnde Klassiker-Bändchen muten schon äußerlich wie die Vorfahren von Königs und Reclams Erläuterungen an. Wenn sich hier der Gebildete angesprochen fühlen soll, so wird doch in der Praxis der zu Bildende, der Gymnasiast, der typische Leser gewesen sein. Mit der Universität des späten 19. Jahrhunderts hat alles das natürlich nichts mehr zu tun. So steht Düntzer auch als Kommentator allein da. HansGert Roloff nennt als einzige Parallele um 1850 Friedrich Zarnckes Narrenschiff-Kommentar.103
7.
Düntzers Positionierungen im Institutionalisierungsprozess der Scherer’schen Goethe-Philologie
Die Veränderungen im Universitätsbetrieb nach Humboldt hat Düntzer ignoriert; auf Generalangriffe seitens der jeweiligen Inhaber der Diskurshoheit hat er en détail reagiert und damit ohne Wirkungen im Fach zu erzielen, wo es zunehmend um globale Einschätzungen und um ‚Synthesen‘ ging. Eine akademisch geleitete Goethe-Philologie beginnt sich nun von den ‚Dilettanten‘ abzugrenzen, wozu sie den institutionell benachteiligten Düntzer, dessen ____________ 101 Weimar 102
1989 (Anm. 26), S. 403 und 398. Vgl. Karl Lachmann: [Unterdrückte Vorrede der Lessing-Ausgabe]. In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 7–13, hier S. 8. 103 Vgl. Roloff 1993 (Anm. 10), S. 13.
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Kompetenz gewiss enorm ist, der Einfachheit halber mitzählt. Zugleich beginnt sich bis etwa 1870 die auch von Düntzer betriebene ‚mikrologische‘ Methode – das heißt aber: eine gerade programmatisch schwache Methode – durchzusetzen.104 Erst kurz vor und um 1871 kommt der Fluchtpunkt ‚Nation‘ hinzu, den es bei Düntzer längst gegeben hatte. Düntzers Leistungen werden von der universitären Goethe-Philologie, wie Hans-Martin Kruckis vermutet, vergessen, „weil neue Ursprungsmythen den eigentlichen Beginn des Faches lieber direkt in die höhere universitäre Sphäre verlegen“,105 soll heißen: in eine durch wirkmächtige, institutionenbildende Kollektive geprägte Sphäre, die ihre eigenen universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse hervorbringt, in denen Düntzer als Einzelkämpfer neben dem schnellebigen Rezensionswesen nur das Instrument der autobiographischen Abrechnung bleibt. Wilhelm Scherers methodische Leistung besteht darin, das empirische Material als Ausgangsbasis „zur Erkundung übergreifender Sinnzusammenhänge“106 zu nutzen, Beziehungen zwischen Textgestalt und historischer Wirklichkeit herauszuarbeiten, ästhetische Gesichtspunkte nicht zu kurz kommen zu lassen – und das alles unter der Prämisse: „Nationalcharakteristik ist das letzte Ziel.“107 Dies kennt man zumindest dem Anspruch nach ähnlich auch von Düntzer – die Denunziation von dessen Werk als bloß kleinteilig-trockene Mikrologie kann erst vor dem Hintergrund von Scherers mit Distinktionsehrgeiz verbundenem Siegeszug zum Skandalon werden. Düntzer ist spätestens im direkten Vergleich mit Scherer ein Verlierer der Editions- wie der Wissenschaftsgeschichte. Die Debatten des späten Düntzer mit der Scherer-Schule kreisen um die Legitimität der philologischen Kritik Düntzers einerseits, die der spekulativen Anteile Scherers andererseits.108 Scherers programmatischer Aufsatz GoethePhilologie strebte eine Art Diskurshoheit mittels Homogenisierung der noch „stark subjektive[n]“, auseinanderdriftenden philologischen Auffassungen an.109 Auch Scherer begründet seine Vorstellung von Goethe-Philologie mit der Vordringlichkeit einer nationalen Aufgabe, zu deren Lösung das gesamte öffentliche Leben wie auch die Universitäten aufgerufen sind. Zu diesem Zweck gilt es, die vorhandenen Parteien am eigenen Kurs auszurichten. Scherer er____________ 104 Vgl. Kruckis 1994 (Anm. 11), S. 105 Kruckis 1994 (Anm. 11), S. 471. 106
472 ff.
Wolfgang Höppner: Das „Ererbte, Erlebte und Erlernte“ im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik. Köln u. a. 1993 (Europäische Kulturstudien. 5), S. 18. Wilhelm Scherer: [Notiz im Nachlass]; zitiert nach Höppner 1993 (Anm. 106), S. 13. – Vgl. auch Kruckis 1994 (Anm. 11), S. 481. 108 Vgl. Kruckis 1994 (Anm. 11), S. 276 ff. 109 Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker III 1979 (Anm. 77), S. 78–90, hier S. 80. 107
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kennt „Herausgeben und Erklären“110 Düntzers durchaus an – wie sollte er auch anders. Doch schränkt er den Gebrauchswert von Düntzers Elaboraten durchaus ein: Es geht Scherer ohnedies nur um die Kommentare – Düntzers nachhaltigere Leistungen –, nicht um seine Editionen. Die Kommentare werden als Nachschlagewerke, als Begleittexte zur Goethe-Lektüre anerkannt, nicht etwa als Lesebücher von eigener Dignität. Als Mankos werden Untersuchungen zu Goethes Stil und zu seiner poetischen Technik genannt – die historische Kontextualisierung von Goethes Werk kann Düntzer nicht ernstlich abgesprochen werden. Düntzer revanchiert sich ab 1891 mit jährlich in der Zeitschrift für deutsche Philologie erscheinenden, höchst kritischen und detailfreudigen Rezensionen jedes einzelnen Bandes der Weimarer Goethe-Ausgabe. Damit wird Düntzer aber zum ersten jener Kritiker an dem Großunternehmen, die schon frühzeitig den im gesamten 20. Jahrhundert und noch bis heute folgenreichen Ruf nach einer Revision erschallen lassen.111 Düntzer moniert vor allem die Übereilung der Ausgabe, deren Initiatoren ihrem offenbar dringlichen Wunsch nach Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit allzu rasch nachgegeben haben: Von gründlicher untersuchung der sachlage, von einer ins einzelne gehenden nachweisung der mängel der zu grunde liegenden ausgabe letzter hand, von eindringlicher durchforschung des handschriftlichen nachlasses, auf dessen bereicherung man in nächster zeit hoffen durfte, war keine rede.112
Düntzer, der Jahrzehnte vorher angesichts seiner (nicht unkritischen!) Bevorzugung der späten Fassungen von Goethes Texten angegriffen worden war, kennt die Mängel der ‚Ausgabe letzter Hand‘ genau und kann dieses Wissen nun gegen seine Kritiker von einst wenden, die sich zu einer unhinterfragten Orientierung an dieser Ausgabe entschlossen haben. In einer Entgegnung auf Düntzers erste Rezension muss Gustav von Loeper trotzig einbekennen, man habe das Prinzip der ‚letzten Hand‘ bekräftigt als „Gipfel“ und „Abschluss“ von Goethes Entwicklung.113 Eine Nachlässigkeit Goethes bei der Revision seiner Texte möchte von Loeper entweder nicht wahrhaben oder doch demütig ignorieren. So hatte man auch eine (von Düntzer eingeklagte) Durchsicht der ja nun verfügbaren Handschriften zwecks Verbesserung der ‚Ausgabe letzter Hand‘ unterlassen. ____________ 110 Scherer (Anm. 109), S. 83. 111 Aus editionsgeschichtlicher 112
Sicht vgl. Nutt-Kofoth 2005 (Anm. 15), S. 99. Heinrich Düntzer: [Rez.] Goethes Werke [...] Weimar 1887/88. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 22, 1891, S. 294–349, hier S. 294 f. 113 Gustav von Loeper: [Entgegnung auf Düntzers Rezension der Weimarer Goethe-Ausgabe]. In: Goethe-Jahrbuch 12, 1891, S. 276–281, Zitate S. 276.
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8.
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Düntzer in der Editionsgeschichte – Düntzer in der Wissenschaftsgeschichte
Für die Erklärung und Edition Goethe’scher Texte durchaus neuartig, in der auf Abschließung drängenden Wissenschaftslandschaft aber ein Skandalon waren Düntzers Versuche als Privatdozent und danach, die Grenzen zwischen universitärem und literarischem Feld zu überschreiten. Es gelang, insofern Düntzer etwa als gestrenger Rezensent bis zuletzt eine Autorität war, es gelang zudem, insofern seine Biographien und vor allem seine Kommentare erfolgreich waren. Doch war es u. a. dieser kommerzielle Erfolg, den seine universitären Kritiker ihm anlasteten. Die Serialität seiner Kommentar-Produktion dürfte indessen als kanonstiftender und -sichernder Akt auch der Absicherung der Deutschen Philologie in ihrer breitenwirksamen Neueren Abteilung genützt haben. Besagte Serialität zeugt auch davon, dass Düntzer als WissenschaftlerTypus schon aus Sicht des frühen 19. Jahrhunderts ein Anachronismus war, nämlich ein immens gelehrter Polyhistor, nicht jedoch ein moderner Wissenschaftler, der zunehmend an der Konzeptualisierung von Wissen, an der methodologischen Aufbereitung gemessen zu werden pflegt.114 Auch in dieser Hinsicht muss Düntzer den Positionskämpfen zwischen Etablierten einerseits und Nachrückern plus Außenseitern andererseits unterliegen, hat er doch nach den 1850er Jahren kein schlagendes, kein prospektives Konzept mehr zu bieten, und zur Jahrhundertwende hin nur ein Fazit, das autobiographisch, damit aber immens narzißtisch ausfällt und in dem er in alle für ihn aufgestellten Fallen tappt. Düntzers philologische Leistungen mögen bemerkenswert, wenn auch nicht außerordentlich sein. Etwas anderes ist die Frage nach dem Grund für das Notorische, das ihm anhaftet. Wozu brauchte man Düntzer zu Lebzeiten, welche Funktion hat er bis heute zumindest im Diskurs der Philologen, jetzt in der Editionswissenschaft? Statt mit dem gewohnten ‚Scheitern‘ (das nur allzu gewöhnlich ist und Gedächtnis in der Regel nicht rechtfertigt) sei Düntzers Biographie mit einem in der Wissenschaftshistoriographie meines Wissens noch nicht gebräuchlichen Begriff belegt, dem der Negativkanonisierung. Simone Winko hat ihn anhand der Funktion August von Kotzebues für die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt; sein Kern ist der „Widerspruch zwischen der behaupteten fehlenden Kanonizität und dem ____________ 114
Vgl. Gelehrtenleben 2008 (Anm. 17), passim.
Heinrich Düntzer
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allgemeinen Wissen darum“.115 Warum überhaupt musste damals, muss heute noch Düntzer bemüht werden, wenn seine wissenschaftlichen Fehlleistungen, vor allem deren Kleinteiligkeit, doch so offen zutage liegen? Im universitären Feld wäre zu unterscheiden zwischen Debatten der Etablierten untereinander, die zu Schulbildungen und spezifischen Kämpfen um Einfluss führen, sowie den Abwehrkämpfen gegenüber Außenseitern und Randfiguren, mittels deren Bekämpfung sich das Profil der schon Etablierten schärfen lässt. Die durch Wilhelm Scherer 1877 definierte Goethe-Philologie bildet ein institutionelles Zentrum der in der Gründerzeit entstehenden Neueren deutschen Literaturwissenschaft, deren erster prominenter Vertreter Scherer selbst ist. Nicht zufällig ist die zweite schulbildende neugermanistische Gründerfigur Michael Bernays. Der institutionell längst unterlegene Düntzer – den Kampf um einen Platz an der Universität hatte er Jahrzehnte vor Begründung der Goethe-Philologie ausgerechnet als Goethe-Philologe in der Frontstellung gegen Ritschl und andere verloren – eignet sich als Dauergegner, als „der sprichwörtliche Träger aller Sünden“116 und Exponent einer Philologie, von der man sich dezidiert absetzen möchte. Er ist zugleich streitbar und doch wehrlos genug, um als bedrohlicher Antitypus gekennzeichnet und vernichtet werden zu können: Statt einer offensichtlichen Ganzheitlichkeit der philologischen Betrachtung bietet er philiströse Detailfreudigkeit, statt wissenschaftlicher Genialität pedantischen Faktenbezug, statt der nun zunehmend geforderten ästhetischen Einfühlung amusische Trockenheit und zugleich übertriebene Kritikfreudigkeit als Rezensent. Egal also, ob Philologie oder Geistesgeschichte – Düntzer konnte als Schreckbild gepflegt werden und als Opfer. Liest man Düntzer mit René Girards Sündenbock-Theorie,117 dann müssen in Krisensituationen – und die Etablierung einer Wissenschaft vom Orchideen- zum Massenfach ist zweifellos eine Krisensituation – Außenseiter ‚geopfert‘ werden, damit das Heterogene der Strömungen innerhalb der Community überdeckt werde durch die im Kampf gegen jene lebendig werdende Einigkeit. So ungleiche Partner wie Scherer, von Loeper und von Biedermann konnten auch in der gemeinsamen Abwehrhaltung gegen einen Düntzer zueinanderfinden – wobei nach außen hin, mit Einschränkungen, sogar Düntzer ein gewisser Respekt gezollt werden darf. Gustav von Loeper lobte Scherers Aufsatz GoethePhilologie gerade auch wegen dieser verhaltenen Anerkennung Düntzers, „auf ____________ 115
Simone Winko: Negativkanonisierung: August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Kanon – Macht – Kultur. Historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Hrsg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart, Weimar 1998 (Germanistische Symposien. 19), S. 341–364, hier S. 341. 116 Meyer 1902 (Anm. 3), S. 244. 117 Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt/Main 1992.
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den Jeder herabsehn zu können glaubt; Ihr Artikel wird ihn zwar nicht ganz befriedigen, da man Düntzer einmal nicht ohne Vorbehalt loben kann, aber doch erfreuen.“118 Jederzeit bleibt Düntzer der Gegner, auf dessen Angriffe man sich verlassen kann und gegen den man sich zu verteidigen wissen wird. Schon zwei Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes der Weimarer Ausgabe schrieb von Loeper an Scherer: Ganz still duckt sich Düntzer; er lauert wie ein Habicht und wird auf die Beute stoßen, sobald die ersten Publikationen an’s Licht treten; er wird sie zu zerfleischen suchen, wie sie ausfallen mögen, freilich mit kraftlosen Fängen und stumpfen Zähnen.119
Auch als ‚Ausleger‘ könnte er sich gegen eine durch Diltheys Ästhetik der Einfühlung inspirierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft nicht behaupten – dafür sind seine Texte zu flach. Er ist ein Vielschreiber, zudem als Editor zu wenig am ‚Ursprünglichen‘ orientiert. Entlang der Polemik gegen Düntzer lassen sich Diskurs- und Geschmacksgrenzen einer Wissenschaft zementieren. Noch Roloffs Geschichte des editorischen Kommentars von 1993 kommt nicht ohne einleitenden Rundumschlag gegen Düntzers poetisierende Kommentierung von Dichtung und Wahrheit aus, nach dem Motto: Zunächst zeigen wir, wie es nicht geht!120 Eine personalisierend vorgehende Wissenschaftsgeschichtsschreibung bedarf solcher Negativmuster. Mit Heinrich Düntzer hatten schon die Zeitgenossen eines gefunden.
____________ 118
Gustav von Loeper in Berlin an Wilhelm Scherer am 30. 1. 1877. In: Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886. Hrsg. und kommentiert von Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller. Göttingen 2005 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte. 5), S. 285 f., hier S. 285. 119 Gustav von Loeper in Berlin an Wilhelm Scherer am 26. 8. 1885. In: Scherer, Briefe und Dokumente (Anm. 118), S. 291 f., hier S. 291. 120 Vgl. Anm. 10.
Per Röcken
Karl Goedeke Anmerkungen zu Biographie, philologischer Praxis und fachhistorischer Beurteilung*
In der Beurteilung editionsphilologischer Fachgeschichte und Theoriebildung wird Karl Goedeke (1814–1887) gemeinhin – und zwar in den üblichen ‚Schon-x-noch-(nicht)-y‘-Konstruktionen – zum Vorläufer oder Wegbereiter ‚textgenetischer‘ Edition erklärt, womit der Entwicklung des Faches beiläufig eine progressive Kontinuität zugeschrieben wird. Dieses offenbar nicht nur als Traditions- oder Autoritätsargument zur Legitimation der neugermanistischen Editorik als autonomer Spezialdisziplin, sondern auch zur Rechtfertigung einer spezifischen Editionsprogrammatik vorgebrachte1 (und seitdem oft wiederholte)2 Verdikt stützt sich allerdings ausschließlich auf eine bestimmte Lesart der editorischen Praxis (der Nachlassedition) der historisch-kritischen Schillerausgabe, deren „prototypische Bedeutung“ für das „produktionsbezogene Editionskonzept“3 exponiert wird, deren „methodisches Potential“ aber „erst im 20. Jahrhundert gewürdigt“ worden sei.4 Das etwas allgemeinere Urteil lautet,
____________ *
1
2
3 4
Der folgende Aufsatz ist Burghard Dedner in Marburg gewidmet. – Wertvolle stilistische und sachliche Hinweise verdanke ich Annika Rockenberger in Berlin und Ulrich Joost in Darmstadt. Besonders einflussreich wurde hier Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft, S. 4–42, hier S. 22–24, sowie Ders.: Edition. In: Das Fischer Lexikon: Literatur. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Bd. 1. Frankfurt/Main 1996, S. 456–487, hier S. 478 und S. 480 f. – Vgl. auch Hans Zeller: Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 5), S. 143–207, hier S. 158 f., der die Auffassung vertritt, die „genetische Edition“ habe „ihre ideellen Wurzeln“ in Goedekes Schiller-Ausgabe: Diese sei grundsätzlich als „Vorläufer“ oder „Vorgriff“, nicht aber als „Durchbruch zur Theorie der genetischen Edition“ zu werten. Wortwörtlich nach Hurlebusch – allerdings ohne Zitat-Nachweis – bei Winfried Woesler: Neugermanistische Editionsleistungen des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte der Editionsverfahren 2003 (Anm. 1), S. 123–143, hier S. 129 f. Hurlebusch 1986 (Anm. 1), S. 23. Bodo Plachta: Schiller-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 389–402, hier S. 392; vgl. auch ebd., S. 394: „editorisches Paradigma, dessen Tragweite erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt wurde“.
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Per Röcken
Goedeke habe „verschiedene editionsphilologische Entwicklungen bis ins späte 20. Jahrhundert vorweg[genommen]“.5 Auf andere Editionsleistungen Goedekes und deren Zusammenhang mit seiner intellektuellen Biographie, seiner Position im Wissenschaftskontext und anderen gelehrten Tätigkeiten, vor allem seinen literarhistorischen Forschungen, wird allenfalls am Rande hingewiesen. Es mag daher zum Verständnis seiner editorischen Grundsätze und Verfahrensweisen nützlich sein, etwas mehr über Goedekes akademischen Werdegang, den lang währenden Einfluss einer bestimmten – nämlich der Grimm’schen – Wissenschaftskonzeption, seine berufliche Laufbahn und über andere publizistische und wissenschaftliche Projekte zu erfahren. Hiervon ausgehend, kann dann nach seinen Editionen gefragt und diskutiert werden, ob und wie sie zu Innovation, Etablierung und Ausdifferenzierung der Editorik oder gar eines bestimmten Editionskonzepts beigetragen haben – oder allgemeiner: wie sie fachgeschichtlich zu bewerten sind.
1.
Zur Person
Karl Ludwig Friedrich Goedeke6 wurde am 15. April 1814 im niedersächsischen Celle als Sohn eines relativ wohlhabenden Maurermeisters geboren, besuchte zunächst das angesehene humanistische Lyceum vor Ort, wechselte dann aber – offenbar dank eines fürstlichen Stipendiums – an das Königliche Pädagogium in Illfeld (Nordthüringen), einer Schule für spätere Staatsdiener, die er 1833 als ‚alumnus regius‘ mit Erwerb des Reifezeugnisses verließ. ____________ 5
6
Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37, 2005, S. 97–122, hier S. 98. Vgl. zum Folgenden Ulrich Joost: Genrebilder aus der Frühgeschichte der Deutschen Philologie. Aus dem Briefwechsel Karl Goedekes mit Karl Weinhold [in Druckvorbereitung für: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen]; Matthias Janssen: [Art.] Goedeke, Karl. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Bd. 1: A–G. Berlin, New York 2003, S. 567–569; Herbert Jacob: [Art.] Goedeke, Karl. In: Neue Deutsche Biographie 6, 1964, S. 512; Edward Schröder: [Art.] Goedeke, Karl. In: Allgemeine Deutsche Biographie 49, 1904, S. 422–430; Moritz Heyne, E. Jeep: [Chronik] Karl Goedeke. In: Goethe-Jahrbuch 9, 1888, S. 279–285; Gustav Roethe: Karl Goedeke. In: National-Zeitung. Morgenausgabe 54, 27. 1. 1888, S. 1–3, sowie die eher tendenziösen Darstellungen bei Paul Alpers: Karl Goedeke – sein Leben und sein Werk. Ein Beitrag zur Geschichte der Revolution von 1848 im Königreich Hannover. Bremen 1949; Carl Driesch: Der Goedeke. Werdegang eines wissenschaftlichen Unternehmens. Dresden 1941, S. 3–13, und Hans Kirschstein: Karl Goedeke. Zu seinem hundertsten Geburtstage. In: Die Grenzboten 73, 1914, S. 82– 87. – Einen Überblick zu Goedekes Publikationen (die kleineren Zeitschriftenbeiträge sind bibliographisch noch nicht erfasst) gibt Herbert Jacob: Deutsches Schriftstellerlexikon: 1830– 1880; Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung – Fortführung. Bd. 3,1. Berlin 2000, S. 267–280.
Karl Goedeke
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Schon während der Schulzeit – dies belegen die üblichen Rezitationen, Schulreden und Vorträge – zeigte Goedeke ein lebhaftes literarhistorisches Interesse, unter anderem an der volkssprachigen Dichtung des 16. Jahrhunderts, namentlich am Handwerkerdichter Hans Sachs, worin sich nicht zuletzt ein gewisses bürgerliches Standesbewusstsein geäußert haben dürfte. Zum Studium der Philologie und Geschichte ging Goedeke nach Göttingen. Über die näheren Umstände seines Lebens in dieser Zeit ist nur wenig bekannt, allerdings muss er – bedenkt man das umfassende Wissen, über das er nach seinem auf fünf Jahre ausgedehnten Studium wie selbstverständlich verfügte – ein fleißiger Student gewesen sein. Parallel hierzu betätigte er sich ebenso formvollendet wie epigonal als lyrischer und epischer Dichter in der Nachfolge Platens und des Göttinger Hains. An der Georgia Augusta waren seine Lehrer Georg Friedrich Benecke, Georg Gottfried Gervinus, Friedrich Christoph Dahlmann, Karl Otfried Müller, Wilhelm sowie vor allem Jacob Grimm,7 dem er zeitlebens in der freundschaftlichen Ergebenheit des Schülers verbunden blieb und der ihm zum verehrten Vorbild wurde. Sowohl hinsichtlich späterer Forschungsinteressen und Fragen methodischer Arbeitsorganisation wie auch hinsichtlich einer spezifischen wissenschaftsethisch fundierten Konzeption von Philologie blieb Grimm die maßgebliche Leitfigur – um nicht zu sagen: Lichtgestalt –, die kaum einmal angezweifelte fachliche und persönliche Autorität, der Goedeke schon als Student zuarbeitete,8 die er auch später immer wieder konsultierte und auf die er sich anderen gegenüber in Streitfragen mit legitimatorischer Absicht berief. Nach Absetzung der ‚Göttinger Sieben‘ 1837 sah Goedeke sich zu einer leidenschaftlichen Parteinahme für die Brüder Grimm veranlasst, die ihren Ausdruck nicht nur in den kritischen Korrespondenzen über die Ereignisse ____________ 7
8
Vgl. zur Haltung Goedekes den Grimms gegenüber auch K. G.: Die Schriften der Brüder Grimm. Hannover 1847 (Sonderdruck aus: Hannoversche Morgenzeitung 16, 1847) sowie Goedekes Charakteristik J. Grimms in: Göttinger Professoren. Ein Beitrag zur deutschen Cultur- und Literärgeschichte in acht Vorträgen. Hrsg. von H. A. O. Oppermann. Gotha 1872, S. 167–203. In seinem ersten Brief an Goedeke vom 12. 4. 1838, der die Anrede „Werthester freund“ trägt, tituliert Grimm ihn als „auch meinerseits unvergessenen zuhörer“. – Den Briefwechsel zwischen Goedeke und den Brüdern Grimm, der bislang nur unvollständig erschlossen ist, zitiere ich nach dem Manuskript einer von Ulrich Joost vorbereiteten kommentierten Edition, die erstmals auch die reichen Beigaben der Briefe vollständig mitteilen wird. Für die Möglichkeit, diese Materialien – wie übrigens auch Goedekes fachhistorisch bedeutsame Briefe an Karl Weinhold (1823–1901) – schon vor der Publikation nutzen zu können, danke ich herzlich Ulrich Joost. – Vgl. einstweilen: Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Karl Goedeke. Hrsg. von Johannes Bolte. Berlin 1927; Ludwig Denecke: Karl Goedeke an Jacob Grimm. Drei Ergänzungen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 103, 1984, S. 118–125; Ders.: Noch ein Brief Karl Goedekes an Jacob Grimm. In: Brüder-Grimm-Gedenken 10, 1993, S. 38–42, sowie Fritz Wagner und Ute Siewerts: Jacob Grimm und die mittelalterliche Fabelliteratur im Briefwechsel mit Karl Goedeke. In: ebd., S. 1–37.
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fand, mit denen er verschiedene Zeitungen versorgte, sondern vor allem in dem den Grimms gewidmeten Theaterstück König Kodrus. Eine Mißgeburt der Zeit (1839) und den schließlich unpublizierten politischen Gedichten eines Hannoveraners (1838). Es mag zutreffen, dass – wie Herbert Jacob annimmt – „alle diese Erfahrungen [...] Goedekes Weltsicht so nachhaltig beeinflusst [haben], dass er später seine Darstellung der Literaturgeschichte nach politischen Ereignissen bestimmt“9 hat. Grundsätzlich war Goedeke moderat liberaler – ausdrücklich nicht republikanischer – Überzeugung und plädierte zeitlebens für die Einheit der deutschen Nation im politischen Rahmen einer konstitutionellen Monarchie, nach 1848 namentlich eines preußischen Kaisertums. Das zuweilen in Vorworten von Anthologien und Editionen zum Ausdruck kommende national-pädagogische Anliegen10 dürfte sich neben dem Vorbild Grimms vor allem diesen persönlichen Überzeugungen verdanken. Goedekes enge Verbundenheit mit Jacob Grimm zeigt sich indes nicht nur im 1838 einsetzenden Briefwechsel oder den Widmungen mehrerer Publikationen,11 sondern auch darin, dass sich zentrale wissenschaftliche Projekte wenigstens mittelbar auf Anregungen Grimms zurückführen lassen: Wie das Haupt- und Lebenswerk, der Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen (1859–1881), trotz individueller Schwerpunktsetzung im 16. und 17. Jahrhundert,12 „in seinem bibliographischen Stil“ als „ein erweitertes Abbild“13 der von Jacob Grimm in Göttingen gehaltenen Vorlesungskollegs über Geschichte der deutschen Literatur erachtet werden kann, so geht auch die Schiller-Ausgabe in ihrer Konzeption letztlich auf die von Grimm 1859 in seiner Rede auf Schiller erhobene Forderung zurück, eine zuverlässige Textgrundlage zu schaffen und sukzessive Veränderungen aller Texte vollständig zu ____________ 9 10 11
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Herbert Jacob, Marianne Jacob: Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Aufgabe und Entwicklung einer Literaturdokumentation. Berlin 2006, S. 15. Vgl. etwa die Vorrede zur Deutschen Wochenschrift (1854); zitiert bei Alpers 1949 (Anm. 6), S. 84 f. Insgesamt sind vier von Goedekes Büchern den Brüdern Grimm gewidmet; vgl. für den Wortlaut der Widmung im König Kodrus demnächst Ulrich Joosts Neuedition des Briefwechsels (Anhang zum Brief an J. Grimm, 9. 2. 1839) sowie zu den übrigen Ludwig Denecke: Buchwidmungen an die Brüder Grimm. In: Brüder-Grimm-Gedenken 2, 1975, S. 287–304, hier S. 294 f. und S. 304. Vgl. Goedeke an J. Grimm, 7. 10. 1856: „Kein buchhändler in der welt würde mir aber das XVI jh. allein verlegt haben. So muste das übrige drein gegeben werden und so entstand der Grundriß“; und 3. 1. 1857: „Was er ist und wert ist, weiß ich recht gut; in dem, worauf es mir ankam, 16 u 17. Jh., wird er für lange Zeit das unentbehrliche Buch bleiben; die älteren und neueren Abschnitte gehen mit in den Kauf.“ Denecke 1984 (Anm. 8), S. 119. – Vgl. zu J. Grimms Urteil über Goedekes Grundrisz die Briefe vom 5. 1. 1857: „Sie haben noch kein besseres, werthvolleres [buch] geschrieben. es enthält die schätzbarsten nachrichten.“ 5. 7. 1857: „das ganze ist eine erstaunend brauchbare arbeit, für unser einen Ihre allerbeste; aber auch die allgemeine anerkennung kann Ihnen nicht ausbleiben.“
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dokumentieren.14 Noch 1863 suchte Goedeke Grimm in Berlin auf, um sich „seiner völligen und rückhaltlosen Zustimmung zu den Grundsätzen“ der geplanten Schiller-Ausgabe zu versichern.15 Auch für Goedekes berufliche Perspektiven wird das Vorbild Grimms nicht ohne Einfluss gewesen sein; wie dieser sich nach seiner Absetzung zunächst in die Kasseler Bibliothek zurückzog,16 so verzichtete jener auf die Sicherheit einer institutionellen Anstellung zugunsten eines privaten Residuums: 1838 verließ er die Universität ohne Examen oder Promotion. Die Gründe benennt er in einem Brief an Grimm vom 26. Oktober: Sie fragen, was ich für mich selbst zu thun gedenke? ob ich das Examen machen werde? Nach den mitgetheilten Gedichten scheint mir die Frage zum Theil beantwortet. In hannoversche Staatsdienste mag ich unter den jetzigen Umständen nicht treten. Es scheint mir unlauter, von einem Könige und einem Regimente sein Brod zu fordern und zu nehmen, gegen die man in Gesinnung, Wort und Schrift zu Felde zieht. Die Sachen werden sich nicht allzu bald bessern und wenn künftig eine Aenderung eintritt, so kommt sie für mich zu spät. Einstweilen würde ich gegen meine innerste Ueberzeugung, gegen mein Gewissen handeln sollen. Darum ziehe ich vor, Privatmann zu bleiben und die Befriedigung mäßiger Ansprüche durch eigne Thätigkeit zu erwerben.17
Mit der Absicht, als freier Schriftsteller und Privatgelehrter ein anspruchsloses Leben zu bestreiten, kehrte Goedeke 1838 zurück in sein Elternhaus, wo er sich zunächst als Novellendichter und Lyriker versuchte und parallel dazu damit begann, sich eine Bibliothek samt Quellensammlung aufzubauen, deren Benutzung er später anderen Forschern immer wieder großzügig antrug. – Bis zu seiner Berufung zum außerordentlichen Professor für Deutsche Literaturgeschichte 1873 stand er stets außerhalb institutioneller Strukturen, wenngleich er nach entbehrungsreichen Jahren mehrfach den (erfolglosen) Versuch unternahm, eine Anstellung als Bibliothekar zu bekommen, und Freunden gegenüber den Wunsch äußerte, endlich „einen Ruf“18 zu erhalten. ____________ 14
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Vgl. Jacob Grimm: Rede auf Schiller [1859]. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 1: Reden und Abhandlungen. Berlin 1864, S. 374–398, hier S. 395 f., und Karl Goedeke: [Anzeige der Schiller-Ausgabe] In: Göttingische gelehrte Anzeigen 50, 11. 12. 1867, S. 1961–1977, bes. S. 1961 f. und S. 1977. Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 5.1, S. VII; vgl. bereits Goedeke an J. Grimm, 3. 5. 1861. Vgl. Alpers 1949 (Anm. 6), S. 44. Goedeke an J. Grimm, 26. 10. 1838; vgl. auch Goedeke an Adolf Stölting vom November 1837; Alpers 1949 (Anm. 6), S. 39 f.: „Ich ziehe es daher vor, eine Base zu wählen, die von politischen Schwankungen nie unmittelbar berührt, erschüttert wird, den Privatstand. Durch Unterrichten und Schreiben werde ich meinen Unterhalt zu erwerben suchen und so mäßig leben, wie ich es muß.“ Karl Goedeke an Emanuel Geibel, 1. 5. 1858; Briefwechsel Emanuel Geibel und Karl Goedeke. Hrsg. von Gustav Struck. Lübeck 1939, S. 103: „Wäre nur irgend ein Universitätscuratorium einmal so entschloßen, mir einen Ruf zukommen zu laßen – aber wer sich nicht persönlich gel-
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Grundsätzlich hatte Goedeke eine merkwürdig ambivalente Haltung der Zunft der Fachgelehrten gegenüber, zu der er sich ebenso ausdrücklich nicht zählte,19 wie er sich je länger je mehr deren Anerkennung wünschte und sich bei der Kritik der wissenschaftlichen Publikationen und Editionen anderer Forscher etablierter Topoi fachgelehrter Dilettantenkritik20 bediente. Die allmählich zunehmende Wissenschaftsorientierung Goedekes korrespondiert jedenfalls in auffälliger Weise mit der fortschreitenden Etablierung und Institutionalisierung der Deutschen Philologie als Universitätsdisziplin. An den die Frühzeit des Faches prägenden Kontroversen allerdings, in deren Konstellation er der Sache nach gegen Lachmann auf der Seite Grimms stand,21 nahm Goedeke selbst keinen publizistischen Anteil. Trotz seiner Außenseiterstellung, seiner ostentativ inszenierten Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit22 war Goedeke allerdings dauerhaft in das Korrespondenznetzwerk der Brüder Grimm eingebunden: Kurz nach seinem Studium nahm er erstmals brieflichen Kontakt mit Jacob Grimm auf, um ihm eigene Funde aus Interessensdomänen des Lehrers mitzuteilen,23 später fertigte er – wenngleich mit abnehmender Begeisterung – für dessen Wörterbuchprojekt Exzerpte an, zunächst aus Gryphius – zu dem er sogleich forschte und eine Ausgabe24 plante –, später aus Schiller.25 __________
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tend zu machen weiß, wird es durch solche Bücher [gemeint ist der Grundrisz, P R] nie zu etwas bringen.“ Vgl. Goedeke an Weinhold, 7. 2. 1854; Joost (Anm. 6): „die gelehrten Gesellen der Zunft, zu der ich mich nicht zähle, haben mich aber bedenklich gemacht und ich will gern andern überlaßen, selbst zu finden und zu veröffentlichen, was ich schon gefunden habe, aber bei Seit schiebe, weil ich wenig Gewicht darauf lege, der erste zu sein, der damit hervortritt“; vgl. auch den Brief an Weinhold vom 20. 1. 1854, wo Kritik an „der kleinlichen Manier der professionellen Philologen“ geübt wird, sowie die Selbsteinschätzung im Brief an Weinhold vom August 1854: „Es fällt mir nicht ein, mit meiner Arbeit beßre verdrängen zu wollen, oder mich den gelehrten Forschern gleichstellen zu wollen. Aber der Standpunkt, den ich immer zu halten suchte, hat doch, glaube ich, auch seine Berechtigung und die Reichhaltigkeit des Materials, womit ich das Bild des Mittelalters [in einer zweibändigen Anthologie von 1854, P R] zu entwerfen suchte, hat den Vergleich mit allen Arbeiten, denke ich, nicht zu scheuen.“ Vgl. grundsätzlich Rainer Kolk: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: Interationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14, 1989, H. 1, S. 50–73, hier S. 54. Vgl. aber Goedeke an J. Grimm, 20. 8. 1855. Vgl. Schröder 1904 (Anm. 6), S. 427, sowie die entsprechende Äußerung Goedekes im Brief an Geibel, 12. 11. 1844; Struck 1939 (Anm. 18), S. 9: „Mag nun alle Welt umher mit mir im Streit liegen und mich zu ihrer Flatterfahne hinüberziehen wollen, ich habe die alte Lehre neu gelernt, daß es besser ist, mit allen zu brechen, wenn dabei der eigene innere Frieden gerettet wird, als mit allen gut Freund sein, wenn man darüber mit sich selbst in Zwiespalt geräth.“ Vgl. Goedeke an J. Grimm, 13./14. 3. 1838, 10. 7. 1838, 15. 12. 1838, 16. 9. 1851, 21. 4. 1861, 3. 5. 1861 u. ö.; vgl. zu dieser Form fachlicher Kooperation auch Wagner/Siewerts 1993 (Anm. 8). Vgl. Goedeke an J. Grimm, 25. 11. 1839 und den Gegenbrief vom 8. 12. 1839. Vgl. zur Mitarbeit am Wörterbuchprojekt: Goedeke an J. Grimm, 23. 8. 1838, 26. 10. 1838, 26. 11. 1840, 8. 5. 1842, 19. 11. 1853, 9. 12. 1853 sowie die Gegenbriefe J. Grimms vom
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Auch war Goedeke selbst darum bemüht, ein lose geknüpftes – im Vergleich zu dem der Brüder Grimm26 freilich recht bescheidenes – kooperativsynergetisches informelles Netzwerk persönlicher und/oder brieflicher Beziehungen mit anderen Fachgelehrten (wie etwa Hoffmann von Fallersleben oder Karl Weinhold) aufrechtzuerhalten. Von diesem Kommunikationssystem profitierte er in seiner selbst gewählten akademischen Eremitage vor allem dann, wenn es darum ging, aus einer entlegenen Bibliothek ein Rarum oder wenigstens eine diplomatische Abschrift desselben zu beschaffen,27 einen Kontakt zu ihm unbekannten Liebhabern und Sammlern (wie etwa Karl Hartwig Gregor von Meusebach)28 vermittelt zu bekommen, eigene oder fremde Forschungsergebnisse zu diskutieren oder reziprok zu evaluieren, um positive Besprechungen eigener Publikationen und andere Gefälligkeiten (wie etwa die Mitarbeit an eigenen Publikationsorganen) zu ersuchen, fachliche Auskünfte einzuholen oder zu erteilen, Material weiterzureichen usw. Dieser vor allem briefliche Austausch besaß damit alle Eigenschaften eines proto-institutionellen Fachgesprächs, dessen Fundamente persönliche Integrität und Freundschaft waren __________
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16. 9. 1838, 3. 11. 1838, 8. 12. 1839, 7. 5. 1840, 2. 10. 1840, 2. 4. 1842, 29. 11. 1853. – Während Goedeke die Exzerpte aus Gryphius verspätet abliefert, verschleppt er die Auszüge aus Schillers Werken und muss nach mehr als einem Jahr des Schweigens auf Grimms direkte Nachfrage hin diesen „mit beklommnem Herzen“, „das ganze Gewicht“ seines „Unrechts“ spürend, darum bitten, ihm „die ganze Arbeit abzunehmen“ (8. 5. 1842). Später bittet Goedeke darum, diese Schuld durch das Exzerpieren anderer Autoren – „je trockner desto besser“ – abtragen zu dürfen (19. 11. 1853); auch die den Bänden 1 und 5.1 der Schiller-Ausgabe (Anm. 62) beigegebenen Wort-Register können – vgl. Bd. 5.1, S. V und S. [201] – als das verspätete Einlösen dieser nicht eingehaltenen Verpflichtung erachtet werden. Vgl. Lothar Bluhm: Stil, Schule, Disziplin. Eine wissenschaftshistorische Erörterung am Beispiel der Brüder Grimm. In: Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I). Hrsg. von Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner und Ralf Klausnitzer. Frankfurt/Main u. a. 2005, S. 137–150, hier S. 145 sowie grundsätzlich Ina Lelke: Die Brüder Grimm in Berlin. Zum Verhältnis von Geselligkeit, Arbeitsweise und Disziplingenese im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main u. a. 2005. Vgl. etwa Goedeke an Weinhold, 30. 1. 1867; Joost (Anm. 6): „Besitzt die dortige Bibliothek das Buch? Und würden Sie für diesen Fall dasselbe daraus entnehmen und mir auf einige Tage anvertrauen? Verträgt sich dies nicht mit der Geschäftsordnung oder mit sonstigen Rücksichten, so möchte ich Sie bitten, mir das Gedicht diplomatisch genau und mit Angabe der Bandund Seitenzahl, auch mit Abschrift des Titelblattes in bibliographisch genauer Wiedergabe (Zeilenabtheilung durch | bezeichnet) zu senden und versichert zu sein, daß ich zu jedem Gegendienst bereit bin.“ – Vgl. ähnlich auch Goedeke an Hoffmann von Fallersleben, 28. 8. 1854, 9. 9. 1854, 20. 4. 1856; Briefwechsel zwischen Hoffmann von Fallersleben und Karl Goedeke. Hrsg. von Fritz Behrend. In: Euphorion 31, 1930, S. 249–292, hier S. 258, 261–263 und 271, sowie Goedeke an Geibel, 26. 10. 1853 und 18. 3. 1854; Struck 1939 (Anm. 18), S. 53 f. und 59 f.; dass übrigens dieses Verfahren der Materialbeschaffung – bei verspäteter Rücksendung einer Leihgabe etwa – auch zu Unstimmigkeiten führen konnte, zeigt der Briefwechsel mit Geibel (ebd., S. 79–84). Vgl. J. Grimm an Goedeke, 15. 5. 1846 sowie grundsätzlich zu Meusebach Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 48–114, hier S. 60 f.
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und das sowohl zu Quellenerschließung, Datenaustausch und Informationsvermehrung wie zur Aushandlung und Etablierung integrativer wissenschaftsethischer Standards – wie etwa Fleiß, Geduld, Genauigkeit, Sorgfalt, Gründlichkeit, intellektuelle Redlichkeit, Kooperationsbereitschaft, Demut und Bescheidenheit – diente. Goedekes dezidierte Kritik am Wissenschaftskonzept, an der Kommunikationspraxis wie der Selbstdarstellung etablierter Philologen lässt sich vor dem Hintergrund dieses Tugendkatalogs und der eingeforderten fachlichen Kompetenzen ebenso nachvollziehen wie sich dieser ex negativo aus der ‚KollegenSchelte‘ erschließen lässt: Aufschlussreich sind hier vor allem die kritischpolemischen Auslassungen Goedekes zur Publikationspraxis seines Konkurrenten Oskar Schade (1826–1906), die Goedeke als genau informierten Beobachter der institutionalisierten Philologie ausweisen und ihm beiläufig zu einer Positionierung im – für ihn zwischen den diametralen Polen Lachmann (negativ) und J. Grimm (positiv) gespannten – wissenschaftlichen Feld dienten. Abgestoßen wird Goedeke hier nicht zuletzt von einer bestimmten, „selbstgefälligen“ Haltung und der mit dieser einhergehenden Form philologischer Praxis: Ich habe den Verlag der niederrh. Gedichte [Geistliche Gedichte des XIV. und XV. Jahrhunderts vom Niederrhein. Hrsg. von Oskar Schade. Hannover 1854, P R] gebilligt und empfohlen, ohne die kecke und übermüthige Art Schades gut zu heißen; auch die Entdeckung der sechszeiligen Strophe halte ich für Wind und Teuschung. Sie unterdrücken wollen, hieße die Möglichkeit einer Erörterung unterdrücken. Das Gleiche gilt von dem ‚Niederrh.‘, das Schade sich construirt hat. Seine kecke selbstgefällige Art ist aber nicht sein Fehler allein. Die Jüngsten leiden mehr oder minder alle daran und leider ist dies Lachmanns Einfluß, dessen Verdienste ich vor andern freudig anerkenne, dessen schroffe Art mir seit fast zwanzig Jahren widrig gewesen ist und die bei den Jüngeren nicht gerügt werden kann, ohne auf ihren Ursprung zurückzuleiten. Bei beiden Grimms, bei Ihnen, bei Weygand, bei Uhland habe ich nie dergleichen getroffen; leider bei Lachmann, Haupt, Zarncke, Pfeiffer und W. Wackernagel mehr als hundert Beispiele gesammelt, wo um eine Kleinigkeit die bitterböseste Bitterkeit grollt oder auf die Entdeckung eines Nichts ein Gewicht gelegt wird, als sei die Wißenschaft neu begründet. Was läßt J. Grimm von Lachmanns Nibelungenkritik stehen? Und was hat Hoffmann dulden müßen, weil er das „Ludwigslied“ „hergestellt“ hat, eine Herstellung, die durch den späteren Fund der Handschrift gegen Lachmann zu Ehren gekommen. Vergleichen Sie einmal die gerügte Aeußerung Lachmanns vor den Lesarten zum Gregor mit der unschuldigen Veranlaßung Maßmanns in Mones Anzeiger und die herabwürdigende Kritik (Schletters) im Lit. Centralbl[att] mit Kellers Fastnachtspielen; Wackernagels Ausfälle gegen Ettmüller und Pfeiffers gegen Hagen; Försters Verunglimpfung Lachmanns und die ganze schnöde Absprecherei über alles, was von den „im Schweiße des Angesichts aus Grimm und Graff zusammengelesenen Tabellen und Registern
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abweicht“ – da ist Schade nur eben einer mehr, der vor seiner eigenen Bude in die Trompete stößt. Niemand der mit der Zunft zu brechen Anstand nehmen muß, darf in dies Wespennest stechen; aber ich denke, es findet sich einmal eine Gelegenheit, diese unartige Art der schnöden Selbstgefälligkeit, die leider aus der claßischen Philologie oder vielmehr von den lateinischen Schulmeistern auf die deutschen Gelehrten übergegangen ist, in einer umfassenderen Weise zu beleuchten und da soll denn auch mein guter Freund Schade nicht leer ausgehen. Mit seinen ‚Entdeckungen‘ hat er übrigens nirgends Anklang gefunden; Wilh. Grimm und Müllenhoff, die er vorigen Herbst in Bonn damit überraschte, haben mit bedenklichem Kopfschütteln geantwortet und ich habe ihn ausgelacht, aber er wollte seine Haut zu Markte tragen.29
Doch zurück zu Goedekes Vita: Von 1838 bis 1859 lebte er in bescheidenen Verhältnissen als freier Schriftsteller, Publizist, Journalist, Rezensent, Korrespondent und Privatgelehrter abwechselnd in Celle und Hannover. Eigenen Angaben und Nachrufen zufolge muss er in dieser Zeit – zwischen Melancholie,30 Resignation31 und Arbeitseifer schwankend – nach einem genau geregelten Plan zwischen 13 und 16 Stunden täglich unermüdlich gearbeitet (und das heißt vor allem: seinen Lebensunterhalt verdient) haben.32 Einige Jahre war er ____________ 29
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Goedeke an Weinhold, 7. 2. 1854; Joost (Anm. 6). – Ähnlich auch Goedeke an Hoffmann von Fallersleben, 22. 12. 1855; Behrend 1930 (Anm. 27), S. 266 f.: „Wollt’ ich so drucken lassen wie Schade sich nicht schämt es zu thun, zu Rümplers Schaden und Entmutigung, so könnte ich jede Woche 7 Bände zusammenstellen und behielte nach Jahresfrist noch Stoff übrig, um Schade zu versorgen. Seine ‚Satiren‘ [3 Bde. 2. Aufl. Hannover: Rümpler 1855–1863, P R] sind ein wahres Scandalum. [...] Seine Ecken-Laurin-Sigenot-Bücher [alle 1854, P R] sind aus meinen Notizen entstanden; er wußte, daß ich Abschriften hatte und die übrigen Drucke vergleichen wollte. Die Fischartschen Sonette, die er bei mir sah, schrieb er in Wolfenbüttel nach meiner Angabe der Standnummer ab und geberdete sich dann in der Einleitung, als ob ich sie nicht kenne. Meine Abschriften des niederdeutschen Laurin, Sigenot und Siegfriedsliedes hat er seit drei Jahren in Händen und denkt wol mir die Hände damit gebunden zu haben. Ich habe aber doppelte Abschriften und den ganzen Band, der niemals verloren gewesen, vor zehn Jahren auf das treuste für schweres Geld copiren lassen, um gefällig sein zu können, habe aber niemals gedacht, daß jemand so mir nichts dir nichts damit ins Publikum stürmen würde. Sie haben ja Einfluß auf Rümpler, warnen Sie ihn doch vor solchen unzeitigen voreiligen Veröffentlichungen, damit er die Lust an fleissigen langsameren Arbeiten nicht verliert, was unausbleiblich geschehen muß, wenn Schades Buchmacherei zu seinem Nachtheile fortdauert.“ Vgl. Goedeke an Geibel, 25. 1. 1859; Struck 1939 (Anm. 18), S. 113: „Es ist bei mir immer derselbe traurige allen Mut lähmende Zustand, eher schlimmer als beßer“; und Goedeke an J. Grimm, 3. 1. 1859: „Mit mir wird es, wie ich glauben muß, rascher zu Ende gehen, als mir lieb ist. Seit Mitte des Sommers fehlt mir Gesundheit und Lebensmut. Der Blick in die Zukunft ist trüb und die Gegenwart niederdrückend wie dieser Nebeltag draußen.“ – Ähnlichen Tenor haben bereits die Briefe vom 25. 4. und 26. 11. 1840. Vgl. Goedeke an Hoffmann von Fallersleben, 27. 3. 1858; Behrend 1930 (Anm. 27), S. 277: „Die literarhist[orischen] Studien werden für mich wohl zu Ende sein. Das Publikum ist nicht darnach beschaffen, um Beschäftigungen dieser Art zu unterstützen. Da will ich lieber Romane schreiben und recensieren oder populäre Wissenschaft treiben.“ Über Goedekes geregelten Tagesablauf und sein Arbeitspensum informiert ein Brief an Stölting vom 7. 2. 1839; Alpers 1949 (Anm. 6), S. 34; vgl. auch Goedeke an Geibel, 20. 2. 1857; Struck 1939 (Anm. 18), S. 83: „Es muß anders mit mir werden, Gott weiß aber wie. Ich habe täglich nicht 3 Stunden, wie ich mir früher einredete, daß es genüge, sondern 16–18 gearbeitet
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Mitarbeiter der Hofbuchhandlung Hahn in Hannover, des Verlags der Monumenta Germaniae Historica, später Redakteur der Zeitung für Norddeutschland und vorübergehend der Hannöverschen Presse. 1848 wurde er in die Zweite Ständekammer des Königreichs Hannover gewählt33 und war – wenngleich zunehmend ernüchtert – einige Jahre lang politisch tätig. Allmählich aber vollzog sich der Übergang von belletristischer, journalistischer und politischer Tätigkeit hin zur wissenschaftlichen. Dies zeigen nicht nur kleinere lokalhistorische Studien sowie Beiträge und Editionen zu Autoren des 16. Jahrhunderts in Fachzeitschriften, sondern auch mehrere Anthologien mit einer Präsentation der Texte „aus den Quellen“, ausführlicher bio-bibliographischer Dokumentation und Lesartenapparat, die in mancherlei Hinsicht eine Vorwegnahme der Manier des Grundrisses darstellten und ihrer Anlage nach spätere Editionen prototypisch vorwegnahmen. Bestandteil des eher populärwissenschaftlichen Projekts dieser Jahre ist auch der 1854 realisierte Plan einer Deutschen Wochenschrift, die „in allgemein verständlicher Form Gegenstände der Wissenschaft vortragen [sollte], um dafür zu gewinnen“,34 allerdings schon nach einem Jahr wieder eingestellt wurde. Nach seiner Zeit in Hannover kehrte Goedeke abermals nach Celle zurück, um „vergraben in [s]eine Bücher und Sammlungen“35 an seinem opus magnum zu arbeiten.36 Die ersten beiden Teile des zunächst als Schulbuch für den Dresdner Verleger Ludwig Ehlermann gedachten Grundrisses verfasste Goedeke in mehreren Lieferungen zwischen 1857 und 1859. Exakter Nachweis, Dokumentation und Sammlung aller auffindbaren Dokumente waren das zentrale Anliegen, die Erschließung und Sicherung der Quellen vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts.37 Periodisierungen, Epochenüberblicke und biogra__________
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und dies Uebermaß genügte noch nicht, um mich so zu fördern, wie ich wünschte, ja wie es die Noth forderte.“ Vgl. Goedeke an J. Grimm, 18. 8. 1849. Goedeke an Hoffmann von Fallersleben, 7. 11. 1853; Behrend 1930 (Anm. 27), S. 252; vgl. als konkretes, für das zugrunde liegende Wissenschaftskonzept aufschlussreiches Beispiel auch den Brief an Weinhold, 20. 1. 1854; Joost (Anm. 6): „Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie auch fernerhin die Wochenschrift unterstützen wollten, und sehr lieb wäre es mir, wenn Sie ab und an in zusammenfassenden kleinen Aufsätzen die wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Philologie, so weit sie wirkliches Interesse dafür haben, vorführen wollten. Ihre Weise, die Sachen zu behandeln, unterscheidet sich von der kleinlichen Manier der professionellen Philologen so vortheilhaft und mit Ihrem Buche über die deutschen Frauen im Mittelalter [Wien 1851, P R] sind Sie so unmittelbar neben J. Grimm getreten, daß ich nicht wüßte, von wem ich lieber Beiträge erhielte als von Ihnen.“ Karl Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 1. Dresden 1859, S. VII. Vgl. hierzu Jacob/Jacob 2006 (Anm. 9), S. 15–23, sowie Herbert Jacob: Eine Bibliographie und ihre Verleger. Goedekes Grundriß. In: Buchhandelsgeschichte 1985, S. B54–B68, sowie Alpers 1949 (Anm. 6), S. 92–97. Vgl. Jacob 1985 (Anm. 36), S. B62.
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phische Charakteristiken hatten demgegenüber eher verbindende Funktion. Editionen frühneuzeitlicher Texte – vor allem seine Sammlung der Lieder des Pamphilus Gengenbach – ergaben sich als Vorarbeiten, Begleiterscheinungen und Erträge der Arbeit am Grundrisz; gleiches gilt für literarhistorische und biographische Einzelstudien.38 Die meisten Nebenprojekte gewannen hierbei Komplexität und Zusammenhang durch das Ineinandergreifen mit dem Hauptprojekt. Mit seiner Quellenerschließung schuf Goedeke die „Voraussetzung für die Entfaltung der positivistischen Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland“.39 Nach dem Verkauf seiner etwa 3000 Bände umfassenden Privatbibliothek zog Goedeke 1859 nach Göttingen, wo er als eifriger Bibliotheksbenutzer bis zu seinem Tod 1887 lebte: zunächst neuerlich als Privatgelehrter, seit 1873 dann als erster außerordentlicher Professor für Deutsche Literaturgeschichte. 1862 wurde ihm auf Betreiben Adelbert von Kellers für seinen Grundrisz die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen verliehen. Von 1867–1876 war er Organisator und spiritus rector der ersten ‚historisch-kritischen‘ SchillerAusgabe des Cotta-Verlags, parallel begann er mit Julius Tittmann im Brockhaus-Verlag zwei populäre Editionsreihen zur deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, in deren Rahmen er unter anderem Hans Sachs, Johann Fischart, Paul Gerhardt und Johann Rist herausgab.40 Neben der Schiller-Ausgabe war Goedeke in Göttingen vor allem mit der Arbeit am dritten Band bzw. der vollständigen Neuauflage des Grundrisses beschäftigt. Auch wenige Stunden vor seinem Tod im Alter von 73 Jahren soll er – so will es die akademische Hagiographie41 – an seinem Lebenswerk gearbeitet haben. Warum seine außerordentliche Professur nicht in eine ordentliche ____________ 38
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Zu nennen sind hier: Koninc Ermenrîkes Dôt. Ein niederdeutsches Lied zur Dietrichssage. Aufgefunden und mit einem Briefe von Jacob Grimm hrsg. von K. G. Hannover 1851; K. G.: Reimfrît von Braunschweig. Hannover 1851; K. G.: Burchard Waldis. Hannover 1852; K. G.: Johann Römoldt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen dramatischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Hannover 1855; K. G.: Every-man, Homulus und Hekastus. Ein Beitrag zur internationalen Literaturgeschichte. Hannover 1865, sowie K. G.: Gottfried August Bürger in Göttingen und Gelliehausen. Aus Urkunden. Hannover 1873. – Zu erwähnen sind auch die parallel zum Grundrisz entstandenen Biographien zu Goethe (1858) bzw. Goethe und Schiller (1859) sowie die unabgeschlossene Arbeit zu Emanuel Geibel (1869). Paul Raabe: Karl Goedeke und die Folgen. Zur bibliographischen Lage der deutschen Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hrsg. von Wolfgang Martens. Weinheim 1988, S. 187–210, hier S. 188. Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts. Mit Einleitungen und Worterklärungen. Hrsg. von Karl Goedeke und Julius Tittmann. 18 Bde. Leipzig 1867–1883 (Goedeke bearbeitete die Bände 1, 4, 7–12, 15 und 18); Deutsche Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Mit Einleitungen und Anmerkungen. Hrsg. von Karl Goedeke und Julius Tittmann. 15 Bde. Leipzig 1869– 1885 (Goedeke bearbeitete die Bände 5, 12 und 15). Vgl. Schröder 1904 (Anm. 6), S. 429.
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umgewandelt wurde, ist nicht ganz klar; sein Schüler Edward Schröder führt dies auf Goedekes Eigensinn zurück, aus Prinzip nur einstündige Vorlesungen zu halten.42 Als Dozent muss er beliebt gewesen sein; Vorlesungen hielt er vor bis zu 200 Hörern, ohne allerdings schulbildend gewirkt zu haben. Bis zuletzt blieb Goedeke „weitgehend auf seine schriftstellerischen Einkünfte angewiesen“.43 Im Wissenschaftskontext der Deutschen Philologie, zu deren materiellen Fundierung und fachlichen Differenzierung Goedeke mit seinen Editionen und literarhistorischen Studien maßgeblich beitrug, kam ihm bis zuletzt der paradoxale Standort desjenigen zu, der zugleich mittendrin und draußen ist.44
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Goedeke als Editor
Als Herausgeber tat Goedeke sich in den 1840er/50er Jahren zunächst durch mehrere Anthologien mit bio-bibliographischer Dokumentation und selektiven Lesartenapparaten hervor,45 die im Wesentlichen bereits jenem Schema der Textpräsentation folgten, wie Goedeke es später bei der Schiller-Ausgabe anwandte: Titel des Textes, chronologische Auflistung möglichst aller Überlieferungsträger und deren Siglierung, Ausweis der Textgrundlage (in der Regel die früheste Fassung), Textwiedergabe mit Zeilenzähler, lemmatisierter Lesartenapparat. Deutlich wird der Zusammenhang mit dem Interesse der erschöpfenden systematischen Quellenerschließung und der literarhistorischen Überblicksdarstellung. Was bei der Würdigung des Editors Goedeke gemeinhin übersehen wird, ist, dass er – neben Philologen wie Adelbert von Keller, Friedrich Zarncke46 ____________ 42 43 44
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Vgl. Schröder 1904 (Anm. 6), S. 429. Jacob 1985 (Anm. 36), S. B60. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Goedeke – anders als etwa Moritz Haupt, Karl Bartsch oder Michael Bernays – im personenbezogenen Band Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000 kein eigener Beitrag (nicht einmal als einem ‚Außenseiter‘) gewidmet ist und er lediglich am Rande – im Beitrag zu Eduard Berend, S. 178 f. – und überdies nur mittelbar in einer bibliographischen Angabe Erwähnung findet. Zu nennen sind hier folgende Sammlungen: Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843. Eine Auswahl von 872 charakteristischen Gedichten aus 131 Dichtern, mit biographisch-literarischen Bemerkungen und einer einleitenden Abhandlung über die technische Bildung poetischer Formen. Hannover 1844; Elf Bücher deutscher Dichtung. Von Sebastian Brant bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen. Mit biographisch-literarischen Einleitungen und mit Abweichungen der ersten Drucke, gesammelt und hrsg. von K. G. 2 Bde. Leipzig 1849, sowie Deutsche dichtung im mittelalter. Hannover 1854. In der Vorrede zu Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Leipzig 1872, S. XXXI, äußert sich Goedeke anerkennend zu Zarnckes „ausgezeichnete[r]“, „epochemachende[r]“ Edition des Textes, wobei er zwar dessen „streng philologische Methode“ lobt, zugleich aber betont, dass seine eigene Ausgabe anderen Zielen verpflichtet sei und sich daher – zumal angesichts der Fehlerhaftigkeit des Druckes – „weder an die Schreibung des Originals“ halten könne, noch
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oder Edmund Goetze – als einer der ersten tatkräftig für Erschließung und Popularisierung der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts eintrat.47 Die Dichtung dieser Zeit war seine eigentliche Herzensangelegenheit.48 1856 erarbeitete er nach mehrjährigem Sammeln und Kopieren eine Ausgabe aller Werke des Schweizer Autors und Druckers Pamphilus Gengenbach.49 Mitgeteilt werden die Texte in der Original-Orthographie der jeweiligen editio princeps. In einem Anhang finden sich genaue bibliographische Nachweise weiterer Ausgaben, der Ausweis – nicht die Emendation – von Druckfehlern, erläuternde sprachhistorische Anmerkungen sowie die Angabe aller „abweichungen“ späterer Drucke – wenngleich ohne Interpunktionsvarianten – in einem lemmatisierten Lesartenapparat. Bemerkenswert ist nun, dass Jacob Grimm dieser diplomatischen Textbehandlung äußerst kritisch gegenüberstand. Zwar ließ er brieflich wissen, die Gengenbach-Edition sei „für die literaturgesch. des 16. jh. sehr lehrreich“ und die „darauf gewandte arbeit höchst verdienstlich“, aber Beibehaltung und „wiederabdruck“ der „elendeste[n] orthographie und und [sic!] sogar“ der „druckfehler“ wie grundsätzlich „der fehlerhaften schreibung des 16.–17. jh.“ mochte er – offenbar angesichts eigener Pläne zu einer Orthografiereform50 – nicht gutheißen, da hierdurch „nur ein ärgerliches buntes aussehn der texte entspringt und nicht das geringste gewonnen wird“.51 Zunächst hielt Goedeke argumentativ dagegen. In seinem Antwortbrief rechtfertigte er die Bewahrung der historischen Orthografie folgendermaßen: __________
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„die Anmerkungen als Selbstzweck“ behandeln wolle. Grundsätzlich wird Zarncke – vgl. abermals den Brief an Weinhold, 7. 2. 1854; Joost (Anm. 6) – der ‚wortphilologischen‘ Partei Lachmanns zugeschlagen. Vgl. überblickshaft Ulrich Seelbach: Edition und Frühe Neuzeit. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 99–119, hier S. 99–106. Vgl. bereits die Vorrede zur Anthologie Elf Bücher deutscher Dichtung (1849) „Leid thut es mir [...], daß dem sechzehnten Jahrhundert nicht ausgedehntere Beachtung zu Theil werden durfte.“ Vgl. Pamphilus Gengenbach. S. F. R. Hrsg. von K. G. Hannover 1856. – Dass alle aufgenommenen Texte tatsächlich dem Autor Gengenbach zuzuschreiben sind, bezweifeln bereits J. Grimm, Brief vom 31. 12. 1854 (vgl. auch Goedekes Entgegnung, 3. 1. 1855), und Hoffmann von Fallersleben, Brief vom 29. 12. 1855; Behrend 1930 (Anm. 27), S. 267 f. – Vgl. zur Aufnahme der Edition und den an diese geknüpften sprachhistorischen Forschungsperspektiven auch den Brief Wilhelm Grimms an Goedeke, 23. 5. 1855: „ich habe Ihnen noch nicht selbst für den P. Gengenbach gedankt, und doch war es mir ein werthes geschenk, [...] weil er ein zeugnis war, daß man anfängt die denkmäler des 15ten und 16ten jahrh. zu berücksichtigen, wozu Zarnke durch die ausgabe des Brant. Narrenschiffs einen löblichen anstoß gegeben hat. es ist nicht weniges daraus zu lernen, besonders hoffe ich daß eine grammatik der sprache jener zeit, welche den übergang des mhd. in das nhd. darstellt, ausgearbeit[et] wird.“ Vgl. auch Karin Rädle: „Das gebrechen liegt in unbefugter und regellos schwankender häufung der vocale wie consonanten ...“. Jacob Grimm und seine Vorstellungen von der deutschen Orthographie. In: Jahrbuch der Brüder-Grimm-Gesellschaft 11/12, 2001/02, S. 77–94. J. Grimm an Goedeke, 21. 12. 1855.
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Per Röcken [...] mir als Herausgeber eines Dichters, der seine Sachen selbst druckte, lag, glaube ich, die Verpflichtung ob, urkundliche Texte zu liefern, die viel mühsamer sind, als Texte in geregelter Schreibung. Letztere scheinen mir für das XVI. Jh. noch [nicht nötig; erstere aber] um so w[ichtiger,] da [un]sre kritischen H[erausgeber wie Sc]hade u[nd l]eider auch Hoff[mann] v. F. die gangbarsten Worte[r nicht ver]stehen und für Druckfehler halten. [...] Für Alle werden ja die Bücher des XVI. Jh. nicht herausgegeben und die Leser, für die sie bestimmt sind, finden die neuen Drucke sicher nicht schwieriger als die alten.52
Wenig später wurde diese Diskussion neuerlich aufgegriffen, als Goedeke daran ging, in einem literarischen Verein, für den er Grimm als Fürsprecher und ‚Aushängeschild‘ gewinnen wollte,53 populäre Ausgaben volkssprachiger Dichter des 16. Jahrhunderts herauszugeben. Abermals polemisierte Grimm scharf gegen jene „strengen, welche den plunder von ck, dt, fft lassen wollen“54 – und Goedeke lenkte ein: „Beim Hans Sachs soll eine geregelte Schreibweise durchgeführt werden.“55 Nach einem kurzen Schwanken zwischen ‚Wort- und Sachphilologie‘, einem vorübergehenden Konflikt zwischen dem eigenen, exakt archivalischdiplomatischen Konzept und der dogmatischen Lehrmeinung der anerkannten Autorität, verpflichtete sich Goedeke ausdrücklich auf die Grimm’sche Position, zumal sich letztere mit dem Primärinteresse einer Erschließung und Popularisierung der hochgeschätzten Texte besser vereinbaren ließ. In der 1870 abgeschlossenen Edition der Meisterlieder des Hans Sachs wählte Goedeke schließlich den Kompromiss, von den orthografisch weniger überfrachteten und überfremdeten Handschriften – also vom frühesten Textzeugen – auszugehen und im Interesse des nicht fachgelehrten Publikums56 frühneuzeitlicher Literatur – ganz im Sinne moderner Ausgabentypologie – „die ältere Schreibung leise dem neueren Gebrauche“ anzunähern.57 Mehr noch: In einer 1880 erschienenen kritischen Besprechung der Hans Sachs-Ausgabe Edmund Goet____________ 52 53 54
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Goedeke an J. Grimm, 30. 4. 1856. Vgl. Goedeke an J. Grimm, 20. 8. 1855 und 30. 4. 1856 (mit Anhang eines Druckblattes: Vereins-Statuten). J. Grimm an Goedeke, 7. 5. 1856: „Wir wollen sehn, wie Sie die schreibweise von H. Sachs regeln werden. einiges eigenthümliche gestehe ich ihm und Luther, Fischart u. a. zu, allein alles, wofür wir heute, mit unverändertem laut, richtig schreiben, z. b. jedes y müste unterbleiben. Schade und Hofmann verfahren hier im ganzen, nicht im einzelnen, löblicher als Zarnke und die strengen, welche den plunder von ck, dt, fft lassen wollen. beide, Schade und Hofmann, sind keine gründlichen sprachkenner, Schade kann es noch werden, Hofm. nicht mehr. nichts ist falscher als seine fürs niederdeutsche im Reineke [Breslau 1854, P R] eingeführte Schreibart“. Goedeke an J. Grimm, 30. 4. 1856. Vgl. Karl Goedeke: Einleitung. In: Hans Sachs: Dichtungen. Theil 1: Geistliche und weltliche Lieder. Hrsg. von K. G. 2., verbesserte Auflage. Leipzig 1883 [1870], S. V–VII und XIV. Goedeke 1883 (Anm. 56), S. XIV.
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zes berief sich Goedeke bei der Ermahnung, die „Treue der Reproduction“ nicht auch auf orthografische Eigenheiten der Drucke auszudehnen, ausdrücklich – offenbar auch der eigenen Positionierung wegen – auf die Autorität Jacob Grimms und zitierte nunmehr zustimmend dessen Brief vom 21. 12. 1855 – gleichsam als kanonisches Dokument.58 Die parallel zur „historisch-kritischen“ Schiller-Ausgabe entstandene SachsEdition verdient indes noch aus einem anderen Grund Erwähnung: Das Prinzip der Textanordnung nämlich war auch hier das der Chronologie der Entstehungszeiten. Die Persönlichkeitsentwicklung des Autors sollte – dies ist die normative Begründung – anhand ausgewählter Texte nachvollziehbar gemacht, eine „Vorstellung seines Entwickelungsganges“59 vermittelt werden: Worauf es ankam, das war die Reihenfolge einer nicht allzu kleinen Auswahl von Gedichten, in denen sich des Dichters innere Entwickelung annähernd erkennen ließ. [...] Die Auswahl gibt, zum allergrößten Theile aus Handschriften, eine chronologisch geordnete Reihe geistlicher und weltlicher Lieder als Belege innerer Entwickelung des Dichters und der Kunst seiner Zeit, die beide, wie jede historische Erscheinung, zunächst an sich und im Zusammenhange gewürdigt werden wollen, ehe man den allzeit fertigen, nach fremden Gesetzen gebildeten Maßstab anzulegen ein Recht hat.60
Die im letzten Halbsatz eingeforderte unvoreingenommene Beurteilung der Sachs’schen Meisterlieder soll also Goedeke zufolge „auf Grund der Denkmäler“ erfolgen und setzt daher – wie auch die Einsicht in die „Eigenthümlichkeit dieses Zweigs der Poesie“ – „ein Urkundenbuch“ voraus, das gestattet, „das Urtheil über die Dichtungen mit diesen selbst zu vergleichen.“61 Auch der hier zum Ausdruck gebrachte Gedanke, dass sich die Edition nicht nach willkürlichen ästhetischen Bewertungen des Gegenstands oder des Autors, sondern nach den objektiven Grundsätzen einer Dokumentation des faktisch Überlieferten richten sollte, wird in der Begründung der editorischen Grundsätze der Schiller-Edition aufgegriffen.
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Karl Goedeke: [Rez.] Sämmtliche Fastnachtspiele von Hans Sachs. In chronologischer Ordnung nach den Originalen herausgegeben von Edmund Goetze. I. Bändchen. Zwölf Fastnachtspiele aus den Jahren 1518–1539. Halle/Saale: Max Niemeyer 1880. In: Göttingische gelehrte Anzeigen 32, 1880, S. 1022–1024, hier S. 1023 f. – Wie sehr Goedeke die ‚Grundsätze‘ der Sachs-Edition von den Präferenzen Grimms abhängig machte, zeigen seine Briefe vom 20. 8. 1855, 3. 1. 1857 und 8. 7. 1857. Goedeke 1883 (Anm. 56), S. VIII. Goedeke 1883 (Anm. 56), S. XVII und IX. Goedeke 1883 (Anm. 56), S. X.
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Schiller – „historisch-kritisch“
Den ihm in Geschichte und ‚Familienstammbaum‘ der Editorik gemeinhin zugeschriebenen Ehrenplatz verdankt Karl Goedeke ausschließlich seiner Edition der Schriften Friedrich Schillers,62 deren Erarbeitung er auf Initiative Carls von Cotta ab etwa 1861 und zwar offensichtlich auch und vor allem aus finanziellen Gründen übernommen hatte63 und der er – alle Bände konzipierend, wenngleich nicht alle bearbeitend – als leitender Herausgeber vorstand. Die Beurteilung dieser Ausgabe fällt unter Historiographen und Theoretikern der Editionsphilologie recht uneinheitlich aus.64 Ein wesentlicher Grund hierfür scheinen Mehrdeutigkeit und Interpretationsbedürftigkeit programmatisch zentraler Ausdrücke wie ‚Textgeschichte‘ bzw. ‚Geschichte des Textes‘, ‚Veränderung‘, ‚Genese‘ oder ‚Entwicklung‘ zu sein. Wenn man nach Begründungen dafür sucht, warum Goedeke seiner Ausgabe – bekanntlich als erster – den innovativen Untertitel „historisch-kritisch“ gab,65 oder dafür, warum er sich für eine chronologische Textanordnung nach dem Prinzip der frühen Hand bei gleichzeitiger Nicht-Unterscheidung autoreigener und überlieferungsbe____________ 62
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Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer hrsg. von Karl Goedeke. 15 Teile in 17 Bänden. Stuttgart 1867–1876. – Vgl. zur Anlage der Ausgabe überblickshaft: Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller. Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearbeitet von Waltraud Hagen u. a. Berlin 1979, S. 498. – Die Auflagenhöhe lag bei 1000; vgl. Liselotte B. Lohrer: Cotta. Geschichte eines Verlags, 1659–1959. Stuttgart 1959, S. 130. Vgl. zur Vorgeschichte des Unternehmens, zur Zusammenarbeit zwischen Goedeke und Cotta sowie zu Vorarbeiten anderer: Goedeke an J. Grimm, 3. 5. 1861; Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 5.2, S. V f.; Bd. 11, S. VIf. und XIII f., sowie Goedeke 1867 (Anm. 14), S. 1962–1967. Zum historischen – näherhin literatursoziologischen – Kontext vgl. auch Birgit Sippel-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf die Editionen deutscher Klassiker. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14, 1974, Sp. 350– 414, bes. Sp. 374–376. Vgl. bereits Georg Witkowski: Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke. In: Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle zum 15. Februar 1921. Hrsg. von Werner Deetjen u. a. Leipzig 1921, S. 216–226, hier S. 220, und Ders.: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924, S. 10 f.; die simplifizierende, in wesentlichen Punkten falsche Kritik bei Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur (1966). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005, S. 289–320, hier S. 293–299 und S. 301, sowie die ausgewogeneren kritischen Hinweise bei Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/Main u. a. 2001, S. 26 f., S. 93 f. und S. 113. Ob und inwieweit der Ausgabe das Prädikat ‚historisch-kritisch‘ zu Recht zukommt, diskutiert eingehend Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog. Heidelberg 1976, S. 74–77; vgl. erhellend hierzu auch Plachta 2005 (Anm. 4), S. 392 f.
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dingter Textveränderungen entschied, so ist man im Wesentlichen auf die spärlichen Hinweise in den Vorworten der einzelnen Bände der Schiller-Ausgabe angewiesen.66 Das leitende Prinzip des Editionskonzepts ist die chronologische Anordnung67 aller auffindbaren Texte – unabhängig von ihrem ästhetischen Wert – nach ihrer Entstehungszeit, wobei das früheste urkundliche Zeugnis (vorübergehend) abgeschlossener Textproduktion, Handschriften und Erstdrucke also, als Grundlage gewählt und in authentischer Gestalt wiedergegeben wird, wobei spätere Veränderungen des Textes möglichst vollständig im Apparat mitgeteilt werden (vgl. 1, V; 15.1, V). Im Vergleich zu vorherigen Ausgaben neuerer Autoren ist dieses Prinzip bei Goedeke erstmals konsequent durchgeführt. Zwei Begründungen werden für diese Norm angeboten: (1) Allein Vollständigkeit und Chronologie als Objektivität gewährleistende methodische Prinzipien – „zugleich [...] für die Behandlung jedes einzelnen, auch des kleinsten Stücks“68 – bieten Schutz vor einer willkürlichen, an subjektiven Maßstäben oder genieästhetisch fundierten Autorbildern orientierten Anordnung der Texte;69 (2) der zutreffende Nachvollzug der offenbar kontinuierlich und teleologisch gedachten „geistigen“70 – biographisch-psychohistorischen – Entwicklung Schillers, von Goedeke als legitimes Benutzerinteresse vorausgesetzt, sei allein bei chronologischer Textpräsentation möglich. Die von Klaus Hurlebusch71 an der Schiller-Ausgabe „ansatzweise“ bemerkte „genetische Betrachtungsweise“ bezieht sich demnach weniger auf den Text, als vielmehr auf den ‚Dichter und Denker‘ selbst, auf dessen Persönlich____________ 66
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Zitatnachweise, die sich auf diese Ausgabe beziehen, werden im Folgenden in runden Klammern mit Band- und Seitenzahl im Text gegeben. – Ausdrücklich formulierte Grundsätze zur Schiller-Ausgabe hat Goedeke zwar angekündigt, aber nicht vorgelegt; Hinweise zur Begründung des Editionskonzepts finden sich in der Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 1, S. V; Bd. 4, S. V; Bd. 5, S. V–VIII; Bd. 6, S. V f.; Bd. 7, S. V; Bd. 8, S. V; Bd. 11, S. V–VII und S. XIII f.; Bd. 15.1, S. V; Bd. 15.2, S. V–VII, sowie in Goedeke 1867 (Anm. 14), bes. S. 1964–1969. Eine wichtige Einschränkung: Teilweise wird parallel zur chronologischen eine generische oder thematische Gliederung durchgeführt, da Texte – Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 6, S. V –, „die in besondere Gruppen zusammengestellt sind, [...] als gleichzeitige Beschäftigungen, in denen Schiller seine Zeit zersplitterte, aber zugleich sein ganzes Wesen ausweitete und vertiefte, neben dem hier Gebotenen berücksichtigt werden [müssen], wenn man ein zutreffendes Bild seiner Entwicklung gewinnen will“. Goedeke 1867 (Anm. 14), S. 1969. Vgl. Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 4, S. V; Bd. 5.1, S. VII f., und Bd. 6, S. V f., sowie Goedeke 1867 (Anm. 14), S. 1967–1969. Goedekes Ausdrucksgebrauch von „Geist“, „geistiges Leben“, „Geistesentwicklung“, „geistig“ usw. ist einigermaßen diffus, entspricht damit aber dem zeitgenössisch Üblichen; vgl. auch den Hinweis auf Wilhelm von Humboldts Schrift Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung (1830) bei Kreutzer 1976 (Anm. 65), S. 77. Hurlebusch 1996 (Anm. 1), S. 480.
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keitsentwicklung. Goedekes Edition ist demnach „im wahrsten Wortsinn eine Schiller-Ausgabe“.72 Freilich geht damit die Präferenz eines bestimmten Autormodells einher: „der Werdende“ wird gegenüber „dem Gewordenen“ exponiert (1, V; 6, V); oder – wie Hurlebusch das ausdrückt: „der Autoraspekt der Produktion“ hat „Vorrang [...] vor dem der kommunikationsgebundenen Selbstbestimmung“.73 Zusätzlich wird ein hermeneutisches Argument bemüht, demzufolge die Kenntnis der persönlichen Entwicklung Schillers als relevanter Kontext für das relationale Verständnis der einzelnen Texte dienlich sei. Nachvollziehbar wird dieser Gedanke etwa angesichts des Mehrfachabdrucks unterschiedlicher „Bearbeitungen“, soweit diese „als selbstständige Werke auftraten“.74 Eine tatsächliche Innovation Goedekes stellt indes die Exponierung des Entstehungsprozesses dar, wie sie sich im Versuch widerspiegelt, den bis dato kaum erschlossenen Nachlass Schillers – Skizzen, Entwürfe, Fragmente – zum editorischen Gegenstand zu erheben.75 Dem poetologischen Interesse76 folgend, den Blick in die Werkstatt des „Meister[s]“ für lehrreiche „Anweisungen zur Dichtkunst“ (15.2, VI) zu nutzen, war Goedeke hier mit Problemen konfrontiert (vgl. 15.2, V f.), für deren Lösung die Editorik seiner Zeit noch kein elaboriertes Instrumentarium entwickelt hatte: Wie überhaupt sollte eine Ordnung in das Material gebracht werden – und vor allem: Wie sollten zugleich die räumlichen Verhältnisse der Manuskriptseiten, der konkrete Vorgang der Textrevisionen und deren relative Chronologie darstellungstechnisch integrativ erfasst werden? Goedeke sah deutlich, dass dafür „gestrichene Lettern und Schriftsorten verschiedenster Art nicht aus[reichen]“ und „nur eine photographische Wiedergabe“ (15.2, VI) der Dokumente den handschriftlichen Produktionsprozess wiedergeben könnte, versuchte dann aber doch, mit Hilfe räumli____________ 72 73 74
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Kreutzer 1976 (Anm. 65), S. 75. Hurlebusch 1986 (Anm. 1), S. 23. Vgl. Goedeke 1867 (Anm. 14), S. 1669 und S. 1973 f., sowie das Beispiel in Bd. 11, S. 40–42. – Vgl. zur positiven Aufnahme dieser Form der Textpräsentation Rudolf Gottschall: Kritische Schiller-Ausgaben. In: Blätter für literarische Unterhaltung 17–18, 1869, S. 257–262 und 273– 279, hier S. 258 und 273–279. Vgl. zur positiven Aufnahme der Nachlass-Bände die Rezension von Karl Bartsch: Die kritische Schiller-Ausgabe. In: Blätter für literarische Unterhaltung 16, 1878, S. 249–251, hier S. 250: „Aber auch die nur in Entwürfen, ohne einen Anfang von Ausführung vorhandenen dramatischen Plane sind von höchstem Interesse, nicht nur wegen der Stoffe, die Schiller beschäftigten, sondern auch wegen der Art seines Arbeitens. [...] Nichts kann lehrreicher sein für unsere heutigen Dramatiker; [...] Wir müssen Goedeke in höchstem Grade dankbar sein, daß er dieser mühevollen Arbeit sich unterzogen und sie in so musterhafter Weise gelöst hat.“ Vgl. auch Hans Zeller: Fünfzig Jahre neugermanistische Edition. Zur Geschichte und künftigen Aufgaben der Textologie. In: editio 3, 1989, S. 1–17, hier S. 3, sowie Bodo Plachta: Germanistische Editionswissenschaft im Kontext ihrer Geschichte. In: Anglia 119, 2001, S. 375–398, hier S. 385.
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cher Nachahmung – Goedeke spricht auch von „Facsimile-Druck“ (15.1, 86; vgl. z. B. 11, 411–415) – und mittels diakritischer Zeichen77 „alles möglichst so [wiederzugeben], wie das Geschriebene im Druck nachzubilden war“ und es somit wenigstens „einigermassen zu veranschaulichen“ bzw. den Editionsbenutzern „die Möglichkeit“ zu bieten, „die Handschrift des Dichters sich selbst nachzubilden“ (15.2, VII). Leitend war jedenfalls auch hier das Motiv der Rettung:78 „Die Hauptsache ist geschehen: das Vorhandene ist vor dem Untergange geborgen“ (15.2, VII). Grundsätzlich ist Goedekes Anliegen in der Schiller-Ausgabe die möglichst vollständige, nicht selektive und neutrale Dokumentation, Sammlung und Konservierung dessen, was historisch der Fall war, des faktisch Überlieferten als zuverlässiger Grundlage (vgl. 5.1, V f.; 11, V f.) späterer Forschungen und Editionen.79 Wie bereits angedeutet, beschränkte er sich hierbei aber eben nicht darauf, nur die auktorialen oder autorisierten Veränderungen des Textes zu dokumentieren, sondern erfasste „in möglichster Vollständigkeit und Genauigkeit“ auch Texteingriffe späterer Herausgeber, Korrektoren und Setzer. Auf diese Weise suchte er parallel zwei Zwecke zu realisieren: „eine Uebersicht der Geistesentwicklung Schillers“ und zugleich „eine Geschichte der Textgestaltung nach den Urkunden“ zu geben (15.1, V). Die im lemmatisierten Apparat umfassend dokumentierte „Geschichte des Textes“ (6, VI; 11, V f.; vgl. als Beispiel 3, 354–357)80 umfasst damit sowohl Autorvarianten wie Lesarten und Konjekturen. Darin, dass der Apparat äußerlich nach dem Muster des apparatus criticus gestaltet ist, mag man zwar einen gewissen Reflex auf etablierte Verfahren erkennen und vermuten, Goedeke sei noch stark vom überlieferungsgeschichtlichen Denken der Altphilologie geprägt gewesen, woraus sich übrigens auch – wie Herbert Kraft meint – erklären lasse, warum sich Goedeke an der „ältesten erreichbaren Urkunde“ (4, V; ____________ 77
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Vgl. die Aufstellung in Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 15.2, S. 323. – Es werden sowohl Hinweise auf die Art als auch die Position einer handschriftlichen Textrevision gegeben, worin sich durchaus – so Hurlebusch 1986 (Anm. 1), S. 23 – „das Bestreben“ widerspiegeln mag, „die Änderungen nicht nur als Änderungsergebnisse, als Abweichungen vom edierten Grundtext, sondern als Änderungsakte darzustellen, indem angegeben wird, wie geändert wurde.“ Vgl. erhellend hierzu Rüdiger Nutt-Kofoth: Dokumentierte und gedeutete Befunde. Zum Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe von C. F. Meyers Gedichten mit einem Rück- und Ausblick auf die Entwicklung der Editionsphilologie. In: Euphorion 94, 2000, S. 225–241, hier S. 239. Vgl. dazu kritisch Gottschall 1869 (Anm. 74), S. 258: „Die große Cotta’sche ‚historischkritische‘ Ausgabe geht aber mit der Blumenlese der Varianten so gründlich gelehrt wie möglich vor, was sich damit rechtfertigen läßt, daß hier für alle anderen Schiller-Ausgaben eine breite Basis gewonnen werden soll. Namentlich ist die große Zahl orthographischer Varianten, welche die Noten so anschwellt, nur durch diese Rücksicht zu erklären, da doch den wenigsten Lesern zuzumuthen ist, daß sie durch dies Gestrüpp der Buchstabenkritik folgen.“ Vgl. hierzu erhellend Kraft 2001 (Anm. 64), S. 93 f. und S. 113.
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15.1, V) als einer Art Archetypus orientiert habe.81 Es ist sicher zutreffend, dass Goedekes Editionskonzeption eine zugleich retro- und prospektive Janusköpfigkeit besitzt: einerseits scheint sie der spezifischen Überlieferungslage neuerer Texte erstmals Rechnung zu tragen und für diese adäquate editorische Verfahren zu erproben oder wenigstens zu erwägen, andererseits greift sie vor allem in der Apparatgestaltung mechanisch auf etablierte altphilologische Verfahren zurück.82 In den Vorworten zur Schiller-Ausgabe finden sich kaum ausdrückliche Begründungen für die Erfassung auch der Überlieferungs- bzw. – wie Hans Zeller diese nennt – „Wirkungsvarianten“:83 Offenbar schien Goedeke diese Praxis weniger legitimationsbedürftig zu sein als die chronologische Textanordnung, die Aufnahme unpublizierter Texte und die Präferenz des ältesten Zeugen. Zunächst ist zu bedenken, dass natürlich auch nicht-autorisierte „Ausgaben durchaus Lesarten als Konjekturen“ enthalten können, „die in der Textkonstituierung zur Verbesserung von Überlieferungsfehlern“ zu berücksichtigen wären.84 Auch dient der detaillierte Vergleich von Textzeugen der Einsicht in die stemmatische Abhängigkeit der einzelnen Überlieferungsträger und zuweilen dem Nachweis von Doppeldrucken.85 Und selbst wenn sich eine Lesart als irrelevant für die „Kritik des Textes“ erweisen sollte, so ist sie es nicht auch für die „Geschichte der Textkritik“ (vgl. 7, V; 8, V), die Geschichte der Edition des Textes, die Behandlung des Schillerschen Œuvre durch wechselnde „Redactionen“. Ausdrücklich benennt Goedeke seine Absicht, einen „Einblick in die Geschichte des Vulgärtextes“ (6, VI) zu geben, wie er seit Körners Ausgabe (1812–1815) sich entwickelt habe. Als „Ausgabe der Ausgaben“86 gibt die ____________ 81
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Kraft 2001 (Anm. 64), S. 26; vgl. ebd.: „Dann erklärt sich auch die Berücksichtigung nichtauthentischer Ausgaben im Lesartenapparat aus der philologischen Tradition der Rekonstruktion, durch die das Original aus den späteren Abschriften gewonnen wird. So konnte der Unterschied zwischen authentischen und nicht-authentischen Überlieferungsträgern, den es bei der antiken Überlieferung nicht gab, trotz der neuzeitlichen Überlieferung als nicht-kategorial angesehen werden.“ Zu dieser Einschätzung gelangt auch Nutt-Kofoth 2005a (Anm. 5), S. 100. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–89, hier S. 74.; vgl. erhellend zur Relevanz solcher – alternativ als „Rezeptionsvarianten“ zu bezeichnenden – Lesarten auch Hans-Gert Roloff: Probleme der Edition barocker Texte. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 4.2, 1972, S. 24–69, hier S. 58 f. Kraft 2001 (Anm. 64), S. 27. Vgl. die entsprechenden Hinweise in Bd. 2, S. VII, und Bd. 10, S. V, sowie Goedeke 1867 (Anm. 14), S. 1971–1973. Dieses Aperçu lässt sich – bereits als stehende Wendung – erstmals nachweisen bei Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie (1877); zitiert nach Witkowski 1921 (Anm. 64), S. 220; vgl. hierzu auch die treffende Bemerkung bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Einleitung. In: Dokumente 2005
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Schiller-Edition damit einen ordnenden Überblick über den Stand der SchillerEdition: „Mit dem hier gesammelten Apparat“, so Goedeke, könne sich „jeder Leser jede benutzte Ausgabe fast vollständig reconstruieren“ (11, VI), womit übrigens – ganz im Sinne Jacob Grimms – nicht zuletzt ein sprach-, näherhin orthografie-historisches Interesse verbunden gewesen sein dürfte.87 Die Schiller-Ausgabe wurde in zeitgenössischen Rezensionen durchaus positiv aufgenommen – so erachtet Robert Boxberger in einer umfangreichen Besprechung Goedekes Edition als „für die Schillerliteratur epoche machende[s] litterarische[s] unternehmen“88 – und ihre Wirkungsperspektiven wurden auch von anderen entsprechend positiv beurteilt: Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Ausgabe wie die von Goedeke eigentlich niemals populär werden kann. Dazu ist sie nicht allein zu kostspielig, sondern mehr noch, die ganze Anlage schließt eine Popularität aus. Sie ist daher für den Literarhistoriker und Philologen bestimmt, diesem aber unentbehrlich, und da die Zahl derjenigen, die sich in philologischer Weise mit der neuern Literatur beschäftigen, erfreulich zunimmt, so ist auch für diese Ausgabe ein, wenngleich nicht rascher, doch sicherer und stetiger Erfolg vorauszusehen.
Noch 1877 prophezeite Wilhelm Scherer: „das Vorbild der historisch-kritischen Schiller-Edition [...] wird Goethe ohne Zweifel zugute kommen“90 – editionspraktisch eingelöst wurde dieser Gedanke indes (vorerst) nicht: Die __________
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(Anm. 64), S. IX–XXIX, hier S. XIX: „Das war nicht nur als Ehrentitel gedacht, sondern bezog sich auch auf die Variantendarstellung.“ So auch Kreutzer 1976 (Anm. 65), S. 76, mit plausiblem Hinweis auf eine entsprechende Formulierung in Bd. 5.1, S. VII, „daß der ganze Apparat bis ins Kleinste vollständig vorzulegen sei, um an der einzelnen Erscheinung den Umschwung der Sprache [!], wie er sich innerhalb der Schriften Schillers zeige, erschöpfend zu schildern und die Geschichte der Textgestaltung genau erkennen zu lassen“. – Vielsagend ist auch Bartsch 1878 (Anm. 75), S. 251: „Mit einer auch das Kleinste berücksichtigenden Genauigkeit ist die Vergleichung der Quellen gemacht. Die abweichende Orthographie derselben ist ebenso berücksichtigt und angegeben wie abweichende Interpunktion. Wenn jenes für die Geschichte unserer Rechtschreibung von Interesse ist, weil es zeigt, wie sich die Orthographie [!] in den Ausgaben allmählich verändert [...].“ – Vgl. auch folgende Überlegung bei Heyne/Jeep 1888 (Anm. 6), S. 282: „Die kritischen Grundsätze Goedekes sind bisher für die Ausgabe anderer unserer Dichter nicht fruchtbar gemacht worden; und doch, dächte man sie sich z. B. auf Klopstock angewendet, welches Licht müsste dann allein nur auf die Wandlungen und Entwickelungen unserer Sprache [!] im 18. Jahrhundert fallen.“ Robert Boxberger: [Rez. zur Schiller-Ausgabe]. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 40, Bd. 102, 1870, S. 162–167, 235–252, 347–356, 387–406; 43, Bd. 108, 1873, S. 357– 385 und 424–437, hier S. 162. – Weitere Rezensionen sind bibliographisch erfasst bei Jacob 2000 (Anm. 6), S. 274 f. Bartsch 1878 (Anm. 75), S. 251. – Ob Goedekes Ausgabe von Vertretern der universitär institutionalisierten Philologie bei Interpretationen, Kommentaren usw. praktisch benutzt wurde bzw. ob ihr der Vorzug vor zeitgenössischen Konkurrenzunternehmen – wie etwa den in Rezensionen oft erwähnten Schiller-Ausgaben Heinrich Kurz’ – gegeben wurde, wäre eigens zu prüfen. Scherer 1877; zitiert nach Witkowski 1921 (Anm. 64), S. 220.
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Weimarer Goethe-Ausgabe91 sah sich vielmehr dem Prinzip später bzw. letzter Hand und damit – als ‚Testamentsvollstrecker‘ – der Dokumentation des ‚letzten Willens‘ des Autors verpflichtet, der Rezeption steuernden Kanonisierung eines ganz anderen Aspekts des Autorbildes also und damit einer bestimmten Werkgestalt. Auch waren die Kritiker der monumentalen ‚Sophien-Ausgabe‘ viel zu sehr darauf bedacht, ihre jeweilige editorische Position als innovativen Neuansatz zu exponieren, als dass sie sich auf das konzeptionelle oder methodische Vorbild Goedekes legitimatorisch hätten berufen wollen. Vor ähnliche Probleme gestellt, verfolgten sie dennoch ähnliche Lösungsansätze wie dieser, wenngleich mit anderen normativen – z. B. literatur- und texttheoretischen – Prämissen, Zielsetzungen und darstellungstechnischen Methoden. Anders als Winfried Woesler meint, wurde Goedekes Ausgabe dessen ungeachtet nicht zum „Muster für künftige neugermanistische Editionen“,92 sondern blieb zeitgenössisch weitgehend ohne Wirkung und spielte namentlich bei den avancierten editorischen Debatten des 20. Jahrhunderts „so gut wie keine Rolle“.93 Zu unreflektierter Nachahmung reizendes Vorbild – etwa für einzelne Bände der Schiller-Nationalausgabe (1943 ff.) – wurde die Edition allenfalls in Bereichen, die ohnehin nicht als ihr Spezifikum, sondern seit Lachmann als philologisches Gemeingut gelten können: bei der Apparatgestaltung nämlich, näherhin bei der Aufnahme nicht-autorisierter Überlieferungsvarianten.94 Hier hat Goedekes Ausgabe konservativ gewirkt – und das gilt in einer nicht an der Kontinuität vermeintlich überkommener Praxen, sondern an der progressiven Entwicklung des Faches interessierten Geschichtsschreibung als nicht eigens oder allenfalls negativ erwähnenswert. Meines Erachtens sollte man aber, wenn nach Goedekes Stellung in der Geschichte neugermanistischer Editionsphilologie gefragt wird, grundsätzlich zwei Perspektiven unterscheiden: die zeitgenössische, nach nachweisbaren Kausalrelationen oder epistemischen Brüchen forschende, und die ex post wertende, Goedekes Leistungen an ihm fremden (späteren) Maßstäben oder am gegenwärtigen Diskussionsstand messende. Goedekes Stellung bestimmt sich demnach einerseits danach, wie sich seine Edition zum zeitgenössisch Üblichen verhielt, wie sie konkret gewirkt hat bzw. editionstheoretisch oder -praktisch rezipiert wurde. Innovativ waren ____________ 91
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Vgl. auch die Gegenüberstellung bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Two Paradigms in 19th Century German Editing: Goedeke’s Schiller Edition and the Weimar Goethe Edition as Different Steps towards a Particular Concept of Editing Modern Authors. In: Variants 5, 2006, S. 315–330. Woesler 2003 (Anm. 2), S. 129. Hurlebusch 1986 (Anm. 1), S. 24; vgl. auch Nutt-Kofoth 2005b (Anm. 86), S. XIX: „Als Franz Muncker 1886 die neue, jetzt 3. Auflage von Lachmanns Lessing-Ausgabe mit einer Vorrede einleitete, spielten Goedekes Überlegungen keine Rolle.“ Kraft 2001 (Anm. 64), S. 94; vgl. Nutt-Kofoth 2005b (Anm. 86), S. XIX: „Auf dieser Ebene blieb die Ausgabe problematisches Vorbild“.
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hier zweifellos Goedekes Exponierung des Nachlasses bzw. der „Jugendversuche“95 als editorisch und literaturwissenschaftlich relevante Gegenstände, die von ihm gewählten Prinzipien der Textauswahl und -anordnung sowie die Forderung nach photomechanischer Reproduktion komplizierter Entwurfshandschriften, die „für die Werke neuerer Autoren ohne Vorbild“96 war. Andererseits lassen sich gemessen an späteren ‚Errungenschaften‘ und heutigen Standards viele Bestandteile von Goedekes Schiller-Edition (sogar einzelne Formulierungen) ex post als Ausdruck „verblüffender Weitsicht“,97 als „weit in die Zukunft voraus[weisend]“98 oder eben – wie eingangs erwähnt – als Aspekte einer ideellen ‚Vorläuferschaft‘ textgenetischer Edition auffassen. Zu bedenken ist freilich: Allein wegen der chronologischen Anordnung mehrerer verschiedener Texte oder auch der Bevorzugung einer einzigen (denn wenn mehrere ‚Bearbeitungen‘ eines Textes in toto wiedergegeben werden, so geschieht dies nicht integrativ, sondern seriell), nämlich der frühesten Textfassung scheint es nicht gerechtfertigt, die Ausgabe in toto – ob nun zum Zwecke der Legitimation eigener Zielsetzungen (wie bei Hurlebusch und Zeller) oder um sich von solchen „Abwegen“ zu distanzieren (wie bei Hahn und Holtzhauer) – als ‚genetische Edition‘ zu bezeichnen. Allenfalls Goedekes Behandlung der Nachlass-Texte,99 bei der es tatsächlich primär um den Nachvollzug der Textentstehung geht,100 weist – theoretisch und praktisch – einige Ähnlichkeiten mit textgenetischen Editionskonzepten des 20. Jahrhunderts auf, wenngleich diese nicht durch das Vorbild Goedekes zu erklären sind. Auch die versuchte Nachbildung räumlicher Manuskriptverhältnisse und der Vorschlag photographischer Dokumentation sagen an sich nichts über den Status der Ausgabe als ‚genetischer‘ aus. Bei der Bezugnahme auf Goedeke sollte jedenfalls bedacht werden, dass – um eine Formulierung Klaus Weimars101 leicht abzuwandeln – „Legitimität ____________ 95
Dieser Gegenstand schien Goedeke besonders legitimationsbedürftig; vgl. Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 1, S. V: „In diesem ersten Theile, der meistens den Schüler darstellt, hat alles Einzelne nur relativen Werth als Entwicklungsmoment, als Beleg der Geschichte von Schillers Geist, und dabei läßt sich zwischen Wichtigem und Minderwichtigem nicht füglich unterscheiden.“ 96 Nutt-Kofoth 2005a (Anm. 5), S. 99. 97 Plachta 2005 (Anm. 4), S. 393. 98 Nutt-Kofoth 2005b (Anm. 86), S. XIX. 99 Vgl. zu dieser wichtigen Differenzierung bereits Kreutzer 1976 (Anm. 65), S. 75. 100 Vgl. Schiller-Ausgabe (Anm. 62), Bd. 15.2, S. VII: „Ich bin bestrebt gewesen, vom Allgemeinen in das Specielle zu führen, um dem Wege zu folgen, den der Dichter gegangen ist. Ich will nicht sagen, dass ich das absolut Richtige getroffen habe“. 101 Klaus Weimar: Über das derzeitige Verhältnis der deutschen Literaturwissenschaft zu ihrer Geschichte. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 16,1, 1991, S. 149–156, hier S. 151 (im Original steht „Literaturwissenschaft“). – Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zur Indienstnahme der Fachgeschichte bei Bluhm 2005 (Anm. 26), S. 150.
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[...] keiner bestimmten Auffassung von [Editionsphilologie] aus der Geschichte zu[wächst], sondern [...] anders erworben werden“ muss; dies trifft auch für methodische Fragen der Textpräsentation zu, wenngleich hier in der Fachgeschichte ein kumulativ anwachsendes Angebot bereitliegt,102 zu dem auch Goedeke beigetragen hat. Für heutige Editoren lehrreich und – im Sinne einer ‚monumentalischen Historie‘ (Nietzsche) – ermutigend sind und bleiben dessen ungeachtet Goedekes Versuche, sein Editionskonzept mit dem Hinweis auf legitime Benutzerinteressen und pragmatische Lösungen bestimmter Darstellungsprobleme ausdrücklich zu begründen. Hier kann der Blick in die Fachgeschichte103 der Editionsphilologie positiv befremden dergestalt, dass er die eigene (zumeist elliptische) Begründungspraxis hinsichtlich editorischer Normen und Zielsetzungen sowie deren unreflektierte Implikationen mit anderen Augen zu sehen lehrt und hilft, internalisierte, kritikenthobene kognitive Orthodoxien – auch manchen ‚Traditionsschutt‘ – analytisch zu durchdringen. Im Idealfall geht damit die Forderung nach expliziter, aufgeklärter Begründung des eigenen Tuns und – so wäre zu hoffen – entsprechender Selbstverpflichtung einher. Die Beschäftigung mit der Persönlichkeit, der Haltung und den von beidem nicht zu trennenden editorischen Leistungen Karl Goedekes kann hierzu aussichtsreiche Anhaltspunkte liefern.
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Vgl. hierzu erhellend Hans-Harald Müller: Wissenschaftsgeschichte und neugermanistische Editionsphilologie. In: editio 23, 2009, S. 1–13. 103 Welche Funktionen fachgeschichtliche Forschung grundsätzlich erfüllen kann diskutiert (wenngleich in anderem Zusammenhang) Andreas Urs Sommer: Was heißt und zu welchem Ende schreibt man Philosophiegeschichte? In: Scientia Poetica 12, 2008, S. 267–293.
Bernd Hamacher
Michael Bernays – „lettern, die die welt bedeuten“
[D]ie Blüten [fallen] ab, nicht alle Kronen setzen Frucht an und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt.1
Diese resignative Erkenntnis aus der unterdrückten Vorrede zum dritten Teil von Goethes Dichtung und Wahrheit scheint unmittelbar auf den Ertrag des wissenschaftlichen Wirkens von Michael Bernays (1834–1897) gemünzt. Als er 1897 im Alter von nur 62 Jahren einem erblichen Herzleiden erlag, hatte er zwar vor genau sieben Jahren das Amt des Hochschullehrers mit dem des Privatgelehrten vertauscht,2 sein ‚opus magnum‘, Homer in der Weltliteratur, blieb dennoch ungeschrieben.3 Seinem Nachruhm hat dies zunächst nicht ge____________ 1
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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. Abt. I, Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker. 15), S. 972. Die offizielle Begründung lautete, dass er den ausschließlich der Lehre gewidmeten Jahren nun Jahre des Schreibens folgen lasse wolle. Eine inoffizielle Erklärung überliefert sein Schüler Georg Witkowski: Bernays sei aus seinem Münchner Lehramt geschieden, „angeblich weil ihm der Orden der Bayerischen Krone, mit dem der persönliche Adel verbunden war, versagt wurde. Er ging nach Karlsruhe, in der Hoffnung, dort am Hofe eine ihm gemäße Rolle zu spielen. Das großherzogliche Paar hörte gern schon vorher den meisterhaften Rezitator, wenn er alljährlich in Baden-Baden weilte“ (Georg Witkowski: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig 2003, S. 133). Dass Bernays als konvertierter Jude mit seinem kämpferischen Protestantismus in Bayern Anstoß erregen musste, ist evident. Trotz seiner entschiedenen Parteinahme für Preußen, die nicht ohne kulturkämpferische Züge war, ist sein Bemühen um ein auskömmliches Verhältnis mit dem Katholizismus indes unverkennbar. Stolz notierte er anlässlich einer Sitzung des Bayerischen Landtags vom 10. Januar 1880 über Äußerungen des Abgeordneten Herz, „einer der begabtesten Führer der liberalen Partheien“: „er ist, nebenbei gesagt, Katholik, hört also in meinen Vorlesungen manches, was nicht eben zu seinen Überzeugungen stimmt. [...] Es ist das Erfreulichste von Anerkennung, was mir bisher während meiner amtlichen Thätigkeit zu Theil geworden. Und diese Aeußerungen geschehen in einer politischen Versammlung, die sonst der Universität nur gedenkt, um sie anzugreifen“ (Bernays-Nachlass im Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien an der ChristianAlbrechts-Universität Kiel, Kasten XII). Ich danke Hermann Knebel, Catrin Runge und besonders Olaf Koch für die freundliche Unterstützung und die hervorragenden Arbeitsmöglichkeiten. Hendrik Birus erklärt diesen Umstand wie folgt: „Daß [...] der [...] ‚große Plan‘ eines Buchs über ‚Homer in der Weltliteratur‘ sowie der eines Buchs über William Wordsworth nicht reali-
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Bernd Hamacher
schadet, im Gegenteil. Ein Porträt Bernays’ ließe sich als Geschichte von Wissenschaftlermythen schreiben, und der erste Mythos wäre der platonische vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre. „Schüler und Freunde meinten, daß der Verzicht auf eine ununterbrochene schriftstellerische Thätigkeit durch solchen breiten und mächtigen Lehrerfolg nicht zu theuer erkauft sei, und zügelten deshalb die Wünsche, die Sie selbst so nahe legten.“4 So hieß es in der Zuschrift, die Bernays zu seiner Abschiedsvorlesung am 11. März 18905 aus Anlass seines vorgezogenen Ruhestandes erhielt und die von einer „freie[n] Vereinigung von Fachgenossen“, „dreiundneunzig älteren und jüngeren Männern“6 – die Münchner Neuesten Nachrichten schrieben von „sämmtlichen Fachgenossen Deutschlands“ –, mit Erich Schmidt, Bernhard Suphan und Bernhard Seuffert an der Spitze unterzeichnet wurde. Dies mag den legendären Ruf des Münchner Hochschullehrers belegen, ein Ruf, der zur Ausbildung geradezu eines wissenschaftlichen Übermythos führte. Bernays nämlich gilt einerseits als „(institutionelle[r]) Begründer des Faches Neuere Deutsche Lite-
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siert worden ist, ja daß kaum auch nur Notizen dazu überliefert sind, scheint kein Zufall zu sein. Denn im Gegensatz zu Goethes Idee der Weltliteratur als eines ‚Wechseltauschs‘ war bei Bernays die nationalliterarische Orientierung fraglos dominierend. Stärker noch als Dilthey, Gundolf, Kommerell und anderen germanistischen Vorvätern der Komparatistik in Deutschland – ganz zu schweigen von ihren herausragenden romanistischen Vertretern E. R. Curtius, Auerbach und Spitzer – ging es Bernays allemal um die ‚Aneignung des Fremden‘ durch die deutsche Literatur, nicht aber um die ‚Verfremdung des Eigenen‘ im Prozeß der internationalen literarischen Kommunikation“; Hendrik Birus: Zwischen Neugermanistik und Komparatistik: Michael Bernays (1834–1897). In: Goethezeit – Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag. Für das Freie Deutsche Hochstift hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Kristina Hasenpflug, Gerhard Kurz und Renate Moering. Tübingen 2003, S. 229–238, hier S. 233 f. Die konzeptionelle Erklärung Birus’ konkurriert mit der immer wieder genannten individualpsychologischen, für die Witkowski als Beispiel stehen mag: „Bernays lebte in jedem Sinne des Wortes mit diesen Büchern. Sie waren nicht nur die nährenden Quellen, sie überschwemmten sein Selbst. Ihm fehlte die Kraft, die unendlichen Fluten einzudämmen. Nie gelangte er zu einem umfangreichen Werke, und auch die kleineren Arbeiten hatten unter der Fülle des herandrängenden Stoffes zu leiden“ (Witkowski 2003, Anm. 2, S. 73). – Angesichts des Umstandes, dass nicht nur die komparatistischen Arbeiten ungeschrieben blieben, scheint mir dieser Erklärungsversuch plausibel, auch wenn ich Birus’ Argument keineswegs zurückweisen möchte. Vermutlich kam beides zusammen. Münchner Neueste Nachrichten, Vorabendblatt, 12. März 1890. In Erich Schmidts Überlieferung lautet die Formulierung interessanterweise umgekehrt: „Schüler und Freunde meinten, daß ein so breiter und mächtiger Lehrerfolg durch den Verzicht auf eine ununterbrochene schriftstellerische Thätigkeit nicht zu theuer bezahlt sei, und zügelten deshalb die Wünsche, die Sie selbst so nahe legten“ (Erich Schmidt: Vorwort. In: Michael Bernays: Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte. Bd. 2. [Hrsg. von Erich Schmidt]. Leipzig 1898, S. V–VIII, hier S. VI). Erich Schmidt gibt irrtümlich das Datum 11. Mai 1890 an; vgl. Schmidt 1898 (Anm. 4), S. V. Schmidt 1898 (Anm. 4), S. V.
Michael Bernays
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raturwissenschaft“ (so die Einschätzung von Michael Schlott),7 andererseits als „letzte[r] große[r] Polyhistor der deutschen Litteraturgeschichte“8 und „gelehrteste[r] litterarhistoriker unserer zeit“.9 Der Erste, der Letzte, der Größte, der Gelehrteste – aber eben auch der Unsichtbarste. Vielleicht ist das eine die Bedingung des anderen. Dass Bernays nicht nur – neben Wilhelm Scherer – für die wissenschaftliche Institutionalisierung der Neugermanistik steht, sondern sie zugleich in diesem kaum erreichten disziplinären Zuschnitt auch schon wieder überwindet, zeigt die Denomination seines Münchner Lehrstuhls, den er vergleichsweise spät, 1874, also im Alter von 40 Jahren, erhielt;10 sie lautete nämlich auf „neuere Sprachen und Literaturen“, ein Ordinariat mit komparatistischer Ausrichtung, das den universalen Anspruch seines Inhabers unterstrich, der sich nicht einmal mit den neueren Philologien begnügte, sondern die klassische Philologie als Orientierungspunkt immer im Auge behielt, wie auch sein ungeschriebenes Hauptwerk über Homer zeigt. Das antike Griechenland und das gegenwärtige wilhelminische Deutschland bzw. das Königreich Bayern waren die beiden Zentren, von denen Bernays auf die gesamte Weltliteratur – d. h. de facto: die gesamte europäische Literatur – ausgriff. In der Münchner Allgemeinen Zeitung vom 9. Februar 1874 war über Bernays’ Ernennung zu lesen: Auf Antrag der Universität ist Professor Michael Bernays zum Ordinarius für neuere Literaturgeschichte und für englische und französische Sprache ernannt worden. Bernays hat sich bekanntlich von der classischen Philologie her dazu ausgebildet die wissenschaftliche Methode derselben auf die Texte unserer großen Dichter anzuwenden, die Literaturgeschichte mit strenger Sorgfalt und Kritik zu behandeln, Shakespeare, Corneille und Molière zu interpretieren, wie wir dieß bei Sophokles ____________ 7
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Michael Schlott: Der Nachlaß von Michael Bernays (1834–1897) im Institut für Literaturwissenschaft der Universität Kiel. In: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik 17/18, 2000, S. 62 f., hier S. 62. Briefe von und an Michael Bernays. [Hrsg. von Hermann Uhde-Bernays]. Berlin 1907, S. IX. Richard M. Meyer: [Rez.] Michael Bernays, Zur neueren Litteraturgeschichte (Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte 1). In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur 22, 1896, S. 377–381, hier S. 377. Zum 1. Mai 1873 war Bernays als Extraordinarius für „neuere Literatur“ nach München berufen worden. „De facto handelte es sich hier um die erste Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte in Deutschland“ (Magdalena Bonk: Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Berlin 1995, Münchener Universitätsschriften. Ludovico Maximilianea. Forschungen. 16, S. 36). Bereits ein Semester später erhielt Bernays das Ordinariat; vgl. Bonk 1995, S. 37 f. Kaum bekannt ist, dass Bernays 1880 für den Wiener Lehrstuhl im Gespräch war. Die Wiener Universitätszeitung Alma mater schrieb am 8. April 1880 nach einem Gastvortrag Bernays’ über „Lessing’s Styl“: „Möge das Gerücht, dass Prof. Bernays berufen sei, die schon lange verwaiste Lehrkanzel an der Wiener Hochschule zu übernehmen, Bestätigung finden! Die studirende Jugend würde dieses Ereigniss mit Freude begrüssen“ (Nachlass Bernays, Kasten XIV).
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Bernd Hamacher und Aristophanes gewohnt sind. Seine glänzenden Erfolge als Lehrer erwarben ihm die rasche Beförderung, nachdem er auf Grund seiner schriftstellerischen Leistungen voriges Jahr als Extra-Ordinarius berufen war. München erhält damit die erste ordentliche Professur für dieses Fach. Es geschah auf Anregung von Seite des Königs selbst daß die Behörden die Errichtung von Lehrstühlen für deutsche Nationalliteratur und neuere Sprachen ins Auge faßten; Erlangen und Würzburg sollen folgen; Seminarien für moderne Philologie sind in Aussicht genommen um classisch gebildete Sprachlehrer des Englischen und des Französischen für die Gymnasien herbeizuziehen.11
Bernays setzte zwar dann die Deutsche Philologie als Promotionsfach an der Universität München durch, gehörte aber zu der Mehrheit der Ordinarien, die der vom Ministerium geplanten Gründung eines Deutschen Seminars ablehnend gegenüberstand und damit verhinderte, dass München eine Pionierrolle bei der Institutionalisierung der Neugermanistik übernahm.12 Die Weite von Bernays’ Beschäftigung mit dem gesamten indogermanischen Sprach- und Kulturraum dokumentiert sein Nachlass, in dem sich nicht nur Aufzeichnungen über Shakespeare, ältere englische Dichter, Angelsächsisch, Beowulf, französische Literatur und Theater, Racine, Corneille, Cervantes, Spanisch und Portugiesisch,13 sondern auch über Provenzalisch und Indisch finden.14 Diese universale Gelehrsamkeit und Belesenheit war die Basis seines legendären Lehrerfolgs, der für Bernays zwiespältig war. Einerseits sah er seine Vorlesungen durchaus im Sinne seines Nachruhms als sein auch methodisch schulbildendes Hauptwerk an: „Nicht nur, daß meine Vorlesungen den zahlreichsten Besuch und die regste innere Theilnahme dauernd finden; die herrliche Disciplin der philologisch behandelten Litteraturgeschichte wird hoffentlich für die Zukunft fest begründet sein“;15 andererseits schrieb er in einem Eintrag vom 8. Februar 1879: „Mit meinem sogenannten schönen Vortrag hat mich nun einmal Gott der Herr gestraft. Ich habe diese zweideutige Gabe oft aus vollem Herzen verwünscht.“16 Dahinter steht der zu überwinden____________ 11
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Nachlass Bernays, Kasten XIV. Dass die erwähnte Anregung zur Lehrstuhlgründung von Ludwig II. selbst ausgegangen sei, bezweifelt Bonk 1995 (Anm. 10), S. 201: „Diese Behauptung läßt sich anhand der Akten des Universitätsarchivs München nicht nachvollziehen, hier erscheint das neue Ordinariat lediglich als ministerielle Initiative.“ Bonk lag indes der oben zitierte Zeitungsartikel offenbar nicht vor, der zeigt, dass die Behauptung zumindest nicht allein der Legendenbildung der Bernays-Nekrologen entstammte. Vgl. Bonk 1995 (Anm. 10), S. 38, 44 f. Nachlass Bernays, Kasten VII. Nachlass Bernays, Kasten XI. Brief an Hermann Uhde vom 20. 3. 1876; Briefe Bernays 1907 (Anm. 8), S. 6. Daran anschließend konzediert Bernays: „Aber auch Scherer spricht ja hinreißend.“ Damit wird die Opposition von Philologie und Vortragskunst relativiert, die aus dem vorangehenden Notat spricht: „Erich Schmidt hat in Straßburg etwa 10 Zuhörer, auch bei Scherer in den großen Kollegien steigt die Zahl nicht über 40–50. Kein gutes Zeichen! Denn sicherlich kann man
Michael Bernays
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de Zwiespalt von literaturgeschichtlicher Exoterik und philologischer Esoterik, ein weiterer Baustein seines Mythos, der auch hinter der ungeschriebenen Lehre steht. Diese Unterscheidung zieht sich durch sein gesamtes Lebenswerk und prägt sich vor allem in einer polemischen Opposition von Dilettantismus und Philologie aus,17 die aus seinem Werdegang erklärbar ist. 1856 vom Judentum zum Protestantismus konvertiert – und zwar nicht etwa aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung –, musste der Sohn eines Hamburger Oberrabiners ohne Unterstützung der Familie sein Auskommen finden und fand dies noch während seines Studiums und vor allem nach seiner Promotion 1856 (bei Georg Gottfried Gervinus in Heidelberg, ohne Dissertation) für fast zwei Jahrzehnte vornehmlich als Journalist und Privatgelehrter, der Vortrags- und Rezitationsreisen durch ganz Deutschland unternahm. Ein erster Versuch von Friedrich Zarncke, Bernays 1868 in Leipzig zu einer Professur zu verhelfen, scheiterte. Die Fakultät lehnte den Antrag mit der Mehrheit von einer Stimme ab. Dass seit der Promotion zwölf Jahre vergangen waren, ohne dass Bernays zur Habilitation gelangt sei, „bildete einen großen Anstoß“, wie Zarncke ihn __________
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von beiden ebenso viel, wenn nicht mehr lernen als bei mir“ (Nachlass Bernays, Kasten XII). Die ambivalente Einstellung, die Bernays selbst seinen Lehrerfolgen entgegenbrachte, spricht auch aus einem Eintrag vom 6. November 1879: „Die Bedeutung des Stoffes, den ich diesmal behandle, entspricht ganz und gar der Theilnahme der Zuhörer. Wenn ich so beobachte, wie nun schon vier Monate hindurch sich Tag für Tag ein so bedeutender Kreis um mich versammelt, so dringt sich mir die Frage oft gebieterisch auf: Wie viel mag das nun in die Breite und in die Tiefe wirken? Aber geistige Wirkungen sind unberechenbar. Kenner der hiesigen Verhältnisse betheuern mir oft, daß die Einwirkung meines Wesens, meiner ganzen persönlichen Art gerade für die bayerische Jugend von entschiedener Bedeutung sei. Ich hege darüber einige Zweifel, deren ich mich nicht so leicht entschlagen kann.“ Am 24. November fährt er fort: „Ich muß meine hiesige Existenz in jedem Sinne rühmen. Gerade in diesem Winter ist der Zudrang zu meinen Vorlesungen so gewaltig, daß ich den größten Hörsaal wählen mußte. Wichtig vor allem ist mir aber der Einfluß, den ich auf den engeren Kreis meiner eigentlichen Zuhörer ausübe. So ist ein mir besonders werther Schüler [Franz Muncker] schon jetzt mein College geworden, ein anderer habilitirt sich in Marburg.“ Zum Ende des Semesters heißt es dann: „Mein großes Kolleg ging glorreich zu Ende. Noch zu der Schlußvorlesung hatten sich 80 bis 90 Zuhörer eingefunden, ich war sehr bewegt und schloß mit einigen Aeußerungen über die Verbindung, die zwischen dem echten akademischen Lehrer und den echten Schülern gestiftet wird durch die Gemeinsamkeit des geistigen Strebens und Arbeitens, welches eins ist mit dem höchsten geistigen Genusse, welcher dem Menschen vergönnt sein kann. Ich habe die Worte nachher fast vollständig in mein Tagebuch eingezeichnet“ (Nachlass Bernays, Kasten XII). Bernays benotete in seinen Aufzeichnungen jede seiner Vorlesungsstunden: Die Prädikate reichen von „sehr gut“ über „leidlich“, „mittelmäßig“ bis „schlecht“ und gar „sehr schlecht“; meist lauten sie jedoch „gut“, auch „überfüllt“ o. ä. Am 1. März 1876 schreibt Bernays an Erich Schmidt: „Sie wissen, dass auch ich seit Jahren im Kampfe gegen den Dilettantismus stehe, der sich noch immer auf keinem Gebiete so frech erweist, wie auf dem unsrigen“; Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Nachlass Erich Schmidt, 61.879. Im Nachlass Bernays in Kiel befinden sich Abschriften der Briefe Bernays’ von der Hand seiner Witwe, die sie von den Empfängern nach seinem Tode (leihweise) zurückerbeten hatte, zum Teil auch Bernays’ Originalbriefe. Für ergänzende Recherchen im DLA Marbach, die Einsicht der dortigen Originale von Bernays’ Briefen an Schmidt und Cotta und die Besorgung von Kopien danke ich Myriam Richter (Hamburg).
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am 30. Oktober 1868 wissen ließ; auch „daß Sie bisher bedeutende Unterstützungen zum Zweck der Habilitation erhalten hätten, ohne dieselben zu diesem Zwecke zu verwenden“. „Was nun das Ministerium thun wird, steht sehr dahin. Vielleicht setzt es sich über die Bedenken der Facultät hinweg u. ernennt Sie doch gleich zum Professor.“ Am 4. November berichtete Zarncke von weiteren Bemühungen: Sollten Sie an Hettner einen wirklich zuverlässigen Freund haben, so würden einige gelegentliche Worte zu Falkenstein [dem sächsischen Kultusminister] (Gelegenheit wird sich ja in Dresden schon finden) im Laufe der nächsten 14 Tage gewiß von guter Wirkung sein. Etwas verspreche ich mir auch noch von einem Brief meinerseits. Natürlich kann ich den Minister nicht auffordern, sich über einen Fakultätsbeschluß hinwegzusetzen. Aber ich bin es mir selbst schuldig, auf meinen Vorschlag noch einmal zurückzukommen u. die Gründe anzudeuten, die ihn zu Fall gebracht haben, [...] daß es seinen Eindruck, hoffe ich, nicht verfehlen soll.
Am 27. Dezember ist jedoch klar, dass die Bedenken wegen der fehlenden Habilitation überwiegen. Sei diese erfolgt, werde man sich entgegenkommend verhalten. Man verlangte die Einreichung einer Dissertation und eine Probevorlesung und war bereit, auf Kolloquium und Disputation zu verzichten. Zarncke resümierte: „Von aller Schuld kann ich Sie nicht frei sprechen, denn an Ihrer Nichthabilitierung haben alle Ihre Gegner einen so soliden Untergrund für ihre Vorwürfe, daß dagegen nicht anzukommen ist.“18 Dieser Untergrund bestand noch 1871 in Straßburg, als Bernays mit der Reichsgründung seine Stunde für gekommen wähnte. An den Übersetzer, Senator und Bremer Bürgermeister Otto Gildemeister schrieb er am 5. März 1871: Es ist eigentlich vermessen, in diesen Tagen von sich selbst zu sprechen; Sie werden aber meine Aeußerungen nicht mißdeuten. In Ihrem letzten Briefe an mich, noch unter dem frischen Eindruck des Tages von Sedan geschrieben, erwähnten Sie Straßburgs. Seitdem ist auch manchem Andern der Gedanke gekommen, ich würde dort vielleicht am Platze sein; und noch vor kurzem sprach Simrock sehr lebhaft den Wunsch aus, mich dorthin versetzt zu sehen. Ich weiß nun wohl, daß Sie unmittelbar für eine derartige Anstellung nicht wirken können; ist ja doch das Verhältniß des Elsaß zum Deutschen Reich noch nicht einmal fest bestimmt! Indeß wollte ich es doch nicht unterlassen, Ihnen die Angelegenheit wieder in Erinnerung zu bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man die Neubildung der Straßburger Universität nicht lange verzögern; und vielleicht findet sich, bei Ihrem Aufenthalt in Berlin, jetzt oder später ein günstiger Anlaß, einige kräftige Worte für mich oder vielmehr für die Sache zu sprechen. ____________ 18
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Meine persönlichen Wünsche würden sich nicht eben nach Straßburg richten. Für die auf streng philologischem Fundament begründete, wirklich g e s c h i c h t l i c h e Litteraturgeschichte, wie ich sie zu lehren vorhabe, wird dort fürs erste wohl kaum der Boden zu finden sein. Aber ich glaube in der That, daß dort ein vaterländisches Werk zu vollbringen ist, dem ich mich mit Eifer und Freude hingebend widmen würde. Der Gedanke an eine dortige Wirksamkeit ist mir gerade in den letzten Wochen wieder näher und lebhafter geworden. Obgleich ich für diesen Winter den öffentlichen Vorträgen gänzlich entsagt hatte, so schien es mir doch nicht angemessen, einige dringende Aufforderungen aus Düsseldorf, Köln u. s. w. abzulehnen; und da konnte ich mich wieder jeden Abend aufs neue von der tief eindringenden Macht des lebendigen Wortes überzeugen.19
Als weitere Empfehlung hatte er bereits am 18. September 1870 betont: „Wie Sie wissen, habe ich mich von jeher bestrebt, die deutsche Litteraturgeschichte im engsten Zusammenhange mit der Entwicklungsgeschichte Deutschlands aufzufassen.“20 Bernays’ Hoffungen erfüllten sich indes nicht. Gildemeister konnte zunächst aufgrund der unübersichtlichen Lage nichts für ihn tun, und als die ‚Reichsuniversität‘ gegründet wurde, machte bekanntlich Wilhelm Scherer das Rennen. Ein entscheidendes Handicap dürfte für Bernays eben die fehlende Habilitation gewesen sein, die erst 1872 in Leipzig auf Vermittlung von Salomon Hirzel mit der Schrift Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare erfolgte und ihm den Weg in die akademische Laufbahn doch noch öffnete. Nach diesem erst verspätet erfolgten Zugang zum universitären Lehr- und Forschungsbetrieb entfaltete Bernays – sicherlich nicht zufällig – sein Bemühen um wissenschaftliche Professionalisierung seines Faches umso rigoroser. Diese Bestrebungen fanden ihre Kehrseite im erwähnten Kampf gegen einen ästhetischen Dilettantismus, den er selbstkritisch auch in seinen eigenen schöngeistigen Vorträgen am Werk sah, auf die er dann konsequent verzichtete. Hieraus erklären sich auch seine zwiespältigen Empfindungen anlässlich seiner späteren Lehrerfolge. Seine Vorlesungen versuchte er nach einem streng philologischen Verständnis von Wissenschaft anzulegen. So schrieb er am 5. Januar 1877 an Hermann Uhde über seine Vorlesung zu Goethes Hermann und Dorothea: Meiner Methode gemäß lehnte ich die eigentlich aesthetische Betrachtung ab und suchte nur zu erklären, wie das fertige Werk auf die ersten der Zeitgenossen, vor allen auf Schiller, den befugtesten und strengsten Richter, wirkte und wirken mußte.
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Briefe Bernays 1907 (Anm. 8), S. 99–101. Briefe Bernays 1907 (Anm. 8), S. 95.
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Bernd Hamacher Darnach begann ich, das Werk vor den Zuhörern entstehen zu lassen, indem ich die geschichtlichen Bedingungen vorführte, unter denen es sich bildete ...21
Sein Schüler Georg Witkowski urteilte: Die neuere Litteraturgeschichte von ihnen [sc. den „Meistern der klassischen Philologie“] als gleichberechtigten Zweig der philologischen Wissenschaft anerkannt zu sehen, wurde sein Hauptstreben, und er erkannte, daß dieses Ziel nur erreicht werden konnte, wenn jeder, der auf diesem Felde wirkte, sich die strengsten Forderungen philologisch-historischer Forschung gegenwärtig hielt. Hierfür Muster aufzustellen, ließ Bernays sich in der spätern Zeit vor allem angelegen sein. Die subtilen Fragen der Text-, Stoff- und Entstehungsgeschichte, die Erörterung biographischer Einzelheiten, die höhere Kritik traten in seinen Arbeiten mehr und mehr in den Vordergrund, die großen Zusammenhänge wurden daneben immer weniger betont.
Witkowski sprach gar von der (Scherer’schen) „Andacht zum Kleinen“, die Bernays von seinen Lesern verlange.22 Bernays scheint sich also vom Schöngeist zum Positivisten entwickelt zu haben,23 und doch polemisierte er mit am schärfsten gerade gegen die Positivisten Heinrich Düntzer und Jacob Minor. Nomen est omen: Gegen das ‚Minor‘ hielt es Bernays dann doch wieder mit dem ‚Maior‘, mit den größeren Zusammenhängen. Dies erkannte auch niemand anderer als sein vermeintlicher Antipode Wilhelm Scherer, der sich am 7. April 1867 brieflich zu Julius Zachers Plan einer Zeitschrift für deutsche Philologie äußerte und ihr mögliches ‚Alleinstellungsmerkmal‘ auf dem Gebiet der neueren Literaturgeschichte sah. Wie aber könne man vermeiden, dass stets das „Altdeutsche“ im Vordergrund stehe? Wissenschaftliche Bearbeiter der neuern L. G., wie viele machen Sie Sich anheischig in Deutschland übh. aufzufinden? Und ist denn diese Wissenschaft übh. gegründet? Wo sind die Muster der Methode? Wo sind die gestellten Probleme? usw.... Eine Wissenschaft muß, dünkt mich, schon durch bedeutende Werke festen Bestand haben, damit eine Zs. fördernd eingreifend [sic] kann. Unsere neue L. G. hat aber den einzigen Danzel als wirklichen Meister des Faches zu nennen. Und ich sehe Niemanden auf seinem Wege. Vielleicht M. Bernays, der aber zunächst mit kritischen Arbeiten vollauf beschäftigt scheint.24 ____________ 21 22 23
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Briefe Bernays 1907 (Anm. 8), S. 11. Georg Witkowski: Vorrede. In: Michael Bernays: Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte. Bd. 3. Aus dem Nachlaß hrsg. von Georg Witkowski. Leipzig 1899, S. V–XIV, hier S. XI. Vgl. auch die Einschätzung bei Michael Schlott: Michael Bernays (1834–1897). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 69–79, hier S. 72. Wilhelm Scherer: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886. Hrsg. und kommentiert von Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller unter Mitarbeit von Myriam Richter. Göttingen 2005 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte. 5), S. 210.
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Von Zacher selbst ist eine Anfrage an Bernays vom 8. November 1867 erhalten, ob er „eine wenn auch kurz gehaltene Beurteilung der kritischen von Goedeke begonnenen Schillerausgabe“ übernehmen wolle. Am 30. Dezember erneuerte er seine Anfrage, ohne jedoch Bernays aus der Reserve locken und zur Mitarbeit gewinnen zu können: In erster Linie läge mir an einem motivierten Urteil über die kritische Schillerausgabe von Gödeke u. Consorten [...]. Es ist ja nicht erforderlich, daß die Beurteilung sich weit ausdehne und auf ein wirkliches Detail eingehe; denn es handelte sich doch wesentlich um den Nachweis u. die Beurteilung der Principien und der Methode. Ich gestehe, daß ich von [...] Goedekes Kritik keine besonders günstige Meinung habe, würde mich also um so mehr freuen wenn mir bewiesen würde, daß ich ihm hierin Unrecht thue.25
Die Frage nach der Beziehung der editionsphilologischen Konzeptionen Bernays’ und Goedekes ist einerseits schwer zu beantworten. Beide haben sich aufmerksam zur Kenntnis genommen und sind sich mit Respekt begegnet, doch gab es offenbar keinen näheren Austausch. In Bernays’ Nachlass findet sich eine – nicht datierbare – Äußerung über Goedeke: „Niemand kann seine Leistungen höher schätzen und ihnen gegenüber innigere Dankbarkeit empfinden als ich. Aber seine Andeutungen muß man mit Vorsicht prüfen.“26 Von Goedeke ist nur ein Brief vom 11. Januar 1878 erhalten, in dem es um die Klärung einer Stelle aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner geht. Goedeke rekurriert auf eine „wohlmeinende Notiz“ von Bernays und dankt ihm „für den freundlichen guten Willen“.27 Andererseits zeigt sich bei der Konstellation Bernays-Goedeke wohl zum ersten Mal ein Muster, das sich dann für Bernays noch öfter wiederholen wird: Der geschätzte Kollege und Konkurrent ist ihm zuvorgekommen und hat eigene Hoffnungen zunichtegemacht. Am 19. Februar 1867 schrieb Bernays an Cotta: Zu meiner aufrichtigen Freude habe ich aus einer öffentlichen Anzeige erfahren, daß dem verehrten Goedeke die kritische Ausgabe Schillers übertragen worden. In der Hand eines solchen Mannes ist das Werk geborgen. Freilich muß es mich schmerzen, mich von der Theilnahme an diesem Werk ausgeschlossen zu sehen, das mir durch den letzten Wunsch Joachim Meyers sowie durch Ihren eigenen Willen gewissermaßen anvertraut war, und auf das ich mich in so vielfachem Sinne treulich und emsig vorbereitet hatte. Sie wissen, daß allein die, wie es damals schien, unvermeidliche Mitarbeiterschaft des Herrn von Maltzahn mich verhinderte, der Ausführung
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Nachlass Bernays. Nachlass Bernays, Kasten XII. Nachlass Bernays.
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Bernd Hamacher des wichtigen Werks mich ganz zu widmen. Könnte ich nur in irgend einem Falle Herrn Goedeke mich nützlich erweisen, so würde ich mit Freuden dazu bereit sein.28
Vor diesem Hintergrund ist es dann auch nicht verwunderlich, dass Bernays Zachers Einladung zur Rezension der Goedeke’schen Schillerausgabe nicht nachkam. Als Scherer die zitierte Empfehlung an Zacher schrieb, lag jene Arbeit, auf die sich Bernays’ früher Ruhm gründete, gerade ein halbes Jahr vor, und ihr Verfasser war nach wie vor Privatgelehrter: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Scherer hat offenbar sofort die Bedeutung des schmalen Bändchens erkannt, das für die Neuere deutsche Literaturwissenschaft einen immensen Szientifizierungsschub bedeutete. Bernays’ Aufdeckung der Korrumpierungen der Goethe’schen Texte, vor allem der frühen, durch die Druckgeschichte bedeutete eine Infragestellung des Prinzips der letzten Hand und eine Aufwertung der Erstdrucke. Bernays ist entscheidender Wegbereiter der analytischen Druckforschung in Deutschland: „Denn was wir Geschichte des Textes nennen, ist ja nur Geschichte seiner Corruptionen.“29 Basis, ja treibende Kraft dieser modernen Wissenschaftlichkeit war indes das Gefühl einer „Geistesgemeinschaft“ mit dem Autor, eines festen Anschlusses an seine geistige Persönlichkeit.30 Bei dieser Einfühlungsästhetik, die Bernays mit Bezug auf seine Entdeckung des Status der Himburg’schen Nachdrucke im Goethe’schen Sinne und mit Goethe’schen Termini von „Aperçu“ und „günstige[m] Dämon“ sprechen ließ, handelt es sich nun aber nicht etwa um die zeitbedingte Hülle, die man einfach abstreifen könnte, um den zeitlosen analytischen Kern in Händen zu halten – nein: bei Bernays ist nur beides zusammen zu haben, die beiden Seiten seiner Wissenschaft lassen sich nicht trennen. Bei ihm gilt stets das Sowohl-als-auch: Er war der Größte und hat sich mit dem Kleinsten beschäftigt, er war exoterischer Esoteriker, und er war ein analytischer Anhänger der Einfühlungsästhetik. Solche Paradoxa begegnen bei Bernays auf Schritt und Tritt, und sie sind nicht nur bedeutsam für sein wissenschaftliches Profil, sondern womöglich symptomatisch für die Entwicklung der jungen Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Hier nun fällt es schwer, ohne kontrafaktische Imagination auszukommen: Was wäre gewesen, wenn – wenn seine Werther-Ausgabe, die jahrelang bei Cotta lag und zu der Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes ja eigentlich nur ein Parergon bildete, erschienen wäre? Schon am 24. Oktober 1864 entwarf Bernays gegenüber Cotta sein Editionsprogramm: ____________ 28 29 30
DLA, Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung). Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 84. Bernays 1866 (Anm. 29), S. 79 f.
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Eine vieljährige Beschäftigung mit Goethes Werken hat mich über den schweren, gewichtigen Inhalt der so leicht ausgesprochenen Worte: „Kritische Gesammtausgabe“ hinlänglich belehrt. Die Aufgabe, welche in diesen Worten bezeichnet wird, kann weder in kurzer Zeit, noch durch eines Mannes Kraft, und wenn es der tüchtigste wäre, gelöst werden. Es wird nur vergönnt sein, dieser Lösung, unter dem begünstigenden Einfluß äußerer Verhältnisse, allmählich näher zu kommen. Nur ein Leichtsinniger oder Unwissender wird dazu rathen können, das große Unternehmen einer Kritischen Gesammtausgabe ohne Weiteres zu beginnen und, den Forderungen des Büchermarktes gemäß, in regelmäßiger Folge fortzuführen. Sie werden es mir zutrauen, daß ich einer solchen thörichten Idee stets fern geblieben bin. Aber jenes große Ziel aller auf Goethes Werke gerichteten ernstlichen Bestrebungen und Forschungen stets im Auge zu behalten ist gewiß löblich, und ebenso löblich ist es, die Erreichung jenes Ziels vorzubereiten durch weise und sorgfältige Benutzung alles dessen, was schon jetzt uns zu Gebote steht. Für jetzt muß die Bearbeitung der einzelnen Werke vorgenommen werden und zwar der bedeutendsten poetischen. Dadurch wird der unentbehrliche Grund zu jedem größeren, umfassenderen Unternehmen gelegt. Die Gedichte, chronologisch geordnet, die Dramen – die drei großen Romane. Die kritische Herstellung dieser Werke ist die Aufgabe, die uns zunächst liegt. Die Bedeutung der Schwierigkeiten, die uns auch hier in den Weg treten, verkenne ich gewiß am allerwenigsten. Aber der Umfang dieser Aufgaben läßt sich doch übersehen, und der eindringenden Kenntniß und dem treuen ernsten Fleiß wird es gelingen, sie, wenigstens zum Theil, zu bewältigen. Jedes einzelne Werk ist einzeln vorzunehmen und man darf nicht erwarten, daß der Fortschritt ein rascher sein werde. Die Benutzung des reichen im Besitze der Goetheschen Erben befindlichen Materials wird allerdings, wenn etwas wahrhaft Genügendes geleistet werden soll, fast überall unentbehrlich sein. Aber dürfen wir denn nicht der Hoffnung Raum geben, daß die Nachkommen des Dichters Ihnen doch endlich den Zugang zu diesen Schätzen eröffnen werden? – Wie viel Erfreuliches übrigens schon mit den vorhandenen Hülfsmitteln sich leisten ließe, dafür mag der Werther zum Beweis und Beispiel dienen. Ein kritisch genauer Abdruck der ersten Ausgabe, mit sorgfältiger Darlegung der Veränderungen, welche das Werk später unter des Dichters Händen erfahren, würde jedem Freunde Goethes eben so willkommen wie lehrreich sein; es würde so auf die einfachste Weise ganz eigentlich eine Geschichte der unvergleichlichen Dichtung geliefert und jede ächt kritische Ausgabe zielt eigentlich dahin, eine Geschichte des Textes zu geben.31
Bernays übernahm für Cotta zunächst bis 1866 die Revision einer Auswahl der Goethe’schen Werke – eine Ausgabe, die jedoch nicht erschien, obwohl Bernays in einem Brief an Cotta vom 4. September 1866 vom kurz bevorstehenden Abschluss des Drucks von zwölf Bänden schrieb und anfügte: „Bald darf ich auch wohl einmal wieder an die kritische Ausgabe des Werther erinnern, deren Manuscript schon in Ihrem Besitz ist.“ Am 19. Februar 1867 bittet er aber schließlich Cotta, „mir das seit dem November 1863 in Ihren Händen ____________ 31
DLA, Cotta-Archiv.
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befindliche Manuscript meiner Ausgabe des Werther schleunigst wieder zukommen zu lassen[.] Dem Manuscripte sind auf einem einzelnen Blatte Anweisungen für die Einrichtung des Drucks beigefügt, die ich mir gleichfalls zurückerbitte.“32 Was also wäre gewesen, wenn diese Ausgabe erschienen wäre? Und was, wenn Bernays, wie er gehofft, ja erwartet hatte, maßgeblich in die Organisation der Goethe-Gesellschaft und die Konzeption der Weimarer Goethe-Ausgabe einbezogen worden wäre? Am 8. August 1885 schrieb Bernays in einem Brief an Erich Schmidt, an dessen oberem Rand sich der Empfänger notierte: „Scherer, dem ich offen gesagt, daß ich dringend B. in den Vorstand der GoetheGesellschaft gewünscht habe usw“: Lieber Freund, Du magst Recht haben, daß Schs. Brief die mala fides ausschließt; ich selbst habe ihm eine solche auch niemals vorgeworfen oder zugetraut. Gestatte mir aber das offene Bekenntnis, daß dieser Brief mir gar nichts sagt. Es handelt sich wahrlich nicht darum, die Wahl Heyses zu rechtfertigen, die niemand begründeter finden kann als ich; es handelt sich nicht um meine Wahl in den Vorstand; es handelt sich noch viel weniger darum, ob ich, ein Urnorddeutscher, als Bayer zu betrachten sei. Sobald zu wissenschaftlichen Zwecken eine Goethe-Gesellschaft gegründet werden sollte, gehörte ich, so gut wie Scherer, Loeper und Du, an die Spitze einer solchen Gesellschaft. Das ist, so viel ich sehen kann, Meinung und Urtheil aller, die hier zu einem Urtheil berechtigt sind. Wunderlich genug ist Schs Ausdruck: „ich sollte in diesen Dingen nichts Persönliches erblicken!“ Er scheint zu glauben, ich gehe umher als ein grollender Malcontenter! Du kennst mich genug um zu wissen, daß solche Stimmungen in mir nicht aufkommen. Mit angeborener und durch ein mühe- und arbeitsreiches Leben befestigter Heiterkeit hoffe ich auch ferner zu Gunsten unserer Studien thätig zu sein. Alles Persönliche, das stets unmittelbar ins Kleinliche ausartet, ist mir bis zum Unerträglichen zuwider. Nur Dir zu Liebe habe ich, gegen mein Gelübde, ein Wort über diese Angelegenheit niedergeschrieben. Im Gespräche gehe ich diesem Thema geflissentlich aus dem Wege, so oft man mich auch zwingen will, dabei zu verweilen. Je älter ich werde, um so entschiedener wendet sich mein Geist von allem ab, was sich mir als kleines irdisches Getriebe darstellt [...].33
Noch gibt sich Bernays abgeklärt und gelassen. Schmidt antwortete bereits am 13. August: „Ich selbst kann zwar nichts dafür, daß die Großherzogin erst Loeper, dann Scherer berufen und dann, als sie einen Centralleiter in Weimar zu haben wünschte, mich als Dritten zugezogen hat; aber es drückt mich Dir gegenüber.“34 Schmidt scheint also Bernays als Leiter des Goethe-Archivs für ____________ 32 33 34
DLA, Cotta-Archiv. DLA, Nachlass Schmidt. Nachlass Bernays.
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geeignet gehalten zu haben. Nach Schmidts Weimarer Amtsantritt schrieb Bernays ihm am 10. November: Hast Du während dieser Wochen schon einen genügenden Einblick in die neuen Zustände gewinnen können? Und wie lassen sie sich an? Ich bin auf meiner Reise von verwunderten und argwöhnischen Fragen über mein Nichtverhältniß zur GoetheGesellschaft so bestürmt und gequält worden, daß, wenn nur der Name unseres theuren Meisters in der Unterhaltung auftauchte, ich im Geiste gleichsam die Flucht ergriff. Nur die Kaiserin vermied jedes Gespräch darüber.35
Am 26. November muss Schmidt in seinem Geburtstagsbrief an Bernays aufgrund von Scherers schwerer Erkrankung den erbetenen Bericht aus Weimar zurückstellen, bringt jedoch eine dringende Bitte vor: „Vor mir liegt in Fahnen die Mitgliederliste der Goethegesellschaft und ich muß bei München vor der klaffenden Lücke an die taciteischen Worte über Brutus u. Cassius denken. Kannst Du Dich nicht entschließen und uns trotz allem Deinen Namen schenken? Geh nochmals mit Dir zu Rathe!“ Am 28. Februar 1886 schreibt er schließlich über die geplante Ausgabe: Wir haben Dich für den Werther auf die Liste der Mitarbeiter an der Ausgabe gesetzt. Die Großherzogin billigt das und möchte Deinen Namen nicht missen. Da der Mitarbeiter Mitglied der Gesellschaft sein muß, so liegt in dieser Einladung der Wunsch u. die Bedingung ausgesprochen, Du möchtest endlich, Deine Verstimmung vergessend, eine Beitrittserklärung abgeben. Geschieht das umgehend, so kann Dein Name noch in die Jahrbuch-Liste eingefügt werden. Das Gleiche gilt von Muncker [...].36
Bernays trat zwar der Goethe-Gesellschaft bei,37 lehnte aber die angesonnene Mitarbeit an der Weimarer Ausgabe am 2. März ab: Du wirst so freundlich sein, meinen Namen aus der Liste der Mitarbeiter zu tilgen. Du giltst mir als der bedeutendste unter den jetzt lebenden Fachgenossen. Da die Lösung der wissenschaftlichen Aufgaben der Goethe-Gesellschaft Dir anvertraut ist, so bedarf es wahrlich nicht meiner Beihülfe. Mir sind für die noch übrige Lebenszeit andere Aufgaben gesetzt.38
Nach Scherers Tod schreibt der als dessen Nachfolger nach Berlin berufene Schmidt am 2. Dezember an Bernays: ____________ 35 36 37
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DLA, Nachlass Schmidt. Nachlass Bernays. Ein Mitgliederverzeichnis wurde erstmals im Anhang des Goethe-Jahrbuchs 8, 1887, veröffentlicht; dort ist Bernays als Mitglied aufgeführt, ebenso Muncker. Bernays blieb bis zu seinem Tod Mitglied der Goethe-Gesellschaft; nach seinem Tod ist seine Witwe als „Frau Professor Dr. Bernays“ als Mitglied geführt. DLA, Nachlass Schmidt.
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Bernd Hamacher Hab vielen Dank für Deine wohltuende treue Theilnahme und sei versichert, daß ich alles was Du mir von meinen grünsten Docententagen an Gutes erwiesen in meinem feinen Gedächtnis bewahre. Deine entschiedne Ablehnung voriges Frühjahr war und ist mir der Sache wegen und persönlich sehr unlieb. Leicht hätte sich im Laufe dieses Jahres manches vorschnelle Verfahren ins rechte Geleis bringen lassen, wenn Du mit Deinem Nein auf die Bitte der Großherzogin nicht die Brücke abgebrochen hättest. Eins hoffe ich aber bestimmt: Wenn die G H Ihren Plan einer großen Stiftung für junge Litterarhistoriker, die eben ausstudirt haben, durchführt, wozu ich ihr ein Statut entwerfen soll, dann wirst Du Dich dem Curatorium nicht entziehen, weil sonst Deine Münchner Studenten darunter leiden würden. Das ganz unter uns! Die schwere Lebenskrisis, herbeigeführt durch eine solche Katastrophe, hat mich recht mitgenommen. Ich hatte sehr erregte Stunden mit der Großh., die sich übrigens ausgezeichnet hielt. Mein Nachfolger soll – auch das sub rosa – B. Suphan werden. Loeper der AntiDüntzer, ist jetzt streit- u. collationssüchtig hier.39
Bernays antwortete am 18. Dezember: Dürfte ich mir einen Rath gestatten, so wär’ es der, die Zahl der Curatoren so sehr wie möglich zu beschränken. Warum könnte man nicht allein Dir und mir die Leitung des Ganzen anvertrauen? Wir würden doch gewiß die Studierenden der anderen Universitäten nicht beeinträchtigen. Und außer Leipzig besitzen ja doch allein Berlin und München ein Ordinariat für Literaturgeschichte. Doch Du wirst Dir, ohne meinen Rath, zu rathen wissen. – Keinen trefflicheren Nachfolger als Suphan hättest Du Dir bestellen können. Du weißt ja wohl, wie hoch ich ihn halte und wie viel er mir gilt. Ich sah ihn seit vierzehn Jahren nicht; doch ist mir seine Persönlichkeit als eine der liebenswürdigsten in Erinnerung geblieben. Irre ich mich, wenn ich annehme, daß Du aus den Weimarischen Verhältnissen ohne Bedauern scheidest? Wie seltsam fügte sichs doch, daß ich Ostern 83 dem vielfach ausgesprochenen Wunsch der Frau Prinzessin Reuß, mich in Weimar ihrer Mutter vorzustellen, nicht folgen konnte. Durch eine persönliche Berührung wäre wahrscheinlich von Anfang an alles ins richtige Geleise eingelenkt worden, und den Männern, welche die hochsinnige Fürstin beriethen, wären die Gelegenheit zu unabsichtlichen Mißgriffen und absichtlichen Mißverständnissen versagt geblieben. Deiner Meinung nach hätte ich durch mein Nein die Brücke abgebrochen. Eine solche Brücke – wann und von wem ist sie denn geschlagen worden? – Ich las in Deinen Zeilen vom 28sten Febr.: „Wir haben Dich für den Werther auf die Liste der Mitarbeiter an der Ausgabe gesetzt.“ – Wer sind die „Wir“? Nur Dir, lieber Freund, gestehe ich das Recht zu, mich zu Uebernahme einer Arbeit zu bestimmen. Sonst, weißt Du wohl, pflege ich mein Pensum \mir/ selbst zu setzen. – Ich las ferner: „Die Großherzogin billigt das und möchte Deinen Namen nicht missen.“ Und aus diesen Worten sollte ich eine „Bitte“ der Frau Großherz. herauslesen? – Mir konnten sie nur andeuten, man habe der Fürstin vorgestellt, es sei schicklich, wenigstens meinen Namen herbeizuziehen, und Sie habe dem zugestimmt. Fürstliche Personen pflegen doch sonst Wunsch und Willensmeinung sehr bestimmt kund zu geben.
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Nachlass Bernays.
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Daß meine Leistung oder Mitwirkung nicht erforderlich ist, um eine mustergültige Ausgabe Goethes herzustellen, davon bin ich auf das innigste überzeugt. Soll ich aber mitwirken, so muß ich mit Dir in erster Linie stehen. Darüber denkst Du genau so wie ich. Denn Du weißt, daß ich es war, der vor zwanzig Jahren die erste kritische Behandlung des Goetheschen Textes begonnen und hernach durch mündliche Lehre ununterbrochen für das Studium Goethes sich thätig erwiesen hat. – Von einem Widerstreit des persönlichen und des sachlichen Interesses kann hier keine Rede sein. Ich würde das persönliche hintansetzen, wäre das sachliche gefährdet. Aber liegt die Sache der Wissenschaft nicht in der sichersten Hand, da sie in der deinigen liegt? – Zu Mitarbeitern sind die verschiedensten Persönlichkeiten ersehen worden. Ich sollte in einen Kreis eintreten, ohne zu wissen, aus welchen Gliedern man ihn gebildet. Wenn nun auch ein – Minor in diesem Kreis Aufnahme gefunden? Glaubst Du, ich würde dulden, daß auch nur der Schein einer Gemeinschaft zwischen mir und einem Solchen bestünde? Du selbst hast zu seinem Thun ein Pfui gerufen. Schade nur, daß es nicht bis zu seinen Ohren drang! Die unbedingte Verachtung alles Gemeinen werde ich hoffentlich mein Leben hindurch bewahren.40
Bernays’ Reaktion wird erst dann richtig verständlich und erscheint nicht bloß als Ausdruck gekränkter Eitelkeit, wenn man weiß, dass er nicht nur aus eigenem Empfinden, sondern gerade auch in den Augen Außenstehender zweimal nicht unbedingt zu Recht hinter Schmidt zurückstehen musste, nämlich bei der Besetzung der Leitung des Goethe-Archivs und danach bei Scherers Nachfolge in Berlin. Die Prinzessin Reuß, die Tochter der Großherzogin Sophie von Sachsen, schrieb Bernays am 31. Oktober 1885: Aber weiter will ich, will wissen, warum Sie Erich Schmidt so gern mögen? Ja ich will sogar sehr offen sein u. Ihnen sagen, daß ich zweifle, daß sie es ganz ehrlich damit meinen (das wird Sie ärgern, fürcht’ ich; – also pardon), weil ich glaube, daß Sie Selbst auf jene Stelle in Weimar (Bibliothekar u. Lector u. so zu sagen „litterarischer Adjutant des Großherzoglichen Paares) gehofft hatten. Sie sehen, welch’ festes Zutraun ich habe zu Ihnen, daß ich so offen mit Ihnen rede! Nun muß ich Ihnen aber auch sagen, ich selbst wunderte mich höchlichst, daß an Sie nicht eine Aufforderung, nicht eine Einladung irgend einer Art ergangen ist.41 ____________ 40
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DLA, Nachlass Schmidt. Zu der von Schmidt im vorigen Brief angesprochenen Stiftung äußert sich Bernays mit einem aufschlussreichen autobiographischen Argument skeptisch: „Wünscht die Frau Großherzogin, daß ich mich den Curatoren der von ihr zu gründenden Stiftung beigeselle und erzeigt sie mir die Gnade, diesen Wunsch auf eine ganz bestimmte Weise mir kund zu thun, so werde ich einer solchen ehrenden Aufforderung mit Freude folgen. Meine Erwartungen von der Wirksamkeit einer Stipendien-Stiftung sind – im Vertrauen gesagt! – allerdings nicht hoch gespannt. Der eiserne Wille dessen, der sich der Wissenschaft widmet, ist allein für ihn und für die Wissenschaft entscheidend. Der wirklich Berufene muß sich still in strebender Jugendzeit auch ohne augenblickliche Förderung durchzuringen wissen. Diese vielleicht etwas einseitige Ansicht ist mir zu verzeihen, der ich, seit meinen Studienjahren einzig und allein auf meinen Fleiß und meinen Willen gestellt, unter den schwersten und peinlichsten Entbehrungen, unter geheimen und offenbaren Hemmnissen aller Art mich emporarbeiten mußte.“ Nachlass Bernays.
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Am 7. September 1886 schrieb gar der Schweizer Literarhistoriker und Redakteur der Berliner Gegenwart Theophil Zolling an Bernays: „Werde ich Sie wohl als Scherers Nachfolger hier begrüßen können? Ich wüßte keinen Würdigeren für das Amt.“42 Kein Wunder, dass es für Bernays nicht in Frage kam, bei der Weimarer Ausgabe mit dem Werther abgespeist zu werden – die Folgen sind bekannt. Die Orientierung an der Ausgabe letzter Hand fiel hinter Bernays’ Einsichten zurück, und zwar besonders frappierend gerade im – erst 1899 erschienenen – Band 19, in dem Bernhard Seuffert für den Werther verantwortlich zeichnete und in dem dessen erste Fassung im Lesartenapparat aufgelöst wurde. Pikanterweise war Erich Schmidt der Redaktor des Bandes. Bernays’ Verbitterung angesichts der Weichenstellungen in der Goethe-Philologie in den 1880er Jahren war so groß, dass er später rundheraus die Zumutung von sich wies, als Goetheforscher zu gelten: „Nur Böswillige und Mißwollende mögen mich noch dann und wann mit dem zweifelhaften Ehrentitel eines Goetheforschers oder Goetheverehrers belegen“ – so am 10. September 1890 an Ludwig Geiger.43 Geradezu pikant mutet an, dass sich Bernays ausgerechnet in der ehrfurchtsvollen Abschiedsadresse genau ein halbes Jahr zuvor noch sagen lassen musste: Dem künftigen Biographen [Goethes] leisteten Sie Vorschub – und so müssen Sie sich denn den Namen eines ‚Goethe-Forschers‘ schon gefallen lassen im Munde derer, die Ihre nimmermüden Wanderungen durch die Weltlitteratur, Ihren vertrauten Verkehr mit den Alten wie mit Dante und Shakespeare, mit den Humanisten wie mit den neueren Schriftstellern germanischer und romanischer Zunge kennen und beneiden.44
Beim Brief an Geiger dürfte es sich um eine versteckte Replik auf diese Zumutung handeln, die das ganze Ausmaß von Bernays’ Verbitterung offenlegt, wenn sogar der verehrte, fast schon geliebte Freund Erich Schmidt unter die Böswilligen und Misswollenden gerückt wird. Immerhin hatten bereits Bernays’ allererste Anfänge im Zeichen Goethes gestanden.45 Die Anordnung der ____________ 42
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Nachlass Bernays. Bernays schrieb am 21. November 1886 an Schmidt „in steter Treue“: „Der Ruf aus Berlin ist doch schon in officieller Form an Dich gelangt? Deinetwegen und um unserer Studien willen erfreut es mich doppelt und dreifach, daß Du den Platz einnimmst, der für Dich bereitet war und der Dir gebührt“ (DLA, Nachlass Schmidt). Nachlass Bernays. Schmidt 1898 (Anm. 4), S. VI. Für den Stellenwert Goethes in Bernays’ Lehre mag das folgende Notat zum Wintersemester 1879/80 stehen: „Das Hauptcolleg des nächsten Winters wird Goethe zu seinem Mittelpuncte haben. Der Turnus der Vorlesungen führt mich zu ihm heran; ich empfinde eine Art von Verpflichtung, ihm nicht aus dem Wege zu gehen, obgleich ich nicht sagen kann, daß das Colleg zu meinen Lieblingen zählt. Ich lese es nur so selten wie möglich, jetzt kommt es seit dem Winter 74/75 zum erstenmale wieder an die Reihe, also seit vollen fünf Jahren. [...] Aber ich gebe kein eigentliches Colleg über Goethe; es ist eine litterarhistorische Vorstellung der Zeit
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Redeübung im Hamburger Johanneum vom 31. März 1853 lautete: „Michael Bernays, abgehender Primaner, wird in einem Deutschen Vortrage über Göthe’s Torquato Tasso das Wechsel-Verhältniss, in welchem der Dichter und sein Werk steht, zu entwickeln versuchen, und am Schlusse von der Schule und ihren Lehrern Abschied nehmen.“46 Und noch im Jahr vor der Zurückweisung an Geiger war Bernays bei seinem Festvortrag über Goethes Geschichte der Farbenlehre vor der Goethe-Gesellschaft in Weimar gefeiert worden, obwohl er sich (wobei auch eine gehörige Portion Koketterie im Spiel gewesen sein dürfte) der Aufgabe aus gekränkter Eitelkeit nur höchst widerwillig unterzog, wie er am 17. April 1889 Erich Schmidt wissen ließ: nicht auszusprechen ist, wie peinlich die aus Weimar ergangene Aufforderung mich berührt. Ich glaubte, mich ihr nicht entziehen zu dürfen. Vielleicht aber war Heyse vollkommen im Recht, wenn er die Meinung hegte, ein Nein sei durchaus nicht unzulässig gewesen. Wie ich dieser aufgedrungenen Amtshandlung mich entledigen soll, darüber war mir noch keine Erleuchtung. Vielleicht beglückt mich die Gunst des Augenblicks mit der erforderlichen Eingebung. Ich darf mich in der That rühmen, daß ich solchen rhetorischen Schaustellungen immer abhold geblieben; die kleinen Künste, mit denen man sie auszuschmücken pflegt, habe ich aus Grund des Herzens stets mißachtet. Da ich einmal diese Exekution über mich verhängt, so will ich auf alle Fälle, und sollte auch die Masse der Zuhörer nur eine reiche Ernte an Langeweile davontragen, mich bestreben, daß einem Hörer wie Dir aus meiner Rede hie und da ein anregender Laut entgegentöne.47
Gerade die Tatsache, dass der Vortrag frei gehalten wurde und Bernays sich den Bemühungen Geigers, ihn für das Goethe-Jahrbuch zu verschriftlichen, widersetzte, indem er am 10. September 1890 schrieb: Eine Verpflichtung zur Mitarbeit am Goethe Jahrbuch vermag ich nicht anzuerkennen. Ich glaube nicht, daß ein Beitrag von meiner Hand dem Jahrbuch auch nur einen Leser mehr zuführen würde. Seitdem ich meine bescheidenen philologischen Arbeiten über Goethe begonnen, hat die Litteratur, die sich mit seinem großen Namen schmückt, eine so beträchtliche Anzahl von tüchtigen Pflegern erhalten, daß ich unter der Menge längst verloren und vergessen bin.48
– die Tatsache also, dass der Vortrag über die Geschichte der Farbenlehre unveröffentlicht blieb und sich auch im Nachlass das erhoffte Manuskript nicht fand, sicherte ihm einen legendären Ruf, der zum Mythos Bernays’ nicht unerheblich beitrug. __________
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von 70–94, deren natürlichen Mittelpunct Goethe bildet. Lessing, Hamann, Herder werden einen breiten Platz erhalten“ (Nachlass Bernays, Kasten XII). Nachlass Bernays, Kasten XIV. DLA, Nachlass Schmidt. Nachlass Bernays.
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Die realen und nicht bloß legendären und mythischen Spuren, die Bernays in der Goetheforschung hinterlassen hat, sind gleichwohl vielfältig und bei weitem nicht nur jene seiner philologischen Frühschrift. Erneut aber fallen die Paradoxa auf: Bei der Ausgabe Der junge Goethe 1875 schob Bernays das ganze Verdienst auf Salomon Hirzel und dessen Büchersammlungen, beanspruchte für sich selbst nur die Einleitung und verzichtete auf jeden philologischen Apparat.49 Es handelte sich um eine reine Leseausgabe, die anscheinend erst durch die 2. Auflage von Max Morris – der auf die Handschriften zurückgreifen konnte, während Hirzel und Bernays nur die Drucke vorlagen – wahrhaft wissenschaftliche Würden empfing. Und doch liegt hier der größte und nachhaltigste Erfolg von Bernays. In einem Brief an Hermann Uhde vom 20. März 1876 entwickelte er ein charakteristisches Ineinander von Bescheidenheitstopoi und einem wissenschaftlichen Selbstbewusstsein, das zeigt, dass man in dieser Einleitung ein Hauptwerk Bernays’ sehen muss: Um den jungen Goethe habe ich gerade so viel und nicht mehr Verdienst, als auf S. LXII der Einleitung angegeben ist. Am liebsten hätte ich meinen Namen nicht auf das Titelblatt und nur unter die Einleitung gesetzt. Denn diese freilich gehört nicht nur mir allein, sondern ihr Inhalt ist auch eins mit meinen innersten Überzeugungen. Wenigstens enthält sie einen Theil meines Credo über Goethe, wie es sich im Laufe der Jahre, bei immer erweitertem Studium der europäischen Litteratur und im ununterbrochenen Geistesverkehr mit dem Gewaltigen, bei mir festgesetzt hat. Manches von dem, was hier bald ausführlich begründet, bald nur leise angedeutet wird, ist gewiß schon von vielen mehr oder minder klar empfunden, hie und da auch öffentlich ausgesprochen worden; so zusammenhangend und folgerichtig wie hier ward es jedoch – wenn anders die Vorliebe für die eigene Arbeit mich nicht täuscht – noch nicht dargelegt. Ich lebe der sicheren Hoffnung, daß in zehn bis fünfzehn Jahren die Grundanschauung, die mich leitete, die herrschende sein wird.50
Mit dieser Ausgabe des Jungen Goethe kann man Bernays in zweierlei Hinsicht geradezu als Diskursbegründer bezeichnen. Dies gilt zum einen für die chronologische Anordnung aller Texte Goethes. Dieser hatte seine Werke in allen Ausgaben zu seinen Lebzeiten gerade nicht chronologisch, sondern systematisch geordnet. Bernays plante eine chronologische, auf den Handschriften bzw. Erstdrucken basierende Ausgabe nicht nur für den ‚jungen‘, sondern für den gesamten Goethe – und zwar auf inter-, ja multidisziplinärer Grundlage, indem „erprobte Meister aus verschiedenen Gebieten des Wissens und der Kunst zusammentreten“51 –, sah jedoch vor der Öffnung des Nachlasses die ____________ 49 50 51
Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 1764–1776. Mit einer Einleitung von Michael Bernays. 3 Bde. Leipzig 1875. Briefe Bernays 1907 (Anm. 8), S. 4 f. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XI.
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Voraussetzungen dafür als nicht gegeben an, wie aus seinem zitierten Schreiben an Cotta vom 24. Oktober 1864 erhellt. Er wartete auf dieses Ereignis so wie einige Jahre zuvor auf die Einrichtung des Straßburger Lehrstuhls. Beide Erwartungen erfüllten sich – aber ohne ihn. Hier wie dort kam er nicht zum Zuge. Es dauerte nicht weniger als 100 Jahre, bis mit der ‚Münchner Ausgabe‘ die Vorstellungen von Bernays in einer Gesamtausgabe verwirklicht wurden – aber weder in der Vollständigkeit noch in der philologischen Strenge, die er für unerlässlich erachtet hätte. Das von Bernays favorisierte chronologische Editionsprinzip setzte sich also zunächst nicht durch. In anderer Hinsicht aber war Bernays’ Edition noch folgenreicher: durch die Titelprägung Der junge Goethe. Dabei handelt es sich um mehr als um einen bloßen Titel, sondern vielmehr um ein Konzept, das die Forschung bestimmt hat. Die Neubearbeitungen dieser Ausgabe durch Max Morris 1909–191252 und durch Hanna Fischer-Lamberg 1963–197453 zogen die zeitliche Grenze dann mit dem Übergang nach Weimar – also 1775, nicht 1776 wie Bernays –, doch noch die jüngste Nachfolgerin dieser Edition von Eibl, Jannidis und Willems 1998 verwendet den Titel Der junge Goethe,54 ohne dass dieser eingefahrene ‚Markenname‘ je problematisiert worden wäre. Zwar scheint das verzögerte Ende von Goethes Jugend aus heutiger Sicht schon wieder ein Kriterium für seine Modernität zu sein, doch wird man zunächst zu fragen haben, wieso der Autor in der ganzen Rezeptionsgeschichte bis zum Alter von 26 Jahren fraglos als ‚jung‘ gelten konnte – und wieso er es danach nicht mehr war. Die Zulassung zur Anwaltstätigkeit 1771 oder die Verlobung 1775 hätten ebenso plausible Schwellen zum Erwachsenenalter bilden können, zumal Goethe in seiner ersten Weimarer Zeit immer wieder eine Art spätpubertären Verhaltens vorgeworfen wurde. Mit dem Konzept ‚junger Goethe‘ folgt man noch immer Bernays’ „Sonderung der verschiedenen Perioden, in welche sich sein [Goethes] Leben und Schaffen theilt“55 – ohne dass man sich darüber Rechenschaft ablegte, wem man da folgt und warum. Bernays entwarf auch bereits im Jungen Goethe die zu den werkgenetischen Interessen des ‚Mainstreams‘ der Goethe-Philologie seiner Zeit querstehende, durchaus polemisch gegen den Positivismus gerichtete Idee einer Art immanenter Interpretation oder Stilkritik: ____________ 52 53 54
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Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden besorgt von Max Morris. Leipzig 1909– 1912. Die Ausgabe trägt die Widmung: „Dem Andenken Salomon Hirzels“. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden (und einem Registerband). Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1963–1974. Der junge Goethe in seiner Zeit. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Hrsg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems. 2 Bde. und 1 CD-ROM (Texte und Kontexte). Frankfurt/Main, Leipzig 1998. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XIII.
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Bernd Hamacher Keinesweges nähren wir die Ansicht, daß zum rechten, erhebenden Genusse einer Goetheschen Dichtung die Kenntniß der Zeit, in welcher sie entstand, der äußeren und inneren Verhältnisse, welche sie hervorriefen und auf sie einwirkten, erforderlich sei. Ein Werk wahrer Kunst gleicht einer in sich fertigen Welt, die aus ihrem eigenen lebendigen Mittelpuncte heraus ergriffen und begriffen sein will. [...] Ein reines Kunstwerk müssen wir also durchgenießen und durchempfinden können, auch wenn wir es nicht in Bezug auf seinen Urheber betrachten, und wenn uns die Umstände, die sein Entstehen bewirkten oder begleiteten, auch gänzlich verborgen bleiben. Ja, der richtende Kunstverstand muß sogar diese äußeren Verhältnisse und inneren Bezüge unbeachtet lassen, wenn er über das Werk, als ein in sich beruhendes Kunstgebilde, ein unbedingtes Urtheil fällen will.56
Nicht zufällig argumentiert Bernays auch hier wieder, wie schon in seiner Erstlingsschrift, mit Goethe’schen Kategorien. Die entstehende Neuere deutsche Literaturwissenschaft entwickelte ihre Theorien und Methoden lange Zeit aus ihrem ersten und wichtigsten Gegenstand, eben Goethe, heraus: „Goethe stellt seine Schöpfungen aus sich heraus, daß sie fortan, gleich Naturwerken höherer Art, welche die Bedingungen ihrer Existenz in sich tragen, in voller Selbständigkeit, losgelöst von ihrem Schöpfer, dastehen.“57 Daraus leitete Bernays denn auch die Legitimation für die Präsentation eines reinen Lesetextes ohne Apparat ab: Denn all jenen, „die nach einem Geistesverkehr mit dem Goetheschen Genius Verlangen tragen“, erteilt er den Rat, „das wissenschaftliche Rüstzeug fürs erste beiseite zu lassen, ohne weitere Vorbereitung, ohne ferneres Bedenken sich geradewegs an den Dichter zu wenden, bei ihm zu weilen, sich dem Eindrucke seiner Nähe zu überlassen und seinen Offenbarungen zu horchen.“58 Gemäß dem Goethe’schen Theorem, dass – wie bei Auge und Sonne – Subjekt und Objekt der Erkenntnis verwandt sein müssten, wird eine Angleichung des Interpreten an den Dichter gefordert: Eine Kraft des Anschauens und der schöpferischen Gestaltung muß hinzutreten, ein Vermögen geistiger Ahnung muß sich hervorthun und noch so manche andere Geistesfähigkeit muß mitwirken, wenn endlich das Wunder vollbracht werden soll, eine große Menschennatur, die sich der Welt in mannigfaltigem Thun offenbart hat, in Begriff und Darstellung nachzuschaffen.59
Aber auch hier wieder: sowohl – als auch; sowohl ein völlig voraussetzungsloser Zugang, der „durch die Mittel der Wissenschaft allein nicht zu erfüllen“ sei,60 als auch „ein geschichtliches Verständniß der Werke [...] aus dem Inners____________ 56 57 58 59 60
Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XIII–XV. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XV. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XX f. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XXIII. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XXIII.
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ten der Zeitverhältnisse [...], unter denen sie ins Dasein gerufen worden“. Aus diesem Sowohl-als-auch gewinnt Bernays sein Bild von Goethe als dem „modernsten aller Poeten“,61 womit er zum Vorläufer einer problemgeschichtlichen Goethe-Interpretation wird, die in Goethes Werk die Probleme der modernen Welt und des modernen Subjekts verhandelt sieht.62 Die Modernität von Bernays’ Goethe-Bild zeigt sich auch darin, dass er die „Entwicklung“ als eigentliches Problem bei der Darstellung von Goethes Leben und Werk identifiziert.63 Vor der Erkenntnis des ganzen Goethe müsse indes die „Einsicht in das Besonderste“ stehen.64 Mit dieser Forderung ist er im Gedächtnis der Fachgeschichte präsent – seine großen Visionen aber sind vergessen oder nicht ausgeschöpft. Daran hat die erwähnte Frustration, bei der Weimarer Ausgabe nicht zum Zuge gekommen zu sein, ihren Anteil – vielleicht aber auch, dass bereits seine Synthese 1879 in der Allgemeinen Deutschen Biographie eher enttäuschend ausgefallen ist. Kaum noch eine Spur findet sich in diesem Enzyklopädieartikel von der visionären Kraft der Einleitung des Jungen Goethe, stattdessen ist die Darstellung, an der er über sieben Jahre arbeitete und die ihm Rochus von Liliencron förmlich aus den Händen winden musste, von einer eher eintönigen finalistischen Konstruktion getragen, die hinter das Problembewusstsein seiner früheren Texte zurückfällt und immer wieder anführt, dass sich Goethe zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits als der Autor eines späteren Werkes geltend mache: „War er ja doch berufen, alles, was er jetzt und später mit flüchtigem Blick streifte oder im innersten Wesen erfaßte, in irgend einer Form einmal künstlerisch zu verwerthen!“65 Über die Werke aber weiß Bernays hier nichts als Äußerlichkeiten zu sagen. Wenn man sich die Bernays’schen Paradoxa samt der von ihm verkörperten Mythen vor Augen führt, kann es kaum überraschen, dass man nach seinem Tod im Nachlass nicht fand, was man zu finden hoffte – weil eben wesentliche Teile des Werkes nie schriftlich fixiert worden waren. Das aber, was zu finden gewesen wäre, konnte man nicht finden, weil niemandem eingefallen wäre, danach zu suchen – außer womöglich jenen, die Bernays wohl nicht hätte suchen lassen. Wilhelm Scherer ist der eine, der nicht nur bereits 1867 – bei aller späteren Unterdrückung der Konkurrenz – Bernays zumindest hypothe____________ 61 62
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Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XXXVI. Goethes Werke „deuten [...] mit mahnendem Ernst über sich hinaus auf neue Probleme, deren Lösung nur in der wirklichen Welt, und vielleicht auch dort nicht, zu gewinnen ist“ (Der junge Goethe 1875, Anm. 49, Bd. 1, S. XLVI). Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. XLVIII. Der junge Goethe 1875 (Anm. 49), Bd. 1, S. LX. Michael Bernays: J. W. von Goethe. J. C. Gottsched. Zwei Biographien. (Aus der Allgemeinen Deutschen Biographie abgedruckt.) Leipzig 1880, S. 11.
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tisch eine führende Rolle in der Konstitution der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zubilligte und der die Bedeutung des Jungen Goethe auf seinerseits visionäre Weise erkannte. Nachdem die Erstfassungen der Werke, die die Leserschaft, häufig aber auch die Spezialforschung nur in den überarbeiteten Spätfassungen aus der ‚Ausgabe letzter Hand‘ rezipiert hatte, wieder zugänglich waren, wurde der Kommentierungsbedarf offenkundig. Einhundert Jahre nach ihrer Entstehung waren Goethes Texte historisch und damit teilweise unverständlich geworden. Nach vorbereitenden Publikationen stellte Scherer 1879 für die Grimmstiftung die Preisaufgabe „Die Sprache des jungen Goethe in seinen Briefen und Schriften bis 1776“66 und legte damit, angeregt durch Bernays’ Edition, den Grundstein zum Goethe-Wörterbuch. 1884 sollte Scherer dann eine auf den Erstfassungen basierende chronologische Gesamtausgabe Goethes als „Luxus, den wir nicht bezahlen können“,67 bezeichnen, und damit der Bernays’schen editorischen Vision mit einem vermeintlich unwiderlegbaren Argument vorerst den Todesstoß versetzen. Gleichwohl ist das überkommene Bild der beiden Antipoden – Scherer in Berlin hier, Bernays in München dort – einseitig und verkürzt, wie es bei solch griffigen Zuspitzungen allerdings unvermeidlich ist, zumal sie nicht erst im Nachhinein, sondern schon von den Zeitgenossen vorgenommen wurden.68 Georg Witkowski hat von Scherer und Bernays gar als „den beiden Vertretern dieser modernen Literaturwissenschaft“ gesprochen.69 Weitere gab es seiner Auffassung nach im strengen Sinne nicht; andere Studienorte oder Lehrer seien nicht wirklich in Betracht gekommen, wenn man „mit der neuesten wissenschaftlichen Forschung und Lehre vertraut werden wollte.“70 Ironischerweise sah Witkowski ____________ 66 67
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Vgl. Wilhelm Scherer – Erich Schmidt: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert. Berlin 1963, S. 129. Wilhelm Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften. III (1884). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 33–35, hier S. 34. Dazu dürfte das Naturell Bernays’ beigetragen haben: Georg Witkowski spricht im Rückblick auf seine Münchner Studentenzeit von nur „wenigen Professoren, mit denen er [sc. Bernays] noch nicht verfeindet war“ (Witkowski 2003, Anm. 2, S. 82). Bernays selbst dürfte dies einerseits durchaus auch so gesehen haben. Er scheint seine Schüler geradezu nach Berlin geschickt zu haben, um dort einen ‚Brückenkopf‘ zu errichten und über den Konkurrenten aus vertrauenswürdiger Quelle unterrichtet zu werden, wie er 1879 notiert: „Muncker ist nun auch in Berlin bei Koch und Wüllner. Die drei wohnen zusammen, ein ganzes Bernayssches Seminar. Indem sie Scherer hören, sind sie mir anhänglicher als je. Koch geht in seinem verwerfenden Urtheil noch weiter als Muncker.“ Er sei „von Scherer wenig erbaut, und will nur seine Vorlesungen über Sprache, nicht über Litteraturgeschichte gelten lassen“ (Nachlass Bernays, Kasten XII). Nach Scherers Tod schrieb er jedoch am 7. August 1886 an Erich Schmidt: „Tief erschüttert mich die eben empfangene Kunde von dem Hinscheiden Scherers. Ich kann mich der Thränen nicht erwehren. Ich gedenke dessen, was er war, was er vollbrachte und anregte. Du sollst unverzüglich den Ausdruck meiner innigst schmerzlichen Theilnahme an Deiner Trauer empfangen“ (DLA, Nachlass Schmidt). Witkowski 2003 (Anm. 2), S. 71.
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die Schnittmenge der Antipoden in einem Aspekt, der zumindest dann keinem von beiden gerecht wird, wenn man darin das Wesentliche erblickt: Es gab nur zwei Literaturhistoriker, zwischen denen ich die Wahl hatte: Wilhelm Scherer und Michael Bernays. In einem der wesentlichsten Punkte ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise stimmten sie überein, nämlich in dem, was Scherer die ‚Andacht zum Kleinen‘ nannte. [...] Auch darin berührten sie sich, daß sie die Grenze der Wissenschaft mit der des tatsächlich Feststellbaren gleichsetzten. Sie zogen damit einen Damm gegen den Einbruch ästhetisierender, subjektiver Auffassungen und Wertungen, von denen ihr ganzes Arbeitsfeld überflutet war, entzogen freilich dadurch diesem Acker auf lange Zeit hinaus die befruchtende, unentbehrliche Anreicherung durch die in den Untergrund hinabdringende Pflugschar philosophischer Betrachtungsweise, für die nachher Wilhelm Dilthey zum siegreichen Erneuerer wurde.71
Schon im Brief an Erich Schmidt vom 18. Dezember 1886, aus dem oben bereits ausgiebig zitiert wurde, hatte sich Bernays gegen die Gegensatzkonstruktion Berlin-München gewandt: An Dein Besteigen des Berliner Katheders knüpfe ich noch eine ganz bestimmte Hoffnung. Dein klarer, vorurtheilsfreier Sinn – um nicht zu sagen: Deine Freundschaft für mich – wird nicht zugeben, daß der – ich will nicht wissen zu welchen Zwecken – erfundene Gegensatz zwischen der Berliner und einer Münchner Schule fortbesteht. Von dieser letzteren, angeblich von mir gestifteten, Schule ist dem Stifter nichts bekannt. Glücklicher Weise theile ich mit Deinem und meinem Lessing nicht den Widerwillen gegen das Professorieren. Aber ich hege ganz seinen Haß gegen Schule, die in Sekte ausartet; und meine gründlichste Verachtung wendet sich gegen alles, was an das Treiben einer Clique mahnt.72
Dass Schmidts Freundschaft sich posthum hinsichtlich des Umstands, dass er das wissenschaftliche Vermächtnis Bernays’ eher unterdrückte als am Leben erhielt, als durchaus zwiespältig erweist, wurde bereits gezeigt. Als möglicherweise findiger Nachlassverwalter weit eher vorstellbar als Schmidt wäre daher Richard M. Meyer, vielleicht mehr noch als sein Lehrer Scherer Bernays’ ideales Pendant und realer Antipode.73 Seine Rezension des ersten Bandes von Bernays’ gesammelten Schriften 1896 hatte diesen erbost – weil sie so treffend war, dass Bernays sich nur durch die Behauptung retten konnte, Meyer ____________ 71 72 73
Witkowski 2003 (Anm. 2), S. 397 f. DLA, Nachlass Schmidt. Über Meyers Besuch bei ihm schreibt Bernays im Tagebuch vom 14. September 1888 mit antisemitischem Ressentiment: „Dr. Meyer machte den Eindruck völliger Unreife. Sein Wissen scheint sich über die Schererschen Schulgrenzen noch nicht hinausgewagt zu haben. Jüdische Anmaßung. Geistesenge. Mangel an warmer Empfindung und lebendiger Anschauung waren sehr merkbar. Und solche unfertigen Persönlichkeiten, die wahrscheinlich niemals fertig werden, sind die geisteserbärmlichen Vertreter dieses Schulkreises“ (Nachlass Bernays).
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verkenne sein Wesen völlig.74 So spricht nur, wer sich getroffen weiß. Meyer hätte zur Erkundung von Bernays’ „reich von lettern, die die welt bedeuten“,75 aufbrechen können, denn er verstand sich wie kein zweiter auf die Untersuchung moderner wissenschaftlicher Mythen – und der Verquickung von moderner Wissenschaft und Mythologie überhaupt –, wie sie bei Bernays auf Schritt und Tritt in Anschlag zu bringen sind.76 Versucht man die Bedeutung unterschiedlicher Faktoren auf die Entwicklung der Editionstheorie, -methodik und -praxis Bernays’ resümierend zu ge____________ 74
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Bernays’ privater polemischer Ausfall im Wortlaut: „Mußte es mir denn beschieden sein, auch an meinem Geburtstage von den Thathandlungen eines Richard M. Meyer zu hören. Im Buche des Unmuts ertönt die Mahnung: ‚Uebers Niederträchtige Niemand sich beklage‘, und es liegt mir fern, mich über die Niederträchtigkeit eines Elenden, der nur seiner Natur gemäß handelt, zu beklagen. Aber tief beklage ich unsere theuren Studien, von deren Entwicklung wir eine veredelnde Einwirkung auf den deutschen Geist erhofften, daß ein sittlich verkommener Mensch – der Verfasser jener Anzeige gilt mir als ein solcher – sich in lächerlicher Aufgeblasenheit öffentlich als ihr berufener Pfleger geberden darf. Erich Schmidt sagt, er habe allen Respect außer Acht gelassen. Ich komme mir weder alt noch ehrwürdig genug vor, um auf Rechnung der Pietät Anspruch zu erheben. Hätte er doch in noch so respectwidrigem Ton nur etwas Triftiges vorzubringen vermocht. Für jede Belehrung hätte ich ihm gedankt. Aber dieser dummdreiste Hohnsprecher, der, ohne eine Ahnung meines wirklichen Wesens, mein ganzes Sein und Thun ins Fratzenhafte herunterzieht, er steht stumpfsinnig der Form meiner Arbeiten, völlig rathlos ihrem Gehalt gegenüber. [...] Habe ich etwa seine Beförderung verhindert? [...] Im Herbst 88 war dieser würdige Nachfolger der Klotzianer ein oder zweimal an meinem Tische. Sein Gebahren erregte mir einen an Ekel grenzenden Widerwillen. Ich nahm mir vor, niemals etwas zu lesen, was aus der R. M. Meyerschen Feder fließen würde. Diesem Vorsatz bin ich treu geblieben. Meine ‚entsetzliche Belesenheit‘ findet also an Meyerschen Schöpfungen ihre Schranke. Und auch jene kritische Leistung wäre mir wahrscheinlich noch bis auf den heutigen Tag unbekannt, wenn ihr Urheber es nicht für schicklich erachtet hätte, mir diesen Auswürfling seines vom Kladderadatsch befruchteten Geistes ins Haus zu senden. [...] Der ganze Vorgang, dünkt mich, bleibt beschämend für uns Alle. Gäbe es im Reiche der Litteratur einen Ehrenrath, so müßten dem Verfasser einer solchen Kritik die litterarischen Ehrenrechte aberkannt und er aus jedem Kreise hinausgewiesen werden, dessen Mitglieder wissenschaftliche Bildung von sittlicher nicht getrennt sehen wollen.“ Erich Schmidts Passus in seinem Geburtstagsbrief vom 26. August 1896, auf den sich Bernays bezieht, lautet: „Zwischen Karlsruhe und Berlin hat jüngst kein guter Wind geweht, aber ich bitte Dich inständig aus diesem leidigen Handel, den ich doch berühren muß. Meine Studenten und wer immer wissenschaftlich mit mir verkehrt, weiß wie ich zu Dir stehe. Daß gerade ein jüngerer Berliner College allen Respect außer Acht ließ, noch dazu bei Gelegenheit eines Buches, das vorn so herzlich von mir redet und dem er selbst eingestandener Maßen reiche Belehrung dankt, bedaure ich sehr. Er hat das auch gleich erfahren. Übrigens lebt er, dessen erste Knabenlectüre der Kladderadatsch war, des Glaubens, seine Beize sei gar nicht so schlimm. Auch mag eine erneute Verstimmung, daß er trotz allen Kenntnissen und vielseitigen Leistungen nicht vom Flecke kommt, dh. das ersehnte Ziel einer Professur verfehlt, ihn, an möglichst unruhiger Stelle, in diese absprechende Ironie getrieben haben. Ich bedaure tief, daß Dir von hier aus dieser Ärger geworden ist, und werde beim 2. Bande öffentlich Zeugnis ablegen, in welcher Gesinnung ich diese Gabe empfange und empfangen wünsche [...]. Du wirst an mir nicht irre werden!“ (Nachlass Bernays). – Ein solches mögliches Irrewerden blieb Bernays durch seinen frühen Tod erspart. Meyer 1896 (Anm. 9), S. 378. Vgl. Richard M. Meyer: Betrieb und Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Berlin 1898 (Volkswirtschaftliche Zeitfragen); Ders.: Mythologische Studien aus der neuesten Zeit. In: Archiv für Religionswissenschaft 13, 1910, S. 270–290.
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wichten, so wird man nicht umhinkommen, den individuellen Dispositionen einen entscheidenden Anteil beizumessen. Sein beinahe autodidaktisch zu nennender kontingenter Karriereweg, die fehlende Einbindung in eine ‚Schule‘ sowohl im Hinblick auf seine Lehrer als auch auf seine Schüler, sein teils freiwilliges, meist jedoch unfreiwilliges Beiseitestehen bei großen editorischen Projekten und wichtigen wissenschaftspolitischen Weichenstellungen nicht weniger als seine notorischen ‚Schreibhemmungen‘ lassen indes seine Außenseiterschaft und gewisse Idiosynkrasien überscharf hervortreten, so dass seine Konzeptionen isolierter und weniger anschluss- und zukunftsfähig scheinen, als sie es verdienen. Nicht nur ist sein Editionskonzept Goethes sowohl im Hinblick auf die Gesamt- als auch auf kritische Einzelausgaben von unveränderter Aktualität, und nicht nur sind seine Impulse für die analytische Druckforschung im deutschen Sprachraum noch keineswegs abgegolten – auch sein im Jungen Goethe entwickeltes problemgeschichtliches Goetheverständnis ist moderner, als er selbst es kurze Zeit später in der Synthese in der ADB noch zur Geltung zu bringen vermochte, und weist methodisch auf die Überwindung des Gegensatzes von ‚Positivismus‘ und ‚Geistesgeschichte‘ zu einem Zeitpunkt voraus, als dieser noch längst nicht aufgebrochen war. Auch wenn Bernays keine literaturwissenschaftliche Theorie im eigentlichen und strengen Sinne ausgebildet und auch wenn er keine Textinterpretationen publiziert hat, ist nicht nur – aber auch nicht zuletzt – sein im Zentrum und am Rande des Fachs zugleich verlaufender Werdegang noch für heutige zunehmend kontingente Karrierewege als historische Folie wissenschaftssoziologisch aufschlussreich. Vor allem aber bietet Bernays im Hinblick auf die Konstituierungsgeschichte der Germanistik ein zentrales Fallbeispiel für die Geburt der Neueren deutschen Literaturwissenschaft aus der Goethe-Philologie.
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Zwischen nationaler Aufgabe und wissenschaftlicher Erkenntnis − der Editor Bernhard Suphan
In memoriam Hans Dietrich Irmscher † 5. Mai 2009
Im Gegensatz zur Weimarer Ausgabe von Goethes Werken, die schon wenige Jahre nach Erscheinen der ersten Bände von Goethe-Forschern schärfster Kritik unterworfen worden ist und noch in ihrem Entstehen von konzeptionellen Konkurrenzunternehmen wie Der junge Goethe flankiert wurde, galten Herders Sämmtliche Werke von Bernhard Suphan bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Muster einer historisch-kritischen Ausgabe. Während die seit der Jahrhundertwende bekannten Mängel der Goethe-Edition nach 1950 zur Gründung der Akademie-Ausgabe durch Ernst Grumach führten, blieb eine ähnlich massive Kritik der Suphan’schen Herder-Edition seit nunmehr einem halben Jahrhundert in der Editionsgeschichte nahezu folgenlos. Gemeint sind hier die Untersuchungen des Kölner Germanisten Hans Dietrich Irmscher Aus Herders Nachlaß,1 Der handschriftliche Nachlaß Herders und seine Neuordnung,2 Probleme der Herder-Forschung3 und die Ankündigung Eine Ausgabe von Herders Studien und Entwürfen.4 Auslöser für diese Arbeiten Irmschers war der ihm 1957 vom Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat erteilte Auftrag zur Verzeichnung und Neuordnung von Herders handschriftlichem Nachlass in der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek, der bis in die sechziger Jahre als Depositum in der Universitätsbibliothek Tübingen aufbewahrt wurde. Der nachhaltige Eindruck des großen und reichhaltigen Handschriftenbestandes spiegelt sich in der Schärfe von Irmschers Kritik an der Suphan’schen Werkausgabe: Diese habe den Nachlass bei der Textwiedergabe wie bei der genetischen Darstellung des Textes nicht genügend berücksichtigt und nur eine relativ geringe Auswahl aus dem bisher Ungedruckten gebracht. Ein so dezidiertes ____________ 1 2 3 4
In: Euphorion 54, 1960, S. 281–294. Würzburg 1960 (Herder-Studien, Marburger Ostforschungen. 10). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1963, H. 2, S. 266–317. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1979. Rinteln 1980, S. 147–154.
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Urteil über eine hochrenommierte Edition setzte die genaueste Kenntnis des Materials voraus, die durch die Verzeichnung des Nachlasses gegeben war: Zugleich fiel auch neues Licht auf die als kanonisch geltende Ausgabe von Bernhard Suphan. Nicht nur die Fragwürdigkeit seiner Auswahl aus der handschriftlichen Überlieferung wurde deutlich, sondern auch das oft nicht hinreichend textkritisch abgesicherte Fundament seiner Edition [...].5
Zweitens zeugte es – entsprechend dem Fortschritt der Editionsphilologie – von einer viel höheren Erwartung an historisch-kritische Editionen als hundert Jahre zuvor. Und drittens wurde das Resultat der verdienstvollen Arbeit Suphans und seiner Mitarbeiter an seiner Grundsatzerklärung in dem abschließenden Bericht Meine Herder-Ausgabe von Dezember 1906 geprüft: „Die Ausgabe ist eine historische, und mehr als das, eine genetische Folge sämtlicher Werke und Schriften Herders. Herders geistige Natur selbst musste die Norm für diesen Bau seiner Werke geben. Der genetische Begriff ist Herders Lebensnerv.“6 Irmschers Resumée musste demzufolge entsprechend hart ausfallen. Mit seiner Kritik hoffte er, „die Notwendigkeit einer neuen, kritischen und vollständigen Ausgabe von Herders Werken, mindestens aber einer wichtigen Ergänzung der bisherigen erwiesen zu haben“.7 Ergänzungen hat die Herder-Philologie in den seit dieser Forderung vergangenen fünfzig Jahren mannigfaltige gebracht, aber von einer neuen Gesamtausgabe der Werke ist man weiter entfernt als je zuvor, nachdem seit Mitte der 1980er Jahre zwei opulent kommentierte Auswahlausgaben erschienen sind, die alle Bedürfnisse der (zahlenmäßig geringen) Leserwelt und der universitären Lehre ausreichend befriedigen. Dagegen dokumentieren die verschiedenen (sehr aufwendigen) editorischen Initiativen für Goethes Werke − wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart − erneut die ganz unvergleichbare Position dieses Autors im kulturellen Bewusstsein der Nation.
1.
Direktor der Goethe-Werkstatt
Als die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar, eine königliche Prinzessin der Niederlande, nach Walther Wolfgang von Goethes Tod im April 1885 den ____________ 5
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Hans Dietrich Irmscher, Emil Adler: Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet. Wiesbaden 1979 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. 2. Reihe: Nachlässe. 1), S. XIII. Bernhard Suphan: Meine Herder-Ausgabe. In: Revue germanique 3, 1907, N. 2, S. 233–240, hier S. 234. Irmscher 1963 (Anm. 3), S. 316.
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handschriftlichen Nachlass seines Großvaters erbte, sah sie darin eine kulturelle Verpflichtung vor Deutschland und vor der Welt, die sie zu erfüllen habe. Gebildet, entschlussfähig, tatkräftig und zielstrebig, lud sie den Berliner Juristen Gustav von Loeper Anfang Mai nach Weimar ein, um sich mit ihm über die vorzunehmenden Maßnahmen zu beraten. Loeper war Ministerialrat im königlich preußischen Hausministerium, Direktor des Geheimen Hausarchivs und Regierungsrat. Der hochgestellte preußische Beamte pflegte wie sein sächsischer Kollege und Freund Woldemar Freiherr von Biedermann von Jugend auf als Autodidakt hingebungsvoll eine Passion – die biografische GoetheForschung. Selbst unter Philologen vom Fach hatte der sachkundige Dilettant mit den Kommentaren zu Faust (1869) und zu Dichtung und Wahrheit (1877) in der Hempel’schen Goethe-Ausgabe hohe Anerkennung erlangt. Dass diese berechtigt war, zeigen auch die klugen Ratschläge, die er der Großherzogin erteilte: Als wichtigste Aufgaben bezeichnete er die Einrichtung eines eigenen Goethe-Archivs nach archivalischen Grundsätzen und die Erarbeitung einer Standardedition von Goethes Werken auf der Grundlage der Handschriften. Für die redaktionelle Leitung der Edition schlug er den aus Österreich stammenden Berliner Germanisten Wilhelm Scherer und seinen in Wien lehrenden Schüler Erich Schmidt vor.8 Die Großherzogin befolgte seinen Rat. In den Redaktionsstab der Weimarer Ausgabe, nach der Gründerin auch ‚SophienAusgabe‘ genannt, wurden außer Loeper, Scherer und Schmidt der durch seine Herder-Ausgabe bekannte Bernhard Suphan, schließlich noch der Kunsthistoriker und Goethe-Biograf Herman Grimm, Sohn Wilhelm Grimms und Schwiegersohn Bettina von Arnims, und der Grazer Germanist Bernhard Seuffert, später Leiter der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Wieland-Ausgabe, berufen. Nach Loepers Tod 1891 wurde Suphans Freund Karl Redlich Mitglied des Redaktionskollegiums.9 Mit dem Namen Scherers und seiner Schule verbindet sich in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik der Begriff des Positivismus.10 Scherer hatte ____________ 8
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Vgl. Jochen Golz: Das Goethe- und Schiller-Archiv in Geschichte und Gegenwart. In: Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Hrsg. von Jochen Golz. Weimar, Köln, Wien 1996, S. 13–70, hier S. 15 f. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I, Bd. 1. Weimar 1887, S. XXVI (künftig: WA). Vgl. Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981 (Literatur und Gesellschaft. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte), S. 101–127. Die biografischen und wertenden Aussagen, die ich im Folgenden über zahlreiche Gelehrte des 19. Jahrhunderts mache, gründen sich auf: Allgemeine Deutsche Biographie. Hrsg. durch die historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften [München]. 56 Bde. Berlin 1875–1912; Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie
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in Berlin bei den Altgermanisten Moriz Haupt und Karl Müllenhoff studiert und als Professor in Wien mediävistische und sprachgeschichtliche Arbeiten verfasst, sich aber an der Universität Straßburg der neueren deutschen Literatur und vor allem Goethe zugewandt. Seine fachlichen Qualitäten und seine preußisch-patriotische Gesinnung führten 1877 zu seiner Berufung als Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte in die Reichshauptstadt. Der einflussreiche Universitätslehrer behandelte alle Zweige der deutschen Philologie und war darüber hinaus an Geschichte, Kunst, Theologie und Philosophie interessiert. Nach seiner Vorstellung sollten sich die philologischen und historischen Wissenschaftsdiziplinen am Vorbild der exakten Naturwissenschaften orientieren und, empirisch überprüfbar, immanente Gesetzmäßigkeiten, Determinismus und Kausalzusammenhänge der geistigen und künstlerischen Erscheinungen aufweisen. Die von Karl Lachmann in der Vormärzzeit von der klassischen Philologie auf mittelalterliche und schließlich auf neuere deutsche Literatur übertragene Methode philologischer Textkritik erhielt mit dem Positivismus eine weltanschauliche Basis. Auf Vorschlag Scherers wurde Erich Schmidt im Herbst 1885 zum Direktor des Goethe-Archivs berufen, das sich anfangs in zwei Räumen des Weimarer Stadtschlosses befand. Er begann mit der Planung der Goethe-Ausgabe, d. h. der Einteilung ihrer Abteilungen und Bände und deren Übertragung an die (meist auswärtigen) 67 Mitarbeiter, die vor dem ersten Band der Weimarer Ausgabe aufgelistet sind.11 Aber Scherer starb in jungen Jahren am 6. August 1886 infolge eines Schlaganfalls, und Professor Schmidt wurde auf Scherers renommierten Lehrstuhl nach Berlin berufen. Als Hochschullehrer, Wissenschaftsorganisator und Förderer moderner Literatur wurde er ein Repräsentant der wilhelminischen Germanistik. Die Großherzogin Sophie war von Schmidt enttäuscht, zog aber, als sie sein Entlassungsgesuch erhielt, sofort Erkundigungen über einen geeigneten Nachfolger ein. Am 22. November 1886 schrieb sie, unter Beifügung dieses Gesuchs, an den sachsen-weimarischen Staatsminister Theodor Stichling, den Sohn von Herders einziger Tochter Luise: Eure Excellenz sende ich das Schreiben des Profeßors Erich Schmidt zur Kenntnißnahme zu. Somit tritt Erich Schmidt in das gewöhnliche Gleise der Menschlichen Dinge, und hört auf den Ruf des gewöhnlichen Ehrgeizes. Ungewöhnlich wäre es gewesen hier an der Spitze einer großen Arbeit zu bleiben und Urheber zu werden eines Zentral Punktes für das geistige Leben in Deutschland was einen der Bestandtheile meines Planes __________
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der Wissenschaften. Bisher 23 Bde. Berlin 1953–2007; Deutsche Biographische Enzyklopädie. 2., überarb. und erw. Ausgabe. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. 12 Bde. München 2005–2008. WA Abt. I, Bd. 1, S. XXVI–XXVIII.
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ausmachte. Daß ich die Schwierigkeit meiner Lage empfinde ist natürlich, aber eben so natürlich ist es, nun allein, die Zukunft meiner nationalen Aufgaben ins Auge zu fassen und bestmöglich dafür Sorge zu tragen. Die Lehrtätigkeit in Berlin über alles zu stellen, ist für mich der Beweis daß Profeßor Erich Schmidt nicht so warm die Aufgaben die seiner in Weimar harrten aufgefaßt hat als ich es von ihm voraussetzte. Es ist dieses eine Erfahrung − ich spreche dieses nicht als einen Tadel aus. [...] ich habe die Pflicht guten Muthes das ohne Zeitverlust zu wenden. Ich will gleich Schritte thun [...] nach einem Nachfolger [...] Profeßor Suphan werden Eure Excellenz persönlich kennen, ich habe nur einen flüchtigen Eindruck des Mannes. Am besten meine ich würden Eure Excellenz mir mündlich Ihre Anschauung über Profeßor Suphan mittheilen. Ich bin zu jeder Zeit zu Hause Ihre wohlgeneigte Sophie12
Der alte Staatsminister, Herders Enkel, kannte Bernhard Suphan schon lange, den etwa zu dieser Zeit Gustav von Loeper, Herman Grimm und Schmidt gemeinsam als eventuellen Nachfolger des letzteren vorschlugen. Schmidt hatte schon Anfang September 1886 zu Grimm „mit großer Hochachtung“ von Suphan gesprochen, der im Juni dieses Jahres durch eine der gedruckten Einladungen der Großherzogin zur Mitarbeit an der weimarischen GoetheAusgabe aufgefordert worden war. Der Suphan befreundete Kunstschriftsteller Grimm kritisierte in einem Brief an ihn nur die massenhaften Digressionen in seinen Aufsätzen. Wie er an Suphan schrieb, wussten die drei Redaktoren der Weimarer Ausgabe niemand, der neben Suphan „nur noch genannt werden könnte“.13 Suphan erklärte am 25. November Herrn von Loeper, der im Auftrag der Großherzogin mit ihm verhandelte, seine Bereitwilligkeit, forderte aber auf das Gehaltsangebot von 2000 Talern jährlich 2500, da der Direktor des Goethe-Archivs zum Hofstaat gehöre und entsprechenden Aufwand zu machen habe.14 Grimm, im Umgang mit Fürstlichkeiten erfahren, übermittelte ihm für das Antrittsgespräch bei der Großherzogin den Rat, sich dabei passiv zu verhalten, sich in seinen Antworten zu konzentrieren und „nur das Unentbehrlichste“ vorzubringen.15 Stichling schienen die Forderungen Suphans zu weit zu gehen, aber die Großherzogin war über das Ergebnis der Verhandlungen „sehr erfreut“ und schrieb am 6. Dezember an ihren Staatsminister: „Ich finde alle Wünsche des Profeßors Suphan vollkommen berechtigt.“ Sie fand ____________ 12 13 14 15
Sammel-Typoskript (Abschriften von Originalen im Grossherzogl. Hausarchiv und im Goetheund Schiller-Archiv), Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv (künftig: GSA) 150/1110. GSA 150/1110. GSA 150/1110. − Am 5. Mai 1896 wurde Suphan anlässlich der Einweihung des neuen Archivgebäudes zum Geheimen Hofrat ernannt. GSA 150/1110.
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seine „Berechtigung zu öffentlichen Vorträgen [...] selbstverständlich“, merkte aber dazu an, daß der Goethe Archiv Director von meiner Privat Kaße bezahlt wird und in meinem persönlichen Dienst steht [...] In den nächsten Jahren wird der Archiv Director die größte und anhaltendste Thatkraft entwickeln müßen um den Anforderungen zu genügen. Es liegt in der Absicht vom Jahre 1888 an zehn Bände jährlich der eigentlichen Werke heraus zu geben und daneben noch zwei Bände der folgenden Abtheilungen.16
Erich Schmidt trat am 1. April 1887 in preußische Dienste. Die Großherzogin bestimmte daher diesen Termin als offiziellen Dienstantritt seines Nachfolgers Suphan. Schon vorher, am 2. Januar, vor einer Fahrt nach Dresden, wo er bei der Familie von Göchhausen den Urfaust fand, hatte Schmidt den Freund auf die noch bestehende „arge Unordnung“ in den Archivräumen hingewiesen, da ihm „Reisen, plötzliche Aufträge, die einleitende Correspondenz über die Ausgabe“ und anderes keine Zeit zum Aufräumen gelassen hätten. Er teilte Suphan auch schon mit, welche konkreten editorischen Aufgaben ihn erwarteten: Im nächsten Sommer sollen Briefe 1, Tagebücher 1 u. 1–2 Bd. Gedichte gedruckt werden; für letztere müßten Sie gleich den Mitredaktor abgeben, während ich die Briefe und Tagebücher noch ins reine bringe. Vielleicht könnten Sie als künftiger Werkmeister in dessen Hand alle Fäden zusammenlaufen, gleich Normen für den kritischen Apparat wenigstens skizzieren, was besonders Loeper erwünscht wäre.17
Suphan trat am 1. April 1887 den Dienst als Archivdirektor und Vorleser am Hofe an. Er erhielt ein Jahresgehalt von 7500 Reichsmark, das bis 1902 auf 9000 Mark ansteigen sollte. Diese Erhöhung erreichte er vorzeitig schon 1896,18 was von der Zufriedenheit der verehrten „Herrin“ mit seinen Leistungen zeugt. Das Verhältnis zwischen der Großherzogin und ihrem Archivdirektor war ein überwiegend positives – vertrauensvoll, äußerst produktiv und menschlich schön, wenngleich Suphan darin auch devote Züge eines Höflings annahm. Neben dem geschäftlichen Briefwechsel über Angelegenheiten des Archivs – Tätigkeitsberichte, Einstellung von Mitarbeitern, Handschriftenfunde, Ankauf bzw. Schenkungen von Handschriften, Bitten um die Genehmigung der Handschriftenbenutzung für Mitarbeiter und Besucher des Archivs, Dienstreise- und Urlaubsanträge, Verlegung des Urlaubstermins wegen Druckkorrekturen, Bitten um Urlaubsverlängerung, Rückmeldungen aus dem Urlaub usw. –, neben diesen Informationen zur Entstehungsgeschichte der Weimarer Ausgabe ____________ 16 17 18
GSA 150/1110. GSA 150/A 124. GSA 150/1110.
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sind zahlreiche ganz persönliche Briefe Suphans an Großherzogin Sophie überliefert, die das einzigartige Vertrauensverhältnis zwischen ihnen illustrieren.19 Er betrachtete den Archivdienst als Dienst an der Großherzogin persönlich, der er in Verehrung und Liebe zugetan war, und dankte ihr wiederholt für „trostvolle Fürsorge“ für ihn, den „schwer Heimgesuchten“. Oder er bat sie um „ein halbes Stündchen menschlicher Aussprache mit einem Einsamen zum Jahreswechsel“ (Suphan war Witwer und mit den Söhnen Martin und Ludwig allein, in seiner Berliner Zeit waren seine erste und seine zweite Frau, der Sohn Hermann und die geliebte Tochter Meta gestorben). Jedes Jahr dankte er der Fürstin gerührt für Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke und Briefe und für das ihm geschenkte Vertrauen. „Ich arbeite auf das Ziel hin, daß das Archiv Eurer Königl. Hoheit das alleinige Archiv für die Deutsche Litteratur sein sollte.“20 Das Goethe- und Schiller-Archiv werde „vielleicht der folgenreichste, der erhabenste Gedanke“ sein, der vom Dasein der Großherzogin Sophie zeugen wird.21 In einem Brief an sie zu seinem 50. Geburtstag gedenkt Suphan einer schweren Jugend, einer fröhlich strebenden Universitätszeit, eines zwischen Dienst und Wissenschaft, zwischen Hoffen und Entsagen getheilten ersten Mannesalters, dem die härtesten Kraftproben nicht erspart bleiben sollten [...] wie das alles übergegangen ist in eine Zeit erhöhter Wirksamkeit [...] mein zureichender Lebensgrund ist, meinen Beruf zu erfüllen [...] mein Obdach ist, daß mir täglich das Vertrauen dessen, der mich berufen hat, zu Theil wird [...] was nach der Überlieferung in den ältesten Zeiten das Allgemeine war: das Verhältniß eines kindlich, nicht knechtisch unterthänigen Gehorsams gegen den Gebieter [...] ein persönliches Attachement, das mich an meine Arbeitsstelle bindet [...] ein großes Pflichtgefühl.22
Nach dem Tod der Großherzogin Sophie am 23. März 1897 und des Großherzogs Karl Alexander am 5. Januar 1901 gehörte das Goethe- und SchillerArchiv als Familien-Fideikommiss dem Großherzog Wilhelm Ernst, der mit den Beamten des Archivs nicht persönlich wie seine Großeltern, sondern durch das Großherzogliche Hausdepartement des Staatsministeriums bzw. die Großherzogliche Schatullverwaltung verkehrte.23 Suphan, als Archivdirektor schließlich Koordinator und Hauptredaktor der Weimarer Ausgabe, hatte mit dieser ein riesiges Arbeitspensum erfüllt. Am Ende seines Direktorats lagen von den insgesamt 143 Bänden 134 gedruckt ____________ 19 20 21 22 23
GSA 150/A 122. GSA 150/A 122, 24. Dezember 1892. GSA 150/A 122, 31. Dezember 1894. GSA 150/A 122, 18. Januar 1895. In einem sich vorwiegend auf Suphans Verdienste um das Goethe- und Schiller-Archiv und die Goethe-Gesellschaft konzentrierenden biografischen Aufsatz für das Jahrbuch 2010 der Klassik Stiftung Weimar habe ich seine Aktivitäten für das Archiv von 1887 bis zu seinem Freitod in der Nacht vom 8. zum 9. Februar 1911 chronikartig aufgelistet.
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vor. Mit Ausnahme der noch in Arbeit befindlichen Registerbände (zu Abt. I in den Jahren 1916 und 1918, zu Abt. III 1917 und 1919) und der Nachträge (Abt. I, Bd. 51 und 52: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, 1911; Bd. 53: Erotica, die auf Befehl der Großherzogin Sophie von der Veröffentlichung ausgeschlossen waren, und andere Nachträge, 1914) waren alle Bände der WA erschienen. Die Abteilungen I–III (Werke, Naturwissenschaftliche Schriften, Tagebücher) waren komplett, von Abteilung IV (Briefe) erschien der letzte (50.) Band 1912. Suphan hatte keinen Band allein bearbeitet, aber an sehr vielen mitgewirkt, die Schriften der Goethe-Gesellschaft und fortlaufend Quellenfunde und Urkunden aus dem Archiv herausgegeben. Hauptsächlich durch seine unermüdlichen Bemühungen, seinen umfangreichen Briefwechsel, seine Reisen und mündlichen Verhandlungen waren bis 1910 etwa 30 Nachlässe und viele Einzelhandschriften ins Goethe- und Schiller-Archiv gelangt. Im Abschiedsgesuch betonte er seinen schlechten Gesundheitszustand und das Nachlassen seiner Kräfte. Es ist heute kaum vorstellbar, in welch kurzer Zeit die monumentale Edition fertiggestellt worden ist. Für ‚seinen‘ Autor, der ihm zuerst editorischen Ruhm verschafft und ihn schon in der Jugend nach Weimar geführt hatte, ist Suphan in seinen 23 Weimarer Jahren kaum noch Zeit geblieben. Von seinen älteren Freunden und Gönnern waren ihm vorausgegangen Adolf Schöll (1805–1882), August Jacobsen († 1889), Reinhold Köhler (1830– 1892), Eduard von Simson, Präsident des Reichsgerichts (1810–1899), Karl Redlich (1832–1900), Herman Grimm (1828–1901), Rudolf Haym (1821– 1901), Theodor Mommsen (1817–1903), Otto Hoffmann († 1903), von den Altersgenossen der nationalpatriotische Dramatiker und Schiller-Epigone Ernst von Wildenbruch (1845–1909). Zwei weitere Freunde, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg (1831–1914), und Paul Heyse (1830– 1914), der beim deutschen Bildungsbürgertum sehr beliebte Novellist, erster deutscher Nobelpreisträger, überlebten Suphan nur um drei Jahre. Zu den schlechtbezahlten und oft wechselnden Archivmitarbeitern konnten sich aufgrund von Neid und wechselseitiger Missgunst keine freundschaftlichen Verhältnisse entwickeln. Dazu bemerkte Rudolf Steiner: „Nur wer die Dinge in der Nähe gesehen hat, weiß, welche ekelerregende Atmosphäre ein kleiner Fürstenhof um sich verbreitet.“24 Der spätere Begründer der Anthroposophie, der Goethes naturwissenschaftliche Schriften nicht zur Zufriedenheit Suphans edierte, schrieb seinem Direktor Feindseligkeit gegen das geistige Leben der Gegenwart und „eine echt philiströse Schulmeisternatur ohne alle ____________ 24
Über Weimar an Pauline und Ladislaus Specht, 23. Dezember 1895. In: Rudolf Steiner: Briefe. Bd. II: 1890–1925. Dornach/Schweiz 1987, S. 273. In vielem trifft dieses Urteil noch heute auf die thüringische Kleinstadt zu.
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größeren Gesichtspunkte“,25 „die stupide Gesinnung eines alten preußischen Gymnasiallehrers“ zu, der ihm „Steine in den Weg legen“ wolle, und beschimpfte ihn als „Judas der Humanität“ und „falschen Herder-Apostel“.26 Dahinter verbarg sich nicht nur ein Generationenkonflikt, sondern die Unverträglichkeit zwischen rational-positivistischer Philologie und mystisch-prophetischem Sendungsbewusstsein. Trotz der angedeuteten Missverhältnisse, die sich auf andere Art später auch zwischen Suphan und dem privat vielgeschäftigen, in Archivarbeiten aber säumigen Literarhistoriker Schüddekopf einstellten, erwirkte der Direktor durch Bittschriften für seine Mitarbeiter Gehaltserhöhungen, außerordentliche Geldunterstützungen, wie die Kurkostenbeihilfen für den stets bedürftigen Max Hecker, und für Julius Wahle, Schüddekopf und Hans Gerhard Gräf den Professorentitel.27 In den meisten Fällen waren Suphans Gesuche erfolgreich, obwohl der neue Dienstherr, Großherzog Wilhelm Ernst, kein tieferes Interesse am Goethe- und Schiller-Archiv hatte und am liebsten die Ausgaben dafür ganz eingespart hätte – ganz im Gegensatz zu seinem Großvater Karl Alexander, der noch persönliche Erinnerungen an Goethe hatte und durch eine lebendige Tradition mit der Dichtung der Klassik verbunden war.28
2.
Lehrer und Herder-Forscher
In den ersten zwanzig Jahren seines Berufslebens war Bernhard (Ludwig) Suphan – was Steiner in ungerechter Polemik mit pejorativen Epitheta versehen hat – aus Passion „Herder-Apostel“ und Gymnasialoberlehrer. Nach dem Abitur am Humanistischen Gymnasium in Nordhausen studierte der am 18. Januar 1845 geborene Barbierssohn ab 1863 in Halle/Saale Theologie, Germanistik und Klassische Philologie, vom Sommersemester 1866 an noch ein Jahr in Berlin. Seine Dissertation im Fach Klassische Philologie, De Capitolio Romano commentarii specimen, schrieb er 1866 in Halle bei Theodor Bergk (1812–1881), einem vielseitigen Altertumswissenschaftler. Suphans andere Hallenser Lehrer waren der Archäologe Alexander Christian Leopold Conze (1831–1914), der später den Pergamon-Altar ausgrub, der Rechtshegelianer und Leibniz-Editor Johann Eduard Erdmann (1805–1892), ein konservativer preußischer Staatsphilosoph, der Alttestamentler und Vermittlungstheologe Eduard Riehm (1830–1888), der Neutestamentler und praktische Theologe ____________ 25 26 27 28
An Pauline Specht, 15. März 1891; Steiner, Briefe (Anm. 24), Bd. II, S. 84. An dieselbe, 12. Juli 1891, 20. Mai 1891; Steiner, Briefe (Anm. 24), Bd. II, S. 101, 94. GSA 150/A 103. Suphans Nachruf auf Großherzog Karl Alexander, in: Goethe-Jahrbuch 1901, S. 1–3.
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Willibald Beyschlag (1823–1900) und der Altgermanist Julius Zacher (1816– 1887), ein Schüler Lachmanns. In Berlin hörte Suphan bei August Boeckh (1785–1867), einem universalen Gräzisten und Althistoriker, dem Haupt der realphilologischen Schule, bei dem Klassischen Philologen und Germanisten Moriz Haupt (1808–1874), bei dem Gräzisten und Epigraphiker Adolf Kirchhoff (1826–1908) und dem Altgermanisten Karl Müllenhoff (1818–1884), auch einem Lachmann-Schüler. Dass dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Suphan das Studium bei so berühmten Lehrern als „fröhlich strebende Universitätszeit“ unvergesslich blieb, versteht sich von selbst. Das Bildungsmonopol des Neuhumanismus, die Orientierung der Menschenbildung an den Idealen der Antike, besonders am ganzheitlichen griechischen Menschenbild nach der Bildungskonzeption Wilhelm von Humboldts, war noch gültig; „nur das Studium der klassischen Philologie qualifizierte zugleich wissenschaftlich und pädagogisch auf das höhere Lehramt“.29 Ein Studium explizit der deutschen Philologie galt noch als Ausnahme; die studierten Altphilologen erteilten Deutschunterricht mit. Infolge der weitgehenden Identifizierung der Philologie überhaupt mit den klassischen Sprachen waren sie dazu befähigt: „Die Methoden des altsprachlichen Unterrichts wurden auf den Deutschunterricht übertragen“.30 Diese Tendenz wurde im Studium dadurch begünstigt, dass hervorragende Universitätslehrer, wie z. B. Lachmann, Müllenhoff, Haupt, Zacher, Friedrich Zarncke (1825–1891) beide Disziplinen beherrschten und oft auch lehrten. Wissenschafts- und methodengeschichtlich gesehen, ist die Germanistik nach vereinzelten Vorleistungen im 17. und 18. Jahrhundert am Anfang des 19. als selbständiges Fachstudium aus der Klassischen Philologie und der deutschen Rechtsgeschichte (Brüder Grimm) hervorgegangen. In einer Rede vor Studenten, die Wilhelm Grimm am 24. Februar 1843 zum Geburtstag gratulierten, betonte Jacob Grimm: „Die klassischen Studien [...] sind die Grundlage unserer Bildung“.31 Die Germanistik hatte erst durch die napoleonische Fremdherrschaft und die Befreiungskriege 1813–1815 ihre geschichtliche und politische Rechtfertigung erhalten und bekam erneut starken Auftrieb nach der Reichsgründung 1871. Nach Abschluss seines Studiums 1867 wirkte Suphan als Kollaborator (Hilfslehrer) für Deutsch und Latein an der Latina der Franckeschen Stiftungen. Bereits ein Jahr später wurde er aufgrund seiner ausgezeichneten pädago____________ 29
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Detlev Kopp: Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 669–741, hier S. 692. Kopp 1994 (Anm. 29), S. 697. Jacob und Wilhelm Grimm: Über das Deutsche. Schriften zur Zeit-, Rechts-, Sprach- und Literaturgeschichte. Hrsg. von Ruth Reiher. Leipzig 1986, S. 105.
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gischen Befähigung als Oberlehrer für dieselben Fächer an das FriedrichsWerdersche Gymnasium in Berlin versetzt. 1886 wurde ihm der Titel ‚Professor‘ verliehen. Ludwig Geiger, der Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs, berichtet in seinem Nachruf auf Suphan, dass dessen ehemalige Schüler noch viel später von seinem Enthusiasmus für die deutsche Literatur beeindruckt gewesen seien.32 Zusammen mit seinen Berliner Schulkollegen Ludwig Bellermann, Johannes Imelmann und Fritz Jonas stellte Suphan ein weit verbreitetes Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten in fünf Bänden zusammen (Berlin 1881−1886). In Berlin konnte er viele bedeutende Gelehrte kennenlernen und Freundschaften schließen, die ihm bei seinen wissenschaftlichen Bestrebungen förderlich werden sollten. Wie seine bald hochgeschätzte Tätigkeit als Editor neben und nach seinem Schuldienst zeigt − und ähnlich bei vielen anderen Gelehrten im 19. Jahrhundert, z. B. sei hier noch der Gymnasiallehrer Carl Immanuel Gerhardt (1816–1899) genannt, der Leibniz’ Mathematische Schriften (7 Bde., 1849–1863) und Philosophische Schriften (7 Bde., 1875–1890) herausgab und Korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften wurde –, waren Pädagogen im höheren Lehramt zu wissenschaftlichen Arbeiten befähigt und geachtet wie Hochschullehrer; zwischen beiden Ämtern gab es keine starre Grenze. Erst im 20. Jahrhundert hat eine zunehmende Nivellierung des Schulwesens für andere Verhältnisse gesorgt. Gegenwärtig scheint eine gewisse Gleichheit wieder hergestellt zu sein, indem die Hochschulpädagogik sich leider vielerorts auf das Schulniveau herabgelassen hat. Bereits in seinen ersten Jahren im Schuldienst in Halle und Berlin hat Suphan „begonnen, aus Herder ein ernstes Studium zu machen“.33 Sein germanistischer Lehrer Zacher hatte ihm als Thema für das Staatsexamen die „Darstellung der ästhetischen Kritik Herders am Beispiel der Fragmente über die neuere Deutsche Litteratur im Verhältnis zu den Litteraturbriefen“ aufgegeben und ihn auf eine zu schaffende Edition der Werke Herders hingewiesen.34 In Suphans Berliner Jahren entstanden der Plan zu seiner wissenschaftlichen Ausgabe Herders Sämmtliche Werke und fast alle Bände davon, die er selbst − allein oder mit Hilfe von Schulkollegen − bearbeitete (1877–1887 erschienen Bd. 1, 2, 3, 4, 6, 7, 10, 11, 12, 13, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24), präludiert und begleitet von größeren Aufsätzen mit reichem Quellenmaterial: Herders Volkslieder und Johann von Müllers Stimmen der Völker in Liedern (Zeitschrift für deutsche Philologie 1871), Peter der Große. Herders Fürsten____________ 32 33 34
Goethe-Jahrbuch 1911, S. 2. Suphan 1907 (Anm. 6), S. 233. Suphan 1907 (Anm. 6), S. 233 f.
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ideal (Altpreußische Monatsschrift 1873), Herder als Schüler Kants (Zeitschrift für deutsche Philologie 1873), Die Rigischen Gelehrten Beiträge und Herders Anteil an denselben (ebd. 1875), Herders theologische Erstlingsschrift (ebd. 1875), Goethesche Gedichte aus den siebziger und achtziger Jahren in ältester Gestalt (ebd. 1876), Röslein auf der Heiden (Archiv für Litteraturgeschichte 1876), Goethe und Herder von 1789–1795 (Preußische Jahrbücher 1879), Goethe und Spinoza 1783–86 (Festschrift zur zweiten Säcularfeier des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin 1881), Eine klassische Lobschrift auf Winckelmann (Preußische Jahrbücher 1882), Goethe und Prinz August von Gotha (Goethe-Jahrbuch 1885), Friedrichs des Großen Schrift De la littérature allemande 1780 (Vossische Zeitung 1886). In seinem Weimarer Antrittsvortrag vor der Goethe-Gesellschaft 1887 erklärte Suphan, sein Studium habe ihn von Herder zu Goethe geleitet. Danach wurde er ganz von den Aufgaben des Archivs und von der Leitung der Weimarer Ausgabe in Anspruch genommen, so dass für seinen „Lebensgefährten [Herder] nur ein spärlicher Tribut an Zeit und Kräften übrig blieb“.35 Am 2. September 1903 schrieb er an Julius Rodenberg, er habe in diesem Jahr keinen freien Tag gehabt: „Ich bin ein armer Sklave der Pflicht.“36 Von besonderem Interesse sind Briefe Suphans an den Kunstschriftsteller und Oberbibliothekar der Großherzoglichen Bibliothek Weimar, Professor Adolf Schöll,37 und an den Literarhistoriker und Bibliothekar Reinhold Köhler38 aus der Anfangszeit der Herder-Ausgabe. Aus einem Brief an Schöll vom 6. August 1871 geht hervor, dass Suphan zuerst im Herbst 1870 zur Besichtigung des handschriftlichen Nachlasses Herders bei Minister Stichling in Weimar gewesen war und im Juni 1871, mit einem Gutachten seines Lehrers Zacher unterstützt, „ein Immediatgesuch um Zuschuß zu der Ausgabe“ an Kaiser Wilhelm I. und ein Gesuch um Fürsprache an die Kaiserin gerichtet hatte. Am 29. Februar 1872 meldete Suphan aus Berlin, „daß des Kaisers und Königs Majestät geruht haben zu der von mir vorbereiteten Herderausgabe eine jährliche Unterstützung von 300 Thalern auf sechs Jahre zu bewilligen“ (Suphan hatte ursprünglich die Dauer der Arbeit so bemessen, und Eduard von Simson hatte sich für die Subvention eingesetzt). Am 11. Juni wurde Schöll gebeten, einen von Suphan erarbeiteten Katalog der Handschriften kritisch durchzusehen. Darin unterschied Suphan die Handschriften nach Vollständigkeit, Eigenhändigkeit und Ausarbeitungsgrad; nach seinem ersten Eindruck schien der ____________ 35 36 37 38
Suphan 1907 (Anm. 6), S. 234. GSA 81/X,6,7. GSA 113/236. GSA 109/774.
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größte Teil des Ungedruckten für die Ausgabe „nur indirect von Wert“ zu sein. Um die Handschriften für die Erarbeitung der Ausgabe ständig zur Verfügung zu haben, bewirkte er den Ankauf des Nachlasses durch das Kultusministerium in Berlin, der im Jahr 1874 zustande kam (Stichling gibt in einem Schreiben als Kaufpreis „Eintausend Thaler“ an,39 Suphan aber „zweitausend Thaler“40). Die nach dem Verkauf noch in Stichlings Besitz verbliebene Handschriftenmasse, die erst 1889 und 1891 dem Goethe- und Schiller-Archiv übergeben wurde, machte weitere Reisen des Editors Suphan und des Biografen Rudolf Haym nach Weimar erforderlich. Einzelne Herder-Manuskripte oder in Berlin nicht vorhandene Zeitungen (Weimarische Wöchentliche Frag- und Anzeigen), Zeitschriften (Journal des Luxus und der Moden) und Bücher (Weimarisches Gesangbuch) aus der Großherzoglichen Bibliothek durften sie leihweise nach Hause mitnehmen und nach erfolgter Benutzung mit der Post zurückschicken.41 Am 19. Mai 1877 kündigte Suphan Schöll die baldige Übersendung des fertigen ersten Bandes der Ausgabe an. Der Druck erfolgte in der Waisenhausbuchdruckerei in Halle, der Verlag nach Vermittlung Theodor Mommsens durch die Weidmannsche Buchhandlung in Berlin (die Hallesche Waisenhausbuchhandlung war kurz zuvor vom Verlagsvertrag zurückgetreten). Am 14. Juni dankte Kaiserin Augusta in einem Brief aus Koblenz Suphan für den ersten Band der ihr gewidmeten Herder-Ausgabe: Ich [...] wünsche Ihnen Glück zu einer Aufgabe, welche durch ihre Wichtigkeit die Aufbietung bedeutender Gaben und angestrengter Arbeit erheischt. Je mehr es Ihnen gelingen wird, dem großen Namen Herders Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, desto bleibender wird Ihr Verdienst um die Deutsche Literatur sein. Mein Interesse wird Sie auf Ihrem Wege begleiten.42
In der auf seinen 32. Geburtstag datierten Vorrede rühmte Suphan die kaiserliche Munifizenz, das Entgegenkommen der Erben Herders bei Ankauf und Nutzung des Nachlasses und wies auf eine gegenwärtige Herder-Renaissance hin: „[...] gerade in den Tagen der neu erstehenden Herrlichkeit des deutschen Reiches“ sei es „eine Ehrenpflicht deutscher Wissenschaft, seinem [Herders] Genius gerecht zu werden“. Die Ausgabe als ein Denkmal Herders, des „Vermittlers zwischen allen gebildeten Nationen“, sei „in nationalem Sinne begonnen“ worden. Gegenüber den unmittelbar nach Herders Tod begonnenen ____________ 39
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An Rinaldo von Herders Sohn Johann Gottfried, 20. März 1874. In: Peter von Gebhardt, Hans Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen. 2. Teil. Leipzig 1930 (Beiträge zur deutschen Familiengeschichte), S. 334. Suphan 1907 (Anm. 6), S. 235. GSA 109/774. GSA 150/A 118.
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Sämmtlichen Werken. Zur Religion und Theologie. Zur schönen Literatur und Kunst. Zur Philosophie und Geschichte (Cotta, Tübingen 1805–1820) sollten die „Vollständigkeit, Genauigkeit und Reinheit des Textes“ auf der Grundlage des reichen handschriftlichen Nachlasses gesichert und „die literarische Wirksamkeit Herders [...] vollständig und dem Gange seiner Entwicklung [...] entsprechend“ dargestellt werden. Die auf 32 Bände veranschlagte kritische Edition werde alle Veröffentlichungen Herders und druckfertige Ausarbeitungen aus dem Nachlass sowie Zusätze und Fortsetzungen, nur ausnahmsweise aber ältere, bisher ungedruckte Redaktionen von Schriften enthalten, dazu in einem Supplementband Skizzen und Entwürfe, nicht die Studienbücher und Stoffsammlungen. Innerhalb der Schriftenabteilungen 1. Prosawerke, 2. poetische Werke, 3. amtliche Schriften sollte die historische Anordnung die Entwicklung des Schriftstellers zeigen: „Herders eigene genetische Betrachtungsweise muß für den Aufbau seiner Werke die Norm geben.“ Einleitungen des Herausgebers sollten die Anordnung im Einzelnen und die Grundsätze der Textgestaltung erörtern und dem Leser der Schriften „das historische Verständniß“ vermitteln: „Von Keimen in Studienheften aus verfolgen sie die Ausbildung der Schriften zu ihrer druckfertigen Gestalt [...] In der Darstellung des Werdens liegt für viele Schriften Herders zugleich die beste Erklärung.“ Für Orthographie und Interpunktion sollte die regelmäßige Schreibweise Herders in den Handschriften verbindlich sein.43 Nach der Lessing-Ausgabe Lachmanns (1838–1840) und der Schiller-Ausgabe Karl Goedekes (1867–1876) war Suphans Herder (1877–1913) die dritte historisch-kritische Edition eines deutschen Klassikers. In dem Briefbericht Meine Herder-Ausgabe 1907 betonte Suphan aber, dass er sich „an kein Vorbild halten“ konnte: „Herder mußte sein selbsteigenes Vorbild sein“. Er müsse in einer textgenetischen Edition „stets als Werdender betrachtet werden“.44 Das Ziel, die Palingenesie und die Metamorphosen der Werke von den Entwürfen und Vorarbeiten über die verschiedenen Fassungen bis zum Druck aufzuzeigen, hat die Ausgabe aber nur zum Teil erreicht, während in allen anderen editorischen Festlegungen der Vorrede, verglichen mit der späteren Ausführung, die Genauigkeit der Voraussicht frappiert: Es wurden 32 Bände in derselben Einteilung und Gliederung (der dünne Registernachtrag Bd. 33 von 1913 ändert daran nichts). Die gründlichste Kenntnis des Herder’schen Schaffens, insbesondere die sichere Orientierung im handschriftlichen Nachlass, hatte eine solche Präzision der Planung ermöglicht. Nach Suphans Richtlinien und in geistiger Gemeinschaft und Beratung mit ihm haben Karl Redlich ____________ 43 44
Suphans Vorrede in: Herders Sämmtliche Werke. Bd. 1. Berlin 1877, S. V–XII (künftig: SWS). Suphan 1907 (Anm. 6), S. 235.
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(Bd. 8, 15, 25, 26, 27, 28, 29), Reinhold Steig (Bd. 5 z. T., 9, 16 z. T., 33), Otto Hoffmann (Bd. 14 z. T., 32, 33 z. T.), Rudolf Dahms (Bd. 30), August Jacobsen (Bd. 31), Ernst Naumann (Textrevision Bd. 6, 7, 10, 11, 12, 19, 20, 23, 24) und Johannes Imelmann (Textrevision Bd. 17, 18, 21, 22) – außer dem Hamburger Redlich sämtlich Berliner Kollegen – an der Ausführung mitgewirkt. In der Vorbemerkung zu Band 30 (1889), den schulamtlichen Schriften, hat Suphan im Hinblick auf die ehrenamtliche, hingebungsvolle Hilfe seiner Freunde erklärt: „Mit der Herder-Ausgabe zahlt die deutsche Schule dem Lehrer Deutschlands ihren Dankeszoll. Alle, die mit mir ihre Kraft für das Unternehmen dieser Ausgabe willig eingesetzt haben, sind durch tägliche Pflicht mit der höheren Schule verknüpft; und wenn mich seit zwei Jahren [Berufung nach Weimar] nicht der Dienst mehr mit ihr verbindet, so fühle ich mich ihr doch allezeit verwandt und zugethan.“45 In seiner letzten und „reifsten Herder-Arbeit“, dem großen textgenetischen Schlusswort zu Band 13 und 14, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,46 das Suphan am 15. Januar 1909 zum Abdruck (Kapitel II und III, Aus Herders Ideen-Werkstatt) in der Deutschen Rundschau an Rodenberg schickte,47 gesteht er ein, dass er durch die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der Weimarer Ausgabe erst die richtigen Erkenntnisse über die Zusammenarbeit Goethes mit Herder 1783–1786 erlangt und danach die naturphilosophischen Manuskripte der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in ganz neuem Licht gesehen habe. In den überlieferten älteren Niederschriften zu den ersten beiden Teilen der Ideen finden sich viele Spuren gemeinsamer geistiger Arbeit, die für beide Seiten höchst förderlich war. In der genauen Beschreibung dieser Handschriften und in den darüber geäußerten Vermutungen Suphans lässt sich sein Ideal einer wirklichen textgenetischen Ausgabe der Ideen ahnen, die es bis heute noch nicht gibt. Nicht erreicht war auch Suphans 1879 erklärtes Ziel, dass die „Correspondenz Herders [...] in vollständiger Sammlung den Werken folgen soll“, da sie zu diesen „die werthvollste Bereicherung bietet“.48 Vom Erscheinen des ersten Bandes der Werke 1877 bis zum ersten Band der Briefe sollten genau noch hundert Jahre vergehen. Die Erklärung für diese große Unterbrechung einer wissenschaftsgeschichtlichen Kontinuität ist in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Herders im 20. Jahrhundert zu suchen, die lange eine Geschichte der nationalistischen Verfälschung, des ideologischen Missbrauchs und der Ver____________ 45 46 47 48
SWS, Bd. 30, S. VIII. SWS, Bd. 14, S. 653−709. GSA 81/X,6,7. Bernhard Suphan: Goethe und Herder von 1789–1795. In: Preußische Jahrbücher 1879, S. 85– 100, 142–183, 411–436, hier S. 85.
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Günter Arnold
drängung gewesen ist, bevor objektive, rein wissenschaftliche Aspekte zum Durchbruch gelangen konnten.
3.
Das nicht erreichte Ideal einer textgenetischen Edition
Suphans Herder-Ausgabe und die zehn Jahre später als diese unter seiner Generalredaktion begonnene Weimarer Goethe-Ausgabe, beide gleichermaßen als nationale Denkmale beabsichtigt, hatten extrem unterschiedliche Voraussetzungen und Grundlagen. Die Herausgabe von Goethes Werken, Tagebüchern und Briefen wurde durch fürstliches Mäzenatentum ermöglicht, das damit zugleich eine bedeutende Aufwertung eines kleinen Landes aufgrund seiner nach außen sichtbaren Wissenschafts- und Kulturpolitik bezweckte. Außer den wenigen Beamten des eigens für die Aufbewahrung des Goethe’schen Nachlasses aus dem Privatvermögen der Großherzogin Sophie errichteten Archivs (Einweihung am 28. Juni 1896) wurden mehr als sechzig Germanisten im Deutschen Reich und im Ausland für die Mitwirkung an der Gesamtausgabe gewonnen. Die Koordinierung und Redaktion ihrer editorischen Beiträge war die Hauptarbeit des Archivs in den ersten dreißig Jahren seines Bestehens. Als Bernhard Suphan 1910 seine Pensionierung beantragte, wurde ihm noch die Ausarbeitung einer – von ihm nicht mehr ausgeführten – Denkschrift über die künftigen Aufgaben des Goethe- und Schiller-Archivs aufgetragen, weil das Ende der großen Edition sich deutlich abzeichnete.49 Nach Suphans Tod wurde dann auch zu beliebten Sparmaßnahmen gegriffen und die Direktion des Archivs in Personalunion mit der des Goethe-Nationalmuseums (Wolfgang von Oettingen) vereinigt. Die kollektive Leitung der Ausgabe durch das Redaktionskollegium war der Oberaufsicht der Großherzogin Sophie unterstellt; nach ihr hat keine der fürstlichen Personen sich wie sie für den Inhalt dieser Arbeit interessiert. Entscheidend für die Konzeption der Ausgabe war aber etwas anderes: der Beschluss der Redaktoren, sowohl in der Anordnung der Werke als in der Textgestaltung Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand C (40 Bde.; Cotta: Stuttgart, Tübingen 1827–1831; Goethe’s nachgelassene Werke, 20 Bde.; ebd., 1832–1842) zugrunde zu legen, die „als Goethes selbstwillige Verfügung [...] sein Vermächtniß“ überbewertet wurde.50 Karl Wilhelm Göttlings korrigierende Änderungen von Orthographie und Interpunktion wurden zum Teil rückgängig gemacht, wenn sie den Gepflogenheiten Goethes zu ____________ 49 50
GSA 150/A 103; Schreiben der Großherzoglichen Schatullverwaltung an Suphan, 19. Dezember 1910. WA Abt. I, Bd. 1, S. XIX.
Bernhard Suphan
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widersprechen schienen. Die Anordnung der Werke nach der Ausgabe letzter Hand war nicht chronologisch, sondern folgte der Hierarchie der poetischen Gattungen Lyrik – Dramatik – Epik, innerhalb der Gattungen gelegentlich der willkürlichen Gliederung in älteren Werkausgaben, die Goethe als Druckvorlagen zur Herstellung der Ausgabe letzter Hand benutzt hatte. Ein wissenschaftliches Editionsprinzip wie die Dokumentation der geistigen Entwicklung des Autors in der Aufeinanderfolge der Texte war damit nicht zu verbinden. Die Herder-Ausgabe dagegen ist aus der individuellen Begeisterung und dem ganz persönlichen Engagement des Studenten und jungen Lehrers Suphan für die nach seinem Eindruck bisher editorisch vernachlässigten Werke Herders erwachsen. Er hat die Konzeption für die Ausgabe allein entworfen und mit Hilfe seiner Freunde im höheren Schuldienst genau so ausgeführt, wie es die Vorrede zum ersten Band 1877 vorsah. Wie er in dieser Vorrede schreibt, hatte der Klassische Philologe und Mediävist Moriz Haupt den Plan der Ausgabe „begutachtet und gebilligt, und auf die [...] kritischen Grundsätze der Bearbeitung ist das Urteil des großen Philologen von bestimmendem Einfluß gewesen“. Julius Zachers, Suphans „verehrten akademischen Lehrers [...] wissenschaftliches Urteil hat die Ausführung [des 1. und 2. Bandes] auf allen ihren Stufen begleitet“.51 Aufgrund der ganz unterschiedlichen Quellenlage und Überlieferung im Vergleich zu Texten des Altertums und Mittelalters hat Suphans Studium der Klassischen Philologie für die auf Originalhandschriften gegründete Herder-Ausgabe sich editorisch kaum ausgewirkt, dagegen – wie auch in den Klassiker-Kommentaren des Altphilologen Heinrich Düntzer – mit großem Nutzen auf die Erläuterungen griechischer und römischer Allusionen, die spätere Generationen nach der Reduzierung antiken Bildungsgutes in Schule und Universität gar nicht mehr als solche erkennen konnten. In der Anordnung der Werke richtete Suphan sich nicht nach einer älteren Edition: Zum Glück gab es nicht die von Herder in seinem letzten Lebensjahr 1803 zum Schutz gegen einen Nachdrucker angekündigte „palingenesierte“ Ausgabe seiner Werke, und die bei Cotta erschienene erste Gesamtausgabe erwies sich infolge von willkürlichen Eingriffen der Herausgeber (Johann Georg Müller, Johannes von Müller, Christian Gottlob Heyne, Gottfried von Herder) – Auflösung von Sammelwerken, Mischformen aus verschiedenen Fassungen, Kürzungen von Texten um polemische Stellen – für wissenschaftliche Zwecke als unbrauchbar. Suphan benutzte folglich Herders Originalausgaben der einzelnen Werke und die Handschriften als Textgrundlagen. Eine von ihm angestrebte genetische Gliederung der Werke und Schriften durchbrach er durch die ____________ 51
SWS, Bd. 1, S. XI.
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Günter Arnold
Einteilung in funktionale Textsorten; innerhalb dieser folgte er aber der Chronologie. Wenn mehrere Fassungen vorhanden waren, veröffentlichte er bei großen Abweichungen den gesamten Text, bei geringfügigen nur die Varianten unter dem Haupttext. Eine gründliche Lektüre der Einleitungen und Nachworte zu den einzelnen Bänden zeigt, dass der Editor sich wider besseres Wissen einschränken musste: Ihm schwebte in seiner auf der gründlichsten Kenntnis des handschriftlichen Nachlasses beruhenden Einsicht in den Zusammenhang aller Werke synchron und diachron wohl eine Gesamtedition vor, zur der ihm die Mittel und Möglichkeiten fehlten, wahrscheinlich auch die textologische Darstellungsmethode. Er betont wiederholt die Einmaligkeit der individuellen Arbeitsweise Herders und damit die Vorbildlosigkeit seiner Ausgabe. Der bewusste Verzicht auf fürstliche Munifizenz und staatliche Unterstützung (für sich selbst und für seine Kollegen im höheren Schuldienst) nach der bescheidenen Anfangsfinanzierung durch Kaiser Wilhelm I. 1872 bedeutete für Suphan die Freiheit des Herausgebers im Gegensatz zu seiner späteren dienenden Funktion in der großherzoglichen Editionswerkstatt. Wie eingangs angemerkt, war Herder im Unterschied zu Goethe im öffentlichen Bewusstsein fast vergessen, woran sich bis heute kaum etwas geändert hat. Suphan hat sich über eine mögliche Herder-Renaissance vielleicht mitunter Illusionen gemacht, aber es klingt wie eine Abwehr eigener Liebhabereien, wenn er 1889 im Vorwort zu Band 31 erklärt: Was seit über achtzig Jahren von Herder in der Welt ist, das ist für viele auch heute noch so gut wie ungedruckt. Auf Vermehrung der Masse also kann es nicht ankommen. Die gegenwärtig herrschende Stimmung (man hat sie die Andacht zum Ungedruckten genannt) theile ich überhaupt nicht. Ich halte für die Hauptaufgabe des wissenschaftlichen Herausgebers: was bis jetzt gedruckt und so zum Nationaleigenthum geworden ist, quellenächt herzustellen und zu überliefern, Unbill und Willkür der früheren Herausgeber für immer zu beseitigen [...].52
Im Widerspruch zu dieser Äußerung hat Suphan aufgrund seiner Nachlassstudien die Edition der gedruckten Werke doch mit einer Vielfalt ausgewählter handschriftlicher Materialien angereichert: Dispositionen und schematische Entwürfe aus Studienbüchern, thematische Stoffsammlungen, Kollektaneen, Exzerpte, Fragmente, vollständige ältere Fassungen, einzelne Kapitel aus älteren Niederschriften, Fußnoten-Varianten aus ebensolchen Niederschriften. Keine andere Herder-Ausgabe kann sich auch nur entfernt mit diesem Quellenreichtum messen. Leider ist die Anordnung der Zusatztexte oft zusammenhanglos und chaotisch und für den Benutzer der Ausgabe recht unübersichtlich, ____________ 52
SWS, Bd. 31, S. VII.
Bernhard Suphan
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so z. B. die auszugsweise an verschiedenen Stellen der Bände 13 und 14 abgedruckten älteren Niederschriften zu den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, insbesondere die der Druckfassung vorausgehenden drei älteren Entstehungsstufen des Kapitels über die Regierungen, ebenso die Auswahl der aus Gründen der politischen Zensur ungedruckten Niederschriften der Briefe zu Beförderung der Humanität in Band 18. Als Suphan 1887 der Berufung an das Goethe-Archiv folgte, konnte er nur noch bei seinen häufigen Reisen nach Berlin den Herder-Nachlass einsehen. Redlich erhielt die Handschriften für die Bearbeitung der poetischen Werke nach Hamburg geschickt. Von den in Berlin wohnhaften Schulkollegen Suphans hat man aufgrund ihrer Bände nicht den Eindruck, dass sie sich selbst umfassende Kenntnisse des gesamten Nachlasses angeeignet hätten. Suphan als Hauptherausgeber behielt von Weimar aus die Fäden in der Hand, ordnete für alle Bände das handschriftliche Material, bestimmte Umfang und Anordnung und beriet seine Freunde, wie aus den Einleitungen hervorgeht, bis in Detailfragen der jeweiligen Textedition. Er war der einzige, der alle Teile des Berliner und Weimarer HerderNachlasses wirklich kannte und die in unterschiedlichen Konvoluten aufbewahrten, inhaltlich zusammengehörenden Stücke zusammenführen konnte.53 Seiner in allen Einleitungen und Schlussberichten dokumentierten ausgezeichneten Kenntnis der Entstehungsgeschichte und der Zusammengehörigkeit der Werke entsprach jedoch nicht die editionspraktische Ausführung, die vor allem viel mehr Platz und auch Paralleldrucke verschiedener Fassungen erfordert hätte; denn im Nacheinander der Texte sind die Änderungen und das Werdende weniger evident. „Ich habe in dieser Ausgabe gebessert, was sich sowohl in Behandlung der Materien als in der Schreibart bessern ließ, und wer Geduld hat zu vergleichen, wird auch aus diesen Aenderungen lernen“, schrieb Herder im Vorbericht zur 2. Ausgabe des 3. Teils der Briefe, das Studium der Theologie betreffend.54 Wenn man Suphans Einleitungen aufmerksam liest, findet man in fast jedem Band nicht nur Hinweise auf frühere und spätere Ausgestaltungen des jeweiligen Themas, sondern auch auf gleichzeitige Parallelwerke ganz anderen Inhalts (die aber für Herder keinen Gegensatz bildeten), die auf geheimnisvolle Weise alle miteinander vernetzt sind und ineinander übergehen: Das Gemeinsame ist ihre Genese, der einheitliche Ursprung aus dem anthropologisch-polyhistorischen Großprojekt der Rigaer Zeit „Geschichte der Wissenschaften“ bzw. „Geschichte des menschlichen Verstandes“, das die ____________ 53
54
Suphan kannte nicht die Herderiana in den Nachlässen Johann Georg Müllers und Johannes von Müllers in der Ministerialbibliothek Schaffhausen; daher waren ihm die ältesten Fassungen der Aeltesten Urkunde und der Ebräischen Poesie unbekannt. (Ich bereite eine historischkritische und kommentierte Edition dieser umfangreichen Texte vor.) SWS, Bd. 10, S. 274.
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Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts mit den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Vom Geist der Ebräischen Poesie wie die Briefe, das Studium der Theologie betreffend, die Briefe zu Beförderung der Humanität mit den Christlichen Schriften verbindet, um hier nur die umfangreichsten Werkkomplexe zu nennen. Wie hätte man dieses Ineinanderübergehen der Texte, das Simultanschaffen des Verfassers und das Recycling von Werkteilen aber darstellen können? Suphans minutiös-deskriptive Methode in seinen ausführlichen Schlussberichten, vor allem zu den soeben genannten Werken, könnte man heute vielleicht auf eine digitalisierte Edition anwenden – freilich ein sehr großer Aufwand für relativ wenige Interessenten. Wie viele Leser der Deutschen Rundschau mögen wohl im März 1909 Bernhard Suphans genetische Betrachtung Aus Herders Ideen-Werkstatt zur Kenntnis genommen haben? „Das erste Kapitel so instructiv und so eigenartig wie immer (noch nie konnte eine solche Tiefbohrung bei einem Geisteswerke solcher Größe bewirkt werden) ist vielleicht zu abgründlich-grundhaft“, schrieb Suphan bei Übersendung des Manuskripts an Julius Rodenberg nach Berlin; „aber Kapitel II./III. enthalten in der Hauptmasse, was der Gebildete sich gern, und zu innerem Wachsthum sich assimilieren wird.“55 War nicht selbst das eine Illusion? Der Herausgeber einer der vielen Monatsschriften des gebildeten nationalliberalen Bürgertums ließ das I. Kapitel „Vorstufen und Vorarbeiten“ weg, druckte aber II. „Allmähliches Heranwachsen: Entwürfe und Sammlungen“ und III. „Die Ausgestaltung. Abschließende Bemerkungen“ ohne diese Überschriften vollständig ab. Es war des Freundes Schwanengesang und – der vollständige Druck als Separatum – der Dank an seine Mitarbeiter an der Herder-Ausgabe.
____________ 55
GSA 81/X,6,7; Brief vom 15. Januar 1909.
Klaus Gerlach
Bernhard Seuffert und Wielands gesammelte Schriften Das Problem der Institutionalisierung von Editionen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen 1.
Seufferts Wieland-Ausgabe und die Deutsche Kommission
Der Antrag der philosophisch-historischen Klasse der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, eine historisch-kritische WielandAusgabe1 zu edieren, datiert vom 2. Juni 1904. Schon wenige Wochen später legte Erich Schmidt den von Bernhard Seuffert (1853–1938) erarbeiteten ersten Teil der Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe2 in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vor. Im 1909 erschienenen sechsten Teil der Prolegomena schreibt Seuffert, dass er bereits seit 30 Jahren Material zu einem Wieland-Projekt gesammelt habe. Die Vorbereitungen zu einer historisch-kritischen Wieland-Ausgabe reichen also bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, die Ausgabe ist bis heute nicht abgeschlossen, gleichwohl aber im Jahre 2003 abgebrochen. Die Herausgeber und Bearbeiter der erschienenen Bände stammen also aus dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem so genannten Dritten Reich, der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Die Gründung der Berliner Wieland-Ausgabe ist im Zusammenhang einer Reihe von Akademie-Projekten zu sehen, die die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch die neu eingerichtete Deutsche Kommission im Jahre 1904 auf den Weg brachte. Zu ihr gehörte z. B. die Sammlung Deutsche Texte des Mittelalters, die noch heute an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird. Die Deutsche Kommission betrachtete sich als Verwalterin des Erbes von Karl Lachmann, Jakob und ____________ 1
2
Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1909 ff. – Zu den wechselnden institutionellen Herausgebern, den erschienenen Bänden der drei Abteilungen und deren Bearbeiter vgl. Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Waltraud Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. München 1979, S. 585–588. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. In: Aus den Abhandlungen der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften. Teil I bis IX. Berlin 1909–1941. – Die Sitzung fand am 28. Juli 1904 statt.
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Klaus Gerlach
Wilhelm Grimm und Wilhelm Scherer, „denen Grundlegung, Festigung und erster Aufbau jener Wissenschaft gedankt wird, die in der Wiedergeburt des Vaterlandes geboren wurde und mit dem Jahrhundert der Neubegründung des Deutschen Reiches heranwuchs“.3 Die deutsche Sprachwissenschaft wird in dieser programmatischen Schrift der Deutschen Kommission zur Wissenschaft vom deutschen Leben erhoben, die die Lebensäußerungen des Volkes in Sprache, Literatur, Religion und Sitte zu erforschen und darzustellen habe. Nach unserem heutigen Verständnis begreift sich die Germanistik offenbar schon in ihren Anfängen als Kulturwissenschaft. Mit der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur als dem „würdigsten Gegenstand“, dem sich die Akademie widmen könne, verfolgte die Deutsche Kommission gleichermaßen ein innen- und ein außenpolitisches Ziel: Zum einen wollte Deutschland „gleich anderen europäischen Kulturvölkern“ seinen „nationalen Charakter [...] sichern“,4 der offensichtlich in Konkurrenz zu denjenigen anderer europäischer Nationen stand und etabliert werden sollte. Indem die kulturellen Leistungen der Deutschen durch große Editionen und Sammelwerke monumentalisiert wurden, hob man die Eigenständigkeit der deutschen Kultur hervor und grenzte sie von denen der Nachbarn ab. Zum anderen sollte mit diesen GroßProjekten das „innere Zusammenwachsen der vielartigen Volksanlagen“ gefördert werden; denn immerhin bestand das Kaiserreich aus mehr als zwei Dutzend Bundesstaaten, deren Bewohnern eine Identität gegeben werden sollte, die, wenn überhaupt möglich, nur die Sprache und ihre Werke stiften konnten. Die Berliner Akademie mit ihrer Deutschen Kommission stand im Dienst des preußischen Staates, den sie als „Vollbringer des deutschen Gedankens“ sah.5 So wie der preußische König laut Reichsverfassung von 1871 Kaiser des Deutschen Reiches war und es völkerrechtlich zu vertreten hatte, so fühlte sich die Berliner Akademie offenbar herausgehoben und dazu berufen, die Sprach- und Schriftkultur der Deutschen zu sammeln und zu edieren. Die Berliner Akademie unterstützte damit die preußischen Ansprüche auf eine führende politische und kulturelle Rolle innerhalb des Deutschen Kaiserreiches. Daraus, dass Konrad Burdach, ein Schüler Wilhelm Scherers, bei seiner Antrittsrede als Leiter der neugegründeten Forschungsstelle für deutsche Sprachwissenschaft im Jahre 1902 die in Zukunft zu erarbeitenden Editionen und Sammelwerke mit denen des griechisch-römischen Altertums, die die ersten Langzeitvorhaben ____________ 3
4 5
Antrag der philosophisch-historischen Klasse (als Manuskript gedruckt). Vorlage für die Gesamtsitzung am 2. Juni 1904, S. 1 (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Archiv, Signatur: PAW, 1812–1945, II–VIII). Antrag 1904 (Anm. 3), S. 1. Antrag 1904 (Anm. 3), S. 2.
Bernhard Seuffert
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der Preußischen Akademie überhaupt waren, in Parallele setzte,6 wird deutlich, in welcher Tradition und mit welchem Anspruch diese Vorhaben, also auch die Wieland-Ausgabe, antraten. Die historisch-kritische Wieland-Ausgabe fügte sich in dieses Konzept ein, weil in Christoph Martin Wieland „als Schmeidiger des gebildeten Ausdrucks in Vers und Prosa“ ein „Grundleger der gegenwärtigen Literatursprache“ gesehen wurde.7 Die künstlerische und geistige Entfaltung des aus Biberach stammenden, in Tübingen, Zürich, Erfurt und Weimar wirkenden Wieland konnte als exemplarisch für die Entwicklung der Geistes- und Sprachgeschichte Deutschlands gelten. Weil in der von Seuffert konzipierten Ausgabe die von Wieland unermüdlich vorgenommenen Umarbeitungen und Korrekturen als Verbesserungen von Stufe zu Stufe dem Leser quasi als eine Entwicklung der Sprache und des Geistes dargestellt wurden, erfüllte sie in hohem Maß die kulturpolitischen Ansprüche dieser Epoche des nationalen Aufbruchs.
2.
Scherer, Schmidt, Seuffert – Die empirisch-historische Schule
Die Wieland-Ausgabe wurde von Erich Schmidt, einem der wichtigsten Vertreter der positivistischen Germanistik, der seit 1895 Mitglied der Preußischen Akademie und seit 1909 Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität war, ins Leben gerufen. Schmidt, Schüler von Wilhelm Scherer, war seit 1875 Privatdozent an der Universität Würzburg, wo der gleichaltrige Seuffert – beide wurden 1853 geboren – zu dessen ersten Studenten und Doktoranden gehörte.8 Dieses Zusammentreffen sollte für Seuffert wegweisend werden; denn Schmidt brachte seinen Schüler nicht nur auf eine erfolgreiche wissenschaftliche Bahn, sondern lenkte ihn auch in Zukunft in den entscheidenden Momenten. Das Studienjahr 1875/76 verbrachte Seuffert in Straßburg, wo er u. a. bei Scherer, den er auch für sich zu gewinnen wusste, deutsche Philologie ____________ 6
7 8
Vgl. Konrad Burdach: Antrittsrede, 3. Juli 1902: „Was für das griechisch-römische Alterthum August Boeckh und seine Helfer geschaffen haben, seine Nachfolger immer freier, weiter und schöner ausbauen, das muss endlich einmal für die gesammte Entwickelung der deutschen Bildung nicht bloss theoretisch gefordert, sondern wirklich und nach zusammenhängendem Plan in Angriff genommen werden“ (Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1902, S. 794 f.). Antrag 1904 (Anm. 3), S. 6. Vgl. Erich Leitner: Die neue deutsche Philologie an der Universität Graz. Graz 1973. Das darin befindliche Kapitel über Bernhard Seuffert (S. 119–157) ist die bisher ausführlichste Darstellung seines Lebens. Alle biographischen Informationen, wenn nicht ausdrücklich anders nachgewiesen, entstammen diesem Beitrag. – Für Hinweise zum Seuffert-Nachlass in Graz und Biberach danke ich Erwin Streitfeld in Graz.
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hörte. Als Scherer dann an die Berliner Universität gerufen wurde, Schmidt im Februar 1877 dessen Stelle in Straßburg bekam, erhielt Seuffert, der inzwischen über Maler Müllers Faust promoviert und seine Habilitationsschrift Die Legende von der Pfalzgräfin Genovefa vorgelegt hatte, von der Universität Würzburg seine Zulassung als Privatdozent für deutsche Sprache und Literatur.9 Nachdem Schmidt 1880 an die Wiener Universität geholt worden war, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann Seuffert an eine österreichische Universität berufen werden würde, da Schmidt enge Beziehungen zu den österreichischen Regierungsstellen knüpfen konnte.10 Schmidt hatte zu seinem Duzfreund Seuffert ein ausgesprochen kollegiales Verhältnis. In den Briefen aus den 1880er Jahren ließ er ihn an seiner Arbeit über Lessing teilhaben. Von seiner großen Lessing-Reise, die er an einen Besuch bei Seuffert 1882 in Graz anschließt, berichtete er ihm detailliert über die an Lessings Wirkungsstätten gewonnenen An- und Einsichten.11 1886 erhielt Seuffert schließlich einen Ruf als außerordentlicher Professor von der Grazer Universität, an der er bis zu seinem Lebensende blieb. 1892 wurde er zum Ordinarius ernannt. Schmidt hat sich zwar auch noch später für Seuffert eingesetzt, so dass er sein Nachfolger auf der Direktorenstelle des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar im Jahre 1887 hätte werden können oder der Nachfolger für den 1906 verstorbenen Moritz Heyne in Göttingen,12 jedoch kam es nicht mehr zu einer Veränderung der äußeren Verhältnisse. Nichtsdestoweniger wusste Schmidt Seuffert an sich, d. h. an die SchererSchule, zu binden. Erich Schmidt war von 1885 bis 1887 Direktor des Goetheund Schiller-Archivs in Weimar, wo seit 1887 nach nur zweijähriger Vorbereitungszeit die Weimarer Ausgabe oder Sophien-Ausgabe von Goethes Werken erschien. Seuffert wurde früh als Mitarbeiter herangezogen und übernahm 1786 die Generalkorrektur. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Scherer und Erich Schmidt gibt Einblick in die Verhandlungen, Seuffert für diese wichtige, aber undankbare Aufgabe zu gewinnen, wie diese Korrespondenz überhaupt das Verhältnis zwischen Scherer, Schmidt und Seuffert, in dem die beiden Ersteren die Stärkeren und Einflussreicheren gewesen zu sein scheinen, be-
____________ 9 10 11
12
Leitner 1973 (Anm. 8), S. 121 f. Leitner 1973 (Anm. 8), S. 122. Vgl. Schmidt an Seuffert, Berlin 16. April 1882 (Wieland-Archiv Biberach, Seuffert-Nachlass). In den wenigen im Seuffert-Nachlass überlieferten Briefen von Schmidt finden sich auf die Wieland-Ausgabe keine Hinweise. Vgl. Schmidts Brief an Edward Schröder in Göttingen vom 5. Februar 1906 (BBAW Archiv, Splitternachlass Schröder).
Bernhard Seuffert
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leuchtet.13 Neben seiner Tätigkeit als Generalkorrektor hatte Seuffert bei dieser in der Editionsgeschichte höchst bedeutenden und folgenreichen Edition mehrere Bände eigenständig bearbeitet. Seuffert gehörte damit zu dem „junge[n] Volk“,14 das Scherer für dieses nationale Projekt gewinnen wollte, und denjenigen, die später zu dem erlesenen Kreis gehören sollten, dessen Mitglieder u. a. Lehrstühle in Graz, Prag, Wien, Berlin und Göttingen besetzten. Auf diese Weise gelang es Scherer und Schmidt, nicht nur die Sophien-Ausgabe auf eine breite Basis zu stellen, sondern sie – der Lehrer und der Meisterschüler – banden auch eine ganze Generation von Germanisten in ihre als Netzwerk konsequent geführte Schule ein. Seufferts Mitarbeit an der Weimarer Ausgabe wurde prägend für sein editorisches Selbstverständnis. Rückblickend betrachtete er diese wahrscheinlich allzu schnell edierte monumentale Ausgabe äußerst kritisch, viel kritischer als manche Editoren heutzutage, die diese Edition häufig als Gipfelleistung der Philologie des Kaiserreichs ansehen.15 In seiner Stellungnahme für eine zweite Auflage dieser Ausgabe schrieb er 1924, dass Erich Schmidt und er, die eng zusammengearbeitet hätten, über die Möglichkeit, einige Bände einzustampfen, nachgedacht hätten.16 Die Qualität der Bände habe vor allem darunter gelitten, dass zwar Kenner von Goethes Werken zur Mitarbeit eingeladen worden waren, dass diese Kenner aber nur ungenügende editorische Kenntnisse gehabt hätten. Möglicherweise waren fachliche Differenzen der Grund für Seufferts schnelles Ausscheiden aus seiner Funktion als Generalkorrektor, das er gegenüber Bernhard Suphan mit seinen Lehrverpflichtungen begründete.17 Seufferts Apparat zum fünfzehnten Band, der Die Leiden des jungen Werther enthält, war dagegen eine editorische Glanzleistung der damaligen Zeit, ein Meilenstein der Editionsphilologie, der heute noch Beachtung verdient. Er enthält die Lesarten von 17 varianten Handschriften ____________ 13
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Wilhelm Scherer. Erich Schmidt. Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt. Hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert. Berlin 1963, hier besonders die Nummern 259, 270, 300, 301 und 318. Scherer schreibt am 21. Mai 1885 an Schmidt: „Wir wollen, wenn sich unsere Projekte verwirklichen, alles junge Volk anstellen: Seuffert, Minor, Sauer, Waldberg, Weilen?, Burdach, Schröder etc. etc.“ (Scherer-Schmidt, Briefwechsel, Anm. 13, Nr. 259, S. 203). Vgl. Günter Arnold: Herder-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 163–178, hier S. 167. Leitner 1973 (Anm. 8), S. 137. Vgl. Seuffert an Bernhard Suphan, Graz, 29. August 1887: „Den Herren Leitern der Weimarischen Goetheausgabe beehre ich mich mitzutheilen, dass ich gezwungen bin, das Amt des Generalcorrectors der Ausgabe niederzulegen. Die bisherige Erfahrung lehrt mich, dass ich dasselbe in der Weise, wie ich seine Pflichten auffasse, nicht fortführen kann, ohne Schaden für meinen Lehrberuf zu fürchten, und jedenfalls nicht, ohne alle sonstige wissenschaftliche Thätigkeit, an die ich zum Theil durch ältere Contracte gebunden bin, einzustellen“ (Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, 150/A 473).
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und Drucken der beiden Fassungen des Briefromans. Seuffert dokumentierte im Apparat die Vielzahl von Einzeldrucken und Drucken in Werkausgaben (sowie deren Nachdrucke) und stellte, in dem er sie bewertete, eine Hierarchie her. Er machte somit deutlich, dass die Dokumentation der Abhängigkeit dieser Ausgaben voneinander die Voraussetzung ist, um Textkritik zu leisten. Außerdem veränderte er, wenn auch nur vorsichtig, die Blickrichtung vom Text der letzten Fassung auf den Prozess, der zu dieser Fassung führte. Damit war er wegweisend. Freilich führte auch bei Seuffert die Textkritik nicht zu einem authentischen Text, sondern zu einem idealen (Goethe-)Text, den es so nie gegeben hat. Die Weimarer Sophien-Ausgabe wählte die in Cottas Verlag erschienene „Ausgabe letzter Hand“ (und zwar die groß-8o Ausgabe, C) zur Textgrundlage, verbesserte diese jedoch, weil, so Seuffert, „nur so ein durchaus echter Text zu gewinnen war. Ganz ohne subjektives Urtheil ging es freilich an den Stellen nicht ab, wo gefragt werden mußte: wie hätte Goethe H gestaltet, wenn er E3 statt h3 vor sich gehabt hätte?“18 Diese Fragestellung erhellt, dass sich die neugermanistische Textkritik um 1900 immer noch an der der Altphilologie orientierte. Seufferts Lesarten waren mehr als 120 Seiten umfangreich und viel ausführlicher und akribischer als die seines Lehrers Erich Schmidt zum Faust in derselben Ausgabe. Angesichts des umfangreichen Apparates stellte dann Erich Schmidt dem Göttinger Philologen Edward Schröder, auch ein Schüler Scherers, der noch an die Berliner Universität kommen sollte, die abwertende Frage: „wer profitirt von dem Wertherknäuel?“19 Schmidt sah offenbar in der akribischen Dokumentation der Druckgeschichte und der Darstellung aller Varianten der relevanten Drucke bzw. Handschriften eine „Hyperphilologie“, die kaum einen Erkenntnisgewinn bringe. Im Gegenteil, für ihn war die Darstellung der verwickelten und nur schwer zu übersehenden Druckgeschichte, die die Werkgenese aber maßgeblich beeinflusste, ein erst zu entwirrendes Knäuel. Offensichtlich war dem Positivisten Schmidt Seuffert, der nur noch Material zu sammeln und anzuhäufen schien, zu positivistisch. Schon während Seufferts Studienzeit hatten Erich Schmid und Wilhelm Scherer sich despektierlich darüber geäußert, dass von ihm die ____________ 18 19
Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143 Bdn. Weimar 1887–1919, Abt. I, Bd. 19, S. 351. Erich Schmidt an Edward Schröder, Berlin 5. März 1906 (BBAW Archiv, Allg. Sammlung, Splitternachlass Schröder, Bl. 52). Dort heißt es: „Seuffert macht durch seine Hyperphilologie – wer profitirt von dem Wertherknäuel – in die Ferne hin einen viel schlimmerern Eindruck als im Hörsaal u. im Verkehr. Da erscheint er angeregt u. anregend. Es fehlt ihm gar nicht an Gedanken u. Problemen höherer Art. Der Mensch ist absolut zuverlässig, weiss sich überall Respect zu verschaffen. Ob er als 52er oder 53er Graz verlassen würde, ist mir zweifelhaft. Ich meine: Sie sollen es versuchen. Bei Wieland hat er einen gewissen Eigensinn anfangs gezeigt, sich aber unserem Widerspruch sofort gefügt. In den Prolegg. steckt eine ungeheure sichere Arbeit“.
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Materialien mit erstaunlichem Fleiß gesammelt und die Quellenuntersuchungen sehr eingehend betrieben würden, „aber keine Gestaltung, kein Bild, keine wirkliche Durchdringung“ zu erwarten sei.20 Ebenso wie durch seine Qualifizierung als Editionsphilologe zeichnete sich Seuffert durch seine Kenntnisse des Wieland’schen Werkes aus. Ursprünglich beabsichtigte Seuffert eine Wieland-Biographie zu schreiben, gab diesen Plan aber vorläufig auf, weil er während der Materialsammlung große Lücken bei den Lebenszeugnissen bemerkt hatte. So gelangte er zu der Ansicht, dass vor Verfertigung einer Monographie eine wissenschaftliche Ausgabe der Werke und Briefe Wielands erarbeitet werden müsse.21 Seine erste Publikation über Wieland, Wielands Abderiten,22 erschien, kurz nachdem er 1878 Privatdozent an der Würzburger Universität geworden war. Diese kleine Schrift ist ein beredtes Zeugnis für Seufferts Verständnis seiner philologischen Arbeit, und sie bestätigt im Grunde genommen Scherers und Schmidts Urteil über ihn. Er trug darin alle Quellen zusammen, von denen er meinte, sie stünden im Zusammenhang mit diesem Werk Wielands, und scheute auch nicht davor zurück, seitenlang Briefe zu zitieren. Den Vorwurf, dass diese Quellenstudie das Werk nur zergliedere und nicht zu seinem Verständnis beitrage, ahnte Seuffert, glaubte ihm aber damit begegnen zu können, dass er einen Hauptkritiker der Zerlegerei, nämlich Ludwig Tieck, am Schluss seiner Arbeit selbst zitierte und ihm lapidar widersprach.23 Seuffert, das macht diese erste Schrift über Wieland deutlich, war kein Hermeneutiker, sondern in erster Linie ein Sammler und Textkritiker. Auch die seit 1881 von ihm – natürlich unter der Obhut von Wilhelm Scherer – begründete, äußerst erfolgreiche Reihe Deutsche Literaturdenkmale des 18. Jahrhunderts in Neudrucken24 bestätigt die Einschätzung, dass er seine Aufgabe als Philologe vor allem in der Bereitstellung von Texten sah. Eine große Zahl dieser 38 Bände umfassenden Bibliothek wurde von ihm selbst textkritisch bearbeitet und herausgegeben. Gewöhnlich beschränkte er sich auf die textkritischen Bemerkungen, während er die literarhistorische Beurteilung anderen überließ, so wie in dem von ihm herausgegebenen Doppelband Frankfurter gelehrte Anzeigen (1882/83), zu dem Wilhelm Scherer ____________ 20 21 22 23
24
Schmidt an Scherer, Würzburg, 25. Juli 1875 (Scherer-Schmidt, Briefwechsel, Anm. 13, S. 75). Vgl. Josef Nadler: Bernhard Seuffert. In: Almanach der (kaiserlichen) Akademie der Wissenschaften (88). Wien 1939, S. 327, sowie Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. VIII, S. 3. Bernhard Seuffert: Wielands Abderiten. Berlin 1878. „Es giebt Leute, die gar nicht darauf kommen, irgend ein Kunstwerk zu geniessen; ihr Vergnügen besteht bloss darin, es zu zerlegen. Ich denke, gerade die genaue Durchforschung der Entstehung und des Gehalts von Wielands ‚Abderiten‘ kann wesentlich zur Erhöhung des Genusses [...] beitragen“ (Seuffert 1878, Anm. 22, S. 48). Deutsche Literaturdenkmale des 18. [ab Bd. 13:] und 19. Jahrhunderts in Neudrucken. Hrsg. von Bernhard Seuffert. Bd. 1–33 Heilbronn, Bd. 33–38 Stuttgart 1881–1925.
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eine umfangreiche Einleitung schrieb. Desgleichen war die seit 1888 von Seuffert herausgegebene Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte25 ein Periodikum, das sich die Erschließung von Lebenszeugnissen, unbekannten Texten und Briefen zum Anliegen gemacht hatte. Die Vierteljahresschrift wollte vor allem „nicht allzu umfangreiche Urkunden und Hilfsmittel der Litteraturforschung veröffentlichen und womöglich zugleich erläutern“.26 Aber gerade seine herausragende Kompetenz als Textkritiker prädestinierte Seuffert für seine Aufgabe, an der Preußischen Akademie eine historisch-kritische Wieland-Ausgabe zu leiten. So wurde von Erich Schmidt das Projekt einer historisch-kritischen Wielandausgabe, das noch von Wilhelm Scherer erdacht und „unter Mitwirkung von Prof. Bernhard Seuffert in Graz“ vorbereitet worden war, angekündigt.27 Da Seuffert noch kein Mitglied der Akademie war und vermutlich auch so schnell nicht werden konnte, wurde er Anfang des Jahres 1905 zum außerakademischen Mitglied der Deutschen Kommission gewählt.28 Damit war seine Zugehörigkeit zur akademischen, auch programmatisch wirkenden Elite besiegelt. Tatsächlich wirkte Seuffert an der Ausgabe von Wielands gesammelten Schriften nicht nur mit, sondern er trug die Hauptlast der Arbeit, die er minutiös vorbereitete. Mit der Erarbeitung der Prolegomena zu einer WielandAusgabe schuf er die Grundlage der Edition. Seine Prolegomena sind die bis dahin ausführlichsten Werkbeschreibungen eines deutschen Dichters der Neuzeit. Sie erschienen in insgesamt neun Teilen: I. Die Ausgaben letzter Hand (1904, 25 S.), II. Jugendschriften (1904, 51 S.), III. Übersetzungen (1905, 50 S.), IV. Gestaltung des Textes und Einrichtung des Apparates (1905, 10 S.), V. Die Werke von 1762–1812 (1909, 97 S.), VI. Die Werke von 1762–1812. 2. Hälfte (1909, 110 S.), VII. Ergänzungen zu II, V, VI (1921, 71 S.), VIII. Der Briefwechsel. 1. Hälfte 1750–1790 (1937, 167 S.), IX. Der Briefwechsel. 2. Hälfte 1791–1812 (1941, 215 S.). Bevor auch nur eine Zeile von einem Werk Wielands gedruckt wurde, erschien ein mehrere hundert Seiten umfassendes Sammelwerk, das das gesamte Œuvre von Wieland verzeichnete (Werke, Übersetzungen, Briefe). Die Publikation der Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe innerhalb der Abhandlungen der Königl. Preuß. Akademie der ____________ 25 26 27 28
Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte. Unter Mitwirkung von Erich Schmidt und Bernhard Suphan hrsg. von Bernhard Seuffert. Weimar 1888–1893. Bernhard Seuffert: Vorwort. In: Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte 1, 1888, S. [1]. Antrag 1904 (Anm. 3), S. 6, und Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. VIII, S. 4. Seuffert bedankt sich am 8. Februar 1905 für die Wahl. Vgl. BBAW Archiv. Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. PAW (1812–1945) II–VIII, 16, Bl. 111.
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Wissenschaften unterstrich von vornherein ihre wissenschaftliche Ambitioniertheit und ihre Offenheit gegenüber der Diskussion. Die Institution garantierte ihr ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ganz anders waren die drei Redaktoren der Weimarer Goethe-Ausgabe vorgegangen. Sie verschickten 1886, also ein Jahr vor Erscheinen des ersten Bandes, ihre Grundsätze für die Weimarische Ausgabe nur an die mehr als 60 Gelehrten, die sie zur Mitwirkung gewonnen hatten, publizierten sie jedoch nicht.29 Die Prolegomena V und VI, die die Werke und ihren Erstdruck dokumentieren, listen allein 1258 Nummern mit unzähligen Querverweisen und weiterführenden bio- und bibliographischen Angaben auf. Die Prolegomena der Briefe umfassen ohne Nachträge 5540 Nummern. Den Prolegomena der Briefe ist ein ausführlicher Bericht über die Geschichte von Wielands zerstreuten Briefschaften, den ersten von den Kindern Ludwig und Charlotte besorgten Ausgaben und Seufferts Sammeltätigkeit vorangestellt, die einen Einblick in die systematische Arbeitsweise Seufferts geben. Seuffert hatte ein unglaublich weitverzweigtes Netz zu Archiven und Privatpersonen geknüpft, von denen er nicht nur Hinweise auf Handschriften, sondern Hunderte von Brief-Abschriften erhielt, die er seinem Archiv, das sich heute im Wieland-Museum in Biberach befindet, einverleibte. Seuffert war sogar Erbe des Emminghaus-Nachlasses, der dann ins Goethe- und Schiller-Archiv ging.30 Neben dieser Materialanhäufung, die die Grundlage einer verlässlichen Ausgabe ist, legte Seuffert aber auch seine Prinzipien für die Anordnung der Werke sowie der Text- und Apparatgestaltung offen. In dem Prolegomenon IV finden wir sein editionsphilologisches Programm, das sich zwar an die Weimarer Goethe-Ausgabe anlehnt, indem es sich ihre Monumentalität zum Vorbild nimmt, aber in Vielem darüber hinausgeht. Die wohl wichtigste Abweichung Seufferts war, dass er Wielands Sämmtliche Werke nicht uneingeschränkt zum Maßstab aufstellte,31 wie das für die sich an Goethes „Ausgabe letzter Hand“ orientierende Weimarer Ausgabe der Fall gewesen war, obschon auch diese Sammlung Wielands ____________ 29
30 31
Vgl. Paul Raabe: Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr – Bilanz und Perspektiven. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio. 16), S. 3–19, hier S. 6. – Zu der von Gustav von Loeper, Wilhelm Scherer und Erich Schmidt erarbeiteten Broschüre vgl. auch: Zweiter Jahresbericht der Goethegesellschaft. In: Goethe-Jahrbuch 8, 1887, S. 3 f. Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. VIII, S. 4. – Maria Emminghaus war Urenkelin Wielands. In der „Vorbemerkung zur Gesamtausgabe“, die Seuffert dem 14. Band voranstellt, heißt es: „Gemäß den Grundsätzen der akademischen Ausgabe werden die Texte der Reifezeit nach Wielands Sammlung letzter Hand gedruckt“. Das heißt aber auch, die frühen Texte werden nach dem Erstdruck wiedergegeben. Nicht umsonst weist er im 14. Band darauf hin, weil in ihm Wielands Merkur-Aufsätze abgedruckt werden.
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eine „Ausgabe von der letzten Hand“ war.32 Damit definiert sich der Philologe Seuffert nicht mehr nur als Nachlassverwalter eines Dichters, der „selbst die Norm gegeben“ hat, wie es im Vorbericht der Weimarer Ausgabe heißt, sondern er stellt die Norm der von ihm zu verantwortenden Ausgabe selbst auf. Dreh- und Angelpunkt seines Konzepts sind die Dokumentation der Werk- und Druckgeschichte sowie der Lesarten und ihre Darstellung. Die Lesarten, so betont Seuffert, ziehen ihren Wert „aus ihrer Mitteilung selbst“,33 sie müssen auch ohne ständiges Vergleichen mit dem Text verständlich sein. Aus den Lesarten sei der höchste Gewinn der Edition zu schöpfen, der darin bestehe, „aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks zu entwickeln“.34 Die aus Goethes Aufsatz Literarischer Sansculottismus stammende Aufforderung, die auch von Erich Schmidt in seinem Vorbericht im ersten Band der Berliner Ausgabe von Wielands gesammelten Schriften aufgriffen wurde, scheint Seuffert zu seiner Methode geführt zu haben. Diese Emanzipation des Editionsphilologen von seinem Dichter ist bedeutsam, weil durch sie nicht mehr die letzte Fassung als der Gipfelpunkt des Dichters favorisiert, sondern der Prozess des Schreibens abgebildet wird, was dann von Friedrich Beißner, der bei der Ausgabe von Wielands gesammelten Schriften seine Karriere als Editionsphilologe begann – er hat Band 20, Wielands „Alterswerke“ enthaltend, herausgegeben –, vervollkommnet wurde. Das von Beißner in diesem Band angewandte Verfahren bei der Wiedergabe der verschiedenen Handschriften und Korrekturschichten entspricht ziemlich genau demjenigen seiner Hölderlinausgabe.35 Die Aufwertung der Lesarten gegenüber dem Text kommt auch darin zum Ausdruck, dass Seuffert von Anfang an plante, Text und Apparat in verschiedenen Bänden unterzubringen: „Es empfiehlt sich also, den Apparat d. h. die Entstehungsgeschichte, die Beschreibung der Texte, die Lesarten, die Erläuterungen und die Register, in eigenen Heften auszugeben, daß sie neben dem Text aufgeschlagen werden können“.36 Er unterstreicht damit seine Auffas____________ 32
33 34 35
36
Vgl. Klaus Gerlach: C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Die erste Ausgabe von der letzten Hand als Monument und Dokument sowie in ihrer Bedeutung für den Typ der historischkritischen Ausgabe. In: Autoren und Redaktoren als Editoren. Hrsg. von Jochen Golz und Manfred A. Koltes. Tübingen 2008 (Beihefte zu editio. 29), S. 180–188. Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. IV, S. 59. Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. IV, S. 59. Friedrich Beißner: Bericht des Herausgebers zu Wielands Werken, zwanzigster Band. Berlin 1940, S. A87. Dort erklärt Beißner seine „Lesarten“, in denen er verschiedene Fassungen unterbringt: „In den Lesarten bedeutet (1) (2) (3) erste, zweite, dritte Fassung u.s.w., wobei (1) durch (2) und (2) durch (3) aufgehoben wird; gabelt sich eine so bezeichnete Fassung abermals in mehrere Varianten, so sind die Zeichen (a) (b) (c) verwendet – auch hier macht (b) alles ungültig (in der Handschrift meistens gestrichen), was hinter dem Zeichen (a) steht.“ Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. IV, S. 61.
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sung, dass die Anforderungen an eine historisch-kritische Edition moderner Werke nicht nur in der Gewinnung des richtigen Textes, sondern eben auch in der Darstellung der Fort- und Umbildung des Textes bestehen, die auf diese Weise bequem nachvollzogen werden könne.
3.
Die Institutionalisierung von Seufferts Wieland-Ausgabe in den Zeitenwenden
Während die Weimarer Goethe-Ausgabe unter stabilen politischen und finanziellen Rahmenbedingungen nach der Reichsgründung mit einer atemberaubenden Schnelligkeit erarbeitet wurde,37 so dass die 143 Bände mit Ausnahme von Nachtrags- und Registerbänden vor dem Ersten Weltkrieg in den Bibliotheken standen, ist die Geschichte der Berliner Wieland-Ausgabe von politischen Umbrüchen, Unsicherheiten und finanziellen Schwierigkeiten gekennzeichnet. Mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften als Herausgeber war die Wieland-Ausgabe zwar institutionalisiert, sie hatte aber nur scheinbar stabile Rahmenbedingungen. Die Akademie war bei der Gründung der Ausgabe vor allem eine Gelehrtengesellschaft, die die Ausgabe zwar auf den Weg gebracht hatte, wohl auch finanzielle Mittel zur Verfügung stellte, den Bearbeitern der Bände aber sonst wenig Unterstützung zukommen lassen konnte. Die Berliner Akademie war der Herausgeber, der verantwortliche Leiter lebte und lehrte in Graz, wohin ihm jedes Manuskript geschickt wurde, das er dann redigierte und wieder zurücksandte.38 Die Bearbeiter, einschließlich Bernhard Seuffert, kamen so gut wie nie in Berlin zusammen, hatten dort keine Arbeitsräume und kein allen zugängliches Archiv, weshalb die Prolegomena ein so wichtiges und unersetzliches Arbeitsinstrument der Bandbearbeiter wurden. Die Mitarbeiter waren über Deutschland verstreut, einer der produktivsten und innovativsten, Wilhelm Kurrelmeyer, lebte gar in den Vereinigten Staaten, in Baltimore. Ob der expressionistische Lyriker Ernst Stadler, der in Straßburg mit einer Arbeit über Wielands Shakespeare-Übersetzungen habilitiert hatte, neben der Herausgabe eben dieser Übersetzungen Wielands39 sich ____________ 37 38
39
Raabe 2001 (Anm. 29), S. 13. Vgl. Wilhelm Kurrelmeyer an Friedrich Behrend, Baltimore, 12. Dezember 1932: „Soeben schicke ich die Korr. des Apparates zu Bd. 9 der Wieland-Ausgabe nach Graz zurück – sobald ich den Neudruck der Bogen bekomme, kann ich das Register zusammenstellen und den Band zum Abschluß bringen.“ Behrend war Assistent der Deutschen Kommission und koordinierte offenbar zwischen den Bearbeitern und Seuffert (BBAW Archiv, Nachlass Behrend, Briefe von Kurrelmeyer). Stadler hat die Bände 1–3 der Abteilung Übersetzung herausgegeben.
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noch weiter engagiert hätte, wird nicht geklärt werden können, da er kurz nach seiner Einberufung im Oktober 1914 in Belgien fiel. Auch Ludwig Pfannmüller, der Herausgeber von Band 10, wurde Opfer des Ersten Weltkrieges.40 Das Schicksal dieser Bearbeiter, die immerhin vier Bände herausgegeben haben, markiert die veränderten Bedingungen, die fortan die von Seuffert konzipierte Wieland-Ausgabe bestimmen werden. Noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Seuffert als der Spiritus rector der Ausgabe zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie gewählt worden.41 Seine Wahl war für die Ausgabe überlebenswichtig, weil Erich Schmidt, der sie an die Akademie gebracht hatte, 1913 unerwartet früh gestorben war. Damit war die Ausgabe aber nur scheinbar auf eine sichere Bahn gebracht, weil immer deutlicher wurde, dass ihre Organisationsform sich gegenüber den veränderten politischen Rahmenbedingungen als besonders anfällig erwies. In den Protokollen der Deutschen Kommission werden, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, immer häufiger Probleme mit der Ausgabe dokumentiert. Das größte Problem war offenbar die pünktliche Abgabe der Manuskripte, die sich in vielen Fällen verzögerte. Besonders verärgert war die Kommission über das Ausbleiben des von dem jungen Fritz Homeyer zu erarbeitenden Apparatbandes. Die ebenfalls von ihm herausgegebenen Text-Bände eins bis vier waren schon zwischen 1909 und 1916 erschienen. Als der Band 1926 noch immer nicht abgegeben worden war und die Kommission zu der Ansicht gelangt war, dass von „Dr. Homeyer in dieser Hinsicht wenig zu erwarten ist“, wurden andere Kandidaten vorgeschlagen. Fritz Homeyer, geb. 1880, war ein junger Germanist, der in Berlin bei Erich Schmidt promoviert hatte und, wie Burdach, Minor oder Seuffert zwanzig Jahre zuvor ihre Chance bei der Goethe-Ausgabe erhalten hatten, die seine bei der WielandAusgabe bekam. Aber er hatte nicht die Gelegenheit, sich zu profilieren, weil er von 1915 bis 1918 Kriegdienst leisten musste. Danach wurde er nicht mehr ____________ 40
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Brief an die Deutsche Kommission vom 18. Dezember 1935: „Da der Herausgeber von Band 10 im Kriege gefallen ist und ein eigener Bearbeiter für den Apparat noch gefunden werden muss, so ist die Vervollständigung noch nicht zu erwarten“ (BBAW Archiv, PAW II–VIII, Bl. 218). Im Protokoll, das über die Begründung von Seufferts Aufnahme als korrespondierendes Mitglied, Rechenschaft gibt, wird dessen editionsphilologische Kompetenz als maßstabsetzend gewürdigt: „Seuffert ist unter den deutschen Vertretern der neuen Literaturgeschichte derjenige, der durchweg am strengsten die philologische Methode verfochten und durchgesetzt hat. [...] Seuffert ist es in erster Linie gewesen, der als Mitarbeiter und Redactor der großen Weimarischen Goetheausgabe die Bedeutung der Nach- und Doppeldrucke, der Cartons, der Correctorentätigkeit in vollem Umfange erkannt und zu consequenter methodischer Verwertung gebracht hat. [...] Seuffert hat auch für unsere akademische Wielandausgabe durch seine gelehrten ‚Prolegomena‘ den sichern Grund gelegt“ (BBAW Archiv, PAW, 1812–1945, II–III, Bl. 135).
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als Assistent der Deutschen Kommission angestellt, stattdessen wurde er Leiter eines wissenschaftlichen Antiquariats und einer Buchhandlung. 1938 emigrierte er aus Deutschland, wie auch Hugo Bieber, der ebenfalls für die Ausgabe arbeitete. Wenn Homeyer die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, hat das weniger mit seinem Unvermögen zu tun als vielmehr mit den instabilen Verhältnissen und damit, dass Seuffert viel weniger Einfluss hatte als Scherer und Schmidt, seine Mitstreiter zu positionieren. Dass auf der anderen Seite Friedrich Beißner, der mit dem Naziregime keine Probleme hatte, Karriere machte, zeigt, dass Institutionalisierung Konformität fördert, wenn nicht gar fordert. Soweit ich sehe, befindet sich unter den Bearbeitern von Wielands gesammelten Schriften kein Schüler Seufferts aus Graz. Bezeichnend für das wissenschaftspolitische Umfeld der Wieland-Ausgabe ist, dass Wilhelm Kurrelmeyer als der älteste der Bandbearbeiter (geb. 1874) am produktivsten war. Er lebte in Baltimore und lehrte an der Johns-Hopkins-Universität, also fern von Europa, das gerade anfing, sich selbst zu zerstören. Das 1921 erschienene Prolegomenon VII beginnt Seuffert mit der Bemerkung: „Die Not der Kriegsjahre und noch mehr die Nöte der friedlosen Nachkriegszeit haben den Abschluß längst begonnener Sammlungen [...] verzögert.“42 Mit der Analyse dieser friedlosen Epoche entschuldigte sich Seuffert, der seinen eigenen Zeitplan nicht einhalten konnte. Er hatte sich die Herausgabe der Briefe vorbehalten, kam aber nie dazu, ja selbst den Abschluss der Prolegomena besorgte nach seinem Tod 1938 seine Schwiegertochter Margarethe Seuffert. Schon 1926 heißt es im Sitzungsbericht der Deutschen Kommission, dass die Hoffnung bestehe, „daß Herr Seuffert jetzt endlich mit der Ausgabe der Briefe“ beginne. Aus der gewählten Formulierung ist die Ungeduld der Kommissionsmitglieder auch gegenüber Seuffert herauszuhören. Mit den sich verändernden politischen Umständen änderte sich auch die finanzielle Grundlage, auf die die Ausgabe ursprünglich gestellt war. Die Weidmannsche Buchhandlung konnte unter den veränderten Bedingungen nicht mehr kostendeckend arbeiten. Der im Vertrag von 1909 avisierte Verkauf von mindestens 250 Exemplaren (bei einer Auflagenhöhe von 600 Exemplaren)43 konnte nicht realisiert werden, weswegen die Akademie 1926 die im____________ 42 43
Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. VII, S. 3. „Herr Petersen hat mit der Weidmannschen Buchhandlung über die Bedingungen verhandelt, die für die Fortsetzung der Wieland-Ausgabe jetzt aufgestellt werden müßten. Nach dem alten Vertrage ist die Akademie verpflichtet, außer dem Bogenzuschuß von 30.- M noch weitere 10.- M nachzuzahlen, wenn innerhalb vier Jahre vom Erscheinen eines Bandes aus nicht mindestens 250 Exemplare abgesetzt sind. Nun ist das bei allen bisher ausgegebenen Bänden nicht der Fall; sie haben nur etwa eine Auflage von 200 Exemplaren“ (Sitzungsprotokoll der Deutschen Kommission vom 15. Juli 1926; BBAW Archiv, PAW, 1812–1945, II–VIII).
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mense Summe von 3000 Mark Entschädigung an den Verlag zahlen musste. Des Weiteren wurde der Zuschuss der Akademie pro Druckbogen von ursprünglich 30 auf 50 Mark und außerdem der Verkaufspreis von 30 auf 90 Pfennig pro Bogen angehoben.44 Die niedrigen Verkaufszahlen sind aber nicht nur Ausdruck einer Finanzkrise, sondern sie spiegeln vor allem das veränderte Verhältnis der Gesellschaft zu Wielands Schaffen wider, dessen Popularität zusehends schwand und mit dem Wachsen der Weimarer Goethe-Ausgabe immer mehr erlosch. Selbst Erich Schmidt, der die Seuffert-Ausgabe 1904 zum Vorhaben der Berliner Akademie lanciert hatte, konstatierte in seinem Hauptwerk, der vor 1900 erschienenen monumentalen Lessing-Monographie, auf der ersten Seite lakonisch, die Fülle von Wielands Schöpfungen schrumpfe „im Gedächtnis weiterer Kreise mehr und mehr zusammen“.45 Auch die Einschätzung der Deutschen Kommission aus dem Jahre 1926, die Briefe seien der „wichtigste Teil der ganzen WielandAusgabe“,46 lässt erkennen, wie gering die allgemeine Wertschätzung geworden war, die man dem Werk Wielands mittlerweile entgegenbrachte. Tatsächlich zeichnete sich die Verschiebung des Interesses von Wielands Werk, dem selbst Seuffert von Anfang an mit erstaunlicher Distanz gegenüberstand, zu seinen Briefen früh ab. Im Prolegomenon VIII von 1921 zitiert Seuffert Gleims Brief an Wieland vom 29. März 1796, in dem der Halberstädter schrieb: „Heute las ich Ihre Briefe (in der angelegten Sammlung der empfangenen); keines dachte ich, seiner Werke wiegt sie auf! Jeder malt dir seinen Geist und sein dem Geiste nicht nachstehendes Herz, jeder ist sein Ausdruck.“47 In diesem Brief, der für Seuffert ein wichtiges Zeugnis für seine Beurteilung des Wieland’schen Schaffens lieferte, geht Gleim sogar noch weiter, wenn er fortfährt: „Ihre Werke, Wieland! fünfzehn Bände, liegend neben meinem Bette, wiegen alle zusammen den einen schönen Band von Briefen nicht auf!“48 Das Gleim’sche Urteil ist eigentlich ein Todesurteil für Wielands Werk, denn die ersten 15 Bände von Wielands Sämmtlichen Werken enthalten Werke wie Die Geschichte des Agathon, Der goldne Spiegel, Der neue Amadis. Mit seinem Hinweis auf Gleim unterstrich Seuffert, dass er Wielands Bedeutung weniger in seinen Werken als in seiner Individualität sah, die sich in seinen Briefen am klarsten ausspricht. Allerdings begriff er Wielands Werke und Briefe als etwas miteinander organisch Verbundenes. Er rückt Wielands ____________ 44 45 46 47 48
Sitzungsprotokoll 1926 (Anm. 43). Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Berlin 1899, S. 1. Sitzungsprotokoll 1926 (Anm. 43). Zitiert nach Seuffert, Prolegomena (Anm. 2), T. VIII, S. 10. Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 13.1. Bearb. von Klaus Gerlach. Berlin 1999, Nr. 255, S. 258.
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Briefe noch in die Nähe zu seinen literarischen Briefen, den Moralischen Briefen und dem großen Brief-Roman Aristipp. Unter Hans Werner Seiffert, seinem Nachfolger, wurden die Briefe ganz vom Werk abgetrennt. Die Abteilungen Werke und Übersetzungen wurden nach dem zweiten Weltkrieg weitergeführt, wenn die Bände bereits angefangen waren, aber sie wurden nicht abgeschlossen. Seufferts Konzeption der dritten Abteilung, die die Briefe enthalten sollte, wurde stark verändert. Ab 1963 erschien Wielands Briefwechsel.49 Seuffert wollte in der dritten Abteilung von Wielands gesammelten Schriften allein Wielands Briefe bringen und nur im Kommentar die Gegenbriefe auszugsweise abdrucken. Er beabsichtigte, die Briefe nicht einmal zu nummerieren, so dass eine Art Brief-Autobiographie entstanden wäre. Sie hätte die Geschichte der Entwicklung und Fortschritte von Wielands Geist erzählt.50 In Wielands Briefwechsel wurden dagegen alle Gegenbriefe vollständig und sogar die Beilagen abgedruckt. Damit wurde endgültig der Schwerpunkt von Wielands Werk auf sein Wirken verlagert. Wielands Briefe gelten damit auch nicht mehr als literarische Briefe, die, wie etwa die Briefe der Madame de Sévigné, wegen ihrer stilistischen Musterhaftigkeit von Generation zu Generation für den Bildungsbeflissenen neu aufgelegt werden, sondern sie sind, im Wechselspiel mit den Gegenbriefen, nur noch Zeitdokumente für den Literarhistoriker. Nach dem Abschluss der Edition des Briefwechsels fasste die Akademie den Entschluss, die Edition der Werke nicht fortzuführen. Seufferts Wieland-Ausgabe macht deutlich, dass Institutionalisierung, auch die von Editionen, keine Absicherung darstellt, vielmehr ein folgenreicher Prozess ist, der nicht von einem einzelnen Gelehrten, der eine Ausgabe auf den Weg bringt, sondern von der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen bestimmt wird, die einen Autor aus dem Zentrum der Kulturpolitik an die Peripherie rücken lassen kann.
____________ 49
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Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur durch Hans Werner Seiffert, Bd. 1, 1963; ab Bd. 3, 1975: Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte durch Hans Werner Seiffert; ab Bd. 7, 1992: Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften, Berlin; ab 1993 bis 2007 von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Wieland plante eine Autobiographie mit dem Arbeitstitel „Geschichte der Entwicklung und Fortschritte meines Geistes“. – Vgl. dazu Gerlach 2008 (Anm. 32).
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Albert Leitzmann der Editor
1. Wenigen Gelehrten in der Geschichte unseres Fachs kann man mit größerer Berechtigung den Ehrentitel ‚Editor‘ zuerkennen als dem Jenaer Professor Albert Leitzmann, so sehr ist sein wissenschaftliches Werk bestimmt durch die Arbeit an Textausgaben. Indessen sollten sich aus dem Rahmen unserer Überlegungen: ‚Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext‘ ein paar darüber hinausführende Fragen ergeben, die über den allzu engen Horizont von Leitzmanns individueller Existenz und seiner persönlichen Leistungen hinauszuschauen ermöglichen. Ich werde mich also nicht auf eine nur editionsgeschichtliche Einordnung beschränken, die sich in wenigen Absätzen erschöpfend darstellen ließe – aus Gründen freilich, von denen dafür ausführlicher die Rede sein muss. Wenn wir von der Grundüberlegung ausgehen, in welchen methodischen Kontext, in welche wissenschaftsgeschichtliche Tradition sich der jeweilige Gelehrte einfügt, eröffnen sich nämlich gleich einige weiterführende Fragen: Welches sind seine Verbündeten in der Durchsetzung der Ziele (wie ist er ‚vernetzt‘, würde man heute wohl etwas modisch dazu sagen)? Oder begründet er gar, mehr oder minder voraussetzungslos, neue Methoden? Welchen historischen, ökonomischen, politischen Einflüssen ist er unterworfen? Wie verhalten sich, mit Pierre Bourdieu zu sprechen, die verschiedenen Kapital-Typen zueinander, wie werden sie eingesetzt? Zur Annäherung an diese Fragen müssen wir tiefer in Bildungsgang und Lebenslauf Carl Theodor Albert Leitzmanns1 (1867–1950) hineinleuchten, als ____________ 1
Meine folgenden Ausführungen stützen sich vorrangig auf die editorischen Berichte und Vorreden Leitzmanns zu seinen Untersuchungen und Textausgaben, daneben wesentlich auf Memoiren und vor allem Briefwechsel. Da ist zunächst der zwischen Schröder und seinem Schwager Roethe, publiziert leider nur als: Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. Bearb. von Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann. 2 Bde. Göttingen 2000. Noch ganz ungedruckt ist Leitzmanns Korrespondenz mit dem Berliner Akademiker Konrad Burdach (der eine Teil im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, der andere in Leitzmanns Nachlass in der UB Jena); eine Reihe von Exzerpten und Kopien daraus stellte mir freundlicherweise Berthold Friemel zur Verfügung,
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es das Thema zunächst vorzugeben scheint. Nach dem, was wir bislang über ihn wissen, ist es völlig unstrittig, dass er bezogen auf sein Zeitalter und insbesondere seine Generation, politisch und ideologiegeschichtlich ebenso sehr wie wissenschaftsgeschichtlich ein Musterbeispiel ist für einen Literaturwissenschaftler des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er stand einerseits ganz und gar im Zeichen der Entwicklung der Germanistik während des Zweiten Kaiserreichs. Er folgte andererseits den Idealen des bürgerlichen und nationalen Liberalismus, die freilich diese Reichsgründung ideologisch gefördert hatten, verkörpert durch die Grimms, Wilhelm von Humboldt, Gervinus und Dahlmann, ja sogar Uhland; mit einem Wort: nachromantisch in Wissenschaft und Politik. Die Niederlage des Ersten Weltkriegs und die daraus __________ mit dem zusammen ich zu einem späteren Zeitpunkt eine Auswertung dieser Korrespondenz plane, einige Stücke hat jetzt Jens Haustein ausgehoben (s. u. Haustein 2010). Für das Zeitgeschichtliche und das Neugermanistische war mir der Briefwechsel Leitzmanns mit Otto Deneke in Göttingen nützlich, zumeist über Georg Christoph Lichtenberg – durch Leitzmanns Arbeiten zu diesem bin ich schon als Student auf den großen Vorgänger aufmerksam geworden (von mir publiziert als: Aus der Frühzeit der Lichtenberg-Forschung. I. Albert Leitzmanns Lichtenberg-Korrespondenz mit Otto Deneke. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1999, 2000, S. 192– 227; drei Nachzügler folgen im Lichtenberg-Jahrbuch 2010). Einige Ergebnisse meiner ersten Beobachtungen habe ich in einem Vortrag vor dem Herausgeber-Kollegium der Grimm-Briefausgabe mitgeteilt, publiziert als: „Rastlos nach ungedruckten Quellen der deutschen Geistesgeschichte spürend“ – Albert Leitzmann, Philologe und Literaturhistoriker. In: Brüder GrimmGedenken. Bd. 14. Hrsg. von Berthold Friemel. Stuttgart 2001, S. 46–79; im Anhang sind weitere Hinweise auf Quellen und Forschungen und deren Kritik. Wichtige Ergänzungen und Korrekturen erfuhren meine früheren Studien unlängst durch zwei Abhandlungen von Jens Haustein, die dieser mir bereits dankenswerterweise vor ihrer Publikation zugänglich machte: Unmittelbarkeit versus Historizität. Zur Edition des Briefwechsels der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. In: vorschen, denken, wizzen. Vom Wert des Genauen in den ‚ungenauen Wissenschaften‘. Festschrift für Uwe Meves zum 14. Juni 2009. Stuttgart 2009, S. 247–257, und desselben aus einer Jenaer Ringvorlesung hervorgegangene Abhandlung: Albert Leitzmann und Jena. In: „... und was hat es für Kämpfe gegeben.“ Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena. Hrsg. von Reinhard Hahn und Angelika Pöthe. Heidelberg 2010, S. 145–177. Haustein hat in seiner zweiten Untersuchung vor allem aufgrund der Jenaer Fakultätsakten und der Korrespondenz Leitzmanns (aber auch anderer Quellen) dessen Laufbahn genauer analysiert, als ich das zuvor tun konnte, in der ersten wichtige Erkenntnisse über seine materielle Situation und über seine vor allem mediävistische wissenschaftsgeschichtliche Stellung beigebracht, die auch uns hier sehr nützlich sind. – Ich würde aber (bei vollem Bewusstsein der grundsätzlichen Richtigkeit von Hausteins Bemerkungen über die Inhalte der gelehrten Briefwechsel, über die er in der ersten Abhandlung S. 257 handelt) den Wert jener Korrespondenzen viel höher einschätzen, als es sich mir bei ihm anzudeuten scheint. Er stellt denn auch durch die Ergebnisse seiner beiden Untersuchungen völlig klar: Gewiss lernen wir nicht mehr sehr viel (manchmal gar nichts) Fachliches aus derlei Epistolarien. Sie sind indessen für das künftige Verständnis unserer Disziplin in ihrer Epoche, ja für jede Art historischer Forschung schier unerschöpfliche Quellen sozial-, kultur- und institutionengeschichtlicher Zusammenhänge – und sie werden das noch sein, wenn unser Interesse etwa an Lachmanns hämorrhoidalischen Problemen längst und endgültig erlahmt sein sollte. Sie bewahren eben die subjektiv wahrgenommene, die lebensweltliche Realität wesentlich anschaulicher, als es derselbe Sachverhalt in einem amtlichen Aktenstück, welches uns selbstredend die Daten und Fakten viel exakter vermittelt, je vermöchte. – Heinrich Tuitje danke ich herzlich für seine wie gewohnt gründliche Durchsicht meines Manuskripts.
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resultierende Verarmung der bürgerlichen Mittelschicht und die materielle Verschlechterung auch in den philologischen Wissenschaften in Deutschland haben eben gerade nicht zur politischen Einsicht beigetragen, es ganz im Gegenteil befördert, dass er mit geradezu nostalgischer Sehnsucht sich an eine strikt national ausgerichtete Wissenschaft klammerte, deren vornehmster Zweck die „deutsche Erhebung und Erneuerung“ gewesen ist – ganz wie es ausgerechnet sein größter persönlicher Gegner, Gustav Roethe, in dessen zu zweifelhaftem Ruhm gelangter Berliner Rektoratsrede formuliert hat.2 Und nicht bloß durch seine intensive editorische Beschäftigung war Leitzmann völlig auf die bildungspolitischen und ästhetischen Ideale eines Wilhelm von Humboldt ausgerichtet. Wissenschaftsmethodisch ist zudem – ein bisschen erschreckend – zu beobachten, dass er bei aller Universalität ganz im Banne des von ihm unendlich verehrten Jakob Grimm stand und infolgedessen oder aus natürlicher Anlage eine (mit dem bitteren Wort Karl Müllenhoffs über Jakob Grimm:) „wilden“ (nämlich bloß sammelnden) Wissenschaft das Wort redete.3 Leitzmanns Publikationstätigkeit ist beeindruckend. In sechs Jahrzehnten hat er neben seiner akademischen Lehrtätigkeit die Zeit gefunden, 778 Schriften herauszubringen.4 Das sind keineswegs nur kleine Miszellen und winzige Aufsätze, vielmehr umfasst die von ihm selbst geführte Liste auch eine beachtliche Zahl von Büchern – aber eben doch fast ausschließlich Editionen. „Rastlos auf den Spuren des Geistes“, wie ein Rezensent in seiner Frühzeit halb kritisch, halb lobend über ihn bemerkte, hat er bis ins Jahr vor seinem Tod aus dem Gesamtgebiet der deutschen Philologie Texte ans Tageslicht gefördert, sie sprachlich und sachlich kommentiert, mit unbändigem Fleiß, Gedächtnis und Zettelkasten Parallelstellen und Similien zusammengetragen – hat aber nie interpretiert oder auch nur ästhetisch gewürdigt. Seine Arbeit erschöpft sich, wie seine Gegner immer wieder betonen, in „Notizengelehrsamkeit“5 oder (positiv ausgedrückt) in der klugen Bereitstellung von dem Verständnis wichtigen Materialien. Es lässt hingegen jede Kühnheit zur Synthese, ja auch nur die ____________ 2
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Gustav Roethe: Wege der deutschen Philologie. Rektoratsrede am 15. 10. 1923 an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Berlin 1923. Auch in: Ders.: Deutsche Reden. Leipzig o. J. [1927], S. 439–456. Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Albert Leitzmann. Mit einer Einführung von Edward Schröder. Berlin, Leipzig 1937, S. 100. – Zur Sache vgl. Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979. In seinem Nachlass (UB Jena, vgl. Anhang) findet sich unter IV, 1a–b seine eigenhändige Liste und eine masch. Ausarbeitung von Dietrich Germann aus dem Jahr 1955. Roethe an Schröder, 30. 1. 1901: „Nein, ist dieser L. ein öder Gesell! mit seiner Notizengelehrsamkeit.“ SUB Göttingen, Nachlass Schröder 871; als Nr. 2774 in der Regestausgabe 2000 (Anm. 1) erwähnt; diese Stelle aber dort nicht gedruckt, sondern erst bei Joost 2001 (Anm. 1), S. 50.
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Bereitschaft zu ihr vermissen: Kaum literaturgeschichtliche Einordnung leistet er, überhaupt keine rezeptions- oder sozialgeschichtliche Bezugnahme, keinerlei Hermeneutik. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Höfische Blütezeit des Mittelalters, darin vor allem die großen Editionen von Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide, in der Renaissance Luther (er war an der Clemen’schen Luther-Ausgabe6 als Philologe beteiligt), dann im 18. Jahrhundert die Spätaufklärung mit Wilhelm Heinse, Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster, in der Klassik Schiller (u. a. in Bellermanns Edition für das Bibliographische Institut Band 8 und 9, 1919) und Goethe sowie deren beider Umfeld, hier vor allem Briefwechsel und Quellen. Ferner ist da Wilhelm von Humboldt als eines der wichtigsten seiner Arbeitsfelder: zunächst in kleineren Briefcorpora als Vorarbeiten, dann mit der großen Berliner Akademie-Ausgabe der Werke, bei der er die meisten Bände verantwortet, und, nachdem die Briefabteilung dieser Edition in den zwanziger Jahren aus Finanznöten sistiert wurde, mehrere einzelne Briefwechsel Humboldts. Schließlich einige Autoren des 19. Jahrhunderts: u. a. Gottfried Keller, Heinrich Heine (Beteiligung an Walzels Insel-Ausgabe) sowie zahlreiche kleinere Quellenpublikationen. Außerdem las er regelmäßig über Wissenschaftsgeschichte und publizierte aus diesem Interesse heraus mehrere Briefwechsel der Brüder Grimm und ihrer Zeitgenossen. Ein zwar nüchterner, aber doch nie Schneisen schlagender Denker ist er dabei geblieben, ein sauberer und schnörkelloser Stilist von attischer Klarheit, jedoch nie ein wirklich hinreißender Rhetor oder gar spannender Schriftsteller. Monographische Darstellungen in Buchform, umfangreiche Biographien, Literaturgeschichten, überhaupt dickleibige selbstgeschriebene Bücher, wie man sie sonst von Professoren kennt, gibt es von ihm folgerichtig nur ganz wenige. Wenn überhaupt darstellende Monographien, dann sind sie eher schmal ausgefallen: Die Antrittsvorlesung über Forster 1892 als Broschüre, eine Gesamtdarstellung und Würdigung Humboldts 1919 im Taschenformat, ein nur wenig dickeres Buch über dessen Sonette 1912. Vor allem aber: Während seine quellenkritischen und chronologischen Untersuchungen und Kombinationen doch vorzüglich und handwerklich sauber sind, ebenso zuverlässig wie der größte Teil seiner sprachgeschichtlichen Erwägungen, halten seine methodischen Begründungen eher mittleres Niveau, was seine Abstraktionsfähigkeit wie seine Folgerichtigkeit betrifft. Verräterisch ist hier schon, wie er im Fall der Wolfram-Edition in der Altdeutschen Textbibliothek zwar die dort nicht im Einzelnen dargelegten Grundlegungen seiner ____________ 6
Die ersten vier Bände dieser Ausgabe erschienen zuerst Bonn 1912.
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textkritischen Erwägungen als gesonderte Abhandlung ankündigt, sie jedoch nie publiziert hat. Auf diese Weise hat er zwar mit den Variantenapparaten auf der Basis von Lachmanns großer Edition das Material bereitgestellt, es indessen überhaupt nicht weiter zusammenfassend begründet noch aufbereitet.7 Ähnlich verhält es sich bei Lichtenberg, bei dem er zwar Datierungsvorschläge für Aphorismen aus den handschriftlich verlorenen Sudelbüchern gibt, jedoch nicht ein einziges Wort darüber verliert, auf welcher methodischen Grundlage diese Erwägungen gewonnen sind.8 In seiner Frühzeit hatte er eine gründliche Neubearbeitung der in der Tat überaus komplizierten Edition von Lichtenbergs Fragmenten angekündigt, die dann nicht mehr verwirklicht wurde – kapitulierte er vor den Schwierigkeiten oder sah er deren Sinn in Ermangelung ihres ästhetischen oder historischen Werts nicht mehr ein? Was er aber herausbrachte, ist insgesamt sehr skrupulös erarbeitet: So teilt er grundsätzlich lieber zwei parallele Fassungen mit,9 als eine von beiden zu übergehen, die beiden kompliziert zu kontaminieren oder ihre Varianten in den Apparat zu verbannen – bei Lichtenbergs Abhandlung Wider Physiognostik war er dann (im selben Band) nicht mehr ganz so kleinlich: An welcher Stelle die beiden „kaum von einander abweichenden Fassungen“ des ohnehin fragmentarischen Textes überlappen, wird nur in den Anmerkungen erwähnt, die Abweichungen weder mitgeteilt noch eingehender charakterisiert.10 Mit dem einstigen Lehrer, späteren Kollegen, Förderer und Freund Konrad Burdach, dem er die Mitgliedschaft in der Berliner Akademie und wahrscheinlich die meisten von deren späteren Publikationsaufträgen zu verdanken hat, sollte es noch zum dann mühsam beigelegten Streit über Leitzmanns Verfahren kommen, im Briefwechsel zwischen Grimm und Lachmann neben den Munda auch noch die nur geringfügig abweichenden Konzepte mitzuteilen.11 Wie er auch sonst geradezu vernarrt war in kompletten Abdruck, anstatt die wenigen Lesarten in Variantenapparaten zu transportieren: Bei Wolfram wendet er sich sogar dezidiert gegen Lachmann, der einen offenbaren Scherz über die zerrissene Kleidung, die Jeschute ____________ 7 8
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Vgl. Haustein 2010 (Anm. 1), S. 163–166, bes. S. 165. Vgl. Ulrich Joost: Zur Rekonstruktion der verlorenen Sudelbücher G, H und K. Dabei ein paar übersehene Aphorismen Lichtenbergs. Harald Fricke zum 28. März 2009. In: LichtenbergJahrbuch 2009, S. 141–184; hier vor allem S. 141 und 145. Andere editorische Schwierigkeiten, die sich aus Anordnung und Zählung der Sudelbücher ergaben, und die Missgriffe Leitzmanns bei ihrer Überwindung habe ich dort S. 143 dargelegt und kann sie daher hier übergehen. Zum Beispiel Georg Christoph Lichtenberg: „Zwo Schrifften die Beurtheilung betreffend, welche die theologische Facultät zu Göttingen über eine Schrifft des HE Senior Götze gefällt, und dem Druck übergeben hat“. In: Aus Lichtenbergs Nachlaß. Weimar 1899, S. 19–51; Anm. S. 194–207. Aus Lichtenbergs Nachlaß 1899 (Anm. 9), S. 84–98; Anm. S. 217 ff. Sehr eingehend dazu Haustein 2009 (Anm. 1), S. 252 f.
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nach deren Verstoßung halbentblößt sein ließ, „albern“ fand12 und daher die betreffenden Verse (Parzival 257, 23 f. seiner Zählung) durch eckige Klammern als Alternativvariante zu den beiden vorangehenden und als eventuell auszuschließen markierte: Hier entfernt Leitzmann die Klammern und lässt das möglicherweise durch eine frühe Kontamination eines der Traditoren überlieferte Verspaar als gleichwertigen Text in der Hauptfassung stehen.13 Mit einer solchen als Bedürfnis nach Vollständigkeit bemäntelten Entscheidungsscheu steht Leitzmann durchaus heutigen Herausgebern nahe, die am liebsten das Amt des Editors an die Leser delegieren möchten – soll er doch selber die Varianten finden – und kaum abweichende Texte als eigene Versionen nebeneinanderstellen, auch wenn sich dadurch manchmal Texte ohne wirklichen Wertzuwachs bloß quantitativ verdoppeln.14
2. Die moderne Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren auf die Erkenntnisse der Generationengeschichte zurückbesonnen, und hier können wir bei Leitzmann allerdings sehr nützliche Beobachtungen machen. Seit nämlich Karl Mannheim 192815 erstmals auf diese gesellschaftswissenschaftliche Möglichkeit hingewiesen hat, historische Zusammenhänge und Prozesse verstehbar zu machen, hat man besonders zur Erforschung von Drittem Reich16 und Nachkriegszeit17 beachtliche und unwiderlegliche Folgerungen ziehen können. So hat man den Konservativismus der Machteliten in der Weimarer Republik mit ihrer obstinaten Ablehnung der Demokratie überzeugend erklärt: Er beruht auf der Puttkamer’schen sogenannten ‚Bürokratiereform‘ gegen Ende von Bismarcks Kanzlerschaft seit 1878. In dieser Reform war eine nach Alter und sozialer Herkunft homogene, nationalkonservative Verwaltungsspitze und Richterschaft etabliert worden, die nach der Weltkriegsniederlage das ____________ 12 13 14 15
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In der Vorrede seiner Ausgabe des Wolfram Berlin 1833, S. IX. Der Scherz beruht auf der Homophonie von vilân – vil an: ‚bäurisch roh‘ (sein) – ‚viel an sich (am Leibe haben)‘. Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Albert Leitzmann. 1. H. Parzival buch I bis VI. Halle 1902. So noch in der 5. Aufl. 1948, hier S. XIX bzw. S. 201. Vgl. Ulrich Joost in: editio 13 (1999), S. 247–252. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. – Leicht erreichbar in: Jugend in der modernen Gesellschaft. Hrsg. von L. v. Friedeburg. Köln 1965, S. 23–48 (zuerst 1928/29). – Weitere Literatur bei Hans-Ulrich Wehler: Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte. München 1993, S. 153–160. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: 1914–1949. München 2003, S. 235 f. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: 1949–1990. München 2008, S. 185–191.
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Heft noch immer fest in der Hand hielt.18 Für die uns hier interessierende Hochschulgermanistik gilt das mutatis mutandis auch, insofern nämlich der allgemeine Geist der Universität ebenfalls strikt konservativ geprägt war und der große Generationenwechsel, der im Jahre 1925 durch die Wiederbesetzung fast aller wichtigen Lehrstühle erfolgte, nur allzu deutlich zeigt, dass Puttkamers Kreaturen nur unbedeutend jünger waren als die germanistischen Ordinarien.19 Leitzmann gehört zu jener Zwischengeneration aus bildungsbürgerlicher, nicht besitzender Schicht, um 1870 geboren und mithin vollständig in die wilhelminische Tradition des II. Kaiserreichs hineingewachsen. Erzogen war diese Generation zunächst von bildungsliberalen Eltern, Lehrern und Professoren, die zum Teil selber noch im 1870er-Krieg an der Reichseinigung aktiven Anteil hatten. Den Angehörigen jener Altersgruppe blieb zwar jede aktive Kriegsteilnahme erspart (denn zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren sie alle schon über 40), es wäre denn, sie hätten sich herzugedrängt (wie etwa Roethe, Schröder, Voßler; siehe unten): Mit dem Schrecken des Krieges aus eigener Anschauung wurden gerade sie nicht oder nur geringfügig konfrontiert. Seine Generation wurde vielmehr durch die Gründerjahre geprägt, den wirtschaftlichen Aufschwung und wissenschaftlichen Aufbruch – und die ganze nationale Überheblichkeit des Wilhelminischen Zeitalters. Das Fach, das er wählte, stand zugleich immer unter der strikt ideologischen Ausrichtung eines staatstragenden, Nationalität stiftenden Wissenschaftsgedanken. Das alles erklärt in Leitzmanns Fall freilich nur die politische Ausrichtung, denn auch in seiner Generation hat es im Unterschied zu ihm doch beachtliche Methodiker und Synthetiker gegeben. Er hatte sich aber gleich, als er seine Laufbahn begann, durch die etwas zwiespältige Wahl seiner Lehrer zwischen alle Stühle gesetzt – zwischen die aufs schärfste verfeindeten Gruppierungen der Germanistik um 1890. Zwar stand er gleich in einer Reihe mit einigen der nachmals herausragenden Germanisten seiner Zeit: Von den zwei Dutzend Studenten, die in den vier Semestern in Hermann Pauls legendärem Seminar in Freiburg mit ihm zusammen studierten,20 sollten nachher knapp die Hälfte Professuren übernehmen. Das waren, um nur die bekannteren zu nennen (den Schriftsteller und Dichter Emil Gött, 1864–1908, nur am Rande vermerkt) der Germanist und Sprachwissenschaftler Friedrich Braun (1862–1940), Professor in Petersburg, Begründer der russischen Germanistik und 1920, nach seiner ____________ 18 19 20
Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. 2. Aufl. Göttingen 1975, S. 132. Vgl. Joost 2001 (Anm. 1), S. 76 und Anm. 116 ebd. Die Namen finden sich in der Broschüre: Andreas Heusler zum Gedenken. Freiburg 1940 (Freiburger Universitätsreden. 33), S. 8.
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Flucht vor der Revolution, Professor und Bibliothekar in Leipzig; Andreas Heusler (1865–1940), Professor für Nordistik, Skandinavistik und Altgermanistik, der berühmte Metriker, Professor in Berlin und später in Basel; die Germanisten und Volkskundler John Meier (1864–1953) und Eduard Hoffmann-Krayer (1864–1936) – dieser Professor in Basel und Mitverfasser des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens (1927 ff.), jener Professor in Freiburg und Gründer des dortigen Deutschen Volksliedarchivs; Friedrich Kauffmann (1863–1941), Metriker und germanistischer Altertumsforscher, Professor in Halle, Jena und Kiel; Franz Saran (1866–1931), Metriker, Professor in Halle und Erlangen; der Anglist und Indogermanist Johannes Hoops (1865–1949), Professor in Heidelberg, Herausgeber der ersten Auflage des Reallexikons der germanischen Altertumskunde (1911ff.); der Romanist Karl Voretzsch (1867–1947), Professor in Tübingen und Halle. Damit ist die Schule, der Leitzmann als einer der Jüngsten angehört hat, ihr Niveau und Erfolg fast schon hinreichend charakterisiert. Leitzmann hatte außer bei dem nur ein Jahrzehnt älteren Romanisten Rudolf Thurneysen vor allem bei den Germanisten Hermann Paul und Eduard Sievers (den polemisch so genannten ‚Junggrammatikern‘) studiert, war aber dann für ein paar Semester nach Berlin gegangen, um im Zentrum der damals allbeherrschenden Scherer-Schule bei Erich Schmidt Kolleg zu hören und in Edward Schröders Seminar zu sitzen; bei Konrad Burdach, auch einem SchererSchüler, wird er später noch in Halle hören.21 Die Junggrammatiker Paul und Sievers aber, zu denen dann noch Pauls Schüler Friedrich Kluge trat, blieben indessen seine erklärten Idole, auch wenn er lebenslang versuchte, die Anerkennung und Förderung der Berliner Scherer-Schule zu erlangen. Über allen schließlich thronte für ihn göttergleich der seit Pennälerzeiten verehrte, längst verewigte Jakob Grimm.22 Jene von den Berlinern verachteten und bekämpften Lehrer von Leitzmanns Freiburger und Hallischen Seminaren repräsentierten allerdings nur die eine der seinerzeit führenden und die Wissenschaftspolitik bestimmenden Schulen – und die schwächere zumal. Es ist ein rätselhaftes Paradox, dass ausgerechnet die mächtigsten Sprecher der Scherer-Schule, Gustav Roethe und Edward ____________ 21
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Vgl. Burdach an Roethe, Herbst 1924; gedr. bei Haustein 2010 (Anm. 1), S. 167. – Damit wird Schröders Behauptung gegenüber Roethe, 25. 11. 1889, Leitzmann habe bei Burdach kein Kolleg gehört – vgl. Joost 2001 (Anm. 1), S. 60 – zumindest zweifelhaft, wäre allenfalls auf Berlin zu beziehen. Leitzmann versucht sogar von Anfang an gelegentlich und seit ungefähr 1910 ziemlich konsequent, auch in semipopulären Ausgaben für seine Beigaben (Vorworte, Erläuterungen) die Grimm’sche Orthographie durchzusetzen. Das führt denn auch zum Streit mit Burdach und dem Verleger bei der Edition des Grimm-Lachmann-Briefwechsels; vgl. Haustein 2009 (Anm. 1), S. 253 f. Seine Korrespondenz führte er ohnehin so.
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Schröder, die Junggrammatiker bekämpften, die doch gar nicht so viel anders als ihr eigenes Idol, Wilhelm Scherer, versuchten, die Sprachwissenschaft von metaphysischen Vorstellungen zu befreien und auf naturwissenschaftlich überprüfbare Gesetzmäßigkeiten zu führen. Dieses Paradox löst sich auch dann nur teilweise, wenn man in Rechnung stellt, dass es den Berlinern und Göttingern zunächst und öffentlich darum zu tun war, die Ehre und editorischen Positionen Lachmanns und Müllenhoffs zu wahren – denn sie vertraten ja gerade die positivistischen Ziele Scherers, der allzu oft biologistisch, manchmal aber eben auch geradezu soziologisch argumentiert hatte – vertraten vor allem seine Forderung nach Synthese. Es erweist sich auch hier wieder, dass es eine methodisch wirklich einheitliche Scherer-Schule eigentlich nie gegeben hat, sondern sein Name lediglich als Etikett und Werbemittel für sehr unterschiedliche Tendenzen verwendet wurde.23 Angesichts dieser Widerstände und Widersprüche ließ sich für Leitzmann aus jenem Freiburger Zirkel kaum soziales und schon gar nicht ökonomisches Kapital akkumulieren, ja die Zugehörigkeit gereichte ihm sogar zum Nachteil: Hoffmann-Krayer widmete ihm zwar ein Buch, Heusler redete in seinen Briefen über ihn nie bösartig, wenn auch ein bisschen ironisch, – aber sonst entstanden naheliegenderweise Konkurrenzverhältnisse (etwa einmal gegenüber Kauffmann), vor allem Gegnerschaften in Gestalt von Roethe und Schröder. Seine Freunde und Weggefährten musste Leitzmann sich anderweitig suchen, und es waren wiederum zumeist ältere Kollegen, einerseits ausgemacht sympathische Lehrergestalten wie der Grandseigneur Erich Schmidt (1853–1913) und August Sauer (1855–1926), andererseits Machtlose des Fachs wie Konrad Burdach (1859–1936), Richard M. Meyer (1860–1914) und Ernst Elster (1860–1940) – alle vier Genannten waren bekennende Schüler Scherers. Es wäre ohnehin absurd, aus Leitzmanns geistiger Zugehörigkeit zu Hermann Paul einen Widerstand gegen Scherer folgern zu wollen, wie Roethe und Schröder es taten. Deren Abneigung gegenüber dem Jüngeren ging so weit, dass die Zeitschrift für Deutsches Altertum und deren Rezensionsblatt, der Anzeiger, bis zu Roethes Tod fast keine Artikel von Leitzmann mehr annahmen (einmal habe die Redaktion sogar einen Aufsatz „verlegt“),24 woraufhin er mit ____________ 23
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Vgl. in ähnlichem Sinn Jörg Judersleben: Philologie und Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik. Frankfurt/Main u. a. 2000 (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. 3). – Wie man mit einem Ochsen und einem Esel pflügen kann, zeigt dann 40 Jahre später Leitzmanns Edition des Briefwechsels der Grimms mit Lachmann (Berlin 1930), die durch Burdach mit einer Vorrede versehen wurde, welche stark anti-junggrammatische Züge hat. Vgl. Haustein 2009 (Anm. 1), S. 255 f. Germann 1955 (Anm. 4), dort Anm. zu 1917: Nr. 428/472: Leitzmann musste diesen und einen weiteren Artikel aus Notizen und aus der Erinnerung neu schreiben. – Sonst finde ich nur im Anzeiger für Deutsches Altertum 1910 noch eine weitere Anzeige Leitzmanns, da hatte der
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mediävistischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten und Rezensionen nun ganz zu Pauls und Braunes Beiträgen wechselte. Leitzmanns Laufbahn muss man geradezu typisch nennen für einen jungen Germanisten im Zweiten Kaiserreich. Durch das allmählich sich herauskristallisierende Bedürfnis nach Nationalbewusstsein in dem halben Jahrhundert zuvor und dann auch durch die Schulreformen in Preußen seit der Reichsgründung, die 1892 in einer neuerlichen Stundenerhöhung zu Lasten anderer Fächer, vornehmlich der alten Sprachen, gipfelte,25 hatte die Germanistik in Deutschland einen erheblichen Aufschwung erfahren. Parallel zu dieser Entwicklung waren seit 1858, vor allem aber zwischen 1875 und 1895 in den meisten Universitäten im Reichsgebiet und unbedeutend verzögert auch in den Ländern der Donaumonarchie Deutsche Seminare eingerichtet worden, die oft mit Bibliotheken ausgestattet waren und nunmehr einer strukturierten Ausbildung für Deutschlehrer an Gymnasien zu dienen hatten.26 Infolgedessen hatten alsbald alle deutschen Universitäten mehrere Professuren (mindestens ein Ordinariat und mehrere Extraordinariate) für Germanistik eingerichtet, die manchmal zugleich auch die Anglistik, Nordistik, Niederlandistik und Skandinavistik mitbesorgten. Viele junge Gelehrte in Leitzmanns Alter konnten sich also gute Aussichten erhoffen, eine solche Professur zu erlangen, und auch er scheute nicht davor zurück, diesen Weg auf der ‚Ochsentour‘ des Privatdozenten einzuschlagen. Er bewältigte mit beachtlichem Fleiß und in kürzester Zeit sein Studium bis zur Promotion, die er als Dreiundzwanzigjähriger abschloss, in einem Alter also, in dem heutigen Bachelor-Kandidaten noch die orthographischen Fehler in ihren Proseminararbeiten zu korrigieren sind. Danach ging es etwas langsamer voran. Denn kaum promoviert und (vermutlich aus gesundheitlichen Gründen) vom Wehrdienst freigestellt, begann er zwar, an verschiedenen Universitäten um die Habilitation nachzusuchen. Er wurde aber dabei wiederholt ‚abgegrault‘ oder ganz direkt abgewiesen, so mindestens in Göttingen, Leipzig, Breslau, Marburg, Straßburg.27 Das geschah auch keineswegs allein in Abwägung fachlicher Qualität, vielmehr sahen es die Fakultäten damals auch als ihre Aufgabe an, durch Einschränkung der zu erteilenden __________
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Herausgeber wohl nicht aufgepasst – erst 1929, drei Jahre nach Roethes Tod, bringt die Zeitschrift zwei Miszellen von ihm, und von da an immer mal wieder etwas. Vgl. Horst Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. München 1973, hier Kap. VII, S. 485–570. Vgl. Uwe Meves: Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1875–1895). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 1987, Sonderheft, S. 69*–122*, hier bes. S. 72* f. Von mir schon skizziert: Joost 2001 (Anm. 1), S. 57–66, bes. S. 60. Dann von Haustein 2010 (Anm. 1), S. 147–155, noch einmal auf breiterer Quellenbasis sehr viel gründlicher dargestellt, als ich das seinerzeit mit Roethe/Schröder vermochte (hier besonders die mannigfachen Versuche einer Umhabilitation an andere Universitäten).
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Lehrbefugnisse die Subsistenz der Habilitierten zu garantieren – es wurde nicht, wie heute üblich, ein Teil des Unterrichts auf der Basis kostenloser Lehraufträge abgehalten. Leitzmanns Laufbahn scheint allerdings in wenigstens einem wesentlichen Punkt nicht vollständig typisch für die Leistungselite im Wilhelminischen Kaiserreich. Die stützte sich nämlich erheblich auf solche Institutionen wie das akademische Verbindungswesen und das Reserveoffizierskorps.28 Mir ist nicht bekannt, ob Leitzmann während seines Studiums Mitglied irgendeiner Studentenverbindung gewesen ist, ich bezweifele es aber. Martialisch wirkt er außerhalb seiner Polemiken wahrlich nicht, und die Porträts zeigen keinen der charakteristischen Schmisse.29 Da er – jedenfalls aus gesundheitlichen Gründen – untauglich gemustert wurde, so war ihm auch die sonst übliche Laufbahn über die Einjährigen-Freiwilligenzeit zum Reserveoffizier verstellt. Sonach ist er auch weder bei den Wehrübungen auf den Sommermanövern je dabei gewesen, noch hat er im Ersten Weltkrieg, wo selbst halbinvalide Professoren eingezogen wurden, gedient: nicht einmal als Bahnhofskommandant (wie Roethe),30 in der 2. Linie und Etappe (wie Schröder) 31 oder als Befehlshaber eines Schießplatzes in der Truppenausbildung (wie Karl Voßler).32 Freilich entging er damit nicht nur dem Grauen des Weltkrieges, sondern auch der für diese Elite-Institutionen (Studentenkorporation wie Offizierskorps) typischen Neigung zum Antisemitismus.33 Leitzmann ist auch insofern erkennbar ein Außenseiter gewesen, er war mit jüdischen Kollegen wie Richard M. Meyer sogar befreundet. ____________ 28 29
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Wehler 1975 (Anm. 18), S. 129 ff. Abb. in Joost 2001 (Anm. 1), S. 56, 59, 68, 72. – Seine Tagebücher insbesondere der Frühzeit (vgl. das Nachlass-Verzeichnis im Anhang) verdienten gründlichere Auswertung nach Fragen wie diesen hier. Als „bedingt felddiensttauglich“, wozu der herzkranke Gustav Roethe den Stabsarzt überreden konnte (Briefwechsel mit Schröder 2000, Anm. 1, Bd. 2, S. 718 u. pass.), hatte er als Hauptmann der Reserve eine „mobile Bahnhofskommandantur in der Champagne“; vgl. seine daraus entstandene (übrigens im historiographisch-philologischen Kern exzellente, in der Umrahmung schier unerträgliche) Studie: Goethes Campagne in Frankreich 1792: eine philologische Untersuchung aus dem Weltkriege. Berlin 1919, S. 1. Als Leutnant, dann Hauptmann des Göttinger Landsturms; vgl. den Briefwechsel mit Roethe 2000 (Anm. 1), Bd. 2, S. 700–762. Frucht dieser Zeit sind seine historischen und philologischen Plaudereien in der Liller Kriegszeitung. Vgl. Bibliographie Edward Schröder, zum 75. Geburtstage am 18. Mai 1933. Hrsg. von Arthur Hübner. Berlin 1934, S. 110–112. Als Leutnant des württembergischen Landsturms; vgl. Victor Klemperer: Curriculum Vitae. Jugend um 1900. Bd. 2. Berlin 1939, S. 181, 247. Wissenschaftlich ohnehin, vgl. etwa seine Untersuchung zum Judenspieß (zusammen mit Konrad Burdach) in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 1916, S. 21–56, und zusammen mit Wilhelm Staerk: Die Jüdisch Deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1923 (Schriften hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. 31a).
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Die Freistellung vom Militär ermöglichte ihm immerhin eine raschere Ausbildung in der Wissenschaft und auch eine frühzeitige Verlobung und Heirat mit Else Altwasser, einer ungemein hübschen,34 offenbar sehr gescheiten und in mehreren Künsten tätigen jungen Frau aus Halle. Sie veröffentlichte eine Sammlung von Kunstmärchen und veranstaltete kurz nach der Jahrhundertwende mehrfach Gemäldeausstellungen mit eigenen Werken. Von ihrem Vermögen aus der Mitgift hat das junge Ehepaar, bevor Leitzmann endlich ein hinlängliches Auskommen aus seiner Professur bekam, fast anderthalb Jahrzehnte gelebt. Er fand zunächst nur eine schlecht bezahlte Anstellung als Assistent am Goethe- und Schiller-Archiv, wo er vom Anfang 1895 bis Juni 1896 die Bände 17–22 der 4. Abteilung der Weimarer Ausgabe verantwortlich zu bearbeiten hatte.35 Es dürfte aber schwerlich ein Vergnügen gewesen sein, unter dem nichts weniger als einfachen und nachher hochgradig depressiven Bernhard Suphan36 zu arbeiten. Jedenfalls verließ Leitzmann nach dieser Zeit das Archiv und kehrte auf seine Privatdozentur, die er mittlerweile an der Universität Jena erlangt hatte und die er während der Zeit in Weimar hatte ruhen lassen, zurück. Von den Hörergeldern allein konnte er gewiss nicht leben, und als die Mitgift seiner Frau zur Neige ging, kam Hilfe von unerwarteter Seite: von dem Scherer-Schüler Richard Moritz Meyer, der aus seiner durch Karl Kraus in der Fackel erfolgten öffentlichen Abstrafung noch bekannt ist.37 Dieser übrigens durchaus schätzenswerte Literaturhistoriker, Extraordinarius an der Berliner Universität, stammte aus einem Bankhaus und war daher finanziell unabhängig. Er hatte sein ganzes Berufsleben hindurch (er starb bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs im Herbst 1914) sich verzweifelt um eine ordentliche Professur und einen Sitz in der Berliner Akademie der Wissenschaf____________ 34
35 36
37
Sie wurde in der guten Gesellschaft Weimars und Jenas wegen ihres hellblonden Haars und in deutlicher Anspielung auf den 1866 in der Zeitschrift Gartenlaube erschienenen populären Roman der Eugenie Marlitt Goldelse genannt. Erschienen Weimar 1895–1901. Vgl. Jutta Hecker: Bernhard Suphan. Eine biographische Skizze. In: Goethe-Jahrbuch 98, 1981, S. 225–237. Wiederabgedruckt in Dies.: Wunder des Wortes. Leben im Banne Goethes. Weimar 1989, S. 41–66. Neuerdings Günter Arnold: Bernhard Suphan. Pflichterfüllung als Lebensmaxime. In: Das Zeitalter der Enkel. Kulturpolitik und Klassikrezeption unter Carl Alexander. Hrsg. von Hellmut Th. Seemann und Thorsten Valk. Göttingen 2010 (Klassik Stiftung Weimar. Jahrbuch 2010), S. 165–181. Kraus hatte in drei Glossen (Dez. 1911: Die neue Art des Schimpfens – Nov. 1913: Zum Gesamtbild der Kulturentwicklung – Dez. 1913: Ein Klagelied), die er 1929 in den Sammelband Literatur und Lüge übernahm, Meyer scharf wegen ein paar echter oder eingebildeter Seitenhiebe auf die Fackel attackiert; wieder einmal sehr grundsätzlich werdend („Dr. Richard M. Meyer in Berlin, der die Literatur in Dekaden eingeteilt“). Dabei hatte Kraus unter anderem das M., hinter dem Meyer verbarg, ob er nun Moritz oder Moses heißen wolle, zum Gegenstand seines Spotts gemacht, indem er die ‚Selbstkastration‘ weiter betrieb („der R. Moses M.“ – „der von mir kastrierte Richard Moses Meyer“). Vgl. Karl Kraus: Schriften 3: Literatur und Lüge. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt/Main 1987, S. 310–322.
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ten bemüht. Beides aber blieb ihm trotz einiger Unterstützung durch den älteren Confrater aus der Scherer-Schule, Erich Schmidt, lebenslang versagt. Denn Meyer bekannte sich uneingeschränkt zu seinem Judentum, das seiner Karriere im Weg war, und war nicht bereit, das „Entreebillet zur europäischen Kultur“,38 wie Heinrich Heine einst den Nachweis über die christliche Taufe genannt hatte (höhnisch und drastisch zwar, aber in Wahrheit nicht einmal treffend, wie die Geschichte lehren sollte), zu lösen. Gerade Meyers Gelehrsamkeit und Produktivität, sein materieller Wohlstand und seine Freigebigkeit waren nun gar nicht geeignet, die dumpfen Vorurteile des damals an deutschen Universitäten herrschenden Antisemitismus zu widerlegen:39 Er war mithin auf seine Situation bezogen mindestens ebenso sehr ein Außenseiter wie Leitzmann. Das mag die Geschichte ihrer persönlichen Beziehungen verständlicher machen: Meyer hatte zwar 1894 den ganz jungen Leitzmann in einer Rezension arg gestriegelt.40 Aber schon bald danach bat er um Entschuldigung, man lernte sich 1895 auf der Tagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar persönlich kennen und freundete sich an:41 Im Sommer 1901 setzte Meyer ihm aus seinem Privatvermögen eine kleine Rente aus, die die Differenz zwischen dem Einkommen eines Privatdozenten und dem eines Ordinarius ausgleichen sollte; und die sollte gemäß der sehr diskreten Vereinbarung so lange gezahlt werden, bis der Staat gewissermaßen seiner ‚Verpflichtung‘ nachkäme – bis zur Erlangung des Lehrstuhls also. Indessen trat Meyers allzu früher Tod dazwischen.42 ____________ 38 39
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Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Bd. 7. Leipzig o. J. [1890], S. 407 („Der Taufzettel ist das E.“ usw.). Man vergleiche die unerfreulichen Bemerkungen des sonst doch charakterlich ziemlich einwandfreien Andreas Heusler über Meyer; Andreas Heusler: Briefe an Wilhelm Ranisch 1890– 1940. Hrsg. von Klaus Düwel u. a. Basel, Frankfurt/Main 1989, v. a. S. 231, 293, 311, 329 (u. pass. s. i.). Im Anzeiger für deutsches Altertum 20, 1894, S. 311–317, über Leitzmanns Edition der Briefe und Tagebücher Georg Forsters. Man unterschätze nicht die Bedeutung dieser nur scheinbar harmlosen Begegnungen in heiterer Geselligkeit. Wenn sich dann auch noch die Damen verstehen, können sich nicht selten echte und dauerhafte Freundschaftsbündnisse bilden. Georg Witkowskis Bericht von harmloser Geselligkeit bei der Jahrestagung der Goethegesellschaft bekommt dann einen tieferen Sinn: „Was für ein farbiger Kreis versammelte sich immer am Sonnabend, dem ersten Festtag, beim Frühstück im ‚Elefanten‘. Nebeneinandergereiht saßen da die dunkle, glühende Schönheit Estella Mayers [recte: Meyers], die unwahrscheinlich blonde, aber farbechte Else Leitzmann, die üppige Hedda Sauer und die vornehme Elisabeth Elster, die etwas bürgerlichere, doch anmutige Lolli Köster und, später hinzugesellt, die allbeliebte Petronella Witkowski. Unweigerlich erschien jedes Mal Richard Mayer [!] und überreichte jeder den auf dem Wochenmarkt vor dem Hause erstandenen Blumenstrauß.“ Georg Witkowski: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig 2003, S. 98. In diesem Fall: Wenigstens die drei erstgenannten Familien bedachte Leitzmann mit Widmungen. Über Meyer demnächst Richard M. Meyer – Germanist zwischen Goethe, Nietzsche und George. Hrsg. von Nils Fiebig und Friederike Waldmann. Göttingen 2010. – Den Hinweis auf die ‚Rente‘ verdanke ich Myriam Richter in Hamburg, die die Zeugnisse über diesen Sachverhalt hoffentlich bald publizieren wird.
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Es war aber doch gewiss nicht nur Mangel an Verbindungen, wie man sie zu allen Zeiten für die akademische Karriereleiter brauchte: Leitzmann besaß offenbar nicht die Strahlkraft, die man von einem Lehrstuhlinhaber erwartet. Gewiss auch deswegen und nicht nur infolge der Intrigen seiner Berliner und Göttinger Kontrahenten hat er keinen einzigen Ruf nach außerhalb erhalten und auch erst sehr spät ein paar Mal Listenplätze erlangt.43 Berufungen erfolgten damals nicht wie in unseren Tagen durch eine förmliche Bewerbung. Vielmehr wurden die potenziellen Interessenten (man kannte sie ja alle) durch das jeweils zuständige Unterrichtsministerium gefragt, nachdem wie heute die Fakultät einen Vorschlag zu einer Liste eingereicht hatte, und nur allzu oft setzte sich das Ministerium schroff über diese Liste hinweg. So wurde Leitzmann in Jena in kleinen Schritten und sehr langsam befördert. 1923 setzte man ihn gegen den Willen der Fakultät auf ein persönliches Ordinariat, und erst wenige Jahre vor seinem Ruhestand, 1930, erreichte er endlich das ersehnte reguläre Ordinariat mit Sitz und Stimme in der Fakultät – aber auch nur, weil die Überleitung auf das vakante des verstorbenen Kollegen Victor Michels die kostengünstigste Lösung für die thüringische Landesregierung bot. Wie ein roter Faden zieht sich daher durch seinen Lebenslauf und seine Korrespondenzen die Suche nach Geldquellen, und immer ist Leitzmann damit beschäftigt, entweder für Verlage Werk- oder Briefausgaben, die sich an breitere Leserschichten wendeten, herzustellen oder für die Berliner Akademie der Wissenschaften für vergleichsweise geringe Honorare wissenschaftliche Editionen vorzubereiten. Auch die Registerarbeit für die von Fritz Jonas besorgte Ausgabe der Briefe Schillers44 oder die Mitarbeit an der Bibliographie in August Sauers Euphorion (zumindest für den Jahrgang 1895 nachweisbar) sind offenbar aus dieser Suche nach Geldquellen hervorgegangen. Ich halte es für sehr wohl möglich, dass Leitzmanns Mangel an Bereitschaft, seine wissenschaftliche Tätigkeit über die Editionsarbeit hinaus auszuweiten, im Zusammenhang steht mit dieser existentiell notwendigen Subsistenzfrage. Derlei Arbeit, die nach dem Druckbogen bezahlt wird, lässt sich nun einmal leichter vorausberechnen und ist auch konjunkturell risikoloser als die kreative und zumal parteiliche Abfassung einer Darstellung. Geprägt durch das Kaiserreich, stand Leitzmann politisch ziemlich weit rechts, wählte nationalkonservativ, war allerdings nur kurze Zeit Mitglied der Deutschen Volkspartei und wohl auch nie Mitglied der NSDAP, obgleich er die ihm gewiss wichtigste Beförderung bekommen hatte, als zur Zeit der Weima____________ 43 44
Von mir schon nach Roethe/Schröder 2000 (Anm. 1) skizziert: Joost 2001 (Anm. 1), S. 67, und wiederum ergänzt: Haustein 2010 (Anm. 1), S. 156 ff. An Bd. 7, Stuttgart u. a. o. J. [1896], S. I–CXXVIII.
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rer Republik im Volksstaat Thüringen die Nationalsozialisten herrschten. Die „nationale Erhebung“, wie er in einer Adresse am Ende eines Vorwortes 1934 die Machtübernahme durch die Nazis nannte,45 scheint ihn auch nur für sehr kurze Zeit begeistert zu haben, vermutlich nur so lange, bis er gewahr wurde, dass seine jüdischen Kollegen massiv durch die von ihm gepriesenen Nationalsozialisten verfolgt wurden. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er noch, sich reaktivieren zu lassen, um das Ruhegehalt als Professor nicht zu verlieren. Seine Rente war kümmerlich, erst unmittelbar vor seinem Tod gelang der Verkauf seiner sehr gut assortierten eigenen Büchersammlung an die Jenaer Universitätsbibliothek gegen eine Leibrente für sich und seine Gattin. Er starb, 82-jährig und bis ins letzte Jahr wissenschaftlich tätig, seine Frau folgte ihm wenige Tage später nach.46
3. Das Interpretieren, wie es damals nach Etablierung von Diltheys geistesgeschichtlicher Hermeneutik Mode wurde, ist seine Sache nicht gewesen, und vielleicht bewahrte ihn das auch vor dem ‚völkischen‘ Ton, der gerade in der Mediävistik in den 1920er Jahren gern angeschlagen wurde. Methodisch zusammenfassende Darstellungen hat er mindestens zweimal angekündigt, aber nie vollendet oder doch nicht zum Druck gebracht: eine zu den sprachphilosophischen Auffassungen der Grimms,47 eine zur Textkritik Wolframs. Dass gerade diese bereits 1902 im ersten Band seiner Wolfram-Edition in der Vorrede „in aussicht gestellte kritisch-exegetische studie, die vielen meiner lesungen als nachträgliche rechtfertigung dienen sollte“, die er in der nächstfolgenden Auflage 1911 als „im manuskript seit langem so gut als abgeschlossen“ nannte, bloße Ankündigung blieb, ist sehr bezeichnend, insofern als er damit seinem Ursprungsfach, der germanistischen Mediävistik, bis zu seinem Lebensende ____________ 45
46 47
Die Vorrede seines Kleinen Benecke. Halle 1934, S. XI, datierte er: „Jena, 30. september 1933, im ersten jahr der nationalen erhebung“. Haustein hat 2009 (Anm. 1), S. 255, inzwischen an der Einleitung dieses Büchleins trefflich herausgearbeitet, wie sehr (und wie vor allem) diese Vergangenheitssehnsucht bei Leitzmann sich auf das Wissenschaftliche seines Fachs bezog. Über Leitzmanns bedrückende ökonomische und physische Lage nach 1945 vgl. eindringlich Haustein 2010 (Anm. 1), S. 171–175; das Todesdatum seiner Frau ebd., S. 145, Anm. 3. Anlässlich der Entschuldigung im Vorwort zu seiner Edition des Briefwechsels zwischen Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel (Halle 1908, S. VI), warum es ihm „natürlich nicht beikommen konnte“, die „allgemeinen sprachlichen Anschauungen der beiden Korrespondenten im einzelnen einer Kritik vom modernen Standpunkte aus zu unterziehen“: „Vielleicht gibt mir auch eine Schrift über Jacob Grimms sprachphilosophische Anschauungen, die ich vorbereite, Gelegenheit, einzelnes aus meinen Sammlungen auf diesem Gebiete mitzuteilen.“
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die angekündigte methodische Begründung schuldig geblieben ist, also fast ein halbes Jahrhundert – Jens Haustein hat das eingehend dargestellt.48 Auch als Editor also blieb er eher ein zusammentragender Sammler, ein Herausgeber von großen Textmengen, der, wie wir sahen, zur größten Vollständigkeit neigte und sich scheute, Entscheidungen über das notwendig Wegzulassende zu treffen. Er war eben kein so kühn wie genial schaltender Textkritiker wie Carl Lachmann oder Erich Schmidt. (Das impliziert natürlich auch, dass ihm seltener deren geniale Fehler unterliefen.) Mit einer wichtigen Einschränkung, die er indessen auch wieder nicht methodisch artikulierte: Durch das erhebliche Übergewicht der Klassischen Philologie, von der Lachmann und Müllenhoff ihre Methoden gelernt und transponierend weiterentwickelt hatten, dann vor allem durch die die ‚Sophien-‘ oder ‚Weimarer Ausgabe‘ der Werke Goethes hatte sich in der Neugermanistik das Prinzip der Fassung letzter Hand als Ziel jeder Editio definitiva etabliert. Selbstverständlich kannte man genetisches Edieren, Lachmann hatte es ja bei Lessing schon demonstriert. Aber nur als Stufe wie in Bernays’ und Hirzels sowie in Morris’ Jungem Goethe hatte das Prinzip der frühen Fassung, sozusagen der ‚ersten Hand‘, ein Bleiberecht, nicht nur in der Goethephilologie,49 und wurde nur von wenigen konsequent nachgeahmt (Arnold Bergers Edition der Gedichte Gottfried August Bürgers50 ist so ein Beispiel). Konsequente Anwendung des genetischen Prinzips zeigt sich nur in Suphans Herder-Edition51 und, zumal konsequent mit Blick auf die frühe Fassung und den Textus receptus, bei Karl Goedekes Schiller-Ausgabe.52 Leitzmann nun verlässt bei seiner Lichtenberg-Edition konsequent den Textus receptus. Wie schon in seinen Editionen der mittelhochdeutschen Dichtung wird das fast gar nicht reflektiert. Nur im Vorwort zum ersten Heft der Aphorismen (1902)53 polemisiert er gegen derlei „Penelopearbeit für das sogenannte populäre Bedürfnis“: die Zerlegung von Lichtenbergs Sudelbüchern in Sachgruppen, wie das die Ausgaben von Lichtenbergs Bruder (1800–1806) ____________ 48 49
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Vgl. auch Haustein 2009 (Anm. 1), passim. Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 1764–1776. Eingeleitet von Michael Bernays. 3 Teile in drei Bdn. Leipzig 1875, 2. Aufl. 1885. – Der junge Goethe. Hrsg. von Max Morris. 6 Bde. Leipzig 1909–1912. – Der junge Goethe. Neu bearb. Ausg. in 5 Bdn. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1963–1973; Reg.-Bd. 1974. In Meyers Bibliographischem Institut Leipzig o. J. [1891]. Herders sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877–1913. – Eine knappe, aber sehr treffende Darstellung der Genese dieser Herder-Edition und ihrer editorischen Prinzipien bietet Arnold 2010 (Anm. 36), S. 73–77; siehe auch den Beitrag von Arnold im vorliegenden Band. Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen u. a. hrsg. von Karl Goedeke. 15 Tle. in 17 Bdn. Stuttgart 1867–1876. Aphorismen. Nach den Handschriften hrsg. von Albert Leitzmann. Heft 1–5. Berlin 1902–1908 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. 123. 131. 136. 140. 141), hier H. 1, S. VIII f.
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und Söhnen (1844) angestellt hatten, die das Gewand des geschlossenen Sudelbuchtextes wieder aufribbelten. Derlei Polemik besteht vielleicht nicht so sehr vom hermeneutischen Standpunkt, der die Wirkung in seine Betrachtung einzubeziehen hat, unbedingt zu Recht, wohl aber von einem strikt historischen – und jedenfalls vom positivistischen. Nur eben eine Vergleichungstabelle zu der zweiten Ausgabe stellt er als Rudiment einer historisch-kritischen Arbeit im letzten Heft der Aphorismen-Edition bereit (1908).54 In seltsamer Bescheidenheit jedoch verliert Leitzmann kein Wort darüber, dass er die Textgenese in vorzüglicher Darstellung aller wichtigeren innerhandschriftlichen Varianten dokumentiert hat; ohne bedeutenden Aufwand an textkritischen Zeichen, vielmehr ganz so, wie er es bei der Sophienausgabe gelernt hatte. Eine Arbeit war das übrigens, die wohl weniger durch die große Seltenheit seiner Ausgabe als durch den Mangel an Propaganda und Reflexion durch den Herausgeber und die Blindheit der Interpreten nur von sehr wenigen Lichtenberg-Forschern wirklich genutzt worden ist,55 und noch der letzte, ungemein billige Abdruck der Ausgabe beim Verlag Zweitausendeins lässt diesen Teil einfach weg.56 Zumindest noch ein weiteres Mal bleibt Leitzmann, wie schon bei den mediävistischen Editionen, in der Lichtenberg-Edition wichtige Begründung und öffentliche Reflexion schuldig und verursacht dadurch ein fatales Missverständnis: Im letzten Band in der schon erwähnten Vergleichungstabelle seiner Edition zu der Ausgabe von Lichtenbergs Söhnen, der noch ihm nicht mehr zugängliche Handschriften zu Gebote standen, hatte er Vorschläge gemacht, wie die handschriftlich nicht überlieferten (und von ihm daher nicht aufgenommenen) Sudelbucheinträge zu datieren wären – welchen Sudelbüchern mithin sie zugewiesen werden könnten. Er hat indessen an keiner Stelle eine methodische Begründung seiner übrigens ganz einfachen und m. E. wohl zutreffenden Entscheidungsprinzipien geliefert – man muss sie erraten.57 Da er aber nun einmal als zu seiner Zeit bester Kenner des gesamten Werks eine vollständig unanfechtbare Autorität gewesen ist, führte das zu der bizarren Situation, dass seine Datierungs- und Zuweisungsvorschläge von der Lichtenberg-Forschung ohne jede Prüfung im Einzelfall übernommen wurden. Daraus ergab sich dann in dem überaus klugen und lesenswerten Buch von Franz Heinrich Mautner über Lichtenberg ein geradezu aberwitziger Zirkelschluss, ____________ 54 55
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Lichtenberg, Aphorismen (Anm. 53), H. 5, 1908, S. 227–240. Ausnahmen etwa Heinz Gockel: Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang der Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Berlin, New York 1973, S. 179. – Promies (Anm. 58) hat vor allem in Band 1 seiner Edition mehr als ein halbes Hundert Ergänzungen einfach aus dem Keller der Varianten Leitzmanns in sein Haus des Textes geholt. Lichtenberg: Die Aphorismen-Bücher. Frankfurt/Main 2005. Vgl. Joost 2009 (Anm. 8), hier bes. zu den problematischen Aspekten der Edition S. 141, 143 f.; zu Leitzmanns Datierungsversuchen S. 145 f.
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bezogen vor allem auf die Sudelbücher G und H und ihre literarische Wertung. Und das führte weiter und hat Konsequenzen bis heute: Wolfgang Promies zementierte 1971 durch weitgehende Übernahme dieser Datierungsvorschläge in seiner Edition der Schriften und Briefe Lichtenbergs diese am Ende doch nicht endgültig beweisbare Chronologie.58 Heute wird infolgedessen den Lesern Lichtenbergs suggeriert, dass viele bei näherem Hinsehen höchst zweifelhafte Datierungen sich sogar auf den Monat genau zuordnen lassen könnten und sogar gewisse Ko-Textualitäten gegeben wären. Das ist nun freilich nicht Leitzmanns Schuld: Er wollte ja gerade nicht eine solche Rekonstruktion virtueller Sudelbücher, wie Promies sie nachgerade fingiert hat. Und hätte Leitzmann nicht damals nach systematischem Suchen bei Lichtenbergs Nachfahren in Bremen den Nachlass des Göttinger Physikers wieder aufgespürt und vor allem nach Fertigstellung seiner Arbeit die Übergabe an die Göttinger Bibliothek veranlasst, würden die Handschriften heute vermutlich in alle Winde zerstreut sein – eine moderne Lichtenberg-Forschung wäre gar nicht mehr möglich. Seine Mitwelt hat aber den Wert gerade dieser Arbeit nicht begriffen. Denn war schon die Entdeckung des Nachlasses eigentlich eine Sensation, wie viel mehr doch seine Edition der Sudelbücher, so sehr sie durch die von ihm vorgenommenen Auswahlkriterien eingeschränkt wurde! Sie ist nach wie vor die textkritisch beste, die wir haben (wenn auch mit kleinen Freiheiten etwa bei der Auflösung von Abkürzungen und gelegentlicher – jeweils im Apparat nachgewiesener – Korrektur von Lichtenbergs eigenen Versehen gegen dessen Handschrift), ist diplomatisch getreu, ist sehr fehlerarm und bietet einen genetischen Apparat aller wichtigen innerhandschriftlichen Varianten, jedoch abgesehen von Druckangaben und Vergleichungstabellen keine Überlieferungslesarten. Diese nicht nur nach damaligen Vorstellungen exzellente Edition ist zwar durch Wolfgang Promies’ Leistung59 quantitativ erheblich erweitert, aber qualitativ keineswegs überholt worden. Unter einem Unstern ganz anderer Art stand Leitzmanns Edition der diversen Briefwechsel Wilhelm von Humboldts. Mit dem Ende des Kaiserreichs wurde das so ambitioniert angelegte Akademie-Unternehmen einer kompletten Edition der Werke und eben auch der umfangreichen Korrespondenz dieses Briefschreibers (immerhin sind uns heute wenigstens 12 000 Briefe bekannt!) ____________ 58
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Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. 4 Bde. und 2 Kommentarbände. München 1967–1992, hier in Bd. 2, S. 1971. Übrigens blieb auch Promies uns 85 (!) Prozent der versprochenen Begründungen im 1992 erschienenen Kommentarband schuldig. Promies’ Ausgabe (Anm. 58) enthält in den Bänden 1 und 2 die Sudelbücher, und hierin sind ca. 500 bislang gänzlich unbekannte Seiten publiziert (ich zähle allein 1155 aus der Handschrift der Sudelbücher erstmals ausgehobene Eintragungen, außerdem zwei fast noch gar nicht ausgewertete Notizbücher).
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sistiert60 – Leitzmann hat nur noch eine Reihe von Einzelbriefwechseln herausbringen können.61 Bei aller Fülle und Genauigkeit im Großen darf und muss man aber doch immer sehr genau hinschauen, was er da im Einzelnen getan und wo er sich manchmal eben auch geirrt hat. Bei der Edition der Briefe von Lichtenberg62 etwa hat die Hauptlast der Textarbeit auf den Schultern von Carl Schüddekopf gelegen: Leitzmann übernahm dagegen die undankbare Kommentar- und Registerarbeit und steuerte den Text nur weniger Briefe bei. Ähnlich verhält es sich bei der kleinen Edition der Briefe an Johann Friedrich Blumenbach, die Leitzmann aus Schüddekopfs Nachlass vollendete63 (in ihr findet sich noch eine ganze Reihe von kleinen Lesefehlern, ausgelassenen Wörtern und vor allem Datierungsungenauigkeiten, die aber vielleicht schon auf Schüddekopf zurückgehen möchten). Bemerkenswert ist bei den anderen seiner Editionen auch sein Arbeitsverfahren: Bemerkungen in Leitzmanns Korrespondenz mit Otto Deneke64 über eine ergänzende Ausgabe von Lichtenbergs Briefen (vor allem an Schernhagen) und in der mit Konrad Burdach über die Grimm-Korrespondenzen weisen deutlich darauf hin, dass Leitzmann, ein geübter Entzifferer, zum Diktieren neigte, um dann hinterher beim Gegenlesen den Text zu überprüfen. Das ist an sich ein probates Verfahren und garantiert im Allgemeinen Vollständigkeit des Textbestandes, führt aber häufig zu Hörfehlern und orthographischen Ungenauigkeiten.65
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Geplant war ursprünglich eine vierte Abteilung mit Briefen; davon wurden nur die politischen Briefe noch in einer zweibändigen Auswahl herausgebracht (Bd. 16 f., 1935/36). Vgl. Gerhard Dunken: Zur Geschichte der Herausgabe der „Gesammelten Schriften Wilhelm von Humboldts“. Berlin 1962 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Vorträge und Schriften. 75), S. 19 ff. Monographisch: Briefe Humboldts an Johann Gottfried Schweighäuser. Jena 1934; an Karl Gustav von Brinkmann. Leipzig 1939; an Christian Gottfried Körner. Berlin 1940. Noch seine letzte Publikation in den Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Phil.-Hist. Klasse 1948, Nr. 3, ist dem Thema gewidmet. Lichtenbergs Briefe. Hrsg. von Albert Leitzmann und Carl Schüddekopf. Bd. 1–3. Leipzig 1901–1904: 1. 1766–1781. 1901. XIV, 424 S. – 2. 1782–1789. 1902. IX, 419 S. – 3. 1790– 1799. 1904. XII, 397 S. – Anhang [Separatum, als Manuskript gedruckt]: 8 S. o. J. [1905?]. – Photomechanischer Nachdruck: Mit einem Vorwort von Paul Requadt [Bd. I, S. V f. – dafür ist das alte Vorwort der Herausgeber unterdrückt]. Hildesheim 1966. Dem 3. Bd. ist hier der Reprint der Briefe an Blumenbach 1921 (Anm. 63) beigebunden. Lichtenberg: Briefe an Blumenbach. Hrsg. von Albert Leitzmann. Leipzig 1921, S. [III]. Joost 1999 (2000) (Anm. 1), S. 206 f. Das gilt auch für seine Arbeit an den Sudelbüchern; gut sichtbar an der Groß-Kleinschreibung insbesondere in den frühen Heften, als Lichtenberg selber noch regelloser verfuhr als später. Ich habe den Umstand schon skizziert in: Zur Chronologie und korrekten Reihenfolge der Notizen im sogenannten Sudelbuch A. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1998 [1999], S. 293–298, hier S. 294.
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4. Um die Ergebnisse meiner Beobachtungen noch einmal bündig zusammenzufassen: Für Leitzmann dient der Einsatz des kulturellen Kapitals im Sinne Bourdieus einer Erforschung der deutschen Literatur und einer bürgerlichnationalen und doch zugleich abendländisch-internationalen Bildung schlechthin (durchaus auch eine Bildung, die als κτ¤PD yȢ ε¹ ausgegeben wird!) insgesamt zur Steigerung des symbolischen Kapitals einer nationalen Ehre, die zumindest im Kaiserreich auch auf eine Steigerung des ökonomischen – und da dann auch des individuellen – hoffen ließ. Wir können ihm bis hier sogar ein partielles Bewusstsein für sein Tun unterstellen. Dass er darüber hinaus diese Steigerung, verbunden mit den bei ihm nicht sehr ausgeprägten Möglichkeiten, das soziale Kapital seiner Beziehungen einzusetzen, auch zur Förderung des eigenen, ganz persönlichen ökonomischen Kapitals zu verwenden trachtete, liegt auf der Hand, auch wenn, wie wir sahen, weder seine Geschicklichkeit darin noch sein Erfolg gerade hier sonderlich groß gewesen sind. Leitzmann, geprägt durch die Kaiserzeit, war beinahe ein Außenseiter der Zunft und daher überwiegend nur mit wissenschaftspolitisch weniger Vermögenden verbunden. Er gehörte zu einer editorischen Schule, die es auf die Erschließung großer Textmengen absah, überhaupt nicht auf eine überschauende synthetische Darstellung und Einbettung in die Gesamtheit einer Literatur- und Kulturgeschichte – und eben auch nur begrenzt auf eine methodisch geordnete und gesicherte Überprüfung ihrer editorischen Entscheidungen. Wissenschaftsgeschichtlich sehen wir daher in ihm einen Gelehrten von bewundernswertem Fleiß, der beinahe manisch Vieles und viel publizieren wollte – der Pruritus inclarescendi ist offenbar eine Triebfeder auch seines wissenschaftlichen Arbeitens. Seines Fleißes darf sich aber jedermann rühmen, sagt Lessing (um wie viel mehr darf man es dann dem eines anderen tun), und Leitzmanns Bedürfnis ist es denn auch, große, möglichst umfassende Ausgaben und erhebliche Textmengen dem Publikum zu präsentieren. Unbezweifelbar ist die Ernsthaftigkeit der Themenstellungen, die grundsätzliche Genauigkeit und das Vermögen, Wichtiges vom Unwichtigen zu trennen, bei ihm jeweils gegeben. Leitzmann erweckt aber bei all seinem Tun den Eindruck, dass Methodik für ihn nur als Hodegetik zählte und sonst nicht reflektiert zu werden lohnte. Ein bisschen vergleichbar der beinahe geheimnistuerischen Weise, in der Lachmann seine Entscheidungen unbegründet ließ – ‚der Kluge wird sie schon verstehen, und nur für diesen allein arbeite ich‘ –, blieb Leitzmann uns an entscheidenden Stellen seiner Arbeit eine reflektierte Begründung seiner Verfahren (nicht der einzelnen Entscheidungen!) generell schuldig – so im Fall der großen mittelhochdeutschen
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Editionen, so bei den Datierungen zu Lichtenbergs Sudelbüchern, so bei der Modernisierung und Abkürzungsbehandlung neugermanistischer Werk- und vor allem Briefeditionen. Die wilde Sammelleidenschaft Jakob Grimms, wie Karl Müllenhoff sie kritisiert hat, stand ihm näher als die methodisch strikter durchdachten Konzepte eines Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff oder der zuständigen germanistischen Kommission der Berliner Akademie der Wissenschaften unter der Leitung Erich Schmidts und nachher Gustav Roethes und Konrad Burdachs. Schon gar über die Grundprobleme der Hermeneutik, zu seinen Lebzeiten intensiv durch Wilhelm Dilthey und dessen Anhänger bereits diskutiert und gelöst, hat er anscheinend nicht einmal nachgedacht, begnügte sich vielmehr (im Verlauf seines Lebens zunehmend) mit Schleiermachers ‚grammatischer Kritik‘ – und polemisierte seltsam vage gegen die Kollegen.66 Man muss ihn hierin für beinahe ebenso kurzsichtig halten, wie er es in politischer Hinsicht offenkundig war – das letztere Defizit teilte er freilich mit den meisten seiner Generation. Aber allein angesichts der gewaltigen Mengen der von ihm edierten Texte schmälert das alles seine Lebensleistung als Forscher gar nicht. Wie viel freier und unvoreingenommener er als Historiker denn doch gewesen ist, offenbart sich an mehr als einer Stelle seines Werks.67 So sind denn am Ende aber einige seiner wichtigsten Arbeiten gerade nicht für die Ewigkeit geblieben, sondern mussten erneuert werden – freilich weil neue Einsichten hinzukamen und andere darauf weiterbauten. Indes: Was ließe sich Erfreulicheres von unserer Arbeit sagen?
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Joost 2001 (Anm. 1), S. 75 f. Ich nenne hier neben der Ehrenrettung des zu seiner Zeit als vaterlandslosen Gesellen geschmähten Georg Forster beispielhaft seine Auseinandersetzung mit Konrad Burdach und Edward Schröder, nur im Briefwechsel dokumentiert, als der Letztere ihn dazu zwingen wollte, bestimmte Informationen über die Anstellung der Brüder Grimm in Berlin zu unterdrücken. Vgl. auch Haustein 2009 (Anm. 1), S. 249 f., Anm. 13.
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Anhang: Übersicht über den Nachlass Theodor Karl Albert Leitzmann (Universitätsbibliothek Jena, Handschriftenabteilung) *3. 8. 1867 Magdeburg; † 16. 4. 1950 Jena Zeugnisse aus A. Leitzmanns Schülerzeit (1883–1884) in Magdeburg (u. a. Lebenslauf bis zum Schulabschluss) Urkunden für A. L. (z. B. Reifezeugnis, Doktordiplom etc.) Vorlesungen: Ausarbeitungen (1. Von der Urzeit bis zum Ende der Merowinger 2. Die Merowinger und die ersten Karolinger 3. Karl der Große 4. Ludwig der Fromme 5. Die sächsischen Könige) Vorlesungen: Ausarbeitungen ,Das Gotische und die Goten‘ Dienstliche Korrespondenz Teilnehmerlisten aus Vorlesungen und Übungen Gesellige Veranstaltungen mit dichterischen Beiträgen (heiter) im Deutschen Seminar zu Jena Honorarabrechungen Leitzmanns über s. Vorlesungen 1891–1921 und mit Verlegern Quittungen über erhaltene Zuwendungen seitens der Universität Tagebücher von A. L. 1) 1881; 2) 1882 Tagebücher von A. L. 1) 1882–1884 2) 1884–1885 3) 1885–1886 4) 1886–1886 5) 1886–1887 6) 1887–1888 7) 1888–1889 8) 1889–1891 9) 1891–1891 10) 1891–1892 10a) 1892 11) 1893–1893 12) 1897–1897 13) 1902–1902 14) 1898–1899 15) 1898–1899 16) 1899–1899 17) 1909–1909 18) o. J. Reisetagebücher von A. L. 1) 1911–1931 Italien, Frankreich, Schweiz, Österreich
I, 1 I, 2 I, 3a
I, 3b I, 4a–c I, 5a; I, 5b I, 6 I, 7 I, 8 IIa, 1–2 IIb, 1–18
IIc, 1–3
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Albert Leitzmann 2) 1932–1936 Italien 3) 1938–1941 Italien Universitätszeugnisse für Prof. Dr. Carl Hermann Leitzmann (L.s Vater) Briefe von Elisabeth Leitzmann, geb. Naumann (L.s Mutter, Heirat 1859) Verschiedene Urkunden, Vorfahren der Familie Leitzmann betreffend Eigenes Schriftenverzeichnis/Bibliographie A. L.s (1887–1949) Manuskripte zu Abhandlungen I.1. Ein Hartmannzitat in niederdeutscher Dichtung II.2. Zu Arnolds Juliane Zeitungsaufsätze von A. L. Rezensionen von A. L. Wilhelm von Humboldt, Briefe (Abschriften und Originale) Materialien zu Wilhelm und Alexander von Humboldt Briefe von Therese Huber (1783–1787) Briefe von Carl Lachmann (Abschriften) Briefe von Zimmermann und Schlosser an Herder (Abschriften) Materialien betreffend Paul Heyse („Unser Besuch“, Briefautograph, Postkarte, Visitenkarte Paul Heyses) Materialien zu Wolfram von Eschenbach Materialien zu Wilhelm Heinse Materialien zu Georg Forster Korrespondenz betreffend Georg Forster (Grabschrift und 1 Brief Chr. G. Heynes an G. C. Lichtenberg jr. vom 4. März 1822) Materialien zu Karl Ludwig Knebel (Briefe) (Abschriften) Materialien zu Schiller Materialien zu Goethe Briefe von Ludwig Ferdinand Huber an Göschen, Kotzebue, Voß etc. (Abschriften) Materialien zu Jakob Grimm und Briefwechsel mit Wilhelm Grimm (Abschriften) Arbeiten zu Friedrich II. (a: „Sanssouci“ – b: „Friedrich (II.) Verhältnis zur Literatur“) Materialien zu Joseph Haydn Materialien zu Ludwig van Beethoven Materialien zum Althochdeutschen und zum 12. Jh. Materialien zur mhd. Lyrik und Epik (z. B. zum Nibelungenlied) Materialien zum Mittelniederdeutschen Materialien zur Literatur des 16. und 17. Jhs. (z. B. zu Luther) Materialien zum 18. Jh. Materialien zur Romantik Materialien zum 19. Jh. Lexikalische Sammlung zum Neuhochdeutschen (Klopstock bis auf unsere Zeit, begonnen 1884) Materialien zur „Geschichte der germanischen Philologie, Gramma-
III, 1 III, 4a–b III, 8 IV, 1a–b IV, 2
IV, 3 IV, 4 V, 1 V, 2 V, 3 V, 4 V, 5 V, 6 V, 7 V, 8a V, 9a V, 9b V, 10 V, 11 V, 12 V, 13 V, 14 V, 15 V, 16 V, 17 VI, 1 VI, 2 VI, 3 VI, 4 VI, 5 VI, 6 VI, 7 VI, 8 VI, 9
152 tik, Metrik, Altertümer“ Materialien zu Philosophie, Sprachwissenschaft, klassischen Sprachen, Romanisch, Keltisch 15 Notizhefte zu Goethe, Schiller, den Grimms etc. Briefe an A. L. 1875–1912 (A–H) Briefe an A. L. 1875–1912 (H–R) Briefe an A. L. 1875–1912 (S–Z) Briefe an A. L. 1887–1911 (A–H) Briefe an A. L. 1887–1911 (H–Z) Briefe an A. L. 1912–1950 Briefe vom Vater an den Sohn A. L. 1872–1894 Briefe des Bruders Hermann an A. L. 1879–1923 Briefe A. L.s an den Vater 1886–1893 Glückwünsche zur Verlobung A. L.s mit Else, geb. Altwasser (30. 3. 1890) Briefe von Else, geb. Altwasser an A. L. (1889–1942) Mhd. Handschriftentexte: Fotokopien u. a. „Erec“, „Philomuti Musae juveniles“ Philipp Wegener: Goethes Prometheus, Entlassung der Abiturienten etc. Allgemeine Sprachphilosophie (hs.) Inauguraldissertation von [Erna Rindtorff?, Halle 1921/1922] A. L. gewidmet: Das Ehepaar Wilhelm von Humboldt und die bildende Kunst C. A. H. Burkhardt: Repertorium zu Christoph Martin Wielands deutschem Merkur (u. a. Gedichtanfänge u. -überschriften, Mitarbeiter) Kleinere Veröffentlichungen verschiedener Autoren, A. L. gewidmet Zeitungsaufsätze von Fachkollegen A. L.s Zeitungsaufsätze und Rezensionen zu germanistischen, besonders literarischen Themen von verschiedenen Verfassern Predigtmanuskript aus der Mitte des 19. Jhs. (Verfasser unbekannt) Drei große Postkarten-Alben mit Damenbildnissen
Ulrich Joost
VI, 10 VI, 12 VII, 1a VII, 1b VII, 1c VII, 2a VII, 2b VII, 3–e VII, 8 VII, 9 VII, 11 VII, 14a–d VII, 13a–13l VIII, 1 VIII, 2 VIII, 3
VIII, 4 VIII, 5a–b VIII, 5c VIII, 5d VIII, 6 VIII, 7a–c
Luigi Reitani
Die Entdeckung der Poesie Norbert von Hellingraths bahnbrechende Edition der Werke Hölderlins
Kaum einer anderen historisch-kritischen Ausgabe lässt sich die Wirkung zuschreiben, die die Edition der Sämtlichen Werke Hölderlins durch Norbert von Hellingrath für sich verbuchen konnte.1 Als im Juni 1914 in einer limitierten Auflage von nur hundert Exemplaren der vierte Band mit den Gedichten aus den Jahren 1800–1806 erschien – wohlgemerkt noch ohne das Vorwort und den wissenschaftlichen Apparat des Herausgebers –, sprach die gelehrte und literarische Welt Deutschlands von einem Wunder.2 Denn was hier zutage kam, das war das unbekannte Werk eines Dichters, der aus der historischen Ferne den geheimen Nerv der Zeit traf. Mit erstaunlicher Wahlverwandtschaft schien Hölderlin seine posthumen Leser anzusprechen. Eine seelische Disposition konnte man da finden, die der geistigen Situation vor dem Ersten Weltkrieg ähnelte. Nüchternheit des Ausdrucks und Pathos der Inhalte, Bruchstückhaftigkeit der Form und Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie – dies war wohl jene Tendenz, die die deutsche Literatur als ihre eigene erkannte.3 Die bis ____________ 1
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Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebass hrsg. von Norbert von Hellingrath. 6 Bde. München, Leipzig 1913–1923 (zit. als Hellingrath). Der Band trug den Vermerk: „Als Sonderdruck aus dem vierten Bande – bis zu dessen Erscheinen nur vertraulich mitgeteilt – der Hölderlinausgabe des Verlags Georg Müller für den Herausgeber hergestellt bei Mänike und Jahn in Rudolstadt im Frühjahr MCMXIV.“ In der Liste der Empfänger sind u. a. Stefan George (an erster Stelle!), Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler, Ludwig Klages, Georg Simmel, Heinrich Wölfflin und Stefan Zweig vermerkt. So hatte z. B. Stefan Zweig die Notwendigkeit eines „neuen Pathos“ in der Lyrik betont, welches jeglichen postromantischen Sentimentalismus strikt abzulehnen hatte: „Nicht sensitiv und wehleidig darf dieses Gedicht sein, nicht ein persönliches Leid ausdrücken, damit ein anderer sich darin einfühle, sondern beseelt von Freude und Überschwang, von dem Willen aus Freude wieder Schwung und Leidenschaft erzeugen [...]. Das neue Pathos muß den Willen nicht zu einer seelischen Vibration, zu einem feinen ästhetischen Wohlgefühl enthalten, sondern zu einer Tat. [...] Gedichte von solchem neuen Pathos können nicht schwache, passive Menschen schaffen, deren Stimmung von der Umwelt in jeder Minute gewandelt wird, sondern nur Kampfnaturen, die beherrscht sind von einer Idee, vom Gedanken einer Pflicht, die ihre Empfindung aufzwingen wollen, ihre Begeisterung zur Begeisterung der ganzen Welt erheben.“ Das neue Pathos. In: Das Literarische Echo 11, 1908/09, 24, Sp. 1704. Nachgedruckt in: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur. 1910–1920. Expressionismus. Hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. Stuttgart 1982, S. 577.
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dato vernachlässigten Verse Hölderlins ließen die dichterischen Herzen höher schlagen. „Ich kann Ihnen nicht sagen“, schrieb Rainer Maria Rilke an Norbert von Hellingrath, „wie sehr das Wesen dieser Gedichte mir einwirkt und unsäglich kenntlich vor mir steht. Wie die unbeschreiblichen Züge ein menschliches Gesicht bilden, so ergiebt jedes dieser Gedichte, aus untrüglichen Theilen und Verhältnissen, das reine Antlitz, die Stirn den Mund, seines inneren Zustandes“.4 Der Einfluss einer spezifischen Hölderlin’schen Diktion auf Rilke lässt sich dann bis zu den Duineser Elegien verfolgen.5 Hatte Hölderlin schon Anfang des Jahrhunderts durch Diltheys berühmtes Buch Das Erlebnis und die Dichtung und durch Wilhelm Böhms Werkausgabe (1905) eine neue Phase der Rezeption erfahren, so wird er aber erst mit dem epochalen Unterfangen Hellingraths weltberühmt.6 Mit dieser Arbeit setzt zum ersten Mal eine intensive internationale Rezeption ein. Lange Zeit und sogar noch nach dem Erscheinen der Stuttgarter Ausgabe wird die Edition Hellingraths als Vorlage für Übersetzungen dienen.7 Sein hermeneutischer Ansatz wirkte entscheidend auf so unterschiedliche Interpreten wie Walter Benjamin oder Martin Heidegger.8 Angefangen hatte diese Arbeit bereits in der Studienzeit. Der 1888 geborene Sprössling einer katholischen bayerischen Adelsfamilie hatte bei einem Seminar des Literaturhistorikers Friedrich von der Leyen9 (1873–1966) am 13. Juli ____________ 4 5
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Rainer Maria Rilke, Norbert von Hellingrath: Briefe und Dokumente. Hrsg. von Klaus E. Bohnenkamp. Göttingen 2008, S. 103. Welche bedeutende Rolle der Gedankenaustausch mit Hellingrath und die Beschäftigung mit dessen Hölderlin-Edition für die geistige Entwicklung Rilkes gespielt haben, wird von Bohnenkamp in seinem umfangreichen Kommentar (siehe Anm. 4) eindrucksvoll dokumentiert. Vgl. auch Werner Günther: Rilke und Hölderlin. In: Hölderlin-Jahrbuch 5, 1951, S. 121–157. Zu diesem entscheidenden Paradigmenwechsel vgl. Henning Bothe: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“ Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stuttgart 1992. Dazu die Anmerkungen von Paul Hoffmann: Hellingraths „dichterische“ Rezeption Hölderlins. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandaufnahme. Hrsg. von Gerhard Kurz, Valérie Lawitschka, Jürgen Wertheimer. Tübingen 1995, S. 74–104. Einen Überblick über die Rezeption Hölderlins im Rahmen der Ideengeschichte des letzten Jahrhunderts bietet im selben Band der Beitrag von Jochen Schmidt: Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und Edition, S. 105–125. Vgl. ferner den noch immer lesbaren Band von Alessandro Pellegrini: Hölderlin. Storia della critica. Firenze 1956. Ergänzte deutsche Ausgabe unter dem Titel: Friedrich Hölderlin. Sein Bild in der Forschung. Berlin 1965. So z. B. für die zweisprachige Ausgabe, die 1958 Giorgio Vigolo in Italien herausgab. Vgl. Friedrich Hölderlin: Poesie. Tradotte da Giorgio Vigolo con un saggio introduttivo. Torino 1958. In seiner monumentalen Geschichte der deutschen Literatur äußerte der italienische Germanist Ladislao Mittner noch 1964 seine Bedenken gegenüber der Edition Beißners und bezeichnete die Ausgabe Hellingraths als „grundlegend und unersetzbar“. Vgl. Ladislao Mittner: Storia della letteratura tedesca. Dal pietismo al romanticismo (1700–1820). Torino 1964, S. 707, § 342, Anm. 1. Vgl. Heinrich Kaulen: Rationale Exegese und nationale Mythologie. Die Hölderlin-Rezeption zwischen 1870 und 1945. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113, 1994, S. 554–577, hier S. 568. Vgl. seine Erinnerungen in: Friedrich v. d.. Leyen: Norbert von Hellingrath und Hölderlins Wiederkehr. In: Hölderlin-Jahrbuch 11, 1958–60, S. 1–16.
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1909 ein Referat über Ödipus tyrannos in der Übersetzung Hölderlins gehalten.10 Die Spuren einer Lektüre des Dichters lassen sich jedoch schon früher durch die Tagebuchaufzeichnungen im Detail nachvollziehen. Diese Entdeckung verlief gleichzeitig zu der Begeisterung für George, dessen Siebenten Ring der junge Student der klassischen Philologie als echte Offenbarung aufnahm. So ist schwer festzustellen, ob es Professor von der Leyen war, der Hellingrath dazu animierte, über Hölderlin eine Dissertation zu verfassen, oder ob er vielleicht von den George-Lektüren dazu angeregt wurde oder gar vom Kreis um den Dichter. Eine entscheidende Rolle dürfte dabei der jüdische Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl gespielt haben, der später zwischen Hellingrath und George vermitteln wird.11 Jedenfalls ist mit George der wichtigste Name genannt, um den ästhetischen Horizont des zukünftigen Editors abzustecken.12 Ende Oktober 1909 reiste Hellingrath zum ersten Mal nach Stuttgart, um in der Landesbibliothek nach der Handschrift von Hölderlins Pindar-Übersetzung zu suchen. Die Existenz dieses Materials war zwar bekannt, niemand hatte sich aber konkret mit ihm beschäftigt. Hellingrath spürte das Außergewöhnliche seiner Recherche, ja den Umbruch, den sie darstellte. Denn es galt nicht, etwas zu entdecken, sondern einem schon bekannten, aber als wertlos betrachteten Objekt einen ästhetischen Sinn zu verleihen. Folgerichtig schrieb der damals 21-jährige Forscher an den Literaturwissenschaftler und Hölderlin-Herausgeber Wilhelm Böhm, der von „Hölderlinfunden“ gehört hatte, dass der Stuttgarter Nachlass „schliezlich nicht mehr ‚entdeckt‘ werden kann“.13 Vom Anfang an steht die philologische Arbeit Hellingraths im Zeichen einer poetischen Aufwertung. Und dies trennt ihn von der akademischen Philologie der Zeit. Der ambitionierte Student rückt die Übersetzung ins Zentrum seiner Interpreta____________ 10
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Vgl. Briefe aus Norbert von Hellingraths Nachlaß. Mitgeteilt von Ludwig von Pigenot. In: Hölderlin-Jahrbuch 13, 1963–64, S. 104–146, hier S. 110. Der erschlossene Nachlass Hellingraths befindet sich im Hölderlin-Archiv in Stuttgart. Vgl. Jochen Schmidt: Der Nachlaß Norbert von Hellingraths. In: Hölderlin-Jahrbuch 13, 1963–64, S. 147–150; Bruno Pieger: Unbekanntes aus dem Nachlaß Norbert von Hellingraths. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36, 1992, S. 3–38. Vgl. Bruno Pieger: Edition und Weltentwurf. Dokumente zur historisch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths. In: Werner Volke, Bruno Pieger, Nils Kahlefendt, Dieter Burdorf: Hölderlin entdecken. Lesarten 1826–1993. Tübingen 1993, S. 57–114, hier S. 61. George wird Hellingrath nach seinem Tod das Gedicht Norbert widmen. Die Nähe des jungen Philologen zum George-Kreis wird von Bothe 1992 (Anm. 6), S. 94–114, mit kritischen Akzenten betont. Differenzierter erscheinen hingegen die Darstellungen von Pieger 1993 (Anm. 11) und Heinrich Kaulen: Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888–1916). In: Hölderlin-Jahrbuch 27, 1990–1991, S. 182–209. Norbert von Hellingraths Briefwechsel mit Wilhelm Böhm. Mitgeteilt von Alfred Kelletat. In: Hölderlin-Jahrbuch 15, 1967–68, S. 277–303, hier S. 280. Vgl. auch Alfred Kelletat: Nachtrag zu Norbert von Hellingraths Briefwechsel mit Wilhelm Böhm. In: Hölderlin-Jahrbuch 16, 1969–70, S. 336–338.
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tion und widmet sich somit einem Gebiet, das traditionell als ästhetisch zweitrangig galt und erst durch Georges ‚Nachdichtungen‘ legitimiert wurde. Hellingrath reichte seine Dissertation über Hölderlins Pindarübertragungen im Juni 1910 ein. Sie trägt den Untertitel Prolegomena zu einer Erstausgabe und setzt sich also explizit mit editorischen Problemen auseinander. Schon im Februar desselben Jahres hatte Hellingrath erstmalig zwei Olympische und fünf Pythische Oden in Georges Blättern für die Kunst veröffentlicht. Ein Band mit dem gesamten Odenwerk, dem noch zwei Pindarfragmente beigefügt werden, wird noch im Herbst als Buchausgabe im Verlagshaus der Zeitschrift erscheinen. Ebenfalls im Jahr 1910 nahmen George und Wolfskehl das von Hellingrath frisch entzifferte Gedicht Wie wenn am Feiertage… in ihre Anthologie Das Jahrhundert Goethes auf. Hölderlin steht somit als Pate der neuen ästhetischen Stilrichtung, die der George-Kreis verfocht. Entscheidend ist dabei der Weg, den Hellingrath in seiner Arbeit als Philologe einschlägt. Er versucht nicht, Hölderlin zu einer ‚Norm‘ zu bringen, sondern das Besondere seiner Poesie mit den Werkzeugen der Philologie zu verstehen. D. h. zum Beispiel, dass der Herausgeber es strikt ablehnt, bei der Interpunktion einzugreifen. Vor allem aber werden die Verse neu gelesen, ohne den Verdacht zu erheben, der Dichter sei bei deren Niederschrift geisteskrank gewesen. Die Dunkelheit der Gedichte wird auf eine poetische Tradition zurückgeführt und nicht als pathologisches Symptom erklärt wie 1909 in Wilhelm Langes Buch Hölderlin: Eine Pathographie. Der Rekurs auf Pindar wirkt dabei grundlegend. Im ersten Teil seiner Dissertation, die 1911 in Buchform erscheinen wird,14 unterscheidet Hellingrath zwischen ‚glatter‘ und ‚harter‘ Fügung des lyrischen Stils und macht aus dieser rhetorischen Unterteilung ein poetologisches Prinzip. Hölderlins lyrische Texte werden dadurch dem romantischen Volkslied gegenübergestellt. Die philologische Arbeit gründet auf einem neuen ästhetischen Paradigma. Bei der ‚glatten‘ Fügung kommt es vor allem auf Bild und Melos an, das Wort spielt eine untergeordnete Rolle: Harte Fügung dagegen tut alles, das Wort selbst zu betonen und dem Hörer einzuprägen, es möglichst der gefühls- und bildhaften Assoziationen entkleidend, auf die es dort gerade ankam. Hier wird also in der Wortwahl, auch wo man keine besondere Dichtersprache hat, das Tägliche und Gewohnte, vornehmlich aber die hergebrachte Verbindung gemieden, das Schwere, Prangende und die vielsilbige Zusammensetzung gesucht, als welche von selbst Ton und Sinn auf sich lenken. Dabei wird das Wort häufig in der Grundbedeutung gebraucht, statt wie sonst in einer ab____________ 14
Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911. In normalisierter Orthographie und Interpunktion nachgedruckt in: Norbert von Hellingrath: Hölderlin-Vermächtnis. Eingeleitet von Ludwig von Pigenot. 2. verm. Aufl. München 1944, S. 19–95.
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geleiteten. Umgekehrt aber wirkt, auch wo es der logische Zusammenhang nicht verlangt, von einem neuen Wort nur das Etymon, weil eben durch die ganze Umgebung der Sinn des Hörers darauf gerichtet ist. Im Syntaktischen derselbe Gegensatz: dort das Einfachste und Schmiegsamste, hier erstaunlichere Satzgefüge: Anakoluthe, bald prädikatlos hingestellte Worte, in deren Kürze ein Satz zusammengedrängt ist, bald weitgespannte Perioden, die zwei-, dreimal neu einsetzen und dann noch überraschend abbrechen: nur niemals die widerstandslose Folge des logischen Zusammenhangs, stets voll jähen Wechsels in der Konstruktion und im Widerstreit mit den Perioden der Metrik.15
Der auf diese Weise postulierte stilistische und poetologische Gegensatz wird bei Hellingrath zum Schlüssel für das Verständnis der Texte Hölderlins. Es entsteht ein hermeneutisches Modell, das sich als äußerst fruchtbar erweist und mindestens bis zu Adornos berühmtem Aufsatz Parataxe entscheidend zu einer neuen Rezeption des Dichters beiträgt. Aufgabe der Philologen war es nun, der bis dato übersehenen Stilrichtung der ‚harten Fügung‘ gerecht zu werden. Friedrich Gundolf, der schon die Veröffentlichung der Pindarübertragungen in den Blättern für die Kunst betreut hatte, reagierte auf die Zusendung der Dissertation Hellingraths begeistert und erkannte darin seine eigene Position. In einem Brief an den Autor schrieb er: Ausscheidung der zufälligkeiten, der bloßen sachen aus dem bereich der geistesgeschichte: das gilt auch hier.. Die Philologen sollen sich nicht mehr mit der bloßen zusammenstellung und deskription von isolierten grammatikalien und realien begnügen dürfen, die aesthetiker nimmer mit einer abtastung der formen, die philosophen nimmer mit einer ausdeutung des ideengehalts einer dichtung; alle drei mit gegenseitigen Competenzenkonflikten.. Vielmehr wissen wir, und Sie haben es gut bewährt, daß das Konkrete das symbol des geistigen, der buchstabe leib des geistes ist, und man braucht nicht mehr zu stöhnen über „philologischen kleinkram“, und den Bequemen, Aestheten, und Phantasten keine fliegenden willkürlichen Construktionen und Gewölke und Rhapsodieen mehr zu gestatten.16
Gundolf fasste damit das Neue von Hellingraths Verfahren exakt zusammen. Sein Ansatz befreite die Philologie von dem alten Positivismus und machte sie für die neuen geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts bereit. Es versteht sich, dass eine solche methodologische Annäherung an ein Werk, das noch immer unter dem Verdacht des Wahnsinns stand, nicht den akademischen Maßstäben entsprechen konnte. Das Gutachten zu Hellingraths Dissertation, das der berühmte Germanist Hermann Paul verfasste, ist in dieser Hinsicht einleuchtend und es lohnt sich, es per extenso zu zitieren: ____________ 15 16
Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 28 f. Briefe aus Hellingraths Nachlaß 1963–64 (Anm. 10), S. 116.
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Die Wahl des Themas ist kaum eine glückliche zu nennen. Sie wird es um so weniger durch den Standpunkt, den der Verf. den Übersetzungen Hölderlins gegenüber einnimmt. Es ist gewiß ein Irrtum, wenn er meint, daß dieselben zu wirklichem Leben erweckt werden könnten. Sie sind unverständlich und ungenießbar und könnten höchstens für Einzelheiten von einem neuen Übersetzter genutzt werden. Wer über sie handeln wird, sollte ihre Entstehung als etwas Geschichtliches rein objektiv zu begreifen suchen. Solche Objektivität fehlt dem Verf. Herr Kollege Muncker hat den gekünstelten Stil getadelt, der offenbar durch eine der jüngsten Richtung[en] der Lyrik beeinflusst wird. Dieser Einfluß beherrscht auch die ganzen Anschauungen des Verf. Er liebt es, sich in hochtönenden Worten zu berauschen, hinter denen keine klaren Gedanken verborgen liegen. Er bewegt sich deshalb auch zu sehr in Allgemeinheiten. Es fehlt an exakter philologischer Beobachtung. Nur mit einigem Widerstreben kann ich mich noch für Zulassung aussprechen.17
Paul vertritt eine Position, die jener Gundolfs diametral entgegensteht. Das ‚Unverständliche‘ der Hölderlin-Übersetzungen soll objektiviert, d. h. nach einer postulierten Norm beschrieben werden, die das Defizit der sprachlichen Form hervorzuheben hat. Höchstens könnte eine solche Arbeit einen literaturgeschichtlichen Sinn haben. Der Philologe ist hier ein Zensor, der die Unzulänglichkeit einer literarischen Unternehmung feststellt und sie historisch begründet. Hellingrath und Gundolf wollen hingegen das als unverständlich abgestempelte Werk durch philologische Arbeit als ästhetisches Produkt wahrnehmen.18 Schon 1912 beginnt Hellingrath, gemeinsam mit dem Essayisten und Schriftsteller Wilhelm Michel (1877–1942), den Plan einer kritischen Hölderlin-Ausgabe zu entwerfen. Michel hatte 1911 sein erstes Hölderlin-Buch19 veröffentlicht und den Kontakt mit Hellingrath gesucht.20 Es ist bezeichnend, dass auch in diesem Fall das Interesse von einem Literaten und nicht von einem Literaturwissenschaftler ausging. Aber nicht Michel, den Hellingrath schließlich für unzuverlässig hält, sondern der bei Friedrich von der Leyen studierende Friedrich Seebaß (1887–1963) wird als Mitherausgeber gewonnen. Es wird hauptsächlich das Verdienst dieses soliden Philologen, dass die Arbeit an der Edition zügig voranging. Aus dem Briefwechsel kann man herauslesen, wie Hellingrath, der in Paris als Lektor an der Ecole Normale arbeitete, Seebaß ____________ 17 18
19 20
Zit. nach Kaulen 1990–1991 (Anm. 12), S. 208. In einem Brief an Karl Wolfskehl vom 30. 7. 1910 berichtet Hellingrath ganz nüchtern über den Streit über seine Arbeit: „Meine Promotion ist glücklich zu stande gebracht wenn auch nicht ganz ohne hindernisse . Paul nemlich erklärte Hölderlins Pindar sei nichts weiter als blosze verrücktheit / meine arbeit also / die ihn für schön ausgebe / ganz verfehlt. er für seine person hätte sie abgewisen.“ Pieger 1992 (Anm. 10), S. 14. Wilhelm Michel: Friedrich Hölderlin. München 1911. „Die Lektüre Ihrer Prolegomena zu der Pindarübertragung gibt mir den herzlichen Wunsch ein, es möchte mein Versuch von Ihnen als dem Einzigen echten und zulänglichen Freunde des Dichters gelesen werden.“ Briefe aus Norbert von Hellingraths Nachlaß (Anm. 10), S. 118.
Norbert von Hellingrath
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auftrug, in Bibliotheken Vorarbeiten zu leisten, die für seine Edition wesentlich werden. Dabei ist insbesondere interessant, dass Hellingrath keineswegs positivistische Recherchen ausschloss. Er ist im Gegenteil durchaus an der Rezeption Hölderlins interessiert und lässt Seebaß Almanache und Zeitschriften der Zeit durchsehen.21 1913 konnten zwei Bände der historisch-kritischen Ausgabe erscheinen: Der erste Band, besorgt durch Friedrich Seebaß, enthielt die Jugendgedichte Hölderlins und die Briefe aus den Jahren 1784–1794; der fünfte Band, besorgt durch Hellingrath, enthielt die Übersetzungen aus dem Griechischen und die Briefe aus den Jahren 1800–1806. Im Gegensatz zu Carl Litzmann, der 1890 die Briefe von und an Hölderlin als Ganzes mit einem umfangreichen Kommentar ediert und den Band als Friedrich Hölderlins Leben vorgestellt hatte,22 ordnet Hellingrath die Briefe chronologisch und gibt sie als Anhang zu den Schriften der jeweiligen Periode heraus. Der Akzent liegt eindeutig auf dem literarischen Werk, wobei das Leben eher als Projektion des künstlerischen Schaffens erscheint. Anders ausgedrückt: Was zählt, ist eine innere Entwicklung, ein geistiger Prozess, der sich nicht durch äußere Umstände erklären lässt. Die chronologische Einteilung, die Hellingrath für seine Ausgabe wählt, ist deshalb kein zeitliches Anordnungsprinzip. „Die gedichte n u r nach einer ungewissen zeitlichen reihenfolge durcheinanderzuwürfeln habe ich längst aufgegeben“, schreibt der Herausgeber an seine Frau Imma von Ehrenfels am 29. April 1913.23 Jeder Band soll eine gewisse Phase des Dichters zeigen, eine besondere Entwicklungsschicht, die sich auch in bestimmten Formen und Gattungen ausdrückt. Es entsteht darum eine neue Periodisierung des Werkes, die maßgeblich werden wird. Die verschiedenen Textsorten, deren sich Hölderlin bedient, werden als symbolische Konkretisierungen von geistigen Entwicklungsstufen betrachtet. Insofern folgt die Ausgabe Hellingraths weder einer Einteilung nach Gattungen noch dem Prinzip der reinen Chronologie: Bei einem Werk das in so gerader Linie und in so deutlich von einander sich abhebenden Schichten aufgebaut ist, schien die Anordnung nach der Zeitfolge geboten; oder wie ich lieber sagen möchte nach der Stufenfolge, nach der Gliederung des lebendigen planzenhaft aufwachsenden Ganzen, denn nach Woche und Tag lässt fast nichts sich einreihen und die Zahlen des Titelblattes wollen nur das Zeichen sein für die Schicht des Werks, deren Schwerpunkt in diese Jahre fällt.24 ____________ 21 22 23 24
Vgl. den Brief von Friedrich Seebaß an Norbert von Hellingrath vom 11. 12. 1911. In: Briefe aus Hellingraths Nachlaß 1963–64 (Anm. 10), S. 132. Carl C. T. Litzmann: Friedrich Hölderlins Leben. In Briefen von und an Hölderlin. Berlin 1890. Pieger 1993 (Anm. 11), S. 66. Hellingrath 1, S. XIII f. (= Hellingrath 1943, S. 103). Vgl. auch die Darlegung der Entwicklungslinien von Hölderlins Schaffen in der Dissertation: Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 48–50.
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Dies ist ein eindeutiger Bruch mit der Tradition neugermanistischer Editionswissenschaft, wie sie sich ab Karl Lachmann gebildet hatte. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich mit der historisch-kritischen Edition der Werke Hölderlins, die in denselben Jahren der Germanist Franz Zinkernagel25 initiiert hatte und die beim prestigereichen Insel-Verlag erschien: eine Ausgabe also, mit der das Unterfangen Hellingraths konkurrierte. Zinkernagel geht traditionell nach Textsorten vor und versucht, innerhalb jeder Gattung eine chronologische Entwicklung zu rekonstruieren, die auf Dokumenten gründete und die die Lebensumstände berücksichtigte.26 Freilich ist das Ziel, das Zinkernagel verfolgt, ein ganz anderes. Bei ihm geht es nicht darum, die als unverständlich geltenden Verse eines geisteskranken Dichters ästhetisch aufzuwerten, sondern das schon Anerkannte seines Werkes textkritisch zu prüfen und in einen historischen Kontext zu stellen. Deshalb beginnt auch Zinkernagel seine Ausgabe mit dem Roman Hyperion, über dessen Entstehungsgeschichte er schon seine Habilitationsschrift verfasst hatte. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der akademisch etablierte Philologe in einem langen, in der Zeitschrift Euphorion erschienen Verriss wütend über die ersten zwei Bände der konkurrierenden Edition äußerte. Bemerkenswert ist dabei, dass Zinkernagel eigentlich kaum die editorische Arbeit Hellingraths berücksichtigt. Abgesehen von einer milden Kritik an den orthographischen Entscheidungen, lässt der Rezensent die philologische Leistung des jungen Konkurrenten fast außer Acht. Weder werden bestimmte Lesarten in Frage gestellt, noch wird der wissenschaftliche Apparat ernsthaft besprochen. Vielmehr konzentriert sich Zinkernagel auf den Inhalt des Bandes, d. h. auf die Übersetzungen Hölderlins, die er – wie Paul – als Produkt eines Geisteskranken abstempelt. Nicht wie Hellingrath die Übertragungen Hölderlins ediert hat, sondern dass er sie überhaupt ediert hat, erregt bei ihm Anstoß.27 In einem Brief an Hellingrath, der schon an der Kriegsfront war, berichtete Seebaß am 30. Juni 1916 über diese Rezension: „Der Herr regt sich über zehn ____________ 25 26
27
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in fünf Bänden. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Franz Zinkernagel. Leipzig 1914–1926. Vgl. Dierk O. Hoffmann, Harald Zils: Hölderlin-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 199–245, insbes. S. 212–217. Franz Zinkernagel: Hölderlin, Sämtliche Werke. 5. Band: Übersetzungen und Briefe 1800– 1806. In: Euphorion 21, 1914, S. 356–363. Zum Abschluss der Hellingrath-Ausgabe verfasste Zinkernagel später eine Rezension voller persönlichen Ressentiments, in der er u. a. Ludwig von Pigenot, der als Nachfolger Hellingraths den 3. Band herausgegeben hatte, des Plagiats bezichtigte. Bezeichnenderweise kann Zinkernagel auch die Anordnung Hellingraths nicht verstehen und benennt sie als widersprüchlich und inkonsequent. Vgl. Euphorion 25, 1924, S. 274–287. Mit einer „Erwiderung“ von Ludwig von Pigenot, ebd., S. 710, und der „Antwort des Rezensenten“, ebd., S. 711 f.
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Seiten furchtbar auf wegen Ihres Stiles und bekommt einen Tobsuchtsanfall, als er auf den Namen Stefan George stößt“.28 Hellingrath reagierte auf die Kritik gelassen und betrachtete den inzwischen erschienenen ersten Band der Ausgabe Zinkernagels als einen Beweis, „wie nötig es ist diesen ‚Hölderlinpächter‘ nicht allein wirtschaften zu lassen“. 29 Entscheidend für das Projekt Hellingraths war aber der Band 4 seiner Ausgabe,30 der die Gedichte Hölderlins aus den Jahren 1800–1806 enthielt und zum ersten Mal fast 1500 Verse des Dichters edierte, die somit vom Verdacht des Irrsinns befreit wurden. Unter anderem wurden Hymnen wie Der Mutter Erde oder Am Quell der Donau zugänglich gemacht. Als dieser Band 1917 (auf dem Titelblatt steht allerdings das Jahr 1916) endlich erschien, war der Herausgeber schon tot, achtundzwanzigjähriges Opfer jenes Kriegs, den er, wie viele andere, mit Beigeisterung begrüßt hatte.31 In der kurz vor dem Ausbruch des Konflikts verfassten Vorrede sind auch nationalistische Akzente unleugbar, die später für die Hölderlin-Rezeption maßgebend wurden.32 Hellingraths Hauptanliegen war es jedoch, die späten Gedichte Hölderlins zu legitimieren, ja sie in den Kanon der Weltliteratur einzufügen: „Dieser Band“, so der berühmte Anfang der Vorrede, „enthält Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes, das eigentliche Vermächtnis“.33 Impliziert ist dabei die Vorstellung des Editors als testamentarischen Vollstreckers des Autors. Die Philologie wird hier zur Mission. Unterteilt werden die Gedichte in sechs Gruppen, die ästhetischen und nicht formalen Kriterien entsprechen: Epigramme, Im engern Sinne lyri s ch e Gedichte, Elegien, Hymnen in antiken Strophen, Hymnen in freien Strophen, Bruchstücke und Entwürfe. So wird das in Hexametern verfasste Gedicht Der Archipelagus als Elegie rubriziert, während die Gruppe Hymnen in antiken Strophen ausschließlich Oden enthält, die aber von anderen in derselben Metrik geschriebenen Texten getrennt sind, da diese als lyrische Gedichte aufgefasst werden.34 Eine solche Einteilung lässt die Chronologie völlig außer Acht. Hälfte des Lebens steht z. B. vor Menons Klagen um Diotima. ____________ 28 29 30 31
32 33 34
Briefe aus Hellingraths Nachlaß 1963–64 (Anm. 10), S. 143. Briefe aus Hellingraths Nachlaß 1963–64 (Anm. 10), S. 144. Wie der Nachlass zeigt, trug zur Bearbeitung des Bandes auch Imma von Ehrenfels teil. Vgl. Pieger 1992 (Anm. 10), S. 5. In den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen von der Front fehlt jedoch jede Spur von Kriegsrhetorik. Auch wenn sie keine eindeutigen kritischen Töne enthalten, sind diese Schriften eher von einer diffusen Melancholie geprägt. Vgl. Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 253–262. So auch in dem Vortrag Hölderlin und die Deutschen, den Hellingrath 1915 hielt. In: Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 119–150. Vgl. dazu Bothe (Anm. 6), S. 107–114. Hellingrath 4, S. XI = Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 104. Zu dieser problematischen Einteilung vgl. Dieter Burdorf: Hölderlins späte Gedichtfragmente: „Unendlicher Deutung voll“. Stuttgart, Weimar 1993, S. 55.
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Als Vorlage für die Edition gelten die Handschriften, während gegenüber den Erstdrucken ein prinzipielles Misstrauen gehegt wird.35 Systematisch entscheidet sich Hellingrath für die handschriftliche Lesart, auch wenn sie nicht die Druckvorlage ist und zu einer früheren Entwicklungsstufe gehört.36 Daraus entwickelt sich eine konsequente Emendationspraxis, die eigentlich auf Konjekturen basiert. Besonders in der Interpunktion beabsichtigt Hellingrath, den Handschriften zu folgen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich seine Ausgabe richtungweisend von den früheren, die massiv den Text mit einer der Norm entsprechenden und interpretierenden Zeichensetzung ediert hatten. Wo aber der Text nur als Druck überliefert ist, greift Hellingrath auch in die Interpunktion ein.37 Ähnliches gilt für die Orthographie, die die „echte“ Schreibweise Hölderlins wiedergeben will, auch wenn keine handschriftliche Vorlage existiert. Neben den Anordnungskriterien ist für diese Ausgabe der textkritische Apparat signifikant und für die Geschichte der Philologie wegweisend: Der Leser möge den Anhang nicht als unbetretbares Heiligtum der Gelehrsamkeit ansehn, sondern sich die Mühe nicht verdriessen lassen, ein wenig darin zu blättern: der Einblick ins Entstehen der Gedichte wird [...] das Begreifen des Inhalts erleichtern und kaum eine dunkle Stelle übrig lassen.38
Statt die Gedichte sachlich zu erläutern,39 bezieht sich Hellingrath in der Tat fast immer nur auf die Varianten und auf die Entstehungsgeschichte, ohne jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, denn seine Wiedergabe des Materials bleibt selektiv. Der Apparat ist diskursiv verfasst und bietet neben einer Beschreibung der Handschriften und der Lesarten (allerdings ohne dass ein klares systematisches Verfahren spürbar wird) auch Auslegungen, die vom textkritischen Teil nicht deutlich getrennt sind.40 Abweichungen von früheren Lesarten werden häufig mit stilistischen und ästhetischen Erwägungen ____________ 35
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37
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40
Diese Entscheidung, die für die spätere Hölderlin-Philologie maßgebend und nicht ohne problematische Folgen sein wird, wird schon von Zinkernagel in seiner Rezension kritisch bewertet. Vgl. Euphorion 25 (Anm. 27), S. 280–282. „Endlich habe ich in der Erwägung, dass kein Druck von Hölderlin beaufsichtigt, keiner genaue Wiedergabe der Vorlage ist, für den Text wo irgend möglich mich an Handschriften gehalten.“ Hellingrath 4, S. 270. So setzt z. B. Hellingrath – wenn auch mit einigen Zweifeln – ein Komma nach „unmündig“ im Vers 5 des Gedichtes Der Winkel von Hahrdt (Hellingrath, 4, S. 73 und 312). Diese Zeichensetzung wird in den folgenden Ausgaben ein vieldiskutiertes interpretatorisches Problem. Hellingrath 1, S. XIII f. = Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 103. „Nur schwer, und erst als ich sah dass auch Hölderlin vertrauten Einsichtigen nützlich schien, habe ich mich entschlossen manchmal wirklich den Inhalt erklärende Anmerkungen beizufügen“. Hellingrath, 4, S. XXI = Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 112. Bothe 1992 (Anm. 6), S. 104, bezeichnet den Apparat kritisch als „Amalgam aus Nachdichtung, Paraphrase und begrifflichen Erläuterungen“.
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kommentiert. In den Anmerkungen zum Gedicht Ganymed liest man z. B. über die Änderung der syntaktischen Konstruktion: „die minder gebräuchliche Stellung nötigt uns dort und da viel sinnlicher aufzufassen als früher in gewohnter Folge“.41 Auch editorische Entscheidungen – vor allem in der Anordnung der Texte – werden durch ästhetische Kriterien begründet.42 Prinzipiell gibt Hellingrath mehrere Fassungen desselben Gedichts wieder. Er weigert sich aber oft, aus späten Überarbeitungen eines Gedichts einen neuen Text zu konstituieren. Dies ist z. B. der Fall bei Brod und Wein.43 Auch wenn Hellingrath den sogenannten ‚späten‘ Hölderlin anerkennt, so gibt es auch für seine Ausgabe eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Werden die Hymnen und Bruchstücke aus der Zeit 1800–1806 als letzte und bedeutendste Phase des Dichters aufgewertet, die der Herausgeber als ‚Barockstufe‘ bezeichnet, so fällt, was danach kommt, in eine posthume Zeit. Daher unterscheidet Hellingrath zwischen dem ‚späten‘ und dem ‚spätesten‘ Hölderlin – eine fragwürdige Periodisierung, die aber lange in der Forschung wirken und noch von Beißner beibehalten werden wird. Insofern ist Hellingrath an den sogenannten ‚Turmgedichten‘ nicht interessiert und betrachtet die Varianten im Homburger Folioheft skeptisch. Seine Edition folgt explizit einem genetischen Modell, das die Arbeit am Text als fließenden ‚Reifungsprozess‘ betrachtet.44 Spätere Änderungen an einer vermeintlichen „letzten Gestalt“, die als endgültiges Reifeprodukt geschätzt wird, werden jedoch als „Entstellung“ dargestellt: Was die Anordnung, besonders die Wahl der jeweils in den Text aufzunehmenden Lesart betrifft, galt mir als Grundsatz: der Text müsse möglichst rund und übersichtlich das zu Ende reifende Werk des Dichters darstellen. [...] jede der fünf Abteilungen des Bandes soll eine klare Entwicklungsreihe bilden. Demgemäss auch wurden, wo es geboten schien, aus dem fliessenden Übergang des Gedichtes von seinem ersten Keim zur letzten Gestalt (oder Entstellung) einzelne möglichst verschiedene Zustände als mehrfache Fassungen herausgegeben. Eine gewisse Willkür bedeutet die Scheidung in Text und Anhang immer: beide zusammen umfassen die ganze Lesartenmasse und dabei hat der Text das Bezeichnendste zu enthalten.45 ____________ 41 42
43 44
45
Hellingrath, 4, S. 309. So z. B. über die Zeilen „Reif sind, in Feuer getaucht…“ (die nach Beißner als erste Strophe von Mnemosyne gelten): „Wegen seiner engen Verwandtschaft mit dem folgenden habe ich dieses Gedicht in die Reihe der Lieder des Taschenbuches eingeschoben“ (Hellingrath, 4, S. 310). Vgl. Hellingrath, 4, S. 326. Es ist insofern nicht abwegig, Hellingrath als den Initiator einer Tendenz anzusehen, welche die Texte Hölderlins durch ihre genetische Entwicklung verstehen will, eine Tendenz, die sich in den Editionen Beißners und Sattlers fortsetzt. Vgl. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963, S. 121–125; Kaulen 1990–91 (Anm. 12), S. 201. Hellingrath, 4, S. 269 f.
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Was ich dem sechsten Bande zugewiesen habe ist nicht mehr die gerade folgerichtige – meinetwegen bis zum Wahnsinn folgerichtige – Fortführung des anfänglich eingeschlagenen Weges, sondern es ist ein Riss dazwischen; es sind nicht mehr Werke des klar weiterstrebenden – meinetwegen verirrten – künstlerischen Willens, Geschöpfe einer Anstrengung und Spannung, es ist ein entspanntes willenloses Gleitenlassen; es gehört nicht mehr in das feste Gefüge des Schicht auf Schicht sich türmenden Gesamtschaffens, sondern es ist, nicht nur weil das meiste davon verloren ging, ein zielloses sich geben an dies und jenes, ein zweckloses Entwürfe aufgreifen und sinken lassen; es ist das Fortspielen des Wohllauts dieser Seele; die erreichte Höhe ihrer Ausdrucksfähigkeit leiht ihm unnachahmliche Würde, aber es ist nicht mehr die verantwortliche gotthingegebene schöpferische Arbeit Hölderlins.46
Dabei werden die Aporien deutlich, die das Hölderlin-Bild Hellingraths prägen: Einerseits befreit der Herausgeber durch eine neue Art der ästhetischen Wahrnehmung den Dichter vom Verdacht, im verwirrten Zustand unverständliche Verse geschrieben zu haben; andererseits jedoch hängen seine philologischen Entscheidungen von einem ästhetischen Modell ab, welches die Wiedergabe von nicht für signifikant gehaltenen Textkonstellationen verhindert.47 Als adäquate Darstellungsweise der handschriftlichen Konvolute wird ein genetisches Modell angewandt, das aber von vorneherein auf Vollständigkeit und Systematik verzichtet und letzten Endes nur auf dem ästhetischen Geschmack des Herausgebers gründet.48 Er gibt sich als testamentarischer Vollstrecker eines von seiner Zeit missachteten Autors aus, wobei seine philologische Arbeit eigentlich einen präzisen hermeneutischen Zugang voraussetzt. Das vermeintlich objektive Anordnungsprinzip der Texte und die darin enthaltene Periodisierung entsprechen einer theoretischen Auffassung, welche Leben und Werk des Dichters nicht voneinander trennt und das Leben nicht als positivistische Vorbedingung des Werkes, sondern als dessen geistige Entwicklung versteht. Solche Aporien wirkten produktiv. Zweifelsohne hat Norbert von Hellingrath mit seiner editorischen Leistung entscheidend dazu beigetragen, dass ____________ 46 47 48
Hellingrath, 4, S. XX = Hellingrath 1944 (Anm. 14), S. 111. Vgl. Burdorf 1993 (Anm. 34), S. 55–59. Interessanterweise bekennt sich Zinkernagel in seiner Rezension zu diesem subjektiven ästhetischen Verfahren, das ihm als das einzig sinnvolle erscheint, gleichzeitig wirft er aber Hellingrath vor, die Grenzen des Geschmacks überschritten zu haben! „Es bleibt daher schließlich gar nichts anderes übrig, als zu unserem so höchst fragwürdigen Geschmacksvermögen die Zuflucht zu nehmen und in jedem einzigen Falle (d. h. nicht etwa bei jeder Lesart, sondern bei jeder Dichtung!) die Grenze da zu ziehen, wo unser ästhetisches Gefühl nicht mehr mitzugehen vermag. Was von Lesarten jenseits dieser Grenze fällt, kommt höchstens in den Apparat [...]. [Für Hellingrath und seine Mitherausgeber hingegen] gibt es ja kaum einen geisteskranken Dichter. Sie schieben die Grenze des Gefundenen – aber sagen wir vielleicht vorsichtiger: des künstlerisch Vollwertigen – so weit hinaus, das eigentlich nur noch jene monotonen späten Reimgedichte über sie hinausfallen“; Zinkernagel 1924 (Anm. 27), S. 279 f.
Norbert von Hellingrath
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sich eine neue lyrische Tradition durchsetzen konnte. Gleichzeitig verstärkte seine Werkausgabe den Mythos des von seiner Umwelt unverstandenen Dichters, des ‚Griechen unter den Deutschen‘, dessen Schicksal nur tragisch enden konnte und der auf posthume Leser wartete. Die ungeheure Wirkung, die diese Edition erlangte, ist erst durch die radikale Erneuerung des ästhetischen Horizonts der Zeit denkbar, zu der sie auch wesentlich beisteuerte. Hölderlin wurde zu einem Zeitgenossen, zu einem Dichter des 20. Jahrhunderts. Und der Editor war derjenige, der diesen zeitlichen Transfer ermöglichte. Durch sein Werk trat er in Kontakt mit Dichtern und Denkern und wurde von ihnen als bedeutender Gesprächspartner anerkannt. So beanspruchte die Philologie – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Literatur –, ein halbvergessenes Textkorpus lebendig zu machen und für die Poesie neu zu gewinnen.
Klaus Kastberger
Reinhold Backmann: „Zur Fertigstellung der Grillparzer-Ausgabe im Dienst belassen“
1.
Reinhold Backmann: Leistung und Wirkung
Die Stellung Reinhold Backmanns (1. 12. 1884, Leipzig, bis 4. 3. 1947, Wien) in der Geschichte der modernen Editionswissenschaft scheint einigermaßen gefestigt. Als Konsensus in etwa von Hans Zellers früher Würdigung aus dem Jahr 19581 bis hin zu Backmanns Erwähnung in Bodo Plachtas Einführung in die Editionswissenschaft aus dem Jahr 19972 und darüber hinaus gilt, dass Backmann in seinem Euphorion-Aufsatz von 1924 Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter3 die theoretischen ____________ 1
2 3
Bezogen auf die Lebensdaten Backmanns erfolgte diese Würdigung freilich erst spät. Hans Zeller beklagt den „fatalen Mangel an Unübersichtlichkeit“, in der Backmann seinen textgenetischen Ansatz in der Grillparzer-Ausgabe umsetzt, hebt aber dessen methodische Innovation hervor: „Backmann ging sogar schon so weit, der Darlegung der Entwicklung des Textes eine höhere Bedeutung zuzuschreiben als dem vollendeten Text, ‚nicht nur eben in dem Maße, als der handschriftliche Nachlaß eines Dichters stets wertvoller ist als die letzten bloßen Reindrucke seiner Werke ..., sondern vor allem, weil das lebendige Werden stets tiefere Blicke tun läßt als das Gewordene, Erstarrte‘“; Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionswissenschaft. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen (1958). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 194–214, hier S. 196. Vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 31 f. Die Bedeutung, die die moderne Editionswissenschaft diesem Aufsatz beimisst, dokumentiert sich auch in seinem Abdruck in dem 2005 erschienenen Band Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Der Herausgeber Rüdiger Nutt-Kofoth fasst in seiner Einleitung bezüglich Backmann zusammen: „Im gleichen Jahr 1924 [wie Georg Witkowskis Buch Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke, Anm. K K] legte Reinhold Backmann einen für die Geschichte der Editionsphilologie wegweisenden Aufsatz vor, auch wenn es lange dauern sollte, bis seine Überlegungen wieder aufgegriffen wurden. In der Kritik an der bis dahin gebräuchlichen Form des lemmatisierten Einzelstellenapparats, der sich der Entwicklung des Textes gegenüber genau umgekehrt verhält, nämlich eine Darstellung von der letzten zur ersten Stufe hin liefere und damit vollständig auf die letzte Textfassung ausgerichtet sei, fordert Backmann einen ganz anderen Status des Apparates. In ihm haben frühere Fassungen ‚mindestens gleichwertig und gleichberechtigt neben die Schlußgestalt zu treten‘. Indem Backmann dem Apparat die Darstellung der Entwicklung ‚als obersten Gesichtspunkt‘ zuschreibt, erhält dieser für ihn ‚seinen selbständigen Wert gegenüber dem Textabdruck‘, letztlich sogar ‚ein Übergewicht an Bedeutung über den letzteren‘. Backmanns Vorstellung von einem ‚genau deskriptiven Apparat‘ zielt dabei zugleich darauf, die ‚Wiederherstellbarkeit der Manuskripte für den
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Klaus Kastberger
Grundlagen und Richtlinien zu einer umfassenden Berücksichtigung der Textgenese in Editionen moderner Literatur geschaffen hat, jedoch in der konkreten Umsetzung dieser Vorgaben in der von ihm mitherausgegebenen historischkritischen Grillparzer-Ausgabe fast schon spektakulär gescheitert ist. Die von Backmann in seinem Aufsatz beschriebenen Grundsätze textgenetischen Edierens sind heute allgemein akzeptiert. Im Wesentlichen umfassen sie die (zumindest) theoretische Trennung von absoluter und relativer Chronologie in der Anordnung der Entstehungshandschriften, die „Wiederherstellbarkeit der Handschriften für den Benutzer“ (die sich in heutigen Faksimile-Ausgaben quasi per se ergibt) und implizit auch die Forderung nach Vollständigkeit in der Darstellung der Lesarten und Varianten. Richtungsweisend war Backmanns Fokussierung auf den Entstehungsprozess, und zwar nicht von rückwärts, nämlich vom fertigen Werk aus auf das frühere textgenetische Material, sondern im Gegenteil: in der Chronologie der Entstehung. Das Prinzip, eine organische Darstellung des organischen Textwachstums geben zu wollen, führte Backmann nun aber (und das ist die Krux der für die Grillparzer-Ausgabe gewählten Darstellungsweise) inmitten eines Lesarten-Apparates ein, der sich als ein Gesamtverzeichnis aller Varianten verstand. So folgt in den ApparatBänden der Ausgabe die Einzelstellenstaffelung zwar den lokalen Korrekturprozessen in ihrer tatsächlichen Chronologie, es lösen sich darin aber die organischen Formationen einzelner Fassungen der Entstehungshandschriften vollständig auf. Der im eigentlichen gegen diese Tendenz gerichtete und über weite Strecken auch textgenetisch argumentierende Herausgeberkommentar, den Backmann teilweise mitten in die Wiedergabe der Lesarten stellt, vermag daran nichts zu ändern, sondern erhöht – eher im Gegenteil – die Unübersichtlichkeit des Ganzen. Auch wenn er für ihre Darstellung keine adäquate Gesamtform findet, ist die Energie, die Backmann auf die Beschreibung der Entstehungshandschriften verwendet, in vielen Details bewundernswert. Nachvollziehbar bleiben diese Beschreibungen, solange sie nicht in die konkreten Korrekturschichtungen der Manuskripte gehen, denn davon vermittelt die Grillparzer-Ausgabe ein kaum noch überschaubares Bild. Anderswo und dabei vor allem in Gesamtbeschrei__________ Benutzer‘ zu ermöglichen. Damit waren zwei weitreichende editionsphilologische Neuansätze formuliert: die Loslösung des Apparates vom edierten Text und die Überlegungen zur detaillierten Beschreibung der Handschriften“; Dokumente 2005 (Anm. 1), S. IX–XXIX, S. XXII f. Eine Würdigung im kulturwissenschaftlichen Rahmen erfährt Backmanns Ansatz, mit dem der „Psychologismus der Jahrhundertwende“ vom Kopf auf editionswissenschaftliche „Hände“ gestellt werde, in: Christoph Hoffmann: Schreibmaschinengebärde. Über „typographologische“ Komplikationen. In: „SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hrsg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti. München 2005 (Zur Genealogie des Schreibens. 2), S. 153–168, hier S. 156 f.
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bungen von Manuskripten scheint deren „Wiederherstellbarkeit“ in den diskursiven Ausführungen Backmanns durchaus gegeben. Beispielsweise kann man sich ohne weiteres vorstellen, wie die zweite handschriftliche Fassung von Grillparzers berühmten Stück Die Ahnfrau aussehen mag, wenn man bei Backmann liest: H2: Sorgfältig angelegte Reinschrift aus H1. Wieder reihte Gr. Bg an Bg, 17 an der Zahl. Von jedem brach er links einen schmalen Rand ab, weil sie gebunden werden sollten. Dort aoRl zählte er sie, mit Ausnahme des ersten, von 2–17 ab. Auf den Rand kamen später die V.-Zahlen der rechten SS. zu stehen. Das Pap. ist dasselbe wie das der Grundbll von H1. Die beiden Sorten gehen ziemlich wahllos durcheinander. Die Zusammengehörigkeit ist wegen der Heftung nicht nachprüfbar. Erst später wurden einzelne durch den Gebrauch bei lose werdender Heftung hervortretende Bll um ein geringes mit der Schere beschnitten. Geheftet und gebunden wurde die Hs. (nach dem Vorgang der „Blanka“Reinschrift) von Gr. selbst, der offenbar im Heften und Binden nicht unbewandert war. Das Heften geschah auf doppelte Weise, einmal in Bg-Bruch und, da sich das als nicht dauerhaft genug erwies, noch ein 2. Mal einen ganz schmalen Streifen einwärts vom Bg-Bruch von oben nach unten, so daß die Bll zusammenstrebten und nicht leicht aufzuschlagen waren. Deshalb wurde auch diese 2. Heftung früh zerstört. Fäden davon sind nur noch am Schluß der Hs. vorhanden, doch legt die Durchlochung der Bll auch überall sonst noch Zeugnis davon ab. Von den beiden Vorsatzblättern (viell. dasselbe Pap. wie die beiden eingehefteten Beil. H21 und H22, von denen jede nur 1 Bl umfasst, also Pap. Nr. 74) ist das vordere leer, das hintere enthält mit wenig Strichen b eine Art Bühnenprospekt äußerlichster Art. Außen herum wurde an die freien SS. der Vorsatzhbb ein Leimpapier (viell. ebenfalls eigener Herstellung) angeklebt, so daß eine weiche Einbandschale entstand. Es ist dunkelblau quer gestreift. Vorn auf dem Einband ist ein primitiv gebogen ausgeschnittenes weißes Schild (wiederum Pap. der Beilage) angeklebt, das in gotischen Zierbuchstaben die eigenhändige Aufschrift: „Die Ahnfrau“ trägt.4
Die vorliegende Abbildung (Abb. 1) bestätigt den äußeren Eindruck, den Backmanns Beschreibung von dem Manuskript gibt. Um wie viel einfacher wäre die editorische Arbeit für ihn gewesen, wenn ihm das Mittel der Abbildung zur Verfügung gestanden wäre? Vom Faksimile als Wunschtraum des Editors spricht indes auch schon der Hauptherausgeber der Grillparzer-Ausgabe. Im Textband zur Ahnfrau, der (als erster Band der Gesamtausgabe) im Jahr 1909 und damit ganze 22 Jahre (!) vor dem dann von Reinhold Backmann allein verantworteten Apparatband erschienen ist, liefert August Sauer in seiner Einleitung eine Übersicht über die vorhandenen Fassungen des Stückes. Neben ____________ 4
Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Hrsg. von August Sauer, fortgeführt von Reinhold Backmann. Abt. I, Bd. 17: Apparat zur Ahnfrau, zur Sappho und zum Goldenen Vließ. Hrsg. von Reinhold Backmann. Wien 1931, S. 46 f.
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der Letztfassung der Ahnfrau, so sagt er in diesem Zusammenhang, sei in dem Band auch die erste handschriftliche Fassung des Stückes abgedruckt, und zwar aufgrund „ihrer großen literar-historischen Bedeutung“ und weil wir „glaubten, diese handschriftliche Fassung ausnahmsweise außer in den Lebensarten des kritischen Apparates und in zusammenhängendem Abdruck an dieser sichtbaren Stelle mitteilen zu müssen.“5
Abb. 1: Franz Grillparzer: Die Ahnfrau, Handschrift 2, Abb. aus: Von der ersten zur letzten Hand 2000 (Anm. 7) © Wienbibliothek im Rathaus ____________ 5
August Sauer: Einleitung: Die Ahnfrau. In: Grillparzer-Ausgabe (Anm. 4), Bd. 1: Die Ahnfrau. Sappho. Wien, Leipzig 1909, S. XLII–LXXIX, hier S. XLIII f.
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Wohlgemerkt: Nicht von Lesarten der Fassung ist in dem Zitat die Rede, sondern von deren Lebensart, also der Art und Weise, in der die Fassung in der Ausgabe lebendig werden sollte – in diesem Fall eben „ausnahmsweise“ (und damit gegen die sonstigen Prinzipien der Ausgabe) in Form eines separaten Abdrucks bereits im Textband. Auch davon, wie das Manuskript im Druck erscheint, spricht Sauer: „Die erste und letzte Fassung sind in vorliegendem Band abgedruckt. Die erste Handschrift, abweichend von ihrer früheren Veröffentlichung durch J. Kohm, genau nach der Vorlage, ohne jede spätere Änderung des Dichters, ohne jeden Zusatz des Herausgebers, in einer fast“ – und jetzt kommt es – „faksimileartigen Wiedergabe“.6 Am Horizont der Grillparzer-Ausgabe, so scheint es, hatten Sauer und Backmann (und ihr gegenseitiges Verhältnis wird im Folgenden noch zu untersuchen sein) einen gemeinsamen Traum: Dieser handelte nicht nur von Techniken und Möglichkeiten modernster Editionstechnik, sondern auch von ihren Absichten und Zielen.
2.
Reinhold Backmann und August Sauer
Die Geschichte der editorischen Arbeiten am Nachlassbestand Franz Grillparzers, der durch ein Legat der Erbin Katharina Fröhlich der Stadt Wien vermacht wurde und indirekt den Anstoß zur Einrichtung einer eigenen Handschriftensammlung innerhalb der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute: Wienbibliothek im Rathaus) gegeben hat, ist lang,7 und ich kann hier nicht allzu detailliert darauf eingehen. Am 7. Jänner 1909 jedenfalls fasste der Wiener Gemeinderat auf Anregung des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger den Beschluss, eine historisch-kritische Ausgabe zu finanzieren und den Prager Germanisten August Sauer als Hauptherausgeber einzusetzen. Die wesentlichen Grundsätze der Ausgabe, die (wie allein schon die Finanzierung zeigt) stets auch ein politisches und nationales Anliegen war, hielt Sauer im Vorwort zum ersten Band, der bereits erwähnten Ausgabe von Die Ahnfrau und Sappho, fest: Die Wiener Ausgabe soll Grillparzers Werke in möglichster Vollständigkeit und Reinheit auf Grund aller erreichbaren Drucke und Handschriften darbieten. Sie soll die Entwicklung des Dichters und jedes einzelnen seiner Werke in allen Einzelheiten überblicken lassen. Sie soll jedermann die Möglichkeit bieten, die Textgestalt selb____________ 6 7
Sauer 1909 (Anm. 5), S. XLIII f. Vgl. dazu Hermann Böhm: Franz Grillparzer: Der Nachlass und die historisch-kritische Ausgabe. In: Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger. Wien, Bozen 2000, S. 30–35; Dank an Hermann Böhm für seine ergänzenden mündlichen Hinweise.
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ständig nachzuprüfen, die Überlieferung zu studieren. Sie soll den Werken im engeren Sinn auch die Tagebücher, die Briefe und die verwandten Dokumente, womöglich auch die Briefe an den Dichter und die amtlichen Schriften von seiner Hand anreihen. Sie soll der gegenwärtigen Generation das Bild seiner gesamten Wirksamkeit in voller Deutlichkeit vor Augen stellen.8
Wie weitgreifend und umfassend gedacht dieser Ansatz war, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass innerhalb der Ausgabe (als Band 12 der Abteilung II im Jahr 1930) ein Verzeichnis von Grillparzers Bibliothek samt Eintrag der Randnotizen in den Büchern erschien. Der Editionsplan (ursprünglich hatte Sauer von 25, später von 30 Bänden gesprochen) wurde mehrmals umgestellt und erweitert; nach Einwänden des Verlags und Verlagswechseln wurde die Gesamtzahl der Bände zwischenzeitlich auch wieder reduziert. Schlussendlich erschien ein 42. und damit letzter Band der Ausgabe im Jahr 1948 (erst nach dem Tod Backmanns), ein angekündigter 43. Band mit Papieranalysen, „Inventarband“ genannt, wurde nicht mehr gedruckt. Reinhold Backmann war August Sauers (in den ersten Jahren: einziger) Mitarbeiter. Eine kleine Broschüre, die sich in einer Gesamtbibliographie von Sauers Grillparzer-Schriften gelistet findet,9 die sich aber materiell in keiner der infrage kommenden Bibliotheken und bislang auch nicht in den infrage kommenden Nachlassbeständen gefunden hat, lässt vermuten, dass Backmann von Beginn an auch in die konzeptionellen Planungsarbeiten der Ausgabe voll eingebunden war. Bei dieser Broschüre handelt es sich um eine im Prager Verlag Kopp-Bellmann vermutlich 1909 erschienene Schrift mit dem Titel Grundsätze der Wiener Grillparzer-Ausgabe, die nach den Angaben bei Sauer er gemeinsam mit Backmann verfasst haben soll. Während diese eine (für die Qualität der frühen Zusammenarbeit) so zentrale Schrift unauffindbar ist, geht man – wenn man nach den konkreten Formen der Zusammenarbeit von Sauer und Backmann fragt – in Material förmlich unter. In der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus und an der Österreichischen Nationalbibliothek finden sich tausende, ja wahrscheinlich sind es zehntausende Briefe zwischen Sauer und Backmann. Kartonweise (einen Eindruck davon vermittelt Abb. 2) liegen darüber hinaus Editionsmaterialien vor, darunter Kisten von Karteikarten sowie umfangreichste Korrespondenzen mit anderen Mitarbeitern, Verlagen und Institutionen.10 In einem ____________ 8 9 10
August Sauer: Zur Einführung [in die Wiener Ausgabe]. In: August Sauer: Franz Grillparzer. Stuttgart 1941 (August Sauer: Gesammelte Schriften. Bd. 2), S. 104. Vgl. Sauer 1941 (Anm. 8), S. X–XIII. Das übersichtsartige Bestandsverzeichnis zum Teilnachlass Reinhold Backmanns (Aufstellungsnummer 70) der Wienbibliothek im Rathaus verzeichnet 52 Archivboxen. Der Teilnachlass August Sauers an der Handschriften-, Autographen- und Nachlasssammlung der Österrei-
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Vortrag über August Sauer als Herausgeber der Grillparzer-Ausgabe, den der Innsbrucker Germanist Sigurd Paul Scheichl anlässlich eines Prager SauerSymposiums im Herbst 2008 gehalten hat, beklagt er die schiere Unübersichtlichkeit des Materials, in dem sich die Schwierigkeiten und Unzugänglichkeiten der Grillparzer-Ausgabe noch einmal potenzieren. Ich kann mich diesem Urteil nur vollinhaltlich anschließen; eigene Dissertationen wären nötig, um hier Orientierung zu schaffen.
Abb. 2: August Sauer, Reinhold Backmann: Zettelkatalog zur historisch-kritischen GrillparzerAusgabe, Abb. aus: Von der ersten zur letzten Hand 2000 (Anm. 7) © Wienbibliothek im Rathaus
Nach dem Tod des Prager Professors August Sauer im Jahr 1926 übernahm jedenfalls Reinhold Backmann (der keinerlei akademische Verankerung hatte) im Dezember 1929 die Gesamtherausgeberschaft der Ausgabe; bis dahin war jedoch noch kein einziger Apparatband erschienen. Die große zeitliche Differenz zwischen dem Erscheinen der Textbände und dem Erscheinen der Appa__________ chischen Nationalbibliothek (Sign. Autogr. 412/1 bis 425/13 Han) umfasst insgesamt 3449 Briefe von 57 Schreibern, ein ebenfalls dort befindlicher Splitternachlass August Sauers umfasst acht Mappen (Sign. Cod.ser.n. 13789 bis 13796 Han).
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ratbände hatte wohl auch mit der spezifischen Arbeitsteilung zwischen Sauer und Backmann zu tun. An die Textbände wollte Sauer seinen Mitarbeiter nicht heranlassen (zumindest nicht, was eine Nennung im Titel betrifft),11 umgekehrt finden sich in den Apparatbänden oft recht schulmeisterliche Verbesserungen des Sauer’schen Lesetextes in den Varianten. Sigurd Paul Scheichl hat diese Richtigstellungen mit einem wohl nicht ganz unzutreffenden Begriff als „Backmanns Rache“12 bezeichnet. Aufschlussreich für die Mittel und Möglichkeiten, die Reinhold Backmann in der Fortführung der Grillparzer-Ausgabe fand, ist der Vertrag, den er (als nunmehriger Hauptherausgeber) mit dem neuen Verlag, Anton Schroll in Wien, schloss. Manche der Bedingungen sind wohl diktiert worden. Beispielsweise, wenn es in den sogenannten „Grundsätzen zur Fortführung der GrillparzerAusgabe“, auf die Backmann sich zu verpflichten hatte, über den Inhalt der „Vorbemerkungen“ heißt: „Nur Technisches (Anteil des Bearbeiters, Auskunft über Dinge, die im Textteil wegbleiben mussten, usw.) und Dank, alles sehr kurz.“ Zum „Textteil“ der Ausgabe wird spezifiziert, dass alles „wie bisher“ gemacht werden soll, allerdings „unter möglichster Beschränkung der in den Anhang aufzunehmenden Sachen“. Das meiste Einsparungspotential sah der Verlag (und wohl auch der Geldgeber, die Stadt Wien) in den „Anmerkungen“ der Ausgabe; der Vertrag mit Backmann hält fest: III. Anmerkungen. Weit knapper als bisher a) Einleitungen, wo erforderlich, kurz, mehr andeutend und anregend. Vollständigkeit ist nicht anzustreben, ganze Abhandlungen, selbst über wichtige in der betreffenden Dichtung geschilderte Ereignisse, gehören nicht in die Ausgabe, sondern sind gesonderten Publikationen vorzubehalten. b) Abdruck von Quellen nur dann, wenn die unmittelbare Gegenüberstellung von Quelle und Werk für die betreffende Stelle von ganz besonderer und erklärender Wichtigkeit ist. c) Stoffgeschichtliche Untersuchungen sind zu vermeiden, bzw. durch Hinweis auf die Quellen und deren Druckorte mit regestenhaften Andeutungen zu ersetzen. d) Wörtliche Zitate aus andern Teilen der Ausgabe, aus den Gesprächen, dem Gr.Jahrbuch, sowie aus Gr. ausschliesslich betreffenden Büchern unterbleiben, es genügt, neben Schlagwort oder Materie die Stellenangabe (abgekürzte Titel! Gespr. Jg.) Auch sonst soll alles entfallen, was bereits in irgend einem Buch oder einer ____________ 11
12
Die einzige Ausnahme stellt der 1913 erschienene Band Das goldene Vließ dar, den Backmann verantwortete und in dem er auch als Herausgeber genannt wurde. Sehr viel später gab Backmann selbst eine Leseausgabe heraus, die gegenüber den Textbänden der historisch-kritischen Ausgabe zahlreiche Verbesserungen enthält: Franz Grillparzer: Werke in fünf Bänden. Kritische Ausgabe von Reinhold Backmann. Vaduz 1947–1949. Sigurd Paul Scheichl hat mir sein Vortragsmanuskript (August Sauers Historisch-kritische Grillparzer-Ausgabe) dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt, vgl. darin S. 20 f.
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Ausgabe gedruckt ist, so weit es sich nicht um ein ganz besonders schwer zu erreichendes Werk handelt. Der Hinweis auf den Druckort genügt. Wo wörtliche Zitate nicht zu vermeiden sind, sollen sie 2–3 Druckzeilen nicht überschreiten. In besonders wichtigen Ausnahmefällen ist aller entbehrliche Wortlaut (ausserhalb der Anführungsstriche) zu kürzen. e) Alle Verdeutlichungen und Interpretationen nicht streng sachlicher Natur, sondern mehr psychologischer, vor allem aber rein subjektiver Art werden gestrichen, ebenso alles, was der Ausgabe den Charakter einer Schulausgabe geben könnte. Beispiele: Band I/6 Bruderzwist, Vers 1723, 1735, Vers 1763 ff., 1784. f) Anmerkungen, die in der Art des Deutschen Wörterbuches den Gebrauch eines Wortes nachweisen oder Parallelstellen anderer Dichter heranziehen, sind nur zulässig, sofern es sich um Worte handelt, die innerhalb des gebräuchlichen deutschen Wortschatzes als Fremdkörper erscheinen oder einem früheren Sprachgebrauch entsprechen. g) Lesarten haben in Zukunft aus den Anmerkungen bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen fortzubleiben. h) Biographische Daten sind gegen früher einzuschränken. Bei bekannten Persönlichkeiten, über die jedes Lexikon Aufschluss gibt, genügen Angaben über Geburt und Tod. Wo jeder halbwegs Gebildete sie kennt, sind sie ganz überflüssig. Belanglose Daten haben wegzubleiben. Auf unwichtige Personen ist nicht unnütze Mühe zu verwenden, da derlei füglich künftigen Miscellen überlassen bleiben kann. Auf Daten, die in früheren Bänden bereits gegeben wurden, ist nur zu verweisen, so dass solche Anmerkungen künftig immer nur einmal vorkommen.13
3.
„Zur Fertigstellung der Grillparzer-Ausgabe im Dienst belassen“
Als neuer Herausgeber der Grillparzer-Ausgabe war Reinhold Backmann vielfältigen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Dass Backmann aus Deutschland stammte und es sich bei Grillparzer um einen kanonisierten österreichischen Klassiker handelte, machte seine Aufgabe in Wien nicht leichter. Ein später Reflex auf diese Situation findet sich in einem Vortrag des damaligen Leiters der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Gladt, aus dem Jahr 1966. Reinhold Backmann, so schreibt Gladt, sei nach dem Tod Sauers im Jahr 1926 als Grillparzer-Herausgeber nur eine Notlösung gewesen. Denn erst, nachdem alle anderen, die dafür in Frage gekommen seien (darunter der Wiener Professor Eduard Castle, der Germanist Stefan Hock, Edwin Rollet sowie die übrigen Wiener Mitarbeiter der Ausgabe) abgesagt ____________ 13
Herausgebervertrag zwischen Reinhold Backmann und dem Verlag Anton Schroll & Co.Ges.m.b.H. (Wien) vom 17. 3. 1930. In: Teilnachlass Reinhold Backmann, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Aufstellungsnummer 70, Archivbox 19.
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hatten, wurde er mit dieser Funktion betraut. „Backmann“, so heißt es weiter, „ein Mittelschullehrer aus Plauen im Vogtland,“ war ohne Zweifel der fleißigste im Stabe Sauers und mit Sauers Intentionen wohl vertraut. Aber ganz abgesehen von der räumlichen Entfernung zwischen Wien und Plauen muß man ihm seiner geistigen Haltungen wegen absprechen, Grillparzer richtig interpretiert zu haben. Aus vielen Unterredungen, die ich mit Backmann hatte, konnte ich immer wieder feststellen, daß es ihm nie gelang – selbst nach seiner Übersiedlung nach Wien nicht – ein entsprechendes Verständnis für die österreichische Mentalität im allgemeinen, für die Wiener im besonderen zu finden. Man mag darüber denken, wie man will, für die Beschäftigung mit einem Dichter, der immer wieder gestand, wie sehr er in der heimatlichen Scholle verwurzelt war, konnte Backmanns Einstellung nicht als besondere Legitimation gewertet werden.14
Die Reibungspunkte für Backmann waren vielfältig: die GrillparzerGesellschaft in Wien, die von Intrigen nicht frei war; die Stadt Wien als Finanzier; die Hochschulgermanistik, die den Autodidakten nicht ernst nahm und nicht zuletzt die Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, in der die Ordnung und Katalogisierung des Grillparzer-Nachlasses (durch Versäumnis und/oder mangelnde Kooperation der Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe) erst im Jahr 1930 abgeschlossen war. Dass es indes nicht nur atmosphärische oder mentalitätsgebundene Gründe waren, die die Stellung Backmanns in Wien schwierig machten und ihm dort – noch Jahrzehnte später – keine gute Nachrede einbrachten, beweist ein Lebenslauf, den er am 15. Februar 1938 selbst verfasste: Lebenslauf eines Vierundfünfzigers Ich, Reinhold Richard Julius Backmann, wurde am 1. Dez. 1884 in Leipzig als Sohn eines Schneidermeisters geboren und bin väterlicher- wie mütterlicherseits aus Handwerkerfamilien hervorgegangen. In meiner Vaterstadt besuchte ich von Ostern 1891 bis 1895 die 3. Bürgerschule, von da bis 1904 die Thomasschule und dann bis Sommer 1911 die Universität, bestand am 23. Febr. ds. Js. die Doktorprüfung, legte am 13. Juli desselben Jahres 1911 die Staatsprüfung für das höhere Lehramt (Deutsch und Französisch 1. Stufe, Englisch 2. Stufe) ab, ging dann vom 1. Okt. 1911 zum Vorbereitungsdienst ans Realgymnasium nach Borna in Sachsen, wurde als Hilfslehrer am 1. April 1912 nach Plauen im Vogtland ans Realgymnasium berufen, daselbst am 1. Sept. 1914 ständiger wissenschaftlicher Lehrer, am 1. Okt. 1918 Oberlehrer, nach Kriegsschluß Studienrat und als solcher vor 2 Jahren ans Staatsgymnasium in Plauen versetzt. [...] ____________ 14
Karl Gladt: Die Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Franz Grillparzers. Vom Werdegang der Editionsarbeit. Vortrag beim Grillparzer-Forum Forchtenstein 1966, Sonderdruck, S. 95.
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Schon als angehender Reifling der Thomasschule wurde ich durch Zufall mit den Werken Franz Grillparzers bekannt und faßte eine unvergängliche Vorliebe für diesen noch heute viel zu wenig beachteten großen österr. Dichter, die mein Leben entscheidend beeinflußt hat. Den Studenten zog es magisch zu den Handschriftenschätzen nach Wien. Dort machte ich eine Entdeckung, die unverhofft reiche Datierungsmöglichkeiten für den schlechtgeordneten Nachlaß des Dichters eröffnete und wurde so schon als junger Student für die damals gerade in Gang kommende Kritische Grillparzer-Ausgabe August Sauers erster und lange Zeit einziger Mitarbeiter und schließlich nach dessen Tode ihr verantwortlicher Leiter (1926). Als solcher ist es mir in bittersten Notzeiten nach heißen Kämpfen gelungen, die Fortführung des Werkes, für das alle Geldquellen versiegt waren, allen Widerständen zum Trotz zu erzwingen – an Druckbeihilfen allein waren 150 000 S zu mobilisieren! – und auch die eigene Beurlaubung durchzusetzen, die ich allerdings nie hätte erreichen können, wenn mir nicht die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in Berlin durch Gewährung von Forschungsstipendien beigesprungen wäre und mir so die Bezahlung meiner Vertretung im Lehramt neben eigenen Gehaltsopfern dafür erleichtert hätte, bis endlich der deutsche Umbruch mir die volle Sicherheit der Vollendung des Werkes brachte. In ansteigender Leistungskurve ist die Ausgabe nunmehr auf 35 fertige Bände angewachsen, sodaß sie wohl in drei bis vier Jahren wird abgeschlossen werden können. Wie dankbar wäre ich, wenn ich diesem meinem Lebenswerk nach Vollendung noch die Krone in Gestalt einer großen Grillparzer-Biographie aufsetzen könnte! Das Programm dazu ist fertig und jüngst schon teilweise in einem Vortrag entwickelt worden, den ich auf Anregung des hiesigen Ordinarius für Germanistik, Prof. Dr. Josef Nadler, am 20. Jan. ds. Js. im Auditorium maximum der Wiener Universität vor einem sehr großen Hörerkreis gehalten habe und der so viel Beifall gefunden hat, daß er auf Wunsch des Wiener Stadtschulrates am 8. März im größten Hörsaal des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien wiederholt werden muß.15
In den 1930er Jahren und auch noch später war der Studienrat aus Plauen, der sich für seine Grillparzer-Arbeiten immer wieder vom Schuldienst beurlauben ließ, unmittelbar von deutschen Forschungsgeldern und Stipendien abhängig. In dem in seinem Lebenslauf angeführten Vortrag16 lässt Backmann über seine Gesinnung keinen Zweifel. In der Ansprache – sie nennt sich Der Kampf um das endgültige Grillparzer-Bild beginnt – schlägt er eine Verlegung des Grillparzer-Denkmals aus dem Wiener Volksgarten (wo die Skulptur Grillparzers – übrigens bis heute – auf das Wiener Burgtheater blickt) hinauf auf den oberen Hang des Kahlenbergs vor, von wo aus der Dichter dann ein unverstelltes Blickfeld hätte. Auch wenn es bei Backmann nicht wörtlich zu lesen ist, macht ____________ 15 16
Reinhold Backmann: Lebenslauf. In: Teilnachlass Reinhold Backmann, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Aufstellungsnummer 70, Archivbox 20. Abgedruckt wurde dieser Vortrag – eine Ironie der Geschichte – in der Schriftenreihe des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien, und zwar im letzten Heft der Reihe, das nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich erscheinen konnte.
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er in seiner Ansprache klar, wohin sein und Grillparzers Blick sich jetzt richten. Heim ins Reich, ganz ohne Zweifel: Für irgendwelche internationale Weltgeltung dieses Dichters zu sorgen, haben wir alle zusammen nicht das geringste Interesse. Uns interessiert vielmehr einzig und allein, in unserm und fü r unsern d e u t s c h e n Umkreis sein tiefstes Wollen bloßzulegen, ihn von den Schlacken zu befreien, die ihm schon die Zeitgenossen angedichtet haben, ihn endlich einmal ganz rein und echt und unverfälscht auf den Brettern, und auch dort, wo nur Gedichte vorgetragen werden, so erscheinen zu sehen, wie er selbst es sich wünschte. Ich vertraue darauf, daß mit der neuen österreichischen Jugend auch die österreichische Lehrerschaft auf die vom versagenden Alter bisweilen nur lässig gehaltenen Schanzen springen und diese ihr hiermit erteilte Aufgabe, wie wenn der Dichter sie ihr selbst übertragen hätte, als ein heiliges Vermächtnis auffassen wird, und hoffe zuversichtlich, daß die Grillparzer-Renaissance bis zum 150. Geburtstag des Dichters, den wir in drei Jahren begehen werden, bereits in vollem Zuge ist und nach dem Vorbeigehen der Feststimmung n i c h t wieder vergehen wird. Es gilt nicht nachzubeten, es gilt endlich Stellung zu nehmen, es gilt zu kämpfen und keine Ruhe zu geben, es gilt, das Festgewollte zu erzwingen! Was mich von der Schulbank her in diesen Kampf hineingetrieben hat, der zuletzt über der unseligen Biedermeierei fast zum Einzelkampf geworden ist, lebt doch wohl auch in anderen Herzen, in solchen, die jung geblieben sind, ebenso wie in den gegenwärtig jungen Herzen Österreichs. Ihnen allen muß es eine Freude sein, ihren größten Landsmann endlich auf den ragenden Platz emporzuheben, der ihm gebührt, und von da aus die Entwicklung weitertreiben zu helfen, die mit ihm begann, sich letzten Endes zum ausschließlich deutschen Nationaldrama auswachsen mu ß und dann in ein großes deutsches Festspielhaus g e s p r o c h e n e r Dichtung hineinführen w i r d.17
In den umfangreichen Materialbeständen, die es zu Reinhold Backmann gibt, ließen sich für den geistigen Hintergrund des Mannes wohl noch zahlreiche andere Quellen finden. Bei meiner notwendigerweise nur ganz oberflächlichen Sichtung fiel mir ein Schreiben an den Propagandaminister Joseph Goebbels auf, in dem Backmann für sich und die Grillparzer-Ausgabe wirbt, aber auch an Adolf Hitler persönlich dürfte Backmann sich (vielleicht sogar mit einem Widmungsexemplar des obigen Aufsatzes) gewandt haben, zumindest verzeichnet die Privatkanzlei des Führers den Eingang eines entsprechenden Schreibens am 17. 6. 1938.18 Fündig indes konnte, wer sich nicht allein für Backmanns editorische Leistungen interessierte, auch schon bisher werden. Im Internationalen Germanistenlexikon 1800–1950 findet sich unter seinem Namen folgendes eingetragen: „Reinhold Backmann: [...] 1934 Mitglied im NSLehrerbund; 1937 Mitglied der NSDAP; 1939 Mitglied der SS, 1942–1943 ____________ 17 18
Reinhold Backmann: Der Kampf um das endgültige Grillparzer-Bild beginnt. Wien 1938 (Schriften des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien. 16). Siehe Teilnachlass Reinhold Backmann, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Aufstellungsnummer 70, Archivbox 20.
Reinhold Backmann
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Lehrer für Deutsch, Französisch und Englisch an der Oberschule für Jungen in Wien; 1943–1947 Bibliotheksrat an der Stadtbibliothek Wien (am 24. 7. 1945 außer Dienst gestellt, zur Fertigstellung der Grillparzer-Ausgabe im Dienst belassen).“19
____________ 19
Max Kaiser: Reinhold Backmann. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. von Christoph König. Bd. 1: A–G. Berlin, New York 2003, S. 65 f.
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Um der Sache willen Eduard Berend und die Jean-Paul-Ausgabe
Im Jahr 1947 lebt Eduard Berend (1883–1973) im Schweizer Exil. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit er mit seinen Prolegomena die historisch-kritische Jean-Paul-Edition begründet hat. Berend hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, mehrere Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen überstanden und die entwürdigende Behandlung durch die gleichgeschaltete Jean-Paul-Gesellschaft hinter sich. Wie es mit der Jean-Paul-Ausgabe, an der er zwanzig Jahre gearbeitet hat, weitergehen soll, ist ungewiss. Alle Aufzeichnungen dazu sind in Berlin geblieben. In Berlin hatte Berend zunächst um das Überleben der Ausgabe gekämpft, dann, fast zu spät, um sein eigenes. Nun, 1947, erscheint in der Neuen Schweizer Rundschau ein Artikel von ihm. Es ist einer der ersten Texte, die er wieder veröffentlichen darf, nach seiner Entrechtung durch die Nationalsozialisten und nach Aufhebung des in der Schweiz für Flüchtlinge geltenden Arbeitsverbots. Der erste Satz des Artikels lautet: „Wenn ein Volk besiegt, zusammengebrochen, gedemütigt am Boden liegt, wie jetzt das deutsche, dann ist es leicht und billig, wenn auch vielleicht nicht überflüssig, ihm seine Irrtümer und Sünden vorzuhalten, ihm Vernunft, Reue und Buße zu predigen.“1 Die Wortwahl, schon im Nebensatz, ist bezeichnend. Den Deutschen ihre Verbrechen vorzuhalten, ist „vielleicht nicht überflüssig“. Berend spricht als einer, der diese Verbrechen mitzuerdulden hatte, und doch ist von ihnen nur andeutungsweise als „Irrtümer und Sünden“ die Rede. Dabei hatte Berend nach seiner Flucht in die Schweiz einem Freund gegenüber bekannt, er habe „nach den furchtbaren vier Wochen“, die er „im November und Dezember 38 im Konzentrationslager“ verbracht hatte, „dauernd Gift“ bei sich getragen und sei „fest entschlossen“ gewesen, im Falle einer neuen Verhaftung Schluss zu ____________ 1
Eduard Berend: Ein Prophet zur rechten Zeit. In: Kleine Rundschau. In: Neue Schweizer Rundschau 15, 1947, Nr. 3, S. 186–189, hier S. 186. Dieser Text wie auch die folgenden in diesem Beitrag zitierten Artikel und Rezensionen Berends sind im Deutschen Literaturarchiv Marbach einsehbar (Nachlass Eduard Berend).
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machen.“2 Und: Die „vier Jahre im Schützengraben“ – der deutsche Jude Berend war ein für seine Tapferkeit ausgezeichneter Veteran des Ersten Weltkriegs – seien ihm „leichter gefallen“3 als jene vier Wochen in Sachsenhausen. Gleichwohl heißt es im Rundschau-Artikel, es sei „leicht und billig“ zu „predigen“, wenn „ein Volk besiegt, zusammengebrochen, gedemütigt am Boden liegt“. Berend wusste, was Zusammenbruch und Demütigung bedeuten. Er selbst aber hatte nur wenig Unterstützung von jenen erhalten, über die er nun fast mit Anteilnahme spricht. Berend war kein besonders religiöser Mensch. Die Begriffe „Sünde[]“, „Reue“, „Buße“ in dem Rundschau-Artikel sind Formeln, die von einem Vergehen gegen eine höhere Ordnung sprechen, Metaphern des Moralischen, die den Verlust der Humanität beklagen. Humanität war eines der Ideale Berends. Das andere Ideal ist in dem Artikel deutlich benannt: die „Vernunft“, welche gegen die „Irrtümer“ ins Feld zu führen ist. Beide zentralen Vorstellungen, Humanität und die dem Irrtum entgegenstehende Vernunft, kennzeichnen Berend als einen, der in der Aufklärung verwurzelt ist und im Nationalsozialismus den Zusammenbruch all dessen erkennt, was Aufklärung ausmacht. Vielleicht ist es eben das, was nun im deutschen Volk „besiegt, zusammengebrochen, gedemütigt am Boden“ liegt. Die Empathie in Berends Formulierung gilt dem, was sein großes Thema ist: die von der Literatur getragene Tradition der Deutschen als „Kulturvolk[ ]“. Das „Deutsche“ sieht Berend, wie seine Schriften zeigen, zwar nie unkritisch, aber grundsätzlich affirmativ. Auch er spricht von „deutsche[r] Wesensart“4 und nennt Jean Paul, nicht anders als seine volkstümelnden Gegner in der gleichgeschalteten Jean-Paul-Gesellschaft, den „vielleicht deutschesten aller deutschen Dichter“.5 Aber was Berend darunter versteht, während er Jean Paul historisch-kritisch ediert und die Jean-PaulRezeption damit an die Aufklärungstradition und ihre wissenschaftlich fundierte und methodisch objektivierte Hermeneutik bindet, ist etwas ganz anderes als die Auffassung der auf Linie gebrachten Jean-Paul-Gesellschaft. Die Identifikation mit einem literarisch vorgeprägten Ideal erklärt Berends langes Aushar____________ 2
3 4 5
Brief Berends an Heinrich Meyer vom 7. Januar 1940; zitiert nach Hanne Knickmann: Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883–1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil II. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 30, 1995, S. 7–104, hier S. 54. Hanne Knickmann hat mit diesem Beitrag eine grundlegende Auswertung des Berend-Nachlasses geleistet. Die Darstellung biographischer Daten Berends in vorliegendem Artikel beruft sich auf die Arbeit Knickmanns. Brief Berends an Heinrich Meyer vom 7. Januar 1940; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 54. Berend 1947 (Anm. 1), S. 188. Eduard Berend: Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. In: Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse (Jahrgang 1927). Berlin 1927, S. 3–43, hier S. 5.
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ren in Berlin und seinen Kampf für eine wissenschaftliche Ausgabe des Klassikers Jean Paul gegen alle Versuche, den Autor für nationalsozialistischen Irrationalismus in Dienst zu nehmen. In dem Rundschau-Artikel geht es, im Folgenden, gar nicht um die „Irrtümer“ und „Sünden“ der Deutschen. Es geht, wie immer bei Berend, um die deutsche Literatur, insbesondere die des 19. Jahrhunderts. In diesem Fall behandelt Berend Gervinus, einen der Göttinger Sieben. Von ihm als einem „Prophet[en] zur rechten Zeit“ handelt der Artikel. Wenn es leicht sei, einem besiegten Volk seine Fehler vorzuhalten, so sei es doch, wie Berend nach dem ersten Satz fortfährt, eine „ungleich schwierigere und undankbarere, aber auch verdienstvollere Aufgabe [...], eine eben siegreich thriumphierende [...] Nation vor Ueberhebung und Mißbrauch ihrer Macht zu warnen [...]“.6 Dies aber habe Gervinus 1870 im Vorwort zu seiner Geschichte der deutschen Dichtung getan: „Es wäre eine leidige Verkehrung“, zitiert Berend Gervinus’ Literaturgeschichte, „wenn Deutschland die Tätigkeiten eines Kulturvolks für die eines Machtvolkes dahingeben und von Krieg zu Krieg verwickelt werden sollte.“7 Fluchtpunkt des Berend’schen Textes sind nicht die deutschen Verbrechen, sondern die kluge Vorausschau eines deutschen Gelehrten aus der Perspektive der Literatur. Gervinus (wie Berend Literarhistoriker) erscheint als ein Mutiger und Besonnener im Angesicht der Macht. In Berends Artikel sind die Gervinus-Zitate sowohl auf den Machtmissbrauch der nationalsozialistischen Willkürherrschaft anwendbar als auch als Mahnungen vor einer möglichen „Ueberhebung“ der Siegermächte zu verstehen. Der im Dritten Reich in doppeltem Sinn Verfolgte – physisch bedroht als deutscher Jude und mental bedroht als in der Tradition der deutschen Aufklärung stehender Geisteswissenschaftler – nimmt Zuflucht da, wo er sich sicher fühlt: in der Literatur und der Gelehrsamkeit. Sie haben sein gefährlich langes Ausharren in Berlin motiviert und nun helfen sie ihm, mit der Katastrophe weiterzuleben, indem er in ihnen die Rückversicherung findet, dass es an „rechtzeitigen Warnern“ „dem deutschen Volk nicht ganz gefehlt“8 habe. Der Verfasser des Rundschau-Artikels, der nicht selbst spricht, sondern Literatur zitiert, tritt hinter die Literatur zurück. Er tut dies, obwohl oder vielleicht gerade weil er ein Betroffener, ein Leidtragender jener „Irrtümer“ und „Sünden“, oder anders gesagt: des Zusammenbruchs dessen ist, an das er geglaubt hat. Die Orientierung, die ihm die Literatur gegeben hat, darf nicht ____________ 6 7 8
Berend 1947 (Anm. 1), S. 186. Berend 1947 (Anm. 1), S. 188. Berend 1947 (Anm. 1), S. 186.
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aufgegeben werden; im Zitat der Mahnungen eines Gervinus bestätigt sie sich neu. Dieses Sich-Zurücknehmen zugunsten eines Hochhaltens der literarischen Tradition kennzeichnet Berend. Es hat ihn die Anfeindungen erdulden lassen, mit denen in den 1930er Jahren der damalige Vorsitzende der Jean-PaulGesellschaft Caselmann seine Verdrängung aus Jean-Paul-Gesellschaft und Jean-Paul-Ausgabe betrieben hatte, und es ließ ihn nach dem Krieg seine Ernennung zum Ehrenmitglied der neugegründeten Jean-Paul-Gesellschaft hinnehmen, „mit recht gemischten Gefühlen“, wie er an einen Freund schreibt, aber doch „um der Sache willen“.9 Die „Sache“ steht in allen seinen Publikationen im Vordergrund, hinter der auch persönliche Bedrohung zurücksteht. Schon 1915 kommt, in einer Besprechung von Wolfgang Stammlers Matthias Claudius, Der Wandsbecker Bothe. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte der Kriegsausbruch nur als Entschuldigung für kleine Fehler des besprochenen Werkes vor.10 In den Prolegomena zur Jean-Paul-Ausgabe von 1927 ist der Erste Weltkrieg, in dem Berend auch Mitstreiter verlor, die Begründung für die Unterbrechung der Planungen zur Ausgabe. Und in den frühen 1930er Jahren, als Berend von der Jean-Paul-Gesellschaft zunehmend antisemitisch attackiert wird, äußert er sich in seinen Fachartikeln lieber zu „der gegenwärtig so heftig umstrittenen Frage der Methodik der Literaturwissenschaft“.11 Es ist den stets ruhigen, „um der Sache willen“ engagierten Texten nicht anzumerken, dass das Problem der Methodik für Berend durch die Anfeindungen der Nationalsozialisten zu einer persönlichen Frage geworden ist. Hanne Knickmann hat in ihrem grundlegenden Beitrag zu Berend dargestellt, wie in den damaligen Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Jean-Paul-Ausgabe eine angeblich deutsche, von „Heimatgefühl“ geprägte Volkskultur gegen „jüdische“ Wissenschaftlichkeit ausgespielt wurde. Die neuen „Aufgaben“ der Philologie wurden nunmehr als die „einer nationalen Literaturwissenschaft“12 bestimmt. Der „Begriff der Deutschheit“ sei im „Gefühlsmäßigen verankert“13 und mit rationalistischer Wissenschaft, der die „jü____________ 9 10 11 12 13
Brief Berends an Heinrich Meyer vom Pfingstsonntag 1951; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 71. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 18, 1915, Bd. 35, S. 283 f. Eduard Berend: Der Kampf um die Tradition. In: Münchner Neueste Nachrichten 17, 19. 1. 1932. Vgl. den Titel der Monographie Walther Lindens: Aufgaben einer nationalen Literaturwissenschaft. München 1933. Dazu Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 21 f. D. Hilsenbeck: Jean Paul und das neue Deutschland. In: Jean-Paul-Blätter 9, 1933, H. 2/3, S. 39; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 22.
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dische Wissenschaft“ „wesensmäßig verbündet[ ]“14 sei, nicht zu erfassen. Entsprechend propagierte die Jean-Paul-Gesellschaft, die alle ihre jüdischen Mitglieder, so auch Berend (Vorstandsmitglied der Berliner Ortsgruppe), zum Austritt gezwungen hatte, den Plan einer „Volksausgabe“ der Werke Jean Pauls, der mit kritischer Philologie nichts zu tun hatte. Dem damals namhaften Jean-Paul-Forscher Joseph Müller, der sich in Konkurrenz zu Berend um das Klassiker-Erbe sah, schwebte eine Jean-PaulAusgabe vor, in der „ein Genie aus dem Geistesauge gemalt“ wird. Philologie war da nur hinderlich. Denn: Es ist wahrlich wichtiger, daß ein Genius in seiner Bedeutung für sein Volk und die Menschheit verständnisvoll und in packender Form dargestellt wird, als daß jeder Zettel und jeder Einfall zusammengeklaubt und in endlosen Bänden breitgetreten wird.15
Berend hatte zuvor festgestellt, Müller habe Jean Pauls Nachlass in einer Weise behandelt, die kaum den geringsten philologischen Ansprüchen gerecht würde.16 Berend selbst hatte 1927 die Jean-Paul-Edition auf der Basis überprüfbarer philologischer Kriterien begründet. Auf vierzig Seiten legen seine Prolegomena Plan und Prinzipien der historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe dar. Wissenschaftlichkeit und Transparenz ihrer kritischen Textkonstitution sind oberste Maßgabe, der Befund hat Vorrang vor der Subjektivität der Textdeutung. Es geht Berend um „eine den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende kritische Gesamtausgabe“.17 Dabei müssten außer den sämtlichen Werken mit den Lesarten aller Drucke und Handschriften und den Entwürfen dazu auch die Tagebücher und Briefe, womöglich sogar die Briefe an Jean Paul einbezogen, aus dem Nachlaß alles, was sich mit Sicherheit auf ausgeführte oder unausgeführte Werke beziehe oder sonst selbständigen Wert habe, in Anhängen mitgeteilt, die reichlich beizugebenden erklärenden Anmerkungen von den Lesarten scharf getrennt, die Entstehungsgeschichte und ästhetische Würdigung der Werke in ausführliche Einleitungen verwiesen werden.18
Es ist für Berends Bescheidenheit typisch, dass er hier abermals nicht selbst spricht, sondern andere zitiert, wie August Sauer. Selbst Joseph Müller wird, ____________ 14 15 16 17 18
Walther Linden: Aufgaben einer nationalen Literaturwissenschaft. München 1933, S. 6; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 22. Joseph Müller in den Jean-Paul-Blättern 4, 1929, H. 3, S. 73; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 12. Vgl. Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 12. Berend 1927 (Anm. 5), S. 3. Berend 1927 (Anm. 5), S. 4.
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bei aller Kritik, ein Verdienst als frühester Vordenker einer möglichen JeanPaul-Ausgabe zuerkannt; darin äußert sich Berends Streben nach Objektivität. Und es ist für Berends wissenschaftliches Arbeiten bezeichnend, dass er nicht die eigenen Ideen betont, sondern deren Verankerung in der Fachdiskussion. Georg Witkowskis Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke (1924) samt ihrer Aufnahme in der Fachwelt wird als vorbildhaft angeführt, die Bedeutsamkeit von Lehrern wie Franz Muncker hervorgehoben, die Mitarbeit anderer an den Planungen zur Jean-Paul-Ausgabe benannt sowie auf das „vergleichende[ ] Studium aller vorhandenen wesensverwandten Ausgaben und viele[ ] Beratungen mit Fachleuten“ verwiesen.19 Was den Jean-Paul-Herausgeber nach eigener Auffassung zur Aufnahme des Projekts berechtigt, ist, neben der Expertise „einer fast zwanzigjährigen Beschäftigung mit Jean Pauls Werken und Nachlaß“,20 seine Einbindung in den Konsens der Gelehrtengemeinschaft. Allerdings bestand die Gelehrtengemeinschaft für Berend nur intellektuell, in Lektüre und Diskussion. Berend arbeitete als Privatgelehrter, ohne institutionelle Anbindung an eine Universität und ohne Festanstellung. Der Herausgeber der Jean-Paul-Ausgabe wurde auf der Basis von Werkverträgen verpflichtet. Auftraggeber war die Preußische Akademie der Wissenschaften. Wo Berend auf Unterstützung von Mitarbeitern zurückgriff, musste er diese von seinem eigenen Geld bezahlen. Ein Honorar gab es im Übrigen nur für die Text-Edition, nicht für die begleitenden ApparatBände. Anfangs hatte die Jean-Paul-Gesellschaft die Unternehmung gutgeheißen. Doch mit der Übernahme der Gesellschaft durch nationalsozialistische Kräfte begann eine Abwertung der Ausgabe und der Person Berends. Hanne Knickmann hat aufgezeigt, wie Berend zum Spielball eines Kampfes wurde, den die unbedeutende, aber nun mit rechter nationaler Gesinnung auftrumpfende JeanPaul-Gesellschaft gegen die zuvor unangefochtene Autorität der Akademie zu führen begann. Zugleich war es ein Kampf der Ideologie gegen die Wissenschaft. Julius Petersen, Berends Mentor in der Akademie, taktierte einige Zeit, um sowohl die Ausgabe als auch Berend zu schützen. Ab 1934 fehlte Berends Name auf den Titelblättern der herauskommenden Bände, obwohl er sie erarbeitet hatte. Nachdem die Urheberschaft der Leistung unsichtbar geworden war, sollte schließlich auch der Urheber selbst verschwinden. Unter dem Druck der Rassegesetzgebung kündigte die Akademie Berend 1938. Doch unter Zuhilfenahme juristischer Winkelzüge erhielt man seine Arbeitskraft, auch wenn man sich öffentlich von ihm distanzierte. So edierte Berend weiter, trotz anti____________ 19 20
Berend 1927 (Anm. 5), S. 5. Berend 1927 (Anm. 5), S. 5.
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semitischer Hetze, und sogar bereit, ohne Honorar zu arbeiten. „Was mich gerettet hat“, schreibt Berend nach dem Krieg mit Sarkasmus, war – so sonderbar geht es hienieden zu – die Tatsache, dass ich im November 38 einige Zeit ins KZ Sachsenhausen kam, und mit der freundlichen Mahnung entlassen wurde, schleunigst mein „Vaterland“ zu verlassen, widrigenfalls – Ohne diesen Zwischenfall hätte ich mich wohl kaum zur Auswanderung entschlossen und auch nicht in der Schweiz Aufnahme gefunden.21
In den 1930er Jahren, während er die Hetze und die unwissenschaftliche Kritik seiner Konkurrenten um die Rezeption Jean Pauls zu erdulden hatte, lobt Berend derweil in Rezensionen die Arbeit anderer. Dabei wird deutlich, was Berends eigene Ideale sind und wie sehr sie aus klassischer sowie die Klassik rezipierender Literatur stammen. So bespricht er etwa 1932 Hugo Biebers Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts Der Kampf um die Tradition, und in dem Titel scheint Berends eigenes wissenschaftliches Bemühen anzuklingen.22 „Vom Anfang der hier behandelten Epoche“, schreibt Berend, „trennt uns heute ein [...] Jahrhundert; gewiß schon eine lange Frist für unsere vorwärtsstrebende, raschvergessende, pietätlose Zeit.“ Biebers Literaturgeschichte sei „kein lautes Buch“, vielmehr „ein Werk ruhiger Besinnung, reifer Erkenntnis und weiser historischer Gerechtigkeit“. Besinnung, Erkenntnis, Gerechtigkeit sind Vorstellungen, die in unterschiedlichen Formulierungen in den Rezensionen wiederkehren. „[I]ntimste[ ] Einzelkenntnis“ verbunden mit einer „Weite seines Horizontes“ machte bei Bieber wie bei anderen die Qualität aus. Es kommt also darauf an, profundes Detailwissen mit einer „umsichtigen Einbeziehung aller geschichtsbildenden Faktoren“ zu verknüpfen. Positivistische und geistesgeschichtliche Grundhaltungen klingen hier an. Auch lobt Berend an Bieber, dass er methodisch nicht einseitig sei, sondern dass er ausgleiche, versöhne. Dieser Gedanke des Ausgleichens spielt bereits in Berends Würdigung Julius Petersens, seines Mentors an der Akademie, anlässlich von Petersens 50. Geburtstag 1928 eine Rolle.23 Berend spricht zunächst von Petersens „humane[r] Aufgeschlossenheit“. Schon hier gebraucht er die Metapher der „Weite“ des „Horizonts“. Vor allem aber rühmt er Petersens „unparteiische[n], gerecht abwägende[n] und überschauende[n] Sinn“: Und weiter: Wenn er in dem gegenwärtigen Meinungsstreit über Sinn und Methodik der Literaturwissenschaft eine mehr vermittelnde Stellung einnimmt [...], so liegt das [...] an ____________ 21 22 23
Brief Berends an Johann Frerking vom 23. August 1947; zitiert nach Knickmann 1995 (Anm. 2), S. 42. Berend 1932 (Anm. 11). Eduard Berend: Dem 50jährigen Julius Petersen. In: Münchner Neueste Nachrichten, 4. 11. 1928.
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seinem aller Einseitigkeit und Engherzigkeit abgeneigten Gerechtigkeitssinn, der jeder Richtung die ihr im Zusammenhang des Ganzen zukommende Stelle anweist.
Diese Äußerung ist bemerkenswert, insofern sie nicht nur Berends Idealvorstellungen eines Gelehrten zum Ausdruck bringt, sondern sich auch wie eine merkwürdige Antizipation von Petersens Verhalten als Akademiemitglied während der Angriffe der Jean-Paul-Gesellschaft gegen Berend liest. Tatsächlich nahm Petersen in dem „Meinungsstreit“ eine „mehr vermittelnde Stellung“ ein. Eine offene Parteinahme für den Juden Berend hätte ihn unmittelbar gefährdet. Petersens strategisches Verhalten allerdings ermöglichte Berend noch für einige Zeit die Weiterarbeit an der Ausgabe, bis Berend erst im Angesicht drohender Lebensgefahr davon abließ. In Berends Fachartikeln und Rezensionen geht es stets um die – in seinen Worten – „lebendig fortwirkenden Kräfte[ ] unserer literarischen Vergangenheit“,24 nicht aber um die „pietätlose“ Gegenwart. Die Texte weisen dabei nicht nur auf Berends Ethos, sondern auch auf seine Position als Literaturwissenschaftler hin. Wenn vom „sichere[n] Erspüren“, vom „tiefe[n] Eindringen in die psychologischen Untergründe der Charaktere“, vom „ästhetischen Verständnis“25 und von der Befähigung die Rede ist, etwas „reiner und tiefer zu erfassen und zu offenbaren“ als andere,26 so äußern sich hier Vorstellungen, die hermeneutisch, geistesgeschichtlich orientiert sind und die Werkimmanenz eines Staiger vorwegnehmen. Dies erklärt den Umstand, dass Berends JeanPaul-Ausgabe nicht nur befundorientiert ist, sondern darüber hinausgehend Perspektivierung Jean Pauls als Klassiker. Berends Jean-Paul-Ausgabe ist klassische Ausgabe im doppelten Sinn. Sie ist eine klassische Buch-Edition auf der Grundlage traditionellen Philologenhandwerks und mit dem Ziel möglichst umfassender Darstellung. Sie ist eine Klassikerausgabe, die dem „Dichter“, dessen Absicht und abschließender Wille dem Herausgeber als ihrem Sachwalter letztgültige Richtlinie ist, „sein Recht werden zu lassen“27 versucht. Darum wird die Genese der Texte nicht abgebildet, sondern in Vorworten als Entwicklungsgeschichte mitgeteilt; darum steht das „Werk“ im Vordergrund, das letzter Hand präsentiert wird; und darum entspricht dieses editorisch konstituierte „Werk“ letzter Hand nicht wirklich den letzten Fassungen ____________ 24
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Eduard Berend: [Rez.] Wolfgang Stammler: Matthias Claudius, Der Wandsbecker Bothe. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 18, 1915, Bd. 35, S. 283 f. Berend 1932 (Anm. 11). Eduard Berend: Frauen der Romantik. Ein neues Buch von Margarete Susman. In: Münchner Neueste Nachrichten, 30. 3. 1930. Berend 1927 (Anm. 5), S. 5.
Eduard Berend
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des Autors, sondern dem, worin die Expertise des Herausgebers den eigentlichen Willen des Autors sah. Dass Berend die Textgestalt beeinflusste, indem er Normalisierungen vornahm, ist bekannt; schon in den Prolegomena begründet er diesen Eingriff damit, dass der Klassiker seinen Lesern sonst verstellt bliebe. Dass allerdings in die Spätfassung eines Textes Elemente der früheren Fassung einmontiert wurden, war bislang nicht bekannt. Berend hätte diese Eingriffe sicherlich im Einzelnen erläutert. Doch die Apparatbände seiner Werkausgabe sind nie erschienen, da die Nationalsozialisten sämtliche Aufzeichnungen Berends zu den noch fehlenden Bänden für sich beansprucht hatten. Die Edition von Jean Pauls Roman Hesperus, den der Autor in drei verschiedenen Fassungen 1795, 1798 und 1819 vorlegte, wurde unter Leitung Berends von seinem Mitarbeiter Hans Bach besorgt. Ihr liegt die Fassung 1819, also D3, zugrunde, und doch ist Bachs Hesperus nicht D3. Auf der Grundlage des Fassungsvergleichs werden Textpassagen und Absatzeinteilungen aus D1 in den edierten Text eingearbeitet. Über die Begründung kann man nur mutmaßen: Vermutlich hielten die beiden Herausgeber das Fehlen jener Textelemente in D3 für ein jeweiliges Versehen des Setzers. Hier geht es nicht um nur sammelnde Befund-Verwaltung, sondern um Klassiker-Hermeneutik, um ein Verstehen der Autorabsicht, um Rekonstruktion des bestmöglichen Textes. Berends Klassiker-Ausgabe zu Jean Paul ist auch Arbeit am Klassiker Jean Paul. Man fügte Berend Unrecht zu, wenn man seine Klassiker-Ausgabe auf solche Perspektivierung reduzierte. Berend hat, entgegen der traditionellen Vorstellungen von Klassik, an Jean Paul vieles gesehen und betont, was solchen Klassikbegriffen zuwiderläuft: das Unabgeschlossene, Widersprüchliche und Widerständige. Er hat es zu berücksichtigen versucht, im Rahmen der editorischen Prinzipien seiner Zeit und auf der Grundlage der seine Editionsarbeit vor allem bestimmenden Pragmatik. 1957, zehn Jahre nach dem eingangs zitierten Artikel in der Neuen Schweizer Rundschau und dreißig Jahre nach Erscheinen der Prolegomena, kehrt Berend nach Deutschland zurück. Er lebt in Marbach, wo er im Deutschen Literaturarchiv bis zu seinem Tod im September 1973 an der Fortsetzung der Jean-Paul-Ausgabe arbeitet. Er ist „um der Sache willen“ zurückgekehrt, die von ihm, mag sie ihn gefährdet und mag sie ihn getragen haben, jedenfalls nicht zu trennen ist.
Rüdiger Nutt-Kofoth
Friedrich Beißner Edition und Interpretation zwischen Positivismus, Geistesgeschichte und Textimmanenz
1. Man sollte meinen, dass über die editorische Leistung von Friedrich Beißner (1905–1977) kaum noch viele Worte verloren werden müssen. Die Marksteine sind die folgenden: Der Beginn lag in der Mitarbeit an der von Bernhard Seuffert begründeten Wieland-Ausgabe, für die Beißner ab 1935 die verwaisten Kommentarbände zu den schon publizierten Textbänden 1–4 als Honorartätigkeit neben seiner damaligen Arbeit als Studienreferendar und -assessor an staatlichen Schulen übernahm.1 Doch sind diese Kommentarbände nie erschienen,2 weil Beißner den Schwerpunkt seiner Arbeit in den ihm in der Einheit von Text und Kommentar übertragenen Band 20 mit den „Alterswerken“ Wielands legte. Die beiden Teile dieses Bandes wurden 1939 und 1940 veröffentlicht.3 Für den Band fand Beißner bisher unbekannte Handschriften, die er 1938 separat und vorab publizierte. Diese Veröffentlichung ist deshalb von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Editionswissenschaft, weil Beißner in ihr zum ersten Mal die neue Verzeichnungsart von Entstehungsvarianten in Stufenform vorstellt, die im Gegensatz zu den bis dahin üblichen deskriptiven Verfahren eine neue Übersichtlichkeit der Varianten leistete und die Nachvollziehbarkeit der Textgenese erst wirklich ermöglichte. Dieser wichtige Durchbruch in der editorischen Darstellungstechnik war allerdings durch einen Aufsatz von 1934 vorbereitet worden, in dem Beißner neue Lesungen aus ____________ 1 2
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Vgl. das Angebot von Julius Petersen im Brief an Beißner vom 8. 5. 1935; Deutsches Literaturarchiv Marbach (im Folgenden: DLA), Nachlass Beißner, 79.2085/2. Vgl. auch Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Waltraud Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin [auch: München] 1979, 2. Aufl. 1981, S. 585–587. Christoph Martin Wieland: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1: Wielands Werke. Bd. 20: Alterswerke. Hrsg. von Friedrich Beißner. Berlin 1939; Bericht des Herausgebers zu Wielands Werken 20. Bd. Berlin 1940. – Zu Beißners Veröffentlichungen s. auch Maria Kohler: Bibliographie Friedrich Beißner. In: Festschrift für Friedrich Beißner. Hrsg. von Ulrich Gaier und Werner Volke. Bebenhausen 1974, S. 515–539.
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Rüdiger Nutt-Kofoth
Handschriften Hölderlins vorstellt;4 auch hier findet sich schon eine Stufenziffernordnung in rudimentärer Form. In den frühen 1940er Jahren arbeitete Beißner dann nahezu parallel an der Vorbereitung zweier neu zu installierender Ausgaben. Als Redaktor der Schiller-Nationalausgabe von 1940–1942 und gleichzeitiger Privatdozent an der Universität Jena bemühte er sich um die Handschriftensichtung und vor allem um die Herausgabe des Bandes 1, des Textbandes Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799. Das Titelblatt des 1943 erschienenen Bandes nennt als Herausgeber den 1941 verstorbenen Julius Petersen, der auch als Gesamtherausgeber der Ausgabe hatte fungieren sollen, und Beißner, der den Band nach der auf Petersen beruhenden allgemeinen Konzeption erst textkritisch hergestellt hat.5 Nach der Band-Herausgeberschaft in der Wieland- und der Schiller-Ausgabe gelang es Beißner im gleichen Jahr 1943 unter seiner Gesamt- und Bandherausgeberschaft den ersten Band der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe an die Öffentlichkeit zu bringen und damit diejenige Ausgabe zu initiieren, die für die Geschichte der neugermanistischen Edition immense Bedeutung als Orientierungsmaßstab und Kontrastfolie erlangen sollte. Nach professoralen Tätigkeiten in Gießen und Marburg erhielt Beißner 1945 die inoffiziell „HölderlinLehrstuhl“ genannte Professur in Tübingen,6 wo er bis zu seiner Emeritierung 1971 blieb. Diese Professur beförderte Beißners editorische Tätigkeit. Neben
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Friedrich Beißner: Zum Hölderlin-Text. Neue Lesungen zu „Empedokles auf dem Aetna“. In: Dichtung und Volkstum 35, 1934, S. 268–277. Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des SchillerNationalmuseums und der Deutschen Akademie hrsg. von Julius Petersen † und Gerhard Fricke. Bd. 1: Gedichte in der Reihenfolge des Erscheinens 1776–1799. Hrsg. von Julius Petersen † und Friedrich Beißner. Weimar 1943. – Beißner selber forderte seinen Namen auf dem Titelblatt erst ein, als die von ihm geschriebene Einleitung zum ersten Band, die eine Einführung in Schillers Lyrik gab, aufgrund der Intervention von anderen Mitarbeitern bei Gerhard Fricke, Petersens Nachfolger als Gesamtherausgeber der Ausgabe, nicht erscheinen konnte. Beißner sah somit keine Möglichkeit, auf seine Mitarbeit hinzuweisen, wenn nicht auch sein Name neben demjenigen Petersens auf dem Titelblatt erscheinen würde. Dafür entwarf Beißner im Brief an Gerhard Fricke vom 10. Januar 1943 eine genaue Vorlage, die wie im Druck entgegen der alphabetischen Ordnung Petersens Namen zuerst nennt. – Beißner an Gerhard Fricke 10. 1. 1943 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1547/10); s. auch Beißner an die Lektorin des BöhlauVerlages Leiva Petersen am 10. 2. 1943 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1627a/1). – Beißners ursprünglicher handschriftlicher Entwurf von Gesamttitelei und Bandtitelei, der als Herausgeber von Band 1 nur den verstorbenen Petersen erwähnt, ist faksimiliert in Bernhard Zeller: Die Schiller-Nationalausgabe. In: Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. 2 Bde. Ausstellung und Katalog: Bernhard Zeller in Zusammenarbeit mit Friederike Brüggemann u. a. Mit Beiträgen von Albrecht Bergold u. a. Marbach 1983 (Marbacher Kataloge. 38), Bd. 1, S. 366– 387, hier S. 372 f. Vgl. Antrittsrede des Herrn Beißner, Tübingen. In: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1972. Heidelberg 1973, S. 95–98, hier S. 97.
Friedrich Beißner
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der dreibändigen Studienausgabe zu Wieland 1964/657 gab er bis 1961 in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe die fünf Bände mit den literarischen Werken allein heraus, Adolf Beck bis 1977, Beißners Todesjahr, die Bände mit den Briefen und Lebensdokumenten, schließlich Beck zusammen mit Ute Oelmann 1985 den Nachtrags- und Registerband.8 In der Schiller-Nationalausgabe realisierte Beißner allerdings keinen Band mehr.9 Deren Geschichte wie auch die Geschichte der Hölderlin-Ausgabe, insbesondere auch die ihrer Anfänge in der NS-Zeit, müssen an dieser Stelle nicht noch einmal rekapituliert werden, da hierzu eine Reihe von Veröffentlichungen vorliegt.10 Stattdessen werden Ele____________ 7 8
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Christoph Martin Wieland: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Hrsg. von Friedrich Beißner. München 1964/65. Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Friedrich Beißner [und Adolf Beck]. 8 Bde. in 15. Stuttgart 1943–1985. – Das Wörterbuch, das Beißner von Anfang an – wie auch bei der Schiller-Nationalausgabe – als integralen Bestandteil der Ausgabe angesehen hat und für das in den Anfangsplanungen der Ausgabe Beck zuständig sein sollte, ist als reiner Wortindex und nicht mehr als Teil der Ausgabe in zwei Teilen 1983 und 1992 erschienen. Es zeigt aber, wie in einer bestimmten Phase der Germanistik Lexikografie und Editionswissenschaft, konstitutive Elemente der literatur- und sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung, in viel engerer Verbindung standen als heute. – Wörterbuch zu Friedrich Hölderlin. Auf der Textgrundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe. Teil 1: Die Gedichte. Bearb. von Heinz-Martin Dannhauer, Hans Otto Horch und Klaus Schuffels in Verbindung mit Manfred Kammer und Eugen Rüter. Tübingen 1983 (Indices zur deutschen Literatur. 10/11); Teil 2: Hyperion. Bearb. von Hans Otto Horch, Klaus Schuffels und Manfred Kammer in Verbindung mit Doris Vogel und Hans Zimmermann. Tübingen 1992 (Indices zur deutschen Literatur. 19). – Eine von der Stuttgarter Ausgabe abgeleitete sog. Kleine Ausgabe, die allein Text und reduzierte Einzelstellenerläuterungen enthält, erschien in sechs Bänden 1944/46–1962. Norbert Oellers: Editionswissenschaft um 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt/Main 1996, S. 103–118, hier S. 111, hat als Grund dafür angeführt, dass Beißner „die Ruhe wissenschaftlichen Arbeitens an der Hölderlin-Ausgabe (eine Art Nischen-Existenz?) dem politischen Rumor, der die Schiller-Nationalausgabe umgab“, vorgezogen habe. Doch dürfte auch – und vielleicht sogar eher – veranschlagt werden, dass Beißner mit der Herausgabe der Hölderlin-Ausgabe seinem schon in der Dissertation anvisierten und ihn dann lebenslang begleitenden Generalthema folgte, während die Beteiligung an der Schiller-Ausgabe einem von dritter Seite an ihn herangetragenen Arbeitsauftrag geschuldet war. Zu Hölderlin: Werner Volke: Hölderlins 100. Todestag 1943 (II). Die Stuttgarter HölderlinAusgabe. In: Klassiker in finsteren Zeiten 1983 (Anm. 5), Bd. 2, S. 104–134. – Nils Kahlefendt: „Im vaterländischen Geiste ...“. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und Hölderlin-Gesellschaft (1938–1946). In: Werner Volke, Bruno Pieger, Nils Kahlefendt, Dieter Burdorf: Hölderlin entdecken. Lesarten 1826–1993. Tübingen 1993 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft. 17), S. 115–163. – Lioba Waleczek: „Doch Vergangenes ist, wie Künftiges heilig ...“. Zur Editionsproblematik der Stuttgarter und der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. Baden-Baden [1993], S. 157–245. – Stefan Metzger: Editionen. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Johann Kreuzer. Stuttgart, Weimar 2002, S. 1–12, bes. S. 4–7. – Dierk O. Hoffmann, Harald Zils: Hölderlin-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 199–245. – Zu Schiller: B. Zeller 1983 (Anm. 5). – Norbert Oellers: Fünfzig Jahre Schiller-Nationalausgabe – und kein Ende? Mit einer Vorrede von Helmut Engler und einer Vorbemerkung von Ulrich Ott. Marbach/Neckar 1991. – HansDietrich Dahnke: Friedrich Beißners Einleitung zum ersten Band der Schiller-Nationalausgabe. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, S. 513–548. – Bodo Plachta: Schil-
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mente dieser Entstehungsgeschichte im Folgenden dann herangezogen und um Erkenntnisse aus bisher unveröffentlichten Dokumenten aus dem Nachlass Friederich Beißners erweitert, wenn sie für die hier in Rede stehende Interdependenz von Geschichte der Editionswissenschaft und Geschichte der Literaturwissenschaft aus dem Fokus von Beißners wissenschaftlicher Position und Tätigkeit funktional gemacht werden können.11 Die Bedeutung von Friedrich Beißner für die neugermanistische Editionswissenschaft scheint nur graduell zu variieren, auch wenn neuere Bewertungen von Hans Zeller und Klaus Hurlebusch 2003 und 2008 die Differenzen zwischen Beißners und Zellers eigener Editionskonzeption, die sich ab 1958 mit dem Erscheinen der von Zeller mitherausgegebenen C. F.-Meyer-Ausgabe zu manifestieren begann,12 verstärkt herausstellen.13 Verbreitet ist dagegen eher die Einschätzung etwa von Bodo Plachta, der Beißners Darstellungsverfahren als „wichtigsten Schritt“ dazu bezeichnet, die „Darstellung der Textentwicklung als originäre Aufgabe des Editors zu verstehen“ und damit den Apparat zum „Partner des Edierten Textes“ zu machen.14 Norbert Oellers konnte daher __________
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ler-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren 2005 (s. o.), S. 389–402. – Siehe auch Bodo Plachta: Die Politisch-Herrschenden und ihre Furcht vor Editionen. In: Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1998 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 3), S. 303–342, hier S. 323–330. Für Sachinformationen zu verschiedenen der im Folgenden erwähnten Wissenschaftler wurde auch herangezogen: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Bearb. von Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt u. a. 3 Bde. Berlin, New York 2003; insbesondere die Artikel zu Adolf Beck (Bd. 1, S. 110–112, von Martin Vöhler), Friedrich Beißner (Bd. 1, S. 125–127, von Norbert Oellers), Gerhard Fricke (Bd. 1, S. 525–527, von Gudrun Schnabel), Julius Petersen (Bd. 2, S. 1385–1388, von der Redaktion), Walther Rehm (Bd. 3, S. 1473–1475, von Hans Peter Herrmann) und Karl Viëtor (Bd. 3, S. 1943–1946, von Carsten Zelle). Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch [Bd. 15 von Rätus Luck]. 15 Bde. in 16. Bern 1958–1996. Als wichtige erste Darlegung ist zu nennen: Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 1958, S. 356–377; wiederabgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 194–214. Hans Zeller: Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 5), S. 143– 207, hier S. 152: „Die moderne genetische Edition entwickelte sich zwar in Reaktion auf die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe [...], sie war jedoch keineswegs deren Weiterentwicklung, weder in technischer noch vor allem in ideeller Hinsicht.“ Daher konnte Zeller prononciert formulieren ebd., S. 143: „Die Modelle der modernen genetischen Edition haben sich als Gegenzug zu Beißners Modell verstanden.“ – Klaus Hurlebusch: Ein großer Philologe. Hans Zeller zum achtzigsten Geburtstag. In: Editionen in der Kritik 2, 2008 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 7), S. 169–210, hier S. 170, mit der Differenzierung von Beißners „Kohärenzkonzept“ gegenüber Zellers „Adäquanzkonzept“. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2., ergänzte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2006 (1. Aufl. 1997), S. 33.
Friedrich Beißner
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in seinem biografischen Abriss zu Friedrich Beißner innerhalb des Bandes Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts 2000 Beißners Lebensleistung, die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, als einen „Höhepunkt in der Geschichte historisch-kritischer Ausgaben“ bezeichnen.15 Jochen Schmidt, Beißner-Schüler und „Beißner-Erbe in der Hölderlin-Forschung“,16 charakterisiert Beißner in seinem Nachruf 1977: „Er war kein Wissensmanager, kein Großgermanist, dafür aber ein großer Germanist.“17 Auch Wilfried Barner, Beißners Lehrstuhl-Nachfolger in Tübingen, macht in einem anderen Nachruf ganz in diesem Sinne auf die Verbindung von Edition und Interpretation in Beißners Tätigkeit aufmerksam, die ihn eine historisch herausragende Rolle spielen lasse: „Als Editor und Interpret gehört Beißner zu den prägenden Gestalten der Germanistik nach dem Zweiten Weltkrieg.“18 Gute 30 Jahre später ist diese Zuschreibung von Barner allerdings stark modifiziert worden. Barner beschreibt Beißner nun als „Solitär“, der „zwar mehreren Theorie-‚Strömungen‘ begegnet ist, aber keine von ihnen im strikteren Sinn ‚repräsentiert‘, und der eine ‚Schule‘ nur in sehr speziellem Betracht bildet“, nämlich nur für den „Bereich der literaturwissenschaftlichen Edition“. Indem Beißner von Barner als „philologischer Theorie-Skeptiker“ gefasst und ‚Philologie‘ „im Sinne eines Insistierens auf dem Besonderen, auch dem Devianten, nicht Regelgerechten“ als „begriffliche[s] Zentrum“ einer Beißner’schen „(Gegen-)Konzeption“ angeführt wird, kann er nun in der Tat als „Solitär“ erscheinen, und zwar auch auf der Ebene der wissenschaftlichen Einflusssphäre im Verhältnis zu Benno von Wiese, Wolfgang Kayser und Emil Staiger, „den strategisch ihre Imperien ausbauenden und hütenden großen Drei“.19 Das ist in vielerlei Hinsicht durchaus zutreffend. Doch wollen die nachfolgenden Überlegungen nun stärker auf die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge von Beißners germanistischer Tätigkeit aufmerksam machen.
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Norbert Oellers: Friedrich Beißner (1905–1977). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 228–234, hier S. 232. Oellers 2000 (Anm. 15), S. 234. Schwäbisches Tagblatt, 31. 12. 1977; zitiert nach Oellers 2000 (Anm. 15), S. 234. Wilfried Barner: Friedrich Beißner zum Gedächtnis. 26. 12. 1905–29. 12. 1977. In: Attempto 63/64/65, 1978/1979, S. 248–250, hier S. 248. Publiziert als Wilfried Barner: Die Attraktivität der Theorie-Skepsis: Friedrich Beißners Vorlesungen zur Poetik. In: Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975. Hrsg. von Hans-Harald Müller, Marcel Lepper und Andreas Gardt. Göttingen 2010 (marbacher schriften. n. f. 5), S. 273–297, hier S. 273, 279, 281, 278, 277.
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2. Friedrich Beißner, der Editor, ist das geprägte Bild des Germanisten Beißner. Davon zeugt noch die Einleitung, die der Beißner-Schüler Werner Keller der kleinen Sammlung von Beißner-Vorträgen zu Kafka 1983 vorangehen lässt und in der er fünf Seiten lang über den Hölderlin-Herausgeber redet, bevor er auf sechs Seiten zu Beißners Kafka-Deutung kommt.20 Welches aber ist der wissenschaftsgeschichtliche Standort des Editors Beißner? Schaut man auf die Publikationen Beißners, so fällt auf, dass darunter nur relativ wenige sind, die sich explizit mit allgemeinen Fragen der Editionsphilologie und Editionsmethodik beschäftigen. Eigentlich gibt es nur drei Aufsätze zu diesem Thema. 1958, 20 Jahre nach der Veröffentlichung der separaten Abhandlung zu den Wieland-Handschriften und 16 Jahre nach dem ersten Hölderlin-Band, erscheinen zunächst auf 16 Seiten Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter im Supplementum II von orbis litterarum. Um diese Zeit geht Beißner allerdings mit dem Gedanken zu einer editionsphilologischen Monografie um. Nicht von ungefähr möchte Beißner in deren Titel das Wort „Editionstechnik“ meiden und lieber von „Editionsmethoden“ sprechen.21 Ein Jahr zuvor war Hans Zellers Aufsatz mit genau jenem Wort im Titel erschienen: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen,22 ein Aufsatz, den Beißner als einen Gegenentwurf zu seinem Editionsverfahren verstehen musste. Beißner will weder Zellers Vorgabe übernehmen, noch versteht er sein Verfahren als reine Technik. Das schon für das Ende des Wintersemesters 1959/60 anvisierte Buch ist allerdings nie realisiert worden. Stattdessen erscheint 1964 unter dem Titel des angekündigten Buches auf 24 Seiten Beißners Vortrag Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie auf dem Germanistentag von 1963 im entsprechenden Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie. Vielfach wiederholt der Aufsatz dabei Themen und Beispiele aus dem Aufsatz von 1958. Im gleichen Jahr 1964 kommt dann noch Beißners Beitrag zur Festschrift Josef Quint heraus, der sich unter dem Titel „Lesbare Varianten“ mit einer Alternative zu Manfred Windfuhrs Editionsprobe von Versen aus Heines Atta Troll beschäftigt. Diese Alternative besteht aus Beißners eigenem Darstellungsverfahren für die Textgenese, das er gegen Windfuhrs Verzeichnungsweise anführt. Doch ganz eigentlich ist der neunseitige Beitrag eine ____________ 20 21 22
Werner Keller: Einführung. In: Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka und andere Vorträge. Mit einer Einführung von Werner Keller. Frankfurt/Main 1983, S. 7–17. Brief an Leiva Petersen, 1. Juli 1959 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1627a/4), Typoskript-Durchschlag. Siehe Anm. 12.
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vehemente Zurückweisung von Hans Zellers Editionsverfahren für dessen Meyer-Ausgabe, in deren Tradition Beißner nun auch Windfuhr sieht.23 Wie die Aufgabe, Textgenese darzustellen, zu lösen sei, hatte Beißner schon im Vorfeld der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe 1942 knapp dargelegt. Im Rückblick zeigt sich, dass er seine Konzeption nicht aus einer allgemeinen Diskussion der Editionsmethodik entwickelt hat, sondern aus der speziellen Lage der Autorphilologie zu Hölderlin. Georg Witkowskis Monografie zum neugermanistischen Edieren von 1924, die erste, die sich speziell mit diesem Feld in Differenz zur Edition antiker oder mittelalterlicher Autoren beschäftigt, oder den später als Gründungsaufsatz der ‚gegenbeißnerischen‘ Editionsmodelle reklamierten Beitrag von Reinhold Backmann im Euphorion, ebenfalls von 1924, hat Beißner nie ausführlich diskutiert.24 Sein Verfahren entsteht als Gegenmodell zu den vorliegenden jüngeren Hölderlin-Ausgaben von Hellingrath/Seebaß und Zinkernagel.25 Gegen Hellingraths Auswahlapparat setzt
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Friedrich Beißner: Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter. In: orbis litterarum. Supplementum 2: Théories et Problèmes. Contributions à la méthodologie littéraire, 1958, S. 5–20. – Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft zur Tagung der deutschen Hochschulgermanisten vom 27. bis 31. Oktober 1963 in Bonn, S. 72–95. – Friedrich Beißner: Lesbare Varianten. Die Entstehung einiger Verse in Heines ‚Atta Troll‘. In: Festschrift Josef Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht. Hrsg. von Hugo Moser, Rudolf Schützeichel und Karl Stackmann. Bonn 1964, S. 15–23. – Beißner reagiert mit der Editionsprobe zu Heine kritisch auf die Darlegung von Manfred Windfuhr: Zu einer kritischen Gesamtausgabe von Heines Werken. Auswertung der Sammlung Strauß. In: Heine-Jahrbuch 1962, S. 70–95, bes. S. 72–80. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924; Teilabdruck in Dokumente 2005 (Anm. 12), S. 78–114. – Reinhold Backmann: Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. (Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien). In: Euphorion 25, 1924, S. 629–662; Teilabdruck in Dokumente 2005 (Anm. 12), S. 115–137. – Zur Bewertung der Bedeutung Backmanns s. Klaus Hurlebusch: Edition. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt/Main 1996, S. 457–487, hier S. 481 f., und H. Zeller 2003 (Anm. 13), S. 159–161; besonders noch Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 7–51, hier S. 23, Abschnittstitel: „Reinhold Backmann: theoretischer Begründer der modernen editionsphilologischen Textgenetik“. Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebass besorgt durch Norbert v. Hellingrath bzw. Begonnen durch Norbert v. Hellingrath. Fortgeführt durch Friedrich Seebass und Ludwig von Pigenot. Bd. 1–6. München, Leipzig bzw. Berlin 1913–1923; 2. Aufl. von Bd. 1, 4 und 5. Berlin 1923; 3. Aufl. Bd. 1–4. Berlin 1943. – Friedrich Hölderlins Sämtliche Werke und Briefe in fünf Bänden. Kritisch-historische Ausgabe von Franz Zinkernagel. Bd. 1–5. Leipzig 1914–1926; das nachgelassene Manuskript zu den nicht mehr erschienenen Apparatteilen von Zinkernagels Ausgabe gelangte im Zuge der Vorbereitungen der Stuttgarter Ausgabe in die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, s. unten, Anm. 52.
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er Vollständigkeit „bis zum letzten Häkchen“,26 „bis aufs letzte Tüttelchen“,27 wie er es später nennt; gegen Zinkernagels deskriptiv-räumliche Beschreibung des Manuskripttextes stellt er die zeitliche Dimension der Textentwicklung in den Vordergrund, in dem er dieser Entwicklung einen teleologischen, finalistischen Impetus voraussetzt; und noch gegen die Berücksichtigung von Faksimiles, die später, in den 1970er Jahren, ja eine Grundkonstituente der gegen Beißners Ausgabe zielenden Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von D. E. Sattler bilden sollte,28 bezieht er Position: [Es] wird niemand im Ernst behaupten, daß dem mit Hölderlin-Handschriften nicht vertrauten Leser ein Faksimile Nutzen bringen könnte. Aufgabe des Philologen ist es vielmehr, das Verwickelte zu entwickeln und das Werden des einzelnen Gedichts bei letztmöglicher Vollständigkeit doch leicht überschaubar darzustellen. Auf eine (sonst wohl übliche) umständliche Angabe, wo die einzelnen Varianten stehen – ob über, unter, links oder rechts neben der früheren (gestrichenen, unterstrichenen oder eingeklammerten) Fassung –, muß freilich an den besonders schwer zu übersehenden Stellen verzichtet werden.29
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Friedrich Beißner: Hölderlins letzte Hymne [zuerst 1948/49]. In: Ders.: Hölderlin. Reden und Aufsätze. 2., durchgesehene Aufl. Köln, Wien 1969 (zuerst Weimar 1961), S. 211–246, hier S. 213. Beißner 1964, Editionsmethoden (Anm. 23), S. 77; vgl. auch Friedrich Beißner: Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. In: Beißner 1969/61, Hölderlin. Reden und Aufsätze (Anm. 26), S. 251–265, hier S. 253. – Beißner 1958 (Anm. 23), S. 15: „bis zum letzten Tüpfelchen“. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Hrsg. von D. E. Sattler. Frankfurt/Main [seit 1985: Basel, Frankfurt/Main] 1975 ff. Friedrich Beißner: Bedingungen und Möglichkeiten der Stuttgarter Ausgabe. In: Die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Ein Arbeitsbericht. Hrsg. im Auftrag des Württ. Kultministeriums vom Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe Ministerialrat Theophil Frey. Stuttgart 1942, S. 18–30, hier S. 24. – Schon in Hellingraths Ausgabe wurde in der Einleitung zum Anhang des ersten Bandes über die Leistungsfähigkeit von Faksimiles nachgedacht: „Wo aber Handschriften Abweichungen vom Texte bieten, schien uns die Aufgabe möglichst dokumentarisch unübersichtlich und ungeniessbar zu sein in unserm Falle für den Photographen so viel leichter als für den Philologen und Setzer, dass wir auf jene Vollständigkeit verzichtet haben, welche aus unsern Angaben die Handschrift gleichsam wiederherzustellen erlaubte“; Hölderlin-Ausgabe, Hrsg. Hellingrath (Anm. 25), Bd. 1: Jugendgedichte und Briefe. 1784–1794. Besorgt durch Friedrich Seebass. 2. Aufl. 1923 (zuerst 1913), S. 353. Beißner kommentiert dieses Zitat später: „Man wird diesen Verzicht bedenklich nennen müssen; denn abgesehn davon, daß man unmöglich alle von Hölderlin hinterlassenen Handschriften faksimilieren könnte, wäre es auch ein Unding, solche Brouillons dem mit des Dichters Schreibgewohnheiten nicht vertrauten Laien in die Hand zu geben. Man kann sich nämlich nicht von heute auf morgen in Hölderlins Schrift einlesen. Es gehört schon ein Studium dazu. Doppelt bedenklich aber erscheint Hellingraths auswählendes Verfahren gegenüber den Gedichten der reifen Zeit, den großen Oden, Elegien und Gesängen. Er läßt wirklich ganze Entwürfe ungedeutet beiseite“; Beißner 1969/61, Aus der Werkstatt (Anm. 27), S. 257 f. Zur Ersetzung der „r ä u m l i c h e [n] Beschreibung des handschriftlichen Befundes“ durch „die z e i t l i c h e n Schichten der Entstehung“ bei Beißner s. ebd., S. 259.
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Das so beschriebene Verfahren, die eigentliche Beißner’sche editionsmethodische Innovation, hat Beißner lebenslang ohne weitere Modifikationen beibehalten und als allgemeingültiges Muster verstanden.
3. Beißners editionsphilologische Perspektive ist relativ vollständig in dem Aufsatz Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie von 1964 niedergelegt. Das editionsmethodische Rüstzeug, das er dort entfaltet, muss hier nicht noch einmal vorgestellt werden. Hilfreicher ist in unserem Zusammenhang der Blick auf die wissenschaftsgeschichtliche Perspektive, die Beißner mit den ersten Worten seines Textes aufruft. Er beginnt nämlich mit einem Zitat aus Wilhelm Scherers Aufsatz zur Goethe-Philologie aus dem Jahr 1877, das als die „elementaren philologischen Tätigkeiten“ zwei Bereiche benennt: „Herausgeben und Erklären“.30 Gemeint sind damit die beiden Bereiche Edition und Interpretation. Mit dem Herausgeben, in Beißners Zuordnung hier zur „Philologie“ gehörig, wird sich der ganze Aufsatz Beißners beschäftigen, dem Erklären genügen ein paar Hinweise. Beißner ordnet diesem Bereich nämlich die „Philosophie“ zu und verweist in einer Anmerkung auf Rudolf Ungers Abhandlung Literaturgeschichte als Problemgeschichte von 1924. Damit sind zwei wissenschaftsgeschichtlich aufeinanderfolgende Epochen der deutschen Literaturwissenschaft von der Chronologie in die Systematik transferiert. Der Positivismus, für den Scherer als Schlagwort steht,31 wird der Edition zugeordnet, die Geistesgeschichte, die mit der Nennung von Ungers in Diltheys Nachfolge stehender Arbeit evoziert ist,32 wird der Interpretation appliziert. Schaut man jedoch genauer hin, sieht man, wie halbherzig diese Zuordnung, die Beißner in einem knappen Absatz aufreißt, eigentlich ist. Nicht von unge____________ 30 31
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Beißner 1964, Editionsmethoden (Anm. 23), S. 72. Der postum auf Scherer und seine zahlreichen einflussreichen Schüler angewandte Begriff des ‚literaturwissenschaftlichen Positivismus‘ ist von Scherer nie als explizit formulierte Wissenschaftskonzeption vertreten worden; vgl. Hans-Harald Müller: Wilhelm Scherer (1841–1886). In: Wissenschaftsgeschichte 2000 (Anm. 15), S. 80–94, hier S. 82. Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey. Berlin 1924 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. 1. Jahr. Geisteswissenschaftliche Klasse. H. 1). – Unger hatte schon 1908 mit seiner Programmschrift Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft die Abkehr vom Positivismus und den Übergang zur Geistesgeschichte eingeläutet; vgl. den Überblick bei Ralf Klausnitzer: Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Hrsg. von Thomas Anz. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart, Weimar 2007, S. 70–147, hier S. 93 f. – Siehe auch Tom Kindt: Wilhelm Dilthey (1833– 1911). In: Wissenschaftsgeschichte 2000 (Anm. 15), S. 53–68, hier S. 68.
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fähr nämlich zitiert er Scherers „Erklären“. Wollte er sich auf die geistesgeschichtliche Interpretation einlassen, hätte er ein anderes Schlagwort wählen müssen, nicht Scherers für das Konzept einer Analogie von Geistes- und Naturwissenschaften stehendes ‚Erklären‘, sondern Diltheys Differenzkonzept des geistesgeschichtlichen ‚Verstehens‘. ‚Verstehen‘ war ja das Schlagwort der Wende vom Positivismus zur Geistesgeschichte,33 wenn man schon schematisch argumentieren will.34 Dass Beißner aber für den Bereich der Interpretation das dem geistesgeschichtlichen Zugriff gerade historisch nicht adäquate ‚Erklären‘ anführt, verweist auf den Zielpunkt auch seines interpretativen Literaturverständnisses. Beißner, der Interpret, der allen geistesgeschichtlichen Zugriffen auf Literatur skeptisch gegenüberstand, zeigt vielleicht in seinem Zugang zu Kafka am stärksten jene Anklänge an und Fortschreibungen des Scherer’schen Literaturwissenschaftskonzepts. Die Interpretation von Kafkas Erzählwelt leistet Beißner über die Analyse von Kafkas Erzählverfahren bei gleichzeitiger Ablehnung geistes- und ideengeschichtlicher Zugänge: Bei allem Respekt vor den Bemühungen und Ergebnissen einer auf dichterische Werke angewandten Religionswissenschaft oder Philosophiegeschichte kann ich mich doch nicht davon überzeugen, daß mit dem Nachweis von Lektürespuren etwas Wesentliches für das Verständnis eines Dichters – eines D i c h t e r s – gewonnen sei. [...] Der in die begriffliche Sprache der Philosophie oder der Theologie übersetzbare Inhalt oder Rohstoff hat mit dem Gedicht selber noch gar nichts zu tun, und die Aufgabe des Deuters beginnt erst mit der Frage, wie der Stoff künstlerische Gestalt wird.35
Hier kommt er 1951, in seinem ersten sich mit Kafka beschäftigenden Vortrag, zu der epochemachenden Markierung dieser Erzählhaltung als „einsinnig“, mit ____________ 33 34
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Vgl. auch Klausnitzer 2007 (Anm. 32), S. 94; Kindt 2000 (Anm. 32), S. 63–67. Zur systematischen Differenzierung von Positivismus und Geistesgeschichte vgl. Hans-Harald Müller: Die Lebendigen und die Untoten. Lassen sich Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaftskonzeptionen als „Kontroversen“ rekonstruieren? Am Beispiel von Positivismus und Geistesgeschichte. In: Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse. Hrsg. von Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase. Bern u.a. 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N. F. 19), S. 171–182. Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka. In: Beißner 1983 (Anm. 20), S. 19–54 (gedruckt zuerst 1952), hier S. 21 f. – Der Vorwurf, den Beißners Schüler Werner Keller in der Einführung zur Sammlung der Kafka-Vorträge erhebt, Beißner behandle „Kafkas Erzählform, als sei diese der geschichtlichen und gesellschaftlichen Konditionen enthoben“, gründet auf einer anderen – sozialgeschichtlichen – Interpretationsmethode und kann deshalb Beißners Verfahren nur aus einer meta-methodologischen Perspektive treffen, gleichfalls Kellers Kritik an der „unreflektierte[n] Wertvorstellung Beißners in aestheticis“; Keller 1983 (Anm. 20), S. 15. Aus Beißners Perspektive, nämlich der seiner eigenen, gänzlich anderen methodischen Vorannahmen, ist seine Herangehensweise ganz kongruent.
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der es Kafka gelinge, eine „einheitlich strukturierte Welt“ darzubieten.36 Ebenfalls 1951 hatte Martin Walser bei Beißner seine Dissertation zu Kafka abgeschlossen. Der ein Jahrzehnt später erschienenen Druckfassung Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka gab Walser ein Nachwort mit, in dem er den Einfluss Beißners genau bezeichnet. Deutlicher als in diesem Nachwort lässt sich kaum aufzeigen, wie der sich bei Walser manifestierende frühstrukturalistische Zugriff Beißners in einem Analogieverhältnis zum Positivismus steht: Ich habe es meinem Lehrer Friedrich Beißner zu danken, daß ich auf einen nicht gar zu abseitigen Weg geriet. Vielleicht hätte ich sonst auch freiweg spekuliert, ob im Kafkaschen Gebäude mehr Gericht oder mehr Gnade residiert; so aber machte ich mich daran, Türen und Fenster zu zählen und festzustellen, welche Figuren Zylinder und welche Bärte tragen, und warum Kafka so häufig „allerdings“ gebraucht. Über Gericht und Gnade wechselt man unter Umständen seine Ansicht schon bald, während das, was man lediglich seiner Funktion nach registrierte, seinen schlichteren Anspruch länger erheben darf, es sei denn der Zählende hätte sich grob verzählt. Das aber kann nachgeprüft werden.37
Nicht nur für den Längsschnitt einer literaturwissenschaftlichen Theoriegeschichte, sondern auch auf der historischen Ebene der Personenfolge lässt sich in diesem Sinne eine Verbindung ziehen. Seitdem sein Gießener Lehrer Karl Viëtor den zu dieser Zeit an Schulen unterrichtenden Beißner 1935 an Julius Petersen nach Berlin empfohlen hatte,38 wurde Petersen ein vehementer Fürsprecher Beißners. Er vermittelte ihn in die von ihm an der Preußischen und der Deutschen Akademie betreuten bzw. zu installierenden Editionsprojekte zu Wieland und Schiller. Petersen aber war ab 1920 der Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl von Erich Schmidt, der nun wiederum ein Schüler und zweimaliger Lehrstuhlnachfolger von Wilhelm Scherer, in Straßburg 1877 und in Berlin 1887, war.39 Auch aus dieser Perspektive erscheint es schlüssig, dass Beißner, der seinen zentralen Editionsaufsatz von 1963/64 mit Rekurs auf Scherers Wissenschaftskonzept und dessen Aufsatz Goethe-Philologie eröffnet, seinen wichtigen interpretativen Vortrag über Kafkas Erzählverfahren 1951/52 mit der Bemerkung beginnt: „Von dem Erzähler Franz Kafka möchte ich zu Ihnen ____________ 36 37 38
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Beißner 1983, Erzähler (Anm. 35), S. 37 und 24. Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka. 2. Aufl. München 1963 (zuerst 1961, ohne Untertitel), S. 130. Siehe folgende Briefe im DLA, Nachlass Beißner: Viëtor an Beißner, 10. 4. 1935 (79.2230/11); J. Petersen an Beißner, 8. 5. 1935 (79.2085/2); Beißner an Viëtor, 11. 5. 1935, Entwurf (79.1698/11). Vgl. auch Wolfgang Höppner: Erich Schmidt (1853–1913). In: Wissenschaftsgeschichte 2000 (Anm. 15), S. 107–114, hier S. 109–112, zur Nachfolge durch Petersen ebd., S. 114.
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sprechen, und zwar spreche ich als Philologe. Das vorauszuschicken, ist nicht müßig.“40
4. Beißner, der herausgebende Philologe, interpretierte auch als Philologe, der sich mit dem Text, aber kaum mit allfälligen Kontexten beschäftigt. Das hatte Konsequenzen. Der Blick auf sie wird frei, wenn man den Weg über ein weiteres Zitat aus dem ersten Kafka-Vortrag geht. Dort hatte es geheißen: „die Aufgabe des Deuters beginnt erst mit der Frage, wie der Stoff künstlerische Gestalt wird.“41 Dieses Interesse für das ‚Werden‘ des Kunstwerks verknüpft nun auf einem zweiten Weg Beißners editorische und interpretatorische Ausrichtung. Schon in der Akademie-Publikation von 1938, die die neu aufgefundenen Wieland-Handschriften präsentiert und in der Beißner sein Stufenmodell zur Darstellung der Textgenese zum ersten Mal ausführlich erprobt, führt Beißner jenes Goethe-Zitat an, das den Kern seiner editorischen und interpretatorischen Ausrichtung spiegelt: „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“42 Beißner hat mit diesem Zitat mehrfach sein Editions- und Interpretationsverständnis illustriert.43 Noch in seiner Antrittsrede als Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1972 führt er es an,44 und seine Schüler und Kollegen betrachteten 1974 „im Entstehen aufhaschen“ als „heimliche[n] Titel“ zur Festschrift für Friedrich Beißner, „wenn wir ihn auch nicht auf den Bucheinband gesetzt haben.“45 Im Zusammenhang mit diesem Zitat hatte Beißner 1938 auch sein ‚organologisches‘ Verständnis46 von Textgenese in die botanische Bildlichkeit der Formel: „vom ersten Keim des Gedankens ____________ 40 41 42
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Beißner 1983, Erzähler (Anm. 35), S. 21. Siehe Anm. 35. Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt von Friedrich Beißner. Berlin 1938 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1937. Phil.-hist. Klasse. Nr. 13), S. 4; Goethe an Carl Friedrich Zelter, 4. August 1803; Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abth. IV: Goethes Briefe. Bd. 16: 1802. 1803. Weimar 1894, S. 265 f. Etwa in Beißner 1969/61, Hölderlins letzte Hymne (zuerst 1948/49; Anm. 26), S. 212, verkürzt auch S. 214 und 217. Beißner 1973 (Anm. 6), S. 97, im verkürzten indirekten Zitat auch S. 98, dort in Verbindung mit der im vorliegenden Beitrag im Folgenden erörterten, in der Antrittsrede aber in der botanischen Bildlichkeit reduzierten Formel: „vom ersten Entwurf bis zur vollendeten Gestalt“. Ulrich Gaier, Werner Volke: [Vorbemerkung]. In: Festschrift 1974 (Anm. 3), S. [V]. Vgl. Erhard Weidl: Das Elend der Editionstechnik. In: LiLi 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, S. 191–199, hier S. 191, der in seiner Kritik von „organologischer Wachstumsideologie“ spricht.
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bis zur entfalteten Form“ gebracht.47 Dies geschieht ohne Nachweis, und doch ist diese Formel in der Studie zu den Wieland-Handschriften ein nahezu wörtliches Zitat aus dem epochemachenden, weil zum ersten Mal das Spätwerk Hölderlins präsentierenden vierten Band von Norbert von Hellingraths Hölderlin-Ausgabe, der 1916 erschienen war. Schon dort ist die Rede vom „fliessenden Übergang des Gedichtes von seinem ersten Keim zur lezten Gestalt (oder Entstellung)“.48 Mit der Bewusstmachung dieser nicht markierten Entlehnung aus Hellingraths Hölderlin-Ausgabe wird der Blick aber frei für eine spezifische Anbindung Beißners an die Epoche der Geistesgeschichte jenseits des postulierten Rückgriffs auf Scherers positivistische Konzeption von Literaturwissenschaft. Deutlich wird dabei zunächst, wie Beißner, der Hölderlin-Editor, der antrat, Hellingraths und dann auch Zinkernagels Hölderlin-Ausgabe mit seiner Stuttgarter Ausgabe zu ersetzen, in nahezu vollständiger Analogie zu Hellingrath in die Literaturwissenschaft gelangt. Hellingraths akademische Laufbahn begann 1910/11 mit seiner Dissertation Pindar-Übertragungen von Hölderlin, die den bezeichnenden editionsphilologischen Untertitel „Prolegomena zu einer Erstausgabe“ trägt.49 Der Band 5 mit den Pindar- und Sophokles-Übersetzungen Hölderlins eröffnete dann auch 1913 Hellingraths Hölderlin-Ausgabe.50 Beißner, der Klassische und Deutsche Philologie studiert hatte, ging nahezu den gleichen Weg und promovierte 1932 mit der Dissertation Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen bei dem Altphilologen Hermann Fränkel in Göttingen, eine Arbeit, die über weite Strecken vielfältige textkritische und ____________ 47
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Beißner 1938 (Anm. 42), S. 4. – Aus dieser Formel hat Beißner den metaphorischen Begriff der ‚Keimworte‘, mit dem er Hölderlins erste Arbeitsphase in einer Entwurfshandschrift bezeichnet, abgeleitetet; illustriert z. B. in Beißner 1969/61, Hölderlins letzte Hymne (zuerst 1948/49; Anm. 26), S. 214–217. – Günther Müller hat in seiner in den 1940er Jahren entwickelten ‚Morphologischen Poetik‘ Beißners textgenetischen Ansatz nicht explizit verarbeitet, wie auch Beißner sich später nicht auf Müllers ‚Morphologie‘-Konzept bezogen hat. Allerdings sind lose Anknüpfungspunkte im Briefwechsel beider erkennbar; insbesondere in Müllers enthusiastischer Reaktion auf Beißners Vortrag Hölderlins letzte Hymne im Brief an Beißner vom 12. 10. 1941 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2058/4). Zu Müller s. etwa Günther Müller: Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie. Halle/Saale 1944 (Die Gestalt. 13); Ders.: Morphologische Poetik. Blickpunkt und Umblick. In: Helicon 5, 1944, S. 1– 22. Aus dem ‚Morphologie‘-Konzept hat Müller dann seine früh-narratologischen Untersuchungen zur Frage der Zeit im Erzählen entwickelt; s. Anm. 62. Hölderlin-Ausgabe, Hrsg. Hellingrath (Anm. 25), Bd. 4: Gedichte. Besorgt durch Norbert v. Hellingrath. 2. Aufl. Berlin 1923 (zuerst 1916), S. 269. – Hinweis bei Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 28), S. 40 und 121 f. Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911. Hölderlin-Ausgabe, Hrsg. Hellingrath (Anm. 25), Bd. 5: Übersetzungen und Briefe. 1800– 1806. Besorgt durch Norbert v. Hellingrath. München, Leipzig 1913.
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editionsphilologische Fragen erörtert.51 Mit ihr ist der Editor Beißner geboren, der ein Jahr später den schon erwähnten Aufsatz mit neuen Lesungen aus Hölderlin-Handschriften in Dichtung und Volkstum publizierte. 1938 ergänzte Beißner diese Lesungen um neue Entzifferungen aus Hölderlin-Handschriften in einem weiteren Aufsatz.52 Beißners Dissertation zu den Hölderlin-Übersetzungen ist – wie bei Hellingrath – der Ausgangspunkt zur späteren HölderlinAusgabe. Die Planungen ließen auch bei Beißner nicht lange auf sich warten. Ab 1935 finden sich im Briefwechsel mit Karl Viëtor Überlegungen für eine solche Ausgabe, wobei Beißner für die textkritischen Teile zuständig sein sollte, Viëtor für Kommentar und Einleitung. Noch nach Viëtors Übersiedlung in die USA 1937 sind diese Planungen fortgesetzt worden,53 Anfang der 1940er Jahre dann aber in den bekannten anderen Zusammenhängen durch die Vermittlung von Walther Killy und unter der Patronage von Theophil Frey mit Beißner als alleinigem Herausgeber verwirklicht worden. Die verblüffende Analogie im editorischen Werdegang zwischen Hellingrath und Beißner darf allerdings die literaturwissenschaftlichen Differenzen nicht verdecken. Hellingraths Präsentation der Hölderlin-Übersetzungen wurde sofort emphatisch rezipiert, insbesondere im George-Kreis. Auszüge aus ____________ 51 52
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Erschienen zuerst 1933: Friedrich Beißner: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. 2. Aufl. Stuttgart 1961. Friedrich Beißner: Zum Hölderlin-Text. Neue Lesungen zu einigen theoretischen Aufsätzen. In: Dichtung und Volkstum 39, 1938, S. 330–339. – Der Aufsatz war schon lange fertiggestellt. Zunächst hatte Franz Zinkernagel nach der Publikation von Beißners Aufsatz von 1934 den Aufschub weiterer Publikationen Beißners zu Hölderlin-Handschriften gewünscht, bis Zinkernagels eigener Apparatband in seiner Hölderlin-Ausgabe veröffentlicht sei; vgl. zum Dissens zwischen beiden und zu Vorschlägen zu dessen Lösung, die bis zur Prüfung durch einen Mittelsmann reichten, die Briefe von Zinkernagel an Beißner, 8. 10. 1933 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2279/1), Zinkernagel an Beißner, 18. 7. 1934 (79.2279/4), Zinkernagel an Beißner, 31. 5. 1935 (79.2279/2), Beißner an Zinkernagel, 3. 6. 1935 (79.1726/1; Entwurf), Beißner an Zinkernagel, 8. 6. 1935 (79.1726/1, Entwurf), Zinkernagel an Beißner, 14. 6. 1935 (79.2279/3), Beißner an Zinkernagel, 15. 7. 1935 (79.1726/2, Entwurf), Zinkernagel an Beißner, 23. 7. 1935 (79.2279/5), Zinkernagel an Beißner, 21. 8. 1935 (79.2279/6); vgl. auch den Brief von Beißner an Heinrich Lüdeke vom 15. 8. 1936 (79.1604). – 1935 war Zinkernagel gestorben, ohne dass es ihm noch gelungen war, den im Manuskript vorliegenden textkritischen Apparat zu den Bänden seiner Hölderlin-Ausgabe zu publizieren. Die Nachlassverwalter hatten Beißner gebeten, noch abzuwarten, bis der Apparat aus dem Nachlass veröffentlicht sei, wozu Planungen vorlägen, doch ist es dazu nicht gekommen, sodass Beißner 1937 die Freigabe zur Publikation erhielt (Brief von Lüdeke an Beißner vom 22. 1. 1937, DLA, Nachlass Beißner, 79.2023/3). Beißner ist laut Brief von Julius Petersen vom 17. 10. 1936 (DLA, Beißner-Nachlass, 79.2085/9) angetragen worden, Zinkernagels Manuskript selbst zu bearbeiten und herauszugeben, was Beißner jedoch nicht tat. Der Zinkernagel-Nachlass mit seinen Manuskripten zum textkritischen Apparat gelangte wenig später im Zuge der Vorbereitung der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe in die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart; vgl. Brief von Theophil Frey an Beißner, 4. 9. 1941 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1864/13). Siehe die Briefe Viëtors an Beißner im DLA, Nachlass Beißner, vom 19. 5. 1935 (79.2230/13), 18. 6. 1935 (79.2230/14), 28. 11. 1937 (79.2231/15).
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Hellingraths Hölderlin-Text erschienen in Georges Blättern für die Kunst.54 Die enthusiasmierte Vorgehensweise Hellingraths hatte ihren Spiegel in Friedrich Gundolf, ebenfalls zum George-Kreis gehörend. Mit Gundolfs Büchern über Shakespeare (als Habilitation 1911, im Jahr von Hellingraths Buch über Hölderlins Pindar-Übersetzung) und Goethe (1916) hatte die Geistesgeschichte emphatische Höhepunkte erreicht.55 Von Gundolf stammt auch das Zitat, das Beißner in seiner Dissertation 1933 zur Charakterisierung Hölderlins anführt: „Hölderlin war darin orphisch dass er das Sichtbare las als ein Sinnbild des Wer d e ns. Das Sein nahm er nur wahr als Bewegung ... den Akt en der Schöpferkräfte dringt er von innen heraus durch eine brüderliche Symphatie [sic] nach“.56 War Beißner die thematische Darlegung Gundolfs als Anknüpfung hilfreich, war ihm doch die ihr eingeschriebene Emphase genauso fremd wie ihre Anknüpfung an das Konzept ‚Erlebnis‘, das Gundolf, neben Rudolf Unger der „Protagonist der geistesgeschichtlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaft“,57 von Dilthey her, ja – in der Formulierung von Ernst Osterkamp – als „radikalisierter Dilthey“,58 fortschrieb. Daher wandelt Beißner Gundolfs Aussage direkt anschließend in die Frage nach der „Arbeitsweise“ Hölderlins, von Beißner deklariert als „ein sorgfältiges Auswählen der Endfassung aus vielschichtigen Varianten; die Entwürfe legen zuerst die Gelenke des ganzen überdachten Baus fest in Konjunktionen, die das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander bezeichnen.“59 Gundolfs psychologieästhetische Beschreibung wird von Beißner in die Frage nach der Form und dem Bau des Textes gewendet; ein Beispiel, das zeigt, dass für Beißner allein der literarische Text das Untersuchungsobjekt ist, sonst nichts. Insofern legt er den Akzent seiner interpretativen Tätigkeit von Anfang an auf die Form- und Stilgeschichte. Schon der frühe Aufsatz Studien zur Sprache des Sturms und Drangs. Eine stilistische Untersuchung der Klingerschen Jugenddramen in der Germanisch____________ 54 55 56
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Blätter für die Kunst 9, 1910, S. 8–33, mit der Eingangsbemerkung „Unser wortlaut ist nach der urhandschrift gefertigt von Norbert von Hellingrath“ (ebd., S. 8). Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1911. – Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916. Friedrich Gundolf: Hoelderlins Archipelagus. Öffentliche Probevorlesung zur Erlangung der Venia legendi der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg gehalten 26. April 1911. Heidelberg 1911, S. 18. – Zitat bei Beißner 1961/33 (Anm. 51), S. 159, nach einer Ausgabe von 1923, S. 12 f. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf (1880–1931). In: Wissenschaftsgeschichte 2000 (Anm. 15), S. 162–175, hier S. 162 f. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt/Main 1993, S. 177–198, hier S. 188. Beißner 1961/33 (Anm. 51), S. 159.
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Romanischen Monatsschrift 1934 zeigt das, indem er sich die „Beobachtung [...] der sprachlichen Struktur“ zum Ziel setzt.60 Aus dieser Perspektive ist der Weg, den Beißner von der Untersuchung der Sprachstruktur hin zur Untersuchung der Erzählstruktur im ersten Vortrag zu Kafka knapp 20 Jahre später geht und der vor dem Hintergrund des überragenden Schwerpunktes Hölderlin in seiner Forschungstätigkeit wie ein irriger Abzweig erscheinen mag, bei genauerem Hinsehen ein gar nicht sehr weiter und abseitiger. Ansonsten allerdings ragen die vier Kafka-Vorträge 1951/52– 1968/72 aus Beißners nahezu ausschließlicher Forschungstätigkeit zur klassischen deutschen Literatur und ihren unmittelbaren Vorläufern wie ein versprengter Monolith heraus. Aus der Literatur des 20. Jahrhunderts bleibt noch die Beschäftigung mit Rilke zu erwähnen. Diese Beschäftigung führte jedoch über Hölderlin, dessen Rezeption bei Rilke Beißner 1936 in dem Aufsatz Rilkes Begegnung mit Hölderlin untersucht.61 Der Zugang zu Kafka ist dagegen so voraussetzungslos, dass man sich schon fast fragen mag, wer wen zu dieser Beschäftigung anregte, der Doktorvater Beißner seinen Doktoranden Walser oder gar andersherum. Beißner jedenfalls weist in seinem Vortrag und dessen Anmerkungen 1951/52 auf Walsers 1951 vorgelegte Dissertation nicht hin, und auch Walser zitiert im Druck seiner Dissertation 1961 und in der 2. Auflage 1963 Beißners Kafka-Vorträge nicht. Zudem sucht wohl Walser, nicht aber Beißner Anschluss an die zeitgenössische Erzählforschung: Nur bei Walser finden sich Günther Müllers und Käte Hamburgers jüngste Untersuchungen verarbeitet.62 Beißner aber hat auch in den dem Vortrag von 1951/52 folgenden weiteren drei Vorträgen zu Kafka keinen Anschluss an die sich entwickelnde narratologische Forschung, etwa Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens von 1955, gesucht.63
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Friedrich Beißner: Studien zur Sprache des Sturms und Drangs. Eine stilistische Untersuchung der Klingerschen Jugenddramen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 22, 1934, S. 417– 429, hier S. 428. Friedrich Beißner: Rilkes Begegnung mit Hölderlin. In: Dichtung und Volkstum 37, 1936, S. 36–50. Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946. Bonn 1947. – Ders.: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag. Hrsg. von ihren Tübinger Schülern. Tübingen 1948, S. 195–212. – Ders.: Über das Zeitgerüst des Erzählens. (Am Beispiel des ‚Jürg Jenatsch‘). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24, 1950, S. 1–31. – Käte Hamburger: Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung. In: ebd., 25, 1951, S. 1–26. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955.
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5. Jenseits des Einzeltextes gab es für Beißner daher so gut wie keine weiteren literaturwissenschaftlichen Zugriffe. Nur einmal kommt immerhin Literaturgeschichte als Versuch eines Meta-Blicks auf Literatur stärker in den Blick, nämlich in der Habilitationsschrift von 1939 zur Geschichte der deutschen Elegie,64 ein Thema, das sich an dasjenige seines Lehrers Karl Viëtor anschießt, der sich 1922 mit der Geschichte der deutschen Ode habilitierte.65 Was Beißner an dem literaturgeschichtlichen Sujet – ein Feld, das er weder vorher noch später intensiver bestellte – interessiert haben mag, können die parallel zur Fertigstellung der Habilitationsschrift verfassten Besprechungen der Bände 1– 3 von Josef Nadlers umstrittener Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften zeigen, die 1938/39 in veränderter vierter, an die NSIdeologie herangeschriebener Auflage unter dem Titel Literaturgeschichte des Deutschen Volkes erschienen waren. Beißner lobt zuvorderst Ausstattung und Abbildungen. Der kulturgeschichtlichen Grundierung und ihren gesellschaftsgeschichtlichen Implikationen, die in der vierten Auflage zu politischen Manifestationen werden, steht er ablehnend gegenüber, wie sich noch im relativierten Lob des Stils zeigt: Diese mitreißende Kunst der Darstellung muß auch demjenigen anerkennende Bewunderung abnötigen, der in manchen Einzelbewertungen von Nadler abweicht oder gegen sein Verfahren Bedenken hegt, weil es sich an Gegenstände heranwagt, die eigentlich literarhistorischer Methode nicht zugänglich zu sein pflegen.
Was Beißner dagegen an Nadlers Blick auf Geschichte hervorhebt, ist der genetische Aspekt: „Die großen Dichter und ihre Werke werden nicht um ihrer selbst willen betrachtet, sondern es wird nach den Wurzeln ihres Wesens, nach den Bedingungen ihres Wachstums und ihrer Entfaltung gefragt.“66 Mit der ____________ 64
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Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie. Berlin 1941 (Grundriß der germanischen Philologie. 14), 2. Aufl. 1961, 3. Aufl. 1965. – Zur Themenwahl für die Habilitation s. auch den Brief von Walther Rehm, Beißners letztem Habilitationsbetreuer, an Beißner vom 17. 7. 1938 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2108/7). Karl Viëtor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923 (Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen. 1), 2., unveränderte Aufl. Hildesheim 1961, auch Darmstadt 1961. – Bei Viëtor läuft die Geschichte der Ode auf Hölderlin als Höhepunkt zu; s. das einzige, nur mit dem Namen eines literarischen Autors überschriebene Kapitel („Hölderlin“) ebd., S. 147–164, dem nur noch die beiden Kapitel „Epigonen“ (S. 165–172) und „Rückblick“ (S. 173–177) folgen. Zur Analogie von Beißners Geschichte der deutschen Elegie s. u. Friedrich Beißner: [Rezension von Josef Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 2: Geist (1740–1813). 4., völlig neubearb. Aufl. Berlin 1938]. In: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt 5, Nr. 23, 5. 12. 1938, S. 6. – Weitere Bände hat Beißner besprochen in: Geistige Arbeit 6, Nr. 6, 20. 3. 1939, S. 9 [Nadler Bd. 3: Staat (1814–1914). 4., völlig neubearb. Aufl. Berlin
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botanischen Bildlichkeit ist für Beißner die Brücke von der Werktextinterpretation zu Literaturgeschichte geschlagen. Es ist ein nicht ganz ohne Mühen vollzogener Brückenschlag, und Beißner hat ihn eigentlich auch nur einmal genutzt: für seine Habilitationsschrift. Indem Beißner in seinem Elegie-Buch Gattungsgeschichte nun aber wiederum zuvorderst als Form- und Stilgeschichte fasst, kann er sein Literaturverständnis weiter ausbauen. Der genetischteleologische Aspekt, der ihn an Nadler interessiert hatte, wird von Nadlers kulturgeschichtlichem, nun auch politisch aufgeladenem Ansatz abgelöst, auf einen form- und stilgeschichtlichen Ansatz appliziert und für Beißners Blick auf die klassische Literatur um 1800 funktionalisiert. Es wundert daher nicht, dass seine Elegiegeschichte auf Hölderlin als Höhepunkt hinausläuft. Schon das Kapitel zur „klassische[n] Elegie“, also zur Elegie um 1800, macht gute 60 der knapp 200 Textseiten aus. Hölderlin selbst sind annähernd 20 Seiten gewidmet, so viel wie keinem anderen Autor. Die Geschichte der Elegie nach Hölderlin muss sich dann auf acht Seiten beschränken, Rilke erhält davon zwei.
6. Prägend für Beißner, den ‚Theorie-Skeptiker‘, um mit Wilfried Barner zu sprechen,67 wurde also auch nicht die literaturgeschichtliche Perspektive.68 Vielmehr sollte Beißner den form- und stilgeschichtlichen Ansatz verbinden mit dem, was der Editor Beißner dem Interpreten Beißner hinzugeben konnte und was in der Transformation des Nadler’schen Literaturgeschichtskonzepts schon anklingt: der Rekurs der Interpretation auf den Text und seine Genese. Hier ist der eigentliche innovative Ansatz des Interpreten Beißner zu sehen.69 Seine __________
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1938]; Geistige Arbeit 7, Nr. 15, 5. 8. 1940, S. 3: [Nadler Bd. 1: Volk (800–1740). 4., völlig neubearb. Aufl. Berlin 1939]. In letzterer Besprechung findet sich auch das ambivalente Urteil: „diese[s] in seiner stofflichen Vielseitigkeit wie auch in einer folgerecht durchgehaltenen Einseitigkeit der Betrachtungsweise schlechthin geniale[ ] Werk“. Siehe Anm. 19. Es ist aus dieser Perspektive auch nicht ganz verwunderlich, dass Beißner ein anderes großes Projekt, bei dem sowohl eine theoretische als auch ein literaturgeschichtliche Perspektive unabdingbar sind, nicht zu Ende brachte. Es handelt sich um das umfangreiche, für mehrere Vorlesungen verwendete Manuskript einer ‚Poetik‘, „wohl die Lieblingsarbeit seiner letzten Jahre“ (Adolf Beck: Friedrich Beißner. (1905–1977). Gedenkrede. In: Hölderlin-Jahrbuch 21, 1978– 1979 [1979], S. 1–13, hier S. 6), deren Anfänge bis ins Jahr 1949 zurückreichen und mit der Beißner bis in seine späten Jahre lehrte. Beißners in seinem Nachlass befindliche Entwürfe zu einer ‚Poetik‘ aufgrund von Vorlesungen (DLA, Nachlass Beißner, 79.675–677; insgesamt 15 Mappen) sind vorgestellt bei Barner 2007 (Anm. 19), S. 14–23. Vgl. die ähnliche Beurteilung von Waleczek 1993 (Anm. 10), S. 173, in ihren knappen Hinweisen zum Zusammenhang von Edition und Interpretation bei Beißner: „Es überrascht daher kaum, daß die Resultate von Beißners eigenen Interpretationen zu Gedichten Hölderlins gerade
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zahlreichen Hölderlin-Aufsätze sind gerade durch die Integration der Textgenese in die Deutung des Textes geprägt.70 In Beißners Interpretationsverfahren verbindet sich über die Akzentuierung von Form und Stil als dem positivistischem Erbe nun der genetische Ansatz Hellingraths aus der geistesgeschichtlichen Epoche der Literaturwissenschaft mit dem seit den späten dreißiger Jahren immer stärker sich ausbreitenden immanenten Interpretationsverfahren.71 Dass Beißner aus Hellingraths Ansatz – vom „ersten Keim zur lezten Gestalt (oder Entstellung)“72 – gerade die „Entstellung“ ausblendet, entspricht ganz dem nun zugespitzten organologischen Blick Beißners auf den Text in Edition und Interpretation. Folgerichtig konnte Beißner in den 1960er Jahren genau deshalb zur Verteidigung seines textgenetischen Stufenmodells gegen die Vorwürfe ungenügender Anbindung an die Textmaterialität der Handschrift vom Darstellungsziel des „id e al e[n] Wachstum[s]“73 sprechen. Es handelt sich bei dieser Formulierung daher weniger um eine „Abwehrhaltung [...], in die er“ durch die Kritiken etwa von Beda Allemann 1956 und Hans Zeller 195874 __________
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dort von herausragender Bedeutung sind, wo der unmittelbare Zusammenhang zwischen Edition und Interpretation offenkundig ist.“ Beispiele finden sich reichhaltig in dem Sammelband Beißner 1969/61, Hölderlin. Reden und Aufsätze (Anm. 26); besonders deutlich etwa in dem Aufsatz Hölderlins letzte Hymne (zuerst 1948/49; Anm. 26), S. 211–246. Vgl. auch Metzger 2002 (Anm. 10), S. 5, in der Beschreibung von Beißners Konzept der Textgenese: „Dies konvergiert mit dem Ansatz einer immanenten Interpretation“. – Zu den Programmen ab den späten 1930er Jahren, die in ihrer „Wendung zum Einzelwerk und seiner ästhetischen Konfiguration als Anfänge der später wirkungsmächtigen ‚werkimmanenten Interpretation‘ gelten können“, s. Klausnitzer 2007 (Anm. 32), S. 120, Zitat ebd. – Vgl. auch Lutz Danneberg: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation. In: Zeitenwechsel 1996 (Anm. 9), S. 313–342, dort auch S. 329 der Hinweis auf einen schon 1915 vorliegenden Ansatz zur werkimmanenten Interpretation bei A. Kober: Wesen und Methode der Literaturwissenschaft. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 7, 1915–1919, S. 109–118, bes. S. 117, als Reaktion auf Julius Petersens Basler Antrittsvorlesungen (Julius Petersen: Literaturgeschichte und Philologie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 5, 1913, S. 625–640, und Ders.: Der Aufbau der Literaturgeschichte. [I]. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 6, 1914, S. 1–16, Ders.: Dass. [II]. In: ebd., S. 129–152). Siehe Anm. 48. Beißner 1969/61, Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (Anm. 27), S. 260; – auch in einer 1961 hinzugefügten Anmerkung zum zuerst 1943 erschienenen Aufsatz: Friedrich Beißner: Zu den Oden Abendphantasie und Des Morgens. In: Beißner 1969/61, Hölderlin. Reden und Aufsätze (Anm. 26), S. 59–66, hier S. 273, Anm. 1 zu S. 62; dann erneut in Beißner 1964, Editionsmethoden (Anm. 23), S. 81. – Zu der Metaphorik der Beißner’schen Begrifflichkeit und ihrer Anknüpfung an Goethes Bewertung der Wieland’schen Varianten (Goethe: Literarischer Sansculottismus. In: Goethe, Weimarer Ausgabe, [Abt. I.] Bd. 40. Weimar 1901, S. 196–203, hier S. 201) siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37, 2005, H. 1, S. 97–122, hier S. 102–105. Beda Allemann: [Rezension der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, Bd. 1, 2 und 5]. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69, 1956/57, S. 75–82. – H. Zeller 1958 (Anm. 12).
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„inzwischen gedrängt worden war“, wie Siegfried Scheibe konstatiert hat,75 sondern ganz eigentlich um die Formel für die Umsetzung von Beißners Interpretationsverständnis auf die Edition. So kann Beißner die für ihn grundlegende Bedeutung der Textgenese für die Interpretation in einem Verfahren beschreiben, das dem Leser die Identifikation mit dem produzierenden Autor erlaubt: sie [die Entstehungsvarianten] lehren das Sein als Gewordenes tiefer verstehn; sie entwickeln im mitgehenden und mitdichtenden Deuter des zur Vollendung sich wandelnden Textes ganz allgemein den Sinn für dichterische Ausdruckswerte, sie schärfen und verfeinern den Kunstverstand [...].76
Beißners Blick auf das Werk geschieht dabei ganz unter der Annahme einer gelingenden klassischen Ästhetik. In diesem Sinne trifft Klaus Hurlebuschs Differenzierung zu, Beißners Konzept als „quasi-textästhetische Philologie“ zu bezeichnen, gegen das Zellers Editionsverständnis einer „szientifische[n] Philologie“ stehe.77 Der entscheidende Punkt ist aber, dass Beißner als Editor im Grunde wie ein Interpret verfährt: Der ‚quasi-textästhetische Philologe‘ Beißner deutet die Handschrift, während der ‚szientifische Philologe‘, etwa Zeller, die Handschrift dokumentiert. Es ist daher kein Zufall, dass Beißner gerade in der Argumentation gegen Zeller 1964 das von Manfred Windfuhr 1957 benutzte Schlagwort „Edition ist Interpretation“ aufgreift und darin sein Verfahren gebündelt ausgedrückt sieht.78 In diesem Sinne konnte Beißner für die auf ____________ 75
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Siegfried Scheibe: Von den textkritischen und genetischen Apparaten. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 85–159, hier S. 138. Beißner 1964, Editionsmethoden (Anm. 23), S. 74; auch schon in dem zuerst 1948/49 erschienenen Aufsatz Hölderlins letzte Hymne (in Beißner 1969/61, Hölderlin. Reden und Aufsätze, Anm. 26, S. 212 und 214): „Wie oft beglückt es ihn [den Leser], wenn er den ganzen Stufenweg vom ersten Keim über alle noch zögernd prüfenden Wandlungen bis zur gelungen Gestalt hin überblickt, so das Kunstwerk im Entstehn aufzuhaschen und so dessen tiefsten Sinn erst wahrhaft zu begreifen!“ – „dies Wachstum geschieht auf eine Weise, die den mitgehenden, mitdichtenden Deuter der Handschrift immer wieder ins innerste Herz beglückt“. – Ähnlich dann Friedrich Beißner: Hölderlins Ode Der Frieden. In: Beißner 1969/61, Hölderlin. Reden und Aufsätze (Anm. 26), S. 92–109, hier S. 100: „Es ist das reizvollste Studium, die Entstehung eines solchen Kunstwerks schrittweise zu verfolgen und mitzuerleben.“ – Vgl. auch Beißner 1958 (Anm. 23), S. 12, wo nicht nur die Identifikation des Lesers mit dem Autor in der Rezeption, sondern auch die des Herausgebers mit dem Autor bei der editorischen Arbeit angedeutet scheint: „ein mit philologischer Akribie und dichterischem Feingefühl gearbeiteter Lesartenapparat ermöglicht es dem kunstverständigen und sprachsinnigen Leser, das Gedicht intensiver aufzufassen, mitdichtend und nicht bloß analysierend“. Es folgt das „im Entstehen aufhaschen“-Zitat von Goethe. Hurlebusch 2008 (Anm. 13), S. 170, Zitate im Original kursiv. Beißner 1964, Lesbare Varianten (Anm. 23), S. 23, Zitat im Original gesperrt; vgl. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31, 1957, S. 425–
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solcher Basis gewonnenen Ergebnisse die Kategorie des ‚Vertrauens‘ statt etwa der der ‚Überprüfbarkeit‘ einfordern: Im allgemeinen wird der Herausgeber durch einen verworrenen Entwurf ganz von selbst zu angespannter Sorgfalt und zum Einsatz seiner besten Kraft aufgefordert, und der Leser darf ihm gerade hier vertrauen, wenn er ihn sonst vertrauenswürdig gefunden hat.79
Dass Beißners Editionen dabei auf den ersten Blick gleichfalls szientifisch erscheinen, ist der Konzentration des Interpreten-Editors Beißner auf das positivistische Erbe von Form und Stil des Textes geschuldet bei gleichzeitiger Ausblendung jeglicher weiteren denkbaren Einflüsse theoriegestützter Rahmen und außertextlicher Interpretationskomponenten.
7. Es ist ohne Zweifel diese Konzentration allein auf den Text, die die merkwürdige Position des jungen, aufstrebenden Literaturwissenschaftlers Beißner in der NS-Zeit ermöglichte. Der Abstinenz von allen Literaturtheorien entsprach die mehrfach bezeugte „Politikferne“ Beißners, „ein[es] aus Überzeugung völlig unpolitische[n] Wissenschaftler[s]“, wie Norbert Oellers formuliert hat. In der Tat hat Beißner „in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur kaum etwas veröffentlicht [...], das er nicht auch 1930 oder 1950 hätte veröffentlichen können.“80 Aufsätze wie Beißners Neulesungen aus Hölderlin-Handschriften von 1938 hat Wolfgang Adam im Rückblick auf die Geschichte des Euphorion unter die eher wenigen „Beiträge von wissenschaftlichem Rang“ gezählt, die in den knapp 10 Bänden des in „Dichtung und Volkstum“ umbenannten Euphorion der NS-Zeit erschienen sind.81 Aber so wie Beißners erster Aufsatz mit neuen Hölderlin-Lesungen 1934 im ersten neu betitelten Band von Dichtung und Volkstum zusammen mit den auf die NS-Ideologie einschwenkenden pro__________
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442, hier S. 440, Zitat im Original gesperrt; wiederabgedruckt in: Dokumente 2005 (Anm. 12), S. 174–193, hier S. 191. Beißner 1964, Lesbare Varianten (Anm. 23), S. 18. – Auch auf der Ebene des Arbeitsverhältnisses war ‚Vertrauen‘ für Beißner eine wichtige Kategorie; s. den Brief von Adolf Beck an Beißner vom 1. 1. 1976 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1753/4). Oellers 2000 (Anm. 15), S. 230. – Selbst Beißners schmale monografische Schrift mit dem der NS-Gegenwart scheinbar adäquaten Titel Klopstocks vaterländische Dramen (Weimar 1942) „wendet sich mit Entschiedenheit gegen die verbreitete Ansicht, Klopstock verdiene angesichts der aktuellen politischen (‚vaterländischen‘) Situation besondere Beachtung. Es gelte, so Beißner, auf die Kunst Klopstocks (und nicht auf seine Gesinnung) aufmerksam zu machen“; Oellers 2000 (Anm. 15), S. 232, Anm. 17. Wolfgang Adam: Einhundert Jahre Euphorion. Wissenschaftsgeschichte im Spiegel einer germanistischen Fachzeitschrift. In: Euphorion 88, 1994, S. 1–72, hier S. 53.
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grammatischen Eröffnungsaufsätzen von Josef Nadler über „Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde“, von Julius Petersen über „Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung“ oder von Hermann Pongs über „Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum“82 stehen konnte, so bewegte sich Beißner schadlos zwischen Opfern und Unterstützern des NSRegimes. Sein Göttinger Doktorvater Hermann Fränkel emigrierte 1935 ebenso in die USA wie Beißners Gießener Habilitationsmentor Karl Viëtor 1937. Dessen Lehrstuhlnachfolger Walther Rehm, der Beißners Habilitation weiterbetreute,83 hat seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus auch öffentlich nicht verschwiegen. So verweigerte Rehm etwa seine Mitarbeit an dem repräsentativen fünfbändigen Sammelwerk der NS-Germanistik Von deutscher Art in Sprache und Dichtung als Ergebnis der „Kriegseinsatztagung deutscher Hochschulgermanisten in Weimar“ 1940.84 Beißner, der sich an dem Sammelwerk ebenfalls nicht beteiligte,85 wurde Rehms Nachfolger in Gießen, als dieser 1943 nach Freiburg ging. War Beißners Weg auf der einen Seite also von Regimeopfern und -gegnern begleitet, so wurden regimetreue Personen auf der anderen Seite zu weiteren Garanten von Beißners akademischer Karriere: Julius Petersen, bei dem Beißner schon studiert hatte86 und an den er durch Viëtor 1935 erfolgreich vermittelt worden war,87 förderte Beißner vielfach88 und plante bis zu seinem Tod 1941 mit ihm als Redaktor die Schiller-Nationalausgabe; sein Nachfolger als leitender Gesamtherausgeber der Schiller-Ausgabe Gerhard Fricke, Mitherausgeber jenes erwähnten offiziösen germanistischen NS-Sammelwerkes Von ____________ 82 83 84 85
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Dichtung und Volkstum 35, 1934, S. 1–86 und 145–219. Siehe den Dank von Beißner an Viëtor, Rehm und Alfred Götze im Druck der Habilitationsschrift: Beißner 31965, Elegie (zuerst 1941; Anm. 64), S. XIII. Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Hrsg. im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski. 5 Bde. Stuttgart, Berlin 1941. Beißners Nichtteilnahme wird – neben derjenigen von Walther Rehm und Max Kommerell – explizit hervorgehoben von Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 111. Vgl. Beißner 1973 (Anm. 6), S. 96. Siehe die in Anm. 38 genannten Briefe. Siehe Briefe von J. Petersen an Beißner vom 8. 5. 1935 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2085/2): Angebot zur Tätigkeit in der Wieland-Ausgabe; vom 17. 10. 1936 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2085/9): Anfrage zur Herausgabe von Franz Zinkernagels nachgelassenem Manuskript des Apparates zu den Textbänden von dessen Hölderlin-Ausgabe; vom 2. 10. 1937 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2085/11): Angebot zur Publikation von Beißners Darstellung der neu aufgefundenen Wieland-Handschriften in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften; vom 10. 10. 1938 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2085/15): Angebot einer Dozentur in Jena; vom 25. 1. 1939 (DLA, Nachlass Beißner, 79.2084/21): Bericht über den Plan, Beißners Stelle am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar mit der Stelle eines Redaktors der geplanten Schiller-Nationalausgabe zu verbinden. Siehe auch den Brief Beißners an J. Petersen vom 19. 9. 1937 (DLA, Nachlass Beißner, 79.1636/10), Typoskript-Durchschlag, über Petersens Empfehlung einer Mitarbeit Beißners an der Welt-Goethe-Ausgabe.
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deutscher Art in Sprache und Dichtung, stand in jeder Hinsicht hinter dem Regime und erlangte Berühmtheit durch seine spätere, unter den ehemals regimetreuen Germanisten einzigartige Selbstanklage und -aussprache vor den Kölner Studenten 1965.89 Es scheint fast, als habe sich Beißner nahezu schlafwandlerisch sicher zwischen diesen politischen Polen bewegen können. Die Merkzeichen dieses Weges sind auf der einen Seite die – wenn auch nur sehr indirekte – Begleitung der Kriegspolitik durch die „Feldauswahl“ von Hölderlin-Texten, die er 1943 für die kämpfenden Soldaten zusammenstellte (bei der es ihm aber gelang, die fördernde NS-Institution auf dem Titelblatt an die letzte Stelle zu setzen – und seinen eigenen Namen an die erste),90 und auf der anderen Seite die bis in die Druckfahnen fertiggestellte Einleitung zum ersten (Gedichte-)Band der Schiller-Nationalausgabe, die wegen Unangemessenheit für das erwartete SchillerBild im dann ebenfalls 1943 erschienen Band nicht gedruckt werden durfte. Beißner hatte sie mit dem Satz begonnen, der sich nicht nur als Absage an das Bild des nationalen Lyriker-Heros Schiller, sondern in seiner Bildlichkeit auch als versteckte Kritik an der politischen Gesamtlage lesen ließ: „Das lyrische Fach sieht Schiller eher für ein Exilium als für eine eroberte Provinz an.“91 Ansonsten hatte Beißner Schillers Lyrik allein nach form- und stilgeschichtlichen Prinzipien beschrieben und alle realgeschichtlichen Bezüge auf Schillers und die eigene Gegenwart ausgespart.92 Mag man nun Beißners Weg der Ent____________ 89
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Siehe Gudrun Schnabel: Gerhard Fricke. Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945. In: Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Hrsg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg. Berlin 1997, S. 61–95, darin S. 85– 95: Rede Gerhard Frickes vor seinen Studierenden zu Beginn des Sommersemesters 1965 in Köln. Hölderlin: Feldauswahl. Diese von Friedrich Beißner besorgte Auswahl erscheint im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft und des Hauptkulturamts der NSDAP. Stuttgart 1943. Friedrich Beißner: Einleitung. In: Dahnke 1997 (Anm. 10), S. 536–548, hier S. 536. – Die Aussage ist ein undeutlich markiertes, nahezu wörtliches Zitat aus Schillers Brief an Christian Gottfried Körner vom 25. 12. 1789: „Das lyrische Fach, das Du mir anweisest, sehe ich eher für ein E x i l i u m, als für eine e r o b e r t e P r o v i n z an. Es ist das kleinlichste und auch undankbarste unter allen“; Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 25: Briefwechsel. Schillers Briefe 1. 1. 1788– 28. 2. 1790. Hrsg. von Eberhard Haufe. Weimar 1979, S. 211 f. Vgl. auch Dahnke 1997 (Anm. 10), S. 519. – Ludwig Jäger: Disziplinen-Erinnerung – Erinnerungs-Disziplin. Der Fall Beißner und die NS-Fachgeschichtsschreibung der Germanistik. In: Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren. Hrsg. von Hartmut Lehmann und Otto Gerhard Oexle. Unter Mitwirkung von Michael Matthiesen und Martial Staub. Göttingen 2004 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 200), S. 67–127, erörtert ausführlich die Hintergründe des Konfliktes um die SchillerEinleitung, in dem er stärker als Dahnke 1997 (Anm. 10) statt auf die Bedeutung von Gerhard Fricke auf die von dessen verstorbenem Vorgänger Julius Petersen und die der Deutschen Akademie eingeht.
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haltsamkeit zwischen den politisch gegensätzlichen Polen,93 die die Rahmenbedingungen seiner akademischen Laufbahn, bilden, rückübertragen auf sein formal-stilitisch gegründetes Verfahren der textimmanenten Interpretation mit der innovativen, aus der Epoche der Geistesgeschichte applizierten und fortentwickelten textgenetischen Anreicherung, so kann man darin eine Variante zu der von Hans-Harald Müller 1984 geäußerten These erkennen, dass die werkimmanente Interpretation bloß eine „politisch geläuterte, werkorientierte geistesgeschichtliche Literaturbetrachtung“94 sei.
8. Ein weiterer Faktor ist noch zu berücksichtigen. Denn auch Beißner wäre nicht zu seinem größten Projekt, der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, gelangt, hätte nicht auch der Zufall ihm vehement in die Hand gespielt. Er trat 1940 in der Person von Walther Killy auf, der zu diesem Zeitpunkt junger Doktorand bei Petersen zum Thema „Die Überlieferung der Gedichte Hölderlins“ war. Mit großem Enthusiasmus wandte sich Killy, der als Soldat einberufen war, während eines Genesungsurlaubs an den zu diesem Zeitpunkt in Weimar als Schiller-Redaktor arbeitenden Beißner und offerierte ihm die Möglichkeit, eine neue Hölderlin-Ausgabe auf den Weg zu bringen. Der Doktorand konnte dies dem Privatdozenten vorschlagen, weil er durch gute Beziehungen wusste, dass die Möglichkeit einer breiten staatlichen Unterstützung für eine solche Ausgabe bestand: Der Mittelsmann für diese Informationen war sein einflussreicher Vater, der Reichskabinettsrat Leo Killy, der in der Berliner Reichskanzlei mitverantwortlich für die Führung des Reichsetats war.95 Über diesen Weg wurde ____________ 93
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Über das „Prekäre eines disziplinären Grenzgängertums“ am Beispiel Beißner s. Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008, S. 48; zu den Anfängen der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe in der NS-Zeit ebd., S. 628: „Beißner versteht es, die politische Nachfrage nach repräsentativer und kompensatorischer Sinnstiftung durchaus einzukalkulieren und auch zu bedienen, ohne sich ihr jedoch völlig auszuliefern“; s. auch ebd., S. 632; dort S. 501–508 eine Zusammenfassung des Konflikts um die Einleitung zum ersten Band der Schiller-Nationalausgabe. Hans-Harald Müller: Tendenzen der westdeutschen Literaturwissenschaft nach 1965. Dargestellt an den Antworten auf die Probleme einer wissenschaftlichen Textinterpretation. – Ein Vortrag. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 15, 1984, S. 87–114, hier S. 99. – Will man mit Marcus Gärtner „Textphilologie und Werkimmanenz als Purgative“ der Nachkriegsgermanistik verstehen (Marcus Gärtner: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. Bielefeld 1997, S. 52, Kapiteltitel), könnte man Beißner als einen der wenigen Wissenschaftler bezeichnen, der beide Ausrichtungen verband, allerdings ohne dass damit berücksichtigt wäre, dass Beißner für diese Verbindung schon seit Anfang der 1930er Jahre steht und auch vom Beißner der Nachkriegszeit niemals als „Purgative“ intendiert war. Vgl. Kahlefendt 1993 (Anm. 10), S. 117 f.; Volke 1983 (Anm. 10), S. 105 f.
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die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe schließlich realisiert. Karl Viëtor, der Exilant, war nicht mehr eingebunden. Ein letzter Blick mag von solchen zufälligen persönlichen Begegnungen noch auf die der akademischen Tätigkeit inhärenten persönlichen Beziehungen geworfen werden und hierbei insbesondere auf die charakterlich-mentale Disposition Beißners, so wie sie sich aus den Dokumenten veranschlagen lässt. Adolf Beck, Beißners Co-Bandherausgeber in der Hölderlin-Ausgabe, hat in seiner Gedenkrede auf Beißner 1978 festgestellt: „Wer näher mit ihm zu tun hatte, bekam auch Kanten seiner niedersächsischen Natur zu spüren. [...] Er hatte Ehrgeiz und war stolz auf Entdeckungen, doch empfindlich in mehrerlei Hinsicht“.96 Das ist loyal und wohlmeinend gesagt, auch wohl mit einer großen Altersmilde. Beck und Beißner kannten sich seit den Anfängen der HölderlinAusgabe, und wer den Briefwechsel zwischen Beck und Beißner ansieht, wird feststellen, welch tiefe Gräben sich zwischen beiden schon in den 1940er und dann noch einmal in den 1950er Jahren auftaten, welche Fronten wegen doch eher kleinerer wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheiten entstanden.97 Beißner scheint eine Neigung gehabt zu haben, sehr schnell in einer SchwarzWeiß-Manier ‚für ihn und gegen ihn‘ einzuteilen. Bei seinen vermeintlichen Opponenten hat dies des Öfteren Fassungslosigkeit hervorgerufen. Nicht nur Beck erging es so. Zumindest Alfred Kelletat, der bei Beißner promoviert hatte, erlebte es nach seiner zusammen mit Wolfgang Binder 1959 neu veranstalteten Edition von Hölderlins Friedensfeier genauso.98 Diese gegenüber der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe nach anderen, nämlich dokumentarischen Prinzipien gearbeitete Edition, die nur ein Jahr nach Hans Zellers Vorstellung seines von Beißners Verfahren abweichenden Editionsmodells für C. F. Meyer99 erschien, muss Beißner als weiteren Angriff auf seine Editionskonzeption verstanden haben, und Kelletat sah sich fassungslos auf die Seite der Gegner und Feinde gestellt, wie sein Brief an Beißner am 3. Februar 1958 ausführlich zeigt.100 Diese hier nur im Privaten erfolgten Reaktionen Beißners finden sich aber gleichzeitig dann in seinen Publikationen, wenn sie – wie bei Kelletat – Beiß____________ 96 97
Beck 1978–1979 (Anm. 68), S. 3. DLA, Nachlass Beißner: Briefe von Beck an Beißner, 18. 6. 1943 (79.1750/13); Beck an Beißner, 12. 5. 1944 (79.1751/4), Typoskript-Durchschlag; Beck an Beißner, 14. 8. 1957 (79.1752/1); Beißner an Beck, 11. 10. 1957 (79.1489/7), Typoskript-Durchschlag und zugehöriger handschriftlicher Entwurf in Blei; Beck an Beißner, 18. 10. 1957 (79.1752/2). 98 Hölderlin: Friedensfeier. Lichtdrucke der Reinschrift und ihrer Vorstufen. Hrsg. von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat. Tübingen 1959 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft. 2). – Eine Zusammenfassung der Kontroverse um die Friedensfeier bei Waleczek 1993 (Anm. 10), S. 196–245. 99 Siehe Anm. 12. 100 DLA, Nachlass Beißner, 79.1966.
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ners innerste wissenschaftliche Konzeption betreffen. Beck hat das in seiner Gedenkrede so beschrieben: „Nicht ungern übte er Kritik, notfalls auch stechende Polemik“, und führt als Beispiel die Auseinandersetzung um die Friedensfeier an.101 Offensichtlich ist eine solche charakterlich-mentale Disposition durchaus mitverantwortlich für die Tatsache, dass in den beiden allgemeineditionswissenschaftlichen Aufsätzen von 1964 alle zu dieser Zeit neu entstehenden Editionsmodelle, sei es das von Zeller für Meyer, das von Scheibe für Goethe oder das von Windfuhr für Heine, dem Verdikt ‚ungenügend‘ unterliegen mussten bis hin zur Zuschreibung von „Gefährlichkeit“ für Zellers Verfahren.102 Dadurch verlor Beißner aber auch die Möglichkeit der Diskussion mit der neuen, jüngeren Generation. Folgerichtig hatte er keinen Platz mehr in jenem Buch, das die Initialzündung für die sich nun ausdifferenzierende Editionswissenschaft werden sollte, Gunter Martens’ und Hans Zellers Sammelband Texte und Varianten aus dem Jahr 1971.103 Es war gleichzeitig das Jahr von Beißners Emeritierung. Die Koda wurde zum Abgesang. Benno von Wiese, der nunmehrige Gesamtherausgeber der Schiller-Nationalausgabe, musste Beißner 1975 vehement dazu drängen, nun endlich den Band 2 der Schiller-Ausgabe abzugeben.104 Beißner hatte sich seit 1943 diesen zweiten Lyrikband samt Apparatteil zu Band 1 zur Bearbeitung zurückbehalten. Es war ihm nicht mehr gelungen, das Manuskript zu dem Band, den er offensichtlich wie ein Faustpfand jahrzehntelang gehütet hatte, fertigzustellen.105 Auf der wissenschaftsorganisatorischen ____________ 101
Beck 1978–1979 (Anm. 68), S. 3. – Siehe auch Barner 1978/1979 (Anm. 18), S. 249: „Namentlich auf dem Feld der Hölderlin-Forschung hat sich Friedrich Beißner mit seiner auch die Schärfe und die Ironie nicht scheuenden Art der Auseinandersetzung nicht nur Freunde gemacht.“ 102 Zitat aus Beißner 1964, Lesbare Varianten (Anm. 23), S. 23, gegen H. Zeller und die MeyerAusgabe dort auch S. 16 f. (unter Einschluss von Allemann, S. 17), gegen Windfuhr und die Heine-Ausgabe ebd., S. 18–23; Stellungnahmen gegen H. Zeller und die Meyer-Ausgabe auch in Beißner 1964, Editionsmethoden (Anm. 23), S. 81 f., gegen Scheibe und die Goethe-Akademieausgabe ebd., S. 83–85. – Gegen H. Zeller auch schon früher in Beißner 1969/61, Aus der Werkstatt (Anm. 27), S. 284 f. (sehr umfangreiche Anm. 8 zu S. 261). 103 Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. 104 Siehe die Briefe von Benno von Wiese an Beißner im DLA, Nachlass Beißner, vom 10. 12. 1974 (79.2256/14), vom 3. 2. 1975 (79.2256/15; Postkarte), vom 14. 2. 1975 (79.2256/16) und vom 25. 10. 1975 (79.2256/17) sowie die Briefe von Beißner an von Wiese vom 11. 2. 1975 (79.1911/6), Entwurf, und vom 12. 11. 1975 (79.1711/7), Typoskriptdurchschlag. – Siehe auch die mehrfachen, immer drängenderen Nachfragen über den Arbeitsfortschritt in Briefen von Lieselotte Blumenthal an Beißner, etwa am 13. 12. 1973 (79.1771/15) oder am 18. 4. 1974 (79.1771/16). 105 Norbert Oellers hat den Vorgang in der Nachbemerkung des dann von ihm 1983 herausgegebenen zweiten Bandes mit dem Text der Gedichte ab 1799 folgendermaßen beschrieben: „Friedrich Beißner († 1977) wollte auch die Bände 2 I und 2 II herausgeben. Als er erkannte, daß es ihm verwehrt war, das begonnene Werk zu vollenden, trennte er sich kurz vor seinem Tod von ihm. Sein langes Zögern erklärt sich aus der intensiven Beschäftigung mit einer Auf-
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Ebene hatte am Ende von Wiese, der Großgermanist, über Beißner, den ‚Solitär‘, die Oberhand behalten.
__________ gabe, für die es keine restlos befriedigende Lösung geben kann. Beißner scheute sich, gordische Knoten zu zerschlagen – dies mußte aber einmal besorgt werden.“ – Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Bd. 2. Teil 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799–1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß. (Text). Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 480.
Bodo Plachta
Ernst Grumach und der ‚ganze Goethe‘
1.
Zwischen Klassischer Philologie und Goethe-Philologie
Der Klassische Philologe Ernst Grumach (1902–1967) hat wichtige Weichen für die neugermanistische Editionsmethodologie nach 1945 gestellt. Rudolf Kassel betonte 1967 in seiner Grabrede auf Grumach daher zu Recht: Dem vielstimmigen Gerede vom Ende der Goethephilologie hielt er den drastischen Nachweis der Unzulänglichkeit jener Texte entgegen, bei der sich die angeblich an ihr Ziel gelangte Editionstätigkeit beruhigt hatte. Man darf zuversichtlich hoffen, daß die zukünftige Forschungsgeschichte im Rückblick vielmehr eine Renaissance der Goethephilologie konstatieren wird, mit der Ernst Grumachs Name fest verbunden bleibt.1
Es sollte zunächst ein unerfüllter Wunsch des Redners bleiben. Während die Londoner Times Grumach in einem Nachruf als „polymath in the best German tradition“2 und besonders als bedeutenden Altphilologen, Epigraphiker und Mitherausgeber der deutschen Aristoteles-Ausgabe würdigte,3 blieb hierzulande – zumindest außerhalb der Klassischen Philologie – mit dem Namen Ernst Grumachs jahrzehntelang das Scheitern eben jener Goethe-Akademie-Ausgabe4 verbunden, die Kassel als innovativ für die vermeintlich nur positivistisch ausgerichtete Goethe-Philologie herausgestellt hatte. Am Beispiel der GoetheAkademie-Ausgabe und besonders an ihrem Scheitern lassen sich nicht nur politische, kulturelle und ideologische Umbrüche in der Wissenschaftsland____________ 1
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Rudolf Kassel: Ernst Grumach (1902–1997). In: Ders.: Kleine Schriften. Hrsg. von HeinzGünther Nesselrath. Berlin, New York 1991, S. 585–587, hier S. 586; zuerst als Einzeldruck u. d. T.: Rede gehalten auf dem Waldfriedhof Heerstraße zu Berlin am 13. Okt. 1967. Berlin 1967. In: The Times, 17. 10. 1967. Ein Verzeichnis der Publikationen Ernst Grumachs findet sich in: Europa. Studien zur Geschichte und Epigraphik der frühen Aegaeis. Festschrift für Ernst Grumach. Hrsg. von William C. Brice. Berlin 1967, S. 346–349. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1952–1966 (abgebrochen, danach sind noch einige Bände als Einzelausgaben erschienen).
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schaft der DDR exemplarisch illustrieren,5 sondern diese Edition löste auch eine „Art Erdbeben“6 aus, das die Editionsmethodologie nachhaltig beeinflusste. Ernst Grumachs 1949 erschienene Edition Goethe und die Antike, eine als Lesebuch konzipierte und thematisch geordnete Sammlung sämtlicher Äußerungen Goethes über die Antike, vereinigt die beiden großen Arbeitsgebiete Grumachs programmatisch zwischen zwei Buchdeckeln: Klassische Philologie einerseits und Goethe-Philologie andererseits. Der Gräzist Wolfgang Schadewaldt hat in seinem „Nachwort“ zu dieser Edition daher darauf hingewiesen, dass hier Grumachs Bemühen um den „ganzen Goethe vorgezeichnet“7 sei. Was Grumach unter dem „ganzen Goethe“ verstand, wurde schnell deutlich, als er im April 1949 die Arbeiten an der Goethe-Akademie-Ausgabe aufnahm und in einem Memorandum vom Juli 1949 eine Vernetzung aller wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich mit Goethe beschäftigten, anmahnte: „Die drei Unternehmen [gemeint waren die Leopoldina-Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften,8 die Edition der amtlichen Schriften9 und die geplante Goethe-Akademie-Ausgabe], die zusammen einmal den großen substantiellen Beitrag der Ostzone zur Goetheforschung bilden werden und für das neue Goethebild unserer Zeit die editorische Grundlage schaffen sollen, sind in gleicher Weise auf die Benutzung der Weimarer Bestände angewiesen.“10 Über ____________ 5
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Zur Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vgl. Rudolf Landrock: Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1945 bis 1971 – ihre Umwandlung zur sozialistischen Forschungsakademie. Eine Studie zur Wissenschaftspolitik der DDR. 3 Bde. Erlangen 1977, und Werner Scheler: Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriss zur Genese und Transformation der Akademie. Berlin 2000. Günther Müller: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26, 1952, S. 377–410, hier S. 378. Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. 2 Bde. Berlin 1949, Bd. 2, S. 1050. Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe hrsg. im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle. Weimar 1947 ff. Goethes Amtliche Schriften. Veröffentlichung des Staatsarchivs Weimar. [Hrsg. von Willy Flach.] 4 Bde. in 5. Weimar 1950–1987 [nicht abgeschlossen]. Bericht über die wissenschaftlichen Ergebnisse eines Studienaufenthaltes im Goethe-SchillerArchiv in Weimar (12. 7. 1949, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften [BBAW-Archiv], Akademieleitung, Nr. 154). Im Verlauf dieses Berichts stellt Grumach dem Archiv ein vernichtendes Zeugnis aus, u. a. heißt es dort: „Das Goethe-Archiv verdient den Namen eines Archivs nur in dem Sinne, daß sich in ihm eine Sammlung handschriftlicher Bestände befindet. Von einer systematischen Ordnung dieser Bestände oder gar einer fachgerechten archivarischen Bearbeitung kann nirgends die Rede sein. Die Goethe-Handschriften liegen auch heute noch in einfachen Holzschränken, die mit einem gewöhnlichen Schlüssel geöffnet werden können, in der Ordnung, in die sie für die Herstellung der SophienAusgabe gebracht worden sind. Diese Ordnung ermöglicht es zwar, die für die Sophien-Ausgabe benutzten Haupthandschriften leicht zu finden, versagt aber bei den von der Sophien-Ausgabe übergangenen oder vernachlässigten Handschriften, deren Aufarbeitung die eigentliche
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solche Überlegungen und die aus ihnen resultierenden administrativen Maßnahmen hinaus forderte Grumach die neuerliche Sichtung und Analyse der gesamten Überlieferung von Goethes Werk unter Einschluss der Briefe sowie der amtlichen und naturwissenschaftlichen Schriften – ein ehrgeiziges Vorhaben, das in den Folgejahren immer wieder für Verstimmungen zwischen Berlin und Weimar sorgen sollte.11 Dass gerade Wolfgang Schadewaldt für Grumachs Sammlung Goethe und die Antike ein auffallend ausführliches Nachwort verfasst hatte, geschah nicht ohne Absicht; die gemeinsamen Kontakte rührten wohl schon aus Grumachs Studium bei Schadewaldt in Königsberg 1928/29 her und wurden unmittelbar nach Kriegsende aufgefrischt. Nachdem die russische Militärverwaltung, insbesondere in der Person des Marschalls Wassili D. Sokolowski, bereits 1946 mit Blick auf das anstehende Goethe-Jubiläum 1949 für eine Erneuerung der Goethe-Philologie die Initiative ergriffen hatte und 1947 die Arbeiten an der Leopoldina-Ausgabe in Halle begonnen hatten, legte Schadewaldt bereits im Dezember 1946 der sich gerade neu formierenden Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin eine umfassende und einflussreiche Denkschrift vor, in der er zunächst ein Goethe-Wörterbuch als Teil eines „umfassende[n] la t en te[ n] Go e t he - Ko m me n tar [ s]“ forderte.12 Schadewaldt hatte in seinem Konzept betont, bei diesem Projekt müsse es um eine „Interpretation Goethes aus Goethe“13 gehen, womit weniger ein direkter interpretatorischer, sondern quasi als dessen Vorform ein philologisch quellenbezogener Zugriff gemeint war. Schadewaldt war der entscheidende Fürspre__________
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Aufgabe der Akademie-Ausgabe sein wird. Ein gedruckter Katalog oder eine ausreichende Handschriftenkartei ist nicht vorhanden. Der Benutzer ist daher immer auf sein Finderglück angewiesen und hat auch nach tagelanger Arbeit nicht die Gewähr, daß er alle zu seiner Arbeit gehörigen Handschriften gesehen hat.“ Vgl. auch Volker Wahl: Die Überwindung des Labyrinths. Der Beginn der Reorganisation des Goethe- und Schiller-Archivs unter Willy Flach und die Vorgeschichte seines Direktorats (1954–1958). In: Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896– 1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Hrsg. von Jochen Golz. Weimar, Köln, Wien 1996, S. 71–103, hier S. 72–78. Zu Konflikten kam es, als 1951/52 von der Berliner Akademie aus – auch mit prononciert argumentativer Unterstützung Grumachs – versucht wurde, die Leitung des Goethe- und Schiller-Archivs unter die Verantwortung der Akademien in Berlin und Leipzig zu bringen, was letztlich scheiterte, als durch Regierungsbeschluss vom 6. 8. 1953 die Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar gegründet wurden, denen auch das Goethe- und Schiller-Archiv angegliedert wurde; vgl. Wahl 1996 (Anm. 10), S. 80– 84; zum Kontext vgl. auch Volker Wahl: Exkurs zur Vorgeschichte der Gründung der NFG. In: „Forschen und Bilden“. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1953–1991. Hrsg. von Lothar Ehrlich. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 19–33, und Ders.: Unter dem Dach der NFG. Der Beitrag des Goethe- und Schiller-Archivs unter Willy Flach zur Fundierung von Theorie und Praxis der Literaturarchive 1954 bis 1957. In: ebd., S. 35–52. Wolfgang Schadewaldt: Das Goethe-Wörterbuch. Eine Denkschrift. In: Goethe-Jahrbuch 11, 1949 [1950], S. 293–305, hier S. 300. Schadewaldt 1949 (Anm. 12), S. 303.
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cher, der den ‚Gleichgesinnten‘ Ernst Grumach nicht nur in der GoethePhilologie an der Berliner Akademie der Wissenschaften verankerte, sondern ihm auch – allerdings mit größerer Mühe – 1949 den Weg als „Professor mit Lehrauftrag“ für Klassische Philologie und antike Philosophiegeschichte14 an die Humboldt-Universität bahnte.15 Die wissenschaftliche und kulturpolitische Kooperation zwischen Schadewaldt und Grumach bildete jahrelang die Grundlage für das ‚Goethe-Unternehmen‘ der Akademie und für Grumachs wissenschaftliche Tätigkeit nach 1945,16 die seit 1933 durch nationalsozialistische Repressionen unterbrochen war. Die Daten 1933 und 1945 markieren die Einschnitte und Wendemarken in Grumachs persönlicher wie wissenschaftlicher Biographie, die einerseits aus der Nazi-Diktatur und dem Holocaust, andererseits aus dem politischen Neubeginn in Deutschland und der Wiedereinrichtung wissenschaftlicher Institutionen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs resultierten. Doch schon bald sollte diese neue Phase in Grumachs Leben von den wachsenden politisch-ideologischen Gegensätzen im Nachkriegsdeutsch____________ 14
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Die Berufung erfolgte zum 15. 10. 1949, also wenige Tage nach der Gründung der DDR am 7. 10. Die Professur gab Grumach aus „Gesundheitsgründen“ zum Ende des Jahres 1956 auf (vgl. Schreiben des Rektors der Humboldt-Universität an die Leitung der Akademie der Wissenschaften vom 17. 12. 1956; BBAW-Archiv, Akademie-Leitung, Personalia, Nr. 657). Offenbar spielten nicht nur „Gesundheitsgründe“ für diesen Rücktritt eine Rolle, sondern auch persönliche Konflikte mit Kollegen, s. hierzu Günter Wirth: Ernst Grumach. Universalgelehrter von internationalem Rang und Zeitzeuge sui generis. In: Hochschule Ost. Beiträge zu Hochschule und Wissenschaft 1/2, 1999, S. 106–130, hier S. 118f. Über den Universitätslehrer Grumach schreibt Hellmut Flashar: Ernst Grumach (1902–1967). In: Ders.: Spectra. Kleine Schriften zu Drama, Philosophie und Antikerezeption. Hrsg. von Sabine Vogt. Tübingen 2004 (Classica Monacensia. Münchener Studien zur Klassischen Philologie. 29), S. 329–331, hier S. 329; zuerst in: Miscellanea di Studi in Onore di Ernst Vogt. Ricordi di filologi classici, a cura di Werner Suerbaum e con la collaborazione di Uwe Dubielzig. Bologna 1993 (Eikasmos. Quaderni Bolognesi di Filologia Classica. 4), S. 190–193: „Kaum einer von uns Studenten hatte den Namen Grumach schon vorher gehört, kaum jemand hatte seine Königsberger Dissertation ‚Physis und Agathon in der Alten Stoa‘ gelesen. So stand er eines Tages vor uns, ein kleiner Mann, sorgfältig gekleidet, schon morgens dicke Zigarren rauchend. Er sprach vertrauenserweckend, verleugnete seinen ostpreußischen Dialekt nicht. Und doch blieb für uns manches geheimnisvoll an ihm. Wir erfuhren: Er war Jude. Wie hatte er die schlimme Zeit überstanden? War er untergetaucht, war er emigriert? Er sprach darüber nicht, auch später nicht, als zwischen ihm und mir ein wirkliches Vertrauensverhältnis bestand. Wir wußten nur, daß er viel in England war und dort Freunde hatte. Er wirkte intellektuell, aber nicht unbedingt professoral. Er hätte auch Buchhändler sein können – niemand von uns wußte damals, daß er tatsächlich nach seiner Entlassung im Jahre 1933 als Lektor an der Universität Königsberg dort einige Zeit einen Buchhandel betrieben hatte –, auch als Bankdirektor alter Prägung wäre er vorstellbar gewesen (er hatte zu diesem Metier tatsächlich eine gewisse Affinität).“ Als Schadewaldt 1950 einem Ruf an die Universität Tübingen folgte, äußerte Grumach am 3. 8. 1950 gegenüber Hannah Arendt: „Sch’s Weggang ist für mich ohne Bedeutung, es sei denn dass er mich von lästigen Reibereien befreit und meinen Schülerkreis vergrössert hat.“ The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, Washington, Correspondence, General, 1938–1976; http://memory.loc.gov/cgi-bin/ampage?collId=mharendt_pub&fileName=02/ 20530/020530page.db&recNum=1; http://memory.loc.gov/cgi-bin/ampage?collId=mharendt_ pub&fileName=02/020530/020530page.db&recNum=2 (Oktober 2009).
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land erneut überschattet werden, obwohl Grumach, der stets in West-Berlin wohnen blieb, politisch nicht in Erscheinung trat und für die DDR als anerkanntes „Opfer des Faschismus“ (VVN-Ausweis Nr. 20014) unverdächtig war. In den Stellungnahmen der Akademievorgesetzten, die Grumachs Anträgen für Westreisen beigefügt waren, wurde zwar regelmäßig seine Parteilosigkeit, aber auch seine Loyalität gegenüber der DDR angeführt. Nach Ausweis seiner Akademie-Personalakte hat Grumach mehrfach Prämien für seine Leistungen im Zusammenhang mit der Goethe-Ausgabe erhalten. Im September 1952 wurde Grumach sogar – wenn auch offenbar ohne greifbaren Erfolg – für den ‚Nationalpreis‘ ins Gespräch gebracht, den Akten zufolge für seine Verdienste beim Aufbau eines Thomas-Mann-Archivs.17
2.
Biographische Stationen
Ernst Grumach wurde am 7. November 1902 in Tilsit als Sohn des jüdischen Rechtsanwalts Nathan Grumach (1863–1908) geboren. Der früh verstorbene Vater – so immer wieder Hinweise in den spärlichen biographischen Abrissen – konnte nur wenig prägend auf den Sohn wirken.18 Seine Mutter Friederike Grumach, geb. Mendelssohn (geb. 1865) und seine Schwester Betty Salomon (geb. 1895), die als Pianistin ausgebildet worden war, wurden 1943 deportiert und im KZ Theresienstadt bzw. Auschwitz ermordet;19 seine zweite Schwester, die Ärztin Helene Fabian (1894–1982), und ihr Mann Fritz Fabian (1901–?) konnten noch rechtzeitig über Kuba in die USA emigrieren (am 14. 8. 1941 finden sich ihre Namen in den Ausbürgerungslisten).20 Ernst Gru-
____________ 17 18
19
20
Ein entsprechendes Dokument mit einem Gutachten von Johannes Irmscher vom 2. 9. 1952 befindet sich in der Akademie-Personalakte Grumachs (BBAW-Archiv). Hinweise finden sich in folgenden Nachschlagewerken: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 11. Mannheim, Wien, Zürich 1974, S. 86; Walter Tetzlaff: 2000 Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts. Lindhorst 1982, S. 116; Yoram K. Jacoby: Jüdisches Leben in Königsberg/Pr. im 20. Jahrhundert. Würzburg 1983 (Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis. 55), S. 91 f. Für den vorliegenden Beitrag wurde wiederholt auf die Recherchen von Wirth 1999 (Anm. 14) mit großem Gewinn zurückgegriffen. Friederike Grumach wurde am 17. 6. 1943 von Berlin in das KZ Theresienstadt deportiert, ihre Tochter Betty Salomon war am 12. 3. 1943 von Berlin in das KZ Auschwitz deportiert worden. Über das Todesdatum beider Frauen in Theresienstadt bzw. Auschwitz gibt es keine Informationen. Vgl. The Central Database of Shoah Victims’ Names auf der Website der Gedenkstätte Yad Vashem. Ernst Grumachs Tochter, Irene Shirun-Grumach, gibt als Todesdatum von Friederike Grumach den 10. 10. 1943 an (Verzeichnis des Nachlasses von Ernst Grumach in The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem). Der Grumach-Nachlass wurde für diesen Beitrag jedoch nicht eingesehen. Vgl. Wirth 1999 (Anm. 14), S. 115.
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mach überlebte die Judenverfolgung nur deshalb, weil er in erster Ehe mit einer nichtjüdischen Ehefrau, Margarete Breuer (1899–?), verheiratet war.21 Den Besuch des Realgymnasiums in Tilsit, dann in Allenstein und schließlich in Königsberg schloss Grumach Ostern 1921 mit dem Abitur ab, um dann ein Jura-Studium in Königsberg aufzunehmen, von dem er aber schon bald zur Philosophie wechselte. In einem Lebenslauf, der sich in der Personalakte der Akademie befindet, gibt Grumach an, er habe u. a. bei Ernst Troeltzsch, Karl Jaspers und Martin Heidegger Vorlesungen gehört, was bedeutet, dass er auch in Berlin, Heidelberg, Marburg und Leipzig studiert hat.22 Heidegger war wohl derjenige, der Grumach für die griechische Philosophie interessiert und ihn dazu bewogen hatte, Griechisch zu lernen.23 Ernst Bickel, Wolfgang Schadewaldt – beide Homerforscher – und Johannes Mewaldt gehörten zu Grumachs Königsberger Lehrern in den klassischen Altertumswissenschaften, in Marburg kamen noch Paul Friedlaender sowie der Herausgeber der Zeitschrift Gnomon, Richard Harder, und Felix Jacoby hinzu, denen sich Grumach stets verpflichtet fühlte. Bei Walter Wreszinsky, dem Herausgeber der Orientalischen Literaturzeitung, studierte Grumach in Königsberg Ägyptologie. Richard Harder betreute Grumachs Dissertation, in deren Vorwort er auch Friedlaender und Jacoby für ihre Unterstützung dankte. Promoviert wurde Grumach im Mai 1929. Die Arbeit erschien 1932 unter dem Titel Physis und Agathon in der Alten Stoa in der angesehenen Reihe Problemata. Forschungen zur klassischen Philologie (1966 neu gedruckt). Parallel zur Arbeit an der Dissertation ließ sich Grumach ab Juli 1928 ein Jahr lang mit Unterstützung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg zum Bibliothekar ausbilden; diese Ausbildung sollte sich in der Nazi-Zeit als existenzsichernd herausstellen. Ab Sommersemester 1930 bis zur Entfernung aus dem Universitätsdienst im Sommersemester 1933 aufgrund seiner jüdischen Glaubenszugehörigkeit war er als Lektor für Latein und Griechisch an der Universität in Königsberg tätig. Grumachs weiteres Leben war von zunehmender Repression durch die Nationalsozialisten bestimmt. Anfangs arbeitete er in der Buchhand____________ 21 22
23
Richard Fuchs: The „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in the Period of Nazi Rule. In: Leo Baeck Institute Year Book 12, 1967, S. 3–31, hier S. 31. Eigenhändiger Lebenslauf vom 24. 6. 1946, Personalakte Grumach (BBAW-Archiv). Vgl. Wirth 1999 (Anm. 14), S. 107 f., und Hellmut Flashar: Ernst Grumach. In: Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften. Hrsg., mit einem Vorwort und einer Bibliographie versehen von Manfred Kraus. Amsterdam 1989, S. 749–751, hier S. 749; zuerst in: Gnomon 40, 1968, S. 221–223. In seiner Dissertation heißt es: „Den ersten Anstoß zur Beschäftigung mit der Stoa habe ich im Jahre 1925 durch eine Anregung M. Heideggers erhalten. Wieviel die Arbeit auch im einzelnen Heidegger verdankt, wird der Leser von selbst erkennen“; Physis und Agathon in der Alten Stoa. Berlin 1932 (Problemata. Forschungen zur klassischen Philologie. 6), 2., unveränderte Aufl. Berlin, Zürich, Dublin 1966, Vorwort, unpag.
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lung seiner Mutter und konnte so seine Familie – er hatte am 3. März 1933 geheiratet, 1937 war seine Tochter Irene geboren worden – ernähren. 1937 musste das Geschäft auf Weisung der Reichskulturkammer geschlossen werden. In dieser Situation war die Berufung Grumachs 1937 als Dozent für klassische Altertumswissenschaften an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin sicherlich ein Glücksfall. Obwohl aus den greifbaren Dokumenten nicht ersichtlich ist, wie diese Berufung zustande gekommen war, zeigt sie doch die Verwurzelung Grumachs in der großen Tradition jüdischen gelehrten Lebens und Lehrens. An der Berliner Hochschule, an der damals viele bedeutende jüdische Wissenschaftler nach ihrer Entfernung aus den akademischen Institutionen des Nazi-Staates arbeiteten, unterrichtete Grumach bis Juni 1942 mit einem Themenspektrum, das von der antiken Philosophie über Kant, Goethe und Kierkegaard bis zur Literatur und Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts reichte.24 In seiner Forschung konzentrierte Grumach sich weiterhin auf das Gebiet der antiken Epigraphik und knüpfte damit an frühere Interessen an. Doch auch diese Aktivitäten kamen mit zunehmender Repression gegen die jüdische Bevölkerung, insbesondere nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze (1935), fast vollständig zum Erliegen. In der Festschrift für Leo Baeck veröffentlichte er 1938 noch einen Beitrag Zur Herkunft des altsemitischen Alphabets, bevor seine Publikationstätigkeit abbrach und erst zehn Jahre später wieder aufgenommen werden konnte. Wie intensiv Grumach auch 1938/39 in die Überlegungen zu einer – allerdings gescheiterten – Verlagerung der Berliner jüdischen Hochschule nach London involviert war, zeigen Dokumente, die 1991 veröffentlicht wurden.25 Im Juli 1942 wurde die endgül____________ 24
25
Einer von Grumachs Schülern, der spätere Historiker und Antisemitismusforscher Herbert A. Strauss, schildert Grumachs Lehrtätigkeit in seinen Erinnerungen folgendermaßen: „Wir beschäftigten uns jeweils zwei Semester lang mit Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit und Kants Kritik der reinen Vernunft, ohne daß er uns zu Proselyten des Existenzialismus als der einzig wahren zeitgenössischen Philosophie gemacht hätte. Er war kein Ideologe und lehrte mich, den Verlockungen vorschneller Verallgemeinerungen und globaler Spekulationen zu widerstehen [...]. Er [...] gab sich [...] nicht mit dem positivistischen Detail zufrieden. Ich ging davon aus, daß er den Wert wissenschaftlicher Arbeit gewidmeter Lebenszeit kannte, als mir selbst immer schmerzlicher bewußt wurde, daß wir womöglich bereits seit einer geraumen Weile über einem Abgrund leerer Zeit balancierten. [...] Grumachs Denken lag in vielerlei Hinsicht außerhalb der liberalen Tradition der Hochschule. Er zeigte kein Interesse an organisierter Religion und identifizierte sich nicht mit Idealen wie dem Zionismus. Weit davon entfernt, ein klar umgrenztes wissenschaftliches oder systematisches Interesse zu verfolgen, jonglierte Grumach mit einer Vielzahl vordergründig widerstreitender Themen aus den verschiedensten Forschungsgebieten, deren innerer Zusammenhang nicht auf den ersten Blick ersichtlich war“ (Herbert A. Strauss: Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918–1943. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Frankfurt/Main, New York 1997, S. 183). Vgl. auch Fuchs 1967 (Anm. 21), S. 16, 29. Vgl. Christhard Hoffmann, Daniel R. Schwartz: Early but Opposed – Supported but Late. Two Berlin Seminaries which Attempted to Move Abroad. In: Leo Baeck Institute Year Book 36, 1991, S. 267–304, hier S. 283–296, auch Wirth 1999 (Anm. 14), S. 111 f.
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tige Schließung aller jüdischen Bildungseinrichtungen und damit auch der Hochschule verfügt. Grumach war bereits im November 1941 vom Reichssicherheitshauptamt zur Arbeit bei der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwangsverpflichtet worden,26 die seit 1939 unter der Kontrolle der Gestapo stand. Da er über eine bibliothekarische Ausbildung verfügte, wurde er für Pläne zum Aufbau sogenannter Institute zur Erforschung des Judentums in Frankfurt/Main und München eingesetzt, wobei seine Aufgabe darin bestand, aus konfisziertem privaten und öffentlichen jüdischen Buchbesitz eine „Gegenbibliothek“27 aufzubauen.28 In einem ausführlichen Bericht hat Grumach nach dem Ende der Nazidiktatur seine schwierige und problematische Tätigkeit beschrieben, wobei er auch den Blick in die Zukunft richtete und den Vorschlag unterstützte, diese durch Kriegseinwirkungen erneut verstreuten und teilweise vernichteten Buchbestände in einer „jüdischen Zentralbibliothek“ als „Grundlage eines jüdischen Kultur-Archivs“ zusammenzuführen.29 Ernst Grumach überlebte den Holocaust und war nach dem Ende der NaziDiktatur bis November 1945 für die Jüdische Gemeinde in Berlin bei der „Sicherstellung der geraubten jüdischen Bibliotheks- und Museumsbestände“30 tätig. Gleichzeitig bemühte er sich sowohl in Berlin als auch im Ausland (England) darum, an seine unterbrochene wissenschaftliche Tätigkeit anzuknüpfen. Im Juni 1946 bewarb er sich bei der Philosophischen Fakultät der Humboldt____________ 26
27 28
29 30
Zu den Bedingungen dieser Zwangsarbeit s. Grumachs eidesstattliche Erklärung (gemeinsam mit anderen Zwangsverpflichteten) vom 23. 2. 1954, zitiert bei Dov Schidorsky: Confiscation of Libraries and Assignments to Forced Labor: Two Documents of the Holocaust. In: Libraries & Culture 33, 1998, No. 4, S. 347–388, hier S. 374–382. Vgl. auch Strauss 1997 (Anm. 24), S. 184 f. Wirth 1999 (Anm. 14), S. 114. Gershom Scholem, der auf Anregung Hannah Arendts, einer Bekannten Grumachs aus Königsberger Studientagen (hierzu Wirth 1999, Anm. 14, S. 121 f.), Grumach 1946 in Berlin besucht hat, schreibt über diese „Gegenbibliothek“: „Interessant ist auch folgendes Detail: In jener Abteilung in Berlin begann man mit der Errichtung einer besonderen Bibliothek, die alles enthalten sollte, was von Juden oder Halbjuden auf allen Gebieten der Wissenschaft und der Literatur geschrieben und gedruckt worden war. Diese Sammlung, die rund 60 000 Bände umfaßte, als sie in die Tschechoslowakei geschickt wurde, wäre sicher ein besonderes Andenken an den Beitrag der Juden zur allgemeinen Kultur der letzten hundert Jahre gewesen. Jüdische Fachleute aller Gebiete haben an der Erstellung dieser Sammlung mitgearbeitet, deren Katalog ich noch teilweise in Berlin gesehen habe. Ich habe mit einem angesehenen Mann [d. i. Ernst Grumach] gesprochen, der Zwangsarbeit bei der Errichtung dieser Bibliothek geleistet hat. Er sagte mir, die jüdischen Arbeiter hätten sich dieser Sache mit großer Begeisterung gewidmet. Sie trugen die Hoffnung, daß es ihnen gelingen würde, die Sammlung in ihrer Vollständigkeit bis zur Niederlage des Reiches zu bewahren. Man würde dann ein grossartiges Denkmal für unsere kulturelle Leistung haben, eine Sammlung, die ihresgleichen nirgends auf der Welt hat. Ihre Hoffnung hat sich nicht erfüllt, die Sammlung ist verschwunden“ (Zur Frage der geplünderten jüdischen Bibliotheken. In: Ha ’aretz, 5. 10. 1947; zitiert nach Wirth 1999, Anm. 14, S. 114). Schidorsky 1998 (Anm. 26), S. 356–361, Zitat S. 361. Lebenslauf in der Personalakte Grumachs im BBAW-Archiv.
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Universität; seine Bewerbung wurde an Schadewaldt weitergereicht, der jedoch offensichtlich vorerst nichts für Grumach tun konnte (vermutlich deshalb, weil Grumach nur promoviert und nicht habilitiert war). Schadewaldt vermittelte ihm aber eine Stelle als Redakteur beim Lexikon der Antike des Leipziger Teubner-Verlags, die er ab Januar 1948 bekleidete. In dieser Zeit begann der engere wissenschaftliche Austausch zwischen Grumach und Schadewaldt, zumal Grumach an der Sammlung Goethe und die Antike arbeitete. Schadewaldt dürfte auch den Kontakt zum Potsdamer Verlag von Werner E. Stichnote vermittelt haben, in dem die Sammlung zuerst erschienen war und die später vom Berliner De Gruyter-Verlag übernommen wurde. Bei Stichnote publizierte nicht nur Schadewaldt, sondern auch andere Mitglieder der Berliner Akademie (z. B. Akademiepräsident Johannes Stroux oder der Rektor der Universität Leipzig Bernhard Schweitzer). Grumachs Weg in diese Institution wurde sicherlich durch solche Kontakte geebnet, zumal Schadewaldt in dieser Zeit bereits aktiv die Einrichtung des „Goethe-Unternehmens“ an der Akademie betrieb.
3.
Goethe-Philologie in Berlin
1947 war ein Ausschuss eingerichtet worden, der die Feiern zu Goethes 200. Geburtstag in der sowjetischen Besatzungszone vorbereiten sollte. Am 8. Dezember 1948 stellte Wolfgang Schadewaldt in einem Memorandum erstmals in der Deutschen Akademie der Wissenschaften seine Pläne für ein „umfassende[s] wissenschaftliche[s] Kommentarwerk[] zu Goethe“ vor.31 Schadewaldt hielt in diesem Papier eine „umfassende wissenschaftliche Textausgabe“ „gegenwärtig für überflüssig“, weil man doch die Weimarer Ausgabe habe. Allerdings räumte er die Notwendigkeit für die Überarbeitung, „Erweiterung und Revision“ einzelner Bände ein. Schadewaldt schwebte offenbar eine Ergänzung der Weimarer Ausgabe um einen groß angelegten Kommentar vor, der – hier bleibt Schadewaldt ausgesprochen undeutlich – auch einen „Varianten-Apparat und Einzelerklärungen“ jeweils unter dem Text enthalten sollte. Die Akademie stimmte diesen Plänen im März 1949 zunächst zu. Nach Gesprächen zwischen Schadewaldt und Ernst Grumach, der als Leiter des Projekts gewonnen werden sollte, wurden die Grundzüge dieser kommentierten Ausgabe wesentlich verändert. Ein Bericht – 1967 im Zusammenhang mit der ____________ 31
Begründung eines umfassenden wissenschaftlichen Kommentarwerkes zu Goethe, 8. 12. 1948 (BBAW-Archiv, Akademieleitung, Nr. 153).
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Einstellung der Goethe-Akademie-Ausgabe erstellt – hält folgende, auf ein Papier Grumachs zurückgehende Modifikationen fest: Er [Grumach] machte seinerseits Vorschläge, die beabsichtigen, 1. die Zuverlässigkeit des Textes der Sophien-Ausgabe auf Grund der Weimarer Handschriften zu prüfen, 2. insoweit sich die Unzuverlässigkeit der Ausgabe erweisen sollte, den Text neu zu bearbeiten, 3. an Stelle des von Schadewaldt vorgesehenen Kommentars eine Sammlung aller Zeugnisse und Materialien zum zu edierenden Text darzubieten.32
Die Vorschläge Grumachs wurden von der Goethe-Kommission, von der Akademie und auch vom Minister für Kultur nach einem Gespräch mit Grumach am 24. Juni 1949 gebilligt, so dass zum 1. Januar 1950 „die Verantwortung für die Goethe-Akademie-Ausgabe von der Goethe-Kommission der Deutschen Kommission übertragen“ wurde; schon im Juli 1950 erhielt die Deutsche Kommission das Druckmanuskript des Divan-Textbandes zur Prüfung.33
4.
Goethe-Akademie-Ausgabe
Ziel der Goethe-Akademie-Ausgabe war dann aber doch die radikale methodische Überwindung der Weimarer Ausgabe und nicht nur eine vorsichtige Retusche an besonders fehlerhaften Bänden, wie zunächst als Alternative zu einer Neuedition ins Auge gefasst worden war. Grumachs Frage „Ist die kritische Arbeit am Goethetext tatsächlich beendet?“34 zielte auf drei problematische Kernbereiche der Weimarer Ausgabe, und zwar auf den der Textkonstitution, den der Textgestaltung und den des kritischen Apparates.35 In den Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe unterzieht Grumach die Weimarer Ausgabe einer strengen Prüfung mit vernichtendem Resultat. Er kritisiert zunächst die auf Repräsentation ausgerichteten Träger und Verantwortlichen der Ausgabe, die verhindert hätten, dass die Überlieferung von Handschriften und Drucken mit ____________ 32
33 34
35
Vorlage der Leitung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur über die Beendigung der Arbeiten an der Akademie-Ausgabe von Goethes Werken (30. 6. 1967, Eingangsdatum), BBAW-Archiv, Akademieleitung, Nr. 153. Vorlage 1967 (Anm. 32). Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch 12, 1950 [1951], S. 60–88, hier S. 61; Wiederabdruck in: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin 1959 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 16), S. 1–34. Ernst Grumach: Probleme der Goethe-Ausgabe. In: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur. Vorträge gehalten auf der Eröffnungstagung. Berlin 1954 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur. 1), S. 39–51, hier S. 40.
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entsprechender Sorgfalt vorab geprüft wurde. Dies habe zur fatalen Fehleinschätzung der textlichen Qualität der ‚Ausgabe letzter Hand‘ geführt, die der „selbstwillige[n] Verfügung“36 Goethes entsprechend, als alleinige Textgrundlage gewählt wurde. Grumach geißelt diese Entscheidung als „Kanonisierung eines bestimmten Druckes als Textgrundlage, von dem nur bei offenkundigen Korruptelen und nur mit Zustimmung der Mehrzahl der Redaktoren abgewichen werden darf, ein Verfahren, das ohnehin den Erfordernissen und den Grundsätzen einer kritischen Edition zuwiderläuft.“37 Ausführlich führt er diese Mängel an der Interpunktion der Ausgabe vor, die nachweislich dem Interpunktionsgebrauch Goethes entgegenläuft. Er spricht damit der Weimarer Ausgabe rigoros den Anspruch einer kritischen Edition ab und stellt seine Position dagegen, wonach es Aufgabe kritischen Edierens sei, „d e n b e ste n Text h e r z u st e l le n“.38 In diesem Postulat sieht er die „einzig mögliche Umschreibung der verwickelten und verantwortungsreichen Aufgabe des Editors, unter Berücksichtigung al le r vorhandenen Zeugen eines Textes und a ller seine Geschichte bestimmenden Faktoren die Textfassung herzustellen, die der Intention des Autors den adäquatesten Ausdruck verleiht.“39 Die Weimarer Ausgabe habe deshalb allenfalls eine „Textrevision“ und keine „Textrezension“ geleistet,40 sie sei höchstens ein „revidierter Neudruck der Ausgabe letzter Hand“,41 der „das historische Relief der Goetheschen Dichtung“ nivelliert.42 Schon diese Begrifflichkeit zeigt, dass hier ein klassischer Philologe ans Werk gegangen war, dem es mit Leichtigkeit gelang, die Überfremdung des Textes der Ausgabe letzter Hand samt der zu ihr parallel erschienenen Ausgaben in anderem Format durch Goethes Mitarbeiter (z. B. Eliminierung von Goethes Interpunktion, Einebnung orthographischer Schwankungen, Eingriffe in die Flexion) oder durch die Auswahl verderbter Druckvorlagen (z. B. fehlerhafter Raubdrucke) im Detail nachzuweisen. Dadurch erschütterte Grumach das Prinzip der Fassung letzter Hand nachhaltig, da in zahllosen Fällen von einer Goethe’schen „Textrezension oder gar von einer schöpferisch weiter formenden und vollendenden Textgestaltung keine Rede mehr sein kann“.43 Die Ergebnisse, die auf der Grundlage von Grumachs Prämissen nach aufwendigen ____________ 36
37 38 39 40 41 42 43
Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919, Abt. 1, Bd. 1, S. XVIII–XXV (Vorbericht von Bernhard Suphan im Namen der Redaktoren), hier S. XIX. Grumach 1950 (Anm. 34), S. 64. Grumach 1950 (Anm. 34), S. 61. Grumach 1950 (Anm. 34), S. 64. Grumach 1950 (Anm. 34), S. 64. Grumach 1954 (Anm. 35), S. 41. Grumach 1954 (Anm. 35), S. 45. Grumach 1950 (Anm. 34), S. 69.
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Untersuchungen der Goethe-Werkausgaben erzielt44 und später von Waltraud Hagen45 zusammengeführt wurden, haben schließlich jenes „Erdbeben“ in der Goethe-Philologie ausgelöst, von dem eingangs bereits die Rede war. Wenn auch noch nicht explizit formuliert, deutete sich in Grumachs Schlussfolgerung die Prämisse einer historischen Gleichheit aller überlieferten Textträger eines Werkes an, wenn er „die Rückkehr zu der inneren und äußeren Textgestalt“ fordert, „die für jedes einzelne Werk bei seiner Entstehung bestimmend gewesen ist, bzw. in Zweifelsfällen zu den Formen und Regeln der Epoche, aus der es stammt.“46 So selbstverständlich uns diese Position heute erscheint, sie führte damals zunächst noch zu einer Distanz gegenüber späteren Drucken und einer Favorisierung handschriftlicher Fassungen, die – so Friedrich Beißner 1964 – eine neuerliche „Normierung“ des Goethe’schen Textes mit sich bringe.47 Die Frage, welche Grundlage für einen edierten Text zu wählen ist, sei daher flexibel zu handhaben, doch stets bestimmt durch die Prämisse, dabei dem „ursprüngliche[n] Willen“48 des Autors zu folgen. Vor diesem Hintergrund erhielt auch der Apparat eine bedeutendere Funktion im Hinblick auf die Textkonstitution und die Darstellung der Textgeschichte, während die Weimarer Ausgabe die Variantenverzeichnung nur summarisch – Grumach spricht von einer „Art Mottenkiste“ und „Requisitenkammer für die Lesarten“49 – hand____________ 44
45
46 47
48 49
Zusammengefasst in Ernst Grumach, Waltraud Hagen: Editionen. In: Goethe Handbuch. Goethe, seine Welt und Zeit in Werk und Wirkung. 2., vollkommen neugestaltete Aufl. unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Alfred Zastrau. Bd. 1. Stuttgart 1961, Sp. 1993–2061. Die Drucke von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen. Berlin 1971, 2. Aufl. 1983, sowie Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen. 4 Bde. Berlin 1966–1986. Grumach 1954 (Anm. 35), S. 46. Beißner schreibt, allerdings schon mit Blick auf die nach dem Ausscheiden Grumachs vorgenommene Revision der Editionsrichtlinien mit einer Favorisierung von handschriftlichen Druckvorlagen bzw. der Erstdrucke: „Es wäre eine einigermaßen gewaltsame Methode, alle Änderungen Göttlings und andrer bestellter Helfer, auch die autorisierten, unbesehn rückgängig zu machen. Nur solche gehören in den Lesartenapparat, die nachweisbar Goethes wirklicher Intention zuwiderlaufen und von ihm übersehen worden sind. Der Herausgeber sollte versuchen, Goethes Auftrag besser auszuführen, als es Göttling möglich war, dem die Heranziehung der älteren Drucke widerraten worden war, der Handschriften ganz zu schweigen. Es liefe dabei hinaus auf die von Goethe gewünschte Normierung unter feinfühligster Wahrung und Bewahrung des eigentümlich Goethischen, das sich gegen die Normierung sperrt. Man darf nicht verkennen, daß die ‚Sämtlichen Werke‘ eines Dichters denn doch ein Corpus sind und es auch darstellen müssen. Sie liegen immer, auch unausgesprochen, in der Intention des Autors, und der Herausgeber hat sich danach zu richten. Man braucht nicht pathetisch von einem ‚Vermächtnis‘ zu sprechen. Aber von Goethes Werken ist die Ausgabe letzter Hand eben da, und die (von Grumach verdienstvoll erhellte) Einsicht in ihre Problematik erschwert das Geschäft des Editors. Sie darf aber deshalb nicht einfach beiseitegeschoben werden“ (Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft, S. 72–96, hier S. 94 f.). Grumach 1954 (Anm. 35), S. 46. Grumach 1954 (Anm. 35), S. 47.
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habte. Auch in diesem Bereich setzte Grumach – ähnlich wie Friedrich Beißner mit seinem Konzept vom ‚idealen Wachstum‘ – deutlichere Akzente, indem er die Funktion des Variantenapparates, allein bei der Rekonstruktion eines Archetyps und daraus folgend der Textkonstitution hilfreich zur Seite zu stehen, aufgrund der anderen Überlieferungslage neuerer Texte modifizierte. Er griff dabei Überlegungen auf, wie sie etwa Goedeke schon für seine Schiller-Edition angestellt hatte. Der Apparat unterstützte nun dabei, „durch Vergleich der Varianten der auf ihr beruhenden Abschriften und Drucke die Weiterentwicklung eines Textes zu verfolgen und so seine endgültige und für die Edition maßgebliche Druckgestalt zu ermitteln.“50 Text und Apparat seien daher untrennbar aufeinander bezogen – eine Aussage, die später gegen Grumach ins Feld geführt wurde, weil die entsprechenden Apparatbände fehlten.51 Das Verfahren der Variantendarstellung stoße jedoch dort an seine Grenzen, wo Entwürfe und Fassungen eine textliche Eigenständigkeit erlangen, die sich nicht mehr in Varianten auflösen lasse; jene sind daher als selbständige Texte in der Edition zu behandeln. Grumach unterschied also zwei Funktionen eines Apparates, die jedoch stets einen simultanen Rückbezug auf den Text behalten:52 Einmal diene der Apparat zur Ermittlung des edierten Textes und seiner Geschichte, dann habe er die Funktion, die Textgenese darzustellen, wobei seine Vorstellung von Textgenese noch undeutlich blieb und erst mit Scheibes Apparatband zu den Epen an programmatischer Klarheit gewann. Grumach war sich durchaus bewusst, dass es im Falle einer Goethe-Edition je nach Werküberlieferung nur flexible Lösungen geben konnte, nachdem sich das normative, ‚ahistorische‘ Verfahren der Weimarer Ausgabe als obsolet herausgestellt hatte. Aus dieser Überlegung resultierte dann auch die Entscheidung, die GoetheAkademie-Ausgabe als „Reihe von Einzelausgaben“ mit dem Titel Werke Goethes zu konzipieren, eine Entscheidung, die von den Akademiegremien sogar offiziell abgesegnet wurde. In der Goethe-Philologie entstand damit ein Umdenken, denn das Goethe’sche Werk wurde nun als Resultat historisch eigenständiger Fassungen gesehen, wobei der ‚junge‘ Goethe gleichberechtigt neben den ‚alten‘ Goethe trat. Werther, Götz von Berlichingen, Torquato Tasso, ____________ 50 51 52
Grumach 1954 (Anm. 35), S. 47. So Maier in seiner Divan-Edition (s. Anm. 69). „Das Prinzip der Simultanbenutzung von Text und Apparat wird also auch in diesen Fällen gewahrt werden. Verschiedene Fassungen werden nicht in Einzelvarianten aufgelöst, sondern in ihrem genetischen Zusammenhang belassen, sodaß der Leser das Werden und Wachsen einer Fassung mit einem Blick überschauen kann. Ein erweitertes, aber in sich vereinfachtes System ‚sprechender‘ Siglen gestattet es dabei, Handschrift und Druck, eigenhändige und nicht eigenhändige Handschrift, Entwurf und Reinschrift mühelos zu unterscheiden und die Reihenfolge der Textzeugen bzw. der Korrektoren und Korrekturschichten zu erkennen“; Grumach 1950 (Anm. 34), S. 88.
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Faust und der West-östliche Divan wurden nun in mehreren Textfassungen – teilweise im Paralleldruck – ediert und beförderten die Einsicht, dass die Goethe-Edition vor extremen Problemen der Überlieferung und Textkritik stand, eine Tatsache, die bis heute dafür verantwortlich ist, dass der Werkkomplex allenfalls ansatzweise editorisch durchdrungen ist. Aber es wurde auch Kritik laut, denn Grumach strebte „kritisch bereinigte Einzelausgaben“53 an, die insgesamt „weitergehende Konjekturen und Emendationen“54 zuließen, ja sogar forderten. Für seine Edition des West-östlichen Divan bedeutete die ausführliche Recensio der überlieferten Textträger, aus dem sich daraus „ergebende[n] Gitternetz von Varianten, mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit die nicht autorisierten Änderungen zu eliminieren und den von Goethe gewollten endgültigen Drucktext herzustellen, wie es in der Divanausgabe der Akademie systematisch versucht worden ist.“55 Diese Suche nach dem ‚besten‘ Text, der der Autorintention entsprach,56 war ____________ 53
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55 56
Ernst Grumach: Aufgaben und Probleme der modernen Goetheedition. In: Wissenschaftliche Annalen zur Verbreitung neuer Forschungsergebnisse 1, 1952, S. 3–11, hier S. 5. So auch im Nachwort („Zum Geleit“) zum Textband (Bd. 1) der Divan-Edition, womit die Absicht verknüpft wurde, einen „neuen Editionstyp zu schaffen, dessen Aufgabe es sein soll, dem Leser und Benutzer in unmittelbarer Verbindung mit dem Text alle Hilfsmittel und Materialien zur Verfügung zu stellen, die für das Verständnis der Entstehungsgeschichte und für die Deutung und Interpretation eines Werkes erforderlich sind“ (S. 245 f.). Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Waltraud Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin 1979, S. 195, Anm. 13. – Das jüngste Goethe Handbuch spricht äußerst diplomatisch nur noch von einer „Textgrundlage, die jeweils dem Textzeugen folgt, der der schöpferischen Arbeit G.s am nächsten steht und keine Überfremdungen enthält. [...] Die Variantenverzeichnisse sollen die belegten Entstehungs- und Umformungsprozesse der Texte in ihrer Gesamtheit darstellen. Sie dokumentieren damit unter anderem die bei G. spezifisch ausgeprägte Zusammenarbeit mit Schreibern und Helfern, die in Einzelheiten ebenfalls die Textgestalt beeinflussen konnte“; Horst Nahler: Editionen. In: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto und Peter Schmidt (†). Bd. 4,1. Stuttgart, Weimar 1998, S. 223–233, hier S. 227. Grumach 1952 (Anm. 53), S. 9. „Der Text folgt [...] der letzten, von Goethe noch s c h a f f e n d gestalteten Form eines Werkes ohne Rücksicht auf die Änderungen, die er oft in großem zeitlichen Abstand und unter andersartigen Bedingungen als Redaktor und Revisor seiner eigenen Werke vorgenommen hat. Aus dem gleichen Grunde werden späte Korrekturen seiner editorischen Helfer nicht berücksichtigt, sofern es sich nicht um Berichtigung faktischer Fehler und Versehen handelt“; Ernst Grumach, K. Lothar Wolf: Zu den Akademie-Ausgaben von Goethes Werken. In: Goethe-Jahrbuch 20, 1958, S. 309 f., hier S. 310. – Da überwiegend die Apparat-Bände der Ausgabe fehlen und daher eine Beurteilung der textkritischen Prinzipien kaum abschließend möglich ist, kann – abgesehen von der spezifischen Überlieferung des Textes durch fremde Hände – als Beispiel für die praktische Umsetzung die Edition von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung als einziger der Bände, zu denen ein Apparat vorliegt, dienen. Als Textgrundlage wurde eine dem authentischen Text nahe Abschrift von fremder Hand (Mutter und Tochter Schultheß) gewählt, die von der Editorin textkritisch bearbeitet wurde: „Es war daher unsere Aufgabe, unter Verzicht auf jede eigenwillige Vereinheitlichung des Textes zu H zurückzukehren. Ein diplomatischer Abdruck der Handschrift verbot sich freilich von selbst, da er [...] auch die zahlreichen Fehler der Hss. und die orthographischen und sprachlichen Eigentümlichkeiten der Schreiberinnen kon-
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Grumachs editorisches Ziel, verbunden mit dem „Wille[n], Goethes Werk von Fehlern der Überlieferung zu befreien und in reiner und glänzender Gestalt kommenden Geschlechtern zu überliefern.“57 Seit 1952 erschienen zahlreiche Textbände der Goethe-Akademie-Ausgabe in rascher Folge. Allerdings waren die Eingriffe zunächst nicht erkennbar, weil die zugehörigen Apparatbände – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht veröffentlicht wurden.58 Deshalb werden im Anhang zu diesem Beitrag auch erstmals die bislang unbekannten „Richtlinien“ abgedruckt, die für die GoetheAkademie-Ausgabe unter der Leitung Grumachs gültig waren und die dem Verdacht entgegenwirken können, die Goethe-Akademie-Ausgabe habe gewissermaßen in einem editionsmethodisch ‚luftleeren Raum‘ existiert.59 Diese „Richtlinien“ machen zudem deutlich, wie sehr das Grumach’sche Editionsdenken von Verfahren aus der klassischen Philologie beeinflusst war. Aber sie machen weiterhin deutlich, wie schwierig es war, traditionelle Apparate, die die Textkonstitution absicherten, und Möglichkeiten, die Textgenese darzustellen, miteinander in Einklang zu bringen. Im Verlauf der 1950er Jahre mehrten sich jedoch kritische Stimmen, die in der Akademie selbst zunächst Irritationen, dann auch erhebliche und lang an__________
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servieren würde. Um den Text ihrer Vorlage bzw. des zugrundeliegenden Originalmanuskripts zurückzugewinnen, kam es vielmehr darauf an, ihn möglichst von allen Abweichungen zu befreien, die erst durch die Abschrift der beiden Schultheß entstanden sind“ (Goethe: Wilhelm Meister. 5. Überlieferung und Lesarten. Lief. 1: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Bearb. des Bandes: Renate Fischer-Lamberg. Berlin 1960, S. 15). Grumach 1952 (Anm. 53), S. 11. – Sogar der Spiegel (Nr. 17, 21. 4. 1954, S. 30) fand die Ankündigung Grumachs, man werde mit der Goethe-Akademie-Ausgabe „einen ganz neuen Goethe bekommen“, vor dem Hintergrund einer Bemerkung des Ostberliner Oberbürgermeisters, Fritz Ebert, Goethe habe „bereits“ von einer „unteilbare[n] Deutschen Demokratischen Republik“ „geträumt“, so bedeutend, dass man unter der Überschrift „Kunischs Kommajäger“ über ein Oberseminar bei Hermann Kunisch an der Freien Universität Berlin berichtete, in dem Grumachs Divan-Edition auf den Prüfstand gestellt wurde. Das Seminar kam zu dem Ergebnis: „Möglichkeiten für eine inhaltliche Neuinterpretation (das eigentliche Ziel des Philologen) gibt der Grumach-Text nur an ganz wenigen Stellen an die Hand. | So sagt etwa Goethe-Hatem von dem heiligen Sänger Hafis: | Du aber bist mystisch rein, | weil sie dich nicht verstehn... | Grumach setzt das Komma zwischen ‚mystisch‘ und ‚rein‘ und gibt dem Reimwort damit eine neue Frankfurter Slang-Bedeutung: Rein weil sie Hafis nicht verstehen, erscheint er ihnen mystisch. | Folgenschwere Textvarianten konnten Kunischs Kommajäger bisher nicht aufspüren.“ Wie sehr Grumach seine Divan-Edition im Kontext früherer Edition verankert sah, zeigt die Publikation von drei Vorträgen Konrad Burdachs zur Entstehungsgeschichte des Divan; Konrad Burdach: Zur Entstehungsgeschichte des West-östlichen Divans. Drei Akademievorträge. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin 1955 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur. 6). Dieser Eindruck konnte deshalb entstehen, weil die späteren, zwischen 1959 und 1961 erarbeiteten Grundlagen der Goethe-Ausgabe weitgehend das Urteil über die frühen Bände der Goethe-Akademieausgabe bestimmt haben; abgedruckt finden sich die Grundlagen in: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 1), S. 245–272.
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haltende Debatten über das ‚Prestigeprojekt‘60 Goethe-Ausgabe auslösten. Im Juli 1956 fand in der Akademie eine internationale Arbeitstagung statt, die die editorischen Verfahren der Akademie-Ausgabe auf den Prüfstand stellte. Ein Papier aus dem Jahr 1967 hält darüber fest: Als Grumach auf einer internationalen Arbeitstagung des Instituts im Juli 1956 das Muster seines Divan-Apparates vorlegte, waren bereits neun Textbände erschienen. Die Kritik der Tagungsteilnehmer richtete sich zunächst nur gegen die Art des Grumachschen Apparates, der in seiner Form und in seinem Aussagewert vor allem von Professor Beißner beanstandet wurde. Von der 1949 durch den Präsidenten vertretenen Forderung, die Lesarten am Fuße jeder Seite übersichtlich zu bringen, war von Grumach abgewichen worden, weil er behauptete, daß ihrer zuviel wären. Er glaubte, den Gedanken der Volks- und der wissenschaftlichen Ausgabe so zu lösen, daß ein schön gedruckter Text auch dem Goethe-Leser mit der gleichen Ausgabe zur Verfügung stehen sollte, während dem Wissenschaftler zusätzlich Apparatbände zugänglich gemacht werden sollten.61
Diese Situation spitzte sich zu, als Hans Albert Maier (1957 und 1959) in zwei Rezensionen Stellung bezog. Maier hatte die drei Textbände von Grumachs Divan-Edition im Journal of English and Germanic Philology ausführlich, durchaus ernsthaft und keineswegs polemisch besprochen, wobei er Grumachs Einschätzung, dass die Weimarer Ausgabe aufgrund der von Grumach vorgebrachten Fakten dringend revisionsbedürftig sei, teilte. Maier spricht von Grumachs Edition auch deshalb als einem „textgeschichtliche[n] Ereignis“, weil die Akademie-Ausgabe „als erste eine wirklich kritische sein will“.62 Doch Maier warnt Grumach gleich zu Beginn nachdrücklich davor zu glauben, „den endgültig besten Text bieten zu können“,63 um abschließend festzustellen, dass die Editionsgrundsätze der Akademie-Ausgabe zwar „näher an den ursprünglichen Dichter Goethe“ heranführen, aber keinesfalls das Versprechen eines ‚besten Textes‘ einlösen. Der Rezensent folgt Grumach keineswegs in dem Verfahren der textkritischen Bearbeitung, fragt sich vielmehr, warum Grumach nicht „konsequent“ auf die Divan-Reinschrift als dem „Goethenächsten Text zurückgeht“ und vielmehr den Erstdruck mit Hilfe dieser Reinschrift ‚verbessert‘.64 Damit stand der Vorwurf im Raum, Grumach habe einen ____________ 60
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Noch in einer Aktennotiz über ein Gespräch zwischen Theodor Frings und dem Akademiepräsidenten Werner Hartke vom 14. 5. 1965, in dem auch die Goethe-Ausgabe Thema war, wird festgehalten: „Ihm [Frings] schien das wissenschaftliche Prestige der Akademie-Ausgabe als solcher Sorge zu machen“ (BBAW-Archiv, Akademieleitung, Nr. 154). Vorlage 1967 (Anm. 32). Hans Albert Maier: Zur Textgestaltung des West-östlichen Divans. In: The Journal of English and Germanic Philology 56, 1957, S. 347–381, hier S. 348. Maier 1957 (Anm. 62), S. 348. Maier 1957 (Anm. 62), S. 380 f.
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„Mischtext“65 hergestellt, und Hans Zeller rückte das Verfahren später noch in die Nähe von „Offenbarungsphilologie“.66 Wilhelm Solms hat dieser Einschätzung widersprochen und darauf hingewiesen, dass Grumach in der DivanEdition keineswegs einen „Mischtext“ hergestellt habe, sondern vielmehr den Text des Erstdrucks (1819) mit „authentischen Lesarten“ der Reinschrift bzw. mit „für authentisch gehaltenen Korrekturen“ späterer Schreiberabschriften und der Textfassung in der Ausgabe letzter Hand (Taschenausgabe, 1827) „emendiert“.67 Dieses Verfahren entspricht durchaus den von Grumach dargelegten Editionsprinzipien und den in der Klassischen Philologie üblichen Verfahren zur Generierung eines ‚besten Textes‘. Die Neugermanistik folgte Grumach jedoch in dieser Auffassung nicht, da dieses Verfahren einer Überprüfung jeder einzelnen Variante auf ihre Authentizität eigentlich nur bei extrem überfremdeten Texten zu sinnvollen Ergebnissen führen kann. Dies hat sich beispielsweise in jüngster Zeit für die Edition von Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena im Rahmen der Marburger Büchner-Ausgabe herausgestellt.68 Maiers Angriff gegen Grumachs Divan-Edition hat aber vermutlich noch einen anderen Hintergrund. Wilhelm Solms vermutet, dass Maier, indem er erneut den „Notstand“ beklagt, in der sich die Divan-Edition weiterhin befinde, „den Weg nach Weimar und zu einer neuen, zunächst in Weimar geplanten Edition des Divans geöffnet“69 sowie damit die Konkurrenz zwischen der ____________ 65
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Auch Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier S. 42, wird später – wenn auch methodisch differenzierter – der Ausgabe indirekt diesen Vorwurf machen: „Denn die Herstellung eines Mischtextes, die Kontamination verschiedner Entwicklungsstufen eines Werks, kann zwar einen idealen, vielleicht auch einen ‚schönen‘ Text ergeben, niemals aber einen Text, der in dieser Weise vom Autor stammt, der also einer historischen Entwicklungsstufe des Werks entspricht.“ Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 65), S. 45–89, hier S. 53. Wilhelm Solms: Interpretation als Textkritik. Zur Edition des West=oestlichen Divans. Heidelberg 1974 (Poesie und Wissenschaft. 15), S. 32. Vgl. Georg Büchner: Leonce und Lena. Marburger Ausgabe. Bd. 6. Hrsg. von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise und Eva-Maria Vering. Text bearb. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2003, S. 339–341. Solms 1974 (Anm. 67), S. 31. – Im „Vorwort“ seiner Divan-Edition betont Maier: „Nach mehreren Diskussionen und Versuchen hat Herr Dr. Hahn das Schema der endgültig im Kommentar gebrauchten Darstellungsform angelegt und den Abschnitt ‚Grundsätze zum textgeschichtlichen Kommentar‘ konzipiert und z. T. in dem jetzt erschienenen Wortlaut formuliert“ (S. VII), um dann in der „Begründung der Ausgabe“ u. a. zu Grumachs Divan-Edition zu bemerken: „Wieweit eine neue Form Grumachs des Herausgebers eigene Konjektur war, wieweit sie aus unbekannter Handschrift stammte, konnte der Referent [in der Rezension 1957, Anm. 62] damals noch nicht beurteilen. Solche Klärung war erst bei der Arbeit im Goethe- und Schiller-Archiv möglich. Tatsächlich dürfte die Zahl von Grumachs eigentlichen Konjekturen sehr gering sein. Da jedoch Grumachs Edition ohne Apparat erschien (übrigens ist jetzt mit dem Erscheinen eines Grumachschen Divan-Apparates nicht mehr zu rechnen), wurde zunächst und wird wohl teilweise selbst heute noch, um nur das eklatanteste Beispiel zu nennen,
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Goethe-Akademie-Ausgabe und ihren Weimarer Kritikern70 bewusst oder unbewusst befeuert und schließlich zu seinen Gunsten genutzt habe. Im Fall des Divan hat sich auch nach Maiers editorischem Gegenentwurf herausgestellt, dass ausschließlich mit dem Mittel der Recensio kein ‚bester‘ oder ‚idealer‘ Text zu erzielen ist, die Edition von Fassungen jedoch Ergebnisse bringt, die der Textgeschichte entsprechen und somit einen authentischen Autortext eines bestimmten historischen Zeitpunkts repräsentieren.
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Querelen und Neuorientierung
Am 30. Juni 1959 kündigte Grumach seinen Einzelvertrag mit der Akademie und wich auf diese Weise den zunehmenden ideologischen Querelen aus, die __________
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eine willkürliche Konjektur Grumachs fälschlich für eine ursprüngliche Form Goethes gehalten. Die Verse 9 f. von ‚Offenbar Geheimniß‘ hatten auf Goethes Reinschriftblatt und in allen Drucken zu Goethes Lebzeiten nur ein Komma am Ende von V 10 aufgewiesen: | Du aber bist mystisch rein | Weil sie dich nicht verstehn, | Im Wiener Druck von 1820 hatte überdies ‚mystisch-rein‘ gestanden. 1888 hatte Burdach ein Komma ans Ende von V 9 gesetzt und dies im Apparat als seine Konjektur mit der kürzesten möglichen Formel ‚rein,] rein‘ charakterisiert. Grumach ließ nun 1952 ohne jede Erklärung die beiden Verse so drucken: | Du aber bist mystisch, rein | Weil sie dich nicht verstehn“; Goethe: West-östlicher Divan. Kritische Ausgabe der Gedichte mit textgeschichtlichem Kommentar von Hans Albert Maier. 2 Bde. Tübingen 1965, hier Bd. 2, S. 3 f. In der Diskussion nach den Vorträgen zu den aktuellen Goethe-Editionen während eines Kolloquiums über Probleme der Goetheforschung (31. 10.–4. 11. 1960 in Weimar) monierte Helmut Holtzhauer: „Andererseits führt der Wechsel in den Grundsätzen zu ähnlichen Mängeln, wie sie mit Recht an der Sophienausgabe kritisiert werden. Nur die allerengste Zusammenarbeit könnte aber meiner Meinung nach ein Ganzes und für den Gelehrten Brauchbares aus der neuen Ausgabe machen. Zusammenarbeit der verschiedenen Herausgeber ist der erste und wichtigste Wunsch, der auszusprechen wäre. | Ferner muß bedenklich stimmen, daß – anders als 1949 beabsichtigt – nunmehr generell die Erstdrucke der poetischen Werke Goethes der Ausgabe zugrunde gelegt werden sollen. Es wäre zu überlegen, ob, um den ‚besten Text herzustellen‘, überhaupt ein Kanon für die ganze Ausgabe möglich und notwendig ist. Es ist doch sehr die Frage, ob es richtig ist, ein- für allemal festzulegen, daß Erstdrucke oder Druckvorlagen oder die Ausgabe letzter Hand zugrunde gelegt oder ob nicht von Fall zu Fall für jedes einzelne Werk geprüft, begründet und bewiesen werden muß, warum gerade diese oder jene Fassung als Text geboten wird. | Bereits bei der Eröffnung habe ich andeutungsweise von formaler Philologie gesprochen. Dem Außenstehenden wird bang, wenn er hört, wie das System der Siglen, ja der ganze Apparat sich mehr und mehr ausdehnt, so daß sein Gebrauch immer schwieriger und umständlicher wird. Er scheint Selbstzweck zu werden. [...] Doch die Entfernung vom eigentlich Zweck der Ausgaben wird dadurch nur immer größer und die Textkritik autonom gegenüber der Literaturwissenschaft als Ganzem. Unser Wunsch ist jedoch, ein Mittel in die Hand zu bekommen, durch das es besser als bisher möglich sein wird, den Sinn und die Schönheit von Goethes Werk zu erschließen“ (Weimarer Beiträge 6, 1960, Sonderheft, S. 1189 f.). Hier sind bereits Argumente vorformuliert, die später in dem berühmt-berüchtigten Aufsatz von KarlHeinz Hahn und Helmut Holtzhauer Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur (forschen und bilden 1, März 1966, S. 2–22) auch gegen die Goethe-Akademie-Ausgabe in Stellung gebracht wurden.
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die Akademie und damit auch die Goethe-Ausgabe erreicht hatten.71 Als Kündigungsgrund nannte er seine angegriffene Gesundheit, Grumach war herzkrank, und den bezeichnenden Wunsch, seine „Arbeiten auf meinem eigenen Fachgebiet der klassischen Altertumswissenschaft und der vorgriechischen Epigraphik zu verfolgen“.72 Grumach betonte aber auch, dass er sich seiner Verpflichtung gegenüber der Goethe-Ausgabe nicht entziehen wolle, vielmehr sei „der Aufbau der Ausgabe als abgeschlossen“ zu betrachten; auch fühle er sich der Akademie weiter verbunden und wolle die von ihm übernommenen Bände der Goethe-Ausgabe (Divan, Faust) fertigstellen.73 Er setzte sich nachdrücklich für Siegfried Scheibe als seinen Nachfolger ein und bemühte sich, die „Umstände“ seiner Kündigung nicht mit persönlichen Beziehungen zu vermischten, so u. a. in einem handschriftlichen Brief vom 5. Dezember 1959 an den Präsidenten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Theodor Frings, der zu dieser Zeit auch Sekretar der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst der Berliner Akademie war: Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass der Entschluss, zu dem die Umstände mich gezwungen haben, auch für mich nicht ganz leicht gewesen ist. Es ist mir sehr schmerzlich, aus dem Institut auszuscheiden, dem ich so lange angehört habe, und dass damit eine Zusammenarbeit aufhört, aus der ich immer reichen Gewinn gezogen habe. Aber es ist gut und tröstlich zu wissen, dass die engen menschlichen und wissenschaftlichen Beziehungen, die sich in diesen Jahren gebildet haben, davon nicht berührt werden, und so darf ich wohl hoffen, dass Sie mir Ihr Wohlwollen auch weiter erhalten werden und dass Sie Ihre Hand wie bisher schützend über die nun verwaiste Goethe-Ausgabe halten werden.74
Diesem Brief war am 16. November 1959 in Grumachs West-Berliner Privatwohnung ein Gespräch mit dem Vizepräsidenten der Akademie, dem Slawisten Wolfgang Steinitz, vorausgegangen, in dem zwar die Kündigung nicht mehr rückgängig gemacht, doch ein rigoroser Bruch mit der Akademie verhindert werden konnte.75 Die Querelen, die Grumachs Kündigung offenbar vorausge____________ 71
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Zwischen 1957 und 1959 verließen etwa 500 Wissenschaftler aus dem Hochschulbereich die DDR und wanderten in die Bundesrepublik ab. Gründe für diese Abwanderung wurden immer wieder in den Forderungen des V. Parteitags der SED (1955) gesehen, auch die Forschung dazu zu verpflichten, „in absehbarer Zeit den Aufbau des Sozialismus in der DDR zu vollenden“ (zitiert nach Landrock 1977, Anm. 5, Bd. 1, S. 129). Kündigungsschreiben an den Akademiepräsidenten Werner Hartke, 30. 6. 1959 (BBAWArchiv, Personalakte). Kündigungsschreiben 1959 (Anm. 72). BBAW-Archiv, Akademieleitung, Nr. 154. Die Bereitschaft zu diesem Gespräch hatte Grumach Steinitz am 8. 11. 1959 mitgeteilt und u. a. geschrieben: „ich befürchte leider, daß auch eine persönliche Aussprache an den grundsätzlichen Entscheidungen nichts ändern kann, aber ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich selbstverständlich jederzeit gerne dazu bereit bin, mich mit Ihnen zu unterhalten, und daß es für
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gangen waren, sind aus den Akten nur ansatzweise erkennbar. Zwei Vorfälle waren wohl für seinen Schritt verantwortlich: Zum einen wurde Grumachs Wunsch, zum korrespondierenden Mitglied der Akademie gewählt zu werden, von verschiedenen Seiten torpediert. Zum anderen wurde Grumachs Vorschlag, im Orientinstitut der Akademie eine „kretische Abteilung“ einzurichten, von mehreren Seiten – akademischen wie politischen – verhindert.76 (Nach Grumachs Weggang wurde gerade diese Abteilung dann realisiert.)77 In diesem Zusammenhang muss es offenbar Ende Juni 1959 zu einem Gespräch zwischen Grumach und der Kaderleitung der Akademie gekommen sein, das Grumach als „Verhör“78 empfand.79 Auch gegenüber Hannah Arendt nennt Grumach die sich verschärfende politische Situation als Grund für die Kündigung: Aber ich bin im Herbst persönlich in Kreta, und diesmal war es besonders nötig, teils um dringende Arbeiten weiterzuführen und teils um hier einmal herauszukommen und ein paar Wochen lang nicht vom „Ost-West-Konflikt“ zu hören. Denn Gretel wird Dir ja wohl erzählt haben, dass ich im Sommer meine Stellung an der Akademie aufgegeben habe, eine wegen der Goethe-Ausgabe sehr schwere Entscheidung, die sich aber nicht mehr umgehen liess. Die Umstellung war nicht ganz einfach. Inzwischen habe ich von einer westdeutschen Stelle einen langjährigen Forschungsauftrag für kretische Epigraphik erhalten, also genau das, was ich mir immer erträumt habe, und kann mich also nun in Ruhe mit meinen Dingen beschäftigen,
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mich eine Freude wäre, Sie in meinem Hause begrüßen zu können“ (BBAW-Archiv, Akademieleitung, Personalia, Nr. 657). Bericht von Wolfgang Steinitz vom 1. 12. 1959 über das Gespräch mit Grumach am 16. 11. 1959 (BBAW-Archiv, Akademieleitung, Personalia, Nr. 657). Vgl. Wirth 1999 (Anm. 14), S. 127. Wirth 1999 (Anm. 14), S. 127. Eine Aktennotiz Wolfgang Steinitz’ vom 22. 10. 1959 gibt darüber Aufschluss und hält eine vertrauliche Information einer Mitarbeiterin fest: „Anfang Juli kam Herr Grumach spät abends zu ihr in die Wohnung und erzählte ganz aufgeregt, er sei in der Akademie von einem Herrn in einer Weise verhört worden, daß ihm heiß und kalt geworden sei. Der Herr hat ihn über seine Tätigkeit während der Nazizeit, besonders seine Bibliotheksarbeit gefragt und dabei geäußert: ‚Sie haben wohl sehr gute Beziehungen zur SS gehabt?‘ Das Gespräch sei im Ton eines scharfen Verhörs geführt worden und er sehe sich nicht mehr in der Lage, nach diesem Vorfall noch einmal in die Akademie zu gehen. Er möchte derartigen Methoden nicht noch einmal ausgesetzt sein“ (BBAW-Archiv, Akademieleitung, Personalia, Nr. 657). Hieraus resultiert wohl der mehrfach geäußerte Verdacht in der Akademie, Grumach weigere sich „in den demokratischen Sektor zu kommen“ (Bericht Steinitz, 1. 12. 1959, BBAW-Archiv, Akademieleitung, Personalia, Nr. 657), „weil er sich unsicher fühle“ (Aktenvermerk von Dewey, 16. 9. 1959, BBAWArchiv, Akademieleitung, Personalie, Nr. 657). Herbert A. Strauss 1997 (Anm. 24), S. 198, notiert: „Noch heute hält sich das Gerücht, daß Kollegen, Verwaltungsangestellte oder kommunistische Funktionäre von seiner – wenn auch unfreiwilligen – Mitarbeit bei der Katalogisierung der geplünderten jüdischen Bibliotheken für Rosenberg in Berlin erfahren hatten und er die Konsequenzen zog, um einer weiteren sinnlosen Verfolgung zu entgehen.“
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ohne dienstliche oder Lehrverpflichtungen und ohne die dauernde politische Belastung.80
Aber auch Zerwürfnisse mit den Mitarbeitern innerhalb der Goethe-Ausgabe, insbesondere das seit 1954 bestehende mit Momme und Katharina Mommsen im Zusammenhang mit der ebenfalls in der Akademie anfangs mit Grumachs Unterstützung konzipierten Reihe Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten, haben den Prozess der Entfremdung von Edition und Akademie befördert. Konsequenz war, dass der Apparat zur Divan-Edition nicht mehr erschien. Die Akademie stellte es später folgendermaßen dar: Diese [Maiers] Kritik der Ausgabe, besonders im zweiten Aufsatz von 1959, hat es verhindert, daß Grumach seinen bereits auf Fahnen gesetzten Divan-Kommentar druckreif erklären ließ, daß vielmehr dieser Kommentar aus dem Satz genommen und eingeschmolzen wurde und heute in der Akademie kein Fahnenexemplar mehr davon vorhanden ist.81
Die Akademie gelangte 1967 zu der Gesamtbewertung: 1. Die Voraussetzungen der Ausgabe wurden nicht genügend geklärt. Im Bemühen, möglichst schnell neue Texte zur Verfügung zu stellen, wurde der notwendige wissenschaftliche Vorlauf nicht berücksichtigt. 2. Daher konnten gesicherte Grundsätze nicht erarbeitet werden, sie wuchsen vielmehr mit der Ausgabe. Es gab Entscheidungen von Fall zu Fall mit den damit verbundenen Änderungen der Prinzipien. Die fehlenden Grundsätze riefen Unklarheiten im Detail hervor. 3. Insbesondere wurde das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen getrennt. Daher wurden nicht nur posthume Ausgaben, sondern selbst die in der Textgeschichte stehenden Nachdrucke in den Lesarten verzeichnet, was die Benutzbarkeit und die Einsicht in den Apparat erheblich erschwerte, wenn nicht überhaupt seine Bedeutung aufgehoben wurde. Von Grumachs klassisch-philologischem Ausgangspunkt, der einen Mischtext veranlaßte, war dieser Apparat als Rechtfertigung seines Bemühens unumgänglich. 4. Dieser Mischtext aber machte alle Bemühungen zunichte, weil die Forschung erneut vor die Frage des „echten Goethetextes“, den man von der Akademie-Ausgabe erhoffte, gestellt war.82
Nach seiner Kündigung zum Ende des Jahres 1959 wandte sich Grumach wieder seinen altphilologischen Projekten, insbesondere der Erforschung der ____________ 80
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Brief an Hanna Arendt vom 7. 1. 1960, The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, Washington, Correspondence, General, 1938–1976; http://memory.loc.gov/cgi-bin/ampage? collId=mharendt_pub&fileName=02/020530/020530page.db&recNum=7; http://memory.loc. gov/cgi-bin/ampage?collId=mharendt_pub&fileName=02/020530/ 020530page.db&recNum=8 (Oktober 2009). Vorlage 1967 (Anm. 32). Vorlage 1967 (Anm. 32).
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Epigraphik der Aegaeis zu, die er schon 1931 in seinem Aufsatz Ägaisches in der Orientalischen Literaturzeitung als sein wissenschaftliches ‚Hauptgeschäft‘ bezeichnet hatte.83 Dennoch verlor er Goethe nicht vollständig aus dem Blick. 1958 hatte Grumach eine „Kritische Ausgabe“ von Kanzler von Müllers Unterhaltungen mit Goethe herausgebracht. Auch in dieser Edition blieb er seinem Grundsatz treu, „den ursprünglichen Wortlaut der Aufzeichnungen Müllers wiederherzustellen“.84 Paralleldruck und typographische Differenzierung sowie genaue Aufschlüsselung der Korrekturen im Apparat machen die unterschiedlichen Redaktionen dieser tagebuchartigen Aufzeichnungen sowie die willkürlich vorgenommenen Eingriffe der unterschiedlichsten Hände deutlich.85 Mit seiner zweiten Ehefrau, Renate Grumach (geb. Fischer-Lamberg), startete er das Projekt Goethe. Begegnungen und Gespräche86 als weiteren Baustein für die Erforschung des „ganzen Goethe“. Das Erscheinen der ersten beiden Bände, 1965 und 1966, erlebte er noch. Die Kontakte zur Akademie verflachten zusehends, Grumach orientierte sich nun wieder stärker international und mischte sich auch in wissenschaftliche Debatten ein. Seit 1962 gab er die die Zeitschrift Kadmos heraus, die sich der frühgriechischen Epigraphik widmete, 1963 folgte seine Bibliographie der kretisch-mykenischen Epigraphik. Auf einer Vortragsreise in England starb er am 5. Oktober 1967 vier Wochen vor seinem 65. Geburtstag. Die Festschrift, die er zu diesem Anlass erhalten sollte, erschien nun als Erinnerungsschrift. Die Beiträger, allesamt aus dem Ausland, widmeten diese Festschrift dem altphilologischen Wirken Grumachs. In Deutschland und besonders in der Goethe-Forschung war man dagegen schon auf Distanz zu Grumach gegangen.
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Auch in seinem Lebenslauf vom 24. 6. 1946 hatte er seinen wissenschaftlichen Schwerpunkt folgendermaßen beschrieben: „Nach anfänglichen Arbeiten auf dem Gebiete der antiken Philosophie habe ich mich mehr und mehr der Frühgeschichte des östlichen Mittelmeerbeckens und der von ihr nicht zu trennenden Geschichte Kleinasiens und des Vorderen Orients zugewendet. Mein besonderes Arbeitsgebiet bildet die Sprach- und Schriftgeschichte und die mit ihr zusammenhängenden Besiedlungsfragen der Aegaeis und Kleinasiens.“ Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe besorgt von Ernst Grumach. Weimar 1956, S. XVII; auch als: Kanzler von Müller: Unterhaltung mit Goethe. Kleine Ausgabe hrsg. von Ernst Grumach mit Anmerkungen von Renate Fischer-Lamberg. Weimar 1959. Auf die „Kritische Ausgabe“ der Unterhaltungen ließ Grumach drei Jahre später eine „Kleine Ausgabe“ quasi als Studienausgabe folgen, die nun nicht mehr die textkritische Differenzierung, dafür aber Erläuterungen enthält. Das Muster der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und deren Aufteilung in ‚große‘ und ‚kleine‘ Ausgabe hat Grumach dabei möglicherweise übernommen. Goethe. Begegnungen und Gespräche. Hrsg. von Ernst Grumach und Renate Grumach. Berlin 1965 ff.
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6.
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Resümee
Goethe-Editionen haben in der Geschichte der neugermanistischen Edition immer eine wichtige Rolle gespielt und dementsprechend methodische Weichen gestellt.87 Hatte die Weimarer Ausgabe am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Kanonisierung der Ausgabe letzter Hand ein vermeintlich universell gültiges Modell der Textkonstitution geschaffen, wurde dieses Modell nach 1945 durch die Goethe-Akademie-Ausgabe grundsätzlich in Frage gestellt. Bemerkenswert dabei ist, dass diese neuerliche Weichenstellung von einem klassischen Philologen vorgenommen wurde, nachdem er mit Nachdruck darauf bestanden hatte, sämtliche überlieferte Quellen und Zeugnisse noch einmal zu sichten und zu prüfen sowie mit den Entstehungskontexten in Verbindung zu setzen, um auf diese Weise die materielle Grundlage für die editorische Erschließung des „ganzen Goethe“88 zu schaffen. Obwohl Grumach die historische Bedeutung jedes einzelnen Überlieferungsträgers vor dem Hintergrund der gesamten Textgeschichte Goethe’scher Werke als Zentrum der Edition ausgemacht hat, läuft sein Verfahren doch auf eine Recensio hinaus, die zwar zunächst eine möglichst autornahe und daher authentische Textfassung, ja sogar mehrere Fassungen als Editionsgrundlage auswählt, doch mit der Maßgabe einen ‚besten Text‘ generieren zu wollen, die „Einbesserung“ von Textmaterial aus anderen Fassungen ausdrücklich zulässt.89 Der Text verliert dadurch seine „Identität gegenüber der Vorlage“ und wird „ahistorisch“, weil es ihn „in dieser Gestalt nie gegeben“ und er in dieser „Mischung“ auch keine Autorisation erfahren hat.90 Diese Bedenken, die für den Klassischen Philologen Grumach sicherlich nur bedingt nachvollziehbar waren, markierten dann auch die Trennlinie zwischen den Editoren innerhalb der Goethe-AkademieAusgabe, die sicherlich Grumachs Ausscheiden aus dem Projekt beschleunigt hat. Sein Ausscheiden hatte aber auch etwas Positives, denn nun war der Weg frei für einen neuerlichen Paradigmenwechsel, der sich in neuen Richtlinien niederschlug und eine komplette Kehrtwende in der Goethe-AkademieAusgabe zur Folge hatte. Die Grundlagen der Goethe-Ausgabe91 wurden 1960/61 ausgearbeitet, womit ein Editionsverfahren entwickelt und Begriffsde____________ 87
88 89 90
91
Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 95–116, hier S. 95 f. Grumach 1949 (Anm. 7), Bd. 2, S. 1050. Nutt-Kofoth 2005 (Anm. 87), S. 104. Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 80. Siehe Anm. 59.
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finitionen begründet wurden, die nun mit dem Namen Siegfried Scheibes verbunden waren. Dass diese Neuorientierung der Goethe-Akademie-Ausgabe nicht mehr zum Tragen kam, das Vorhaben vielmehr 1967 eingestellt wurde, hatte mit inhaltlichen, aber auch ideologischen Widerständen zu tun, die sich allerdings schon zur Zeit Grumachs am Horizont abzeichneten und einer eingehenderen Untersuchung vorbehalten bleiben müssen.
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Anhang Richtlinien für die Anlage des kritischen Apparates92 (ausgearbeitet von Prof. E. Grumach)
1. Als Zeugen eines Textes gelten Handschriften und Drucke, und zwar a) alle handschriftlichen Aufzeichnungen von den ersten Entwürfen Goethes bis zu den spätesten Aufzeichnungen fremder Hand, die möglicherweise in Goethes Auftrag entstanden sind oder auf eine Goethesche Vorlage zurückgehen; b) alle Drucke, die von Goethe selbst, seinen Helfern und Nachlaßverwaltern oder in ihrem Auftrag hergestellt sind, und alle Nachdrucke oder Doppeldrucke, die 1) auf eine Goethesche Druckvorlage zurückgehen und daher als Korrektiv für die Originaldrucke benutzt werden können; 2) von Goethe selbst oder seinen Helfern bei einer späteren Textrevision benutzt worden sind. 2. Dem Apparat wird eine ausführliche Beschreibung sämtlicher Zeugen des Textes vorausgeschickt (s. Anhang). Dabei rangieren die handschriftlichen Zeugen vor den Drucken. In beiden Gruppen werden die Zeugen in chronologischer Folge verzeichnet, soweit nicht die Gliederung eines Werkes (Gedichtsammlung u. dgl.) eine andere Anordnung der Zeugen erforderlich macht. In diesen Fällen wird a) ein Gesamtverzeichnis der Zeugen angelegt und an der betr. Apparatstelle (Apparatkopf der einzelnen Gedichte) die chronologische Reihenfolge der Handschriften und Drucke hergestellt, oder b) auf die Anlage eines Gesamtverzeichnisses verzichtet und die in Frage kommenden Zeugen nur an der betreffenden Apparatstelle verzeichnet. 3. Der Bearbeiter legt entsprechend dem in § 1–2 Gesagten nach den besonderen Verhältnissen seines Werkes oder Bandes ein Siglenverzeichnis an, dem das (beiliegende)93 allgemeine Siglenverzeichnis als Grundlage dient, modifiziert und ergänzt durch die Spezialzeugen des bearbeiteten Werkes oder Bandes. Um die Einheitlichkeit der Ausgabe zu sichern und Überschneidungen zu vermeiden, muß das Spezialsiglenverzeichnis vor dem Beginn der Textbearbeitung dem Herausgeber vorgelegt werden. 4. Die Anlage des Apparats setzt die Konstituierung des Textes voraus. Der Apparat bezieht sich daher immer auf den zuvor schon hergestellten Text. Die Beziehung zwischen Apparat und Text wird dadurch hergestellt, daß der Text (bereits im Ms.) am
____________ 92 93
BBAW-Archiv, Arbeitsgemeinschaft, Nr. 23. Offensichtliche Tippfehler im Typoskript wurden stillschweigend berichtigt. Wohl ein von Waltraud Hagen erstelltes Papier mit dem Titel „Die Drucksiglen der GoetheAkademie-Ausgabe“, das der Akte beiliegt. Auf einen Abdruck dieses Textes wird hier verzichtet.
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Innenrand mit 5 Zeilen-Zählung versehen und die Zeilenzahl im Apparat vor der oder den Lesarten der betreffenden Zeile wiederholt wird. Sprechernamen, szenische Angaben und dgl. werden dabei mitgezählt außer in den Fällen, in denen die Prosastücke Teile eines Versdramas sind (Faust). Bei Gedichten, Epen und Versdramen tritt die Verszahl an die Stelle der Zeilenzahl. Überschriften, szenische Angaben, Personenbezeichnungen u. dgl. werden dann „vor 1“ bzw. „nach V. 5“ gezählt. Bei Verszählung ist die Verszahl, bei Zeilenzählung die Seitenzahl (111,5) im Ms. zu unterstreichen. 5. Sind im Apparat zusätzliche Verse zu verzeichnen, also z. B. Superverse einer späteren Fassung, die vom Editor nicht aufgenommen wird, so werden diese mit *1 ff. gezählt. Beim Übergang von der Normalzählung zu den neuen Versen, ist dann ein Vermerk einzuschalten: „In H3, der 2. Fassung o. dgl. folgen hier die Verse ...“. Bei der Rückkehr von den Superversen oder ihrem Apparat zur normalen Zählung ist eine Zeile freizulassen. 6. Gehören die Verse zu einer Fassung, die an anderer Stelle aufgenommen wird und dort ihre eigene Zählung erhält, so genügt ein entsprechender Verweis. Gehören die Verse keiner vollständigen Neuformung an und sind sie gleichzeitig in die Paralipomena des betreffenden Werkes aufzunehmen, so steht im Hauptapparat ein Verweis auf die Nummer des Paralipomenons. Dort werden die Superverse in normaler Type mit eigener Zählung, die umgebenden Verse, soweit es der Zusammenhang erfordert, in kleinerer Type mit normaler Zählung wiedergegeben. In diesen Fällen wird außer jedem 5. Vers auch der letzte Vers vor und der erste Vers nach dem Übergang gezählt. Ebenso wird bei Superversen in Gedichten gezählt und bei Übersetzungen, die nicht in sich, sondern nach den Versen der Vorlage gezählt werden (Homer). 7. Weichen positive und negative Laa. so stark von einander ab, daß die Beziehung zwischen Text und Apparat durch den Vers- oder Zeilenzähler nicht eindeutig fixiert ist, so empfiehlt es sich, das der La. vorangehende oder folgende Wort in den Apparat aufzunehmen. Beispiel: Text: Kam, und der König B: Kam, aber der König –––––––––––––––––––––––– App.: Kam, aber B bzw. aber der B 8. In allen andern Fällen soll der Apparat nur die vom Editor verschmähte La. verzeichnen (negativer Apparat), ohne daß die vom Editor gewählte und in den Text aufgenommene positive La. vor der negativen La. (mit eckiger Klammer oder Kolon) wiederholt wird. Also nicht: Kam, und] Kam, aber B sondern nur: Kam, aber B Mitaufnahme der positiven La. (sog. gemischter Apparat) ist abgesehen von dem schon § 7 genannten Fall in folgenden Fällen möglich: a) Wenn es zur Berichtigung vorangehender Angaben (also z.B. gegenüber falschen Angaben im Apparat von W) notwendig ist, die wirkliche Überlieferung zu zeigen; b) Wenn es zur Begründung der Textwahl oder aus andern Gründen nötig oder empfehlenswert ist, die vollständige Textentwicklung einer Stelle zu überblicken, also etwa in
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den nicht seltenen Fällen „gebrochener“ Textentwicklung, bei der positive und negative Laa. wiederholt wechseln oder ein ständig wiederkehrender Fehler von Goethe oder seinen Helfern wiederholt korrigiert wird. Auch in diesen Fällen wird die positive La. nicht als Lemma vorangestellt, sondern mit ihrer Sigle an der ihr chronologisch zukommenden Stelle eingereiht. 9. Der Apparat verzeichnet: a) bei Hss. alle Varianten einschliesslich der orthographischen und interpunktionellen Varianten, die auf Goethe oder einen seiner Helfer zurückgehen oder zurückgehen können. Bloße Versehen und Abschreibefehler eines Schreibers werden nicht berücksichtigt, es sei denn in den Fällen, in denen sie weitergewirkt haben oder die Verzeichnung des Fehlers für die Bewertung der Hs. und die Entscheidung textlicher Fragen an einer anderen Stelle von Bedeutung sein kann. Insbesondere brauchen Selbstberichtigungen eines Schreibers nicht verzeichnet zu werden. Als maßgebend gilt jeweils der vom Schreiber endgültig hergestellte Text, es sei denn bei einer Abschrift[,] bei der das Schwanken des Schreibers auf Vieldeutigkeit der Vorlage zurückgehen kann, und bei Diktat, bei dem das zunächst geschriebene Wort die ursprüngliche Absicht des Dichters verzeichnet. b) bei Drucken alle Varianten, die textgeschichtlich bedeutsam sind. Neben- und Nachdrucke werden nicht berücksichtigt, es sei denn daß sie in der genuinen Überlieferungsreihe als Vorlage gedient haben (Himburg), oder auf die Vorlage eines echten Druckes zurückgehen und daher als Korrektiv verwendet werden können (Ba). Auch bei echten Drucken werden sinnlose Druckfehler, die nicht weitergewirkt haben, und orthographische Varianten posthumer Drucke (moderne Schreibung) nicht verzeichnet. Ebenso wird die Sonderorthographie einzelner Drucke wie z.B. die eigentümliche Orthographie von Ba nicht berücksichtigt außer an den Stellen, an denen sie mit der Orthographie anderer Drucke wie etwa B zusammengeht. In der Einleitung ist zu sagen, welche Drucke und welche Varianten nicht berücksichtigt sind. c) alle Konjekturen, die als mögliche Verbesserungen des Textes in Frage kommen, auch dann wenn der Editor die betreffende Stelle nicht für korrupt hält. Konjekturen einer vorangehenden Ausgabe werden mit der Sigle der Ausgabe oder des Editors verzeichnet (M = Morris statt JG = Der junge Goethe), verstreute Konjekturen mit Namen oder Sigle des Konjektors, hinter der der Fundort in runder Klammer angegeben wird (Jbf dtsch Phil. 1935,98). Ergänzende Bemerkungen des Konjektors oder des Editors treten nach § 24 in runde Klammern. 10. Die Varianten werden, abgesehen von den in § 11 genannten Ausnahmen, im Apparat in ihrer zeitlichen Reihenfolge verzeichnet. Gleiche Laa. mehrerer aufeinander folgender Zeugen werden vereinigt, wobei die Siglen ohne Trennungsstrich hinter die Lesarten treten. Verschiedene Laa. einer Stelle werden nicht durch Spatium, sondern durch Kolon getrennt. Laa., die zu verschiedenen Stellen gehören, durch Spatien, die im Ms. deutlich erkennbar sein müssen. Bei der Herstellung des Ms.s empfiehlt es sich, die Laa. zunächst nach Zeilen bzw. Versen zu ordnen, die später vom Setzer in die gewünschte Ordnung gebracht werden.
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11. Laa., die einer geschlossenen Zeugenreihe gemeinsam sind, können in der Weise verzeichnet werden, daß die erste und letzte Sigle mit Bindestrich hinter die La. tritt: der König ABCDE: des Königs FGHIKLM der König A–E: des Königs F–M Bringt einer der zwischenliegenden Zeugen einer geschlossenen Reihe eine abweichende La., so wird entsprechend aufgegliedert: der König A–D: dem König E: der König F–M Bei langen Überlieferungsreihen und insbesondere bei ihren späteren Gliedern (moderne Drucke) können zur Vereinfachung Zusammenziehungen vorgenommen werden. Ebenso können auseinanderliegende Drucke vereinigt werden, wenn ihre gegenseitige Abhängigkeit in der Einleitung nachgewiesen ist, also z. B. ABa, wenn bei Ba die Abhängigkeit von A feststeht. 12. Die textkritischen Bezeichnungen „korr.“ und „str. (gestr.)“ werden nur in den Fällen angewendet, in denen a) in einer Hs. oder Druckvorlage eine Korrektur oder Streichung tatsächlich vorgenommen ist. Wird die Korrektur von den folgenden Zeugen (und vom Editor) übernommen, so genügt der Vermerk: des Waldes H korr. G Wird die Korrektur von den folgenden oder einem der folgenden Zeugen nicht übernommen (jedoch vom Editor), so wird verzeichnet: des Waldes H korr. G: des Waldes A–C Folgt der Editor nicht der durch Korrektur hergestellten La., sondern einer anderen, so kann die Bezeichnung „korr.“ überhaupt nicht angewendet werden. Der Vermerk erhält dann die Form: des Waldes H: dem Walde G bzw. G(H), wobei die Siglen der übernehmenden Drucke unmittelbar antreten. Also: des Waldes H: dem Walde G(H)AB: den Wald C b) ein Überlieferungsfehler erst durch einen späteren Editor berichtigt ist. Beispiel: Theatr. Sendung 315,4 hat H: eine böse hohle. Alle Ausgaben drucken: eine böse Höhle. Erst AA stellt richtig wieder her: eine böse Hohle. Apparat: hohle H: Höhle Drucke korr. Ed Für die Gesamtheit aller bisherigen Drucke eines Textes kann dabei die Sigle v = vulgata verwendet werden. 13. Dagegen kann die Bezeichnung „erg.“ sowohl bei hs. Ergänzungen angewendet werden wie in den Fällen, in denen der vervollständigte Text erst in den nachfolgenden Hss. oder Drucken auftritt. Im ersten Fall lautet die Formulierung im Apparat: des Waldes fehlt H erg. G oder nur: des Waldes erg. G(H) im zweiten Fall einfach: des Waldes erg. B Ergänzungen, die erst ein Editor in einer nachgoethischen Ausgabe vorgenommen hat, müssen im Text in eckige Klammer [ ] gesetzt werden. Im Apparat genügt dann statt des Vermerks „Wort erg. Ed“ die Eintragung: [ ] Ed
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Nur in den Fällen, in denen verschiedene Ergänzungsvorschläge zur Wahl stehen, muß auch der Klammerinhalt (ev. in abgekürzter Form) angegeben werden: [der König] A: [dem König] B: [den König] C bzw. [der K.] A: [dem K.] B: [den K.] C 14. Die Angabe „fehlt“ wird in den Fällen verwendet, in denen eine La. in den ersten Zeugen einer Reihe noch nicht auftritt, „ausl.“ dagegen, wenn eine bereits bezeugte La. in späteren Zeugen derselben Reihe ausfällt. Tritt dies bei selbständigen Zeugen ein d. h. also Hss. oder Drucken, die außerhalb der Überlieferungsreihe stehen wie z. B. Ba, so kann der Ausfall durch „fehlt“ bezeichnet werden. 15. Bei Umstellungen, die in den Text aufgenommen sind, genügt es, falls die frühere Wortstellung durch die Angaben des Apparats hinreichend geklärt ist, den ersten für sie maßgebenden Zeugen mit der Abkürzung „umst.“ zu nennen; andernfalls muß die neue Wortstellung mit Angabe der Sigle ev. in abgekürzter Form im Apparat verzeichnet werden. 16. Jede Einzelkorrektur wird für sich verzeichnet, und zwar nicht so, daß der Korrekturvorgang beschrieben wird: Erdesprachen aus Erdensprachen R (W 6,362 V. 11) oder daß Ort und Stellung der neuen La. angegeben wird: Wenn über Will R (ebd. V. 21), sondern in der § 12 genannten Weise. Nur in den (ziemlich seltenen) Fällen, in denen auch die Stellung der Korrektur für die Bestimmung der Korrekturschicht o. a. wichtig sein kann, treten die im Abkürzungsverzeichnis festgelegten Bezeichnungen: ü. d. Z., a. l. R. usw. hinzu. 17. Gehören mehrere Einzelkorrekturen zu einem Korrekturakt, also etwa zur Umformung eines ganzen Satzes oder Verses, so wird dieser nicht in die Einzelkorrekturen aufgelöst, sondern in seinem genetischen Zusammenhang belassen, wobei die in den Text aufgenommene Fassung nur mit Anfang und Ende notiert zu werden braucht. Erstrecken sich Umformungen auf einen größeren Abschnitt, Periode oder Strophe, so werden die verschiedenen Fassungen nicht in ihre Elemente aufgelöst, sondern vollständig verzeichnet, sodaß die verschiedenen Phasen und Schichten der Umformung deutlich erkennbar sind. Also nicht (W 6,362 V. 19–22) mischen über mengen R An erfrischen über Mich durch Blütenbüsche drängen R Wenn über Will R wandle aus wandeln R sondern: R Will mich unter Hirten mengen, Mich durch Blütenbüsche drängen, Will mit Caravanen wandlen, Schawl, Caffee und Moschus handeln G1 Will mich unter Hirten mischen, An Oasen mich erfrischen Wenn mit Caravanen wandle, Schawl, Caffe und Moschus handle G2
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18. Diese Regel gilt erst recht, wenn für eine Stelle, sei es in ein und derselben oder in mehreren Handschriften, mehr als zwei verschiedene Fassungen vorliegen. Beispiel (Hogire [sic] V. 3–4): H1 Immerfort im nahen Osten Unversiegten Sang zu kosten! g1 Immerfort zunächst im Osten Als und neuen Sang zu kosten! g2 R Eile du im reinen Osten Paradieses Luft zu kosten, C1 Flüchte du, im reinen Osten, Patriarchenluft zu kosten, C2 19. Werden in der Neufassung einer Stelle noch Einzelkorrekturen vorgenommen, die eine Wiederholung der ganzen Stelle nicht lohnen, so werden diese in Spitzklammern in den Text der Fassung eingeblendet. Beispiel (Divan 154 V. 9–12): H3 Du schweigst geliebter Schenck[e] Den Becher füllst du still. Ich sage nur Gedencke. Da weiß sie was ich will. Wenn sie mich an sich lockte Ward rede nicht im brauch. So wie die Zunge stockte So stockt die Feder auch. g1 So gleich geliebter Schenck[e] Den Becher fülle still. Ich schreibe nur Gedencke. Schon weiß sie was ich will. Wenn sie mich an sich lockte War rede nicht in brauch. So wie die Zunge stockte So stockt die Feder auch. g2 20. Die Spitzklammer wird sinngemäß auch da angewendet, wo ganze Verse, Sätze oder Satzteile in einen vollständig zitierten Text eingeblendet werden müssen. Sie entfällt dann, wenn wie in den § 17–18 gegebenen Beispielen die einzelnen Korrekturschichten ohnehin schon deutlich geschieden sind. 21. Sind innerhalb einer in Spitzklammern gegebenen Korrektur von G ausgelassene Buchstaben oder Wörter zu ergänzen, so geschieht dies nach § 13 in eckiger Klammer. In diesen Fällen tritt also die eckige Klammer in die Spitzklammer: werd erg. G, doch sind Klammerhäufungen sonst nach Möglichkeit zu vermeiden.
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22. Geht die Identität des Schreibers bereits aus der Hs.-Beschreibung hervor, so braucht seine Sigle am Ende des Textes (Grundschicht) nicht wiederholt zu werden, wohl aber die Siglen der Urheber der eingeblendeten oder angeschlossenen Korrekturen. 23. Ist die Identität des Schreibers nicht ermittelt, so treten die im Abkürzungsverzeichnis angegebenen Siglen b = Blei, t = Tinte usw. ein. Ist die Identität des Schreibers fraglich, so tritt hinter seine Sigle ein Fragezeichen in runder Klammer. Wird die Person des Schreibers vermutet, so tritt hinter, t usw. die betreffende Sigle mit Fragezeichen in runder Klammer. In beiden Fällen kann im Apparat auch die einfache Sigle benutzt werden, wenn die nötigen Einschränkungen schon in der Hs.-Beschreibung gemacht sind. 24. Erklärungen, Begründungen usw. sind im Apparat auf ein Mindestmaß zu beschränken. Dort wo sie gegeben werden müssen, treten sie in runder Klammer hinter die Sigle der La., zu der sie gehören. Dasselbe gilt für Parallelstellen, Verweise usw., die der Stützung oder Begründung einer La., dienen oder gegen eine vom Editor verschmähte La. sprechen sollen; im letzten Fall genügt gewöhnlich ein Verweis: doch vgl. dort und dort. In der AA erschienene Werke werden mit Band, Seite und Zeile, bzw. Verszahl zitiert. Für Verweise auf Werke, die in AA noch nicht erschienen sind, gilt die Zählung von W. Andere Ausgaben werden nach dem Abkürzungsverzeichnis zitiert. Dabei wird alles, was nicht Text ist ebenso wie die Siglen kursiv gesetzt. 25. Die kursiv zu setzenden Apparatteile werden im Druckms. unterschlängelt, wenn es nicht einfacher ist, die recte zu setzenden Teile zu unterstreichen. Diese sind dann mit Blei oder Rotstift zu unterstreichen. Unterstreichungen mit Tinte oder Maschine bedeuten in beiden Teilen Sperrung. 26. Versschluß ist bei fortlaufend wiedergegebenen Versen durch Schrägstrich, Strophenende (oder Absatz im Prosatext) durch Doppelschrägstrich zu bezeichnen. Nachträglich einkorrigierter Absatz oder Stropheneinschnitt wird in der üblichen Form verzeichnet: Absatz (Stropheneinschnitt) markiert (bzw. str.) G. 27. Spatien einer sonst wörtlich wiedergegebenen Hs. (z. B. Paralipomena) werden verzeichnet in der Form: [Spatium 2 Verse] [Spatium 1 Seite] sofern die fehlenden Verse in der Hs. nicht durch Punkte angedeutet sind. 28. Eine überlieferte Lücke wird im Text durch ++ bezeichnet, wobei im Apparat die nötigen Erklärungen zu geben sind, vom Editor angenommene Lücke durch . Wird die Lücke durch Konjektur gefüllt, so tritt der konjizierte Text in die Klammer. Wird die Lücke nur teilweise gefüllt, so wird der fehlende Rest durch Sternchen angedeutet:
Ebenso wird bei Füllung überlieferter Lücke verfahren. 29. Soll eine im Text selbst bereits durch Sternchen o. a. bezeichnete Auslassung näher bestimmt werden, so tritt das Interpretament in eckiger Klammer hinter die Sternchen.
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„Man kann sich das nicht vornehmen“ Adolf Frisé in der Rolle des Herausgebers Robert Musils
Einblick „Abendbrot hatten wir um halb acht. Viel früher pflegte er nicht aus dem Rundfunk zu kommen. Um acht guckten wir gemeinsam die Tagesschau. Um halb neun schlossen sich die Doppeltüren des Arbeitszimmers hinter ihm. Ich glaube, es ist meistens drei, halb vier geworden.“ Das ist O-Ton Maria Frisé. Am 2. Mai 2003 verlor sie ihren Mann an den Tod, an Robert Musil verlor sie ihn schon viel früher: Von 1957, als Adolf und Maria Frisé heirateten, bis an den Anfang der 1980er Jahre, ein erstes Vierteljahrhundert in dieser kinderlos gebliebenen Ehe, nahm Maria Frisé, selbst Journalistin und Schriftstellerin, Nacht für Nacht ein Dritter den Gatten. Ein Bericht über den Musil-Herausgeber darf mit der persönlichen Auskunft der Witwe beginnen, die Klaus Amann und ich, die wir gemeinsam mit Karl Corino Frisés Werk weiterführen, am 23. August 2008 erhalten haben, als wir in Bad Homburg im Taunus vorgesprochen haben, um den Musil-bezogenen Nachlass Frisés an das RobertMusil-Institut im Geburtshaus Robert Musils in Klagenfurt zu holen. Der Auskunft Maria Frisés ist Glauben zu schenken, es kann kaum anders gewesen sein: Das Arbeitspensum, das sich Adolf Frisé in Sachen Musil auferlegt hatte, war außerordentlich. Wenn ich in diesem Beitrag die Herausgeber-Leistung Frisés in neutralen Termini umreiße, mich da und dort sogar zu Kritik hinreißen lasse, so bleibt vorweg ausgesprochen die Bewunderung für den Fleiß, die Hingabe, die Begeisterung, die Unermüdlichkeit, die Beharrlichkeit, mit der Adolf Frisé seine Aufgabe ausführte, das literarische Werk Robert Musils, seinen Nachlass und seine Korrespondenz herauszugeben. ____________ 1
Der Verfasser ist Mitherausgeber der aktuellen textkritischen Musil-Ausgabe, nach der MusilTexte zitiert sind: Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt: Robert MusilInstitut der Universität Klagenfurt. DVD-Version 2009 (in der Folge zitiert als Musil, KA).
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Herausgeber-Rolle zwischen Polen und Meridianen
Nicht alle Editoren waren Gelehrte, sehr häufig sind bedeutsame literarische Quellen schon herausgegeben, bevor die wissenschaftliche Edition auf den Plan tritt. Die Rolle von Adolf Frisé als Musil-Herausgeber sprengt den Rahmen der Wissenschaftsbiographie im institutionellen Zusammenhang und führt aus der Geschichte der Edition als Angelegenheit der universitären Neugermanistik heraus. Eine Überlegung sei vorangestellt, die Herausgeberrolle in einem weiteren Umfeld systematisch zu bestimmen. Sprechen wir von den großen Fragmenten der literarischen und philosophischen Moderne im deutschsprachigen Raum, so lässt sich nicht leugnen, dass deren Wirkungsgeschichte unter einer manches Mal fruchtbaren, öfters aber eher furchtbaren Polarität laboriert: Die von den Autorinnen und Autoren selbst nicht mehr veröffentlichten Texte geraten in das Spannungsfeld der Bestrebungen zweier konträrer Herausgeber-Typen. Den ‚Südpol‘ repräsentiert die Person mit dem Naheverhältnis zum Autor oder der Autorin: der Freund, die Weggefährtin, die Mitautorin, die Literaturliebhaberin, der Entdecker, der Nachfolger, die Schülerin, die Erbin. Die privaten Nachlassverwalter und charismatischen Herausgeberinnen der ersten Stunde leiten ihre Legitimität aus einem Gemisch von Funktionen ab, die vom persönlichen und im literarischen Leben verankerten Bezug bis zu juristischen Ansprüchen auf das Urheberrecht an dem noch unveröffentlichtem Werk reichen. Den ‚Nordpol‘ vertritt die mehr oder weniger professionelle universitäre Germanistik, die Welt der „Institute und Seminare“2 – in der zeitweise feindlichen Diktion Adolf Frisés –, mit ihrem seit Karl Lachmann weitergereichten handwerklichen Knowhow und ihren philologischen, textkritischen so genannten Richtlinien. Bei aller Sorge um den rechten Text muss sie sich zuweilen vorwerfen lassen, als Zielgruppe derer, die in der Lage sind, ihre wissenschaftlichen Ausgaben zu dechiffrieren, wieder nur die ‚Institute und Seminare‘ im Kopf zu haben und nicht die breite Leserschaft und deren ästhetische Rezeption der zu Lebzeiten der Verfasser unveröffentlichten Werke. In vielen prominenten Fällen des 20. Jahrhunderts fiel das Fragment erst in die Richtung des Südpols und damit in die Hände des Privatiers und verdankt seine öffentliche Wirksamkeit zunächst diesem, bevor es den staatlich geförderten Herausgeberkollektiven vom Nordpol gelungen ist, den Gegenstand der Begierde nach den Regeln ihrer Kunst, Pardon – Wissenschaft – zu edieren. ____________ 2
Adolf Frisé: Anmerkungen. In: Robert Musil. Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 1, S. 2097.
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Die endlosen Erschließungsgeschichten der Nachlässe von Franz Kafka,3 von Ludwig Wittgenstein,4 von Robert Walser5 und etwa auch noch von Ingeborg Bachmann6 lesen sich solcherart als nicht konfliktfreie Meridiane von Süd nach Nord. Es zahlt sich aus, Expeditionen längs dieser Übergänge in den Nachlasserschließungs- und Editionsgeschichten an den strukturellen Fragmenten der genannten Autoren des 20. Jahrhunderts, denen ein jeweils schier unkommensurabler Nachlass gemeinsam ist, zu unternehmen. Produktionsund rezeptionsästhetische Aspekte fallen zusammen. Wie die Ersteditionen vom Südpol aus – also aus dem persönlichen Umfeld des Autors – die ‚breite‘ Rezeption der Fragmente Kafkas, Walsers, Wittgensteins, Bachmanns auslösten, ja allein möglich machten, und durch ihre editorische Machart bestimmten, – genau so läuteten die späteren wissenschaftlicheren Editionen vom Nordpol – aus den ‚Instituten und Seminaren‘ – in allen diesen Fällen natürlich neue Lektüren der herausgegebenen Fragmente ein, in den Augen der wissenschaftlichen Rezeption dann die ‚richtigen‘ Lektüren, so als ob der Prozeß Kafkas nicht Kafkas Process wäre, mit der Behauptung, dass es die Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins nie gegeben hätte, oder der Frage nach dem richtigen, aber noch immer nicht dem wirklichen Text der Todesarten Ingeborg Bachmanns oder nach dem Mann ohne Eigenschaften, „aber nicht von Musil“,7 wie es einmal in einer Polemik hieß. Die magnetischen Felder zwischen dem soliden Südpol des EntdeckerHerausgebers und den oft unerreichbaren Nordpolen der Instituts-Truppen sind in der Tat wichtige Faktoren der Wissenschafts- und der allgemeinen Kulturgeschichte des Jahrhunderts. Spiegelt sich in ihr nicht die Auseinandersetzung zwischen zwei Machtsystemen? Ist die Anmaßung der Herausgeberrolle nicht in jedem Fall ein Akt der Bemächtigung? Die privaten Herausgeber erkennen in dem Fragment einen Marktwert, sie holen sich ihre Legitimation entweder juristisch als Urheberrechtsinhaber und ökonomisch als Kunsthändler, die mit dem Fragment ihr Geschäft abschließen wollen, oder als Vollstrecker des letz____________ 3
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Von der ersten Veröffentlichung der nachgelassenen Romanfragmente durch Franz Brod (1925) bis zu den avancierten wissenschaftlichen Faksimile-Ausgaben seitens des Instituts für Textkritik in Heidelberg durch Roland Reuß und Peter Staengle (1997–2007). Von der ersten Veröffentlichung der posthumen Philosophischen Untersuchungen (1953) durch G. E. M. Anscombe and Rush Rhee bis zur Bergen Electronic Edition (Huitfeldt/Pichler, 2000) und der Wiener Ausgabe Michael Nedos (1994–2000) sowie der Kritisch-genetischen Edition von Joachim Schulte (2001). Von den ersten posthumen Ausgaben Carl Seeligs (1957) bis zu den Mikrogramm-Editionen von Bernhard Echte und Werner Morlang (1985–2000). Von der Werkausgabe Koschel/Weidenbaums (1978) bis zur kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts von Monika Albrecht und Dirk Göttsche (1995). Vgl. Helmut Arntzen: ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ – aber nicht von Musil. In: Neue Deutsche Hefte 92, 1963, S. 74–103.
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ten literarischen Willens mit Interpretationshoheit und als charismatische Vermittler, die im Auftrag der Leserschaft zu handeln vorgeben. Alle diese Motivationen können auch bei wissenschaftlichen Herausgebern vorliegen, doch unterscheiden sie sich von den Nicht-Wissenschaftlern durch die Intention, das Werk als literarischen Wert dem Markt zu entziehen, ihm seinen Fragmentcharakter mehr oder minder zu bewahren und ihm durch die Herausgabe statt des Marktwerts einen Erkenntniswert zuzusprechen. Das wissenschaftlich edierte literarische Fragment wird durch das intersubjektive Prozedere der Edition zum Allgemeingut erklärt und verstaatlicht. In Wahrheit laufen zwischen der ‚privaten‘ und der wissenschaftlichen Edition zahlreiche Überschneidungslinien und nicht selten kommt es zu Funktionsteilungen und strategischen Partnerschaften. Die wissenschaftliche Herausgabe stellt genauso einen Akt der Bemächtigung dar; die Herausgeber an den ‚Instituten und Seminaren‘ treten zwar in vielen Fällen als Kollektiv in Erscheinung, sie schlagen aus ihrer Tätigkeit aber genauso persönliche Gratifikationen heraus; im Prinzip beliefern sie mit dem Ergebnis ihrer Arbeit genauso einen Markt, nicht den Markt literarisch interessierter Leser, sondern den Markt der wissenschaftlichen Interpreten. Kritisch zu fragen ist angesichts dessen: Verkommt das Grundanliegen der Textkritik und der wissenschaftlichen Textedition, die ‚Sorge um den rechten Text‘, nicht in vielen Fällen zu kaum mehr als zu einem Vorwand? Um diese Frage zu diskutieren und die Überschneidungslinien zu studieren, darf Adolf Frisé als Paradebeispiel genommen werden; Frisés HerausgeberRolle hat sich gewandelt und sich am Ende an den Meridianen zwischen dem Süd- und Nordpol editorischen Wirkens ziemlich genau am Äquator eingependelt. Die Beweisführung über die Richtigkeit dieser Standortbestimmung mag auch Antworten auf jene Fragestellungen liefern, welche mit der Herausgabe dieses Sammelbands verknüpft sind.
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Der Weg vom Leser über den Kritiker zum Herausgeber
Adolf Frisé, geboren am 29. Mai 1910 in Euskirchen im südwestlichsten Winkel Nordrhein-Westfalens, wuchs in Viersen am Niederrhein auf, das Abitur legte er in Mönchen-Gladbach ab. Er hatte zwar 1929–1932 hauptsächlich Germanistik studiert, daneben auch Kunstgeschichte und Philosophie, in München, in Berlin und in Heidelberg bei Friedrich Gundolf und knapp nach Gundolfs Tod am 30. Juni 1932 mit einer Dissertation über den Hölderlin-Forscher
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Alexander Jung in Heidelberg promoviert.8 Aber die Professorenwürde wurde ihm erst spät und honoris causa übertragen.9 Frisé hatte nie eine universitäre Laufbahn angestrebt, mit keinem Wort erwähnt er in seiner posthum erschienenen Autobiographie wissenschaftliche Ambitionen in der Zeit des Studiums und danach. In Berlin, wo er vor dem Zweiten Weltkrieg die längste Zeit lebte, zog es ihn ausschließlich zur Schriftstellerei und zum Journalismus, zur Literaturkritik. Nach dem Krieg schrieb er in der Sparte Politik und im Feuilleton mehrerer Hamburger Zeitungen, bis er 1956 seine Lebensstellung als KulturRedakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt fand, wo er, zuletzt als Leiter der Literaturabteilung, bis zu seiner Pensionierung 1975 blieb. Frisé war ein Leser der ersten Stunde des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, und zwar genau genommen Leser und auch schon Rezensent für das Feuilleton; daraus im Kern entwickelte sich bei ihm der Herausgeber-Zugang zu Musil. Er selbst beschrieb die erste „Konfrontation mit einem solchen Buch“ als das „Schlüsselerlebnis“.10 Der erst 21-Jährige besprach das Erste Buch von Musils großem Roman am 17. Dezember 1931, also ca. 14 Monate nach dem Erscheinen bei Rowohlt, 12 Monate nachdem er den Band bei den Eltern eines Studienkollegen in Heidelberg das erste Mal in die Hand genommen hatte,11 in der Berliner Tageszeitung Germania, indem er bereits in der Einleitung den außerordentlichen Rang des Romans feststellte. Dieser „warf nicht allein auf die bisher erschienenen Erzählungen des Dichters einen ungeahnten Schatten, auch das bellende Heer der uniformen Zeitromane büßte mit einem Male seine Beachtung ein.“12 In der den Abschluss vorbereitenden Formulierung lautete das subjektive Werturteil des jungen Kritiker-Debütanten: Das Buch vom ‚Mann ohne Eigenschaften‘ ist eines der geistvollsten und aufhellendsten Romanwerke unserer Zeit und hat alle Eigenschaften, um ernsthaften Menschen, die um das Begreifen der Jetztzeit ringen, volle Einsicht zu verschaffen.13
Darauf folgte eine noch persönlicher gefärbte Erwartung über die Romanfortsetzung: Was diesen Roman außer durch seine unbezweifelbare Qualität von der Fülle der ähnlich tendierten Bücher unterscheiden müßte, wäre ein die Unentschiedenheit er____________ 8 9 10 11 12 13
Vgl. Adolf Frisé: Wir leben immer mehrere Leben. Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 53–105. Die Verleihung der Ehrenprofessur erfolgte 1974 in Wien. 1982 erhielt Frisé außerdem die Ehrendoktorwürde der Universität Klagenfurt. Adolf Frisé: Ein Plädoyer für Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 8. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 85: „Ich konnte den Band nicht mehr aus der Hand legen.“ Adolf Frisé: Robert Musil: ‚Mann ohne Eigenschaften‘. In: Germania, 17. 12. 1931 (zitiert nach Musil, KA, Zeitgenössische Rezensionen, 1931). Frisé 1931 (Anm. 12).
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lösendes Weiter; der Dichter kündigte dies schon an privater Stelle an, wir wären ihm dankbar, wenn er den zweiten Teil seines Werkes auf solche Bahn lenken würde.14
Persönliche Begegnungen mit den Autoren, über deren Bücher er schrieb, waren dem jungen Literaturkritiker Adolf Frisé in seinen Anfangsjahren wichtig, so etwa der Kontakt mit Gottfried Benn.15 Dabei spielte nicht nur der journalistische Entdeckergeist eine Rolle, Schriftsteller über ihre Motivationen zu befragen, sondern auch der Beweggrund, väterliche Mentoren für die eigenen literarischen Bestrebungen zu finden. Im Falle Musils legt der Schlusssatz von Frisés erster Besprechung in der Germania nahe, es habe ein Dialog mit dem bewunderten Romancier stattgefunden, der in der Tat erfolgt war, zunächst brieflich. In der Rezension steht: Musil antwortete einem unsicheren Leser seines Romans in einem Brief: ‚Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften – das ist ein Mann, der möglichst viele der besten, aber nirgends zu Synthese gelangten Zeitelemente in sich vereint – kann sich gar nicht einen Standpunkt wählen, er kann nur versuchen, mit den Gegebenheiten fertig zu werden.‘16
Frisé zitierte dabei aus einem Briefwechsel, den er selbst im Januar 1931 während seiner Lektüre des Ersten Buchs des Mann ohne Eigenschaften mit Musil in Wien führte.17 Musils Antwortschreiben an Frisé, das dieser aufbewahrt und in seinen Musil-Briefausgaben auf Januar 1931 datiert hat, nimmt interessanterweise auf eine Passage in der erst im Dezember 1931 veröffentlichten Germania-Rezension wortwörtlich Bezug, wo von der „Verabschiedung der Vollcharaktere“18 die Rede ist. Es ist anzunehmen, dass Frisés nicht erhaltenes Schreiben ein Gerüst der späteren Rezension in Form von Fragen enthielt, denen gegenüber Musil sich allerdings „nicht sicher“ fühlte. So vermochte er zur „sogenannte[n] Weisheitssole“ nichts auszusagen, weil er „das Wort nie gehört“ habe.19 Ob die Datierung auf Januar 1931 nun exakt zutrifft oder nicht, der Brief Frisés an Musil ist das einzige Dokument mit verbürgtem Inhalt aus dem Dialog zwischen dem Autor des Mann ohne Eigenschaften, der sich im Stil väterlich gibt,20 und dem jungen Kritiker, der mit seinen Fragen vielleicht ____________ 14 15 16 17 18 19 20
Frisé 1931 (Anm. 12). Frisé 2004 (Anm. 8), S. 62. Frisé 1931 (Anm. 12). Frisés briefliche Fragen sind nicht erhalten, nur Musils Antwort, vgl. Musil, KA, Lesetexte, Korrespondenz, 1931, Robert Musil an Adolf Frisé, Januar 1931. Robert Musil an Adolf Frisé, Januar 1931. Robert Musil an Adolf Frisé, Januar 1931. Vgl. Robert Musil an Adolf Frisé, Januar 1931: „da weiß ich nun eben nicht, ob Ihnen nicht vielleicht, der Sie soviel jünger sind als ich, etwas als skeptischer Quietismus vorkommt, was
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mehr will als bloß Auskunft über die Romanfigur Ulrich, nämlich auch Antworten auf Lebensfragen der schriftstellerischen Existenz. Frisés spätere Erinnerung an Musil gestaltete „den persönlichen Kontakt mit ihm in einer zeitszenischen Verkürzung“ um.21 Erst zwei Jahre später vermittelte ihm Musils Verleger Ernst Rowohlt im Zusammenhang mit einer für die Neue Rundschau geplanten Besprechung des nunmehr erschienenen Ersten Teils des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften einen Termin mit dem Autor in Berlin. Frisés Besuch bei Musil in der Pension Stern am Kurfürstendamm, die einzige direkte persönliche Begegnung zwischen dem Autor und seinem späteren Herausgeber, fand am 27. Januar 1933 statt, wenige Tage vor der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler. Es ist bemerkenswert, dass dieser Umstand Frisés Gedächtnis nicht auf die Sprünge half, in seiner Autobiographie schreibt er, er habe jahrzehntelang vergessen gehabt, „wann genau“ er bei Musil gewesen sei22 – dies, obwohl angenommen werden darf, der persönliche Kontakt habe in Frisés Selbstverständnis zur Legitimierung seiner Herausgeberrolle wesentlich beigetragen. Die Konstituierung des Herausgeber-Bewusstseins erfolgte freilich allein via Martha Musil, die sich 1947 an Frisés Besuch beim Ehepaar Musil erinnerte,23 keineswegs durch einen Akt der Designierung von Seiten Robert Musils selbst. In seinem ersten Brief an Martha Musil nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt Frisé von seiner „wiederholten Begegnung mit Ihrem Gatten“;24 erst in der posthum erschienenen Autobiographie wird der Kontakt auf die eine tatsächliche Begegnung vom 27. Januar 1933 reduziert. Was er mit Musil in dem Vier-Augen-Gespräch besprochen hatte, daran wusste sich Frisé auf Fragen Münchner Studenten im September 1978 nicht mehr zu erinnern. Es sei verrückt, gestand ich, ich wüsste nicht zu sagen, über was de facto, über was im einzelnen damals in Musils Pension gesprochen wurde. Ich hätte mir während des Gesprächs keine Notizen gemacht, es nicht gewagt, es war ja kein Interview [...].25 __________
21 22 23
24 25
für mich (wenn ich ein von mir selbst persifliertes Wort ausnahmsweise ernst gebrauchen darf) wahre Tätigkeit ist.“ Frisé 2004 (Anm. 8), S. 122. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 122. Vgl. Martha Musil an Adolf Frisé vom 19. 9. 1947. Ihren ersten Brief an Frisé beginnt Musils Witwe mit den Worten: „ich kann mich sehr gut an Sie erinnern, an Ihre Aufsätze und an den Besuch in der Pension am Kurfürstendamm“. Die unpublizierte Korrespondenz Martha Musil – Adolf Frisé (19. 9. 1947–14. 8. 1949, 5 Briefe, Archiv-Nr. 99/B/259) und Adolf Frisé – Martha Musil (2. 8. 1947–19. 8. 1949, 6 Briefe, Nr. 99/B/582) befindet sich am Robert Musil-Institut/ Kärntner Literaturarchiv in Klagenfurt. Adolf Frisé an Martha Musil vom 2. 8. 1947. Bereits in diesem Brief erinnert sich Frisé nicht mehr an das Datum der Begegnung(en), er vermutet sie 1931 oder 1932. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 121.
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Der persönliche Kontakt mit Musil konstituiert die erste und dünnste Schicht von Frisés Herausgeber-Bewusstsein, Frisés Festhalten an Musil während der Zeit des Nationalsozialismus die zweite und wichtigere Schicht. Am 9. Juni 1933 erschien Frisés Besprechung des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften in der Münsteraner katholischen Monatsschrift Der Gral.26 Diese Rezension, in der zeitlichen Reihenfolge der etwa 70 Besprechungen des Jahres 1933 an 50. Stelle liegend, ordnet sich in ihrem Ton in die übrige durchwegs auch noch ‚weimarisch‘ gefärbte Aufnahme von Musils zweitem Romanteil im deutschsprachigen Feuilleton ein, noch ist nicht viel vom Geist des Dritten Reichs zu spüren. Frisé betont besonders den internationalen Status von Musils Romanprojekt durch die Modernität des Erzählens, sieht es „in einer Reihe mit Marcel Proust, auch mit anderen neuen Franzosen wie Gide und Jouhandeau“. Man sei aber „zu Unrecht versucht, seine künstlerische Genealogie [...] im Ausland festzustellen, bis man erkennt, wie sehr seine stilistische Kraft und sein allseits ausgebreitetes Denken allein in unserer Kultur verwurzelt sind.“ Die Sprache des Werks sei „wahrhaft gebändigt und durchleuchtet klar [...], ein für einen deutschen Dichter keineswegs selbstverständlicher Vorzug.“ Sogar noch 1935 konnte ein Aufsatz aus der Feder Frisés zu Musil im Aprilheft der Zeitschrift Die Tat erscheinen. Er habe versucht, „den ‚Mann ohne Eigenschaften‘ in Einklang mit der Zeit zu bringen“, gab er im Rückblick zu.27 Als einen Roman, „der wie kaum ein zweiter dieses Grenzschicksal hat“,28 bezeichnete er ihn in der ausführlich eingeleiteten umfangreichen Würdigung. Der spezielle Dreh Frisés im Vermittlungsversuch an die Leserschaft des Dritten Reichs besteht darin, die Zeitanalyse und Zeitkritik im Roman als Prophetie im Sinne der ‚Neuen Zeit‘ zu verkaufen. In dieser Lesart erscheinen die Darstellung des schlaffen alten Österreich und der skurrile Einfall der Parallelaktion durch Musil als Erzeugnisse eines politischen Sehers. Wie Frisé verfuhr, um den Mann ohne Eigenschaften und seinen Autor für den Nationalsozialismus zu adaptieren, illustriert das Vollzitat aus seinem Aufsatz am besten: Als man 1930 den ersten Band des ‚Mannes ohne Eigenschaften‘ las, mochte man diesen Einfall Musils für einen großartigen Witz halten und wenn nicht dafür, so für das Unterfangen, der Leere, in die die von ihm wieder heraufbeschworene Welt Kakaniens (sprich Österreichs) mitsamt ihren Traditionen und unerfüllten Wünschen hinabgestürzt war, eine illusorische Gewandung zu geben. Heute hat die Erfindung ____________ 26 27 28
Vgl. Adolf Frisé: Robert Musil’s ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. In: Der Gral. Münster 1933 (zitiert nach Musil, KA, Zeitgenössische Rezensionen, 1933). Frisé 2004 (Anm. 8), S. 146. Adolf Frisé: Robert Musil oder vom Grenzschicksal der Kunst. In: Die Tat. Jena, April 1935, S. 53–64 (zitiert nach Musil, KA, Zeitgenössische Rezensionen, 1935).
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dieser Parallelaktion eine derartig verblüffende Bestätigung durch die jüngsten Ereignisse gewonnen, daß man anzunehmen versucht ist, Musil habe die politische Entwicklung in Österreich vorausgeahnt. Musil versteht etwas von Politik. Schon 1916/17 gab er als Rekonvaleszent bei einem Heeresgruppenkommando, das in manchem im Gegensatz zum AOK stand, die verbreitetste Soldatenzeitung heraus, die mehr oder minder offen einen engen Zusammenschluß mit Deutschland vertrat. 1918 wurde er wegen seines Anschlusswillens ins Ministerium des Äußeren berufen und anschließend ins österreichische Kriegsministerium, wo er als wissenschaftlicher und propagandistischer Berater bis 1921 verbleib. Auch die heutige Wiener Regierung ist ja nichts anderes als eine Parallelaktion, bestrebt, mit abgewandtem Gesicht das Rennen zu gewinnen, das in Deutschland gestartet ist.29
Der junge Adolf Frisé Mitte der Dreißiger Jahre war weder ein Nationalsozialist noch ein Mann des Widerstands. Exil, Innere Emigration?30 Seine Entscheidung begründete er im Nachhinein mit Musil, mit einem Zitat aus dessen Tagebüchern, „ein individuelles ‚Ach was!‘“31 Im Rückzug auf die Position des radikalen Beobachters koinzidiert Frisés Haltung mit der Musils;32 Musil musste gehen, schon allein im Interesse seiner jüdischen Frau, Frisé blieb, aber er kompromittierte sich nicht. In seinem stark autobiographisch geprägten Erinnerungsroman Der Beginn der Vergangenheit überschrieb er seine eigene Haltung dem Ich-Erzähler: „Ich bin ein Einzelgänger.“33 Die Veröffentlichung der letzten Musil-Besprechung im Dritten Reich durfte er trotz aller Anpassung vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit aber als einen Akt des Widerstands feiern. Wie als Bestätigung bezeichnete Das Schwarze Korps, das Kampfblatt der SS, den Essay Frisés als „eine wahre Perle literarischer Nachtwächterei, weil er Herrn Musil mit seinem zweibändigen überintellektuellen Wälzer Der Mann ohne Eigenschaften von neuem auf ein für das Jahr 1935 etwas unerwartetes Piedestal hebt.“34 In der Bücherkunde von Alfred Rosenbergs Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums lautete das Verdikt gegen Musil und gegen Frisés Eintreten für Musils Werk: „Romanliteratur wie wir sie nicht
____________ 29 30
31 32
33 34
Frisé 1935 (Anm. 28). Vgl. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 155: „ich gehe, nichts, niemand bedrängt mich, Knall und Fall fort, ich bin mir bewusst, ich ließe damit alles hinter mir, es würde nicht leicht sein.“ S. 173: „Wir hatten uns eingeschlossen, schotteten uns ab.“ Frisé 2004 (Anm. 8), S. 155. Vgl. Musil, KA, Lesetexte, Bd. 17: Späte Tagebuchhefte, Heft 30/49. Die Haltung des Beobachters, die in einem bestimmten Schreibgestus zum Ausdruck kommt, der nicht schlichtweg neutralistisch oder unpolitisch ist. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 30–47. Adolf Frisé: Beginn der Vergangenheit. Roman. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 32. Zitiert nach Frisé 1980 (Anm. 10), S. 8. Vgl. auch Frisé 2004 (Anm. 8), S. 149 f.
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wünschen! [...] Wir möchten [...] für die Zukunft ein Wiederauftauchen derartiger Literatur in aller Entschiedenheit verhindern!“35 Nachdem er als letzter und einziger Musil im Dritten Reich die Stange gehalten hatte, legte sich in Gestalt der Beiträge zur Wiederentdeckung für den verstorbenen36 und „vergessenen Dichter“37 Robert Musil in den Jahren nach 1945 an die zweite eine dritte Schicht, aus der sich Frisés Bewusstsein später speisen durfte, der legitime Musil-Herausgeber zu sein. In der ersten Kontaktaufnahme mit der Witwe, Adolf Frisés Brief an Martha Musil vom 2. August 1947, finden sich alle drei Bewusstseinsschichten angesprochen: die Erinnerung an die persönliche Begegnung mit Musil, an sein frühes Eintreten für Musil und die Ankündigung seiner Bereitschaft, für die Wiederentdeckung zu sorgen.38 Die Rollenverteilung, die aus dem Briefwechsel zwischen Martha Musil und Adolf Frisé 1947–1949 spricht, bleibt allerdings noch die zwischen der Witwe, Erbin, Nachlassverwalterin und der alleinigen Herausgeberin des Gesamtwerks ihres Mannes auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem aufstrebenden Journalisten, der durch sein publizistisches Engagement den Boden für die mit vielen Schwierigkeiten verbundene Herausgabe bereiten möchte. Noch fehlte der Zement für die Bastion, die Frisé später als Herausgeber mit Rowohlt als Verlag verband, die nach 1952 von niemandem mehr ausgehebelt werden konnte, noch fehlte die vierte Schicht. Die Quellen lassen den Schluss zu, Frisé habe die Rolle des Herausgebers nicht nur später, als er sie innehatte, mit Zähnen und Klauen verteidigt, sondern sie auch, zumindest unbewusst, angestrebt, obwohl er sich Martha Musil nicht direkt als Herausgeber angetragen hatte. Die Bereitschaft zum publizistischen Wirken für die Wiederentdeckung Musils, mit der er sich 1947 der Witwe in Erinnerung rief, war für ihn wahrscheinlich doch auch ein Element innerhalb einer Strategie, um auch für sich etwas von dem Mehrwert aus Musils literarischer Wiederentdeckung zu erzielen. Was unter den Schlusssätzen von Frisés Lebensrückblick steht: „Die Entscheidung für Musil [...]. Man kann sich das nicht vornehmen“,39 ist vielleicht ein Dementi, und Dementis haben immer etwas von Bestätigungen an sich. ____________ 35 36 37
38 39
Zitiert nach Frisé 2004 (Anm. 8), S. 150. Robert Musil verstarb am 15. April 1942 in Genf. Die vergessenen Dichter ist der Titel eines der wichtigsten Zeugnisse von Frisés Eintreten für Musils Wiederentdeckung, 1948 in der Zeit veröffentlicht, Wiederabdruck in Frisé 1980 (Anm. 10), S. 38–43. Ursprünglich habe er einen Absatz über den ersten Eindruck beim Erscheinen des Mann ohne Eigenschaften enthalten, der sei aber „der Redaktionsschere zum Opfer gefallen“ (Frisé an Martha Musil vom 27. 1. 1949). Vgl. Frisé an Martha Musil (s. Anm. 22). Frisé 2004 (Anm. 8), S. 250.
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Wie kompliziert und von wie vielem Auf und Ab begleitet sich der Weg zur Herausgeberschaft gestaltete, ist aus dem Briefwechsel Frisés mit Martha Musil und ihren Kindern und Rechtsnachfolgern zu ersehen. Frisé stellte den ersten Kontakt mit der Witwe in Philadelphia her, um von ihr Informationen über die Fertigstellung des Mann ohne Eigenschaften für eine „abschließende Monographie“ zu erhalten, die er über Musil zu schreiben beabsichtige.40 Martha Musil antwortete aus Rom und berichtete ihm, dass sie im Begriffe sei, sich mit Rowohlt über eine Gesamtausgabe zu einigen.41 Daraufhin brachte sich Frisé in Hamburg bei Rowohlt selbst als Herausgeber ins Spiel: Rowohlt hatte mir bereits gesagt, daß er die Werke Ihres Gatten wieder in seinem Verlag übernehmen will, und, wie Sie wohl durch ihn wissen, mir den Vorschlag gemacht, dabei als Herausgeber zu fungieren. Ich muß mich korrigieren: selbstverständlich wollte Rowohlt dieses Projekt von Ihrer Zustimmung abhängig machen.42
Klar beweisbar ist es nicht, ob tatsächlich Ernst Rowohlt den Vorschlag unterbreitete oder ob der erste Schritt zur künftigen Herausgeber-Rolle nicht doch von Frisé ausging. Wie auch immer, die Idee stieß auf den Widerstand der Witwe, Martha Musil teilte Frisé postwendend höflich, aber bestimmt mit, dass sie selbst die Herausgabe zu übernehmen wünsche: Sehr geehrter Herr Frisé, vielen Dank für Ihren Brief vom 28. I. und für Ihren Vorschlag, mir zu helfen, für den ich Ihnen dankbar bin. Aber – ich möchte die Bücher selbst herausgeben. – Gerade in den letzten Jahren hat mein Mann oft gesagt, warum ich es nicht wie Frau Dostojewski mache, die die Bücher ihres Mannes selbst und auch ohne Verleger herausgegeben hatte; und eigentlich war das der Grund, daß ich für den 3.ten Band keinen Verleger haben wollte. Dann habe ich mich allerdings überzeugt, daß ein Verleger notwendig ist, denn ich alleine konnte ja gar keine Propaganda in Deutschland machen; aber herausgeben kann ich es doch selbst.43
Möglicherweise bestand bei Ernst Rowohlt Skepsis gegen die Herausgeberrolle der Witwe, bezogen auf den Teil des Musil’schen Œuvre, das der Herausgeberschaft bedurfte, des zu Lebzeiten unveröffentlichten eben, begründet in den Erfahrungen, die er schon in den 1920er Jahren mit den hinausgeschobenen Fertigstellungsterminen von Musils unvollendetem Roman gemacht hatte, und es erscheint aus diesem Grund vorstellbar, dass Rowohlt, wenn er sich auf das ____________ 40
41 42 43
Seinen ersten Brief vom 2. August 1947 schickte er nach Philadelphia in den USA, er hatte Martha Musils Anschrift bei ihrer Tochter Anne F. Rosenthal durch Zufall vom PegasusVerlag in Zürich erhalten, der einen Neudruck von Musils Drei Frauen herausbrachte. – Vgl. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 218. Vgl. Martha Musil an Frisé vom 12. 1. 1949. Martha Musil war mittlerweile aus den USA zu ihrem Sohn Gaetano Marcovaldi nach Rom übersiedelt. Frisé an Martha Musil vom 27. 1. 1949. Martha Musil an Frisé vom 5. 2. 1949.
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Wagnis Robert Musil wirklich wieder einlassen wollte, dem am Verlagsort in Hamburg lebenden Journalisten eher als der Witwe in Rom zutraute, aus den Koffern voller Manuskripte verkäufliche Bücher zu machen. Wer weiß, welche Ausgänge dieser erste Krimi um das literarische Vermächtnis Robert Musils noch hätte finden können? Es traten im Sommer 1949 in rascher Folge zwei Umstände ein: Rowohlt entschied, die Gesamtausgabe mit dem unveröffentlichten Werk doch nicht zu machen, aus ökonomischen Gründen, wie er vorgab.44 Und Martha Musil, die zuletzt bei ihrem Sohn in Rom gelebt hatte, verstarb.45 In den letzten Briefen, die Frisé und Martha Musil wechselten, treten Frisés Beharrlichkeit, einer seiner Wesenszüge, und die Strategie, seinen Vorstellungen Gehör zu verschaffen, zu Tage. Er riet ihr sofort zu, es mit der Gesamtausgabe bei dem Verlag Willi Weismann in München zu versuchen, der Martha Musil „ernste und eigentlich verlockende Angebote“46 gemacht habe; über „Rowohlt, der vieles und beinahe alles bringt“,47 fällt Frisés Urteil nicht gerade schmeichelhaft aus, da traf er fast die Diktion Robert Musils über Ernst Rowohlt in dessen erhaltenen Briefen, die Martha Musil wohl vertraut war. Er suchte damit die Übereinstimmung mit der Witwe zu bewahren. Ein weiteres Moment in den Briefen liegt auf derselben Linie, nämlich Musil gegen Thomas Mann auszuspielen, Musil wäre im „Vergleich mit dem letzten Thomas Mann, dessen Doktor Faustus uns nun endlich auch hier zugänglich geworden ist [...] bei mancherlei Parallele auf intellektueller Ebene [...] der dichterisch Stärkere“.48 Martha Musil widersprach, „ich weiß nicht, ob er dichterisch der stärkere war, sondern ich würde glauben, daß er es auf intellektueller Ebene gewesen ist.“49 Das Kompliment verfängt, angesichts des Todes zählt es ohnedies nicht mehr, es ist müßig zu spekulieren, ob und wie Frisé Musil gemeinsam mit seiner Witwe herausgegeben hätte. Der Ball war über den Atlantik nach Philadelphia zu Anne F. Rosenthal gespielt, der Tochter Martha Musils aus ihrer zweiten Ehe mit Enrico Marcovaldi, die nun vorübergehend die Rolle der Hauptakteurin von Seite der MusilErben übernahm und wieder mit Rowohlt verhandelte, von dort flog er nach Rom zu Gaetano Marcovaldi, dem Bruder von Anne Rosenthal, in dessen Wohnung Musils Nachlass verblieben war, aber stets blieb Frisé im Spiel. Er war in Hamburg vor Ort, um 1950 das Zustandekommen eines Vertrags zwischen Musils Stieftochter und dem Rowohlt-Verlag mit sich selbst als Heraus____________ 44 45 46 47 48 49
Vgl. Martha Musil an Frisé vom 31. 7. 1949. Am 28. August 1949. Martha Musil an Frisé vom 14. 8. 1949. Frisé an Martha Musil vom 19. 8. 1949. Frisé an Martha Musil vom 27. 1. 1949. Martha Musil an Frisé vom 5. 2. 1949.
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geber einer Musil-Werkausgabe in Einzelausgaben zu vermitteln. Der Briefwechsel 1949–1951 mit Anne Rosenthal zeigt, dass sich Frisé bereits in dieser Phase, bevor er Musils Nachlass überhaupt schon zu Gesicht bekommen hatte, mit dem ihm eigenen ‚nüchternen‘ Sendungsbewusstsein seiner HerausgeberRolle sehr selbstbewusst annahm.50 Es galt in der Phase, sich das Vertrauen der Rechtsnachfolgerin zu erkämpfen, er suchte sie durch publizistische Tätigkeit und Vorträge in Deutschland und der Schweiz im Dienst der Wiederentdeckung Robert Musils zu gewinnen und ständig am Ball zu bleiben mit praktischen Lösungsvorschlägen für viele Fragen: Was sollte vom Nachlass Musils ediert werden, wo sollte die Editionsarbeit geschehen, in Hamburg oder Rom, wer durfte wie stark daran beteiligt werden, wer sollte die Kosten der Reise nach Rom und des Aufenthalts dort tragen, der dann doch notwendig wurde? Im Mai 1951 nahm Frisé die Arbeit an Musils literarischem Nachlass in Rom auf. Sein Gegenüber vor Ort war Gaetano Marcovaldi, ein „armer Gymnasialprofessor, der mit einer alten dicken Tante zusammenlebt. Sehr italienisch.“51 Marcovaldi selbst betrachtete „seine amerikanische Schwester als entscheidende Nachlass-Autorität“,52 berichtete Frisé, in emotionaler Hinsicht, er pflegte, „zumindest bei den ersten Begegnungen, respektvoll distanziert von ‚Dr. Musil‘“ zu sprechen,53 auch erwies er sich als strenger Hüter des Nachlasses seines Stiefvaters, der dem Transfer der Bestände im Ganzen oder in Teilen aus seiner Wohnung zunächst die Zustimmung verweigerte. Schließlich erreichte Frisé aber doch, Manuskripte in seine Unterkunft außerhalb von Rom und später nach Deutschland mitnehmen zu dürfen. Marcovaldi, der Ausbildung nach klassischer Philologe, erstellte auf der Grundlage der Vorarbeiten seiner Mutter im Laufe der 1950er Jahre einen Katalog des Musil-Nachlasses, der wegen seiner Gründlichkeit und Vollständigkeit für die spätere Forschung bedeutsam blieb.
____________ 50
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Die noch unpublizierte Korrespondenz Adolf Frisé – Anne F. Rosental (1949–1957, 21 Briefe, Nr. 99/B/604) und Anne F. Rosenthal – Adolf Frisé (1949–1957, 26 Briefe, Nr. 99/B/291) befindet sich am Robert-Musil-Institut/Kärntner Literatur-Archiv in Klagenfurt. Adolf Frisé an H. M. Ledig vom 14. 5. 1951. Die noch unpublizierte Korrespondenz H.M. Ledig-Rowohlt – Adolf Frisé (8. 5. 1950–14. 4. 1985, Original-Typoskripte, Archiv-Nr. 99/B/ 1740) und Adolf Frisé – H. M. Ledig-Rowohlt (14. 5. 1951–30. 9. 1975, Durchschläge der Original-Typoskripte, Archiv-Nr. 99/B/687) befindet sich am Robert-Musil-Institut/Kärntner Literatur-Archiv in Klagenfurt. Adolf Frisé an H. M. Ledig vom 14. 5. 1951. Adolf Frisé: Ein aktueller Rückblick. In: Benutzerhandbuch zu: Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 12–19, hier S. 12.
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Als Vertreter des Auftraggebers54 und als Ansprechpartner bei allen auftauchenden Fragen fungierte Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, zu der Zeit Miteigentümer des Rowohlt-Verlags (gemeinsam mit seinem Vater Ernst Rowohlt, nach dessen Tod 1960 hatte er allein die verlegerische Leitung). Aus dem Briefwechsel mit Ledig-Rowohlt erschließen sich die Schwierigkeiten und Widerstände, auf die Frisés Bestrebungen stießen, aus Musils römischem Nachlass die Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften zu veröffentlichen. Vor der tatsächlichen Begegnung mit ihm war sich Frisé weder des Umfangs und der Komplexität dieses Nachlasses bewusst, noch war er für dessen Erschließung fachlich vorbereitet und mit philologischem Wissen und Erfahrung oder methodologischem Instrumentarium ausgerüstet, noch war er sich über die zeitlichen und finanziellen Ressourcen im Klaren gewesen, die ihm das erste Editionsunternehmen abverlangen würde. Die Überraschung, die ihm der erste Eindruck bereitete, beschrieb er insgesamt drei Mal,55 die wohl größte Authentizität besitzt der unveröffentlicht gebliebene erste Brief an LedigRowohlt, in ihm schreibt er: Der Nachlass ist aufregend inhaltsreich. Vor allem vermutete ich richtig, dass der 3. Band des M. o. E. noch beträchtlich ergänzt werden kann oder besser werden muss. [...] Außerdem eine verwirrende Fülle Aphorismen, Aufzeichnungen, Tagebuchnotizen. [...] Insgesamt liegen 53 (!!) Schnellhefter mit Manuskripten, hauptsächlich zum Mann o. E. vor. Ausserdem 40 Hefte mit Notizen und Tagebüchern. Es ist eine Heidenarbeit, zuerst einmal nur das Wesentliche herauszuspüren.56
Die Hauptschwierigkeit – und darauf bezieht sich das Überraschungsmoment beim ersten Kontakt mit dem Nachlass, welches sich allerdings während der gesamten weiteren Erschließungsgeschichte bis zum heutigen Tag bestätigte – liegt darin, dass sich in der überlieferten, ‚akzidentiellen Struktur‘ nicht das Werk abbildet. Wie in den Fällen der anderen berühmten Fragmente der literarisch-philosophischen Moderne sind diese als ‚Opus sui generis‘ gestaltet, als literarisch-philosophische Experimentierräume. In seinem ersten Anlauf ging ____________ 54
55 56
Eine vertragsmäßige Beauftragung Frisés seitens Rowohlts lag zunächst nicht vor, erst später wurde ein Herausgebervertrag geschlossen (vgl. Ledig an Frisé vom 28. 1. 1953, s. Anm. 50). Zwischen Frisés auf eine solche Beauftragung drängenden, sich auf Martha Musil berufenden Brief an Ernst Rowohlt vom 27. 5. 1950 (Kärntner Literatur-Archiv, Nr. B /99/689) und Ledigs Nachfrage vom 15. 10. 1950 (s. Anm. 50) klafft eine Lücke in der Korrespondenz. Die Nachfrage, welche Frisé in Taormina erreichte, lässt sich mit ihrem Wortlaut als informelle Beauftragung bezeichnen: „wie steht es eigentlich mit der Musil-Arbeit? […] ich hätte aber gern von Ihnen einen Termin, wann wir mit einer druckfertigen Vorlage des dritten fragmentarischen Bandes rechnen können“. Zu den beiden anderen, wesentlich später veröffentlichten Berichten des ersten Eindrucks vgl. Frisé 1992 (Anm. 53), S. 12. – Frisé 2004 (Anm. 8), S. 227. Frisé an Ledig vom 14. 5. 1951.
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es Frisé allerdings einzig und allein um die Herausgabe der in seinen Augen ‚essentiellen‘ Struktur, um die Fortsetzung und das Ende des Romans, ohne die historisch-genetische Dimension. Im Rückblick von 1992 schreibt er: Ich sah mich vor einer so verwirrenden wie aufregenden Fülle von Entwürfen, Skizzen, Materialien zu Skizzen, Entwürfen, schon gleichsam druckreifen, noch handgeschriebenen, auch schon getippten Texten, die nur noch auf ihren Platz im Roman zu warten schienen, oder der gewiss schon festgestanden haben dürfte, und es käme nur primär darauf an, den Schlüssel dafür zu finden.57
Er bewältigte die Suche nach dem Schlüssel als krasser Einzelgänger in völliger Abgeschiedenheit und Konzentration auf die Sache, geleitet alleine von seinem literarisch-kritischen Instinkt, das war das einzige Handwerkszeug, über das er zu dieser Zeit verfügte. „Die Mann o. E.-Herausgabe hat sich [...] wider Erwarten als sehr kompliziert und diffizil herausgestellt“,58 schreibt er nach siebenmonatiger Arbeit in Erwartung eines Endes, dafür allerdings um mindestens acht Monate zu früh.59 Die Arbeit an Musils Nachlass riss ein Loch in Frisés private, berufliche und schriftstellerische Lebensplanung. Immer wieder musste er seine Sorge um die kranke Lebensgefährtin Eva Kannes und um die kranke Mutter zurückstellen, die schließlich beide kurz nacheinander 1954 verstarben;60 die journalistische Laufbahn, in der er sich 1949–1950 auf einem viel versprechenden Weg befunden hatte, war unterbrochen; auch der Roman, von dem im Briefwechsel mit Ledig-Rowohlt ständig die Rede ist, gelangte zu keinem Abschluss.61 Als enorm empfand Frisé das finanzielle Opfer, das er der Herausgeber-Arbeit brachte, welches der Rowohlt-Verlag gerade in der ‚heißen Phase‘ nur auf ständiges Drängen und in unregelmäßiger Form auszugleichen bereit war.62 Der Aufenthalt in Rom, den er aus Vorträgen und kleinen journalistischen Beiträgen zu finanzieren suchte, erwies sich als zu kostspielig und störungsanfällig, darum wich er zunächst nach Sizilien aus und suchte sich abgeschiedene Orte in Deutschland (Oberbeuren im Schwarzwald, Oberreifenberg im Taunus), wo er sich zur ungestörten Beschäftigung mit Musils Manuskripten zurückziehen konnte. Die gleichzeitig weiterlaufenden publizistischen Bemühungen zur Vorbereitung der literarischen Öffentlichkeit, ____________ 57 58 59 60 61
62
Frisé 1992 (Anm. 53), S. 12. Frisé an Ledig vom 16. 12. 1951 (s. Anm. 50). Frisé an Ledig vom 8. 8. 1952 (s. Anm. 50): „Jetzt gehe ich mit Energie an die letzte Arbeit für den MoE heran.“ Vgl. Frisé 2004 (Anm. 8), S. 236 f.; Ledig an Frisé vom 12. 4. 1954 (s. Anm. 50). Vgl. z. B. Ledig an Frisé vom 28. 1. 1953 (s. Anm. 50). Ledig rechnete mit Frisés Roman für seinen Verlag, in seinen Briefen ist von Frisés Romanarbeit fast mehr die Rede als von der Musil-Arbeit, die beiden Projekte interferierten auch verrechnungsmäßig. Frisé an Ledig vom 13. 1. 1952 (s. Anm. 50).
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die auch in Frisés Händen lagen, führten dazu, dass er sich schon bald „manchmal wie ein Musil-Manager“63 vorkam. Als der Verlag im Frühjahr 1952 schließlich zur konkreten Vorbereitung der Neuausgabe von Musils Mann ohne Eigenschaften schritt, traf eine briefliche Intervention von Anne F. Rosenthal aus Philadelphia ein. Sie wünschte in Berufung auf ihren Vertrag mit Rowohlt und ihre gefühlsmäßige Nähe zu Musils Schreiben Frisés Textauswahl für die Nachlass-Fortsetzung des Romans zu kontrollieren, dazu möge man ihr Abschriften der zur Disposition stehenden Manuskripte unter Angabe des tatsächlich Ausgewählten zusenden.64 Frisé wies beide Ansprüche mit heftiger Empörung und Entschiedenheit zurück: Weder wolle er sich in seine Dispositionen schauen lassen, da er keine willkürliche Auswahl getroffen habe, sondern für seine Komplettierung des Romans aus dem Nachlass alles verwendet habe, was dort zwingend dafür vorhanden sei; noch könne er das Argument der gefühlsmäßigen Nähe der Stieftochter zum Werk Musils akzeptieren, denn wenn sie den Nachlassband ihrer Mutter gelesen hätte, „würde sie wissen, dass man mit dem blossen Gefühl Musils Absichten und Konzeptionen kaum gerecht werden kann.“65 Während er sich Anne F. Rosenthal selbst gegenüber jede Reaktion versagte, drohte er in den Briefen an Ledig-Rowohlt mit dem Abbruch der Arbeit („Ich gestehe, dass dieser Brief mir im Augenblick alle Lust genommen hat, weiterzuarbeiten.“)66 und stellte die rhetorische Frage: „Warum hat sie dann den Nachlass nicht selbst herausgegeben? Selbst ihre Mutter hat ja, um deutsch zu reden, bewiesen, dass sie dazu nicht in der Lage war.“67 Zweifellos schießt Frisé mit seiner Reaktion auf der sachlichen und emotionalen Ebene über das Ziel hinaus, später vermochte er der Erbin seinen Editionsansatz in aller Ruhe ohne weiteres begreiflich zu machen und ihre berechtigten Ansprüche als Rechtsnachfolgerin auch zu akzeptieren.68 In ihrem Kern erfüllen die Briefe an LedigRowohlt die Funktion einer Selbstvergewisserung bei der Durchsetzung des eigenen Anspruchs, ein für alle Mal der Musil-Herausgeber zu sein. Die entsprechenden Passagen, mit von ihm selbst als wichtig hervorgehobenen Schlussfolgerungen, Dokumente dieses entscheidenden Selbstautorisierungsaktes, in seinem zweiten Brief lauten: ____________ 63 64 65 66 67 68
Frisé an Ledig vom 16. 12. 1951 (s. Anm. 50). Vgl. A. Rosenthal an Frisé vom 6. 1. 1952 bzw. 10. 3. 1952. Frisé an Ledig vom 17. 3. 1952. Frisé an Ledig vom 17. 3. 1952. Frisé an Ledig vom 17. 3. 1952. Vgl. Frisé an A. Rosenthal vom 21. 10. 1952. Sie lenkt ein: „Ich könnte mir keinen besseren Herausgeber für seine Werke denken.“ Aber auf ihrem vertraglich festgelegten Einsichtsrecht besteht sie weiterhin. Vgl. A. Rosenthal an Frisé vom 30. 4. 1952.
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ihr [Anne F. Rosenthal, W. F.] Anspruch, sich einzuschalten und „so weit wie möglich Musils Interessen wahrzunehmen“, weil sie „vielleicht am besten beurteilen kann, was in seinem Sinne ist“, entwertet meine ganze Arbeit. Die Berücksichtigung dieses ihres Anspruchs gäbe ihr die Handhabe, die Vervollständigung des „Mann ohne Eigenschaften“, wie der Nachlass sie gebietet, zu desavouieren. [...] Meines Erachtens kann ein Herausgeber nur vollverantwortlich arbeiten und zeichnen, wenn er nicht nur von seinem Verlag, sondern auch von den Erben vollautorisiert ist. Das ist bei Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen natürlich etwas anderes. Aber nicht bei einem Werk, dessen einzelne Teile, auch wenn es sich mangels späterer Fassungen um Vorstudien und erste Entwürfe handelt, man nicht kurzerhand aus der Welt leugnen kann. [...] Ich tue so, als ob nichts wäre, und mache weiter. Sie haben nun praktisch alles Material. Ich bleibe dabei, dass ich jede Aenderung, die Frau Rosenthal wünscht (und sie wird welche wünschen!!) ablehne. Mein Argument dafür, mein einziges und entscheidendes Argument: zur Diskussion stehen nur MusilTexte, nachweislich von seiner Hand, in dreissig Jahren unter Entsagung, Schaffensqualen und der Hoffnung hier sein Lebensdokument zu hinterlassen niedergeschriebene Texte und Studien. Von mir stammen dabei knapp fünfzig Zeilen als Klammertext.69
Frisé leitet seinen Anspruch auf die alleinige und volle Herausgeberschaft daraus ab, den Schlüssel gefunden zu haben, das heißt, einen Weg, um die akzidentielle Struktur des Nachlasses in die essentielle Struktur des einzig möglichen lesbaren Texts der Fortsetzung und des Endes des Mann ohne Eigenschaften transformiert zu haben. Darin besteht die vierte Schicht seiner Legitimierung als Herausgeber, nach dem persönlichen Kontakt mit dem Autor, dem publizistischen Eintreten für sein Werk im Dritten Reich und dem Beitrag zu seiner Wiederentdeckung: in seiner Leistung, aus dem Nachlass das Wesentliche herausgeschält zu haben. „Ein stichhaltiges Urteil darüber, ob ich den ‚Mann o. E. werkgetreu bearbeitet habe, kann nur der fällen, der sich selbst den Original-Nachlass vornimmt“,70 schrieb er an Ledig-Rowohlt. Dass er diese vierte Schicht seines Legitimitätsanspruches nicht nur gegen Frau Rosenthal, sondern in Zukunft gegen Kritiker werde verteidigen müssen, die mit ihrer Nachlass-Kenntnis gegen ihn argumentieren würden, das schien er 1952 nicht zu ahnen.
3.
Ein Genie-Streich?
Die umstrittene erste editorische Hauptleistung Adolf Frisés ist seine Ausgabe des Romans Der Mann ohne Eigenschaften mit der Fortsetzung aus dem Nach____________ 69 70
Frisé an Ledig vom 19. 3. 1952. Sämtliche Hervorhebungen von Frisé. Frisé an Ledig vom 17. 3. 1952.
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lass, die zum Jahreswechsel 1952/53 bei Rowohlt im Hamburg in einem ersten insgesamt 1671 Seiten umfassenden Band einer Gesamtausgabe in Einzelbänden erschien.71 Die Einteilung: Erstes Buch // Zweites Buch / Dritter Teil – Ins Tausendjährige Reich [Die Verbrecher] / Schluß des Dritten Teils und Vierter Teil aus dem Nachlaß / Anhang [Nachgelassene Fragmente]; kein Dritter Band also mit wieder mit 1 beginnenden Kapitelnummern der Nachlassfortsetzung, wie in Martha Musils Ausgabe von 1943.72 Frisé begründet dies im Briefwechsel mit Ledig-Rowohlt mit der zweifellos zutreffenden Feststellung, Musil selbst kenne „nur die Einteilung in Bd. I und II.“73 Das Zweite Buch brachte Frisé in einer kontinuierlichen Kapitelfolge von Nr. 1 bis Nr. 128. Die Kapitel Nr. 1–38 waren im Dezember 1932 von Musil autorisiert in Druck gegangen. Kapitel 39–46, die Frisé so edierte wie Martha Musil, bilden den Anfang der so genannten Zwischenfortsetzung des Zweiten Buchs (Band 2, Teil 2), die Anfang 1938 bereits gesetzt war (Druckfahnen-Kapitel) und bei Bermann-Fischer in Wien hätte in Druck gehen sollen, was durch den Anschluss Österreichs ans Dritte Reich verhindert wurde.74 Mit Kapitel 47 beginnt die „Reise an den Rand des Möglichen“,75 im Versuch, in die Druckfahnenkapitel von 1938 spätere handschriftliche Entwürfe Musils einzubauen, die einen Teil der stark korrigierten Druckfahnen ersetzen sollten, oder müssten, oder könnten? Frisé fand da zu etwas anderen Lösungen als Martha Musil in ihrem Dritten Band. Im Weiteren ist die Fortsetzung des Zweiten Buchs aus Entwürfen zusammengesetzt, die der Herausgeber in den Nachlassmappen gefunden hatte und in kreativer Eigenregie zu einer Kapitelsukzession arrangierte.
____________ 71
72 73 74
75
Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1952 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 1). Frisé bearbeitete für diese Ausgabe auch die von Musil autorisierten Teile des Romans, die 1930 bzw. 1932 bei Rowohlt in Berlin erschienen waren, indem er dem Verlag Fehlerlisten vorlegte. Vgl. Frisé an Ledig vom 16. 12. 1951. Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Dritter Band. Aus dem Nachlass hrsg. von Martha Musil. Lausanne 1943. Frisé an Ledig vom 23. 10. 1951. Überliefert sind die Druckfahnen-Kapitel in der Nachlass-Mappe Druckfahnen, die Frisé bei der Erstellung der ersten Edition direkt nicht zugänglich gewesen war, sondern die er aus Martha Musils Ausgabe von 1943 übernahm, wie er in den Anmerkungen seiner Ausgabe von 1978 mitteilte. – Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Aus dem Nachlaß. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 2049. Musil, KA, Lesetext, Bd. 2, Kap. 12, S. 153. – So wie in dieser Textpassage der Bericht des Romanerzählers über die Vorgänge zwischen dem Geschwisterliebespaar Ulrich und Agathe als „Abenteuer“ bezeichnet wird, schildert Adolf Frisé in seinem interessantesten Bericht an Ledig seine Erkundung des Musil’schen Nachlasses als „ein regelrechtes Abenteuer.“ – Frisé an Ledig vom 21. 11. 1951.
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Der dritte (d. h. der bisherige dritte) Band wird ein völlig anderes Gesicht bekommen. Schon die Kapitelfolge wird sich zum Teil einschneidend ändern. Obwohl Musil selbst an der Kapitelfolge des Schlussteils dauernd herumlaboriert hat und zu keiner definitiven Lösung gekommen ist, kann ich mich, ohne zu Spekulationen greifen zu müssen, weitgehend auf seine eigenen Unterlagen dazu stützen. Frau Musil hatte den dritten Band offensichtlich sehr improvisiert zusammengestellt, manchmal durch falsche, wenn auch verständliche Pietät behindert. Bis zu einer gewissen Grenze wird es nun hoffentlich gelingen, den M. o. E. nicht nur gedanklich, sondern auch als Roman abzurunden. Allerdings werde ich dabei auf sehr frühe Kapitelfassungen zurückgreifen müssen, wobei zu bemerken ist, dass kaum ein Kapitel nicht wenigstens in vier bis fünf Fassungen entstand. Daraus muss man nun in den noch offenen Fällen die mutmaßlich beste herausfischen, was nicht immer eine Frage der Reihenfolge ist. Aber haben Sie keine Angst vor Experimenten. Ich gehe ganz nüchtern dabei vor.76
In der mündlichen Mitteilung erinnerte sich Frisé, dass er ein riesengroßes fast leeres Zimmer in der römischen Wohnung von Gaetano Marcovaldi benutzte, um Musils Manuskripte – wie eine Modellautobahn – am Parkettboden aufzulegen, damit sich die Grundlinien abzeichnen und die Zuordnung der Blätter intuitiv erkennen lasse. Dem Musil-Biographen Karl Corino erzählte er, er habe Ende 1951 in der Klausur in Oberbeuren die Nachlassblätter aus den Mappen genommen und zusammengelegt, was sich anziehe. Diese mündlich überlieferten Berichte ergänzen das Bild, das sich aus den schriftlichen Dokumenten, vor allem der Korrespondenz mit Ledig-Rowohlt, ergibt. Das Ergebnis, ein von Kreativität und Intuition, aber auch von Intelligenz und Präzision bei der Entzifferung der handschriftlichen Quellen geprägtes fantasievolles Arrangement,77 führt die Leser der Ausgabe auf einer einplanierten Bahn zu einem bis zu Kapitel 128 durchnummerierten Finale des Romans. So etwa versteht sich, dass die Nummern, die Frisé den Kapiteln seiner ersten Edition gab, sich schon ab Nr. 48 auf Musils Manuskripten nirgends finden, Musil vergab bis zuletzt keine höhere Nummer als die 65. Texte, die die stagnierende Fortsetzung des Romans nach 1933 repräsentieren, sind mit Texten vermischt, die zu den frühen Vorstufen der 1920er Jahre gehören, als der Roman noch gar nicht den Titel Der Mann ohne Eigenschaften trug, sondern Der Spion, Der Erlöser oder Die Zwillingsschwester vorgesehen waren.78 Bewusst ____________ 76 77
78
Frisé an Ledig vom 21. 11. 1951. Vgl. Frisé an Ledig vom 23. 10. 1951: „Ich muss das handschriftlich lesen. Ich staune oft selbst, dass ich das fertig bringe.“ – Auch seine späteren Kritiker konnten Frisé verhältnismäßig wenige Fehllesungen nachweisen. Frisés Entzifferungsleistung von 1951/52 ist bis heute unbestritten. Auf sie war Frisé bald gestoßen, vgl. Frisé an Ledig vom 23. 10. 1951: „Gestern fand ich z. B. die ersten Titelentwürfe zum M. o. E. Sie würden nicht darauf kommen, wie er den Roman zuerst nennen wollte.“
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setzte sich Frisé darüber hinweg, dass die Frühstufen des Romans anderen Konzeptionen gehorchten als die späten Fortsetzungsversuche, sowohl in ideeller als in erzählerischer Hinsicht, auch die noch anders lautenden Figurennamen passte er einfach an. Die Kapitel mit den Nummern 111–128 sind von Frisé zwar im Titel und Inhaltsverzeichnis alle als ‚Entwürfe‘, ‚frühe Entwürfe‘ bzw. ‚Fragment‘ oder ‚Studie‘ gekennzeichnet, sie erscheinen jedoch getrennt von einem nachfolgenden Abschnitt, der unter dem Titel „Anhang [Nachgelassene Fragmente]“ steht, was suggeriert, dass die Kapitelfolge bis Nr. 128 einen weniger fragmentarischen Charakter besitze.79 Von der ursprünglichen Absicht, seine Vorgehensweise in einem Nachwort zu erläutern und in diesem einen ausführlichen Kommentar zu liefern, von der in seinen Briefen an den Verleger vielfach die Rede ist,80 musste Frisé aus Zeit- und Platzgründen gefährliche Abstriche machen.81 Frisés Komposition bietet einen vom Herausgeber manipulierten synthetischen Romanschluss. Den Schlussteil des Mann ohne Eigenschaften hatte Musil zwar bis 1936 imaginiert und notiert und in gelegentlichen flüchtigen Skizzen entworfen, aber nie ausgeschrieben.82 Frisé kam es aber sehr darauf an, bei seiner „Vervollständigung“ des Romans auch das vom Autor nicht mehr ausgeführte Ende präsentieren zu können.83 Er schreibt: Meine Hauptsorge ist der Abschluss: möglichst klare Linien zu entdecken, die zu einem auflösenden Ende führen. Manchmal glaube ich sie zu haben. Dann verliert es sich wieder. Aber bestürzend aufschlussreich, wie mir bis jetzt scheint: Ansätze zu einem Nachwort, zu Erklärungen des Romans. Ich habe oft den Eindruck: Musil hatte das Ende, wenn ich das so rüde sagen darf, nicht mehr im Griff.84
Insgesamt erscheint der Roman in dieser Darbietungsweise symmetrisch: dem ersten Buch mit 123 Kapiteln entspricht ein etwa gleich umfangreiches zweites Buch mit 128 Kapiteln. Bei den Lesern die Suggestion von Symmetrie und geordneter Kapitelfolge entstehen zu lassen, darauf arbeitete der Herausgeber ____________ 79 80 81
82
83 84
Vgl. Musil 1952 (Anm. 71), S. 1120 ff., insbesondere S. 1538 ff. bzw. 1632 ff. Vgl. Frisé an Ledig vom 23. 10. 1951, 2. 2. 1952 und 31. 3. 1952. Was davon blieb, ist das kurze Nachwort des Herausgebers, vgl. Musil 1952 (Anm. 71), S. 1657–1663. Zur Begründung des Verzichts auf den Kommentar vgl. Frisé an A. Rosenthal vom 21. 10. 1952: „Mich störte persönlich bei dem Versuch, diesen Kommentar in die richtige Form zu bringen, dass ich mich womöglich störend in den Fluss der Handlung einschalten würde.“ Vgl. Musil, KA, Lesetexte, Bd. 3: Der Mann ohne Eigenschaften – Die Fortsetzung, Eine Art Ende. Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des ‚Mann ohne Eigenschaften‘ von Robert Musil. Wien 2000, S. 461–473. Die Worte ‚Vervollständigung‘ und ‚Komplettierung‘ verwendet Frisé in seinem Briefwechsel wörtlich, vgl. z. B. Frisé an Ledig vom 17. 3. 1952. Vgl. Frisé an Ledig vom 23. 10. 1951.
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mit aller Entschiedenheit hin: „Handlung und Thematik in Band II (für die definitive Ausgabe) ist genau so geschlossen wie in Band I. Es sind insgesamt zwei große Handlungsbogen.“85 Der Wunsch nach Geschlossenheit entspricht wohl der Nachkriegsästhetik, zumal das Finale auch noch von Kapiteln bestritten wird, in der das Münden der Parallelaktion in den Ersten Weltkrieg sowie eine Lösung der Geschwisterliebe-Problematik und der philosophischen Wahrheitssuche Ulrichs thematisiert sind, wodurch das Bild von einem schön konstruierten Schluss – zwar in unausgeführter Form – vollständig wird. Frisés Schlussversion legt die Auffassung von Musils Roman fest, welche die erste Welle der Rezeption des Mann ohne Eigenschaften bis in die 1970er Jahre bestimmte; besonders ist auch die Auswirkung auf die Übersetzungstätigkeit zu beachten, da einem Großteil der Übersetzungen der Text von Frisés erster Ausgabe zu Grunde gelegt ist. Diese Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften aus dem Nachlass als ‚Autobahn‘ stellt für die literarische Rezeption und die internationale Rezeption und schlichtweg für die Wiederentdeckung Robert Musils eine Erfolgsstory dar, mit einem ihrer Höhepunkte vielleicht in der Auseinandersetzung der jungen Ingeborg Bachmann mit Robert Musil, die sich nicht nur in einem frühen Aufsatz und einem Radioessay niedergeschlagen hat,86 sondern dann später in der eigenen Erzählprosa der Bachmann in einem Transfer der Musil’schen Liebesutopie in eine weibliche Perspektivierung in Texten des Todesarten-Projekts, undenkbar ohne die Lektüre des Kapitels 94 des Zweiten Buchs mit dem Titel Die Reise ins Paradies nach der Ausgabe Frisés (auch wenn dieser Text streng genommen kein Kapitel des Mann ohne Eigenschaften ist, sondern ein Handlungsentwurf für das Romanprojekt Die Zwillingsschwester 1925).
4.
Unter dem Druck der Philologen
Dem philologisch-editorischen Musil-Diskurs gilt Frisés Ausgabe von 1952 als der absolute Südpol; von ihm breiten sich die Meridiane germanistischer Besserwisserei aus, deren Hauptslogan im Titel eines Aufsatzes von Helmut Arntzen ausgedrückt ist, der 1963 publiziert wurde: Der Mann ohne Eigenschaften – aber nicht von Musil. In ihm wird allerdings nicht Frisé unterstellt, Musil bis ____________ 85 86
Frisé an Ledig vom 2. 2. 1952. Ingeborg Bachmann: Ins Tausendjährige Reich; Der Mann ohne Eigenschaften. In: Dies.: Kritische Schriften. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München, Zürich 2005, S. 96–122. Es ist kennzeichnend für Frisés Habitus als Herausgeber, dass er sich durch „Fräulein Bachmann“ und ihr Radioskript zunächst plagiiert fühlte, in seinem Anspruch, für die Rezeption Musils maßgeblich zu sein, herabgesetzt (Frisé an Ledig vom 7. 6. 1954).
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zur Unkenntlichkeit verfälscht zu haben, sondern es wird mit den FriséKritikern aufgeräumt, die „mit Hilfe des philologischen Vorwands eine private und zufällige Deutung durchsetzen wollen“,87 wie Arntzen schrieb und damit zu einem gewichtigen Urteil in einer Auseinandersetzung fand, die 1957–1963 sogar ihren Weg ins westdeutsche Feuilleton gefunden hatte.88 Jenseits der alten Querelen, die heute keine Aktualität mehr besitzen, geht es in dieser mittlerweile historischen Debatte um die Hauptmeridiane der Musil-Editionsgeschichte um strukturelle Fragen der Herausgeberschaft: 1. Worin besteht der Beitrag der Literaturwissenschaften, in der Bereitstellung einer Heuristik oder einer Techné? 2. Welcher Weg führt zwischen der Scylla textkritischer Anforderungen und der Charybdis der Forderung nach Leserfreundlichkeit hindurch? 3. Tut es dem Lebenswerk eines Autors mit großem Nachlass gut, wenn Editionskonzepte und -projekte in freiem Wettbewerb gegeneinander antreten, oder ist es bei einer zentralen Herausgeberinstanz besser aufgehoben? Ein Buch über Musil mit Einführung in das Werk im Untertitel von Ernst Kaiser und Eithne Wilkins,89 in der massive philologische Einwände gegen Frisés Edition im Ganzen und im Detail erhoben wurden, und Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Wilhelm Bausinger, wo auf mehr als hundert Seiten Frisés textkritisches Versagen ausgehend vom Vorwurf fehlenden Verständnisses für die Struktur von Musils Roman bis zur Auflistung der Druckfehler in der Ausgabe vorgeführt wird,90 ließen die Frisé-Ausgabe unter den Druck philologischer Prämissen geraten. Sowohl das Ehepaar Kaiser-Wilkins (1953–1970) als auch Bausinger, der 1964 bei einem Autounfall tödlich verunglückte, trieben Studien am Originalnachlass in Rom. Frisé suchte sich gegen seine Kritiker, letztlich erfolgreich, in zwei Richtungen zur Wehr zu setzen. Selbst trat er dabei publizistisch kaum in Erscheinung, sondern es fanden sich Fürsprecher aus der Welt der westdeutschen ‚Institute und Seminare‘ wie Wolfdietrich Rasch, Walter Boehlich, Winfried Berghahn, Hans Mayer und Helmut Arntzen, die mit Frisé korrespondierten und die Sache seiner Edition vertraten.91 ____________ 87 88 89
90 91
Arntzen 1963 (Anm. 7). Ausgelöst durch Angriffe auf Frisés Edition durch Ernst Kaiser. Vgl. Ernst Kaiser: „Der Mann ohne Eigenschaften“: Ein Problem der Wirklichkeit. In: Merkur 11, 1957, S. 669–687. Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962. Die erste geharnischte Kritik an Frisés Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften erschien 1956 im Times Literary Supplement, die zweite 1957. Vgl. Kaiser 1957 (Anm. 88). Frisé dazu: „Fußnoten voller Bosheiten“ und: „Ich habe immer damit gerechnet, dass ich einmal für meine Konzeption gesteinigt werde“ (Frisé an Ledig vom 14. 8. 1957). Vgl. Wilhelm Bausinger: Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 1–132. Vgl. vor allem Wolfdietrich Rasch: Probleme der Musil Edition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 6. Oktober 1962, und Nr. 239, 13. Oktober 1962. – Arntzens Aufsatz in den
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Die eine Stoßrichtung galt der literaturwissenschaftlichen Reputation des deutsch-englischen Philologen-Ehepaares Kaiser-Wilkins, denen angekreidet wurde, sie wollten als C. G.-Jung-Schüler und finanziert von einer jungianisch ausgerichteten britischen Stiftung über die Kritik an der Frisé-Edition ihr eigenes Editionskonzept auf der Basis ihrer an C. G. Jung ausgerichteten Lektüre des Mann ohne Eigenschaften etablieren. Frisés private Analyse der Ambition des Kontrahenten Ernst Kaiser griff noch tiefer, Kaiser sei „ein gescheiterter Autor, der nun in Musil hinein interpretiere, was schriftstellerisch (dichterisch) zu verwirklichen ihm bisher mißlungen sei.“92 Ein weiterer Kontrahent trat um 1960 auf den Plan, der Kärntner Landesarchivar Karl Dinklage, ein Historiker, der in Musils Geburtsstadt Klagenfurt ein Robert-Musil-Archiv gründete, ebenfalls umfangreiche Studien an Musils Nachlass betrieb und schließlich auch zu einer Interpretation von Musils Schreibprozess am Mann ohne Eigenschaften gelangte,93 Kaiser-Wilkins’schen Auffassungen nahe, von Frisé heftig abgelehnt und verunglimpft: „Dieser horrende Quatsch soll nun bei Musils Verlag erscheinen?“94 Frisé stellte sich nun auf den Standpunkt: Die Interpretation des Romans und die Spekulation, welche der zahlreichen Optionen zu einem Romanschluss im Nachlass Musils Intention eines Romanfinales am besten entspräche, dürften die Konzeption der Neuedition nicht bestimmen; sondern die Kunst bestehe darin, die Unentschiedenheit Musils zu edieren.95 Diese Position erwies sich in der germanistischen Fachdiskussion als mehrheitsfähig und verschaffte Frisé einen Triumph über seine Kritiker und Widersacher, der darin zum Ausdruck kam, dass die ‚Institute und Seminare‘ und die Wissenschaftsförderungseinrichtungen in Deutschland und Österreich in weiterer Folge mit Frisé kooperierten und nicht mit den Vertretern esoterischer Interpretationen wie Ernst Kaiser oder Karl Dinklage. Die zweite Stoßrichtung zielte gegen Friedrich Beißner und die BeißnerSchule. Bausingers Studien waren in enger Zusammenarbeit mit Kaiser und __________
92
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94 95
Neuen Deutschen Heften quittiert Frisé mit: „Treffer auf Treffer“ und „Demaskierung unserer Freunde“ (Frisé an Ledig vom 23. 3. 1963). Frisé an Ledig vom 11. 12. 1960. Den Hintergrund für diese Invektive bildet, dass Ernst Kaiser, der jüdische Exilant aus Wien, offenbar schon seit dem Zweiten Weltkrieg in London an einem Roman arbeitete, dessen Manuskript er u. a. wohl auch Rowohlt anbot, das bis zu seinem Tod aber unveröffentlicht blieb. Vgl. Ernst Kaiser: Die Geschichte eines Mordes. Roman. Bd. 1. Hrsg. von Helmut Braun. Mit einem Vorwort von Ingrid Bachér. Weilerswist 2009. Vgl. Karl Dinklage: Musils Definition des Mannes ohne Eigenschaften und das Ende seines Romans. In: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Im Auftrage der Vereinigung RobertMusil-Archiv Klagenfurt hrsg. von Karl Dinklage zusammen mit Elisabeth Albertsen und Karl Corino. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 112–123. Frisé an Ledig vom 3. 9. 1970. Vgl. Frisé an Ledig vom 24. 11. 1968: „Der sog. ‚kanonische‘ M o E (Lieblingsausdruck Eithne Wilkins) wird unverändert bleiben [...]. Das Problem ist der Nachlassteil, er wird so oder so ein Problem bleiben; aber das ist alles in allem [...] ein Philologen-, aber kaum ein Leserproblem.“
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Wilkins in Rom im Rahmen einer Dissertation bei Beißner in Tübingen entstanden. Dass sie 1964 als Buch bei Rowohlt erschienen, nahm Frisé dem Verlag sehr übel, er empfand dies als Teilschritt zu einer ihm aufgezwungenen Zusammenarbeit mit seinen Gegnern.96 Beißners Gutachten von 1963 enthielt Formulierungen, die Frisé persönlich diskreditierten und kränkten.97 Sein Widerstand gegen Beißners Einbeziehung in die Vorbereitung einer textkritischen Musil-Ausgabe entzündete sich daran,98 sie besaß aber von allem Anfang an auch eine grundsätzliche Dimension. Beim Verlag, bei den Erben und seinen Gesprächspartnern in der germanistischen Fachwelt leistete Frisé in diesen Jahren viel Überzeugungsarbeit, dass die Zeit für eine historisch-kritische Musil-Ausgabe längst noch nicht reif sei und einer ‚Studienausgabe‘ seiner Werke im Fall einer Neuedition unbedingt der Vorzug zu geben sei.99 Ein Nachlass wie der zum Mann ohne Eigenschaften sei für Beißners textgenetisches Stufenmodell als editorisches Rezept zu umfangreich und zu komplex.100 Was Bausinger in seinen Studien vorgelegt habe, sei nicht verwirklichbar und eigne sich in keiner Weise, um normalen Buchlesern die Lektüre von Musils Romanfortsetzung zu ermöglichen, Bausingers Buch, das den textkritischen Apparat zu zahlreichen Nachlass-Kapiteln enthält, diene allerdings bereits in der vorliegenden Form zur Entlastung für den wissenschaftlichen Leser. Auch mit dieser Position behauptete sich Frisé schließlich. Es kam nach Bausingers Tod zu keinem ernsthaften Versuch einer historisch-kritischen Erschließung ____________ 96
Vgl. Frisé an Ledig vom 15. 7. 1963 bzw. 30. 1. 1965 und Ledig an Frisé vom 27. 5. 1964 – „Zusammenarbeit bei der Herausgeberschaft“ – und 15. 7. 1964 – Aufforderung zur Konzilianz: „Wir müssen jede persönliche Animosität zurückstellen, sonst kommen wir niemals zum Ziel“ (Hervorhebung Frisés). 97 Beißners Gutachten reflektiert offenbar die institutionellen Zusammenhänge der Erstellung von Frisés Ausgaben 1952–1957, es fallen die Worte „Literatenklüngel“ und „Literaturakademie“ (zitiert nach Frisé an Ledig vom 15. 7. 1963). Vgl. auch Frisé an Ledig vom 3. 10. 1963, wo er publizistische Gegenwehr gegen Beißner überlegt. 98 Vgl. Frisé an Ledig vom 5. 9. 1963. 99 Vgl. Frisé an Ledig vom 21. 1. 1969. Historisch-kritische Ausgabe: „Fachleute halten das bei Musil noch auf längerer Frist für Nonsens: Musil sei literarisch zu sehr Einzelgänger [...].“ Schützenhilfe von Germanisten-Seite erhielt Frisé von Arntzen: „Frisés Ausgabe darf nicht unter dem Aspekt einer historisch-kritischen Edition gesehen werden, und diese darf sich nicht als einzig mögliche Lösung verstehen bzw. jede ‚Leseausgabe‘ als ein populäres Unternehmen, mit dem die Wissenschaft nichts gemein hat [...]“ (Helmut Arntzen: ‚Die Reise ins Paradies‘. In: Text und Kritik, H. 21/22, 1968, S. 42-47). 100 Vgl. Bausinger 1964 (Anm. 90), S. 133, wo einleitend erklärt wird, für die Methode, Lesarten zu verzeichnen, die Bausinger bei der Darstellung der Entstehungsvarianten zum Mann ohne Eigenschaften zur Anwendung bringe, sei „Friedrich Beißners Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe ein bewährtes Vorbild. Dieser Hinweis mag die berechtigte Frage auslösen, ob ein Editionsverfahren von den verwickelten Gedichtentwürfen Hölderlins auf Musils Prosa übertragen werden könne.“ Bausinger versäumte es, diese entscheidende Frage zu beantworten oder überhaupt zu ihr zurückzukehren und für ein ‚Ja‘ zu argumentieren; ein ‚Nein‘ scheint ihm a priori ausgeschlossen, der Rest seiner Studien ist Anwendung, die aber durch die Unkonsumierbarkeit des edierten Texts jeden Leser von einem ‚Nein‘ überzeugen wird.
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des Nachlasses zum Mann ohne Eigenschaften, geschweige denn des Gesamtwerks Musils; obwohl die Forderung danach regelmäßig erhoben wurde, vor allem auf den Tagungen der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft, 1973 in Wien gegründet, wagte sich niemand darüber; dies wohl aus den Gründen, die Frisé verfocht, aber vor allem auch, weil das Wagnis niemand ohne oder gar gegen Frisé zu unternehmen bereit war.101 Es zahlt sich aus, Frisés Herausgeber-Rolle in dieser Übergangsphase der Geschichte der Musil-Edition (1953–1975) in einem sozialen Interaktionsschema zu fokusieren, etwa mit Bourdieu’schen Begriffen. Als Neuentdecker Musils und charismatischer Geburtshelfer bei der ‚Vervollständigung‘ von Musils Opus Magnum aus dem Nachlass hatte Frisé 1952 ‚symbolisches Kapital‘ akkumuliert, das er im ‚literarischen Feld‘ ab 1953 mit Zähnen und Klauen gegen zwei Gruppen seines ‚sozialen Raums‘ zu verteidigen gewillt war, und dabei einen spezifischen ‚Habitus‘ als Herausgeber entwickelt: Erstens hatte er es mit den Rechtsinhabern am Musil-Text als Auftraggeber-Instanz zu tun, Frisé bedurfte von Zeit zur Zeit der Bestätigung des Auftrags; zweitens mit der erst wachsenden und dann wieder schrumpfenden Gruppe der Konkurrenten, die ihm sein ‚symbolisches Kapital‘, aus dem auch ökonomisches Kapital floss,102 die Alleinverantwortung, streitig zu machen suchten. Von Rowohlt und Anne F. Rosenthal holte sich Frisé zunächst noch weitgehend unangefochten den Auftrag für ‚Musil II‘ und ‚Musil III‘, wie er die beiden Folgebände der ersten Gesamtausgabe zu nennen pflegte.103 1957 starb Musils Stieftochter Anne F. Rosenthal, ihr Bruder Gaetano Marcovaldi hatte sich längst in die Rolle des neutralen römischen Nachlassverwalters begeben, als Auftraggeber verblieben Otto Rosenthal in Philadelphia, der Witwer der Stieftochter, der mit Musil in den 1920er Jahren vor der Emigration der Rosenthals familiär-freundschaftlichen Kontakt gehabt hatte, und Ledig-Rowohlt als Leiter des RowohltVerlags. Angesichts der hereinbrechenden philologischen Debatten ab 1957 belasteten Rosenthal und Ledig Frisés ‚symbolisches Kapital‘, indem sie zwar im Prinzip an ihm als hauptsächlichem Musil-Herausgeber festhielten, aber ____________ 101
Vgl. Renate Schröder-Werle: Musil-Edition zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zur Entwicklung der Musil-Philologie. In: Nachlaß- und Editionsprobleme bei modernen Schriftstellern. Hrsg. von Marie-Louise Roth, Renate Schröder-Werle und Hans Zeller. Frankfurt/Main u. a. 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. 7), S. 30–44. 102 Eine wichtige Rolle in der gesamten Korrespondenz Frisés mit dem Verlag spielte das Feilschen um Herausgeber-Tantiemen, das anscheinend immer wichtiger wurde, je mehr Frisé das ‚symbolische Kapital‘, die unangefochtene alleinige Herausgeberrolle, zu verlieren drohte. Vgl. Frisé an Ledig vom 17. 7. 1965. 103 Vgl. Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1955 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 2). – Robert Musil: Prosa, Dramen. Späte Briefe. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1957 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 3).
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Kooperation bei Neuausgaben zur Bedingung erhoben. Dagegen sträubte sich Frisé zwar mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln,104 aber schon im Frühjahr 1960 musste er die Kaisers in seinen Wohnort Bad Homburg zu einer Besprechung laden,105 ab 1962 musste er die Existenz eines Teams für die Vorbereitung einer Neuausgabe unter Einschluss Bausingers akzeptieren, dem als wissenschaftlicher Vertrauensmann Frisés aber auch Wolfdietrich Rasch angehörte;106 1964 kam es zu Treffen in Salzburg und in Rom; 1965 musste sich Frisé den Rang „paritätischer Mitherausgeber“107 neben Kaiser und Wilkins für eine Neuausgabe gefallen lassen, für deren Vorbereitung Otto Rosenthal in einem Memorandum folgende Devise ausgab: Eine aufrichtige Zusammenarbeit kann die Grundlage für eine Ausgabe bilden, die korrekt ist, sich von Spekulationen und Auswertungen freihält, für den gebildeten Nichtspezialisten interessant und lesbar bleibt und als Text für fremdsprachige Übertragungen dienen kann.108
Frisé indessen, obwohl die Zielsetzungen in seinem Sinne formuliert waren, hegte stets Zweifel an der Möglichkeit zu aufrichtiger Zusammenarbeit mit Personen, die in Konkurrenz zu seinem charismatischen Alleinvertretungsanspruch traten. Ernst Kaiser, Eithne Wilkins, Karl Dinklage, zu mancher Zeit selbst Karl Corino und Marie-Louise Roth, gerieten, wenn sie das tun wollten, was Frisé selbst getan hatte und wozu offenbar nur er allein befugt war, nämlich Musil aus den Originalquellen zu edieren, fast automatisch in das Schussfeld der wütenden und teilweise gehässigen Polemik in Frisés Briefen an die Auftraggeber.109 Gleichzeitig drohte er unter seiner Rolle selbst oftmals fast ____________ 104 Vgl. Frisé an Ledig vom 8. 11. 1961. 105 Frisé an Ledig vom 13. 10. 1962. 106 Frisé an Ledig vom 1. 8. 1962. 107 Frisé an Ledig vom 17. 7. 1967. 108 Zitiert nach Frisé an Ledig vom 30. 1. 1965. 109
Vgl. aus den Briefen Frisés an Ledig: Armin Kesser, der 1955 kurzfristig als möglicher Konkurrent ins Spiel kam, der „älter als ich, zu Musil aber weniger zu sagen“ hat (20. 9. 1955). Gegen Ernst Kaiser entwickelte Frisé die größte Abwehr. Es fehle ihm ein Gegenkonzept. Musil sei in der Schweiz fast verhungert, seine Nachlassbearbeiter pendeln aber seit Jahren zu zweit zwischen London und Rom (14. 8. 1957). Kaiser habe versucht, seine eigene literarische Karriere mit dem Angebot einer Musil-Gesamtausgabe an Suhrkamp zu verbinden, behauptet Frisé mit Berufung auf Hans Magnus Enzensberger (13. 10. 1962). Kaisers „tun seit Jahren nichts anders, sie manipulieren ihre Funktion“ (6. 9. 1963). Das Verhalten von Kaiser und Wilkins sei „skandalös“, sie hätten keine Arbeitsergebnisse, „wissen sich aber immer mit Tamtam in Szene zu setzen“ (16. 5. 1967). – Karl Dinklage: „Verdienst um die Ermittlung der biographischen und bibliographischen Daten und Fakten anerkannt“ (1. 12. 1960). Er wird erst zum Gegner, als er sich als Autor und Herausgeber nach vorne spielt: „Musil wäre über den späten Eifer seiner Geburtsprovinz gewiß sehr amüsiert. Es scheint, daß sich hier regionaler und persönlicher Ehrgeiz treffen“ (2. 4. 1960). „Dinklage im Grunde ein armes Schwein“ (1. 12. 1960). Dinklage „tragikomisch“ (11. 12. 1960). „Sie dürfen auf keinen Fall Dinklage akzeptieren, es wäre für den Verlag blamabel“ (6. 9. 1963). Dinklages Entwurf einer Herausgeber-Vereinbarung er-
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zusammenzubrechen.110 Es gelang Frisé erstaunlicherweise, schließlich alle unerwünschten Kooperationsverpflichtungen abschütteln. Er erreichte, dass der Verlag bis in die 1970er Jahre nur Nachdrucke und eher geringfügig veränderte Neuauflagen seiner ersten Gesamtausgabe 1952–1957 veranstaltete und, nachdem die Konkurrenten verstorben, diskreditiert oder freiwillig zurückgetreten waren, ihm freie Hand für die alleinige Gesamtherausgeberschaft der Studienausgaben ließ. Frisés ‚Habitus‘ als Herausgeber lässt sich so zusammenfassen: Er gab den wissenschaftlichen Prämissen grundsätzlich nach – mit der Einschränkung: Die Buchausgaben sollten lesergerecht bleiben – und er war dabei bestrebt, die Fäden in der Hand zu behalten.
5.
Die Serie der Neuausgaben von 1976–1981
Dem Verlangen des Publikums nach einer Neuausgabe der Werke Robert Musils, die in Teilen schon seit den 1960er Jahren am Markt nicht mehr greifbar waren, und dem Begehren nach besseren Ausgaben in textkritischer Hinsicht kam Adolf Frisé schließlich durch die von ihm editorisch allesamt allein vertretenen Ausgaben der Jahre 1976–1981 nach. Damit erfüllte er sein Lebenspensum als Musil-Herausgeber zwar noch nicht, es kam aber zu keinen weiteren Buchausgaben mehr, der Rowohlt-Verlag beschränkte sich bestenfalls darauf, die Neuausgaben-Serie in unveränderten oder verbesserten Ausgaben bzw. Sonder- und Taschenbuchausgaben von Einzelwerken nachzudrucken, sodass Frisés eigentliches editorisches Vermächtnis seit 1981 vorliegt und __________
scheint Frisé „so umständlich und breiig wie der ganze Mann. Bei ihm wird auch krass ersichtlich, wie wichtig er sich bei der Edition selbst nach vorne spielen möchte“ (6. 9. 1963). – Bausinger „fast nur als Strohpuppe; ein Mann, der sich so unsicher fühlt, daß er wirkliche Partner in der Sache scheut“ (5. 9. 1963). – Auch Marie-Louise Roths Bemühungen, die von Frisé bis dato nicht veröffentlichte Tagespublizistik Musils zu edieren, setzt Frisé nachhaltig Widerstand entgegen, mit dem Argument, dass Musils Theaterkritiken und Zeitungsglossen literarisch nicht bedeutsam genug seien, obwohl er Roth in seinem Streit mit Kaisers auf seiner Seite sieht (18. 2. 1964, 17. 7. 1965). Selbst Karl Corino, „wohl auch ein Student aus Tübingen“ (25. 2. 1967), erweckte das Missfallen Frisés, als er mit der Veröffentlichung seiner Dissertation Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Vereinigungen Musils bei Rowohlt eine historisch-kritische Ausgabe zu präjudizieren schien (21. 7. 1971), und erst als Corino seine Herausgeber-Ambitionen aufgab, vermochte ihn Frisé offenbar als Mitstreiter vollends zu akzeptieren. 110 Immer wieder kehrt in den Briefen an Ledig der Satz: „Ich bin einfach Musil-müde“ (16. 8. 1956). Wenn der Verleger ihn aber zu entlasten trachtet, reagiert Frisé so: „Die Korrespondenz mit Rosenthal, Marcovaldi, Kaisers mag für mich nicht immer erheiternd sein, aber ich glaube, Sie sollten mir das auch künftig nicht ersparen. Ich habe die Empfindlichkeitszone in dieser Sache hinter mir“ (1. 12. 1960). Auf den Punkt gebracht: „wie sehr es mich drängt, von Musil, zugunsten der eigenen Arbeit, endlich loszukommen, aber ich ertrüge es doch nicht, [...] meinen Namen künftig beiseite zu schieben“ (11. 12. 1960).
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Musil in Buchform bis heute nur mehr in von Frisé besorgten Ausgaben gelesen wird; das gilt auch für neuere Übersetzungen in Fremdsprachen. Zustandegekommen waren die Musil-Neuausgaben nicht ohne Widerstände und Schwierigkeiten mit dem Verlag sowie bei ihrer Finanzierung;111 die Erwartung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe oder einer textkritisch nur halbwegs einheitlich konzipierten Studienausgabe der Werke Musils enttäuschte Frisé, er lieferte nicht eine Gesamtedition, sondern drei Ausgaben, nämlich die Tagebücher (1976), die Gesammelten Werke (1978) und die Ausgabe der Briefe.112 Der unklare Status der Ausgaben-Serie aus philologischer Sicht ergab sich, obwohl sich die Erstellungsbedingungen seit den 1950er Jahren grundlegend zum Besseren verändert hatten. Frisé trat Anfang 1975 als Abteilungsleiter beim Hessischen Rundfunk in den Ruhestand, er konnte sich etwa fünf Jahre ungeteilt der Vorbereitung der Ausgaben widmen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft beteiligte sich nicht nur an den Druckkosten, sie ermöglichte Frisé auch, wissenschaftliche Mitarbeit gegen Bezahlung in Anspruch zu nehmen.113 Die Musil-Ausgaben waren mittlerweile zu kostspieligen editorischen Großunternehmungen herangewachsen,114 dennoch führte sie ____________ 111
Vgl. Frisé an Ledig vom 30. 9. 1975 und 3./4. 5. 1980, wo der Herausgeber die Schwierigkeiten mit dem Verlag aus Anlass des Verlagswiderstands gegen die teuren und wenig publikumswirksamen Tagebuch- bzw. Brief-Editionen zusammenfassend und rückblickend thematisiert. Er findet zu Formulierungen wie: „Musil ist der für den Rowohlt-Verlag lästigste und überflüssigste Autor – eine einzige permanente Verlegenheit“ – „Musil – sei doch offen – ist ein Problem für euch, wird immer euer Problem sein. Ich habe praktisch zu keiner Edition je euren Zuspruch erfahren.“ 112 Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1976 [Bd. 1: Tagebücher. Bd. 2: Anmerkungen, Anhang, Register]. – Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978 [Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 2: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik]. – Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978 [seitenidentische Taschenbuchausgabe]. – Robert Musil: Briefe 1901–1941. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981 [Bd. 1: Briefe. Bd. 2: Kommentar und Register]. Auf das Zustandekommen der Briefe-Edition kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden, obwohl interessante Züge an Frisés Herausgeberrolle damit verbunden sind. Der Verlag übte an Frisés Konzeption der ungekürzten Publikation aller greifbaren Briefe erst herbe Kritik, vgl. Frisé an Ledig vom 3. 5. 1980. 113 Vgl. die unpublizierte Korrespondenz Adolf Frisé – Wolfgang Frühwald (1974–2001, 156 Briefe, Nr. 99/B/461) im Robert-Musil-Institut/Kärntner Literatur-Archiv in Klagenfurt. Frisés Briefe an den Germanisten an der Universität München und DFG-Präsidenten Frühwald dokumentieren nicht nur Organisationsfragen der Musil-Neuausgaben 1978–1981 und der wissenschaftlichen Nachlass-Erschließungsprojekte 1984–1992, sondern auch zahlreiche, bis in kleine philologische Details reichende Probleme bei Frisés Editionsarbeit. Ab Mitte der 1970er Jahre löste Frühwald Ledig-Rowohlt als wichtigsten Ansprechpartner in Fragen der MusilEdition ab. 114 Frisé betrieb zum Teil selbst das Fundraising, zum Beispiel hielt er 1974 Vorsprache beim österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky und 1975 mit mehr Erfolg bei Hermann Josef Abs, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank. Vgl. Frisé an Ledig vom 10. 2. 1974 bzw. 16. 4. 1975.
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Frisé in institutioneller Hinsicht weiter als Privatunternehmung vom Arbeitszimmer seines Hauses in Bad Homburg aus. Die Finanzierung seiner eigenen Tätigkeit setzte er in Verträgen mit dem Rowohlt-Verlag durch, die ihm Provisionen aus dem Verkauf der Bücher zusicherten.115 Weder ließ er zu, dass einer seiner tatsächlichen philologischen Mitarbeiter (und die sich ihm angetragen hatten) zu editorischer Mitverantwortung aufstieg,116 noch mochte er einer zumindest teilweisen Verlagerung des institutionellen Schwerpunkts der Editionsarbeit aufs Terrain der ‚Institute und Seminare‘ seine Zustimmung erteilen. Vom ‚Editionsausschuss‘ der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft ließ er sich nicht hineinregieren, sein Bruch mit der Führung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft und jahrelange Konflikte mit der Robert-MusilArbeitsstelle in Saarbrücken hatten in erster Linie mit seinem editorischen Alleinvertretungsanspruch zu tun. Die Devise: „Die vielen Köche sind sprichwortgemäß tatsächlich nicht die Ideallösung.“117 Ob Frisés Ausgabe der Tagebücher die Ideallösung schlechthin darstellt, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls handelt es sich um seine bedeutendste editorische Leistung aus dem Blickwinkel der Textkritik. Dennoch bereitete ihm die Vorbereitung und die Durchsetzung beim Verlag die größten Schwierigkeiten;118 auch trug ihm gerade diese Edition die herbste Kritik der etablierten Editionswissenschaft ein. Bei der Textauswahl nahm Frisé von den 32 erhaltenen Heften in Musils Nachlass nur jene 7 aus, die eindeutig als Werkhefte zu bezeichnen waren, und schlug alle anderen zu den ‚Tagebüchern‘, obwohl Musils Hefte fast generell nicht Tagebücher im Sinn des Wortes sind, sondern einen Aufzeichnungstypus sui generis repräsentieren, eine Art Speicher für den literarischen Produktionsprozess. Der edierte Text gründet sich auf eine Transkription ohne Normalisierung, aber auch ohne exakte Textauszeichnung, Varianten sind im Anmerkungsapparat nachgewiesen. Frisé erarbei____________ 115
Zu Frisés Ansprüchen vgl. Frisé an Ledig vom 19. 9. 1972, 29. 10. 1972, 25. 7. 1973, 8. 12. 1975, zur erfolgten Vereinbarung: 22. 4. 1978. Nach dem Tod von Ernst Kaiser (1972) und Eithne Wilkins (1975) als Mitherausgeber zumindest zeitweise im Gespräch waren etwa Karl Corino, Renate von Heydebrandt und Marie Louise Roth (vgl. Frisé an Ledig vom 25. 7. 1973 bzw. 23. 5. 1974). 117 Frisé an Ledig vom 12. 5. 1977. 118 Vgl. Frisé an Ledig vom 21. 8. 1968; 18. 2. 1971; 20./21. 2. 1974: 1968 bereits drohte Frisé unter „mörderisch harter Arbeit an der Tagebuch-Edition“ schier zusammenzubrechen. 1971 stieß Frisés Manuskript auf den Widerspruch eines mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Herausgeber Hans Zeller argumentierenden Lektors beim Rowohlt-Verlag: „nun genügt das Achselzucken eines Mannes, dessen Namen ich vorher nie hörte, sein verächtliches Veto, [...] und es steht nun fest: Scheiße!“ 1974 wurde der Druck der Tagebuch-Ausgabe aus Finanzierungsschwierigkeiten angehalten, was bei Frisé einen puren Verzweiflungsausbruch auslöste: „Meine Arbeit in den letzten sieben Jahren ist ein Stückchen meines Lebens, meines Leistungskapitals, gar nicht zu reden vom Anspruch der Öffentlichkeit [...] auf die Ergebnisse dieser Arbeit, auf die Publikation des von mir aufgeschlüsselten kompletten Tagebuch-Werks von Robert Musil“. 116
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tete nicht nur einen gründlichen Stellenkommentar, der Musils Biographie, das literarische Leben seiner Zeit, die Werkgeschichten und den Nachweis der intertextuellen Bezüge einschloss, der nicht unbeträchtlichen Lektüren des ‚poeta doctus‘ Musil von 1898 bis 1942 aus ihrem Niederschlag in den Nachlassheften, sondern er lieferte im Anmerkungsband auch einen umfangreichen Anhang mit intra-textuellen Bezügen in Gestalt weiteren Nachlassmaterials, das nicht als Werkfragment in die Gesammelten Werke passte. Hier setzte die Kritik Hans Zellers unter anderem an, er bezeichnete den Anhang als eine „rätselhafte Einrichtung“,119 der eine Aufhebung der Relation Text-Kommentar bewirke. Gegen den Vorwurf „Mangel an Disposition“120 hätte Frisé sich noch zur Wehr setzen können, mit dem Verweis auf das kaum darstellbare Vernetzungsverhältnis zwischen den Texten in Musils Nachlass. Zellers Angriff in der Zeitschrift für deutsche Philologie gegen Frisés Ausgabe der Tagebücher und der Gesammelten Werke erfolgte aber auf allen Ebenen, er bemängelte die Unklarheit des Editionstyps, die Vollständigkeit der Ausgaben, ihren Aufbau, die Textkonstitution der edierten Texte, die Gestaltung des Apparats und die Kommentierungspraxis. Zellers Vernichtungsintention bezeugt wohl schon das einleitende Abstract. Die von Frisé besorgten Studienausgaben von Musils Tagebüchern (1976) und Gesammelten Werken (1978) genügen den editorischen Standards wegen mangelnder Systematik und Prinzipienlosigkeit bei weitem nicht. Der edierte Text bietet im einen Fall keinen zitierbaren Text, im anderen eine modernisierende und normalisierende Bearbeitung, der Anhang (Apparat usw.) ist unpraktisch und unzuverlässig und mit persönlicher Polemik überladen.121
Das vernichtende Feedback eines Hauptvertreters der etablierten universitären und institutionalisierten Editionsphilologie im deutschsprachigen Raum ist wohl nicht nur auf der sachlichen Ebene zu lesen, sondern auch auf der habituellen. Zweifellos enthält Zellers Kritik eine Menge zutreffender Hinweise auf Fehler in den Frisé-Ausgaben, auch die „prinzipiellen Überlegungen“ zu Frisés Editionspraxis, in klaren Formulierungen und stets an Beispielen anschaulich abgestützt, haben Hand und Fuß. Doch kam Zellers Angriff nicht aus dem luftleeren Raum, seit Bausingers Studien, der frühen Zurückweisung von Frisés Manuskript der Tagebuch-Ausgabe durch das Lektorat des Rowohlt-Verlags und Zellers Mitgliedschaft im Vorstand der Internationalen Robert-MusilGesellschaft an der Seite Marie-Louise Roths im Herbst 1975, als Frisé im ____________ 119
Hans Zeller: Vitium aut Virtus? Philologisches zu Adolf Frisés Musil-Ausgaben. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft, S. 210–244, hier S. 220. 1982 (Anm. 119), S. 220. Zeller 1982 (Anm. 119), S. 210.
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Interesse seines editorischen Alleingangs vorübergehend mit der MusilGesellschaft brach.122 Die sachlichen Einwendungen gegen Frisé sind der Signifikant in Zellers Message, ihr Signifikat besteht in der Intention, das symbolische Kapital des Außenseiters Frisé im Wissenschaftsapparat zu zerstören. Schon die Behandlung der Tagebuch-Ausgabe, die textkritischen Anforderungen genügt, gemeinsam mit den Gesammelten Werken, wo dies nicht der Fall ist, belegt die Absicht.123 Treffsicher erscheint Zellers Kritik nur im Fall der Gesammelten Werke. Zeller wirft Frisé vor, mit den Anmerkungen in seinen Ausgaben „einen Höhepunkt in der Geschichte germanistischer Editionen in bezug auf Quantum und Niveau der Polemik“124 zu bilden. Die sprachliche Gestaltung von Zellers Publikation kippt gegen Ende in einen Ton moralisierender Untergriffe und gezielter Schläge unter Frisés Gürtellinie, als hätte er beim Niederschreiben seiner Kritikpunkte zunehmend die Beherrschung verloren. So bezichtigt er Frisé der bewussten Desinformation, weil er in seinen Ausgaben die Nachlasstexte nicht nach der Paginierung durch Kaiser und Wilkins nachweist, es werde die Kontrolle der Ausgabe am Original „durch Verschweigung der Stellen absichtlich erschwert“;125 er fügt diesem Vorwurf mit Sarkasmus hinzu: Der Herausgeber, dem der Verleger seit 1965 als einzigem das Recht erteilt, Schriften Musils zu edieren, erblickt sein Heil darin, Kontrollen zu verhindern. Käm’s auf Frisé an, uns würde der „Apfel der Erkenntnis wieder verboten“.126
Zeller unterstellt Frisé, „mehr als nützlich auf Kritiken“127 an seinen Ausgaben in den 1950er Jahren fixiert zu sein, ihm gehe es „nur [um] die Befriedigung eines persönliches Bedürfnisses [...]: Vergeltung für so viele Dissertationen, Magister- und Staatsexamensarbeiten“.128 Die Funktion von Zellers Veröffentlichung ergibt sich aus der Zusammenlegung von begründeter sachlichphilologischer Kritik mit dem ebenso wohlbegründeten Angriff auf der habitu____________ 122
Vgl. dazu Frisés Version der Vorgeschichte des Konflikts mit Zeller in Frisé an Ledig vom 22. 4. 1983. 123 Vgl. Frisé an Ledig vom 22. 4. 1983. – Zeller 1982 (Anm. 119), S. 220: „Wenn Frisé es nicht ausdrücklich sagte, käme man nicht auf den Gedanken, daß die beiden Ausgaben nebeneinander disponiert und zur gleichzeitigen Publikation bestimmt waren [...]; eher glaubt man, Musils Papiere seien z. T. willkürlich auf zwei konkurrierende Herausgeber verteilt worden.“ 124 Vgl. Zeller 1982 (Anm. 119), S. 240. 125 Zeller 1982 (Anm. 119), S. 225. 126 Zeller 1982 (Anm. 119), S. 241. Zeller zitiert hier aus einem Aphorismus Musils, aber ungenau. In Frisés Ausgabe lautet die Passage aus Musils Handschrift korrekt wiedergegeben: „daß es sich die Menschen (nach einer Weile) ohne Auflehnung gefallen ließen, wenn man ihnen den Apfel der Erkenntnis wieder verböte!“ (Musil 1978, Anm. 112, Bd. 2, S. 840). 127 Zeller 1982 (Anm. 119), S. 219. 128 Zeller 1982 (Anm. 119), S. 239.
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ellen Ebene, indem er im Tarnmantel philologischer Neutralität, natürlich dennoch alles andere als unparteiisch, sondern der Mann der ‚Institute und Seminare‘, Frisés Ambition, seinen Anspruch auf Alleinherausgeberschaft, bloßstellte.129 Der Doppelzangengriff auf seine Herausgeber-Rolle traf Frisé empfindlich und streckte ihn mehr oder weniger waffenlos nieder, denn mit den Tagebüchern hatte er auch mit Blick auf einen kritischen Text sein Bestes gegeben und mit den Gesammelten Werken das, was die Philologen von ihm verlangten, einfach nicht leisten können noch auch leisten wollen. Aus den Briefen an Ledig und Frühwald wird sichtbar, dass Frisé auf eine ausführliche öffentliche Replik verzichten musste.130 Es klingt paradox, aber Zellers Kritik ebnete Adolf Frisés drittem Leben als Musil-Herausgeber den Boden, nämlich als Wegbereiter und Mitbeteiligtem der auf wissenschaftlicher Erschließung basierenden Edition von Musils literarischem Nachlass. Paradox muten freilich auch noch andere Widersprüche an: dass nämlich Frisés zweiter Anlauf, die Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften aus dem Nachlass herauszugeben, im Rahmen der Gesammelten Werke von 1978, obwohl von der Philologie erzwungen, das ungeliebte Kind unter seinen Editionen, in textkritischer Hinsicht gänzlich missraten, von der Musil-Interpretation ihrer Zeit als die ihr entsprechende Textbasis angenommen wurde. In einer nach umgekehrter Chronologie organisierten Folge von Entwurfstexten schließt diese neue Nachlass-Ausgabe mit den frühesten Entwürfen aus jener Phase ab, in der der Roman noch Der Spion heißen sollte. Sie vermittelt dadurch die Vorstellung, das Ende des Romans liege in seinen Anfängen, in den Frühphasen der Genese. Während in der älteren Ausgabe Nachlassentwürfe in das lineare Verlaufsschema der Romanhandlung eingepasst sind, werden in der jüngeren ausgewählte Entwurfskomplexe aneinandergereiht, die einer bestimmten Produktionsphase als jeweils kleinste genetische Einheiten angehö____________ 129
Mit Bezug auf Frisés Anmerkungen schreibt Zeller, Frisés Polemik „richtet sich gegen den ‚Bereich der Institute und Seminare‘, gegen die ‚Forschung‘ überhaupt (Ironiezeichen von A. F.), der er Doktrinarismus und Cliquenwesen vorwirft, vor allem weil sie die Sünden des jetzt zwar toten, aber immer noch bösen Bausinger nicht zum Thema ihrer Arbeiten machen wollte [...]. Die Anmerkungen, Vor- und Nachwörter bestehen zum großen Teil aus persönlichen Darlegungen und Angriffen auf lebende und verstorbene Musilforscher, woran niemand als der Herausgeber selbst Interesse hat. Wenn das gedruckt werden mußte, dann nicht auf Kosten der Käufer in einer subventionierten und dennoch teuren, mit gewissen Objektivitätsansprüchen auftretenden Dünndruckausgabe, besonders nicht, wenn dann der Raum fehlt für Nötigstes“ (Zeller 1982, Anm. 119, S. 240). 130 Vgl. Frisé an Ledig vom 22. 4. 1983: „Ich scheue die Auseinandersetzung wirklich nicht, aber ich befürchte, Zeller wird daraus ein Dauertheater entwickeln wollen.“ – Vgl. Frisé an Frühwald vom 7. 4. 1983 mit 16 Seiten Typoskript und 64 Punkten zur zunächst noch geplanten Replik, 11. 4. 1983, 19. 4. 1983, 8. 5. 1983, 13. 6. 1983, 27. 7. 1983 (Transkriptionsproblematik), 9. 8. 1983 (Entwurf der Replik mit Hilfe Eibls), 26. 8. 1983, 21. 9. 1983, 27. 11. 1983, 5. 1. 1984. Zum „Friedensschluß“ mit Zeller: 25. 1. 1995.
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ren. Dass die Anordnung der Manuskripte in der neuen Ausgabe weniger zwingend erschien, führte Interpreten leicht aufs Glatteis: Seit dem Vorliegen der Ausgabe von 1978 hat sich das Recht eingebürgert, aus dem Nachlass, der vielen als Dickicht, Dschungel oder Chaos erscheint – verstärkt auch noch durch die gegen Ende zäsurlos fließende Textanordnung ohne Kapitelgliederung und die rohe Form der Textkonstitution –, ohne Studium der Originalmanuskripte, ein nicht empirisch nachweisbares, sondern ein poetologisch vordefiniertes Ende des Romans zu bestimmen. Am populärsten ist die Praxis, aus dem in vielen Fäden auslaufenden Roman – wie er sich zumindest in der Ausgabe von 1978 darbietet – das Faktum einer strukturellen Unabschließbarkeit zu begründen oder zumindest bestätigt zu sehen. Musil habe keine seriellen, sondern nur mehr parallele Anschlüsse geschaffen; sein Schreiben habe den Rahmen eines narrativen Syntagmas verlassen und sei parataktisch geworden; dass sich kein Abschluss herauskristallisieren wolle, passe ästhetisch folgerichtig zur Struktur des vom Autor veröffentlichten Teils. Einwenden könnte man freilich, dass der gezielten Düpierung konventioneller Narrativik im Romaneingang das ebenso bewusst hergestellte Gegenstück im Romanausgang ja fehlt. Die Diagnose der kalkulierten Endelosigkeit durch Absage an das herkömmliche Erzählen verknüpft sich mit zwei möglichen Implikationen: dass in einem das Ende verweigernden zirkulierenden Schreiben – in Musils produktionsästhetischer Endlosschleife der letzten Jahre – die Raffinesse liege oder aber dass Musil gescheitert sei, weil er dem raffinierten Eingang kein ebenso raffiniertes Finale gegenüberzustellen vermocht habe. Der schwer lesbare Text der Nachlassfortsetzung in der Buchausgabe von 1978 mag auch zur Lektüreverweigerung führen, die sich auf ein rigides Textverständnis gründen mag, nach der unautorisierte Texte auszugrenzen seien und das Ende des Romans daher eindeutig mit dem Ende von Kapitel 38 des Zweiten Buchs zu bestimmen sei. Das sei der letzte vom Autor publizierte Teil des Romans, der unvollendete Rest wäre nicht mehr zum Mann ohne Eigenschaften zu rechnen, sondern als Nachlass zu klassifizieren; an ihn wären zumindest andere Maßstäbe anzulegen, wenn sie von der Lektüre und Interpretation nicht überhaupt ausgeschlossen werden müssen. Diese Auffassung korreliert meist mit der Ansicht vom Nachlass als strukturlosem Dickicht oder ungeordnetem Manuskriptgewebe, in dem kein Telos mehr absehbar sei. Die Ausgrenzung des Nachlasses aus dem Interpretationsgeschehen ist ein Verfahren, das seit Beginn der achtziger Jahre in der Mehrzahl der aspektbezogenen monographischen Analysen des Romans anzutreffen ist, formal durch einen restriktiven Textbegriff gerechtfertigt, inhaltlich wohl oft auch von dem Wunsch bestimmt, bei der Prä-
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sentation abgerundeter Interpretationsergebnisse Komplikationen auszuweichen.
Ausblick Vielleicht ungewollt, vielleicht gewollt bot die CD-ROM-Edition des literarischen Nachlasses von 1992 die editorische Entsprechung des Wunsches nach Abschaffung der Apparate und nach Rückkehr zu den Anfängen.131 Die editorische Einsicht lautete, den Nachlass „als eigenen Werkteil zu verstehen, als eine in sich geschlossene Werkeinheit, die auch als solche zu präsentieren sei.“132 In einem Besprechungsprotokoll formulierte Frisé mit Karl Eibl und Friedbert Aspetsberger, „eine Auflösung in ‚Lesarten‘ bzw. ‚Vorarbeiten‘ zu fertiggestellten und publizierten Teilen des Werkes wäre eine Aufhebung der von Musil selbst hergestellten Auswahl und Anordnung.“ Folgerichtig enthält die CD von 1992 nur die Transkription der Mappen und Hefte, keinen edierten Text im Sinne der herkömmlichen Textkritik. Die erste digitale Edition verzichtete auf das historisch-kritische Instrumentarium der Werkrekonstruktion, sie lieferte den Benutzer an eine inkommensurable Menge von Manuskripten in nicht durchschaubarer Anordnung aus und leistete so einer Nutzung Vorschub, die auf die Suche nach bestimmten Einzeltextstellen und Zitaten gerichtet ist und ihren Status außer Acht lässt. Die Rolle Frisés als Mitherausgeber der Nachlasstranskription, bei der Erstellung des ersten Konzepts (ca. 1978/79), bei der Planung und Durchsetzung der öffentlichen Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und den österreichischen Forschungs-Fonds (1982/83) und bei der Durchführung der Gesamttranskription des Nachlasses (1984–1990) darf nicht unterschätzt werden, sie war keineswegs nur eine Alibi-Funktion. In der Zusammenarbeit mit zwei neuen Generationen von Germanisten, einer an den Auseinandersetzungen der 1960er Jahre nicht mehr beteiligten Professoren- und einer davon völlig unberührten Assistenten-Generation, besaß Frisé unbestrittene Autorität auf Grund seiner Editionserfahrung und seiner Kenntnis des Werks und des Nachlasses von Musil. Die Rolle des Nestors behagte ihm zweifellos, aber auch der pragmatisch-philologische Zugang bei der Bewältigung der Probleme des Transkriptionsprojekts statt der leidigen ideologiebestimmten Auseinandersetzungen der Vergangenheit, wie aus einer Bemerkung ____________ 131 132
Robert Musil: Der literarische Nachlaß. CD-ROM-Edition. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992. Frisé 1992 (Anm. 53), S. 13.
Adolf Frisé
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an Frühwald nach einem Besuch in Klagenfurt hervorgeht, „daß es eine wieder sehr nützliche und ganz besonders einvernehmliche Arbeitstagung war.“133 Ein positiver Zug am Herausgeber Frisé war seine Fähigkeit zur Distanz gegenüber seiner Editionsarbeit, auch wenn er sie mit Leidenschaft betrieb. Diese Fähigkeit erlaubte es ihm, seinen Widersachern aus den ‚Instituten und Seminaren‘ nach Momenten der Bewegung mit Gelassenheit gegenüberzutreten und sich in pragmatischer Weise neuen Forderungen bei Wahrung seiner Selbstgewissheit auch zu unterwerfen. Zwei Quellen speisten die Selbstgewissheit: erstens seine unübertroffene Kenntnis des Nachlasses und seine absolute Sicherheit beim Lesen der schwierigen Handschrift Musils; zweitens sein Brotberuf als Kulturredakteur, das Leben in einer anderen Welt im steten Kontakt mit den kulturellen Größen der Republik – abseits des Philologengezänks. Ich schließe mit einer eigenen Erinnerung: In meinem Buch über die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften hatte ich Frisé in einer Anmerkung auf Seite 482 eines fehlenden Nachweises geziehen. Nachdem der Kontakt nach dem Abschluss der Nachlass-CD 1992 abgebrochen war, sahen wir uns erst im Juni 2001 bei ihm in Bad Homburg wieder. Man saß im Garten, die Damen führten Damengespräche, Frisé wurde ungeduldig, der Smalltalk war ihm offenbar lästig, er hätte mir etwas unter vier Augen zu sagen, damit scheuchte er die Damen fort. Dann zog er mein Buch hervor, da hing ein Lesezeichen, er schlug die Seite 482 auf, er vertiefte sich, er sah mich eine Weile an, dann sagte er, und ich glaube, er meinte nicht nur mich, sondern auch Ernst Kaiser und Herrn Zeller, und all die anderen, mit einer gewissen Handbewegung: „Ach was!“
____________ 133
Frisé an Frühwald vom 21. 3. 1988.
Axel Gellhaus
Beda Allemann und die Bonner Celan-Ausgabe im Kontext (nicht nur) der Wissenschaftsgeschichte
1.
Zur Person: Beda Allemann1 Geboren wurde und aufgewachsen bin ich in der Schweiz, an einem Flußübergang zu Füßen des Juras, einer schon in der Steinzeit besiedelten, von den Römern befestigten Stelle, in der literarisch infizierten Kleinstadt Olten im Kanton Solothurn. Geprägt ist sie durch eine seit dem Bauernkrieg historisch belegte Neigung zur Unbotmäßigkeit.2
Mit diesen Worten stellte sich Beda Allemann (1926–1991) als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Jahre 1978 vor. Und nach einigen Sätzen über sein Elternhaus, die Jugend in der Schweiz und das Eingeschlossensein bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs skizzierte er die weiteren Stationen seiner Laufbahn wie folgt: Es kam mir zustatten, als sich während meines Studiums in Zürich (Germanistik, Philosophie, Kunstwissenschaft) die Grenzen wieder öffneten. Emil Staiger, der für mich ein Magnet mit starker gegenpoliger Anziehung war, ermunterte mich dann zur Habilitation. Ebenso bereitwillig ließ ich mich aus der kaum aufgenommenen Lehrtätigkeit in Zürich weglocken. Richard Alewyn lud mich für ein Gastsemester an die Freie Universität in Berlin ein, wo er damals tätig war. Ich konnte nicht ahnen, dass ich ihm ein Jahrzehnt später auf seinem Bonner Lehrstuhl nachfolgen würde. Ich betrachte es als einen artigen Zufall, dass heute außer ihm auch [...] zwei gelehrte Kollegen hier zugegen sind, die meine weiteren Schritte begleitet und geför____________ 1
2
Der vorliegende Essay über Beda Allemann, dessen Student, Hilfskraft und Assistent sein Verfasser zwischen 1972 und 1991 gewesen und dessen Nachfolger als Herausgeber der Bonner Celan-Ausgabe er 1992 – zusammen mit Rolf Bücher – geworden ist, greift explizit und implizit auf Materialien zurück, die teilweise schwer zugänglich oder ungedruckt sind. Sie werden deshalb hier breiter als üblich zitiert. Es handelt sich einerseits um Dokumente aus dem Nachlass Allemanns, der sich inzwischen im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, darunter der Briefwechsel mit Paul Celan, andererseits um Briefe, die Jean Bollack dem Verfasser anvertraut hat, damit er die frühe Geschichte der Bonner Celan-Ausgabe aus der Perspektive ihrer Kritiker sehen lerne. – So gilt es zunächst den Werdegang Allemanns und seine theoretischen Grundlagen zu skizzieren, dann – nebst einigem nicht der vorgegebenen Schematisierung Gehorchenden – sein Verhältnis zur Edition und Editionswissenschaft und schließlich der sich daraus ergebende Entwurf der Bonner Celan-Ausgabe. Vorstellung neuer Mitglieder. Beda Allemann. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1978, 1. Lieferung. Heidelberg 1978, S. 111 f., hier S. 111.
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Axel Gellhaus
dert haben: Claude David, unter dem ich damals vor 20 Jahren an der Pariser École Normale Supérieure arbeiten durfte, und Jan Aler, der mich an die altehrwürdige Reichsuniversität zu Leiden brachte. Nachdem ich auf diese Weise die Bundesrepublik eine ganze Weile umkreist hatte, führte der Weg weiter über Kiel und Würzburg in die Friedrich-WilhelmsUniversität der Bundeshauptstadt, die mich bis heute festhält.3
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gab er bei gleicher Gelegenheit noch folgende Hinweise, die uns auch sogleich ins Zentrum führen, zur Frage nach dem methodologischen Umfeld oder besser gesagt nach den literaturtheoretischen Voraussetzungen seiner editorischen Bemühungen: Lassen Sie mich noch ein Wort zu meiner Arbeit sagen. Sie ist seit meiner Dissertation über Hölderlin und Heidegger durch ein im weitesten Sinn literaturtheoretisches Interesse bestimmt. [...] Ich habe allerdings die Theorie der Literatur nie als ein praxisfernes Tun verstanden, auch nicht innerhalb des engeren Wissenschaftsbetriebes. Ich habe deshalb auch nicht gezögert, dem Wunsche Paul Celans zu folgen und die editorische Sorge um sein Werk zu übernehmen. Was mir vielmehr auffällt, ist der Umstand, wie eng sich theoretische Fragestellungen von scheinbar sehr hohem Abstraktionsgrad ganz unmittelbar mit editionstechnischen Einzelentscheidungen berühren können.4
Es ist sicher kein Zufall, dass zwei der Protagonisten der germanistischen und allgemeinen Literaturwissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren aus der Schule Emil Staigers stammen: Peter Szondi und Beda Allemann. Zürich war in diesen Jahrzehnten – bis hin zum berühmt-berüchtigten Zürcher Literaturstreit – eine der Metropolen der germanistischen Literaturwissenschaft. Erst als Staiger in seiner beachteten Preisrede die politisch-gesellschaftskritische und radikale Tendenz der von den Feuilletons favorisierten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als weder kanonisch noch kanonwürdig erklärte, marginalisierte er die Kanzel selbst, von der herab der Bann ausgesprochen worden war. Das ‚stark Gegenpolige der Anziehung‘ Emil Staigers wird schon aus der Tatsache deutlich, dass der junge Literaturwissenschaftler Allemann mit der Generation der von Staiger mit Bann belegten zeitgenössischen Autoren gute freundschaftliche Beziehungen pflegte. Aber zu diesem Zeitpunkt – Dezember 1966 – war Allemann längst nicht mehr in Zürich. ____________ 3
4
Vorstellung 1978 (Anm. 2), S. 112. Die Stationen der Laufbahn Allemanns: 1953: Promotion bei Emil Staiger mit der Arbeit: Hölderlin und Heidegger; 1955: Habilitation an der Universität Zürich mit der Studie: Ironie und Dichtung; Dozenturen von 1955–1961: Universität Zürich, FU Berlin, École Normale Superieure (Paris), Rijksuniversiteit Leiden; Professuren: 1962: Universität Kiel, 1964: Universität Würzburg, 1967–1991: Universität Bonn. Vorstellung 1978 (Anm. 2), S. 112.
Beda Allemann
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Die Anziehungskraft Staigers auf den Studenten Beda Allemann wird sowohl an den Themenstellungen und am philologischen Zugriff sichtbar wie an der unleugbaren Nähe zur Philosophie Martin Heideggers, die für Allemanns poetologische Grundbegriffe seit der Dissertation über Hölderlin und Heidegger zentral war. Die Frage von ‚Zeit/Geschichte und Dichtung‘ bestimmte Allemanns poetologisches Denken durchgängig, sie lässt sich problemgeschichtlich von Heideggers Zeitreflexionen (Sein und Zeit / Zeit und Sein) wie von Staigers Grundbuch Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters5 her entwickeln: Wie ist Geschichte im literarischen Werk präsent? Wie entsteht aus der ‚ontologischen Differenz‘ von Seinsgeschichte und geschichtlicher Situation die genuin literarische Spannung? Und wie kann man angesichts der seinsgeschichtlichen Bedeutung der Dichtung die Aufgabe einer Literaturwissenschaft eigentlich definieren? Dass Beda Allemann sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Aufgabe neu zu begreifen, belegt sein programmatischer Essay mit dem Titel Der frühromantische Begriff einer modernen Literaturwissenschaft,6 den er schon 1957 vorlegte. Man darf mit der im Rückblick möglichen Verengung sagen, dass Allemann in diesem Essay eine Frage zu beantworten suchte, die ihm schon Jahre zuvor Heidegger zugerufen hatte: Im Rahmen eines Proseminars (!) über Hölderlin, dass Prof. Spoerri und Prof. Staiger am 6. November 1951 in Zürich mit Heidegger veranstalteten, diskutierten Staiger und Heidegger über das Verhältnis von Philosophie und Philologie u. a. am Beispiel der Feiertagshymne von Hölderlin, bei der Staiger dem Philosophen vorhielt, eine durch die Edition Beißners nicht gedeckte Lesart der fragmentarischen Schlusszeilen zur Interpretationsgrundlage gemacht habe. Gegen Ende der Diskussion schaltete sich der 25-jährige Allemann ein mit der Frage: „Sie haben Dichten und Denken unterschieden. Auf welche Seite würden Sie die Philologie stellen, wenn diese überhaupt bis in die Dimension vordringt, in welcher jener Unterschied stattfindet?“ Heidegger antwortete: in dem strengen Sinne von Denken, als Denken der Denker, würde ich den Satz wagen: die Wissenschaft denkt nicht. Aber sie forscht, d. h. sie ist bereits in einem Bereich des mehr oder minder Gedachten, oder – zu ihrem Unglück – eines Ungedachten, d. h., dass eben die Forscher [...] in ihrer Wissenschaft Denkende sind und so gewissermassen in einer Zwischenstellung stehen. Wo ist der eigentlich letzte Grund
____________ 5 6
Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich 1939. Beda Allemann: Der frühromantische Begriff einer modernen Literaturwissenschaft. In: Ders.: Über das Dichterische. Pfullingen 1957, S. 53–71.
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und die Notwendigkeit für eine literarhistorische Erforschung der Dichtung? – Was hat das für einen Sinn? Das möchte ich Sie fragen.7
Allemann hat diese Frage nach dem (philosophischen) Sinn der Literaturwissenschaft nicht losgelassen; er verfolgte den in den 1950er Jahren eingeschlagenen Weg konsequent weiter; die immer wiederkehrenden Themen waren: die poetisch-literarische Differenz, das Wesen der Metapher, die Autoren Hölderlin, Rilke, Musil, Kafka und – Kleist. Bei Letzterem sollte die poetische Zeitreflexion in eine genuine Literaturtheorie münden: Der Begriff der ‚Antizipation‘, aus dem Allemann das Handlungsmodell in Kleists Dramen und Erzählungen entwickelte, war Teil einer fundamentalen Poetologie, an der Allemann in den letzten 20 Jahren seines Lebens arbeitete. Die Einzelanalysen zu Kleist waren 1978 abgeschlossen, das Buch bei Suhrkamp gesetzt; es fehlte nur das letzte Kapitel. An diesem Kapitel arbeitete Allemann bis zu seinem Tod, längst war daraus das Projekt eines zweiten Bandes geworden, der nicht erschien. Er konnte aus der Fülle der Materialien auch postum nicht rekonstruiert werden, als Eckart Oehlenschläger sich daran machte, den Kleistband zu edieren.8 Allemanns Verhältnis zu Heidegger müsste erst einmal gründlich analysiert werden. Die Dissertation über Hölderlin und Heidegger ist nicht wie die Dissertation der gleichaltrigen Ingeborg Bachmann von jenem Skeptizismus getragen, der in der Heidegger-Kritik den Boden einer neuen Grundlage des Denkens, etwa auf der Basis von Wittgenstein, zu sehen geneigt war. Biographisch treten ein Briefwechsel und persönliche Gespräche in Erscheinung, u. a. in von Heidegger organisierten Seminaren. Aufschlussreich wäre dabei die Frage, inwiefern Heideggers Zeitbegriff, die Perspektive der Seinsgeschichte, deren Epochen sich in der Dichtung manifestieren, für Allemann maßgeblich geblieben ist und inwiefern dieses Verständnis auch einen Zugang zum Werk Celans überschattet hat. Nach einer Lektüre von Walter Benjamins KafkaInterpretation bezweifelte Alleman in einem Vortrag, ob Benjamin selbst „die kritische Distanz besaß, um den eigentümlichen Umgang Kafkas mit der Geschichte in ihrer vollen Andersartigkeit zu erkennen.“9 Anders als sein Freund Peter Szondi hegte Allemann keine besonderen Sympathien für die Frankfurter Schule: Adorno hatte für ihn keine tragfähige Literaturtheorie entwickelt, die Literatursoziologie erschien ihm als zweitran____________ 7 8 9
Aussprache mit Martin Heidegger am 6. November 1951. Hrsg. vom Vortragsausschuss der Studentenschaft der Universität Zürich. Zürich 1952, S. 9. Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell. Aus dem Nachlass hrsg. von Eckart Oehlenschläger. Bielefeld 2005. Beda Allemann: Walter Benjamin als Literaturkritiker. Das Beispiel seiner Kafka-Interpretation. Vortrag im Rahmen des Seminario di studi italo-franco-tedesco über Walter Benjamin im Goethe-Institut in Rom. 27.–29. 5. 1981, S. 15.
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gig und interessant dann, wenn das poetologische Fundament grundgelegt war. Ein Literaturverständnis auf der Grundlage der marxistisch-adornoschen Gesellschaftstheorie oder eines historischen Materialismus kam nicht in Betracht. Die Differenz zu Szondi hatte Auswirkungen insbesondere beim Verständnis der Dichtung Celans. Es ist bemerkenswert, dass Peter Szondi bei Suhrkamp Celan-Studien publiziert hat und nicht Beda Allemann, vor allem ist aber signifikant, wie beide Celan lasen, beide von Staiger herkommend, beide mit Celan gut bekannt, ja befreundet. Das Verhältnis Celans zu Szondi ist, spätestens seit dem von Christoph König herausgegebenen Briefwechsel,10 nachzuvollziehen, weil der Briefwechsel selbst einen entscheidenden Teil dieser Beziehung ausmacht. Der Briefwechsel zwischen Celan und Allemann, dessen Herausgabe ebenfalls vorbereitet wird, belegt nur die Tatsache, dass offenbar das Wesentliche in Gesprächen und persönlichen Begegnungen stattgefunden hat.11 Unter dem Titel Heidegger und die Poesie bezog Allemann in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 16./17. April 1977 – ein knappes Jahr nach dem Tod Heideggers – noch einmal ausführlich Stellung: Den von ihr abweichenden Auffassungen hält die materialistische Literaturtheorie gerne vor, ‚idealistisch‘ zu sein. Es wäre zu fragen, wie idealistisch die von ihr als solche unreflektiert weiterbenutzten Kategorien des Aesthetischen und der Kunst sind. Aus Heideggers Nietzsche-Vorlesungen lassen sich dafür entscheidende Anstösse gewinnen. Referierbare Ergebnisse für eine Theorie der Literatur und Poesie sind daraus so wenig wie aus den Erläuterungen Heideggers zu einzelnen Dichtungen zu ziehen. Aber der Horizont könnte freigemacht werden für den Abstieg aus den alten metaphysischen Befangenheiten.12
Paul Celan hat sich an der auch im Briefwechsel mit Allemann wahrnehmbaren Präsenz Martin Heideggers nicht gestoßen; es ist vielmehr an mehreren Formulierungen deutlich, wie Allemann zunehmend zum wichtigen Gesprächspartner in poetologischen Fragestellungen für ihn wird: Am 16. 12. 1963 schrieb Celan an Allemann: Wie sehr ich mich darauf freue, Sie wiederzusehen und mit Ihnen über Gedichte zu sprechen – unter anderem über die Frage der ‚Metaphorik‘, die ich, Sie erinnern sich ____________ 10 11
12
Paul Celan – Peter Szondi: Briefwechsel. Hrsg. von Christoph König. Frankfurt/Main 2005. Bei einem meiner Gespräche mit Jean Bollack habe ich ihm die Frage gestellt, weshalb Celan Beda Allemann und nicht Peter Szondi mit der editorischen Betreuung seines Werkes beauftragt habe. Jean Bollacks Antwort kam nicht spontan. Nach einer Nacht Bedenkzeit antwortete er: Allemann war für Celan der neutralere, denn Szondi war Marxist und damit für Celan ideologisch nicht neutral. Beda Allemann: Heidegger und die Poesie. In: Neue Zürcher Zeitung, 16./17. April 1977.
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sicherlich daran, in Darmstadt13 zu erörtern versuchte, mit viel zu knappen Worten, ich weiß, aber doch recht eindeutig eine „anti-metaphorische“ Stellung beziehend –, wie sehr ich mich also auf ein Gespräch mit Ihnen freue, wissen Sie, – Irre ich, wenn ich mich zu erinnern glaube, daß Sie einmal im Funk über ‚abstrakte Poesie‘14 gesprochen haben? Dürfte ich diesen Aufsatz einmal lesen?
Celan legte dem Brief ein Gedicht bei aus seinem frühesten Zyklus Der Sand aus den Urnen: „weil ‚Stein‘ und ‚Kranich‘ darin vorkommen.“ Allemann antwortete schon am 17. Dezember 1963: Lieber Herr Celan, herzlichen Dank für Ihren Brief und das Gedicht, das mir sehr wichtig und aufschließend ist – es wird von hier aus eine Kontinuität sichtbar, besonders deutlich sichtbar, wie sie für mich als hinterherhinkenden Theoretiker eigentlich immer mehr zum zuverlässigsten Kriterium dichterischen Ranges geworden ist. Kontinuität nicht aufgrund stereotyper Repetition, sondern, heideggersch gesprochen, als das Dichten des einen Gedichts. Was nun das Problem des Metaphorischen betrifft, versuche ich seit langem einen Begriff der Metapher15 zu finden und auszuarbeiten, der auch noch das Anti-Metaphorische umfassen würde. Im Rilke-Buch16 ist vielleicht einiges davon, im Zusammenhang mit der ‚Verwandlung ins Unsichtbare‘, bereits niedergeschlagen.
Der Brief endet mit dem Hinweis: Inzwischen habe ich für die Bonner Germanistentagung im Oktober nochmals eine Kafka-Interpretation (Von den Gleichnissen)17 gemacht, sie soll demnächst erscheinen. Und hatte ich Ihnen eigentlich je den kleinen Ergänzungsaufsatz zum Rilke-
____________ 13
14
15
16 17
Gemeint ist die Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober 1960, in der Celan das Gedicht als den Ort bezeichnet hat, „wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen“ (Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dritter Band. Frankfurt/Main 1983, S. 199). Gemeint ist der Radioessay Gibt es abstrakte Dichtung? Die Frage einer Bilderlosen Lyrik, der am 15. 5. 1962 im Abendstudio des Hessischen Rundfunks gesendet wurde. Der Essay erschien später in einem Sammelband: Beda Allemann: Gibt es abstrakte Dichtung? In: Definitionen. Essays zur Literatur. Hrsg. von Adolf Frisé. Frankfurt/Main 1963, S. 157–184. Der Aufsatz bezieht sich an mehreren Stellen auf Celans Poesie und endet mit einem Hinweis auf sein Gedicht Engführung. Neben vielen anderen Arbeiten, in denen der Begriff der Metaphorizität eine fundamentale Rolle spielt, publizierte Allemann 1968 einen Essay zum Thema: Die Metapher und das metaphorische Wesen der Sprache. In: Weltgespräch 4: Welterfahrung in der Sprache. Erste Folge. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Weltgespräch Wien – Freiburg. Mit Beiträgen von Karl Otto Apel, Beda Allemann, Thomas Bonhoeffer. Freiburg u. a. 1968, S. 29–43. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. Pfullingen 1961. Beda Allemann: Kafka: Von den Gleichnissen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft, S. 97–106.
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Buch18 zugesandt? Zur Sicherheit lege ich auch ihn bei. Mit dem Benn-Essay,19 der in Neskes opuscula-Reihe erschienen ist, verschone ich Sie dagegen, weil ich weiß, dass Sie gegen diesen Autor Einwände haben, und ich Sie ohnehin nicht mit Drucksachen geradezu überfluten will.20
Der Briefwechsel ist ein Gedankenaustausch auf Augenhöhe; Mitteilungen aus den jeweiligen Werkstätten werden ausgetauscht. Und wenn es so etwas gibt wie einen Einfluss der Literaturwissenschaft auf die Literatur, dann dürften sich hier Anhaltspunkte dafür finden lassen. Dass Celan sich mit Kafka, Rilke und Kleist, mit dem Begriff des Metaphorischen und auch mit dem poetischen Phänomen des ‚Gestikulatorischen‘ auseinandergesetzt hat, ist keine Frage mehr. Welche Rolle dabei seine Allemann-Lektüre gespielt haben mag, bleibt einer eingängigeren Untersuchung vorbehalten.
2.
Allemann und die Editionswissenschaft
1954 war Allemanns Dissertation zu Hölderlin und Heidegger erschienen, im selben Jahr erwarb Martin Bodmer bei einer Auktion die Reinschrift der Friedensfeier von Hölderlin, die sich in Privatbesitz befunden hatte und als verschollen galt; die beiden Gedichtbände der Großen Stuttgarter Ausgabe waren erschienen ohne Kenntnis dieser vollständigen Fassung. Beißner edierte sie noch im selben Jahr als viertes Heft der Bibliotheca Bodmeriana – gleichsam als Nachtrag zum zweiten Band der Historisch-kritischen Ausgabe. Beda Allemann reagierte ebenfalls, indem er vier Jahre vor der Faksimile-Ausgabe von Binder und Kelletat, also im Jahre 1955 bei Neske eine Edition der Reinschrift und der beiden großen Entwurfsfassungen vorlegte, verbunden mit einer 40-seitigen Interpretation und einem gut 30-seitigen Kommentar. Aus editionsgeschichtlicher Hinsicht können zwei Punkte besonders hervorgehoben werden: 1) dass Allemann jetzt, wo die Reinschrift-Fassung vorlag, die Entwurfsfassungen überhaupt edierte; 2) dass er die durchgeführte Interpretation vom Kommentar trennte und zwar in dieser Reihenfolge. Die Begründung für die____________ 18
19
20
Es handelt sich um den Aufsatz: Rilke und Mallarmé. Entwicklung einer Grundfrage der symbolistischen Poetik. In: Wort und Gestalt. Fünf Kapitel deutscher Dichtung. Hrsg. von Karl Rüdinger. München 1962, S. 81–100. Der Essay war als zweites Heft der Reihe opuscula bei Neske erschienen: Beda Allemann: Gottfried Benn. Das Problem der Geschichte. Pfullingen 1963. Allemann legt in diesem Essay eine Strukturanalyse des ‚geologischen Geschichtsmodells‘ bei Benn vor, deren implizite Verwandtschaft mit Heideggers Geschichtsdenken nicht zu verleugnen ist. Die Zitate aus dem Briefwechsel Allemann-Celan folgen den Originalen im Deutschen Literaturarchiv Marbach aus den jeweiligen Nachlässen. Die Edition des Briefwechsels, mit der der Verfasser dieses Artikels beauftragt ist, befindet sich in Vorbereitung.
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ses Vorgehen hat er 30 Jahre später einmal im Zusammenhang der CelanAusgabe auf den Punkt gebracht: Man darf nicht übersehen, dass selbst für manche Philologen die Faszination, die von schwieriger Dichtung ausgeht, sich auf die Anziehungskraft eines höheren Kreuzworträtsels zu beschränken scheint: wenigstens müsste man aus der Eigenart ihrer Deutungsversuche auf dergleichen wohl schließen. Vielleicht liegt darin aber auch einfach ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit vor dem spezifisch Poetischen des Textes, dessen Sinn deshalb erst einmal auf die semantische Dimension reduziert wird, weil es ja tatsächlich nicht einfach ist, mit wiederum verbalen Mitteln sich seiner spezifisch poetischen Struktur auch nur zu nähern.21
Die semantische Dimension stand für Allemann auf einer Ebene mit der Faktizität, deren Beweiskraft sich erst im hermeneutischen Prozess, in der Interpretation, zu erweisen habe, wie Peter Szondi in seinem berühmten Traktat Über philologische Erkenntnis mit Hinweis auf Allemanns Friedensfeier-Interpretation und gegen Friedrich Beißner ausführt.22 Die Hölderlin-Studien Szondis zogen die Konsequenzen aus einer Debatte, die zwischen 1954 und Anfang der 1960er Jahre geführt worden war – und dies keineswegs nur im HölderlinJahrbuch oder den einschlägigen Zeitschriften, sondern zum nicht unerheblichen Teil im Literaturteil der NZZ, die der Interpretation der Friedensfeier und der zentralen Frage, wer mit dem „Fürsten des Festes“ gemeint sei, insgesamt mehr als sechs eng und vollformatig bedruckte Seiten widmete. An der Diskussion beteiligten sich außer Beda Allemann, der den größten Raum beanspruchte, Eduard Lachmann, Ludwig von Pigenot, Walter Bröcker, Paul Böckmann, Friedrich Beißner selbst, Bernhard Böschenstein u. v. a. Die Interpretationen ergingen sich in der Regel in Beweisführungen im christlichen, wonach Christus selbst Fürst des Festes sei, oder im säkularisierten Sinne, wobei der Fürst mit Bonaparte identifiziert wurde. Allemann vertrat dagegen die Auffassung, dass es der Struktur des Gedichtes entspreche, beide Zuweisungen als gleichermaßen möglich und gleichberechtigt, keineswegs aber als austauschbar anzusehen, vielmehr werden Dionysos, Christus und Bonaparte zu einer Figur, die in der vom Gedicht beschworenen Funktion des Kommenden Gottes zusammenfließen. Allemann bediente sich in seiner Argumentation durchgängig auch der Entwurfsstadien des Gedichts und war sich völlig mit Peter Szondi einig, der im Traktat über philologische Erkenntnis schrieb: ____________ 21
22
Rolf Bücher: Beda Allemann über Textgenese. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hrsg. von Axel Gellhaus zusammen mit Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jasperneite und Nikolaus Lohse. Würzburg 1994, S. 327–338, hier S. 335. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt/Main 1967, 2. Aufl. 1970, S. 9–34.
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Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben wissenschaftlicher Textbetrachtung, die Entstehung eines Textes mit Hilfe früherer Fassungen zu rekonstruieren, eine Aufgabe, die zugleich im Dienst der Interpretation steht.23
Angesichts der Forderung nach einer Rekonstruktion der Entwurfsstadien fanden sich die jüngeren Staiger-Schüler Beda Allemann, Peter Szondi und Hans Zeller in Opposition zu Friedrich Beißner, der in seinem Aufsatz Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie noch 1964 bemerkt hatte: Ort und Art der Varianten müssten auch, meint er [Zeller] ablesbar sein. Er habe das ‚Bedürfnis‘, aus dem Lesartenapparat die Handschrift zu rekonstruieren. Ich vermag nicht einzusehn, dass der Herausgeber ein derart sonderliches Bedürfnis befriedigen müsse [...].24
Bekanntlich hat sich dieses ‚sonderliche Bedürfnis‘ nicht nur Befriedigung zu verschaffen gewusst, sondern die Methode der Edition nachhaltig geprägt. Für einen Vortrag zum Heidelberger Celan-Kolloquium von 1987 hat Allemann – geschuldet der Notwendigkeit, die Bonner Celan-Ausgabe, von der bis dahin noch kein Band erschienen war, konzeptuell zu erläutern – zum ersten Mal für sich selbst theoretisch begründet, was ihn wohl zwei oder drei Jahrzehnte zuvor schon bewegt hatte: Die Forderung, die sich ergibt, ist keine geringere als die nach der Entwicklung eines neuen Wissenschaftszweiges, der Textgenetik. Mit dem bloßen Aufhaschen im Entstehen ist es gewiß nicht getan, wenn darunter – was Goethe mit seiner colloquialen Wendung im Brief an den Altersfreund Zelter gewiß nicht meint – nur eine Art von höherer Schmetterlingsjagd verstanden würde. Die Entstehung eines Gedichts ist mehr und etwas wesentlich anderes als das Suchen des Autors nach dem sogenannten ‚treffenden Ausdruck‘ (dem aptum der Rhetorik). Wenn die Entstehung eines Gedichts sich darauf beschränkte, könnte Textgenetik sich allerdings damit begnügen, die Sprache der Poesie auf ihre vermeintliche ‚eigentliche‘ Bedeutung zu reduzieren [...]. Da Textgenese aber sehr viel mehr ist, muß auch die Wissenschaft der zugeordneten Textgenetik sehr viel mehr wollen. Sie muß über die Semantik einzelner Wörter und Wendungen und jener ihres ‚Ersatzes‘ im Laufe des poetischen Arbeitsprozesses hinaus vordringen in jene Dimension der strukturellen Bezüge und ihrer Verschiebung im Prozeß der Artikulation [...]. Erst dann werden neuphilologische Apparate einen wirklichen Sinn hergeben. Dies wiederum können sie nur, wenn sie die Textbefunde vollständig und perfekt
____________ 23 24
Szondi 1967 (Anm. 22), S. 25. Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft, S. 72–95, hier S. 81.
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wiedergeben und vor allem den Benutzer nicht zu gängeln versuchen durch das Trugbild eines vom Editor verordneten linearen Entstehungsprozesses.25
Die genauere theoretische Begründung, was mit jener ‚Dimension der strukturellen Bezüge‘ gemeint sei, gibt Allemann in einer für sein Denken nicht untypischen Form der Hypothese: Welches ist denn die dritte und entscheidende Art, dem Gedicht gerecht zu werden, wortgerecht, sachgerecht, sinngerecht zu werden und zu bleiben? Meine Arbeitshypothese dazu ist, dass man die dritte und eigentliche Stufe des Verständnisses, nach Kommentar und Interpretation, nur im Nachvollzug der Eigenbewegung des Gedichtes erkennen kann, im Nachvollzug dessen, was man (und es gibt sprachtheoretische Gründe dafür) das gestikulatorische Moment des poetischen Texts nennen mag. Selbst vorausgesetzt, daß auch diese dritte und letzte Stufe der Rationalisierung des eigenen Verständnisvermögens immer noch eine Ersatzvornahme und eine bloße Vermittlung sei, so wäre es immerhin eben deren höchste überhaupt zu erreichende Stufe. Und wenn es so ist: bis zu welchem Grade schlägt diese Bewegung sich dann (bereits) in der Entstehung des Gedichtes nieder, die ja auch schon eine Bewegung des Gedichtes, eine Realisation und ein literarisch-poetischer Feststellungsvorgang im Hinblick auf das zunächst ihm selbst noch ungesagt Vorausliegende, das poetische Konzept nämlich, ein durch den Autor bewirkter, jedenfalls ausgelöster Vorgang ist, dessen buchstäblich verstandene Verfahrensweise?26
Mit dieser poetologischen Funktionalisierung der textgenetischen Edition hatte Allemann begründet, weshalb eine historisch-kritische Edition nach dem Modell Friedrich Beißners für ihn nie in Betracht gekommen war. Das Interesse hatte sich mittlerweile so verschoben, dass die poetische Verfahrensweise im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Man muss sich vergegenwärtigen, dass in die Phase der Konzeption der Bonner Celan-Ausgabe, die zunächst Allemann selbst, dann Rolf Bücher, in zahlreichen Einzelgesprächen mit Hans Zeller erarbeitet haben, die Geburt der ‚critique génétique‘ und der Start der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe fallen. Besonders Sattlers Einleitungsband zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe wurde intensiv diskutiert; als unmittelbares Vorbild schien er aus technischen Gründen ungeeignet, weil Sattlers apparative Ausstattung unerreichbar war. Die DFG bewilligte die Anschaffung einer IBM-Kugelkopfschreibmaschine, auf der die unmittelbaren Druckvorlagen zu den ersten drei Bänden der Bonner Celan-Ausgabe hergestellt wurden. Das mit Hans Zeller nach dem entsprechend veränderten Muster der Conrad-Ferdinand-Meyer-Ausgabe erarbeitete Apparatkonzept hatte schon aufgrund der ____________ 25 26
Bücher 1994 (Anm. 21), S. 334. Bücher 1994 (Anm. 21), S. 336 f.
Beda Allemann
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größeren formalen Freiheit moderner Lyrik anderen Problemen Rechnung zu tragen als die Hölderlin-Edition. Einerseits war die Zeilenzählung eine Herausforderung, wenn man auf diplomatische Wiedergabe verzichtete, andererseits sollten Korrekturvorgänge auch topographisch exakt durch ein diakritisches Zeichensystem definiert werden.27
3.
Die Konzeption der Celan-Ausgabe und ihr blinder Fleck
Die entscheidende Differenz zwischen Szondis und Allemanns CelanVerständnis wird deutlich, wenn man die letzte der drei Arbeiten Szondis zu Celan betrachtet, den viel zitierten und Schule machenden Aufsatz Eden.28 Die Differenz betrifft die Frage der Kommentierung. Hatte Szondi in seinen früheren Aufsätzen Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105 und Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts29 im Wesentlichen eine strukturanalytische Perspektive gewählt, geschah im Aufsatz Eden etwas, das geeignet war, die Celan-Forschung auf eine ganz andere Dimension seiner Dichtung aufmerksam zu machen, wurde doch deutlich, wie aufgeladen die Gedichte sein konnten mit Weltbezügen auf allen Ebenen. Gelesenes und Gesehenes schossen hier zusammen zu einem neuen Organ der Wahrnehmung einer Gegenwart in ihrem geschichtlichen Kontext. Hier wurde die Aufgabe der CelanForschung für die nächsten Jahrzehnte umrissen, wenn man es wagte sich vorzustellen, wie viele Bezüge noch zu eruieren waren. Wahrscheinlich hat Allemann sich mit Szondi nicht mehr über die beiderseitigen Celan-Publikationen ausgetauscht. Celans schriftlich fixierter Wunsch, Allemann solle sein Werk editorisch betreuen, mag für Peter Szondi nicht leicht hinnehmbar gewesen sein. Für seine Nachlassverwalter – Szondi schied am 18. 10. 1971, genau 18 Monate nach Paul Celan, aus dem Leben – war, namentlich für Jean Bollack, die Aufgabe der Celan-Editoren klar: Man hatte die konkreten intertextuellen, besonders aber die konkreten geschichtlichbiographischen Bezüge nach dem Modell Szondis zu eruieren und in einen Kommentar einzubringen, der dann die Grundlage für eine Interpretation sein konnte. Bollack hat dies bei Gisèle Celan-Lestrange und Siegfried Unseld ____________ 27
28 29
Die Konzeption der Apparate ist detailliert beschrieben in: Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Andreas Lohr: Die historisch-kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger editorischer Bericht. In: Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Hrsg. von Axel Gellhaus und Andreas Lohr. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 197–226. Peter Szondi: Eden. In: Ders.: Schriften II. Hrsg. von Jean Bollack mit Henriette Beese u. a. Frankfurt/Main 1978, S. 390–397. Szondi 1978 (Anm. 28), S. 321–389.
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Axel Gellhaus
immer wieder schriftlich angemahnt,30 bis schließlich die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Aufgabe der Kommentierung ganz in die Hand Bollacks gab, der in diesem Zusammenhang die Erlanger Kommentierungsgruppe etablierte, von der er sich nach Vorlage der ersten Ergebnisse wieder distanzierte. Richtig ist, dass Allemann für eine systematische Erschließung der konkreten biographischen Bezüge in Celans Dichtung nicht nur kein Konzept hatte; es scheint ihm nicht ernsthaft in den Sinn gekommen zu sein, darin eine der vorrangigen Aufgaben der historisch-kritischen Edition zu sehen, da er sich stets bemüht hatte, die thematische Ebene der Dichtung in Richtung auf das ‚Gestikulatorische‘ hinter sich zu lassen: Was aber in den Fällen, wo Textgenetik mangels (Varianten-)Masse gar nicht betrieben werden kann? Wo der Autor vielleicht sogar, wie Goethe, absichtlich die Spuren der Herkunft des Gedichtes getilgt hat? Muß man dann resigniert feststellen, dass er, auf eine unmittelbarere Art seiner Wirkung bedacht, der Rezeption des Werkes das zentrale Mittel seiner Vermittlung entzogen hat? Eine Unmittelbarkeit, gegen die von seiner Position aus ja auch gar nichts eingewandt werden kann, im Gegenteil? Diese etwas knifflige Frage ist weiterzuverfolgen. Schwer zu beantworten ist sie deshalb, weil es, immer schon und nicht erst bei Celan, diese Tendenz der Dichter zur Verwischung der Spuren gegeben hat [...]. Wenn sie bei Celan nicht nur praktiziert [...], sondern von einem bestimmten Zeitpunkt an auch konterkariert wurde durch sein Bedürfnis, sich gegen Verleumdungen und förmliche Plagiatsvorwürfe abzusichern, so ist das sans doute eine sehr interessante und der philologischen Bemühung um sein Werk in ihrem Nebeneffekt, der sorgfältigen Konservierung der Belege für den Arbeitsvorgang willkommene, aber gewiß auch sehr spezielle Kombination des logisch Unvereinbaren, der poetischen Tilgung der Spuren der thematischen Herkunft mit der genauen Dokumentation des Arbeitsprozesses. Nur, dass eben in einer voll entwickelten Text-Genetik gar nicht das Interesse an jener thematischen Herkunft, sondern das an der Bewegung des Gedichts in seinem Zu-sichselber-Kommen im Vordergrund stehen muß.31
Einen Blick dafür, dass sich bei Celan das Gestikulatorische des Gedichts und die Schärfe seiner Wahrnehmung erst im Durchgang durch die konkreten Bezüge und also gegenseitig erhellen, hat Allemann nicht mehr entwickeln kön____________ 30
31
Für die Überlassung seines die Bonner Celan-Ausgabe betreffenden Briefwechsels mit Gisèle Celan-Lestrange und dem Suhrkamp Verlag bin ich Jean Bollack zu großem Dank verpflichtet, auch wenn die Lektüre des Dossiers für den ehemaligen Mitarbeiter der Bonner Celan-Ausgabe nicht eben angenehm war. Jean Bollacks Geste belegt aber deutlich, dass die Auseinandersetzungen über Leistungen und Versäumnisse Allemanns bei der Konzeption und Durchführung der Ausgabe inzwischen in ein sachliches Stadium eingetreten sind. Bücher 1994 (Anm. 21), S. 338.
Beda Allemann
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nen: der Zeitbegriff Heideggers und sein Verdikt32 gegen die Datierbarkeit des Gedichts mögen ihn verstellt haben.33 Gleichzeitig war Allemann darum bemüht, das Inkommensurable der Dichtung Celans als Phänomen seines Sprachgebrauchs zu verstehen. Auf dieser Ebene hat er häufig über Aufgaben des Kommentars und seine Grenzen nachgedacht und diese in Vorträgen formuliert, oft mehr in Frageform als in der eines strukturierten Konzepts.
____________ 32
33
Vgl. zu diesem Zusammenhang meinen Versuch, den Begriff des Datums bei Celan von Heideggers Auffassung abzugrenzen: Axel Gellhaus: Das Datum des Gedichts. Textgeschichte und Geschichtlichkeit des Textes bei Celan. In: Lesarten 1996 (Anm. 27), S. 177–196. Dieser Beitrag war zugleich das programmatische Bekenntnis zu der Notwendigkeit einer umfassenden Kommentierung der Referenzen im Werk Celans. Dass es bei der Verwischung der Spuren nicht um eine Hermetisierung geht, sondern eine Bewegung des Textes, die Paul Celan selbst als ‚qualitativen Wechsel‘ bezeichnet hat, und dass die genaue Dokumentation des Arbeitsprozesses damit nicht logisch unvereinbar ist, verstehen wir heute besser. Ein Sammelband zur Textgenese bei Celan versucht dieser Frage nachzugehen: Qualitativer Wechsel. Textgenese bei Paul Celan. Hrsg. von Axel Gellhaus und Karin Herrmann. Würzburg 2010.
Personenregister
Abarbanell, Bettina 225 Abs, Hermann Josef 278 Adam, Wolfgang 211 Adler, Emil 94 Adorno, Theodor W. 157, 290 f. Aesop (Aisopos) 3 Albertsen, Elisabeth 273 Albrecht, Monika 253, 271 Albrecht, Wolfgang 5, 13 Aler, Jan 288 Alewyn, Richard 287 Allemann, Beda XV, 209, 216, 287– 299 Alpers, Paul 44, 46 f., 51 f. Alt, Peter-André VIII Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 21 Amann, Klaus 251, 259 Anscombe, G. E. M. 253 Anz, Thomas 153, 199 Apel, Friedmar 67 Apel, Karl Otto 292 Arendt, Hannah 222, 226, 238 f. Aristarch(os) 10 Aristophanes 70 Aristoteles 219 Arnim, Bettina von 95 Arnold, Günter 93–112, 117, 140, 144 Arnolt (Priester) 151 Arntzen, Helmut 253, 271 f., 274 Aspetsberger, Friedbert 263, 284 Auerbach, Erich 68 August von Sachsen-Gotha-Altenburg 104 Augusta von Preußen (geb. von Sachsen-Weimar-Eisenach) 79, 104 f.
Avian(i)us 3 Bach, Hans 189 Bachér, Ingrid 273 Bachmann, Ingeborg 253, 271, 290 Backmann, Magnus 176 Backmann, Reinhold 167–179, 197 Baeck, Leo 224 f. Barner, Wilfried 193, 195, 208, 216 Barthes, Roland 14 Bartsch, Karl 54, 60, 63 Bauer, Elke Monika 14 Bausinger, Wilhelm 272, 274, 276 f., 280, 282 Beck, Adolf 193f., 208, 211, 215 f. Bédier, Joseph 11 Beese, Henriette 297 Beethoven, Ludwig van 151 Beetz, Manfred 35 Behrend, Friedrich (auch: Fritz) 49, 51f., 55, 123 Bein, Thomas 1–15 Beise, Arnd 235 Beißner, Friedrich XV, 122, 125, 154, 163, 191–217, 230 f., 234, 273 f., 289, 293–296 Bellermann, Ludwig 103, 132 Benecke, Georg Friedrich XI, 2–4, 7, 9, 45, 143 Benjamin, Walter 154, 290 Benn, Gottfried 256, 293 Bennewitz, Ingrid 15 Berend, Eduard 54, 181–189 Berger, Arnold 144 Berghahn, Winfried 272 Bergk, Theodor 101
302 Bergold, Albrecht 192 Bermann-Fischer (Verlag) 268 Bernays, Isaak 71 Bernays, Louise (geb. Rübke, verw. Uhde) 71, 79 Bernays, Michael XV, 30–34, 41, 54, 67–91, 144 Beutler, Ernst XV Beyschlag, Willibald 102 Bezold, Friedrich von 20–22 Bickel, Ernst 224 Bieber, Hugo 124, 187 Biedermann, Woldemar von 41, 95 Binder, Wolfgang 215, 293 Birus, Hendrik 67 f. Bismarck, Otto von 33, 134 Bluhm, Lothar XI, 49, 65 Blume, F. 4 Blumenbach, Johann Friedrich 147 Blumenthal, Lieselotte 213, 216 f. Boden, Petra 6, 213 Bodmer, Martin 293 Böckh, August 19, 24–26, 28, 102, 115 Böckmann, Paul 294 Bödeker, Hans Erich VIII Böhlau (Verlag) 192 Boehlich, Walter 272 Böhm, Hermann 171 Böhm, Wilhelm 154 f. Böschenstein, Bernhard 294 Bohnenkamp, Anne 32 Bohnenkamp, Klaus E. 154 Bollack, Jean 287, 291, 297 f. Bolte, Johannes 45 Bonhoeffer, Thomas 292 Bonk, Magdalena 69 f. Bothe, Henning 154 f., 161 f. Bourdieu, Pierre VIII, XIII, 18, 20, 129, 275 Boxberger, Robert 63 Brackert, Helmut 4 Brandis, Tilo 8 Brant, Sebastian 37, 54 f. Braun, Friedrich 135 Braun, Helmut 273
Personenregister Braune, Wilhelm 138 Brentano, Clemens 289 Brice, William C. 219 Brinkmann, Karl Gustav von 147 Brockhaus (Verlag) 53 Brod, Max 253 Bröcker, Walter 294 Brüggemann, Friederike 192 Brunner, Horst 4 Brutus, Decimus Iunius Albinus 79 Buck, Theo 29, 232 Bücher, Rolf 14, 287, 294, 296–298 Büchner, Georg 235, 292 Bürger, Gottfried August 53, 144 Bumke, Joachim 4 Burchardi, Laura 11 Burdach, Konrad 10, 114, 117, 124, 129, 133, 136f., 139, 147, 149, 233, 236 Burdorf, Dieter 155, 161, 164, 193 Burkhardt, Karl August Hugo 152 Busch, Alexander 20, 23 Buttmann, Philipp 3 Carl Alexander von Sachsen-WeimarEisenach 81, 99, 101, 140 Caselmann, August 184 Cassius, Gajus Longinus 79 Castellani, Arrigo 11 Castle, Eduard 175 Catull, Gaius Valerius 3 Celan, Paul 14, 287–299 Celan-Lestrange, Gisèle 297 f. Cepl-Kaufmann, Gertrude 5 Cerquiglini, Bernard 14 Cervantes Saavedra, Miguel de 70 Christian Albrecht von SchleswigHolstein-Gottorf 67 Claudius, Matthias 184, 188 Clemen, Otto 132 Conze, Alexander Christian Leopold 101 Corino, Karl 251, 269, 273, 276 f., 279 Cormeau, Christoph 4 Corneille, Pierre 69 f.
Personenregister Cotta, Carl von 58 Cotta (Verlag) 27, 53, 58, 61, 71, 75– 78, 85, 106, 108 f., 118 Crous, Ernst 25 Curtius, Ernst Robert 68 Dahlmann, Friedrich Christoph 45, 130 Dahms, Rudolf 107 Dahnke, Dietrich 193, 213, 232 Danneberg, Lutz 49, 209 Dannhauer, Heinz-Martin 193 Dante Alighieri 82 Danzel, Theodor Wilhelm 27, 74 David, Claude 288 De Gruyter (Verlag) 227 Dedner, Burghard 43, 235 Deetjen, Werner 58 Denecke, Ludwig 45 f. Deneke, Otto 130, 147 Detering, Heinrich 32 Dewey 238 Dilthey, Wilhelm 42, 68, 89, 143, 149, 154, 199 f., 205 Dinklage, Karl 273, 276 Dostojewski, Anna Grigorjewna Snitkina 261 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 261 Driesch, Carl 44 Dubielzig, Uwe 222 Düntzer, Heinrich X, XV, 17–42, 74, 80, 109 Düwel, Klaus 141 Dunken, Gerhard 147 Duval, Frédéric 11 Ebert, Fritz 233 Echte, Bernhard 253 Eckel, Winfried 294 Eder, Annemarie 15 Ehlermann, Ludwig 52 Ehrenfels, Imma von 159, 161 Ehrlich, Lothar 221 Eibl, Karl 85, 263, 282, 284
303 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich 21 Ellissen, A. 58, 144 Elster, Elisabeth 141 Elster, Ernst 137, 141 Emminghaus, Maria 121 Emundts-Trill, Petra 20 Endermann, Heinz 13 Engler, Helmut 193 Enzensberger, Hans Magnus 276 Erdmann, Johann Eduard 101 Ernst August von Hannover 47 Ettmüller, Ludwig 50 Fabian, Fritz 223 Fabian, Helene (geb. Grumach) 223 Falkenstein, Johann Paul von 72 Fanta, Walter 251–285 Feilchenfeld, Konrad 68 Fetz, Bernhard VII, 171 Fick, Monika 5 Fiebig, Nils 141 Fischart, Johann 51, 53, 56 Fischer-Lamberg, Hanna 85, 144, 232 f. Flach, Willy 220 f. Flashar, Hellmut 24, 222, 224 Förster 50 Fohrmann, Jürgen IX, 6, 22, 26f., 49, 102 Forster, Georg 132, 141, 149, 151 Fränkel, Hermann 203, 212 Francke, August Hermann 102 Frank, Horst Joachim 138 Frerking, Johann 187 Frey, Theophil 198, 204 Fricke, Gerhard 192, 194, 212 f. Fricke, Harald 133 Friedeburg, Ludwig von 134 Friedlaender, Paul 224 Friedrich II. der Große 104, 151 Friedrich Wilhelm III. 19–21, 115, 131, 288 Friemel, Berthold 129 f. Frindt, Andrea X, 194 Frings, Theodor 234, 237
304 Frisé, Adolf X, XV, 251–285, 292 Frisé, Maria 251, 285 Fröhlich, Katharina 171 Frühwald, Wolfgang 278, 282, 285 Fuchs, Richard 224 f. Gärtner, Marcus 214 Gaier, Ulrich 191, 202 Ganz, Peter F. 4 Gardt, Andreas 195 Gebhardt, Peter von 105 Geibel, Emanuel 47–49, 51, 53 Geiger, Ludwig 82 f., 103 Gellhaus, Axel 14, 287–299 Gengenbach, Pamphilius 53, 55 Georg II. August von Hannover 45 George, Stefan 141, 153–156, 161, 204 f. Gerhardt, Carl Immanuel 103 Gerhardt, Paul 53 Gerlach, Klaus 113–127 Germann, Dietrich 131, 137 Gervinus, Georg Gottfried 22, 45, 71, 130, 183 f. Gide, André 258 Gildemeister, Otto 72 f. Girard, René 41 Giuriato, Davide 168 Gladt, Karl 175 f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 126 Glesgen, Martin-Dietrich 14 Gockel, Heinz 145 Goebbels, Joseph 178 Göchhausen, Familie von 98 Goedeke, Karl 19, 43–66, 75 f., 106, 144, 231 Goeschen, Georg Joachim 31, 33, 151 Goeschen, I. F. L. 3 f. Goethe, Johann Wolfgang von 3, 17– 19, 21–23, 25–42, 53, 63f., 67 f., 73, 76–88, 91, 93–101, 103–105, 107–112, 116–118, 121–124, 126, 132, 139–141, 144 f., 151 f., 156, 192, 199, 201–203, 209 f., 212 f., 216 f., 219–249, 289 f., 295, 298 Goethe, Walther von 77, 94
Personenregister Goethe, Wolfgang von 77 Gött, Emil 135 Göttling, Karl Wilhelm 108, 230 Göttsche, Dirk 253, 271 Götze, Alfred 212 Goetze, Edmund 55–57 Goeze, Johann Melchior 133 Golz, Jochen 17, 95, 121 f., 221 Gottschall, Rudolf 60 f. Gottsched, Johann Christoph 87 Gradmann, Christoph IX Gräf, Hans Gerhard 101 Graff 50 Grillparzer, Franz 167–179, 197 Grimm, Herman 95, 97, 100 Grimm, Jacob XI, 2, 5 f., 9–11, 27, 44–53, 55–58, 63, 88, 102, 113, 130–133, 136 f., 143, 147, 149, 151 f. Grimm, Wilhelm XI, 2, 5, 9 f., 27, 44– 46, 48–51, 55, 88, 95, 102, 114, 130, 132 f., 136 f., 143, 147, 149, 151 f. Grond, Agnes 15 Grothe, Ewald XI Grumach, Ernst 35, 93, 219–249 Grumach, Friederike (geb. Mendelssohn) 223, 225 Grumach, Margarete (geb. Breuer) 224, 238 Grumach, Nathan 223 Grumach, Renate (geb. Fischer-Lamberg) 240 Gryphius, Andreas 48 f. Günther, Werner 154 Gundolf, Friedrich 68, 157 f., 205, 254 Hagen, Friedrich Heinrich von der 7, 9 f., 50 Hagen, Josephine von der (geb. Reynack) 10 Hagen, Waltraud 35, 58, 113, 191, 210, 230, 232, 241, 243 Hahn, Heinrich Wilhelm 52 Hahn, Karl-Heinz 58, 65, 235 f. Hahn, Reinhard 130
Personenregister Hamacher, Bernd 30, 67–91 Hamann, Johann Georg 83 Hamburger, Käte 206 Hardenberg, Carl August von 10 Harder, Richard 224 Hartke, Werner 234, 237 Hartmann von Aue 3 f., 7, 30, 50, 151 f. Hasenpflug, Kristina 68 Haubrichs, Wolfgang 202 Haufe, Eberhard 213 Hauff, Hermann 36 Haupt, Moriz 3, 5, 9, 50, 54, 96, 102, 109 Haustein, Jens 13, 131, 133, 136–138, 142–144 Hay, Louis 14 Haydn, Joseph 151 Haym, Rudolf 100, 105 Hecker, Jutta 140 Hecker, Max 101 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19 Heidegger, Martin 154, 224 f., 288– 293, 299 Heidenreich, Bernd XI Heine, Heinrich 132, 141, 196 f., 216 Heinse, Wilhelm 132, 151 Hellingrath, Norbert von 153–165, 197 f., 203–205, 209 Hempel, Gustav 19, 32, 35, 95 Hempel-Küter, Christa X Herder, Johann Gottfried 19, 83, 93– 96, 101, 103–112, 117, 144, 151 Herder, Johann Gottfried von 105 Herder, Rinaldo von 105 Herder, Wilhelm Gottfried von 109 Herkenhoff, Michael 25 Hermand, Jost 212 Hermann, Johann Gottfried Jakob 24, 28 Herrmann, Hans Peter 194 Herrmann, Karin 299 Hertz, Martin 2 Herz 67 Hettner, Hermann 72 Heusler, Andreas 135–137, 141
305 Heydebrand, Renate von 41, 279 Heyne, Christian Gottlob 109, 151 Heyne, Moritz 44, 63, 116 Heyse, Paul 78, 83, 100, 151 Hilsenbeck, D. 184 Himburg, Christian Friedrich 31 f., 76, 245 Hirzel, Salomon 28 f., 32, 73, 84 f., 144 Hitler, Adolf 178, 257 Hock, Stefan 175 Hölderlin, Friedrich 9, 14, 122, 153– 165, 192–198, 203–216, 240, 254, 274, 288–290, 293 f., 296 f. Höppner, Wolfgang 38, 49, 201 Hoffmann, Christhard 225 Hoffmann, Christoph 168 Hoffmann, Dierk O. 160, 193 Hoffmann, Otto 100, 107 Hoffmann, Paul 154 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 49–52, 55 f. Hoffmann-Krayer, Eduard 136 f. Hofmannsthal, Hugo von 153 Hofmeister, Wernfried 4, 14 f. Hofmeister-Winter, Andrea 4 Holtzhauer, Helmut 58, 65, 236 Homer 25f., 67, 224, 244 Homeyer, Fritz 124f. Honemann, Volker 8 Hoops, Johannes 136 Hopkins, Johns 125 Horaz (Quintius Horatius Flaccus) 24 Horch, Hans Otto 193 Huber, Ludwig Ferdinand 151 Huber, Therese 151 Hübner, Arthur 139 Hüllmann, Karl Dietrich 25 Hugo von Montfort 14 f. Huitfeldt, Claus 253 Humboldt, Alexander von 151, 222 Humboldt, Caroline von (geb. von Dacheröden) 152 Humboldt, Wilhelm von 20, 37, 59, 102, 130–132, 143, 146 f., 151 f., 222
306 Hunfeld, Barbara 181–189 Hurlebusch, Klaus 43, 59–61, 64 f., 194, 197, 210 Imelmann, Johannes 103, 107 Irmer, Dieter 2 Irmscher, Hans Dietrich 93 f. Irmscher, Johannes 223 Jacob, Herbert 44, 46, 52, 54, 63 Jacob, Marianne 46, 52 Jacobsen, August 100, 107 Jacoby, Felix 224 Jacoby, Yoran K. 223 Jäger, Ludwig 213 Jannidis, Fotis 85 Janota, Johannes 13 Janssen, Matthias 44 Jaspers, Karl 224 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 181–189 Jeep, E. 44, 63 Jensen, Inge 113, 191, 232 Joch, Markus XIII Jonas, Fritz 103, 142 Joost, Ulrich 43–46, 48 f., 52, 55, 129–152 Jouhandeau, Marcel 258 Judersleben, Jörg 137 Jung, Alexander 255 Jung, C. G. 273 Jurt, Joseph XIII Kafka, Franz 14, 196, 200–202, 206, 253, 290, 292 f. Kahlefendt, Nils 155, 193, 214 Kaiser, Diethelm 294 Kaiser, Ernst 272 f., 276 f., 279, 281, 285 Kaiser, Gerhard 214 Kaiser, Max 179 Kammer, Manfred 193 Kamzelak, Roland S. XV Kannes, Eva 265 Kant, Immanuel 104, 225 Kanzog, Klaus 58
Personenregister Karajan, Theodor von 3 Karl der Große 150 Kastberger, Klaus 167–179 Kassel, Rudolf 219 Kauffmann, Friedrich 136 f. Kaulen, Heinrich 154 f., 158, 163 Kayser, Wolfgang 195 Keller, Adelbert von 50, 53 f. Keller, Gottfried 132, 289 Keller, Werner 196, 200 Kelletat, Alfred 155, 215, 293 Kesser, Armin 276 Kessler, Harry Graf 153 Kierkegaard, Sören 225 Killy, Leo 214 Killy, Walther 204, 214 Kindt, Tom 199 f. Kirchhoff, Adolf 102 Kirschstein, Hans 44 Klages, Ludwig 153 Klausnitzer, Ralf 49, 199 f., 209 Klein, Christian VII f., XIII Kleist, Heinrich von 58, 290, 293 Klemperer, Victor 139 Klenze, Clemens August Carl 3 Klinger, Friedrich Maximilian 205 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 63, 151, 211 Klotz, Christian Adolf 90 Kluckhohn, Paul 206 Kluge, Friedrich 136 Knebel, Hermann 67 Knebel, Karl Ludwig von 29, 151 Knickmann, Hanne 182, 184–186 Kober, A. 209 Koch, Erduin Julius 6 Koch, Franz 212 Koch, Max 88 Koch, Olaf 67 Köhler, Reinhold 58, 100, 104 König, Christoph X, 2, 19, 30, 44, 54, 74, 179, 193–195, 205, 291 König, Wilhelm 37 Köpke, K. 11 Körner, Christian Gottfried 62, 75, 147, 213
Personenregister Köster, Lolli 141 Kohler, Maria 191 Kohm, Josef 171 Kolk, Rainer IX, 27, 48 f. Koltes, Manfred A. 122 Kommerell, Max 68, 212 Kopp, Detlev 102 Kopp-Bellmann (Verlag) 172 Kotzebue, August von 40 f., 151 Koschel, Christine 253 Kraft, Herbert 58, 61 f., 64 Kraus, Carl von 4 f., 13 Kraus, Karl 140 Kraus, Manfred 224 Kreisky, Bruno 278 Kreutzer, Hans Joachim 58–60, 63, 65 Kreuzer, Johann 193 Kruckis, Hans-Martin IX, 17, 19–21, 26 f., 38 Kürschner, Joseph 19 Kugler, Hartmut 6 Kunisch, Hermann 233 Kurrelmeyer, Wilhelm 123, 125 Kurz, Gerhard 68, 154 Kurz, Heinrich 63 Lachmann, Eduard 294 Lachmann, Karl XI, XV, 1–15, 21, 26, 28, 30f., 34, 37, 48, 50, 64, 96, 102, 106, 113, 130, 133, 136 f., 144, 148, 151, 160, 252 Lämmert, Eberhard 88, 117, 205 f. Landrock, Rudolf 220, 237 Lange, Wilhelm 156 Laufer, Christel 210, 241 Lavater, Johann Kaspar 29 Lawitschka, Valérie 154 Lebsanft, Franz 14 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria 263– 279, 281 f. Lehmann, Hartmut 213 Leibniz, Gottfried Wilhelm 101, 103 Leitner, Erich 115f., 117 Leitzmann, Albert 10, 129–152 Leitzmann, Carl Hermann 151 f.
307 Leitzmann, Elisabeth (geb. Naumann) 151 Leitzmann, Else (geb. Altwasser) 140f., 143, 152 Leitzmann, Hermann 152 Lelke, Ina XI, 49 Lenz, Max 21 Lepper, Marcel 195 Lessing, Gotthold Ephraim 1, 3–6, 8, 13–15, 19, 34, 37, 64, 69, 83, 89, 106, 116, 126, 144, 148 Leyen, Friedrich von der 154 f., 158 Lichtenberg, Christian Wilhelm 145 Lichtenberg, Georg Christoph 130, 132 f., 144–147, 149, 151 Lichtenberg, Georg Christoph (Sohn) 145 Lichtenberg, Ludwig Christian 144 Liliencron, Rochus von 87 Linden, Walther 184 f. Litzmann, Carl 159 Loeper, Gustav von 27, 31, 33, 39, 41 f., 78, 80, 95, 97 f., 121 Lohr (-Jasperneite), Andreas 14, 294, 297 Lohrer, Lieselotte B. 58 Lohse, Nikolaus 294 Lucilius, Gaius 3 Ludwig der Fromme 150 Ludwig II. von Bayern 70 Ludwig IX. von Bayern 69 Lücke, Friedrich 11 Lüdeke, Heinrich 204 Lüdtke, Alf 20 Lueger, Karl 171 Lugowski, Klemens 212 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 3 Luther, Martin 56, 132, 151 Lutz-Hensel, Magdalene X f., 2 Machnik, Georg 13 Mänike & Jahn (Druckerei) 153 Maier, Hans Albert 231, 234–236, 239 Mallarmé, Stéphane 293 Maltzahn, Wendelin von 5, 75
308 Mandelkow, Karl Robert 31 Manger, Klaus 13 Mann, Heinrich 34 Mann, Thomas 222, 262 Mannheim, Karl 134 Marcilius 2 Marcovaldi, Enrico 262 Marcovaldi, Gaetano 261–263, 269, 274 f., 277 Marie Reuß zu Köstritz (geb. von Sachsen-Weimar-Eisenach) 80 f. Marlitt, Eugenie 140 Martens, Gunter 62, 197, 216, 235 Martens, Wolfgang 53 Martus, Steffen XI Marx, Karl 291 Maßmann, Hans Ferdinand 50 Matthiesen, Michael 213 Mautner, Franz Heinrich 145 Maximilian I. Joseph von Bayern 69 Mayer, Hans 272 Mayer, Thomas Michael 235 Meier, John 136 Mettke, Heinz 13 Metzger, Stefan 193, 209 Meusebach, Karl Hartwig Gregor von 9, 11, 49 Meves, Uwe IX, 2, 22, 30, 130, 138 Mewaldt, Johannes 224 Meyer (Verlag) 144, 223 Meyer, Conrad Ferdinand 61, 194, 197, 206, 215 f., 279, 296 Meyer, Estella 141 Meyer, Heinrich 182, 184 Meyer, Joachim 75 Meyer, Joseph 144, 223 Meyer, Richard M. 17, 23, 41, 69, 89 f., 137, 139–141 Michel, Wilhelm 158 Michels, Victor 142 Minor, Jacob 74, 81, 117, 124 Mittner, Ladislao 154 Moering, Renate 68 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 69 Mommsen, Katharina 239 Mommsen, Momme 239
Personenregister Mommsen, Theodor 24, 100, 105 Mone, Franz Joseph 50 Morlang, Werner 253 Morris, Max 84 f., 144, 245 Moser, Hugo 5, 197 Motschmann, Uta 210, 241 Müldener, Wilhelm 58 Müllenhoff, Karl 7, 51, 96, 102, 131, 137, 144, 149 Müller, Friedrich (Maler Müller) 116 Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von (Kanzler) 240 Müller, Georg (Verlag) 153 Müller, Günther 203, 206, 220 Müller, Hans-Harald X, 2, 30, 42, 54, 66, 74, 195, 199 f., 214 Müller, Jan-Dirk 4, 6 Müller, Johann Georg 109, 111 Müller, Johannes von 103, 109, 111 Müller, Joseph 185 Müller, Karl Otfried 45 Müller, Klaus-Detlef 67 Müller, Ulrich 15 Muncker, Franz 5, 13, 64, 71, 79, 88, 158, 186 Musil, Martha 257, 259–262, 264, 266, 268 Musil, Robert 251–285, 290 Nadler, Josef 119, 177, 207 f., 212 Naeke, August Ferdinand 25 Nahler, Edith 113, 191, 232 Nahler, Horst 113, 191, 232 Napoleon 2, 102, 294 Naumann, Ernst 107 Nedos, Michael 253 Neidhart von Reuenthal 15 Neske (Verlag) 293 Nesselrath, Heinz-Günther 219 Neuhaus-Koch, Ariane 5 Nicolai, Christoph Friedrich 3 Nietzsche, Friedrich 22, 66, 141, 291 Nottscheid, Mirko 42, 74 Nünning, Ansgar VIII
309
Personenregister Nutt-Kofoth, Rüdiger VII, XV, 5, 19, 31, 37, 39, 43 f., 55, 58, 61 f., 64 f., 88, 117, 160, 167, 191–217, 241 Oehlenschläger, Eckart 290 Oellers, Norbert 193–195, 211, 216 f. Oelmann, Ute 193 Oesterley, Hermann 58 Oettingen, Wolfgang von 108 Oexle, Otto Gerhard 213 Oppermann, H. A. O. 45 Osterkamp, Ernst 205 Ott, Ulrich 193 Otto, Regine 232 Paul, Hermann 135–138, 157 f., 160 Pellegrini, Alessandro 154 Perels, Christoph 68 Peter I. der Große 103 Petersen, Julius 125, 186–188, 191 f., 194, 201, 204, 209, 212 f., 217 Petersen, Leiva 192, 196 Petrarca, Francesco 24 Pfannmüller, Ludwig 124 Pfeiffer, Franz 50 Pfeiffer, Rudolf 24 Pichler, Alois 253 Pieger, Bruno 155, 158 f., 161, 193 Pigenot, Ludwig von 155 f., 160, 197, 294 Pindar 155–158, 203, 205 Plachta, Bodo VII, XV, 5, 19, 43, 55, 58, 60, 65, 117, 160, 167, 193 f., 219–249 Planck, Max 213 Platen, August von 45 Platon 68 Pöthe, Angelika 130 Pongs, Hermann 212 Prass, Reiner 20 Promies, Wolfgang 146 Properz (Propertius), Sextus 3 Proust, Marcel 258 Puttkamer, Robert von 134 f. Pyritz, Hans X
Quint, Josef 196 f. Raabe, Paul 17, 53, 121, 123 Racine, Jean 70 Radloff, Johann Gottlieb 9 f. Rädle, Karin 55 Ranisch, Wilhelm 141 Rasch, Wolfdietrich 272, 276 Reclam (Verlag) 37 Redlich, Karl 95, 100, 106 f. Reed, Terence James 29 Rehm, Walther 194, 207, 212 Reiher, Ruth 102 Reitani, Luigi 153–165 Requadt, Paul 147 Reuß, Roland 14, 253 Rhee, Rush 253 Ribbeck, O. 22 Richter, Myriam 71, 74, 141 Richter, Werner 88, 117 Ricklefs, Ulfert 43, 197 Riehm, Eduard 101 Rilke, Rainer Maria 154, 206, 208, 290, 292 f. Rindtorff, Erna 152 Rist, Johann 53 Ritschl, Friedrich 21–23, 25 f., 41 Rockenberger, Annika 43 Rodenberg, Julius 100, 104, 107, 112 Röcke, Werner X, 2, 30, 54, 74, 195 Röcken, Per 28, 43–66 Römholdt, Johannes 53 Roethe, Gustav 44, 129, 131, 135– 139, 142, 149 Rollet, Edwin 175 Roloff, Hans-Gert 18, 37, 42 f., 62, 194 Rosenberg, Alfred 238, 259 Rosenberg, Rainer XIII, 95, 213 Rosenthal, Anne F. 261–263, 266 f., 270, 274 f. Rosenthal, Otto 275–277 Rossade, Klaus-Dieter X Roth, Marie-Louise 275–277, 279 f. Rowohlt (Verlag) 255, 260 f., 264– 266, 268, 273–275, 277–280
310 Rowohlt, Ernst 257, 261 f., 264 Rudorff, K. L. A. 4 Rüdinger, Karl 293 Rümpler, Carl 51 Rüter, Eugen 193 Runge, Anita VII Runge, Catrin 67 Ruprecht, Dorothea 129 Russer, Achim XIII Sachs, Hans 45, 53, 56 f. Salomon, Betty (geb. Grumach) 223 Saran, Franz 136 Sattler, D. E. 9, 14, 163, 198, 296 Sauer, August 117, 137, 142, 169– 177, 185 Sauer, Hedda 141 Sauppe, Hermann 58 Schade, Oskar 50 f., 56 Schadewald, Wolfgang 220–222, 224, 227 f. Schauer, Hans 105 Schede, Hans-Georg XI Scheibe, Siegfried 126 f., 210, 216, 231, 233, 235, 237, 241 f. Scheichl, Sigurd Paul 173 f. Scheler, Werner 220 Scherer, Wilhelm 27, 30 f., 37–39, 41f., 62 f., 69 f., 73 f., 76, 78 f., 81 f., 87–89, 95 f., 114–121, 125, 131, 136 f., 140 f., 199–201 Schernhagen, Johann Andreas 147 Schidorsky, Dov 226 Schiller, Friedrich 19, 35–37, 43, 46– 49, 53 f., 57–65, 73, 75 f., 95, 97– 101, 104–108, 112, 116f., 121, 132, 140, 142, 144, 151 f., 155, 192– 194, 201, 212–214, 216 f., 220 f., 231, 235 Schilling, Diana 58 Schlegel, August Wilhelm 21, 25, 73, 143 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 24, 149 Schletter 50 Schlosser, Johann Georg 151
Personenregister Schlott, Michael 30, 33, 69, 74 Schmidt, Erich 31, 68, 70 f., 78–83, 88–90, 95–98, 113, 115–122, 124– 126, 136 f., 141, 144, 149, 201 Schmidt, Jochen 154 f., 195 Schmidt, Peter 232 Schnabel, Gudrun 194, 213 Schneider, Hermann 206 Schöll, Adolf 31, 33, 100, 104 f. Schönberger, Ute 5 Scholem, Gershom 226 Scholz, Sylka 18 Schröder, Edward 44, 48, 53f., 116, 117 f., 129, 131, 135–139, 142, 149 Schröder, Werner 4, 13 Schröder-Werle, Renate 275 Schroll, Anton (Verlag) 174 f. Schüddekopf, Carl 101, 146 Schützeichel, Rudolf 197 Schuffels, Klaus 193 Schulte, Joachim 253 Schultheß, Anna Barbara 232 f. Schultheß, Barbara (geb. Wolf) 232 f. Schwartz, Daniel R. 225 Schweiger, Hannes VII f. Schweighäuser, Johann Gottfried 147 Schweitzer, Bernhard 227 Schwibs, Bernd XIII Seebaß, Friedrich 153, 158–160, 197 f. Seelbach, Ulrich 55 Seelig, Carl 253 Seemann, Hellmut Th. 140 Seidel, Siegfried 217 Seiffert, Hans Werner 127, 163, 203 Seuffert, Bernhard 68, 82, 95, 113– 127, 191 Seuffert, Margarethe 125 Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal de 127 Shakespeare, William 69 f., 73, 82, 123, 205, 297 Shirun-Grumach, Irene 223, 225 Sievers, Eduard 136 Siewerts, Ute 45, 48 Simmel, Georg 153
311
Personenregister Simrock, Karl 27, 72 Simson, Eduard von 100, 104 Sippel-Amon, Birgit 28, 58 Sokolowski, Wassili D. 221 Solms, Wilhelm 235 Sommer, Andreas Urs 66 Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach 29, 64, 78–81, 94–100, 108, 116– 118, 144 f., 202, 220, 228 f., 236 Sophokles 69, 203 Specht, Ladislaus 100 Specht, Pauline 100 f. Spechtler, Franz Viktor 15 Spinoza, Baruch de 104 Spitzer, Leo 68 Spoerhase, Carlos 200 Spoerri, Theophil 289 Stackmann, Karl 129, 197 Stadler, Ernst 123 f. Staengle, Peter 253 Staerk, Wilhelm 139 Staiger, Emil 188, 195, 287–289, 291, 295 Stammler, Wolfgang 184, 188 Stark, Michael 153 Statius, Publius Papinius 2 Staub, Martial 213 Steig, Reinhold 107 Steiner, Rudolf 100 f. Steinitz, Wolfgang 237 f. Stichling, Luise (geb. Herder) 96 Stichling, Theodor 96 f., 104 f. Stichnote, Werner E. 227 Stingelin, Martin 168 Stölting, Adolf 47, 51 Stolz, Michael 4, 15 Strauss, Herbert A. 225 f., 238 Strauß, Salomon 197 Streitfeld, Erwin 115 Strobel, Jochen 17–42 Strohschneider, Peter 14 Stroux, Johannes 227 Struck, Gustav 47–49, 51 Suerbaum, Werner 222 Suhrkamp (Verlag) 276, 290 f., 298
Suphan, Bernhard 68, 80, 93–112, 117, 120, 140, 144, 229 Suphan, Hermann 99 Suphan, Ludwig 99 Suphan, Martin 99 Suphan, Meta 99 Susman, Margarete 188 Sybel, Heinrich von 25 Szondi, Peter 288, 290 f., 294 f., 297 Tacitus, Publius Cornelius 79 Terenz (Terentius), Publius 3 Tervooren, Helmut 5 Tetzlaff, Walter 223 Teubner (Verlag) 227 Thurneysen, Rudolf 136 Tibull, Albius 2 f. Tieck, Ludwig 119 Tilp, Berndt 19, 30 Timpanaro, Sebastiano 2 Tittmann, Julius 53 Troeltzsch, Ernst 224 Tuitje, Heinrich 130 Uhde-Bernays, Hermann 69 f., 73, 84 Uhland, Ludwig 34, 50, 130 Ulrich von Lichtenstein 3 Unger, Rudolf 199, 205 Unseld, Siegfried 297 Vahlen, Johannes 2 f. Valk, Thorsten 140 Varnhagen von Ense, Karl August 19, 23 f., 34 f. Vering, Eva-Maria 235 Vierhaus, Rudolf 96 Viëtor, Karl 194, 201, 204, 207, 212, 215 Vigolo, Giorgio 154 Vliet, H. T. M. van 55 Vöhler, Martin 194 Vogel, Doris 193 Vogt, Ernst 24, 222 Vogt, Friedrich 5 Vogt, Sabine 222
312 Volke, Werner 155, 191, 193, 202, 214 Vollmer, Wilhelm 58 Vonhoff, Gert 58 Voretzsch, Karl 136 Voß, Johann Heinrich 151 Voßkamp, Wilhelm IX, 22, 26 f., 49, 102 Voßler, Karl 135, 139 Wackernagel, Wilhelm 50 Wägenbaur, Birgit X, 194 Wagenknecht, Christian 140 Wagner, Fritz 45, 48 Wahl, Volker 221 Wahle, Julius 58, 101 Waldberg, Max von 117 Waldis, Burkard 53 Waldmann, Friederike 141 Waleczek, Lioba 193, 208, 215 Walser, Martin 201, 206 Walser, Robert 253 Walther von der Vogelweide 1, 3 f., 132 Walzel, Oskar 132 Wegener, Philipp 152 Wegmann, Nikolaus 26 Wehler, Hans-Ulrich 134 f., 139 Weichselbaumer, Ruth 15 Weidenbaum, Inge von 253 Weidl, Erhard 202 Weidmannsche Buchhandlung 105, 125 Weigel, Harald XI, 3, 11 Weilen, Alexander von 117 Weimar, Klaus IX, 21, 27 f., 37, 65 Weinhold, Karl 44 f., 48–52, 55 Weismann, Willi 262 Welcker, Friedrich Gottlieb 24–26 Wenig, Otto 19 Wertheimer, Jürgen 154 Weygand 50 White, Hayden VIII Wieland, Charlotte 121
Personenregister Wieland, Christoph Martin 95, 113, 115f., 118–127, 152, 191–193, 196, 201–203, 209, 212 Wieland, Ludwig 121 Wiese, Benno von X, 195, 213, 216 f. Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von 149 Wildenbruch, Ernst von 100 Wilhelm I. 104, 110 Wilhelm II. 135, 139 Wilhelm Ernst von Sachsen-WeimarEisenach 99, 101 Wilkins, Eithne 272–274, 276 f., 279, 281 Willems, Marianne 85 Winckelmann, Johann Joachim 104 Windfuhr, Manfred 5, 196 f., 210, 216 Winko, Simone 40 f. Wirth, Günter 222–226, 238 Witkowski, Georg X, 58, 62 f., 67 f., 74, 88 f., 141, 167, 186, 197 Witkowski, Petronella (geb. Pleyte) X, 141 Witte, Bernd 232 Wittgenstein, Ludwig 253, 290 Wölfflin, Heinrich 153 Woesler, Winfried 5, 43, 64 Wolf, Friedrich August 24 Wolf, K. Lothar 232 Wolf, Norbert Christian XIII Wolff, Ludwig 4 Wolfram von Eschenbach 3 f., 132– 134, 143, 151 Wolfskehl, Karl 155 f., 158 Wordsworth, William 67 Wreszinsky, Walter 224 Wüllner 88 Wyss, Ulrich 6, 131 Zacher, Julius 74–76, 102–104, 109 Zäch, Alfred 194 Zahlmann, Stefan 18 Zanetti, Sandro 168 Zarncke, Friedrich 37, 50, 54–56, 71 f., 102 Zastrau, Alfred 35, 230
Personenregister Zelle, Carsten 194 Zeller, Bernhard 192 f. Zeller, Hans 43, 60, 62, 65, 167, 194, 196 f., 209 f., 215 f., 235, 275, 279– 282, 285, 295 f. Zelter, Carl Friedrich 202, 295 Zenodot 10 Ziegler, Winfried 4
313 Zils, Harald 160, 193 Zimmermann, Eberhard August 151 Zimmermann, Hans 193 Zinkernagel, Franz 160–162, 164, 197 f., 203 f., 212 Zolling, Theophil 82 Zweig, Stefan 153 Zwerschina, Hermann 55