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German Pages 486 Year 2018
Julia A. Schmidt-Funke, Matthias Schnettger (Hg.) Neue Stadtgeschichte(n)
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 31
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Julia A. Schmidt-Funke, Matthias Schnettger (Hg.)
Neue Stadtgeschichte(n) Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich
Gefördert mit Mitteln des Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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Inhalt
Vorwort...........................................................................................
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Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung............................................................ Gerd Schwerhoff
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Grenzen und Räume intra muros Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt. Regulierung durch Präsenz und Sichtbarkeit............................. Joachim Eibach Sichtbare Grenzen. Katholiken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt.................................. Matthias Schnettger Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge............... Andreas Hansert
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Wahrnehmungen (in) der Stadt Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt – eine Herausforderung für die Stadtgeschichte der Frühen Neuzeit........................................................................ 139 Philip Hahn Der »Central-Platz« Frankfurt. Die Reichsstadt als kulturelles Zentrum in der literarisch-publizistischen Öffentlichkeit ......... Marina Stalljohann-Schemme
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Franco furtum, Furtum franco. Zur Bedingtheit von J. Chr. Senckenbergs Wahrnehmung der reichsstädtischen Eliten........................................................ 223 Vera Faßhauer
Stadt und Markt Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt in kulturwissenschaftlicher Perspektive .................................... 255 Philip Hoffmann-Rehnitz Markt, Nahrung und der Kampf um Anerkennung. Das Frankfurter Handwerk im 17./18. Jahrhundert ................... 295 Robert Brandt Die Stadt als Konsumgemeinschaft. Urbaner Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main....... 331 Julia A. Schmidt-Funke
Extra muros – städtische Aussenbeziehungen Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb. Schützenfeste als Ausdruck der Konkurrenz im Heiligen Römischen Reich ......................................................................... 369 Jean-Dominique Delle Luche
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit. Patronage, Zeremoniell, Korrespondenz ................................... André Krischer
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Habsburgs Rückkehr – die Frankfurter Konfliktlandschaft im Spannungsfeld kaiserlich-preußischer Rivalität ....................... 427 Thomas Lau Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort.................................... 451 Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger Autorinnen und Autoren............................................................... 463 Personenregister...........................................................................
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Ortsregister....................................................................................
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Vorwort
Dieser Band geht auf die Tagung »Frühneuzeitliche Stadtgeschichte und die Herausforderung der turns. Frankfurt am Main im Vergleich« zurück, die am 19. und 20. Juni 2015 in Mainz stattfand. Wir freuen uns, dass die meisten Referentinnen und Referenten uns ihre überarbeiteten Manuskripte zur Verfügung gestellt haben und dass es uns gelungen ist, mit den Texten von Marina Stalljohann-Schemme und Jean-Dominique Delle Luche zwei weitere Beiträge einzuwerben, die aktuelle Zugänge zur Frankfurter sowie allgemein zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte eröffnen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, dass sie sich auf das Konzept unseres Kolloquiums und unseres Sammelbandes eingelassen und unsere Kommentare und Anregungen für die Drucklegung so offen aufgenommen haben. Wir haben uns dafür entschieden, den Band statt mit einer klassischen Einleitung aus eigener Feder mit dem Beitrag von Gerd Schwerhoff zu eröffnen. Sein Problemaufriss beschreibt klar und souverän die aktuelle Forschungslage im Bereich der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, auf deren kulturwissenschaftliche Herausforderungen wir mit unserer Tagung reagieren wollten. Wie die von den verschiedenen Turns aufgeworfenen Fragen von der stadtgeschichtlichen Forschung produktiv aufgegriffen werden können, zeigen die zwölf Beiträge des nun vorliegenden Bandes in vier Sektionen, die um inner- und außerstädtische Räume und Beziehungen, um städtische Märkte und urbane Wahrnehmungen kreisen. Auch wenn dabei die Reichsstadt Frankfurt im Zentrum steht, werfen viele der Beiträge einen vergleichenden Blick auf die Städtelandschaft des Alten Reiches. Unser Nachwort unternimmt es, die zentralen Ergebnisse dieses Bandes zu bündeln und zugleich Perspektiven für die weitere Erforschung Frankfurts und anderer Städte im frühneuzeitlichen Reich zu entwickeln. Wir hoffen, dass wir auf diese Weise dem doppelten Ziel dieses Bandes, der zugleich eine Bestandsaufnahme und einen eigenen Forschungsbeitrag leisten möchte, möglichst nahekommen. 9
Neue Stadtgeschichte(n)
Wir danken dem Mainzer Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, der durch seine großzügige finanzielle Förderung Tagung und Sammelband ermöglicht hat, sowie dem Kooperationspartner unseres Kolloquiums, dem Frankfurter Institut für Stadtgeschichte und seiner Leiterin Evelyn Brockhoff. Unser Dank gilt zudem Gero Wierichs vom transcript Verlag, der unser Buchprojekt kompetent und geduldig betreute. Das Team des Arbeitsbereichs Neuere Geschichte des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität hat uns bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Tagung tatkräftig unterstützt. Namentlich seien hier genannt Jan Turinski, der das Gros der organisatorischen Arbeit geschultert hat, und Carolin Katzer, die die formale Bearbeitung der Manuskripte für diesen Sammelband übernommen hat. Ihnen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Jena/Mainz, im November 2017 Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger
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Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung* Gerd Schwerhoff (I.) Die Geschichte der Stadt in der Frühen Neuzeit wird seit langer Zeit und aus vielen Blickrichtungen geschrieben. Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass es eine Frühneuzeitliche Stadtgeschichte in demselben Sinn gibt wie eine Mittelalterliche Stadtgeschichte bzw. dass eine neuzeitliche Bürgertums- oder eine Urbanisierungsgeschichte existiert: als ein identifizierbares und abgrenzbares disziplinäres Feld mit einem eigenen oder sogar eigenständigen Profil, vielleicht mit eigenen Paradigmen, Methoden und Zugängen, jedenfalls als ein Forschungsfeld, dem sich eine historische community mit einer gewissen Emphase zuordnet. Zweifellos hat dieser Befund etwas damit zu tun, dass das Forschungsobjekt, die Stadt in der Frühen Neuzeit, vielfach keine spontane Begeisterung weckt. Bestenfalls wird sie – im Anschluss an das Diktum Winfried Schulzes von der Frühen Neuzeit als »Epoche des Übergangs« – als ein transitorisches Phänomen betrachtet. So sprach Klaus Gerteis in seinem Pionierwerk aus dem Jahr 1986 von der Doppelgesichtigkeit der deutschen frühneuzeitlichen *
Der Text ist eine (auch vor dem Hintergrund der anschließenden Diskussion) revidierte und erweiterte Version des Abendvortrags »Gibt es eine frühneuzeitliche Stadtgeschichte?«, den ich am 19. Juni 2015 auf der Mainzer Tagung gehalten habe. Dabei soll diese Standortbestimmung keinen umfangreichen Forschungsbericht ersetzen, entsprechend selektiv sind die bibliographischen Angaben gehalten. Dass der Fokus auf der deutschsprachigen Forschung liegt, ist evident, eine komparative Betrachtung verschiedener nationaler Historiographien wäre hochinteressant, würde aber eine völlige Verschiebung der Perspektive bedeuten. – Für Kommentare und weiterführende Hinweise danke ich Sebastian Frenzel und Eric Piltz. Schulze, 1993, S. 10. 11
Gerd Schwerhoff
Stadt zwischen Erstarrung und Stagnation einerseits, historischem Wandel andererseits, und resümierte: »Nicht, dass wir […] der Stadtgeschichte in dieser Epoche ihre Eigenständigkeit absprechen wollten. […] Man wird aber der Übergangssituation nicht gerecht, wenn man neben der mittelalterlichen Stadt und der modernen Stadt einen dritten vollkommen eigenständigen Typus für die Frühe Neuzeit konstruieren will. Eine Mehrzahl der Elemente der mittelalterlichen Stadt blieb auch für die folgenden Jahrhunderte in vielen Bereichen bestehen.«1
Noch skeptischer fiel das Urteil von Karl Vocelka aus, der in einem Überblick zu den Leistungen und Defiziten der österreichischen Stadtgeschichtsforschung zur frühneuzeitlichen Epoche im Jahr 2000 konstatierte: »Grundsätzlich muss man feststellen, dass bei der Erforschung der Stadtgeschichte die Frühe Neuzeit gegenüber anderen Epochen eine untergeordnete Rolle spielte und spielt.«2 Vocelka untermauerte dieses Urteil mit dem Hinweis auf den Verfall bzw. Niedergang der Städte in der damaligen Zeit. Man kann diese Perspektive als ein fernes Echo auf jenes einflussreiche Portrait der German Home Towns verstehen, das Mack Walker vor fast einem halben Jahrhundert zeichnete, jener kleineren Reichsstädte vornehmlich des Südwestens, die sich in ihrer traditionalen Lebenswelt eingerichtet hatten und deren Zünfte, orientiert am Ideal der gerechten Nahrung, jeglicher Innovation gegenüber feindlich eingestellt waren – eine Interpretation, die in Wehlers Gesellschaftsgeschichte noch einmal die höheren Weihen erhielt.3 Dabei verband sich diese Rückständigkeit nicht unbedingt mit einer begrenzten Bevölkerungszahl, denn mit der Reichsstadt Köln war es nach den Maßstäben der Zeit (immer noch) eine Großstadt, die den Reisenden im Ancien Régime ebenso wie modernen Historikern als der Inbegriff der Rückwärtsgewandtheit erschien bzw. erscheint: »An die vorwaltenden Tendenzen der Zeit fand die Stadt […] keinen Anschluss mehr. Sie wurde rückständig.«4 Es könnte also so scheinen, als entspräche dem nach Heinz Stoob sprichwörtlichen frühneuzeitlichen Städtetal, das dem Gründungsboom des hohen und 1 2 3
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Gerteis, 1986, S. 3. Vocelka, 2000, S. 24. Walker, 1971; vgl. Friedrichs, 2014, S. 488-495. – Die Zusammenfassung des städtischen Niedergangs, ganz wesentlich auf der Grundlage von Walker (»[…] eines der besten Bücher eines gebürtigen Amerikaners zur deutschen Geschichte […]«) bei Wehler, 1987, S. 191 bzw. S. 601, Anm. 82. Bergerhausen, 2010, S. 375; vgl. differenzierend Schwerhoff, 2017.
Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn
späten Mittelalters nachfolgte bzw. das der Urbanisierung im Gefolge der industriellen Revolution vorausging, eine Art von Forschungstal.5 Von einem solchen Tiefpunkt der Forschung ist allerdings heute nicht mehr die Rede, nimmt man das viel optimistischere Bild zum Maßstab, das Peter Johanek 2011 im Rahmen eines großen Bilanz-Kongresses zur Städteforschung für die zurückliegenden 20 Jahre zeichnete: Es gebe durchaus eine Einheit dieser zwei Dezennien, so reflektierte Johanek, und sie erschöpfe sich keineswegs in der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen nach dem Systemumbruch von 1989. Vielmehr manifestiere sich die Veränderung in einem enormen Geländegewinn der Frühneuzeit. Wo früher eine unbestrittene Domäne der Mediävistik gelegen habe, hätten die Frühneuzeitler nun quantitativ völlig aufgeholt. Damit verbunden gewesen sei eine konzeptuelle Neuausrichtung, denn »ganz offensichtlich hat die Frühneuzeitforschung die neuen Zugänge, die die Geschichtswissenschaft erschlossen hat und die zumeist mit dem Terminus turn bezeichnet werden, noch entschlossener genutzt als die mediävistische Forschung.«6 (II.) Schauen wir uns die Entwicklung der stadthistorischen Forschungslandschaft, wie sie mit den bisher zitierten Urteilen grob umrissen wurde, genauer an. Für den Befund, dass lange Zeit die mediävistische gegenüber der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung dominierte, gibt es viele stützende Indikatoren. Greifen wir nur die übergreifenden Gesamtdarstellungen in deutscher Sprache heraus. Von Hans Planitz’ und Edith Ennens klassischen Werken bis hin zu jüngeren Überblicken von Felicitas Schmieder, Bernd Fuhrmann, Frank Hirschmann und Manfred Groten könnte man eine lange Genealogie aufmachen. Auch Frühneuzeithistoriker – da bin ich sicher nicht alleine – greifen gerne zum monumentalen Handbuch von Eberhard Isenmann über die deutsche Stadt im Spätmittelalter, erst recht, seit das ursprünglich 1988 erschienene Werk 2012 in einer über 1.100 Seiten umfassenden Neuausgabe erschien, die nun bereits im Titel bis ins Jahr 1550 ausgreift und damit die Reformationszeit mit einbezieht, faktisch sogar häufig das gesamte 16. Jahrhundert umfasst.7 5 6
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Stoob, 1970, S. 246-284. Dass das Niedergangs-Narrativ bereits in der Frühneuzeit selbst seine Wurzeln hat, zeigt Hoffmann-Rehnitz, 2008. Johanek, 2013, S. 304, 311. Für die österreichische Geschichtsforschung ergibt sich nach den Recherchen von Opll im Übrigen ein ähnliches Bild, wobei er das relative Gewicht der Frühneuzeit auf deren Quellenreichtum zurückführt: Opll, 2013, S. 360. Isenmann, 2012. 13
Gerd Schwerhoff
Die deutsche Frühneuzeitforschung hatte und hat dem nichts Adäquates entgegenzusetzen. Die um die Jahrtausendwende beim Fischer-Verlag in der Reihe Europäische Geschichte angekündigte Monographie Stadtwelten. Urbane Lebensformen in der Frühen Neuzeit aus der Feder von Günther Lottes ist leider nie erschienen. Natürlich, es gibt das bereits erwähnte Pionierwerk von Gerteis, dessen nüchterne und zuverlässige Darstellung bis heute ihren Wert nicht verloren hat. Und es bleiben einige Darstellungen in etablierten Einführungsreihen. Die Enzyklopädie Deutscher Geschichte hat bekanntlich gleich zwei im Angebot. Da ist zum einen Bernd Roecks zuerst 1991 publizierter Überblick zu Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit, der zwar auch das Erscheinungsbild und die materielle Kultur der Stadt einbezieht, ansonsten aber eher kaleidoskopartig Alltag und Kleidung, Bildung und Kunst des Bürgertums behandelt; dieses definiert er zwar als rechtlich privilegiertes Stadtbürgertum, er ist aber doch vor allem an den städtischen Ober- und Mittelschichten als »Träger bestimmter Kulturformen« interessiert.8 Daneben war reichlich Platz für einen eigenen Band Die Stadt in der Frühen Neuzeit, den der Verfasser Heinz Schilling 1993 vorlegte.9 Gewohnt thesenstark und bereit zur Zuspitzung setzte er weniger auf enzyklopädische Vollständigkeit denn auf starke Akzente, wobei vor allem Staatsbildung, Reformation und Konfessionalisierung sowie Urbanisierung als Stichworte zu nennen sind – ich komme später darauf zurück. Neueren Datums ist das 2006 in der Reihe Geschichte kompakt der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch von Ulrich Rosseaux über Städte in der Frühen Neuzeit, das sich, anders als der Titel suggeriert, auf deutsche Städte beschränkt.10 Es zeichnet sich durch einen umfassenden Zugriff und die Integration neuer Aspekte wie etwa der Umweltgeschichte aus, ersetzt aber aufgrund des knappen Raumes und seiner – dem wenig überzeugenden Konzept der Gesamtreihe geschuldeten – Enthaltsamkeit in Bezug auf Forschungsorientierung und wissenschaftlichen Apparat keine umfassendere Darstellung. Anders verhält es sich mit Herbert Knittlers zur Jahrtausendwende erschienenem Überblick zur europäischen Stadt in der frühen Neuzeit.11 Den Anspruch eines weiten räumlichen Zugriffs löst dieses Werk tatsächlich in weiten Teilen in imponierender Weise ein, beschränkt sich aber andererseits sehr stark auf die Sozial- und Wirtschafts-, auch auf die Politikgeschichte. Damit bildet es die im Jahr 2000 8 9
Roeck, 2011, S. 3. Schilling, 1993; jetzt in der 3., um einen Nachtrag erweiterte Auflage und mit Stefan Ehrenpreis als Ko-Autor, Berlin/Boston 2015. 10 Rosseaux, 2006. 11 Knittler, 2000. 14
Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn
doch schon eingeleitete kulturgeschichtliche Wende so gut wie überhaupt nicht ab. So ist man für einen wirklich abgewogenen Zugang zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte seit zwei Jahrzehnten auf die englischsprachige Darstellung von Christopher Friedrichs über The Early Modern City 1450-1750 verwiesen, ein Glücksfall insofern, als er als ausgewiesener Spezialist für Städte im Alten Reich die einschlägige deutsche Literatur neben die englische und französische stellen kann.12 Noch größer ist die thematische Breite allenfalls bei dem neuesten Überblick in französischer Sprache von Olivier Zeller, in dem die deutsche Städtelandschaft allerdings nur bescheidenen Raum einnimmt.13 Ein anderer möglicher Indikator für die epochalen Schwerpunkte der deutschsprachigen Stadtgeschichtsforschung ist die jeweilige Ausrichtung der seit 1976 erscheinenden Reihe des Münsteraner Instituts für vergleichende Städtegeschichte. Eine relative Mehrheit der insgesamt fast 90 Bände ist dem Mittelalter gewidmet (nämlich 28 Bände), deutlich weniger der Frühen Neuzeit (12), ebenso viele übrigens wie dem 19. und 20. Jahrhundert. Signifikant aber erscheint stärker noch die Tatsache, dass sehr viele unter den Monographien und Sammelbänden der Reihe beide Epochen abdecken, nämlich 21 Bände; die restlichen Bände enthalten Beiträge vom Mittelalter bis in die Moderne und haben z.T. einen Schwerpunkt in Methodenfragen. Dabei liegt der Anteil der übergreifenden Mittelalter- und Frühneuzeitbände eigentlich noch höher, berücksichtigt man, dass in einigen epochenübergreifenden Bänden der Anteil der Aufsätze zur späteren Neuzeit eher marginal ist. Die vormoderne Stadt wird hier also häufig als eine Einheit gesehen. Fast programmatisch erscheint der erste Band, der seinerzeit unter der Herausgeberschaft von Franz Petri den Bischofs- und Kathedralstädten des Mittelalters und der frühen Neuzeit galt.14 Ein ähnlicher Befund würde sich ergeben, wertete man die bald 40 Tagungsbände des seit den 1960er Jahren aktiven Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung aus. Diese Bände trugen zwar lange durchaus programmatisch-systematische Titel (Stadt und … Universität, Revolution, Repräsentation etc.); bis heute haben sie überdies einen dezidiert epochenübergreifenden Anspruch. Doch eine nähere inhaltliche Analyse erweist auch hier einen deutlichen Schwerpunkt auf dem Späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit.15 12 Friedrichs, 1995. 13 Zeller, 2012; vgl. aber schon Le Roy Ladurie, 1998. 14 www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte/Forschung/ReiheStForschung_detail. html#Anker_1, 12.08.2016. 15 www.stadtgeschichtsforschung.de/publikationen.htm, 12.08.2016. 15
Gerd Schwerhoff
(III.) Dieser die beiden vormodernen Epochen übergreifende Ansatz darf als ein Charakteristikum der Stadtgeschichte gelten, zumal und vor allem der deutschsprachigen. Sichtbar wird hier die Stadt als eine Lebenswelt langer Dauer, die vom Hochmittelalter bis zur Sattelzeit von großen Kontinuitäten gekennzeichnet war. Zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert wurden in vielen Städten Strukturen geschaffen, etwa in Hinblick auf die Ratsherrschaft und die Ämterstruktur, auf die Rechtsinstanzen und die Zünfte, die jahrhundertelang die städtische Gesellschaft bestimmten. Der Kölner Verbundbrief z.B. wurde als eine Art Grundgesetz der Reichsstadt Köln 1396 geschaffen und bestimmte die politische Landkarte des Gemeinwesens ziemlich genau 400 Jahre lang, obwohl die dort festgeschriebenen Kräfteverhältnisse zwischen den Korporationen längst überholt waren.16 Dabei ist die Gattung dieses Schriftstücks, die Urkunde, ein eher schlecht gewähltes Beispiel für die das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit überspannende Gemeinsamkeit in Bezug auf die Quellen. Hier wären ein Ratsprotokoll, eine Stadtrechnung oder ein Amtsbuch die wohl angemesseneren Repräsentanten jenes Aktenzeitalters, das in der Stadt seine erste charakteristische Ausprägung fand.17 Was in diesen Beispielen aufscheint, sind Strukturen langer Dauer, jener longue durée, die seit Fernand Braudel unter Historikern fast sprichwörtlich ist. Im deutschen Kontext freilich verbindet sich mit jener das spätere Mittelalter und die Frühe Neuzeit überwölbenden Zeitspanne ein anderes Konzept: Alteuropa. Als – je nach Gusto – Alternative oder Ergänzung zum Epochenkonzept der Frühen Neuzeit hat sich dieser Ansatz nie wirklich durchgesetzt, ist aber bis in jüngste Zeit hinein in der Diskussion.18 Die mangelnde Durchsetzung ist dem ideologischen Ballast geschuldet, der dem Konzept insbesondere in der Fassung von Otto Brunner inhärent ist. Dass das Konzept dagegen immer noch in der Diskussion ist, hat damit zu tun, dass es offenkundig einige Aspekte geschichtswissenschaftlichen Arbeitens angemessen abbildet und die herkömmliche Epochentrias produktiv herausfordert. Interessant ist dabei jene Spielart des Konzeptes, die der Verfassungshistoriker Dietrich Gerhard seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. In dessen Zentrum standen vor allem Institutionen langer Dauer, die das Abendland geprägt hätten, solche wie Papsttum und Klöster, Adel, Rittertum und König, Universitäten und Stände, und eben die Städte – Institutionen, die allesamt seit dem 11./12. Jahrhundert schärfere Ausgestaltung erfuhren und die – über die Zäsur um 1500 hinaus – bis ins 18. 16 Schwerhoff, 2017, S. 112ff. 17 Vgl. am Beispiel der Kriminalquellen Schwerhoff, 1999, S. 27ff. 18 Blickle, 2008; Jaser, 2012, darin speziell Schwerhoff, 2012. 16
Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn
Jahrhundert hinein prägend blieben, ohne sich Wandlungsphänomenen zu verschließen. In der Praxis freilich blieb Alteuropa oft ein nicht eingelöstes Versprechen, wie Barbara Stollberg-Rilinger als gegenwärtige Herausgeberin jener Zeitschrift für Historische Forschung aufgezeigt hat, die seit 1974 angetreten war, als gemeinsames Forum für Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung beide Perspektiven zusammenzuführen. Nur eine kleine Minderheit von Beiträgen überspannte die Epochenschwelle tatsächlich, die große Masse schrieb und trieb auch in der ZHF weiterhin mittelalterliche oder frühneuzeitliche Geschichte.19 Natürlich modifizierte sich dieser Befund etwas, wenn man die Historiographie zu einzelnen Institutionen in den Blick nähme, etwa die Ständeforschung oder die Universitätsgeschichte. Allerdings scheinen mir hier die epochentypischen Aspekte die epochenübergreifenden meist zu überwiegen: So stand die Geschichte des frühneuzeitlichen Ständewesens lange im Banne des Paradigmas Absolutismus, und die Geschichte der frühneuzeitlichen Universität wurde stark von epochenspezifischen Aspekten wie der Konfessionalisierung bzw. der Aufklärung her gedacht. So bleibt die Stadtgeschichte vielleicht nicht das einzige, aber doch das mit Abstand wichtigste abgrenzbare Arbeitsfeld, das stark von einer alteuropäischen Perspektive bestimmt wird und dieser umgekehrt eine gewisse Legitimität verleiht.20 Eine erste Antwort auf die Frage nach einer frühneuzeitlichen Stadtgeschichte im emphatischen Sinn könnte also lauten: Sie existiert nicht, weil eine alteuropäische Stadtgeschichte in vielerlei Hinsicht den wissenschaftlich angemesseneren Rahmen abgibt. Freilich war und ist dieser Rahmen kaum geeignet, für die Geschichte der frühneuzeitlichen Stadt ein Potential für neue, alternative Forschungsperspektiven und -narrative zu eröffnen. Auch und gerade unter dem alteuropäischen Dach klebt der Ruch des Niedergangs hartnäckig an ihr. Stets bildet die mittelalterliche Stadt die helle Folie, vor deren Hintergrund sich der Verfall im Verlauf der Frühen Neuzeit umso deutlicher abzeichnet: Stadtgründungen hie, Minderstädte (Heinz Stoob) und Städtetal dort; Autonomie hie, Disziplinierung (oder freundlicher: beauftragte Selbstverwaltung) dort; handwerkliche und kaufmännische Innovation hie, zünftische Enge dort. Gegenüber den innovativen Tendenzen mittelalterlicher Urbanität, der revolutionären Erhebung gegen den Stadtherren und der Etablierung einer konsensgestützten Herrschaft auf Zeit, der rechtlichen Absicherung der Freiheit des Eigentums, der Aufwer19 Stollberg-Rilinger, 2012, S. 47-58. 20 Bewusst lasse ich hier die Landes- und Regionalgeschichte außen vor, die ihr Selbstverständnis (»In Grenzen unbegrenzt«, Ludwig Petry) ja gerade aus transepochaler Zuständigkeit bei eingeschränktem regionalen Fokus bezieht. 17
Gerd Schwerhoff
tung der Handarbeit und den Anfängen des Kapitalismus bliebe der frühneuzeitlichen Stadt lediglich die Epigonenrolle, während der Wind des Fortschritts anderswo wehte, politisch beim entstehenden Staat, wirtschaftlich auf dem Land in der Protoindustrie. Aus dieser Perspektive erschiene Alteuropa weniger als Verheißung transepochaler Zusammenarbeit, sondern vielmehr als Besiegelung einer sehr ungleichen Zwangspartnerschaft im Sinne einer Verlängerung der mittelalterlichen Stadtgeschichte in die Neuzeit hinein.21 (IV.) Nun bedarf dieses strahlende Bild der mittelalterlichen Stadtgeschichte zweifellos einer historisch-kritischen Einordnung. Sie ist, worauf Historiker wie Klaus Schreiner und Peter Johanek eindringlich hingewiesen haben, eine Erbin der bürgerlichen Historiographie des langen 19. Jahrhunderts. Für diese Historiographie stellte die Stadt des Mittelalters einen in höchstem Maße identitätsstiftenden Bezugspunkt dar, wo sich Freiheitsdrang, Unternehmensgeist und Gewerbefleiß verdichteten. Oder in den bekannten Worten von Johann Gottfried Herder, der 1791 ganz präsentisch über das Mittelalter schrieb: »Die Städte sind in Europa gleichsam stehende Heerlager der Cultur, Werkstätten des Fleißes und der Anfang einer besseren Staatshaushaltung geworden, ohne welches dieses Land noch eine Wüste wäre.«22 Eine solche Hypostasierung der mittelalterlichen Stadt ist in der Mediävistik der letzten Jahrzehnte vielfach kritisch bzw. selbstkritisch reflektiert worden. Das betrifft ihre ideologischen Prämissen ebenso wie ihre Konzentration auf die rechtliche und politische Verfassung. Kaum jemand vertritt noch bedingungslos eine solche fortschrittsorientierte Auffassung über die Stadt. Ein Stadthistoriker wie der bereits erwähnte Eberhard Isenmann, der unverdrossen und natürlich mit ernsthaften Argumenten die Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters verteidigt, wirkt da auf den ersten Blick als Ausnahme, die die Regel bestätigt.23 Aber eigentlich, so wäre meine These, ist er damit nicht alleine. Ob ausdrücklich oder eher implizit, das Bild von der Stadt als fortschrittlicher, zukunftsweisender Lebenswelt bleibt bis heute ein wichtiger Spender von Bedeutung und Legitimation für die Stadtgeschichte, gleichsam ihr identitärer Kern, auch wenn dieser Kern vielleicht heute nicht mehr so heiß glüht wie vor Jahrzehnten. Als Beleg für die dauerhafte Bannkraft dieser Art von Verfassungsgeschichte sei an einige Untersuchungsfelder erinnert, wo sie auch für die jüngere Frühneuzeitforschung eine virulente 21 Groten, 2013, S. 14: »Die Darstellung endet um 1500. […] Es ist aber hervorzuheben, dass die Zeit um 1500 in der deutschen Stadtgeschichte keine Zäsur markiert.« 22 Zitiert nach Schreiner, 1985, S. 518; vgl. auch Johanek, 2012. 23 Am pointiertesten Isenmann, 2005; vgl. Ders., 2012, S. 24f. 18
Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn
Rolle spielte. Da war etwa das Paradigma Stadt und Reformation, als dessen Leitparole jenes Wort von Arthur Dickens von der Reformation als urban event diente und als dessen Leitpublikation Bernd Moellers Reichsstadt und Reformation (1962) angesehen werden kann, der von einer Konvergenz zwischen den bürgerlichen Gemeinschaftsvorstellungen und -werten einerseits, den theologischen Leitwerten der Reformatoren andererseits ausging.24 Und da waren die Entwürfe Heinz Schillings und die Arbeiten der Bielefelder Bürgertumsforscher um Klaus Schreiner und Ulrich Meier, in denen die alten Fragestellungen in den zeitgemäßen Horizont einer politischen Kultur gerückt werden sollten.25 Schilling versuchte, einen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Republikanismus in der Stadt dingfest zu machen, der auch einen Brückenschlag zur späteren bürgerlichen Gesellschaft möglich machen sollte; und Ulrich Meier skizzierte gegenüber früheren, anachronistischen Verzeichnungen einer mittelalterlichen Demokratie weichere Partizipationsformen einer konsensgestützten Herrschaft als Eigenheit der vormodernen Stadt. Derlei Ansätze sind bis heute nicht obsolet. Freilich darf nicht unterschlagen werden, dass sie gerade in Hinblick auf die postulierte Exklusivität der Stadt in Frage gestellt worden sind. Peter Blickle hat bekanntlich darauf insistiert, dass in der Reformation der Gemeine Mann übergreifend in Stadt und Land mobilisiert worden war. Und mit dem Konzept der akzeptanzorientierten Herrschaft hat Stefan Brakensiek im frühneuzeitlichen Territorialstaat ähnliche Mitwirkungsmechanismen ausgemacht wie Meier und Co. in der Stadt.26 Die genannten Arbeiten von Heinz Schilling und der Bielefelder Forschungsgruppe um Klaus Schreiner stehen für einen Forschungsstrang, in dessen Mittelpunkt Stadtgeschichte als Bürgertumsforschung gleichsam vom Mittelalter her betrieben wurde. Gleichzeitig gab es eine verwandte Forschungsbewegung von der späteren Neuzeit her, die gleichsam nach den Wurzeln des modernen Bürgertums in der Vormoderne fragte. Dabei war die deutsche Bürgertumsforschung um die Jahrtausendwende geprägt vom Dualismus zwischen der Bielefelder und der Frankfurter Schule. Die von Jürgen Kocka aus der Taufe gehobene Bielefelder Richtung ging dabei – sieht man von den eben genannten Arbeiten der Schreiner-Gruppe ab – entschieden vom modernen Befund aus und fragte nach der Vergesellschaftung mittlerer gesellschaftlicher Gruppen (der Gebildeten, der Beamten, der Unternehmer, eventuell der kleinen Kaufleute und Handwerker) 24 Schilling, 1993, S. 95. 25 Schilling, 1988; Meier /Schreiner, 1994. 26 Vgl. zu Blickle kritisch Schilling, 1993, S. 89f.; Brakensiek, 2009. 19
Gerd Schwerhoff
zur neuen Großformation Bürgertum.27 Die Stadt spielte dabei zwar als eine Arena einschlägiger Fallstudien eine gewisse Rolle, doch auch hier stand weniger die Übergangsphase der Sattelzeit als das 19. Jahrhundert sui generis im Mittelpunkt, als Konstituierungsfaktor für einen neuen kulturellen Habitus, der sich etwa in distinktivem Kunstgenuss und gemeinsinnigem Stiftungswesen ausdrückte.28 Anders die Frankfurter Schule Lothar Galls, der es zentral um »die Frage nach der Rolle der Stadt und speziell des städtischen Bürgertums innerhalb des säkularen Modernisierungsprozesses von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert« zu tun war.29 Allerdings schleift sich der vor der Hand dramatisch erscheinende Gegensatz zwischen Bielefeld und Frankfurt aus Perspektive der Frühneuzeitforschung schnell ab: Die Arbeiten beider Schulen fragen dezidiert von der Moderne her, starten meist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und blenden die Jahrhunderte vorher aus. Gerade dadurch wird der Eindruck einer statischen Vormoderne erweckt, die dann in der Sattelzeit in Bewegung geriet.30 Erschien die frühneuzeitliche Stadtgeschichte aus mittelalterlicher Sicht als Epoche des Niedergangs und Verfalls, so wurde sie aus der Perspektive der späteren Neuzeit auf ihre – mehr oder minder bedeutsame – Funktion als Vorgeschichte der modernen bürgerlichen Welt reduziert, wie es ja bereits im Untertitel des Buches von Klaus Gerteis anklang. (V.) Konnte die harte Sozialgeschichte einen Ausweg aus den überkommenen Fixierungen der Stadtgeschichte bieten? Immerhin war diese Stadtgeschichte im Vergleich zur historiographischen Landschaft insgesamt ja schon länger eine Domäne der Sozialgeschichte (wie auch einer Wirtschaftsgeschichte) gewesen. So wurde der verfassungsgeschichtliche Mainstream sozialgeschichtlich fundiert und damit zugleich auch ein wenig gebrochen, indem etwa auf die sozialen Ursachen für die Forderungen nach politischer Partizipation in der spätmittel-
27 Zusammenfassend Lundgreen, 2000, wobei dieser Band auch die produktiven Fortentwicklungen und Erweiterungen des ursprünglichen Konzeptes dokumentiert. 28 Schmuhl, 2000, S. 245f. 29 Gall, 1993, hier S. 3 der Einleitung. Der systematisch angelegte Band kann pars pro toto für den inzwischen in zahlreichen Monographien zu Einzelstädten ausgeführten Ansatz der Gall-Gruppe stehen. Dabei darf der Gegensatz zwischen Bielefeld und Frankfurt aber nicht überspitzt werden, wie z.B. frühe Arbeiten Paul Noltes zeigen, vgl. etwa: Nolte, 1992. 30 Zur Sattelzeit jetzt Jordan, 2012. 20
Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn
alterlichen Stadt hingewiesen wurde.31 Für eine eigene Frühneuzeitperspektive freilich war damit noch nichts gewonnen. Eine entschieden sozialgeschichtliche Neuorientierung der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte versuchte, soweit ich sehe, erst Heinz Schilling 1993 einzuleiten, der – unbeschadet des von der Reihe Enzyklopädie Deutscher Geschichte vorgegebenen Überblickscharakters – sehr deutliche eigene Akzente setzte. Er zielte auf nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der Erforschung von Stadt und Bürgertum in der Frühen Neuzeit, indem er für eine thematische, auch interdisziplinär inspirierte Verbreiterung der Themenpalette in »strukturgeschichtlicher Perspektive« plädierte.32 Eine Schlüsselfunktion erlangte in seiner Darstellung der Begriff der Urbanisierung im Anschluss an die Arbeiten von Jan de Vries sowie Paul M. Hohenberg und Lynn Hollen Lees. Schilling nimmt den Begriff der Urbanisierung gleichsam als Remedium gegen die wirkmächtige Metapher Heinz Stoobs vom Städtetal der Frühen Neuzeit, also zur Wahrnehmung, dass es gegenüber dem Mittelalter in unserer Epoche vergleichsweise wenig neue Stadtgründungen gegeben habe. Empirisch ergibt sich allerdings das Problem, dass für das frühneuzeitliche Reich im Vergleich zu anderen europäischen Regionen kaum eine große demographische Dynamik nachzuweisen ist, auch, aber nicht nur aufgrund der verheerenden Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges. So legt Schilling den Akzent nicht nur auf demographische Daten, sondern mit Hohenberg/Lees auch auf »behavioural urbanization« als Ausbreitung urbanen Denkens und Verhaltens sowie auf »structural urbanization« als einer stärkeren Vernetzung städtischer Strukturen und Funktionen.33 Die Durchschlagskraft dieses Vorschlags, die Stadtgeschichtsforschung ganz entschlossen auf ein sozialhistorisches Gleis zu setzen, ist schwer zu beurteilen, scheint aber doch – jedenfalls für die Frühneuzeit – eher begrenzt gewesen zu sein.34 Dafür war das vorgeschlagene Programm vielleicht doch inhalt31 Vgl. etwa den klassischen Aufsatz von Erich Maschke über Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des Spätmittelalters, zuerst 1959, zusammen mit anderen einschlägigen Aufsätzen erschienen in Maschke, 1980. 32 Schilling, 1993, S. 55. 33 Schilling, 1993, S. 57f. 34 In epochenübergreifender Perspektive kann das Konzept natürlich eine völlig andere Durchschlagskraft entfalten, vgl. etwa Clark, 2009, der den Versuch unter- nimmt, »to describe and explain the successive advances (and retreats) of urbanization across Europe, from the collapse of the Roman Empire to the end of the twentieth century« (S. 11). Die Frühe Neuzeit erscheint hier als Zeit eines kritischen Übergangs, in der einerseits die Kluft zwischen stark und schwach urbanisierten 21
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lich zu heterogen, und dafür erschien eine strukturgeschichtliche Perspektive in den 1990er Jahren bereits nicht mehr attraktiv genug. Immerhin lag der Vorschlag im Trend einer Ausweitung des forscherischen Blicks über die traditionell stark untersuchten Reichsstädte hinaus. Zwei markante Forschungsarenen stechen hervor: Da ist zum einen der Aufschwung der Kleinstadtforschung, die einem europäischen Trend folgt, die aber eben auch der kleinstädtisch geprägten urbanen Landschaft im Alten Reich Rechnung trägt.35 Bemerkenswert ist zum anderen die Konjunktur der Residenzenforschung, die sich institutionell in der Häutung der alten Residenzenkommission mit ihrem Fokus auf den Hof manifestierte; seit 2012 ist sie als neues Projekt zur Erforschung der Residenzstädte im Alten Reich von 1300 bis 1800 wiederauferstanden.36 Sie entspricht einem tatsächlichen Wandel in der frühneuzeitlichen Städtehierarchie, wie ihn Etienne François beschrieben hat, von den unabhängigen républiques marchandes des Mittelalters hin zu den capitales politiques.37 Auch hier sticht die Eigenheit des Alten Reichs hervor, die eine große Vielfalt zu bieten hatte. Allerdings hatte es, abgesehen von Wien und später Berlin, keine Metropolen im Weltformat zu bieten wie London und Paris, oder auch Neapel, Amsterdam, Lissabon oder Moskau. Eine spezielle frühneuzeitliche Metropolenforschung hat demgemäß hier keinen wirklichen Wurzelgrund, was natürlich nicht bedeutet, dass die deutschsprachige Forschung keine wichtigen Beiträge zu leisten in der Lage wäre.38 Metropolen, Residenzen, Kleinstädte – diese drei Forschungsarenen eint, dass sie eine Fluchtmöglichkeit aus den früheren Niedergangsszenarien aufzeigen: typologische Differenzierung. Nur bestimmte Stadttypen sind nach dieser Betrachtungsweise einem Niedergang unterworfen gewesen, allen voran die früher so stolzen Reichsstädte, während andere eben durchaus von den übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen in demographischer und kultureller Hinsicht profitieren konnten.39
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Räumen starker auseinanderging, andererseits speziellere Stadttypen an die Stelle älterer, multifunktionaler zentraler Orte rückten (S. 109). Keller, 2001; Graef, 2004. Fouquet u.a., 2016. François, 1978. Knittler, 2002. – Attraktiv ist die Metropole London etwa als Paradigma für die Ausprägung frühneuzeitlicher städtischer Öffentlichkeit, vgl. Freist, 2011; Krischer, 2011. Paradigmatisch für diese Linie ebenfalls Schilling, 1993, S. 20ff., S. 66ff. Für die Rolle der Reichsstädte zentral Press, 1987; Hoffmann-Rehnitz, 2008, S. 155.
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Die hier knapp skizzierten sozialhistorischen Forschungsimpulse wirken bis heute, wobei sich neuere empirische Fallstudien aufgrund ihrer Vielschichtigkeit ohnehin kaum sauber einer bestimmten Forschungsrichtung zurechnen lassen. Nehmen wir z.B. die Studie von Michaela Schmölz-Häberlein zur Kleinstadtgesellschaft in Emmendingen.40 Sie geht mit der Erhebung vieler prosopographischer Daten einerseits klassisch sozialhistorische Wege, hat aber mit ihrem Fokus auf Frauen und Männer (die Frauen sind prominenter) einen deutlich kulturgeschichtlichen Anstrich. Sie steht damit für eine Durchdringung von Sozialgeschichte und Kulturgeschichte. Sie steht aber auch dafür, dass die klassische Sozialgeschichte lediglich für ca. zwei kurze Jahrzehnte als dominantes Paradigma ihre Impulse vermitteln konnte, bevor der Cultural Turn seine Wirkkraft entfaltete. Das muss man nicht bedauern, allerdings muss man auch ganz nüchtern die Kosten dieser Entwicklung benennen. Aufwändige demographische Massenuntersuchungen oder gar Familienrekonstitutionen liegen für Deutschland vergleichsweise wenig vor. Dabei – diese Nebenbemerkung sei gestattet – flaute die Konjunktur der Sozialgeschichte genau in dem Moment ab, als mit dem Personalcomputer und effektiver kommerzieller Software die Verheißungen der 1970er und 1980er Jahre in Hinblick auf die Auswertung von Massendaten hätten verwirklicht werden können.41 (VI.) Damit sind wir endgültig bei der Konjunktur der Kulturgeschichte und den verschiedenen Turns seit der letzten Dekade des vorigen Jahrhunderts angekommen. Die Genealogien und Facetten dieses Cultural Turn können hier nicht entfaltet werden, weil ja dessen Effekte auf die Stadtgeschichte im Mittelpunkt stehen sollen.42 Generell scheint es so, dass durch die kulturgeschichtliche Wende die alte Verfassungsgeschichte ebenso wie die schnell ziemlich alt aussehende Sozialgeschichte zwar keineswegs völlig überholt, aber doch vielfach neu gerahmt wurde. Auf dem Feld der Stadtgeschichte erscheint der programmatische Aplomb, mit dem die Kulturgeschichte bzw. die Cultural Turns propagiert wurden, vergleichsweise (und wohltuend) gedämpft angekommen zu sein. Von hegemonialen Attitüden der Kulturgeschichte ist kaum etwas zu erkennen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass derartige Perspektiven in 40 Schmölz-Häberlein, 2012. 41 Pars pro toto sei hier auf die Studien im Umkreis des Mainzer Arbeitskreises für Historische Demographie verwiesen, zu erschließen über Matheus/Rödel, 2000. 42 In Kontext der Geschichtswissenschaft wichtig als programmatisches Manifest zur kulturwissenschaftlichen Wende Daniel, 1997, H. 4, S. 195-218, H. 5, S. 259-278, bzw. später Dies., 2001; für den Cultural Turn Bachmann-Medick, 2010. 23
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der Stadtgeschichte bereits früh, gleichsam avant la lettre, durchaus präsent waren.43 Weiterhin ist zu konstatieren, dass die kulturgeschichtliche Wende bisher in der Stadtgeschichte (wie in der allgemeinen Historiographie) eine segmentär sehr unterschiedliche Prägekraft entwickelt hat. So hat die Kulturgeschichte des Politischen bisher viel tiefere Spuren hinterlassen als die kulturalistische Betrachtung des Ökonomischen, was nicht zuletzt mit den angesprochenen verfassungs- und politikgeschichtlichen Trassen der älteren Stadtgeschichte zusammenhängen dürfte.44 Gegenüber allen älteren Traditionen lässt sich die Stadtgeschichte im Zeitalter des Cultural Turn aber doch in einer besonders markanten Hinsicht klar absetzen: Lebte die alte Stadtgeschichte von ihrem identifizierenden Gestus, der in der vormodernen Bürgerstadt das Vertraute, das auf die Gegenwart Vorausweisende suchte, so setzt die neue Perspektive eindeutig auf Distanzierung und akzentuiert die Fremdheit der vergangenen Lebenswelten. Das entspricht ganz dem Programm einer Kulturgeschichte als einer analytischen Perspektive, die symbolisch vermittelte Sinnzuschreibungen und Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungskonflikte der zeitgenössischen Akteure in den Mittelpunkt stellt.45 Das bedeutet zugleich, ein Phänomen wie die frühneuzeitliche Stadt zunächst einmal als ein Phänomen sui generis untersuchen und verstehen zu wollen, ohne es in modernisierungstheoretischer Verkürzung als Vor- oder Nachgeschichte einzuordnen. Viele Arbeiten der letzten Jahre haben in diesem Sinne gerade die Verfremdung auf die stadtgeschichtliche Agenda gesetzt.46 So zeigte Thomas Weller am Beispiel der Präzedenzkonflikte im frühneuzeitlichen Leipzig, dass in der damaligen Stadt nicht nur der Geist bürgerlicher Rechenhaftigkeit regierte, sondern die Sensibilität für Rang- und Standesunterschiede nicht weniger ausgeprägt war als am barocken Hof.47 Michael Hecht verglich die städtischen 43 Stellvertretend dafür mögen hier die Aufsätze von Wilfried Ehbrecht stehen, gut greifbar in: Ehbrecht, 2001. 44 Vgl. als Beispiel für eine dezidiert kulturgeschichtliche Annäherung an ökonomische Tatbestände Freitag, 2013, sowie die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Band. 45 Vgl. meine Sammelrezension zur Kulturgeschichte des Politischen aus dem Jahr 2005 unter www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6999, 07.10.2006. 46 Nicht ganz zufällig kommen viele dieser Arbeiten aus der Münsteraner Werkstatt, wo in der Verknüpfung des produktiven SFB zur symbolischen Kommunikation mit dem bewährten Städteforschungsinstitut günstige Bedingungen geschaffen wurden. 47 Weller, 2006. 24
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Eliten in den drei Salzstädten Lüneburg, Halle a.d.S. und Werl in Westfalen in seiner Untersuchung, die in klassischer Manier das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit überbrückt, die es aber vor allem überzeugend unternimmt, das vieldiskutierte Problem des städtischen Patriziates vom sozialgeschichtlichen Kopf auf die kulturgeschichtlichen Füße zu stellen: Nicht auf dem Feld harter sozialgeschichtlicher Lagerungen liegt nach seiner plausiblen These der angemessene Zugang, sondern in den weichen Fragen nach den Ordnungsvorstellungen und Selbstsymbolisierungen dieser Gruppe.48 Dass die konsensgestützte Herrschaft in der Stadt nur versteht, wer nicht allein auf die Fragen von Abkömmlichkeit und Machtkonzentration fokussiert, sondern auch die Rituale der Ratswahl in den Blick nimmt, bewies die Studie von Dietrich Poeck.49 Ähnliches unternahm Ruth Schilling dann 2012 viel weiter ausgreifend für drei Hansestädte im Vergleich mit der Republik Venedig, wobei sie neben den Ratswahlen noch weitere Formen ritueller Selbstvergewisserung betrachtete wie Prozessionen, Herrschereinzüge oder rituelle Gabentauschaktionen, die auch der scheinbar so rationalen städtischen Außenpolitik ihre archaische Note verliehen.50 Die Reihe vergleichbarer Arbeiten ließe sich fortsetzen. Diese verfremdende Agenda hat ihren Nutzen, vielleicht aber auch ihren Preis. Der Habenseite zuzurechnen ist die Eröffnung komparativer Perspektiven. Damit ist weniger der vielbeschworene Städtevergleich gemeint als der Vergleich der alteuropäischen Stadt mit anderen Sozialformationen und Lebenswelten, etwa mit dem Hof oder dem Territorialstaat. Die Stadt ist nicht mehr die moderne Insel in einer vormodern-archaisch geprägten Umgebung, sondern sie funktioniert nach vergleichbaren (nicht unbedingt den gleichen) Normen und Regeln. Damit scheint der identitäre Gestus der älteren Städteforschung in gewisser Weise endgültig ad acta gelegt. Diese Sichtweise könnte aber auch Kosten generieren, indem die Stadt zugleich ihren Status als emphatisches Forschungsobjekt zu verlieren droht. Kulturgeschichtliche Stadtgeschichtsforschung wäre dann eher Geschichtsforschung in der frühneuzeitlichen Stadt als die Erforschung der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. Aufgrund ihrer hervorragenden Quellenlage böte sich die Stadt als ein ausgezeichnetes Forschungslabor der allgemeinen historischen Forschung an, ein Forschungslabor, das die bis vor einiger Zeit dominierende mediävistische Stadtgeschichte ebenfalls weiterhin nutzt, bei dessen Nutzung aber die Frühneuzeitforschung doch in gewisser Hinsicht die Nase vorn hat: einerseits, weil aufgrund ihrer Verspätung noch viel 48 Hecht, 2010. 49 Poeck, 2003. 50 Schilling, 2012. 25
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Nachholbedarf besteht, andererseits weil ihr Laborteil aufgrund der größeren Fülle von – oft seriellen – Quellen besser ausgestattet ist. (VII.) Ein solches Zwischenresümee freilich wäre viel zu steril und unangemessen defensiv, bietet doch gerade eine kulturgeschichtliche Perspektivierung viele Möglichkeiten, die Eigenheit(en) der frühneuzeitlichen Stadt auf besondere Weise zur Geltung zu bringen. So können die analytischen Leitkategorien des Spatial Turn diese Städte besser als spezifische Orte greifbar werden lassen, die sich einerseits durch hohe räumliche Verdichtung und funktionale Komplexität auszeichnen, die aber andererseits ihr Profil nicht allein durch bauliche Ensembles und Infrastrukturen erhalten, sondern sich stets auch durch Raumwahrnehmungen und Raumpraktiken einer Vielzahl von Akteuren konstituieren.51 Im deutschen Sprachraum besonders einflussreich waren in diesem Zusammenhang Anregungen der Stadt- und Raumsoziologie, insbesondere von Martina Löw.52 Deswegen mag es für Historiker(innen) interessant sein, dass in dieser Disziplin einige Jahre später über die Eigenlogik der gegenwärtigen Städte nachgedacht wurde. Der Ansatz wendet sich kritisch gegen die klassische Stadtforschung in der Soziologie mit ihrem Anspruch, nicht länger nur lediglich in den Städten zu forschen, sondern »die Städte selbst« zu erforschen, und zwar »diese im Unterschied zu jener« Stadt zum Gegenstand der Analyse zu machen. Es gehe darum, die Stadt nicht lediglich als Spiegel der Gesellschaft schlechthin oder als »Laboratorium« der Moderne bzw. der Postmoderne zu benutzen, sondern es gelte, »das Spezifische der Vergesellschaftungsform Stadt«, ja mehr noch, »auch die Besonderheit dieser Stadt« zu erforschen.53 Es gehe, um eine weitere beliebte Begriffsdualität der neueren Raumforschung zu gebrauchen, nicht lediglich um die Analyse von Bezügen im Raum, sondern um bestimmte Orte und ihre spezifischen räumlichen, sozialen, kulturellen Ordnungsarrangements. Inzwischen liegen nicht nur einige empirische Studien auf der Grundlage dieses Forschungsprogramms vor.54 Zugleich wurden gewichtige Einwände formuliert, die dem Eigenlogik-Ansatz u.a. vorhalten, er verfolge ein politisch affirmatives und zu sehr idealisierendes Programm, das z.B. soziale Ungleichheiten und Ver-
51 Vgl. zum Spatial Turn Rau, 2013; Schwerhoff, 2013; vgl. zur empirischen Applikation des Konzeptes Hochmuth/Rau, 2006; Rau, 2014. 52 Löw, 2001; vgl. aber auch Schroer, 2006. 53 Berking/Löw, 2008, S. 7ff.; vgl. dann auch Löw, 2010. 54 Siekermann, 2014; Frank u.a., 2014. 26
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werfungen ausblende und ein komplexes soziales Gebilde wie die Stadt unzulässiger Weise zum Kollektivakteur stilisiere.55 Tatsächlich kann man darüber streiten, ob die Wissenschaft die Suche nach einer städtischen Seele nicht lieber den Marketing-Abteilungen und Tourist-Offices der jeweiligen Städte überlassen sollte.56 Für die frühneuzeitliche Stadtgeschichte ergibt sich daraus vielleicht die Warnung, die kulturwissenschaftliche Perspektive nicht zu verabsolutieren, sondern sie als Rahmung und Perspektivenerweiterung für nach wie vor aktuelle politik- und sozialgeschichtliche Fragen anzusehen. So eingeordnet, hat das Programm der Eigenlogik für die frühneuzeitliche Stadtgeschichtsforschung aber durchaus Attraktivität. Dabei kann auf mehreren Ebenen nach einer möglichen Eigenlogik der Stadt gefragt werden: nach der Eigenlogik der frühneuzeitlichen Stadt im Vergleich zu anderen Sozialformationen (etwa des Dorfes oder des fürstlichen Hofes), nach der Eigenlogik bestimmter Stadttypen und – das ist eben der besondere Clou – nach der Eigenlogik einer einzelnen Stadt in der Differenz zu anderen Städten. In gewisser Weise klingt das Forschungsprogramm für den Frühneuzeithistoriker fast vertraut, obwohl es in unserer Disziplin noch keineswegs die Ebene konzeptueller Verdichtung erreicht hat. Aber wir sind es gewohnt, jede unserer Städte als einen Ort zu verstehen und zu erforschen, der einerseits mit anderen Orten viele Merkmale teilt, aber doch jeweils ein ganz eigenes Mischungsverhältnis dieser Merkmale aufweist, so dass keine Stadt der anderen wirklich gleicht. Dutzende von ganz unterschiedlichen Prozeduren der Ratskür etwa lassen sich benennen, mit komplizierten Verschachtelungen von geheimer Wahl, Kooptation und Los, mit verschiedensten Wahlmännern, Wahlgremien und meist mehreren Wahlgängen – und das alles, um am Ende doch meist den gleichen kleinen Kreis von Abkömmlichen in den Rat zu schicken. Trotzdem sind wir heute davon überzeugt, dass es hier um mehr geht als um die liebevolle Pflege skurriler Besonderheiten deutscher Home Towns von lediglich antiquarischem Wert. Abstrakter, eher klassisch sozialgeschichtlich formuliert: Jeder einzelne Ort entwickelte seine individuelle Antwort auf die Herausforderungen der Vergesellschaftung einer größeren Gruppe von Menschen heterogener sozialer Herkunft bzw. Zugehörigkeit. Die Herausforderungen der Frühen Neuzeit glichen denen der Gegenwart, 55 Kemper, 2011. 56 Tatsächlich wurde die Mannheim-Studie (»Die Seele Mannheims«, vgl. Stadtforschungsschwerpunkt 2012) im Kontext des Stadtentwicklungsprojektes Mannheim 2020 in Auftrag gegeben, das einer Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt den Weg ebnen sollte. 27
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wie Stichworte wie Migration und Zuwanderung religiöser Diversität, Armut und soziale (Un-)Sicherheit oder Umweltverschmutzung schnell belegen. Zur Eigenlogik der Stadt gehört weiterhin in der Gegenwart ebenso wie in der Frühen Neuzeit ihre Einbettung in alle großen Interaktions- und Kommunikationsprozesse der Epoche, in die religiösen Auseinandersetzungen, in den Staatsbildungsprozess, in die Ausdifferenzierung ökonomischer Arbeitsteilung etc. Die Preisgabe einer Vorstellung von der Stadt als bürgerlicher Insel in einer feudalen Umwelt und das Abrücken von der alten Fixierung auf städtische Autonomie stellt deshalb gerade nicht das Ende einer frühneuzeitlichen Stadtgeschichte im emphatischen Sinne dar, sondern ist geradezu die Voraussetzung für die Möglichkeit, die Eigenlogik der Stadt richtig zu verstehen. Es stimmt schon: Die großen und entscheidenden Entwicklungen der Frühen Neuzeit – Staatsbildung, Konfessionalisierung, Säkularisierung oder die Aufklärung – waren keine spezifisch städtischen Erscheinungen, aber sie fanden doch in den Städten und mit den Städten ihre markanten Ausprägungen. Und auch wenn quantitativ gesehen die meisten Menschen – ob Bauern, Adlige oder politische Entscheidungsträger – außerhalb der Städte lebten, waren die Städte doch zugleich die entscheidenden Umschlagplätze für Waren, Ideen und Nachrichten bzw. die Bühne für politische Verhandlungen oder ständische Repräsentation. Ihre Eigenlogik ist folglich nicht ohne ihre gesellschaftliche Eingebundenheit in größere Zusammenhänge angemessen zu verstehen. Zu ergänzen bleibt diese Ebene der synchronen Analyse durch eine diachrone Betrachtungsweise, denn auch nach dem Abschied von gängigen Niedergangsnarrativen steht die Frage nach dem historischen Ort der frühneuzeitlichen Stadt (bzw. bestimmter Stadttypen, bzw. bestimmter Städte) im Prozess des historischen Wandels noch immer auf der Tagesordnung. (VIII.) Hier hat die allgemeine Frühneuzeitforschung viele neue Perspektiven eröffnet, an die die Stadtgeschichte anknüpfen kann und aus deren Fülle ich, eher subjektiv an eigenen Interessen orientiert, nur einige herausgreife. Zentral für die frühneuzeitliche Stadt war etwa die Herausforderung, öffentliche Ordnung, Sicherheit und Friede in einer sozial heterogen zusammengesetzten kommunalen Welt zu bewahren, in einer Welt zudem, die sich immer wieder durch äußeren Zuzug zu erneuern hatte, wollte sie nicht untergehen. Zu Debatte steht hier die Rolle der frühneuzeitlichen Stadt in den übergreifenden historischen Prozessen der Versicherheitlichung, wobei diese Rolle von einer bezeichnenden Ambivalenz gekennzeichnet ist, insofern die Stadtmauern einerseits vor äußerer Gewalt Schutz boten, aber andererseits ein Areal umschlossen, dass selbst 28
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typische Formen von Gewalt hervorbrachte.57 Diese Debatte führt z.B. auf das nach wie vor produktive Feld der Policeyforschung, das noch stärker, als es oft geschieht, mit der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte rückgekoppelt werden müsste. Dass die vormoderne Stadt die Wiege einer gewillkürten, auf Prävention zielenden Ordnungsgesetzgebung war, darf seit Wilhelm Ebel als Binsenweisheit gelten. Gerhard Oestreich hatte in seinem klassischen Entwurf eine Phase städtischer Sozialregulierung von der Epoche dann staatlich bestimmter Sozialdisziplinierung abgesetzt.58 Diese Idee einer obrigkeitlichen Disziplinierung ist ja inzwischen nicht nur stark kritisiert, sondern durch die Vorstellung einer Normgenese ersetzt worden, die das Ergebnis intensiver Kommunikations- und Abstimmungsprozesse zwischen Obrigkeiten und den gesellschaftlichen Teilgruppen war. Insofern führt die Erörterung der staatlichen Ordnungsgesetzgebung wieder auf die Ebene städtischer Regulierung zurück, ohne dass deren Rolle im überlokalen Kontext bisher zureichend diskutiert worden wäre.59 In den Kontext der Bemühungen um die Ordnung der Stadt ließen sich weiterhin ebenfalls die neueren Studien zur städtischen Kriminalität und ihrer Bekämpfung einordnen. Die in den Quellen vorfindlichen Formen von Abweichung können als ein Abbild der sozialen Probleme einer Stadt gelesen werden, die Sanktionierungsstrategien zeigen die Möglichkeiten und Grenzen der Obrigkeiten wie der Instanzen sozialer Kontrolle (Zunft, Nachbarschaften), darauf zu reagieren.60 Hier zeigt sich im Übrigen sehr gut die Eigenlogik der jeweiligen Stadt, wenn etwa in der Reichsstadt Köln in Gestalt eines häufigen Sanktionsverzichts die institutionellen Grenzen der obrigkeitlichen Durchgriffsmacht deutlich wurden, während in Görlitz ein selbstbewusstes und mächtiges Stadtpatriziat seine martialischere Strafphilosophie offenbar viel rücksichtsloser
57 Vgl. als Pionierunternehmen speziell für die Stadt den aus der interdisziplinären Arbeit von Historikern und Kriminologen hervorgegangenen Band von Dinges/ Sack, 2000. Allgemein vgl. den seit 2014 arbeitenden SFB/TRR 138 Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive (www.sfb138.de/home/); speziell für unsere Epoche Kampmann/Niggemann, 2013, ohne dass hier allerdings die Stadt ein besonderes Gewicht hatte. 58 Oestreich, 1980. 59 Vgl. für den (unbefriedigenden) Stand der Diskussion Buchholz, 1991; Simon, 1997; allgemein zum Stand der Forschung Härter, 2009. 60 Dazu jetzt Piltz, 2015. 29
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durchsetzte.61 Bisher liegen hier vor allem Schlaglichter aus einzelnen Jahrhunderten vor, während es in Zukunft darauf ankäme, den längerfristigen historischen Wandel in einer Stadt nachzuzeichnen. Policeyordnungen und Gerichtspraxis – das hat viel mit Aufschreibe- und Publikationspraxen zu tun, und hier will ich einen weiteren Akzent setzen. Die Stadt als Zentrum von Schrift und Buchdruck ist ein altes Thema. Kulturgeschichtliche Forschungen haben in dem eben beschriebenen Sinn einer Verfremdung jetzt kräftige Impulse gegeben – Schriftgebrauch muss nicht notwendig etwas mit Modernität zu tun haben. André Krischer hat mit seiner Arbeit über die Reichsstadt in der Fürstengesellschaft eindringlich gezeigt, wie stark die Aufschreibepraxis in der Stadt an rituelle Praktiken der Präsenzkultur gebunden war, mit denen die Reichsstädte sich als politische Mitspieler im symbolischen Machtgefüge des Alten Reiches auf Augenhöhe zu behaupten versuchten.62 Wie stark die Öffentlichkeit der frühneuzeitlichen Stadt an die jeweilige konkrete Gesellschaft der Anwesenden gebunden war, hat vor einigen Jahren auch ein Dresdner Projekt zu den öffentlichen Räumen zu erforschen gesucht, das sich konkret vor allem mit Wirtshäusern im Vergleich etwa zu Kirchenräumen und Rathäusern befasste.63 Rudolf Schlögl hat den Befund einer städtischen Anwesenheitsgesellschaft zu verallgemeinern versucht, indem er betonte, dass der Druck in der integrierten Öffentlichkeit der Stadt weniger als Verständigungsund Steuerungsmittel über größere Distanzen benutzt wurde, denn – in eher traditioneller Weise – als Aufbewahrungs- und Speichermedium. Die geringe räumliche Distanz der Beteiligten in der Stadt wird so zum zentralen Charakteristikum der städtischen Kommunikationsstrukturen, deren modernisierender Effekt nach Schlögl gering blieb.64 Die Musik spielte gleichsam anderswo, nämlich auf dem Feld der größeren territorialen Flächenstaaten. Meines Erachtens aber ist das letzte Wort hier keinesfalls gesprochen, weil die Stadt eben als eine Bühne für alle wichtigen Prozesse der Epoche zentral blieb – bis hin zu den klassischen Kaffeehäusern und Lesegesellschaften der Aufklärung war es gerade die Verschränkung von verdichteter Präsenz und Mediengebrauch, die gleichermaßen die Stadt charakterisierte und den historischen Wandel vorantrieb. 61 Schwerhoff, 1991; Behrisch, 2005; jetzt weiterführend Gubler, 2015; für Frankfurt grundlegend Eibach, 2003; ärgerlich aufgrund fehlender Verankerung in bzw. Auseinandersetzung mit der jüngeren Forschung Boes, 2013. 62 Krischer, 2006. 63 Hochmuth/Rau, 2006; Rau/Schwerhoff, 22008; Dies., 2008; Schwerhoff, 2011; vgl. Johanek, 2012, S. 310. 64 Schlögl, 2014, S. 334ff. 30
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Forschungen zur städtischen Öffentlichkeit gerade in der Transformationsphase des 18. Jahrhunderts sind bislang eher Mangelware.65 (IX.) Die Perspektive einer Eigenlogik der frühneuzeitlichen Städte bzw. einzelner Städte jener Epoche führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Frage nach der affektiven Bindung der Bewohner an ihr Gemeinwesen und so auf das weite Feld einer Geschichte der Gefühle. Zum klassischen Programm des Cultural Turn gehörte ein Emotional Turn zwar nicht, aber schon länger werden Rufe laut, die genau diese Ergänzung einfordern.66 Inzwischen wird eine Emotionsgeschichte allenthalben propagiert, wenn auch die Zahl der programmatischen Postulate bisweilen diejenige der empirischen Studien noch etwas zu überwuchern scheint. Im Kontext der Stadtgeschichte ist die Wende hin zu den Gefühlen jedenfalls noch kaum angekommen. Immerhin beendete der belgische Historiker Wim Blockmans schon vor zehn Jahren einen Forschungsüberblick zur niederländischen Stadtgeschichte mit der beiläufigen Feststellung, die Stadt habe ihrer heterogenen Bewohnerschaft emotionale Geborgenheit und Identifizierung geboten, die den abstrakten Herrschaftsgebilden Territorium und Staat noch jahrhundertelang gefehlt hätten.67 Handelte es sich bei der Stadt mithin ebenso sehr um eine affektive Gemeinschaft wie um eine bestimmte verfassungsmäßige Ordnung? Man könnte an dieser Stelle den von der Mediävistin Barbara Rosenwein geprägten Terminus emotional community ins Spiel bringen.68 Dabei handelt es sich allerdings zunächst einmal (um eine Analogie aus der marxistischen Klassentheorie zu bemühen) um Gemeinschaften an sich, um Menschen also, die bestimmte Gefühlsnormen teilten. Aber natürlich wäre es legitim weiter zu fragen, ob und inwieweit sich emotionale Gemeinschaften für sich bilden konnten, und konkret für unseren Fragekontext: ob und inwieweit die Stadtbewohner ihrer Stadt affektiv zugetan waren. Zur Beantwortung dieser Frage gibt es einzelne Ansätze, etwa Untersuchungen zum humanistischen Städtelob oder Studien über vormoderne Formen des city branding.69 Aber es wird einige forscherische Phantasie aufzuwenden sein, um auszuloten, welche Reichweite die affektive Besetzung einzelstädtischer Identität hatte. Wenn z.B. der Kölner Ratsherr Hermann von Weinsberg im 16. Jahrhundert von der 65 66 67 68 69
Schwerhoff, 2011, S. 26f. Anz, 2006; Bachmann-Medick, 2010; Gammerl/Hitzer, 2014. Blockmans, 2005, S. 11. Rosenwein, 2010; vgl. Plamper, 2012, S. 78ff. Meyer, 2009; Dies., 2012. 31
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Reichsstadt Köln als »mein geliebtes Vaterland«70 spricht, bringt er damit eine weitverbreitete Einstellung der Kölner Bevölkerung zum Ausdruck. Sind dies affektive Bindungen, wie sie sich in der Gegenwart z.B. bei den – freilich eher spielerischen – Rivalitäten benachbarter Städte (Köln vs. Düsseldorf; Leipzig vs. Dresden etc.) zeigen? Oder artikuliert Hermann von Weinsberg lediglich das – zudem humanistisch eingefärbte – Selbstverständnis eines engeren Zirkels der herrschenden Elite? Und wurden die wirklichen emotionalen Gemeinschaften vielleicht weniger auf der Ebene der Gesamtstadt, sondern eher auf der der Nachbarschaften und Kirchspiele, der Zünfte und Bruderschaften gebildet? Wahrscheinlich lassen sich diese emotional communities aber ohnehin nicht exklusiv verstehen, sondern als teils überlappende Figurationen, wie es im Konzept von Rosenwein vorgesehen ist. Umgekehrt konnte es zur affektiven Okkupation von Städten durch größere Gemeinschaften kommen, wie das bekannte Beispiel der Magdeburger Bluthochzeit von 1631 zeigt: Als metaphorische Gestalt der geschändeten Jungfrau ging die Stadt an der Elbe in das kollektive Gedächtnis der deutschen Protestanten ein.71 Zuallerletzt könnte man die Analysekategorie der emotional community selbstreflexiv wenden und von der Objektebene frühneuzeitliche Städte auf diejenige der frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung wechseln. Die Konjunktur der Kulturgeschichte hat dieser Forschungsrichtung wichtige neue Impulse verliehen und sie von den Fesseln älterer Niedergangserzählungen endgültig befreit. Nach dem Cultural Turn kann die Stadtgeschichte sich unbefangener die spezifische Eigenlogik frühneuzeitlicher Stadtgesellschaften erschließen, ohne dabei Wahlverwandtschaften zwischen den gesellschaftlichen Herausforderungen für gegenwärtige und damalige Stadtgesellschaften zu übersehen.72 Das sind gute Voraussetzungen dafür, die auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte Forschenden ebenfalls zu einer Art von emotional community zu vereinen; denn bei aller kühlen Rationalität dürfte nicht nur bei Liberalen des 19. Jahrhunderts eine gewisse Zuneigung zum Forschungsobjekt die Arbeit produktiv befeuern.
70 Schwerhoff, 2008, S. 81. 71 Vgl. nur Rublack, 1995; Emich, 2009. 72 Diese betont jetzt stark Laux, 2015. 32
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Abstract This chapter focuses on the impact of the cultural turn on early modern urban history in the light of older historiographical paradigms, especially constitutional and social history. Early modern urban historiography was for a long time contrasted with medieval urban historiography, for example as narrative of a decline, or at least as viewed in an ›old-Europe‹ setting. Within this context, the cultural turn has promised new opportunities for accomplishing an emancipation of early modern urban history by delegitimising the often identarian attitude of urban history as »prologue of the modern bourgeois world«. Examples for recent approaches will be discussed, e.g. the debate about an »inherent logic« of a city, or the question of whether and to which extent an early modern city could be understood as ›emotional community‹.
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Grenzen und Räume intra muros
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt Regulierung durch Präsenz und Sichtbarkeit Joachim Eibach
1. Einführung Die Geschichte der alteuropäischen Stadt gehört seit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu den kanonisierten, stets aufs Neue Beachtung findenden Themen der Geschichtswissenschaft. Die Anzahl der Publikationen ist kaum noch überschaubar. Stadtgeschichte ist fast schon zeitlos aktuell, und die Historiographie der Stadt nimmt jede Steilkurve theoretisch-konzeptioneller Debatten; sei es der Turn vom Historismus zur jungen Sozialwissenschaft um 1900 und später dann zur Sozialgeschichte, von der Rechtsgeschichte zur Kriminalitätsgeschichte, von der älteren zur neuen Politikgeschichte; darüber hinaus auch als beliebtes Themenfeld für innovative Konzepte wie Erinnerungskultur, Spatial Turn oder – aktuell viel diskutiert – den systemtheoretischen Kommunikationsansatz. Für dieses dauerhafte Interesse und die stete Neuerfindung der Stadtgeschichte gibt es eine Reihe von Gründen. Als erstes ist ein immenser Quellenreichtum zu konstatieren. Zurückreichend bis ins Spätmittelalter, in manchen Fällen auch darüber hinaus, finden sich vielfältige serielle Akten wie Ratsprotokolle, Bürgermeisterbücher, Steuerlisten, Kirchenbücher und Gerichtsakten. Dazu kommen narrative Quellen wie Chroniken und Selbstzeugnisse von Bürgern, Reiseberichte, nicht zuletzt Stadtpläne, Kupferstiche und Gemälde.1 Städtische Lebenswelten wurden, zweitens, schon von der Soziologie um 1900 als 1
Vgl. die fast schon klassischen Überblicksdarstellungen von Isenmann, 1988; Friedrichs, 1999; ferner Behringer /Roeck, 1999. 43
Joachim Eibach
ein spezifischer Nukleus der modernen Gesellschaft diskutiert.2 Vor allem große Städte galten und gelten im Vergleich zur ländlichen Gesellschaft als komplexer und dynamischer, die urbane Wirtschaft als arbeitsteiliger und in manchen Zügen ›kapitalistischer‹, die sozialen Rollen als differenzierter und die Gesellschaft insgesamt als polarisierter. Diese Komplexität und Dynamik der sozialen Sphäre in der Stadt erzeugte, drittens, Spannungen und Konflikte und damit frühzeitig einen besonderen Regelungsbedarf. Beides, Prozesse der Vergesellschaftung wie auch Strategien der Regelung, lässt sich anhand einer Stadt wie in einem Laboratorium untersuchen.3 Damit steht in Zusammenhang, dass Städte – und hier vor allem Stadtrepubliken und Reichsstädte – frühzeitig Orte der Politik waren. Deswegen ließ sich, viertens, die Frage stellen, ob alte Bürgerrechte und -freiheiten Anknüpfungspunkte für moderne liberal-republikanische Ideen bieten oder aber eher als Ausdruck eines ganz anderen Politikverständnisses zu betrachten sind.4 Die Geschichte der Stadt erweist sich also offensichtlich aus ganz verschiedenen Blickwinkeln als wichtig. Lässt man einmal die Spezifika der urbanen Gesellschaft und die verschiedenen konzeptionellen Ansätze der Historiographie beiseite, so hat, fünftens, auch das Identifikations- und Repräsentationsbedürfnis moderner Städte immer wieder seinen Niederschlag in aufwändigen Prestige-Geschichten der eigenen Stadt gefunden. Bei Besuchen in Hochhaus-Städten in Nordamerika lässt sich übrigens feststellen, dass auch z.B. Chicago und New York ihre Vergangenheit in Museen, Büchern und mit großflächigen Fotos an öffentlichen Orten inszenieren; nur dass diese Geschichtskonstruktion meistens etwa um 1900 einsetzt und nicht im Spätmittelalter. Sechstens ist der Mikrokosmos der ›alten Stadt‹ spektakulär und romantisierbar. Zu denken ist an die seit dem Spätmittelalter periodisch auftretenden politischen Unruhen, an Alltagskonflikte (›Lermen‹ und ›Aufläufe‹), aber auch an die für moderne Betrachter pittoreske Szenerie der vormodernen Stadt als Kulisse und Bühne: Stadtmauern und -tore, Rathäuser und Kirchtürme, verwinkelte Gassen, große und kleine Plätze mit viel Volk, Prozessionen, Schwörtage, das Marktgeschehen usw. Im kulturellen Gedächtnis Europas hat die ›alte Stadt‹ als Gegenbild zur urbanen Agglomeration ihren festen Platz. Deswegen ist es kein Zufall, dass Altstädte heute nicht nur geschützt werden, sondern im Zentrum der Main2 3 4
44
Weber, 1999. Deswegen beschäftigte sich die Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum frühzeitig mit Städten: Burghartz, 1990; Schwerhoff, 1991. Die Diskussion zusammenfassend Schlögl, 2004; Ders., 2011; vgl. Krischer, 2006; als Überblick Eibach, 2010.
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
metropole Frankfurt aktuell die Replik einer Altstadt, gewissermaßen eine neue alte Stadt errichtet wird. Der Konnex aus soziokulturellen Spannungen und Regulierungsbedarf im Soziotop der vormodernen Stadt hat in der Forschung zu ganz unterschiedlichen Bewertungen geführt. So erscheint die Stadt vor 1800 mal als ein klassisch obrigkeitliches Regiment, mal als ein Hort von Freiheitsvorstellungen mit Konsens zwischen Rat und Bürgerschaft;5 in rechtshistorischer Sicht als Ort des beschworenen Friedens, für Kriminalitätshistoriker mit Neigung zu Norbert Eliasʼ Zivilisationsprozess dagegen als ›unzivilisierte‹ Sphäre alltäglicher Gewalt.6 Neben den Instanzen der Obrigkeit gab es in Städten zur Regelung der Konflikte mit Zünften, Gilden und Bruderschaften auch spezifische Agenturen einer korporativen sozialen Kontrolle. Dazu muss bemerkt werden, dass es selbstverständlich zwischen den relativ statischen, sprichwörtlich engstirnigen Land- und Kleinstädten und prosperierenden, demographisch expandierenden Metropolen wie London, Paris oder Amsterdam eklatante Unterschiede gab. Charakteristisch für quasi alle Städte ist dabei aber das Kommen und Gehen, d.h. eine Mobilität sehr verschiedener Art auf einer Skala zwischen täglichen Stadt-Umland-Beziehungen und Fernmigration durch Menschen unterschiedlichster Herkunft. Städtische Gesellschaften sind immer relativ heterogen und hybrid.7 Die größeren Städte und insbesondere die Metropolen waren bereits ab etwa Mitte des 17. Jahrhunderts keine face-to-face-Gemeinschaften mehr.8 Die folgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf politisch selbstständige Städte mittlerer Größe im deutschen Sprachraum wie die Reichsstadt Frankfurt, Zürich und Bern, deren Einwohnerschaft im 18. Jahrhundert zwischen etwa zehn- und fünfzigtausend Einwohnern lag. Wer serielle Gerichtsakten liest, am besten Akten der Straf- und der Ziviljustiz, kann die Komplexität und Heterogenität der Stadtgesellschaften von Fall zu Fall und von Akteur zu Akteur aus der Nahperspektive studieren. Registriert finden sich hier unterschiedlichste Akteurinnen und Akteure sowie eine breite Palette an Konflikten, die Eigentum, körperliche Unversehrtheit, öffentliche und häusliche Ordnung, Sittlichkeit, Ehre und Religion betrafen. Indes ist in puncto Heterogenität zwischen Devianz und Distinktion zu unterscheiden. Denn nicht nur unerwünschtes normabweichendes Handeln, sondern auch intendierte stän5 6 7 8
Brunner, 1963; Meier /Schreiner, 1994. Vgl. die Beiträge in Johnson/Monkkonen, 1996; mit anderer Wertung Dinges/ Sack, 2000. Vgl. zur religiösen Koexistenz die Beiträge in Schmauder /Missfelder, 2010. Vgl. die Ausführungen bei Krischer, 2011, S. 127f. 45
Joachim Eibach
dische Distinktion musste in die Stadt als politisch-kulturelles Gemeinwesen integriert werden.9 Vor dem Hintergrund von Devianz und Distinktion fällt so auch die häufige Beschwörung der Stadt als Einheit, als corpus oder concordia, ins Auge. Hält man die normative Ebene und die soziokulturelle Praxis kategorial auseinander, so bedeutet dies für Historikerinnen und Historiker selbstverständlich keinerlei Widerspruch. Es stellt sich aber die Frage, mit welchen Mitteln vormoderne Stadtgesellschaften das facettenreiche Spannungsverhältnis aus Zugehörigkeit und Heterogenität tatsächlich zu regulieren vermochten. In puncto Stadt als Zugehörigkeit offerierende Vergemeinschaftung ist an den Artikel von Hans-Christoph Rublack über »Grundwerte in der Reichsstadt« aus dem Jahr 1982 zu erinnern. Für Rublack machte »das Dreigestirn pax – concordia – res publica als Gemeinnutz […] das Zentrum der Werte aus«.10 Immer noch interessant an dem Aufsatz ist, dass der Autor aufzeigt, wie der Integrationswert pax (Stadtfrieden) als identitätsstiftende Gemeinschaftsaufgabe bestimmte Praktiken anstieß: vom Verzicht auf Selbstjustiz über das ›Friedebieten‹ der Bürger bei Alltagskonflikten bis zur gemeinschaftlichen Verfolgung von Straftätern. Für Eberhard Isenmann waren die Integrationswerte fraternitas, amicitia, concordia und pax genuin bürgerliche und darüber hinaus auch christliche Werte (»civic and also Christian values«).11 Der Hinweis auf solch grundlegende Werte oder auf charakteristische Leitbilder – insbesondere die Stadt als Sakralgemeinschaft oder Schwurgenossenschaft – läuft jedoch, wenn auch quellenmäßig abgesichert, Gefahr, formelhaft zu wirken und schon als des Rätsels Lösung akzeptiert zu werden. Auch Ideen und Normen mussten ja irgendwie in den Alltag übersetzt und gelebt werden. Die neuere und neueste Forschung lenkt den Fokus deswegen näher auf spezifische Medien und Praktiken der Identitätskonstruktion, angefangen von Stadtgrundrissen über Chroniken und Fresken bis hin zu Prozessionen und anderen öffentlichen Ritualen einerseits, schrift- und verfahrensbasierter Kommunikation andererseits.12 Kommunikationshistoriker gehen die Sache also ganz anders an als noch Rublack oder Isenmann. Folgt man dem von Rudolf Schlögl vorgeschlagenen systemtheoretischen Ansatz, so gibt es so etwas wie Grundwerte oder auch Konsens überhaupt nicht bzw. solche Aspekte lassen sich ebenso wenig wie Motive oder Erfahrungen zweifelsfrei feststellen. Beobachtbar sind demnach vielmehr Kommunikation und 9 Vgl. dazu Weller, 2006. 10 Rublack, 1982, S. 29f.; vgl. zu Sichtweisen im Spätmittelalter auf die Stadt allgemein auch Meier, 1994. 11 Isenmann, 1997, S. 192. 12 Vgl. z.B. die Einleitung von Oberste, 2008. 46
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
der Wandel kommunikativer Praktiken. Aus kommunikativen Praktiken können dann – nämlich wenn sie sich als ›anschlussfähig‹ erweisen – auch Normen und Konsensvorstellungen entstehen.13 Unstrittig ist: Stadtgesellschaften beschworen ihre concordia, waren aber heterogen. Mit welchen Mitteln bekam man also Devianz und Distinktion unter einen Hut? Anders gesagt: Wie regulierten alteuropäische Städte Inklusion und Exklusion? Die Ausgangsfrage ist sehr generell und damit auch diffizil. Ich vermeide es im Folgenden, von der Ratsherrschaft oder Obrigkeit als alleinigem Agens auszugehen. Denn die Praktiken, um die es geht, sind als reines topdown-Phänomen bzw. normative Etikettierung ›von oben‹ nicht angemessen zu verstehen. Sicher erließen die Ratsherren dauerhaft eine große Zahl an Verordnungen. Sie verfolgten politische Strategien und hatten wie auch die Bürgeroppositionen eine bestimmte Agenda, in der es um die Absicherung oder aber die Beteiligung an der Herrschaft für Familien bzw. Eliten ging. Angesichts einer Vielzahl an ›Unruhen‹ und – gemessen an Kriterien des modernen ›Anstaltsstaats‹ – der ›Staatsschwäche‹ der Obrigkeit ist es aber fraglich, ob sich vormoderne Stadtgesellschaften allein schon mit einem klaren Masterplan regieren ließen, wenn nicht wenigstens in einigen Bereichen und Verfahrensweisen ein gewisser Konsens – d.h. entweder indirektes Einverständnis mit oder aber eine Beteiligung – der Bürgerschaft gesucht wurde.14 Womöglich ergaben bzw. veränderten sich stabile Umgangsweisen mit Phänomenen der In- und Exklusion eher aus der alltäglichen Kommunikation durch trial-and-error-Prozesse zwischen den Obrigkeiten und der in Korporationen, Nachbarschaften, Familienverbünden, mitunter auch Religionsgemeinschaften gegliederten Einwohnerschaft heraus. Statuierung von oben und Konflikt und Aushandeln müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Die Frage danach, wie Politik in der alteuropäischen Stadt funktionierte, wird die Forschung noch einige Zeit beschäftigen. Dass unterschiedliche Antworten darauf gegeben werden, verweist nicht zuletzt auf die Affinität des Autors oder der Autorin zu bestimmten Konzepten. Die Attraktivität des Fokus auf Medien, Rituale und Verfahren liegt vor allem darin, dass kulturhistorische und systemtheoretische Perspektiven zusammengeführt, alte Fragen der Stadtgeschichte so neu angegangen und an reichhaltigem Quellenmaterial abgearbeitet werden können. Zwar ist nicht jedes theoretische Statement ohne weiteres verständlich, aber es geht ja vor allem um forschungsstrategische Anschluss13 Schlögl, 2014; vgl. dazu die aktuelle Debatte: Stollberg-Rilinger u.a., 2016. 14 Vgl. zu dieser Argumentation näher Meier /Schreiner, 1994; Eibach, 2004. 47
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fähigkeit der Kommunikation! Anders gesagt: »Nur die Kommunikation kann kommunizieren.«15
2. Präsenz und Sichtbarkeit Die Frage nach der Regulierung von Zugehörigkeit und Heterogenität wird im Folgenden anhand von zwei Aspekten analysiert: Präsenz und Sichtbarkeit. Beides ist miteinander verbunden, aber nicht deckungsgleich. In theoretischer Hinsicht sind verschiedene Anknüpfungen möglich. Sozialintegration hat in Anschluss an Anthony Giddensʼ Handlungstheorie viel mit Kopräsenz, und damit der sozialen Kompetenz und letztlich Macht durch Präsenz, zu tun. So wird das soziale Handeln in vormodernen Gesellschaften für Giddens vor allem faceto-face durch Präsenz und Kopräsenz strukturiert.16 Präsenz verweist darüber hinaus tendenziell auf Repräsentation und lässt an das Konzept der »repräsentativen Öffentlichkeit« (Jürgen Habermas) denken. Unzweifelhaft funktionierte die viel zitierte symbolisch-performative Kommunikation in vormodernen Öffentlichkeiten – auch ohne die Habermas’sche Prämisse eines Wandels hin zu einer modernen »bürgerlichen Öffentlichkeit« – nicht ohne körperliche Präsenz der Akteurinnen und Akteure.17 Allerdings sind Präsenz und Kopräsenz im Sinne von Giddens weiter gefasst als »repräsentative Öffentlichkeit« und nicht nur in erster Linie auf inszenierte Herrschaft, sondern auch auf Interaktionsrituale in alltäglichen Situationen anwendbar. Bei einer etappenweisen tour d’horizon durch die Theorieangebote fällt vor allem auf, in wie vielen sich gegenseitig mitunter strikt abgrenzenden Konzepten Präsenz, und damit verbunden Aspekten der Sichtbarkeit, Relevanz zukommt. Gerd Schwerhoff hat so auch »eine gewisse Kontinuitätslinie« vom Modell der »repräsentativen Öffentlichkeit« des Jürgen Habermas zur »Anwesenheitsgesellschaft Rudolf Schlögls« konstatiert.18 Der zentrale Aspekt in Schlögls kommunikationstheoretischer Perspektive auf die frühneuzeitliche Stadt als relevantes Exempel für eine »Vergesellschaftung unter Anwesenden« ist der Umstand, dass diese »als sozialer Körper« 15 Niklas Luhmann, zit.n.: Nassehi, 2008, S. 10. 16 Giddens, 31997, v.a. S. 80f., 90, und 116-120; ferner Giddens, 1995, v.a. S. 165. 17 Habermas, 21990, S. 58-69; vgl. zur Anwendbarkeit auf die Stadtgeschichte Schwerhoff, 2011, S. 10. 18 Schwerhoff, 2011, S. 10. Auch Schwerhoff selbst konstatiert: »Die Öffentlichkeit der frühneuzeitlichen Stadt war ganz wesentlich eine Präsenzöffentlichkeit« (ebd., S. 23). 48
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
eben bis ins 18. Jahrhundert nicht mittels Schrift und Druck funktioniert habe. Die zentral wichtigen Medien dieser interaktionsbasierten Gesellschaft sind für Schlögl vielmehr »(neben der Rede selbstverständlich) der Körper und die Dinge in ihrem Arrangement, der Raum und die Zeit«.19 Bei Präsenz und Performanz spielen – quasi aufführungstechnisch gedacht – immer auch Aspekte der Sichtbarkeit eine Rolle.20 Versuche der Regulierung von Distinktion und Devianz erfolgten deshalb, wie zu zeigen ist, über das buchstäbliche Einräumen der Möglichkeit von Präsenz sowie sichtbare Markierungen. Interessant sind dabei aber nicht nur die Inszenierungen, sondern auch solche Fälle, in denen Präsenz eingeschränkt oder ganz unterbunden und auf sichtbare Markierungen gerade verzichtet wird. Regulierungen von Präsenz und Sichtbarkeit sind eng verknüpft mit räumlichen Arrangements. Die seit Simmel und Durkheim in den Sozial- und Kulturwissenschaften diskutierten verschiedenen Raumbegriffe können hier nicht ausführlich dargelegt werden.21 Zweifellos hat der Raumbegriff in den letzten Jahren eine steile Karriere gemacht, nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in anderen Diskursen.22 Ein wichtiger Ausgangspunkt für das neue Interesse am Raum in der Geschichtswissenschaft war Martina Löws 2001 publiziertes Buch Raumsoziologie. Löw versteht Raum als »eine relationale (An)ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern«.23 Als soziale Güter gelten dabei materielle Dinge wie auch symbolische Zuschreibungen. Entscheidend für die Konstitution von Räumen sind zwei Operationen: erstens das sog. »Spacing«, d.h. das Anordnen durch 19 Schlögl, 2011, S. 33.; vgl. Ders., 2004, S. 57, wo die Mitte des 17. Jahrhunderts als Schwellenzeit genannt wird. 20 Vgl. zu Theorien des Performativen im Überblick Hempfer /Volbers, 2011. 21 Vgl. dazu differenziert Rau, 2013; zur räumlichen Konfiguration der Stadt ebd., S. 153-157; ferner Hochmuth/Rau, 2006; vgl. auch die Zusammenstellung bei Dünne/Günzel, 2006. 22 Ein auffälliges Beispiel ist der Fußball, in dessen Taktikanalysen, die man durchaus wissenschaftlich nennen darf, Aspekte des Raums mittlerweile eine zentrale Rolle spielen. »Das ist der größte Wissensvorsprung in Deutschland: eine bessere Definition des Raumes«, so der Taktikexperte Stefan Reinartz nach der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich am 9.7.2016 im Interview in der Süddeutschen Zeitung auf die Frage nach den Gründen für die Krise der englischen Nationalmannschaft, unter: www.sueddeutsche.de/sport/taktik-gespraech-mesutoezil-war-fuer-mich-einer-der-besten-offensivspieler-1.3070802, 10.07.2016. 23 Löw, 2001, S. 159f.; zum Folgenden ebd., S. 152f. 49
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»Errichten, Bauen oder Positionieren«; zweitens die zusammenfassende »Syntheseleistung« zu einem Raum durch Wahrnehmungen und Vorstellungen.24 Konstitutiv für Löws Position ist die Ablehnung eines absoluten Raumbegriffs bzw. der Vorstellung vom Raum als fixer Behälter oder bloßer Container. Stattdessen wird die Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Raums durch jeweiliges soziales Handeln betont. Dieser analytische Raumbegriff ist deutlich auf moderne Gesellschaften bezogen, und es stellt sich die Frage, ob seine Anwendung auf die longue-durée-Verhältnisse im Raumgefüge der vormodernen Stadt nicht etwas überzieht. Zum einen gilt dies für die zumindest nahegelegte permanente Dynamik der Raumkonstitution, zum anderen für den starken Akzent auf sozialem Handeln und kognitiven Wahrnehmungen, was dazu führen kann, dass die Materialität einmal installierter Räume als Faktor für Kommunikation und soziales Handeln unterschätzt wird.25 Eine anders ansetzende, post-konstruktivistische Position hat Bruno Latour formuliert, der explizit »Objekte zu Beteiligten an der Handlung machen« will.26 Zwar geht er dabei nicht so weit zu sagen, dass Dinge bzw. Artefakte autonom handeln. Er plädiert aber dafür, die Dinge in ihrer Materialität nicht nur als Hintergrund oder Bühne zu verstehen, sondern ihnen mehr Wirkungsmacht zuzuschreiben, als dies gewöhnlich in der Soziologie geschieht. Auf dieser Argumentationslinie »könnten Dinge vielleicht ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort.«27 Zwar gibt es seit langem eine reichhaltige Forschung zur Bau- und Architekturgeschichte der alten Stadt. Unter dem Einfluss der englischen Material Culture Studies beschäftigt sich die deutschsprachige Frühneuzeitforschung zur Geschichte der materiellen Kultur aber derzeit vorwiegend mit Konsum- oder Luxusgütern oder auch mit dem Raum des (städtischen) Hauses.28 Bezogen auf das bauliche Ensemble und die öffentlichen Gebäude der alteuropäischen Stadt wurden die theoretischen Impulse von Latour 24 Löw, 2001, S. 158f. 25 Diese Feststellung auf die Gefahr hin, als Verfechter eines ›absoluten‹ RaumKonzepts zu gelten; vgl. aber die ähnlich ansetzende Kritik in Dünne/Günzel, 2006, S. 302; ferner Schroer, 2006, S. 130f. 26 Latour, 32014, S. 121; vgl. zur »Materialisierung des Kulturellen« in den Sozialund Geisteswissenschaften auch Reckwitz, 2014, S. 13. 27 Latour, 32014, S. 124. 28 Vgl. zur Forschungslage Siebenhüner, 2015; vgl. zum städtischen Haus in der Frühen Neuzeit demnächst die Habilitationsschrift von Julia A. Schmidt-Funke. 50
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
oder auch Thomas F. Gieryn (What buildings do) hingegen kaum aufgegriffen.29 Dabei ist es evident, dass z.B. der große Rathaussaal mal als Versammlungsstube der Ratsherren, mal als Tanzparkett für die führenden Familien der Stadt dienen konnte und der soziale Raum dabei ein jeweils anderer, also veränderlich war. Beide Male aber beeinflussten die Materialität dieses Raums und das damit verbundene Prestige, seine Geschichte, Ausstattung und Symbolik, die Wahrnehmung und Praxis nicht unerheblich. Einige materielle Spezifika des städtischen Raums waren von großer Wirkungskraft auf das Soziale, verstehe man dies nun als Kommunikation oder als Handeln. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele finden. So prägten hohe Stadtmauern und abschließbare Stadttore die Beziehungen zwischen Stadt und Umland. Wer hinein- und wer hinausging, war mit dieser steinernen Apparatur relativ leicht, wenn auch nicht vollständig, kontrollierbar. Ob Fremde wollten oder nicht, sie mussten durch das Stadttor hindurch. In Frankfurt existierte die Ghettoisierung der jüdischen Einwohnerschaft über Aufklärung und Revolution hinaus so lang, bis das Ghetto in seiner materiellen Existenz im Juni 1796 durch Beschuss der französischen Truppen fast völlig zerstört wurde. Erst danach wurde es Juden schrittweise und gegen Widerstände erlaubt, überall in der Stadt zu wohnen.30 Faktisch führte der zufällige (sic!) Brand von mindestens 119 Häusern in der Judengasse als Folge der Kanonade dazu, dass die Juden über die Stadt verteilt neben und mit Christen wohnten und sich dadurch eine neue Praxis ergab, die dann im Zeitalter der Emanzipation nur noch schwerlich umkehrbar war. Ein drittes, weniger prominentes Beispiel für die strukturierende Wirkung der Materialität des Raums sind Alltagskonflikte auf der Straße. Denn zu Ehrenhändeln kam es auffällig häufig immer wieder in engen Gassen und an Stadttoren, da die unausweichliche Enge von Gasse und Tor von den Passanten eine Entscheidung über die Frage des Vortritts erzwang.31 Ursächlich war hier zwar das agonale Ehredenken der Zeitgenossen. Aber die materielle Raumstruktur der städtischen Lebenswelt gab der Praxis der Ehrenhändel eine spezifische Signatur und beeinflusste so die Performanz. Es stellt sich die Frage, wie Präsenz und Sichtbarkeit in vormodernen Stadtgesellschaften eingesetzt wurden, um Zugehörigkeit und Heterogenität zu regulieren. Generell kann Präsenz entweder allen Stadtbewohnern gestattet oder eingeschränkt und abgestuft werden. Ebenso generell gilt, dass körperliche Präsenz eng mit Macht korrespondiert. Die beiden Aspekte lassen sich als Frageraster 29 Mit Bezug auf Simmel, Giddens und Bourdieu Gieryn, 2002. 30 Kracauer, 1927, Bd. 2, S. 331-335. 31 Vgl. Eibach, 2002. 51
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übergreifend auf ganz verschiedene Handlungsfelder der komplexen Stadtgemeinschaft beziehen. Dabei kann man unterschiedliche Modi im Umgang mit Heterogenität miteinander vergleichen. Im Folgenden soll versucht werden, das Feld durch einen Vergleich mehrerer Städte breiter zu bestellen. Die Phänomene, um die es geht, sind nicht neu oder unbekannt: erstens die Präsenz bei städtischen Ritualen wie Fest- und Schwörtagen; zweitens die räumliche Verortung von Heterogenität in Wohnquartieren und an bestimmten Standorten im städtischen Areal; drittens die Funktionsweisen der Strafjustiz. Über alle drei Aspekte verfügen wir mittlerweile über gute Einzelforschung. Ein Vergleich ergibt zwar recht grobkörnige Bilder. Zu hoffen ist gleichwohl, dass er etwas zum Verständnis der Mechanismen politisch-sozialer Ordnung in vormodernen Städten beisteuern kann. Wie meisterten Städte in praxi den Spagat zwischen gewünschter concordia und realer Heterogenität der Einwohnerschaft? Waren nicht soziale Flexibilität und eine Portion Pragmatismus unverzichtbar, um, wie es im Englischen treffend heißt, ›keep the city running‹? Mit Blick auf pogromartige Unruhen oder auch die Bilderstürme während der Reformation wird man feststellen müssen, dass in religiösen Dingen Pragmatismus keineswegs immer vorherrschte. Aber möglicherweise verfügten Stadtgesellschaften doch über eine spezifische, langfristig sich bewährende politische Erfahrung und eine quasi lebensweltliche Logik im Umgang mit Heterogenität, die im Kontrast zu Versuchungen eines rigorosen Purismus stand. Die drei im Folgenden näher zu skizzierenden Bereiche von Präsenz und Sichtbarkeit lassen ein bestimmtes Muster der Differenzierung erkennen. Man kann – den Raumaspekt analytisch wie auch metaphorisch gebrauchend – zwei Kreise der Beteiligung der Akteure konstatieren: einen äußeren Kreis, in dem (mehr oder weniger) alle Gruppen der Einwohnerschaft zugangsberechtigt und damit präsent waren, und einen inneren Kreis für die privilegierten, männlichen Bürger. In mancher Hinsicht ließe sich in diesem inneren Kreis noch einmal ein innerster Kreis für die Angehörigen der patrizischen Familien, der sog. Geschlechter, ziehen. Der Widerspruch zwischen Einheit und Heterogenität wurde also durch weiter oder enger gefasste Regeln der Zugänglichkeit und Sichtbarkeit austariert.
3. Städtische Fest- und Schwörtage Patrick Schmidt und Horst Carl haben in einem Band über die Stadtgemeinde in der Frühen Neuzeit bemerkt: »Eine Prozession konnte immer Ausdruck städtischer Einheit sein, aber auch Visualisierung der Hierarchie […]. Dieses 52
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
Spannungsverhältnis wurde möglicherweise als solches nicht immer wahrgenommen«.32 Eine solche Gleichzeitigkeit oder Ambiguität wird man im Kontext der Ständegesellschaft auch für das Begriffspaar Einheit und Heterogenität konstatieren können: Mit der Aufführung von concordia war immer auch die Präsenzmachung von Verschiedenheit verbunden. François de Capitani spricht deshalb mit Blick auf politische Stadtfeste in der Schweiz von einem »Spiel von Integration und Abgrenzung«.33 Dabei war die Teilnahme an den zentralen Ritualen einer kleinen Minderheit vorbehalten: An hohen Festtagen gab es eine jeweils spezifische Präsenz der privilegierten Bürgerschaft, die sich als die eigentliche conjuratio und Essenz der concordia verstand. Diese Exklusivität korrespondierte jedoch mit einer allumfassenden Öffentlichkeit anderer Teile der Inszenierung, die für das Geschehen ebenfalls konstitutiv waren. So fand der zweimal pro Jahr abgehaltene Schwörtag in Zürich, wie Uwe Goppold gezeigt hat, im ersten Teil als geschlossene Gesellschaft der Bürgerschaft und der Amtsträger, im zweiten Teil als öffentliche Prozession und Festlichkeit der gesamten Bevölkerung statt.34 Auf den Schwurakt als Eid aller zur Präsenz verpflichteten Bürger, des Großrats und des Kleinen Rats hinter verschlossenen Türen im Zürcher Münster folgte der Zug des neu gewählten Bürgermeisters und der Amtsträger durch die Straßen der Stadt. Die umfassende Öffentlichkeit dieses Zugs unter Beteiligung der gesamten Einwohnerschaft und auch aller zufällig anwesenden Fremden als Publikum war Bestandteil des Rituals. Seit dem 17. Jahrhundert bildeten die Umzüge in Schweizer Städten den »eigentlichen Mittelpunkt der politischen Repräsentation«.35 Den Zürcher Schwörtag beschlossen Festmähler und Trinkgelage, die teilweise von der Obrigkeit finanziert waren. Indem die Zunftbürger abends in ihren eigenen Zunftstuben feierten, andere Einwohner dagegen auf den allgemein zugänglichen Festen, offenbarten die Festlichkeiten zwar auch ständisch-korporative Trennlinien, andererseits aber eine concordia der Stadt in der Praxis geselligen Trinkens. Analog zum Beispiel Zürich lässt sich auch in Bern im Kontext der regelmäßigen Ratserneuerungen (sog. Osterhandlung) – ab 1683 allerdings nur noch in einem Rhythmus von etwa zehn Jahren – eine strikt nichtöffentliche Amtseinsetzung von einem öffentlichen Umzug des Rats unterscheiden. Zur Verkündung der Namen aller bestätigten bzw. neu gewählten Ratsherren wurde die Ein32 33 34 35
Schmidt/Carl, 2007, S. 15. De Capitani, 1995, S. 116. Goppold, 2007, S. 187. De Capitani, 1995, S. 122. 53
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wohnerschaft in der großen Rathaushalle versammelt. Es folgten Mittagsmahle der Zünfte und Gesellschaften mit ihren Ratsherren unter Ausschluss minderberechtigter Einwohner und Frauen auf den Gesellschaftsstuben sowie schließlich allgemein zugängliche Festlichkeiten und Umzüge der Zunftgesellschaften in der ganzen Stadt. Der Rat der reformierten Stadt Bern sah sich 1614 veranlasst, seine Mitglieder zu ermahnen, sie sollten zu den Umzügen anlässlich der Amtseinführung des Rats nicht betrunken erscheinen. Denn dies habe für Lachen und Spott gesorgt.36 Dieses Monitum unterstreicht zum einen die Bedeutung der Festlichkeit, zum anderen die Erwartungshaltung, dass auch im Rahmen einer solchen Vergemeinschaftung soziale Distanz zu wahren war. Das Beispiel Bern ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil hier zum Kreis der Präsenten bei der Osterhandlung auch die Einwohner der gesamten Landschaft, also des unter der Herrschaft Berns stehenden ländlichen Territoriums, zählten. Gleichwohl blieben eben in der Einheit der Stadt im Festgeschehen die ständischen Unterschiede durch ein elaboriertes Regime der Präsenz und Zugänglichkeit sicht- und greifbar. Andreas Würgler unterscheidet deshalb mit Blick auf die Abläufe während der Berner Osterhandlung eine zweistufige »Inszenierung der Differenz«, gefolgt von einer »Inszenierung der Gleichheit«.37 Allerdings waren selbst dieser ›Gleichheit‹, wie gesehen, Grenzen gesetzt. Eine ähnliche Inszenierung von Einheit und Differenz lässt sich auch in der Reichsstadt Frankfurt feststellen. Nach dem Ausgang der Zunftunruhen hatte der Rat Ende des 14. Jahrhunderts vom Kaiser zwar die Erlaubnis erhalten, die Bürgerschaft nach Gutdünken zu Treue- und Gehorsamseiden zu versammeln.38 Davon wurde aber wohl selten Gebrauch gemacht. Ebenso wie in Bern scheinen jährliche Schwörtage auch im frühneuzeitlichen Frankfurt nicht mehr abgehalten worden zu sein. Die zentralen Rituale fanden in der kaisernahen Reichsstadt stattdessen im Kontext der Wahlen und Krönungen statt. Typisch war dabei die Zweiteilung mit einem inneren und einem äußeren Kreis von Akteuren aus der Einwohnerschaft, wobei in Frankfurt noch ein innerster Kreis der hohen und höchsten Amtsträger des Reichs hinzukam. Vor der Ankunft der Würdenträger hatte sich die Bürgerschaft auf dem Römerberg zu versammeln und zu schwören, die Sicherheit von Kurfürsten und Kaiser während deren Anwesenheit zu gewährleisten, wenn sie nicht ihre Privilegien verlieren wollte. Nach der Bürgerrevolte von 1612-1614 war es eine heikle Frage, wer den schon von der 36 Ebd.; vgl. die Beschreibung der Berner Osterhandlung bei Würgler, 2004, S. 81-86. 37 Würgler, 2004, S. 83. 38 Bothe, 1913, S. 127. 54
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
Goldenen Bulle verlangten Sekuritätseid vor den Kurfürsten leisten sollte: die Bürgerschaft insgesamt oder aber der Rat. Bei den Kaiserwahlen von 1657/58 wurde diese Frage vor allem auf Intervention der Kurfürsten hin im Sinne einer Vertretung durch Bürgermeister und Rat vor dem Mainzer Kurfürsten entschieden39; ein Umstand, der vielleicht bereits als eine Etappe in der Entwicklung hin zugunsten von kontrollierbaren Verfahren unter Beteiligung weniger Funktionsträger anstelle von Massenritualen zu deuten ist. Ob und wie lange aus Anlass von Wahl und Krönung alle Fremden die Stadt verlassen mussten, wie Friedrich Bothe bemerkt, ist unklar.40 1658 fand die in der Goldenen Bulle festgelegte Ausweisung während des Wahlakts noch statt. Nach der Krönung huldigten Rat und Bürgerschaft dem neuen Kaiser. An Krönungstagen hatte die Bürgerschaft zudem als für die Sicherheit mitzuständige Wache das Recht und die Ehre der Präsenz auf dem Römerberg. Diese Präsenz in Waffen war während der wiederholten Verfassungskonflikte in der Reichsstadt eine heikle und umstrittene Sache.41 Zugleich nahm das ›Volk‹, also die gesamte Einwohnerschaft, unabhängig von der Konfession, am Krönungstag an den Festlichkeiten mit Ochsenbratküche und Weinbrunnen auf dem Römerberg teil. Auch bei dieser Inszenierung wurde nicht bloß Heterogenität in puncto Status und Herkunft der Teilnehmenden zugelassen. Ähnlich wie bei Schweizer Stadtfesten kam es zu sichtbarer, im Fall Frankfurts ostentativer Integration von Devianz in das Schauspiel, wenn sich die alkoholisierten Männer unter den Augen von Kaiser und Kurfürsten, die zur selben Zeit im Römer tafelten, tumultartig um die ›Reliquien‹, d.h. um die Bestandteile der ephemeren Festarchitektur, sowie um Fleisch und Wein rauften.42 Allein die jüdische Bevölkerung Frankfurts blieb von Ritual und Spektakel am Krönungstag ausgeschlossen. Die seit dem Mittelalter bestehende Frankfurter jüdische Gemeinde war eine der größten und bedeutendsten im Reich. Ihr Recht auf Präsenz in der städtischen Lebenswelt war nicht nur am Krönungstag, sondern generell stark reglementiert. Durch das von christlicher Seite gesetzte Recht, die sog. Stättigkeit, war die jüdische Bevölkerung in vielerlei Hinsicht auf das Innere der Judengasse, eines in den 1460er Jahren eingerichteten Ghettos, beschränkt, wenngleich von einer kompletten Abschottung zwischen christlichen und jüdischen Frankfurtern keine Rede sein kann. Bei der Krö39 Schnettger, 2006, S. 256-258. 40 Bothe, 1913, S. 111 und 409; Schnettger, 2006, S. 256f.; vgl. zum Folgenden auch Meyn, 1980, S. 37f. 41 Vgl. näher dazu Eibach, 2003, S. 124. 42 Sieber, 1913; vgl. die kommentierten Abbildungen bei Schomann, 1982. 55
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nung Karls VI. 1711 leistete die jüdische Gemeinde separat einem kaiserlichen Stellvertreter den Huldigungseid. Nachdem hohe Amtsträger des Reichs bei der Krönung Josephs II. am 3. April 1764 dem Frankfurter Rat Anweisung gegeben hatten, den Jüdinnen und Juden die Teilnahme als Zuschauer am Krönungszug zu gestatten, allerdings nur sofern diese dabei nicht auf der Straße stehen blieben, ließ der Rat noch 1790 bei der Wahl und Krönung Leopolds II. die Tore des Ghettos schließen und sogar mit Soldaten besetzen.43
4. Verortungen im städtischen Raum Für Fest- und Schwörtage mit ihren ritualisierten Handlungen waren Inszenierungen mit fixen Platzierungen und Präsenzzeiten der beteiligten Akteurinnen und Akteure konstitutiv. Auch die Topographie und architektonische Anlage der zentralen Gebäude und Plätze in der Stadt wurde an der »Idealvorstellung eines geordneten, geeinten und friedlichen städtischen Gemeinwesens«44 ausgerichtet, selbst wenn dabei auf das gewachsene Stadtbild Rücksicht genommen werden musste. Doch inwiefern galten Regeln der Platzierung und Präsenz der Dinge bzw. Körper auch im Alltagsleben der Stadt? Die Forschung zur Anwesenheitskommunikation hat alltägliche Verortungen in der vormodernen Stadt bislang wenig beachtet. Relevant ist in dieser Hinsicht die sozialtopographische Verteilung der Wohnorte. Je nachdem, welche Art von Heterogenität man anschaut, lassen sich im Hinblick auf die Wohnorte der Stände, Berufsgruppen und Religionsgemeinschaften sowohl Versuche einer von oben geregelten räumlichen Scheidung feststellen als auch sozialtopographische Muster, die eher bottom up, d.h. aufgrund von Optionen und aus der Praxis der Akteurinnen und Akteure heraus, entstanden sind. In dieser Hinsicht geht es – auf den ersten Blick – nicht um Repräsentation, sehr wohl aber um die Macht des Anordnens (›Spacing‹) und der Wahrnehmung (›Synthese‹) des städtischen Raums. Dabei zeigt sich neben klaren Grenzziehungen ein hohes Maß an Uneindeutigkeit bzw. Durchmischung, was gut zu der genannten Flexibilität und dem Aspekt Pragmatismus passt. Schaut man zunächst auf die soziale Heterogenität der Einwohnerschaft, so entsprach deren Verortung dem Modell zentralperipherer Abstufung im städtischen Raum.45 Man kann auch in dieser Hinsicht von mehreren Kreisen der 43 Kracauer, 1927, Bd. 2, S. 128f., 304 und 312. 44 Oberste, 2008, S. 10. 45 Isenmann, 1988, S. 63-65. 56
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
Zugehörigkeit sprechen. Die Standorte um den Marktplatz und das Rathaus im Zentrum der Stadt waren bei Patriziern, Kaufleuten und reichen Gewerbetreibenden begehrt.46 Die Quartiere der armen oder auch diskriminierten Einwohner lagen dagegen eher an der Peripherie oder in den Vorstädten größerer Städte. Dabei wurden oft naturräumlich vorgefundene Grenzen und Abstufungen ausgenutzt, um Heterogenität räumlich zu markieren. Dies gilt etwa für das Mattenquartier in Bern, für Kleinbasel oder Frankfurt-Sachsenhausen. Die Berner Matte diente bis ins 20. Jahrhundert als Wohnviertel der Armen, d.h. solcher Stadtbewohner, die nur ein sehr geringes Vermögen versteuerten. Die Matte lag bzw. liegt direkt am Ufer der Aare und damit deutlich unterhalb von Rathaus, Kirche und den Hauptgassen Berns.47 Diese räumliche Abscheidung auf engstem Raum führte sogar dazu, dass sich unter den Bewohnern der Matte ein eigenes Idiom ausbildete. Naturräumlich vom städtischen Zentrum geschieden war auch das am nordöstlichen Ufer des Rheins gelegene Kleinbasel, das von Basel aus gesehen auf der anderen Seite des Rheins situiert ist.48 Und auch Sachsenhausen, bestehend aus zwei Quartieren mit einer Einwohnerschaft aus vor allem Fischern, Gärtnern und kleinen Gewerbetreibenden mit niedrigem Einkommen, wurde vom Zentrum und den wohlhabenderen Gassen des kaufmännisch-patrizischen Frankfurt durch den Main deutlich sichtbar getrennt.49 Der Unterschied zwischen Frankfurt und Sachsenhausen war im Bewusstsein der frühneuzeitlichen Stadtbevölkerung fest verwurzelt. Jedenfalls gilt dies für den Diskurs der Obrigkeit und der Eliten. So etikettierte die übliche Protokollierung des Begriffs »der Sachsenhäuser« oder »die Sachsenhäuserin« in Vernehmungsprotokollen durch die Gerichtsschreiber eine Form von sozialräumlicher Devianz innerhalb der vollberechtigten Bürgerschaft. Denn Einwohner anderer Quartiere wurden ohne einen derartigen Ortsbezug notiert. Das Etikett »Sachsenhäuser« stand für grobe, bäuerlich-unzivilisierte Verhaltensweisen des ›Volks‹, die aus Sicht des ehrbaren patrizisch-kaufmännischen Frankfurt ›das Andere‹ darstellten. Bei den beiden großen Frankfurter Verfassungskonflikten im frühen 17. und im 18. Jahrhundert figurierten Bürgerschaft und Zünfte bzw. die Repräsentanten des Bürgermilitärs »beider Städte Frankfurt und Sachsen46 Grundlegend für Frankfurt Gerber, 1932; vgl. den Beitrag von Andreas Hansert in diesem Band. 47 De Capitani, 1982, v.a. S. 22f.; Gerber, 1999; Roth, 2008. 48 Hotz u.a., 2010. 49 Gerber, 1932, S. 24-26; vgl. zu Sachsenhausen und dessen Wahrnehmung Eibach, 2003, S. 276-279. 57
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hausen«50 als verantwortlich für die Bittgesuche, so als wenn es sich um zwei unterschiedliche Kommunen handelte. Das Beispiel Frankfurts und Sachsenhausens unterstreicht, dass sich die Identitätskonstruktionen – anders gesagt: die Konstruktion des Raums durch synthetisierende Wahrnehmungen – innerhalb der Bürgerschaft nicht immer auf die Stadt als Ganzes oder zünftische Gesellschaften, sondern oft enger auf Haus, Quartier und Nachbarschaft bezogen. Nach Auskunft von Egodokumenten wie dem berühmten Buch Weinsberg in Köln gilt dies nicht nur für Fremd-, sondern auch für Selbstzuschreibungen.51 Eine bestimmte Verteilung und Massierung sozialer Gruppen entsprechend einem Schema Zentrum versus Peripherie ließe sich auch anhand der europäischen Metropolen aufzeigen. So konzentrierten sich in Paris die handarbeitenden Schichten und die migrierenden Armen aus den ländlichen Gebieten Frankreichs, die im 18. Jahrhundert das enorme demographische Wachstum der Stadt beschleunigten, in den faubourgs. Das »brüchige Leben« in diesen vorstädtischen Quartieren ist von Arlette Farge eindrücklich beschrieben worden.52 In den mittelgroßen Städten der Frühen Neuzeit wurden die Tendenzen zur sozialen Trennung der Wohnquartiere jedoch austariert durch eine starke soziale Durchmischung, zumindest in den zentraler gelegenen Arealen. Kaufleute und Patrizier wohnten neben Gewerbetreibenden und Krämern. Für ihre Standortwahl war nicht nur die Nähe zum politischen und geschäftlichen Geschehen, sondern auch die Lage an möglichst breiten, verkehrsreichen Straßen oder Plätzen, die Helligkeit des Standorts sowie die Größe und Höhe der Fassaden wichtig. So hatten Eckhäuser den Vorteil, dass ihre Fassaden von zwei Seiten her sichtbar waren. Es ging dabei sowohl um Repräsentation und Ehrkapital als auch um mit Zugänglichkeit und Sichtbarkeit einhergehende geschäftlich-materielle Vorteile. Die soziale Durchmischung bedingte, dass sich die Angehörigen der Eliten sofort unter einfachem ›Volk‹ bewegten, wenn sie ihre Häuser verließen. So standen die Häuser der Frankfurter Patriziergesellschaften auf dem Römerberg in unmittelbarer Nachbarschaft zur sog. Schirn, den Verkaufsständen der Metzger. Dienstmägde, Gesellen und Bedienstete sorgten für eine solche soziale Durchmischung nicht nur der Viertel, sondern auch der Häuser. Eine strikte Segregation nach sozialen Kriterien sollte sich erst in den Städten des 19. Jahrhunderts durchsetzen, indem Viertel neuen Zuschnitts mit frei stehenden 50 Hohenemser, 1920, S. 4: »Herrn Capitains, Lieutenants und Fähnrichs beider Städte Frankfurt und Sachsenhausen«. Nach Bothe, 1913, S. 410, supplizierten 1612 »die gemeinen Zünfte und Bürgerschaft Frankfurts und Sachsenhausens«. 51 Schwerhoff, 2009. 52 Farge, 1989. 58
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Häusern für das Bürgertum oder aber Arbeiterquartiere mit Reihenhäusern und Mietskasernen angelegt wurden. Sehr wahrscheinlich nahmen Tendenzen zur räumlichen Segregation – im Kontrast zu selbstverständlicher Kopräsenz – nach ethnischen und religiösen Kriterien ab dem Spätmittelalter, beschleunigt durch Reformation und konfessionelles Zeitalter, zu. So gab es in norddeutschen Städten bereits im Spätmittelalter sog. Wendenquartiere.53 Im Hinblick auf religiöse Heterogenität stellte neben der Ghettoisierung die Ausweisung von Andersgläubigen den Extremfall dar. Das markante Beispiel des Frankfurter Ghettos verweist hier erneut auf die Bedeutung von Präsenz und Sichtbarkeit. Denn vor dem Bau des Ghettos außerhalb des alten Stadtzentrums ab 1460 hatten viele Frankfurter Juden noch in bester Wohnlage an den Hauptstraßen in der Nähe des Mains gewohnt. Synagoge und Pfarrkirche hatten nahe beieinander gelegen. Die Initiative zum Bau des Ghettos und zur Verlegung der Synagoge von dem belebten Ort hinter eine Mauer scheint vor allem von Kaiser Friedrich III. ausgegangen zu sein. Die Judenschaft hatte sich gewehrt, indem sie anbot, die Tore und die Fenster der Synagoge zu vermauern, zudem zu Zeiten von Prozessionen mit sakralen Objekten durch die Gassen die Fenster und Türen ihrer Wohnungen zu schließen.54 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieben in Frankfurt Regelungen der Stättigkeit in Kraft, welche es Mitgliedern der jüdischen Gemeinde vorschrieben, außerhalb der Judengasse nur allein oder zu zweit, nicht aber in Gruppen aufzutreten. Zentrale Orte wie den Römerberg sollten sie meiden. Die Tore der Judengasse wurden nachts sowie an Sonn- und Festtagen verschlossen, was einer Einsperrung gleichkam, wenngleich kleine Türen in den Toren das Einund Ausgehen nicht vollständig verhinderten. Angesichts dieser markanten Limitierung von Präsenz ist es auffällig, dass die jüdische Gemeinde in ihrer Gasse innerhalb der Stadtmauern über eine Synagoge verfügte. Die spätmittelalterliche Ghettoisierung und Stadterweiterung hatte nicht dazu geführt, dass der Rat der Gemeinde das Recht auf ihre rituelle Praxis in einem umgrenzten, stillen Raum innerhalb der Stadtmauern entzog. Dabei könnte eine Rolle gespielt haben, dass eine Synagoge bereits vor der Ghettoisierung bestanden hatte und dass die in der Judengasse neu erbaute Synagoge außerhalb der alten Kernbesiedelung auf freiem Feld lag. Einmal erbaut, erwies sich die Judengasse jedenfalls mitsamt der Synagoge als räumliches Arrangement von langer Dauer.55 53 Angaben bei Isenmann, 1988, S. 64. 54 Kracauer, 1925, Bd. 1, S. 198f. 55 Vgl. dazu auch den Beitrag von Matthias Schnettger in diesem Band. 59
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Die drastische Maßnahme der räumlichen Segregation durch Ghettoisierung wurde noch durch den Extremfall des Pogroms im Verbund mit gewaltsamer Vertreibung aus der Stadt übertroffen. Dazu sollte es in Frankfurt bekanntlich 1614 während des sog. Fettmilch-Aufstands kommen, der von einer gegen den patrizischen Rat gerichteten Bürgeropposition getragen wurde.56 In diesem Fall wird es schwerfallen, in puncto Präsenz und Raumregime Spuren von Flexibilität und Pragmatismus aufzuzeigen. Mit dem Historiker der Frankfurter Juden Isidor Kracauer kann man nur geltend machen, dass zu Krisenzeiten bzw. nach verheerenden Bränden in der Judengasse einige (1614) oder auch zahlreiche (1796) Frankfurter Juden in den Häusern christlicher Bürger Unterkunft bzw. Zuflucht fanden.57 Kopräsenz von Juden und Christen in der häuslichen Sphäre scheint in diesen Fällen kein großes Problem gewesen zu sein. Lässt sich unerwünschte Heterogenität im strafrechtlichen Sinne, also Delinquenz, in bestimmten Räumen des städtischen Areals verorten? Die Frankfurter Judengasse ist geradezu ein Musterbeispiel für die etikettierende Wahrnehmung eines sozialen Raums als Ort ›unehrlichen‹ Treibens (Betrug, Hehlerei, religiöse Devianz). Faktisch, d.h. im Alltag, bestanden jedoch zwischen christlichen und jüdischen Frankfurtern mehr Beziehungen, als dem Rat lieb war.58 Die Frage nach der Etikettierung und Verortung von Delinquenz zielt in eine etwas andere Richtung und ist – über den Fall des Ghettos hinaus – auch schwieriger zu beantworten als die Frage nach den Wohnquartieren. Wie wiederholt festgestellt wurde, war physische Gewalt in der Vormoderne direkt sichtbar und fast omnipräsent, d.h. eben noch nicht versteckt hinter bürgerlichen Fassaden oder abgedrängt in die banlieues der Großstädte. Mehr noch, körperliche Gewalt zwischen jungen ledigen Männern war bis ins 18. Jahrhundert hinein als agonales Spektakel in die performativen Abläufe politischer Inszenierung integriert. Dies gilt nicht nur für Krönungstage in Frankfurt, sondern auch für Besuche hoher Würdenträger in italienischen Städten.59 Der Versuch einer strikten Abgrenzung lässt sich dagegen im Fall der Prostitution feststellen, und zwar bereits ab dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts. Prostitution wurde zwar nicht gleich verboten, aber nur noch in klar definierten Gassen und Arealen, etwa in Straßburg »hünder die muren oder an ander ende«,
56 57 58 59 60
Kracauer, 1925, Bd. 1, S. 386-391; vgl. dazu auch Friedrichs, 1986. Kracauer, 1925, Bd. 1, S. 390; Ders., 1927, Bd. 2, S. 335; vgl. auch ebd., S. 126. Näher dazu Eibach, 2003, S. 354-371. Davis, 1994, v.a. S. 3 und passim.
Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt
geduldet.60 In Basel wohnten die Prostituierten mit fahrenden Leuten auf dem innerstädtischen Kohlenberg unter Aufsicht des Scharfrichters.61 Damit wurde Prostitution quasi ghettoisiert. Sie wurde auch nach der Reformation noch in den Städten praktiziert, der Ort des Geschehens sollte aber im städtischen Raum nicht sichtbar sein. Bei den Frauen selbst zielten städtische Kleidervorschriften hingegen insofern auf Sichtbarkeit ab, als die verlorene Ehre anhand stigmatisierender Kleidung unmittelbar ablesbar sein sollte. Räumliche Separierung und vestimentäre Stigmatisierung griffen hier also ineinander.62 Dieser Befund gilt gleichermaßen für die jüdische Bevölkerung, für die sich auch noch eine weitere Parallele hinsichtlich Präsenz und Sichtbarkeit aufzeigen lässt: Vergleichbar mit temporären Präsenzbeschränkungen für Juden ist der Umstand, dass Prostituierte im Mittelalter an kirchlichen Festtagen in ritualisierter Form aus der Stadt verwiesen wurden.63
5. Funktionsweisen der Strafjustiz Auch im Hinblick auf die Strafjustiz lassen sich zwei Kreise der Partizipation feststellen. Die Nutzung der Justiz64 hat auf den ersten Blick nichts mit Präsenz und Sichtbarkeit zu tun. Das städtische Strafrecht der Frühen Neuzeit statuierte im Gegensatz zu anderen Rechtsbereichen sogar bemerkenswert viel Rechtsgleichheit. In Strafsachen konnten Bürger wie Nichtbürger, Männer wie Frauen, Einheimische wie Fremde, Christen wie auch Juden die Gerichte in Anspruch nehmen. Die Personifikation der Justitia erhielt um 1500 das Attribut der Augenbinde. Als Statue oder Wandgemälde prangte sie in vielen Städten vor Gerichten bzw. Rathäusern und versprach damit, ohne Ansehen der Person zu urteilen. Zugleich bewirkten die spezifischen Funktionsweisen der Justiz aber, dass die Urteilspraxis vor allem Einheimische gegenüber Fremden bevorteilte.65 Einheimische wurden seltener angezeigt. Sie konnten während der Verfahren 60 Verordnung von 1471, zit.n. Schuster, 1992, S. 160. Schuster konstatiert »die zentrale Bedeutung, die der räumlichen Abgrenzung zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit beigemessen wurde« (ebd., S. 161). 61 Meyer, 2000, S. 42-44; Simon-Muscheid, 2004, S. 209-238; vgl. zum Wohnort des Scharfrichters Nowosadtko, 1994, S. 224-239. 62 Vgl. systematisch zur Stigmatisierung Jütte, 1993. 63 Schuster, 1995, S. 73. 64 Vgl. zum Begriff Dinges, 2000. 65 Vgl. dazu näher Eibach, 2009. 61
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auf Zeugen und Suppliken hoffen und hatten damit die Chance, einen guten Leumund unter Beweis zu stellen. Vom Nimbus der Zugehörigkeit zur lokalen Rechtsgemeinschaft profitierten etwa in Frankfurt auch die Beisassen, verarmte Sachsenhäuser und selbst die sonst in vieler Hinsicht diskriminierten, durch die Stättigkeit aber rechtlich abgesicherten Juden. Den äußeren Kreis bildeten hier in erster Linie die Fremden, die nicht wenigstens temporär in die städtische Rechtsgemeinschaft integriert waren. Auch sie konnten sich zwar an die Justiz wenden, um Recht zu erhalten. Aber eine auswärtige Magd oder ein auswärtiger Geselle auf Arbeitssuche mussten als potentielle ›Vaganten‹ in der Regel mit härteren oder anderen Strafen rechnen als diejenigen, die zum Gesinde in einem städtischen Haus(halt) gehörten. Die zentrale Achse der Ungleichheit vor der Justiz der Vormoderne war also der Gegensatz zwischen Fremden und Einheimischen. Was Böses von außen kam, wurde einfach wieder hinausgeschafft. So waren auch drei Viertel der in Zürich wegen einer Gotteslästerung aus der Stadt Verbannten keine Zürcher Untertanen.66 Im Augsburg des 16. Jahrhunderts war deliktübergreifend bei keiner anderen Sanktion der Anteil der Fremden so stark wie bei den verschiedenen Arten von Stadtverweisen.67 Ob intendiert oder nicht, aufgrund ihrer Offenheit zur sozialen Umwelt hin honorierte die Justiz in praxi die rechtliche Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft. Einheimische standen seltener am Pranger und wurden weniger oft ›auf ewig‹ aus der Stadt verbannt. Dabei spielte die Heterogenität – auch religiös-konfessionelle Heterogenität – innerhalb der Stadt einen untergeordneten Part. In der Bevorteilung von Einheimischen und der Abgrenzung nach außen durch Abschiebung fremder Angeklagter spiegelte die Funktionsweise der Strafjustiz eine umfassende, konsensorientierte Identität der concordia.68 Das Spektrum der Sanktionen der vormodernen Strafjustiz zeichnete sich durch große Vielfalt aus. Im Arsenal der forensischen Sanktionen spielten nicht nur der Status und das Recht auf Präsenz, sondern auch der Aspekt der Sichtbarkeit eine wichtige Rolle. Die öffentlich vollzogenen Hinrichtungen blieben selbst in der liberalen Schweiz bis um 1860 ein Spektakel, das viel Publikum anzog.69 Aber auch bei den zahlenmäßig weit überwiegenden kleineren Vergehen, die milder behandelt wurden, integrierte die alte Justiz Mechanismen der 66 Loetz, 2002, S. 183; zur »Abschiebungspolitik« der Zürcher Justiz auch S. 220. 67 Hoffmann, 1999, S. 206. 68 Vgl. näher dazu Eibach, 2004. 69 Bloch, 2014. 62
ebd.,
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Präsenz und Sichtbarkeit. So konnten Gerichte den Zugang zur Stadt oder auch den Besuch von Wirtshäusern, Gesellschaften, Gottesdienst und Abendmahl untersagen.70 Vor allem die vielfältigen, auf Ausgrenzung zielenden Ehrenstrafen setzten sui generis auf den Faktor Sichtbarkeit. Auch bei anderen Sanktionen wie dem Stadtverweis oder dem erzwungenen Umzug eines Frauenhauses konnten die Maßnahmen zusätzlich durch Inszenierungen, z.B. bunte Kleidung der Stadtdiener oder Begleitung der Delinquenten durch Stadttrommler, visuell und akustisch markiert werden, um Aufmerksamkeit zu erheischen.71 Dabei war es gerade die Sichtbarkeit des Vollzugs, z.B. bei der Strafe der sog. öffentlichen Arbeit bzw. Schanzenstrafe, der Ausbesserung der Stadtmauer oder der Reinigung der Straßen mit dem ›Dreckkarren‹, die diese, anders als der Aufenthalt im Gefängnis, zu einer gefürchteten, die Ehre angreifenden Strafe machte.72 Demgegenüber bot der Verzicht auf Ausstellung am Pranger und andere Arten der Markierung die Chance auf das Fortbestehen der Integration. Sichtbarkeit bzw. der Verzicht darauf hatte in der Urteilspraxis also gerade den umgekehrten Effekt wie bei den städtischen Integrationsritualen. Der Einsatz sichtbarer Markierungen korrespondierte nicht nur mit der Schwere, sondern auch mit der Art des Vergehens. Eine besondere Rolle fiel dabei wohl Religionsdelikten bzw. Vergehen zu, die eine religiöse Konnotation hatten. So zeigt die Urteilspraxis im Fall der gut untersuchten Blasphemie eine relativ große Affinität zur Herstellung von Sichtbarkeit. Möglicherweise hat die Tendenz zu Inszenierungen hier etwas mit dem öffentlichen Charakter der Konfession als Bekenntnis zu tun. Zudem musste eine direkte Herausforderung Gottes aufgrund der damit verbundenen Gefährdung der Stadtgemeinschaft auch innerhalb dieser Gemeinschaft, d.h. für alle und nicht zuletzt für den ehrverletzten Gott, sichtbar gesühnt werden. Wie Gerd Schwerhoff bemerkt hat, war die Frühe Neuzeit »die klassische Epoche der Schandstrafen, und der Gotteslästerung dürfte bei der Verbreitung dieser Sanktion vielerorts eine Schrittmacherfunktion zugekommen sein«.73 Francisca Loetz konnte feststellen, dass in Zürich Ehrenstrafen bei Blasphemien die häufigste Strafart waren, dazu noch Hinrichtungen und Landesverweise nach vorherigem Prangerstehen.74 Geldbußen reichten als »Wiedergutmachung gegenüber Gott«75 in der Frühen Neuzeit, anders als im 70 71 72 73 74 75
Hoffmann, 1999, S. 193f.; Loetz, 2002, S. 199f. Schwerhoff, 1991, S. 149; Ders., 1993; Schuster, 1995, S. 77. Vgl. näher Eibach, 2003, S. 401. Schwerhoff, 2005, S. 173. Loetz, 2002, S. 180f. Ebd., S. 203. 63
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Spätmittelalter, nicht mehr aus. Pranger, Schandmantel und andere Instrumente beteiligten durch ihre Standorte an belebten Orten inmitten der Stadt die gesamte Stadtgemeinschaft als concordia am Strafgeschehen. Das Gleiche gilt für Hinrichtungen, auch wenn sie vor den Stadttoren stattfanden. Im Einzelfall gab es durchaus Abstufungen der Sichtbarkeit respektive der Öffentlichkeit des Strafens. So konnten im Fall der Blasphemie in Zürich die Rats- oder Kirchentüren während der Abmahnung geschlossen sein oder aber offen stehen. Der für schweizerische Städte typische ›Herdfall‹, d.h. der Kniefall mit Erdkuss, konnte im Gefängnis, in der Kirche oder aber auf dem Marktplatz vollzogen werden.76 In mehrerer Hinsicht bietet häusliche Gewalt einen interessanten Kontrast zur Blasphemie. Die Tatbeteiligten waren hier vor allem Bürger und Bürgerinnen in ihrer Rolle als Hausväter und Hausmütter. Die Reformation hatte die Ehe als Kern der häuslichen Gemeinschaft zur ersten Ordnung Gottes auf Erden aufgewertet. Im katholischen Bereich war die Ehe weiterhin ein Sakrament, im protestantischen Raum eine quasi-heilige Institution. Störungen der christlichen Ordnung im Haus mussten also von den Richtern als gravierend wahrgenommen werden. Die Beobachtung des Geschehens in der häuslichen Sphäre durch die Justiz stellte einen wichtigen Aspekt des für die Frühe Neuzeit typischen »offenen Hauses« dar.77 Die Sanktionen waren jedoch von gänzlich anderer Art als bei der eine direkte Beleidigung Gottes darstellenden Gotteslästerung. Typisch ist der Versuch der Regulierung der christlichen Häuslichkeit durch verbale Ermahnungen oder auch kurze Haftstrafen. Ehrenstrafen waren ebenso selten wie die von vielen anzeigenden Frauen erhoffte Trennung von Tisch und Bett.78 Die Interventionen der Ehegerichte waren in aller Regel rein restitutiv, d.h. sie erfolgten in versöhnender Absicht und das implizierte zugleich: Man verzichtete hier wie bei den Sanktionen für andere Formen alltäglicher Gewalt auf jegliche Performanz und sichtbare Markierungen, um nicht die soziale Integration der in den meisten Fällen beschuldigten Hausväter zu gefährden. Nicht-Sichtbarkeit sollte hier also Inklusion gewährleisten. Gründe für die Unterschiede im Umgang mit Gotteslästerung und häuslicher Gewalt gibt es wohl mehrere. Häusliche Gewalt stellte weder das Bekenntnis in Frage noch wurde Gott direkt angegriffen. Obrigkeitliche Interventionen gegen Hausväter drohten deren Rolle als Stellvertreter der Herrschaft im Haus zu unterminieren. Es ging nicht darum, Ehekonflikte im heutigen Verständnis zu lösen, sondern darum, die heilige Institution der Ehe und damit das Haus zu 76 Ebd., S. 201f.; vgl. zum Herdfall auch Schwerhoff, 2005, S. 146. 77 Eibach, 2011. 78 Vgl. im Überblick Schmidt, 1998; zu Frankfurt Eibach, 2007. 64
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erhalten.79 Diese relative Akzeptanz der Gewalt konterkarierte die christliche Signatur der Ehe nur dann, wenn die Gewalt über die correctio domestica hinausging. Der Versuch der Regulierung häuslicher Konflikte durch rechtsbasierte, ergebnisoffene Verfahren ohne Inszenierung stand damit im Kontrast zum Spektakel der Rügerituale als tradierte Form der Kontrolle über die häusliche Sphäre auf horizontaler Ebene.80
6. Schluss Präsent und sichtbar zu sein, konnte zweierlei bedeuten: Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft oder das genaue Gegenteil, nämlich die Markierung von Exklusion. Insgesamt verweisen die angeführten Beispiele auf eine facettenreiche, vielfältig aufruf- und einsetzbare Kultur der Sichtbarkeit, die dazu diente, Heterogenität auszutarieren. Dabei darf auch die Vermeidung von Sichtbarkeit als Prinzip der Regulierung von Heterogenität nicht unterschätzt werden, was indes gerade nicht gegen deren Relevanz spricht. Am Beispiel der Justiz lässt sich das Vordringen einer anderen Funktionslogik verfolgen. Denn parallel zum Aufkommen neuer Strafzwecke verloren die alten dinglichen Strafinstrumente ihre Bedeutung. So wurden Schandesel, Trillerhäuschen, Pranger und Galgen in Frankfurt und anderen Städten seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sukzessive abgebaut. Wie die alten Stadttore störten sie nunmehr als Verkehrshindernisse. Als obrigkeitliche Symbole hatten diese Dinge ausgedient. Sie strukturierten auch nicht mehr die Wahrnehmung des städtischen Raums. In der modernen Agglomeration ohne Stadtmauer und Schwörtage kann es zwar durchaus eine städtische Identität, aber keine concordia mehr geben. Im Vordergrund stehen funktionale Probleme der Mobilität, das Thema Sicherheit und der soziale Ausgleich zwischen Arm und Reich. Anders gesagt: Um Macht auszuüben, müssen die Akteurinnen und Akteure nicht im Stadtbild präsent und sichtbar sein.
79 Vgl. jetzt grundlegend Schmidt-Voges, 2015. 80 Vgl. dazu zuletzt Haldemann, 2015. 65
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Abstract Early modern urban societies cherished integration and unity (›concordia‹), but in fact the urban sphere was highly complex and heterogeneous. The article examines how urban authorities, social groups and actors dealt with deviance and social distinction. In order to detect underlying means of inclusion and exclusion the article investigates several characteristic types of social practice. For a thorough understanding of these practices, the author refers to concepts of co-presence, visibility and space. Reoccurring public oath taking rituals are the first example analysed. The perception and structuring of urban space with regard to residential districts form another example. The third case under study is the social logic of criminal penalties. The central argument is that in early modern urban societies both inclusion and exclusion worked on the basis of varying degrees or circles of co-presence and visibility.
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Sichtbare Grenzen Katholiken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt Matthias Schnettger
Wie Etienne François in seiner magistralen Studie über Katholiken und Protestanten in der paritätischen Reichsstadt Augsburg gezeigt hat, gab es in einer frühneuzeitlichen gemischtkonfessionellen Stadt vielfältige unsichtbare Grenzen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, die die unterschiedlichsten Lebensbereiche betrafen, von der Berufswahl bis zur Namensgebung der Kinder.1 Diese unsichtbaren Grenzen haben in den vergangenen Jahren die Forschung immer wieder beschäftigt, wobei in letzter Zeit die Tendenz dahin geht, die Durchlässigkeit dieser Grenzen zu betonen.2 Der folgende Beitrag denkt diese unsichtbaren Grenzen mit, nimmt aber in erster Linie die sichtbaren Grenzen in den Blick, die sich zwischen Lutheranern, Katholiken, Reformierten und Juden in Frankfurt ausmachen lassen. Dabei erprobt er an einigen Beispielen die Tragfähigkeit und den Nutzen von Raumkonzepten zur Analyse und zur Darstellung der konfessionellen Verhältnisse in einer frühneuzeitlichen Reichsstadt. Über die Situation der christlichen Minderheiten und der Juden im frühneuzeitlichen Frankfurt gäbe es in einem raumsoziologischen Zugriff eine Menge zu sagen. Ja, diese Reichsstadt mit ihrer lutherischen Mehrheit und ihren namhaften katholischen, reformierten und jüdischen Minderheiten erscheint als ein geradezu idealer Gegenstand für diesen Analyseansatz. Die Herausforderung besteht weniger darin, geeignete Beispiele zu finden, sondern darin, aus den zahlreichen möglichen Gegenständen und Herangehensweisen einige aussage1 2
François, 1991. Vgl. z.B. Greyerz u.a., 2003; Pietsch/Stollberg-Rilinger, 2013. 73
Matthias Schnettger
kräftige Ansatzpunkte auszuwählen. Die gewählten Beispiele sind, wie bereits angedeutet, weniger mit virtuellen als mit realen Räumen verknüpft; sie sind also mit konkreten Orten in Zusammenhang zu bringen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Martina Löw der Begriff Raum im Sinne einer sozialen Konfiguration von Menschen und Dingen und deren Wahrnehmung, Imagination und Erinnerung verwendet.3 Wenn dagegen von einem Ort die Rede ist, ist derjenige physische Ort gemeint, an dem sich ein Raum konstituiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass es an einem Ort, z.B. in einer Stadt, auf einem Platz oder in einer Kirche, eine Pluralität von sich überlappenden, konfligierenden, miteinander kommunizierenden etc. Räumen geben kann und gibt. Um es deutlich zu sagen: Der Beitrag wird keine neuen Quellen präsentieren, sondern anhand bekannter Texte den Mehrwert ausloten, den das Arbeiten mit Raumkonzepten für die Untersuchung – und Darstellung – der interkonfessionellen bzw. interreligiösen Beziehungen im frühneuzeitlichen Frankfurt haben kann. Am Beginn des Beitrags steht ein Blick auf die Frankfurter Sakraltopographie an der Schwelle zur Neuzeit und ihre Veränderungen infolge der Reformation sowie auf Frankfurter Kirchenräume. Ein zweiter Abschnitt ist den Kämpfen um öffentliche Räume gewidmet. In einem dritten Teil geht es um geschlossene Räume. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und durch einige weitergehende Überlegungen zum Nutzen von raumsoziologischen Ansätzen für eine Darstellung der konfessionellen Situation im frühneuzeitlichen Frankfurt ergänzt.
1. Sakraltopographie und Kirchenräume »Als Symbole und als Zentren religiösen Lebens sind religiöse Räume ein Fokus der Identität einer Glaubensgemeinschaft. Zugleich besitzen sie damit eine wichtige Funktion zur Abgrenzung gegenüber anderen Religionen und Konfessionen. Konflikte zwischen Religionsgemeinschaften sind damit immer auch Kämpfe um die Besetzung von Räumen.«4 Diese Feststellung von Gerd Schwerhoff trifft auch und, wie mir scheint, in besonderer Weise für das frühneuzeitliche Frankfurt zu, wo diese Kämpfe im 16. Jahrhundert besonders heftig geführt wurden und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts andauerten. Damit dürfte auch für Frankfurt gelten: »Gemischtkonfessionelle Städte und Regionen […] 3 4 74
Löw, 2001, S. 224-230. Vgl. Dies./Steets/Stoetzer, 22008; Morscher /Scheutz/ Schuster, 2013; Rau, 2013, S. 64f. Schwerhoff, 2008, S. 55.
Sichtbare Grenzen
eignen sich besonders gut, um konkurrierendes Sakralmanagement zu exemplifizieren«.5 Die Frankfurter Sakraltopographie des ausgehenden Mittelalters unterschied sich von derjenigen anderer Städte vergleichbarer Größe in einer wesentlichen Hinsicht, nämlich dadurch, dass es nur eine einzige Pfarrei und nur eine Pfarrkirche gab, nämlich die heute zumeist als »Kaiserdom« bezeichnete Stiftskirche Sankt Bartholomäus, die auch von ihrer Größe und Architektur her eine Sonderstellung unter den Frankfurter Kirchen einnahm. Lange vermochte das Stiftskapitel von Sankt Bartholomäus, bei dem die Pfarrbesetzungsrechte lagen, die Einrichtung neuer Pfarreien, die den eigenen Einfluss gemindert hätten, zu verhindern. Erst im Jahr 1452 wurden auf Vermittlung des päpstlichen Legaten Nikolaus von Kues in der Neustadt und Sachsenhausen die Filialkirchen Sankt Peter bzw. Dreikönig eingerichtet, die zwar keine eigenständigen Pfarrkirchen waren, aber die seelsorgerliche Versorgung in diesen durch die staufische Stadtmauer bzw. den Main von der Kernstadt sichtbar abgegrenzten Stadtteilen verbesserten.6 Außer der Pfarrkirche und den Filialkirchen gab es noch etwa 15 Stifte, Klöster und Kapellen – für eine Stadt von Frankfurts Größe nicht übermäßig viele –, die sich im Wesentlichen in der Altstadt innerhalb der staufischen Stadtmauer konzentrierten, darunter die beiden Stifte Liebfrauen und Sankt Leonhard, das Damenstift Sankt Katharinen, die Klöster der Bettelorden – Franziskaner (Barfüßer), Dominikaner und Karmeliten –, der Antoniter und der Reuerinnen (Weißfrauen), ferner die Rosenberger Einung7 und die Kommende des Johanniterordens. Südlich des Mains lag die deutlich stattlichere Kommende des Deutschen Ordens.8 Im Zuge der Reformation veränderte sich die Frankfurter Sakraltopographie nachhaltig. Nach langem Zögern rang sich der Rat 1533 zur Einführung des evangelischen Bekenntnisses und zur Suspension des altgläubigen Gottesdiens5 6
7
8
Ebd., S. 57. Taufen durften nach wie vor nur in der Pfarrkirche stattfinden. Auch über die beiden Filialkirchen übte das Bartholomäuskapitel das Besetzungsrecht aus. Vgl. Jahns, 1976, S. 28; Heitzenröder, 1982, S. 33-37. Die Mitglieder der nach ihrer Gründerin Anna Rosenberger benannten Einrichtung lebten als Laienschwestern nach der Regel des Drittens Ordens der Dominikaner. Vgl. Heitzenröder, 1982, S. 234-238. Einen Überblick über alle Frankfurter Sakralbauten mit knappen Angaben zu ihrer Geschichte bei Wolff/Jung, 1896; vgl. auch Heitzenröder, 1982, S. 30-50 und passim. Heitzenröder macht deutlich, dass der Rat schon vor der Reformation eine beachtliche Kontrolle über die geistlichen Institutionen in Frankfurt erlangt hatte. 75
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tes durch; zumindest offiziell wurde bis 1548 in der Reichsstadt keine Messe mehr gefeiert. Infolge des Schmalkaldischen Krieges 1546/47 kam es jedoch zu einem konfessionellen »Roll-Back«, und 1548 erklärte sich der Frankfurter Rat zur Restituierung der Stifte, der Ritterorden und der Mehrzahl der Klöster bereit, die künftig in ihren Mauern wieder katholischen Gottesdienst feiern durften.9 Der damals erreichte konfessionelle Besitzstand blieb – abgesehen von vorübergehenden Verschiebungen v.a. während des Dreißigjährigen Krieges10 – bis zum Ausgang der reichsstädtischen Zeit erhalten und prägte die Frankfurter Sakraltopographie fortan ganz wesentlich. Bemerkenswert für die Sakraltopgraphie in der von Lutheranern regierten und von einer überwiegend lutherischen Bevölkerung bewohnten Reichsstadt Frankfurt von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Säkularisation 1803 ist die andauernde starke Präsenz, ja Dominanz katholischer Institutionen, vor allem in der Altstadt. Von besonderer Bedeutung war es, dass die alte Pfarrkirche und das geistliche Zentrum der Stadt, der Kaiserdom, 1548 wieder altgläubig wurde. Bis auf das Franziskanerkloster bestanden die Männerklöster fort, ebenso wie die Kommenden der Ritterorden und die Rosenberger Einung.11 Die lutherische Pfarrorganisation war dagegen einerseits von einer moderaten Dezentralisation und andererseits von einem Zwang zur Improvisation gekennzeichnet. Es gab zwar mit der Barfüßerkirche formal eine lutherische Hauptkirche im Stadtzentrum, aber mit Sankt Katharinen eine zweite Kirche für den Gemeindegottesdienst auf der Grenze von Altstadt und Neustadt. Auch die Kirchen in der Neustadt (Sankt Peter) und in Sachsenhausen (Dreikönig), ferner die Hospitalkirche Heiliggeist blieben dauerhaft lutherisch. Die Kapelle des Weißfrauenklosters wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschiedenen Sondergruppen zum Gottesdienst zugewiesen.12 Damit war eine nicht ganz gleichmäßige, aber alles in allem flächendeckende Seelsorge für die lutherische Bevölkerung gewährleistet. Eine Einteilung der Stadt in Parochialbezirke fand jedoch nicht statt, sondern die vorreformatorische Struktur wurde beibehalten: Auch in der lutherischen Frankfurter Kirche gab es nur eine Pfarrei mit einer Hauptkirche – nun die Barfüßerkirche – und einigen Nebenkirchen.13 Eine weitere Folge der Reformation für die Frankfurter Sakraltopographie war 9 Vgl. Dechent, 1913-1921, Bd. 1, S. 173; Jahns, 21994, S. 195f. 10 Hier ist vor allem an das Intermezzo der Schwedenzeit 1633-1635 zu denken. Vgl. Dechent, 1913-1921, Bd. 2, S. 22-25; Rieck, 2005, S. 205-214. 11 Vgl. Schnettger, 2006, S. 41. 12 S. u. S. 79. 13 Vgl. Dienst, 2000, S. 137, 140. 76
Sichtbare Grenzen
die Säkularisation von einigen nicht für den Gemeindegottesdienst benötigten Kapellen. Besonders spektakulär war das im Fall der früheren Ratskapelle, der (Alten) Nikolaikirche auf dem Römerberg, die nach der Einführung der Reformation geschlossen und u.a. als Warenlager genutzt wurde, bis sie seit 1721 als Garnisonskirche neu geweiht wurde.14 Für die Innenräume der lutherischen Kirchen Frankfurts ist charakteristisch, dass es sich zunächst ausschließlich um vorreformatorische Gebäude handelte, die partiell an den evangelischen Gottesdienst angepasst wurden. Einige ikonoklastische Maßnahmen sind für die 1520er und 1530er Jahre bezeugt, doch infolge des Übergangs zur Wittenberger Richtung der Reformation fand kein konsequenter und durchgreifender Bildersturm statt.15 Das alles waren keine Frankfurter Besonderheiten. Ein Spezifikum (wenn auch keineswegs ganz ungewöhnlich) war dagegen schon eher, dass nach dem Verlust des Doms eine ehemalige Klosterkirche als lutherische Hauptkirche dienen musste. Vor allem aber die zweite lutherische Kirche, die auf der Grenze zur Neustadt gelegene Katharinenkirche, die eigentlich aus zwei kleinen, zusammengelegten Kapellen, Sankt Katharinen und Heiligkreuz, bestand, war von Anfang an eine eher behelfsmäßige, beengte Lösung.16 Doch erst als die Kirche baufällig wurde, entschloss sich der Rat 1678 zum Neubau. 14 Es ist nicht sicher, ob und wie lange in der Nikolaikirche nach 1530 evangelischer Gottesdienst gefeiert wurde. Nachgewiesen ist, dass sie ab 1570 als Warenlager genutzt wurde. Vgl. Becher, 1992, S. 162-166. Eine andere infolge der Reformation profanierte Kapelle war die Bernhardskapelle in dem an die Landgrafschaft Hessen gefallenen Hainer Hof (Wolff/Jung, 1896, S. 223f.). Die Allerheiligenkapelle wurde zwar nicht profaniert, Gottesdienst scheint in ihr aber nur zeitweise gehalten worden zu sein, u.a. 1555 bis 1559 durch die englischen Flüchtlinge (ebd., S. 342); ähnliches gilt für die am Rossmarkt gelegene Maternkapelle (ebd., S. 346). 15 Zwar wurden die Kloster- und Stiftskirchen – vermutlich um den Kaiser und Kurmainz nicht unnötig zu provozieren – nicht systematisch »gereinigt«, aber es wurde Bürgern gestattet, ihnen gehörende Bildwerke und Tafeln zu entfernen. Vgl. Jahns, 1976, S. 244. Aus einigen Kirchen wurden Altäre und Bildschmuck entfernt, so aus Sankt Nikolai, Sankt Peter, Dreikönig, Sankt Katharinen, Heiliggeist und Allerheiligen Vgl. Wolff/Jung, 1896, S. 41, 71, 231, 332, 350. 16 Sankt Katharinen war diejenige Frankfurter Kirche, in der 1522 der ehemalige Franziskanermönch Hartmann Ibach die erste evangelische Predigt in Frankfurt gehalten hatte. 1591 wurde die Kirche einer grundlegenden Reparatur unterzogen, für die 4.300 Gulden aufgewendet wurden. Unter anderem wurden Emporen einge77
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Die neue Katharinenkirche war der erste als solcher errichtete evangelischlutherische Sakralbau Frankfurts. Sie reichte von ihrer Größe her nicht an Sankt Bartholomäus heran, ihre Westfassade war bis Ende des 18. Jahrhunderts von der Staufermauer verdeckt. Sie setzte aber immerhin einen baulichen Akzent, zumal die neue, repräsentative Kirche statt eines bloßen Dachreiters nun über einen Glockenturm verfügte, der immerhin das zweithöchste Bauwerk Frankfurts war – nach dem Turm von Sankt Bartholomäus. Auch das Kircheninnere war jetzt konsequent an die Erfordernisse des evangelischen Gottesdienstes angepasst. Der Chorraum wurde in herkömmlicher Weise gestaltet. Auch die Ausrichtung des Kirchengestühls auf den Altar im Ostchor blieb traditionell, die doppelgeschossigen Emporen im Westen, Norden und Osten waren aber auf die an der Südwand befindliche Kanzel ausgerichtet. Dem Stellenwert der Kirchenmusik in der lutherischen Liturgie entsprach die Positionierung der Orgelempore über dem Altar. An die Stelle einer katholischen »Anbetungskirche« war eine »Predigtkirche« getreten.17 Evangelisch war auch das Bildprogramm: Indem die Emporenbilder neben einigen Büchern des Neuen Testaments alle kanonischen Bücher des Alten Testaments repräsentierten, stellten sie eine Art evangelisches Glaubensbekenntnis dar. Bis zur Renovierung von 1778 war auch die Decke mit Fresken mit biblischen Motiven geschmückt. Die prachtvolle Ausschmückung der Kirche fiel auch Reisenden auf, und das nicht immer positiv. So äußerte sich der Engländer Gilbert Burnet einigermaßen konsterniert über die Katharinenkirche: »The Lutherans have here built a new Church, called St. Katherines, in which there is as much painting as ever I saw in any Popish Church.«18 Was Burnet als unevangelisch erschien, war in lutherischen Kirchen durchaus nicht ungewöhnlich und baut, um die Aufnahmekapazität der Doppelkapelle zu erhöhen. Vgl. Wolff/Jung, 1896, S. 231f. 17 Ein Vorbild für die Innenraumgestaltung der Katharinenkirche war die lutherische Providenzkirche in Heidelberg (1661); sie wurde selbst stilbildend, insbesondere für die Dreifaltigkeitskirchen in Speyer (1701-1717) und Worms (1709-1725). Vgl. Schomann, 21993, S. 164-169; Proescholdt, 2007, S. 23f. – Schon für die Vorgängerkirche war 1626 die bisher größte Orgel in Frankfurt gebaut worden, die in das neue Gebäude übertragen wurde. Vgl. Stieber, 1993, S. 227. 18 Burnet, 1687, S. 207. Ferner irritierten Burnet das große Kreuz über dem Hauptaltar und mehrere gemalte Kreuze an den Wänden. Immerhin lobte er die Ausschmückung mit mehrfarbigem Marmor. Vgl. ausführlich zu der mit großer Wahrscheinlichkeit auch von pietistischen Einflüssen geprägten Emporenmalerei in Sankt Katharinen Proescholdt, 2007; zusammenfassend Lilek-Schirmer, 21993. 78
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besaß vor dem Hintergrund der Frankfurter Sakrallandschaft durchaus eine Rationalität: Mit der dem barocken Zeitgeschmack entsprechenden neuen Kirche wurde ein lutherischer Gegenakzent zu den vielfach als veraltet empfundenen katholischen Kirchen mit Sankt Bartholomäus an der Spitze gesetzt. Insofern reflektierte der Kirchenraum durchaus die besondere Situation in Frankfurt. Demgegenüber genügte die Barfüßerkirche trotz mehrerer Umbauten und Renovierungen auch wegen ihrer beengten Lage den Ansprüchen an die lutherische Hauptkirche Frankfurts immer weniger. Verglichen mit dem Dom »erschien die Barfüßerkirche eher als eine Verlegenheitskirche«.19 1786 nahm man schließlich auch hier einen Neubau in Angriff. Eingeweiht wurde die neue Kirche unter dem Namen Paulskirche allerdings erst im Jahr 1833. Die Reformierten waren dagegen bis ins ausgehende 18. Jahrhundert nicht mit eigenen Bauten in der Frankfurter Sakraltopographie vertreten. Die calvinistischen Immigranten aus den Niederlanden und Frankreich durften zwar ebenso wie ihre lutherischen Landsleute ab 1555 für einige Jahre die am Rande der Altstadt gelegene Weißfrauenkirche für den Gottesdienst nutzen; 1561 wurde sie ihnen aber entzogen. 1594/96 wurde dann auch der reformierte Privatgottesdienst innerhalb Frankfurts verboten. Als darauf viele Calvinisten nach Hanau zogen, wo sie die großzügig privilegierte Neustadt besiedelten, erlaubte der um den Verlust der Wirtschaftskraft der Reformierten fürchtende Rat 1601 wieder den calvinistischen Gottesdienst – in einem Holzgebäude vor der Stadt. Als dieses 1608 abbrannte, blieb den Calvinisten nur noch die Möglichkeit, den Gottesdienst im hanauischen Bockenheim zu besuchen.20 Mit gutem Grund kann man für diese Jahrzehnte von einer fortschreitenden Marginalisierung des reformierten Gottesdienstes in Frankfurt sprechen. Phasenweise konnten die Reformierten zwar von der Anwesenheit calvinistischer Standespersonen oder Truppen in der Stadt profitieren, doch auch deren Gottesdienste fanden nicht in einem etablierten Sakralraum, sondern in um19 Dienst, 2000, S. 185. Die Barfüßerkirche wurde offenbar auch von Reisenden kaum wahrgenommen. Z.B. Burnet erwähnt sie nicht einmal. Von den Umbauten erwähnt seien der Einbau von Emporen, um einer größeren Zahl von Gläubigen Platz zu schaffen, die Errichtung eines neuen Dachreiters (1685), der drei Glocken aufnehmen konnte, und der Bau einer großen Orgel ab 1599. Vgl. auch Wolff/ Jung, 1896, S. 276-287; Rexroth, 2000, S. 306-309. 20 Das Holzgebäude stand auf einem Grundstück, das Johann Adolf von Glauburg – selbst Calvinist – zur Verfügung gestellt hatte. Vgl. Ebrard, 1906, S. 53f., 7499, 102f., 111-114; Schindling, 21994, S. 235f.; Das Frankfurter Patriziat, www. frankfurter-patriziat.de, 30.12.2016. 79
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gewidmeten und später wieder entsakralisierten Gebäuden statt, wie etwa von 1688 bis 1690 im städtischen Leinwandhaus oder im Privatquartier der Fürstin Emilie de la Trémouille, einer geborenen Prinzessin von Hessen-Kassel, zunächst im Haus Braunfels, dann im Rulandischen Haus in der Eschenheimer Gasse.21 Selbst die 1787 zugestandenen und 1792 eingeweihten »Bethäuser« der deutschen und der französischen reformierten Gemeinde durften in ihren Formen nicht als Kirchen erkennbar sein. Dies wurde beim Bau der französischreformierten Kirche an der Stadtallee und der deutsch-reformierten Kirche am Großen Kornmarkt sehr wohl berücksichtigt. Erst ganz am Ende der reichsstädtischen Zeit begann also mit diesen »Bethäusern« die institutionalisierte Präsenz der Reformierten in der Frankfurter Sakrallandschaft – nach wie vor eine offensichtlich minderberechtigte, aber eine trotz Qualifikation als »Privatgottesdienst« auch im öffentlichen Raum wahrnehmbare Präsenz. Die ersten ausschließlich dem reformierten Gottesdienst gewidmeten Sakralgebäude in Frankfurt spiegelten insbesondere im Innenraum mit der hervorgehobenen Stellung der Kanzel und dem schlichten Altartisch deutlich die spezifisch calvinistischen Vorstellungen von Sakralität wider.22 Die jüdische Religion war in der Frankfurter Sakrallandschaft kontinuierlich präsent. Die bald nach Einrichtung des Ghettos 1462 erbaute Hauptsynagoge war das mit Abstand größte Gebäude in der Judengasse; später kamen kleinere Synagogen, z.B. im Hospital, hinzu. Gottesdienste fanden mit Ausnahme der Vertreibung 1614-1616 kontinuierlich statt, und nach dem »Großen Judenbrand« von 1711 war die Hauptsynagoge das erste Gebäude, dessen Wiederaufbau abgeschlossen wurde.23 Allerdings handelte es sich bei der jüdischen Präsenz in der Frankfurter Sakrallandschaft um eine Art verdeckte Präsenz, so stattlich die Synagoge auch war: Denn die Judengasse gehörte weniger zu den öffentlichen Räumen der Reichsstadt, als dass sie einen geschlossenen Raum 21 Mangon, 2004, S. 181f. Schon im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts, als das Haus Braunfels sich im Besitz des aus Brügge eingewanderten Augustin Le Grand befand (1558-1578), soll hier reformierter Gottesdienst stattgefunden haben. Vgl. Jung/Hülsen, 1914, S. 62. Hier lag also ein umgekehrter Fall zu dem von Gerd Schwerhoff erörterten Problem der profanen Nutzung sakraler Räume vor, nämlich die temporäre sakrale Nutzung von profanen Räumen. Vgl. Schwerhoff, 2008, S. 53-55. Die Familie Ruland war übrigens lutherisch. 22 Vgl. Wolff/Jung, 1896, S. 296-308. 23 Vgl. Wolff/Jung, 1896, S. 363-368; Kracauer, 1925-1927, Bd. 1, S. 202f., Bd. 2, S. 128, 229. 80
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bildete, der rechtlich und physisch durch Mauern und Tore von der christlichen Stadt abgegrenzt war.24
2. Kämpfe um öffentliche Räume 25 Änderungen in der Sakraltopographie, wie sie im ersten Teil geschildert wurden, verliefen selten konfliktfrei. Überhaupt äußerten sich Konflikte zwischen den Konfessionen vielfach in Kämpfen um die Besetzung öffentlicher Räume bzw. in dem Bemühen dominanter Gruppen, Minderheiten aus den öffentlichen Räumen auszuschließen. Geradezu klassisch sind in diesem Zusammenhang Konflikte um die altgläubigen Prozessionen, denn Prozessionen als spatiale Praktiken, die den sakralen Raum gleichsam in den Alltag, in den üblicherweise profanen Raum ausweiteten, stellten für Andersgläubige eine provozierende Okkupation öffentlicher Räume dar – so auch im Frankfurt der Reformationszeit.26 Wie andernorts auch, gab es in Frankfurt am Beginn des 16. Jahrhunderts ein blühendes Prozessionswesen, wobei die verschiedenen Prozessionen mehr oder weniger das gesamte Stadtgebiet, einschließlich Sachsenhausens und der Neustadt, einbezogen. Am wichtigsten war neben der Fronleichnamsprozession die Magdalenenprozession am 22. Juli.27 Besonders anhand einiger Quellen katholischer Provenienz wird die allmähliche Verdrängung der Prozessionen aus dem öffentlichen Raum der Straßen durch die Anhänger der Reformation in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre nachvollziehbar. Im Sommer 1525 waren bereits erhebliche Teile der städtischen Bevölkerung und der Ratsherren Anhänger der Reformation. Nach dem Ende der parallel zum Bauernkrieg ausgebrochenen innerstädtischen Unruhen, als gerade mit knapper Not eine fürstliche Strafaktion abgewendet worden war,28 wäre es jedoch heikel gewesen, allzu offensiv gegen den alten Glauben vorzugehen. Dementsprechend fand damals die Magdalenenprozession unge-
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S. u. S. 90-93. Zu den öffentlichen Räumen in der Stadt vgl. Rau, 2014, S. 44-46. Vgl. Schwerhoff, 2008, S. 44. Vgl. Gedeon, 2000, S. 20-39. Vgl. Matthäus, 2002, S. 281-355. Die Fronleichnamsprozession war wegen der Unruhen offenbar unterblieben. 81
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stört statt, freilich mit reduziertem Aufwand und verkürztem Weg:29 von Sankt Bartholomäus über Sankt Nikolaus, Sankt Leonhard, das Karmeliterkloster und das Weißfrauenkloster und den Kornmarkt bis Liebfrauen, wo der Stationsgottesdienst gehalten wurde, von dort über das Antoniterkloster zurück nach Sankt Bartholomäus. Damit setzten, wenige Wochen nach dem Ende der auch durch Glaubenskonflikte bedingten städtischen Unruhen, die Vertreter der alten Kirche ein deutliches, allerdings nicht ganz fleckenloses Zeichen ihrer wiedererrungenen Herrschaft über den öffentlichen Raum der Straßen. 1526 sahen sich, nach dem Zeugnis des Kanonikers am Liebfrauenstift Wolfgang Königstein, die wenigen Gläubigen, die an den Prozessionen an Christi Himmelfahrt und Fronleichnam teilnahmen, Schmähungen durch »das gemein folk« ausgesetzt, und das, obwohl sich die Mehrzahl der Ratsherren mit Ausnahme des bekannten Reformationsanhängers Hamman von Holzhausen und einiger Räte von der Zunftbank der Teilnahme an der Fronleichnamsprozession (noch) nicht entzog. Die Straßen waren kaum geschmückt, und nur wenige Menschen knieten nieder, wenn das Sakrament vorbeigetragen wurde. Die Magdalenenprozession unterblieb völlig.30 Am Himmelfahrtstag 1527 kam es zum Eklat, als Bechtold vom Rhein und andere Ratsherren die Prozession nach Sachsenhausen verspotteten, indem sie an dem an der Mainbrücke gelegenen Haus Bechtolds eine Wolfspuppe aus dem Fenster hängten, worauf eine herbeigelaufene Menge »Ein Wolf, ein Wolf!« rief. Dieses Karnevalsspiel war eine gezielte Provokation und Verunglimpfung der Altgläubigen. Es war ja einer der bekannten Vorwürfe gegen die altgläu29 Der Kanoniker Wolfgang Königstein beschrieb die Magdalenenprozession des Jahres 1525 wie folgt: »[…] der rath ist sunder ceremonien gangen, kein fußknecht sin gefolgt, auch des rats diner keiner gecleit gewest. es war auch wenig pristerschaft. dan ihr vill abwaren. man drug allein des rats kirzen und etlich von den gartenern drugen ir kirzen. Es waren allein engel in der proceß.« Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 22. Juli 1525, in: Jung, 1888, S. 27-173, hier S. 96. Zur Quelle ebd., S. XV-XVIII. Vgl. Gedeon, 2000, S. 42, zu den spätmittelalterlichen Prozessionswegen und -formen ebd., S. 24-29. Die Magdalenenprozession von 1525 verzichtete insbesondere auf den sonst üblichen, raumgreifenden Schlenker vom Weißfrauenkloster »durch die Mainzer Pforte aus der Stadt hinaus und zum Galgentor wieder herein, zum Roßmarkt mit der St. Maternus-Kapelle, über die Zeil, durch die Bornheimer Pforte« (ebd., S. 26). 30 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 10. und 31. Mai 1526, in: Jung, 1888, S. 104f. (Zitat S. 105). Vgl. Gedeon, 2000, S. 42f. 82
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bigen Kleriker, Wölfe im Schafspelz zu sein.31 Störungen gab es auch bei der Fronleichnamsprozession, obwohl sich an dieser immerhin noch zwölf Ratsherren beteiligten. Große Teile der Bevölkerung gingen dagegen gemäß der Aufforderung des evangelischen Prädikanten Melander wie an einem gewöhnlichen Werktag ihrer Arbeit nach, und es kam erneut zu Schmähungen der geweihten Hostie, die nach der Aussage des evangelischen Prädikanten nur »ein stock brots« sei, das umhergetragen werde. Ähnliche Szenen gab es bei der Magdalenenprozession.32 Ab 1528 fanden Prozessionen nur noch innerhalb der Kirchen und Klöster statt, womit zwar den liturgischen Erfordernissen genüge getan, dieser Kampf der Altgläubigen um die Präsenz auf den Straßen aber verloren war.33 Etwa um dieselbe Zeit begannen die Bemühungen, die Altgläubigen auch aus dem öffentlichen Sakralraum der Stadtpfarrkirche Sankt Bartholomäus zu verdrängen. Man kann beobachten, wie sich Schritt für Schritt die Anhänger der Reformation den Raum der Stadtpfarrkirche aneigneten: 1526 erlaubte der Rat Predigten der evangelischen Prädikanten Algesheimer und Melander, die im Mai 1527 unter stillschweigender Duldung des Rates dort erstmals eine Taufe nach evangelischem Ritus, also ohne Kerzen und Chrisam, vollzogen und am 18. März 1528 erstmals das Abendmahl unter beiderlei Gestalt spendeten.34 Fortan wurde die Stadtpfarrkirche simultan von Altgläubigen und Neugläubigen genutzt, und dem Rat wäre es aus reichspolitischen Gründen sehr recht gewesen, es dabei zu belassen. Allein, die Prädikanten und ihre Anhänger forderten die völlige Abschaffung der Messe und beanspruchten das exklusive Recht, in der Stadtpfarrkirche Gottesdienst zu feiern. Diesen Anspruch vertraten sie mit besonderem Nachdruck an den Weihnachtsfeiertagen 1531: Am 25. Dezember überdehnte der evangelische Prediger Dionysius Melander die für ihn vorgesehene Gottesdienstzeit, indem er gleich drei Predigten hielt, die zudem seine Zuhörerschaft zur massiven Störung des altgläubigen Hochamts animierten, das daraufhin abgebrochen werden musste. Nur die Anwesenheit der beiden Bürgermeister verhinderte weitergehende Exzesse. Ähnliche Szenen spielten sich 31 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 27. Mai 1527, in: Jung, 1888, S. 112. Vgl. Gedeon, 2000, S. 43. 32 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 20. Juni und 22. Juli 1527, in: Jung, 1888, S. 112-114, Zitat S. 113. Vgl. Jahns, 1976, S. 79f.; Gedeon, 2000, S. 43f.; Matthäus, 2002, S. 386f. 33 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum Mai/Juni 1528, in: Jung, 1888, S. 118f. Vgl. Gedeon, 2000, S. 44. 34 Vgl. Jahns, 1976, S. 80. 83
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am 26. Dezember ab.35 An Weihnachten 1532 wiederholten sich die Ereignisse von 1531 in noch zugespitzter Form, und das, obwohl der Rat kurz vor dem Fest ausdrücklich vor Aufruhr gewarnt hatte. Die Stadtregierung war in diesen Monaten offenkundig nicht Herrin der Situation und sah sich aufgrund der explosiven Stimmung in der Bevölkerung im April 1533 genötigt, eine Befragung der Bürgerschaft über die Abschaffung der Messe durchzuführen. Da diese trotz aller Warnungen des Rats eindeutig gegen den altgläubigen Gottesdienst ausfiel, verfügte die Stadtregierung im April 1533 nolens volens zwar nicht die förmliche Abschaffung, aber doch die Suspension der Messe, die dann auch 15 Jahre lang unterblieb, und zwar nicht nur in Sankt Bartholomäus, sondern in allen Kirchen Frankfurts.36 Man könnte die Auseinandersetzungen um die Alleinverfügung über Sankt Bartholomäus als einen Beleg für Unduldsamkeit sehen, die von Agitatoren beider Glaubensrichtungen stets kräftig angeheizt wurde, und es dabei bewenden lassen. Wenn man aber bedenkt, dass es sich bei der einzigen Pfarrkirche Frankfurts um den städtischen Sakralraum schlechthin handelte, ergibt sich eine zusätzliche Erklärung für das unbedingte Beharren der Prädikanten auf der Alleinherrschaft. Schließlich sollte man nicht einen Aspekt vergessen, der in einem Sakralraum einen außerordentlichen Stellenwert beanspruchen konnte: die Heiligung durch Entfernung des Unheiligen. Denn die altgläubige Messe war aus der Sicht der ersten Frankfurter Prädikanten, die der oberdeutsch-helvetischen Richtung der Reformation nahestanden, nichts anderes als ein Götzendienst, der eine fortwährende Verunreinigung der Kirche implizierte. Es spricht daher manches dafür, dass wegen der außerordentlichen Bedeutung von Sankt Bartholomäus für die Frankfurter Gläubigen und angesichts der besonders entschiedenen Ablehnung aller Elemente der »papistischen Abgötterei« durch die ersten Frankfurter Reformatoren eine Koexistenz beider Gottesdienste kaum praktikabel war. Nicht umsonst hatten die weihnachtlichen Gottesdienststörungen 1531 und v.a. 1532 bilderstürmerischen Charakter, wenn der Hochaltar rituell dadurch entweiht wurde, dass Frauen und Kinder auf ihn gesetzt wurden, wenn das Ewige Licht zerstört wurde und wenn Bücher, Kerzen und Bilder aus der Kirche
35 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 25. Dezember 1531, in: Jung, 1888, S. 160. Vgl. Jahns, 1976, S. 205f. 36 Wolfgang Königsteins Tagebuch zum 25. Dezember 1532, in: Jung, 1888, S. 163. Vgl. Jahns, 1976, S. 209-214, 232-246. 84
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entfernt wurden.37 Ab 1533 wurde die »Reinigung« des Doms und der anderen Kirchen unter der Regie des Rates dann in geordneten Bahnen fortgeführt38 und somit der Prozess der Aneignung der Stadtpfarrkirche durch die Anhänger der Reformation zu seinem Abschluss gebracht. Man kann auch die geschilderte Beseitigung der Prozessionen als Reinigung von einer als götzendienerisch begriffenen Glaubenspraktik begreifen. Ähnlich wie bei einem Bildersturm diente der von Gott ungestraft bleibende Spott dabei zum Zeugnis dafür, dass im katholischen Allerheiligsten mitnichten Christus präsent sei. Durch diese Purifizierung wurde der öffentliche Raum der Straßen und Plätze zwar nicht gerade zu einem Sakralraum, indem aber die Frankfurter nach eigenem Verständnis den Götzendienst beseitigten, verliehen sie ihrer Stadt als ganzer doch einen Status der Heiligkeit.39 Freilich war die Verdrängung der Altgläubigen nicht vollständig, die vielmehr, wie berichtet, seit 1548 wieder ihre Gottesdienste in Frankfurt feiern durften und schon durch die schiere Fortexistenz von Stiften und Klöstern sowie die Anwesenheit von Kanonikern und Ordensleuten eine sichtbare Präsenz in der Reichsstadt behaupteten. In den öffentlichen Raum von Straßen und Plätzen konnten die katholischen Gottesdienste allerdings nurmehr akustisch hineinwirken, durch die Kirchenglocken nämlich, und auch über das Geläut kam es immer wieder zu Konflikten, denen man nicht gerecht würde, wenn man sie lediglich als kleinliche Gehässigkeiten der Konfessionsparteien interpretieren würde.40 Prozessionen blieben für die evangelische Bevölkerung aber ein Skandalon erster Güte und wurden dauerhaft auf die katholischen Kirchenräume beschränkt. Ja, selbst ein öffentlicher katholischer Leichenzug war im frühen 17. Jahrhundert dermaßen aufsehenerregend, dass er dem Malermeister Peter Müller eine Erwähnung in seinem Tagebuch wert war.41 37 Vgl. Jahns, 1976, S. 213. Auch sonst kam es zu bilderstürmerischen Akten. Z.B. wurden Anfang 1533 in der Pfarrkirche die Altäre »violirt«, das heißt, sie wurden vorne aufgebrochen, und die Reliquien wurden entfernt. Wolfgang Königsteins Tagebuch zum Jahresanfang 1533, in: Jung, 1888, S. 164. 38 S. o. Anm. 15. 39 Vgl. Schwerhoff, 2008, S. 44-46, 58f. 40 Vgl. Bund, 1986, S. 250-254. 41 »Den 14. September [1631] ist alhie ein Bayerischer Doctor oder Syndicus ins Predigerkloster begraben worden. Sind all die Mönch und Pfaffen in einer Process(ion) vorn her gangen und (haben) über die Gasse gesungen, welches vor nie mehr geschehen ist bey Mannsgedenken.« Becker, 1858, S. 65. 85
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Den Reformierten waren Manifestationen ihres Glaubens in Form von Prozessionen fremd und öffentlicher Gottesdienst in Frankfurt untersagt. Mit ihren regelmäßigen Ausfahrten zum Gottesdienst nach Bockenheim etablierten sie aber eigene spatiale Praktiken, die als eine Form der religiösen Kundgebung im öffentlichen Raum der Frankfurter Straßen und Plätze interpretiert werden können, die an der Alleinherrschaft des lutherischen Gottesdienstes rüttelten. Genau so scheinen es auch lutherische Zeitgenossen empfunden zu haben, wenn sich etwa 1638 die lutherische Geistlichkeit beim Rat über die notorische Störung der öffentlichen Ordnung beschwerte: »Am Pfingstfest hat man in der Kirche zu St. Peter vor ihrem Hin- und wider Reiten und Fahren und anderem Gerumpel schier nichts hören können. Des Sonntags und auch in der Woche (Donnerstags) ziehen sie in sehr großer Menge mit vielen, etwa 46 Kutschen, wie es mit Fleiß gezählet worden, auch mit großer Pracht und Frohlocken, nicht ohne äußerste Verachtung und Verschimpfung der lutherischen Religion und des ordentlichen Predigtamtes, hinaus nach Bockenheim zur Predigt.«42
Derartige Äußerungen legen nahe, dass der Ärger der lutherischen Geistlichkeit über die monierte Störung des Gottesdienstes deutlich hinausging. Vielmehr erblickte man darin zugleich eine Absage an den lutherischen Glauben und eine regelmäßig erneuerte Forderung, in Frankfurt reformierten Gottesdienst feiern zu dürfen. Auch die Gründung der Judengasse kann als eine Maßnahme gedeutet werden, die Präsenz einer Glaubensminorität und ihres Gottesdienstes aus den öffentlichen Räumen der Stadt zu tilgen. Ein Argument für die Einrichtung des Ghettos war die allzu große Nähe der bisherigen jüdischen Wohnungen und der Synagoge zum Dom, mit der Konsequenz, dass das »Geschrei« aus der Synagoge angeblich den christlichen Gottesdienst beeinträchtige – hier fühlt man sich an die späteren Beschwerden über die Ausfahrt der Reformierten erinnert. Und zu den Maßnahmen der Juden, um die Einweisung in ein Ghetto abzuwenden, gehörten das Vermauern der Türen und Fenster der Synagoge sowie das Versprechen, während der Dauer von Prozessionen in ihren Häusern zu bleiben.43 42 Beschwerde der lutherischen Geistlichkeit beim Rat, 1638. Zitiert nach Dechent, 1913-1921, Bd. 2, S. 53. 43 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 1, S. 198-200; Backhaus, 1989; Burger, 2013, S. 63-85. 86
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Anders als später bei den Reformierten wurde bei der Gründung der Judengasse der jüdische Gottesdienst als solcher nicht verboten, wohl aber aus dem öffentlichen Raum verbannt. Vor allem aber wurden – ebenfalls im Unterschied zu den christlichen Minderheiten – alle Jüdinnen und Juden einer Ghettoisierung unterworfen. Die jüdische Präsenz in den öffentlichen Räumen der Stadt wurde damit marginalisiert, ja, sollte zu bestimmten Zeiten sogar völlig ausgeschlossen sein. In der Stättigkeit von 1616 heißt es: »23. Die Juden sollen sich bey Nacht, auch an den Sonn-Tägen und andern hochzeitlichen Festen der Christen in der Juden-Gaß enthalten/und in der Stadt nicht finden lassen. Darzu die grosse Thor hinten und fornen an der Juden-Gaß alsdann beschliessen und zuhalten, und weiter nicht/dann die kleinen Thürlein öffnen. […] 26. So sollen sich auch auff die Feyer-Tagen, und sonderlich von dem CharFreytag inclusivè an biß nach den Oesterlichen Tagen in ihrer Gassen enthalten, und sich nicht in der Gassen und Strassen in der Stadt ohne ehehaffte Ursachen, auf Erkändtnüß der Burgermeister sehen lassen […].«44
Diese Bestimmungen weisen darauf hin, dass beim Sakralmanagement auch der Faktor Zeit eine wichtige Rolle spielte und in einem komplexen Wechselverhältnis zum Faktor Raum stand: An christlichen Feiertagen wurde sozusagen die ganze Stadt zu einem Sakralraum, indem die christlichen Frankfurterinnen und Frankfurter auf alle profanen Tätigkeiten verzichteten und die Zeit dem Gottesdienst und anderen erbaulichen Tätigkeiten widmeten. Die Präsenz von Juden hätte – so die zeitgenössische christliche Wahrnehmung – die Heiligkeit dieser Festzeiten beeinträchtigt. Somit hatte wie der Kampf gegen die Prozessionen auch die Einsperrung der Juden an Sonn- und Feiertagen einen purifizierenden Charakter.45 44 Der Juden […] Stättigkeit, o. D., S. 7. 45 Zugleich ist daran zu erinnern, dass die Juden in den öffentlichen Räumen der Stadt einer ständigen Stigmatisierung unterlagen: Sie mussten ja nicht nur bis 1728 den Gelben Ring tragen, sondern wurden durch das bis 1801 bestehende, mehrfach (letztmals 1747) erneuerte Fresko der »Judensau«, das sich an prominenter Stelle, nämlich am Nordturm der Alten Brücke, befand, in übelster Weise verunglimpft, ja, des Ritualmords beschuldigt und als Anhänger Satans dargestellt. Vgl. Schreckenberg, 1996, S. 347-349; zum Judenzeichen Kracauer, 1925-1927, Bd. 2, S. 250. 87
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3. Geschlossene Räume Eine Konsequenz der Verdrängung von Bevölkerungsgruppen aus den öffentlichen Räumen konnte die Entstehung von besonderen geschlossenen Räumen bzw. die verstärkte Abschließung bereits bestehender Sonderräume und Enklaven sein. Man kann bei der Betrachtung solcher geschlossenen Räume den Aspekt der Aus- bzw. Einschließung betonen. Allerdings sollte nicht aus dem Auge verloren werden, dass solche geschlossenen Räume zugleich Reservate für Menschen, Sachen und Praktiken sein konnten, die aus den öffentlichen Räumen verdrängt worden waren. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass geschlossene Räume keineswegs hermetisch von ihrer Umwelt abgeriegelt waren. Gerade die Spannung von Abschließung und Öffnung kann bei der Beschäftigung mit geschlossenen Räumen besondere Aufmerksamkeit beanspruchen.46 Klöster waren schon per definitionem geschlossene Räume. Das galt bereits vor der Reformation, insbesondere für den Bereich der Laien grundsätzlich verschlossenen Klausur. Durch die Reformation wurden diese Abschließungstendenzen signifikant verstärkt, reduzierte sich doch der Austausch von Klöstern und Stiften mit ihrer Umgebung auf verschiedenen Ebenen: Die Kloster- und Stiftskirchen wurden von der lutherischen Bevölkerungsmehrheit nicht mehr zum Gottesdienst aufgesucht. Stiftungen zugunsten der geistlichen Institutionen fielen weg. Nicht zuletzt aber in kultischer Hinsicht kann man die katholischen Frankfurter Klöster und Stifte fortan als geschlossene Räume betrachten. Besonders krass war dieser Bruch sicher im Fall der Stifts- und Pfarrkirche, die vorher das sakrale Zentrum der Reichsstadt gewesen war. Zugleich wurde der für die lutherische Mehrheitsbevölkerung zuständige Pfarrer nicht länger durch das Bartholomäusstift ausgewählt, und damit endete eine alte und wichtige – wenngleich höchst konfliktbeladene – Verbindung zwischen Stadt und Stift. Wichtige Verbindungen zwischen Klöstern, Stiften und Reichsstadt gingen auch dadurch verloren, dass infolge der Reformation die Frankfurter Bevölkerung weitgehend als Rekrutierungsbasis des katholischen Klerus wegfiel. Auch vorher war nur eine Minderheit der Mönche und Stiftskanoniker in Frankfurt geboren, doch es hatte durchaus enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Stadtbevölkerung und Geistlichkeit gegeben, die nun wegfielen.47 46 Vgl. Rau, 2013, S. 145f.; Morscher /Scheutz/Schuster, 2013, S. 17. Ich danke Monika Frohnapfel-Leis für wertvolle Anregungen zum Aspekt der geschlossenen Räume. 47 Vgl. für Sankt Bartholomäus Rauch, 1975; für Liebfrauen Niederquell, 1982. Z.B. war der mehrfach erwähnte Chronist Wolfgang Königstein der Sohn eines 88
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Auch in rechtlicher Hinsicht wurden die Grenzen zwischen den geistlichen Institutionen und der umgebenden Stadt schärfer gezogen, nicht zuletzt durch die beiden umfassenden Schutzprivilegien Karls V., von denen das eine, vom 13. September 1530, zugunsten von Propst und Propstei des Reichsstifts Sankt Bartholomäus erlassen wurde und das zweite, vom 15. September 1530, die drei verbündeten Stifter begünstigte. Königs- und Kaiserprivilegien zugunsten der Frankfurter Stifter waren zwar nichts grundsätzlich Neues, die beiden neuen Privilegien definierten jedoch klarer als die älteren einen herausgehobenen Rechtsraum der Stifter, und sie taten dies bezeichnenderweise nicht nur durch die Benennung von Orten, sondern auch von Personen, Rechten und Praktiken: So wurde in dem zweiten Privileg ausdrücklich ausgeführt, dass es »für den gesamten Besitz der Geistlichkeit, ihre Wohnungen, die Kirchenbezirke und Kirchhöfe, auch für die Kirchendiener wie Glöckner und Kirchner« gelten sollte.48 Auf diese Weise wurden Räume konstituiert, die dem Zugriff der reichsstädtischen Regierung weitgehend verschlossen waren, mit anderen Worten zumindest partiell außerhalb des Rechtsraums Reichsstadt standen. Eine Abschwächung der Beziehungen zwischen der Reichsstadt einerseits und den Klöstern und Stiften andererseits lässt sich auch im wirtschaftlichen Bereich beobachten. Nach langen Streitigkeiten und Verhandlungen 1560 kam ein Vergleich zwischen den drei Stiftern und der Stadt über das alte Problem der Ewigen Zinsen zustande, der die Ablösung der bis 1554 gekündigten Zinsen regelte.49 Das bedeutete einen weitgehenden Verlust der Rechte der Stifter an den Frankfurter Immobilien und eine Abschwächung der finanziellen Beziehungen. Nach wie vor besaßen Propstei und Stift aber beachtliche Zehntrechte in Frankfurt und im Gebiet innerhalb der Landwehren.50 Auch die städtische Eiche verblieb dauerhaft im Besitz des Propstes von Sankt Bartholomäus.51 Wie wenig vollständig die Abschließung der Stifte war, wird schließlich an der Kirchenfab-
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Frankfurter Wollwebers (ebd., S. 77). Ein weiterer bekannter aus dem Frankfurter Bürgertum stammender Kapitular der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war Johannes Steinmetz, besser bekannt unter dem Namen Latomus (1524-1600), der von 1561 bis 1598 das Amt des Dekans ausübte und sich – auch als Chronist – für den Fortbestand des Stifts einsetzte. Vgl. Rauch, 1975, S. 110-134. Rauch, 1975, S. 98. Vgl. allgemein auch Flachenecker, 2004. Vgl. Lühe, 1904; knapp zusammenfassend Rauch, 1975, S. 92, Anm. 475. Die wirtschaftlichen Verluste durch den Wegfall der »geistlichen Revenüen« bezeichnet Rauch als »materiell verschmerzliche Einbußen« (ebd., S. 248). Vgl. Rauch, 1975, S. 265-268. Vgl. ebd,, S. 275f. 89
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rik von Sankt Bartholomäus deutlich, für die Rat und Stift jeweils zwei Fabrikherren bestellten.52 Außerdem gab es zu allen Zeiten (nicht immer konfliktfreie) Kommunikation zwischen den geistlichen Institutionen, der Reichsstadt und ihrer Bürgerschaft auf den unterschiedlichsten Ebenen.53 Zudem ist zu betonen, dass die (relative) Abschließung der Klöster, Kommenden und Stifte kein ein für allemal vollzogener, irreversibler Vorgang war. Als im 17. Jahrhundert der katholische Bevölkerungsanteil Frankfurts wieder deutlich stieg, erlangten die geistlichen Institutionen, obwohl die Katholiken großenteils vom Bürgerrecht ausgeschlossen blieben, wieder eine stärkere Verbindung mit der Stadtbevölkerung.54 Im 18. Jahrhundert mehrten sich außerdem, ohne dass die Benachteiligung der Katholiken in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht aufgehört hätte,55 die Zeichen für eine nachlassende Abschließung der katholischen Kirchen und Klöster in kultischer Hinsicht. So lud der Dekan des Bartholomäusstifts Johann Amos den lutherischen Senior Christian Münden, mit dem er noch wenige Jahre vorher einen erbitterten Federkrieg ausgefochten hatte, im Jahr 1740 ein, im Dom seine Trauerpredigt auf den verstorbenen Kaiser Karl VI. zu hören. 1761 wurden Schultheiß und Bürgermeister zur Feier des goldenen Priesterjubiläums des Dekans Amos eingeladen. Und 1775 ließ der Rat eine gemeinsame Gedenkmünze zum Amtsjubiläum dreier Geistlicher, des Lutheraners Schmidt, des Katholiken Amos und des Reformierten Mathieu, schlagen, die den katholischen ebenso wie den reformierten Klerus als Teil Frankfurts erscheinen lässt.56 Geradezu als ein geschlossener Raum par excellence erscheint die Frankfurter Judengasse. Bei ihrer Einrichtung wurde eine genau definierte Personen52 Vgl. ebd., S. 248. 53 Vgl. für die Deutschordenskommende Seiler, 2003, S. 242-295 und passim. 54 Dechent, 1913-1921, Bd. 2, S. 56, 257, geht von einem deutlichen Zuwachs der Katholiken während des Dreißigjährigen Krieges und einer anschließenden Stagnation aus und beziffert die katholische Bevölkerung Ende des 18. Jahrhunderts mit etwa 3.500 Seelen. 55 Reichsweite Aufmerksamkeit erlangten der Fall des katholischen Maurergesellen Müller, dem die Aufnahme als Meister in die Zunft verweigert wurde, und das jahrzehntelange Ringen der Familie Bolongaro mit dem Rat um die Aufnahme ins Bürgerrecht oder zumindest die Gewährung des Beisassenstatus. Vgl. Duchhardt, 2 1994, S. 294; Wustmann, 2002. 56 In dieselbe Richtung weist auch, dass 1784 die katholische Seelsorge in städtischen Fürsorgeinstitutionen zugelassen wurde. Vgl. Dechent, 1913-1921, Bd. 2, S. 162f.; Rauch, 1975, S. 249, Anm. 1454. 90
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gruppe gezwungen, an einem konkreten, am Rande der Innenstadt gelegenen Ort zu wohnen, ihren Glauben auszuüben und zu arbeiten. Die Judengasse war physisch klar vom Rest der Stadt abgegrenzt. Lediglich die Tore im Norden und Süden sowie das Judenbrückchen im Westen erlaubten einen Austausch zwischen Stadt und Gasse – sofern sie nicht, wie an Sonn- und christlichen Feiertagen – geschlossen waren. Seit 1616 markierte das kaiserliche Wappen die Gasse als einen besonderen Rechtsraum, der in spezieller Weise dem Schutz und den Herrschaftsansprüchen des Reichsoberhauptes unterstand.57 Während die katholischen Stiftskirchen und Klöster jeweils einzeln für sich als geschlossene Räume begriffen werden können, bildete die Judengasse einen einzigen großen geschlossenen Raum, der zudem nicht nur die Geistlichkeit und deren Haushalte, sondern weitestgehend die gesamte jüdische Bevölkerung Frankfurts umfasste. Die Einrichtung der Judengasse kann mit gutem Grund als ein Akt der Ausschließung und zugleich Einsperrung der Juden betrachtet werden und wurde offenbar auch von den Betroffenen so empfunden, die so lange wie möglich Widerstand gegen diese Maßnahme leisteten. Die Forschung hat aber auch den Blick darauf gelenkt, dass sich in dem geschlossenen Raum, in dem keine Christen wohnten, ein weitgehend autonomes Sozialsystem entwickeln konnte, das sich längst nicht nur in Fragen, die im engeren Sinne den Kultus betrafen, signifikant vom christlichen Teil Frankfurts unterschied: Es gab eine eigene Obrigkeit mit einer eigenen Jurisdiktion, die innerjüdische Konflikte nach eigenen Normen regelte, eigene soziale Sicherungssysteme und Schulen, Freizeitangebote usw. Nicht zuletzt erleichterte es das Zusammenleben in der Gasse aber den Anforderungen des jüdischen Kultus zu entsprechen, wie, auch dank eigener Metzger und Bäcker, die Zubereitung koscherer Speisen zu gewährleisten, aber auch, dem eigenen Kalender folgend, die jüdischen Feiertage und Feste zu begehen. Gerade karnevaleske Züge tragende Feste wie Purim oder das an den Fettmilchaufstand erinnernde Purim Vintz hätten außerhalb des geschlossenen Raumes der Judengasse kaum in dieser Form gefeiert werden können.58 Zugespitzt könnte man sagen, dass die Einrichtung der Judengasse die Herausbildung einer jüdischen »Parallelgesellschaft« förderte. Der Raum der Judengasse war nicht identisch mit dem physischen Ort Judengasse, denn Teile des Gemeindelebens spielten sich außerhalb der Gasse ab: Vor dem südlichen Gassentor lagen wichtige Einrichtungen wie der Friedhof, 57 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 1, S. 395f. 58 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 2, S. 237-249; zum Frankfurter Fest Purim Vintz Ulmer, 2001. 91
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das Hospital, die Bleiche, das Holzlager, das Backhaus und das Schlachthaus.59 Gleichzeitig ist auch bei der Judengasse zu betonen, dass ihre Abschließung keineswegs nur annähernd vollständig war. Selbst in den Zeiten, in denen die Tore geschlossen werden mussten, des Nachts sowie an Sonn- und Feiertagen, war die Abschließung nicht vollständig, denn in die Tore waren kleine Türen eingelassen, deren Schlüssel der Frankfurter Rat einem jüdischen Gemeindemitglied anvertraute.60 Zudem waren die Bewohner der Judengasse in verschiedener Hinsicht und auf unterschiedlichen Ebenen auf die Kommunikation und Interaktion mit der christlichen Stadt Frankfurt angewiesen. Das fing bei den Samstagsweibern an, deren Dienste es strenggläubigen und wohlhabenden Juden ermöglichten, eine strikte Sabbatruhe einzuhalten, setzte sich über den Pfandhandel und die Kleinkreditvergabe an christliche Frankfurter fort und reichte bis zur Partizipation am Messegeschäft. Außerdem ist festzuhalten, dass sich der Rat der Reichsstadt sehr wohl ein Eingriffsrecht in der Judengasse vorbehielt, wenn die Situation dies erforderte.61 Im 18. Jahrhundert zeigte der geschlossene Raum der Judengasse deutliche Erosionserscheinungen: Nach dem »Großen Judenbrand« von 1711 und einem erneuten verheerenden Feuer von 1721 gestand der Rat den Geschädigten zwar zu, sich befristet in christlichen Häusern einzumieten, verpflichtete sie jedoch nach der Wiederherstellung der Judengasse dazu, dorthin zurückzukehren. Wenn sich die Betroffenen mit zahlreichen Eingaben gegen den Zwang wehrten, in der Gasse wohnen zu müssen, taten sie dies nicht bloß, um den dortigen katastrophalen Wohnverhältnissen dauerhaft zu entkommen, und ebenso wenig nur aus ökonomischen Motiven, sondern man kann hierin auch Streben nach dem Ende der Ausgrenzung bzw. den Wunsch erblicken, nicht nur dem Ort, sondern auch dem Raum Judengasse zu entrinnen. 1729 mussten zwar die letzten Juden in die Gasse zurückkehren, doch gleichzeitig wurden de facto oder auch de jure die wirtschaftlichen Restriktionen für die jüdische Bevölkerung gelockert: Der Reichshofrat verfügte die Abschaffung des Judenzeichens (1728), Juden wurden zum Makleramt zugelassen, erste Läden durften in der Gasse eröffnet werden, jüdische Großhändler mieteten Lager außerhalb der Gasse, und am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden jüdische Bankhäuser. Als 1796 die Gasse erneut durch einen Brand zerstört wurde, läutete das ihr faktisches Ende ein, nicht nur 59 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 2, S. 139f., 226-229. 60 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 1, S. 205. 61 Z.B. im Kontext der Drach-Kannschen und der Kulp-Kannschen Wirren. Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 2, S. 49-72, 178-216. 92
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des Ortes, an dem die Frankfurter Juden zu wohnen gezwungen waren, sondern auch des zumindest partiell abgeschlossenen Sozialsystems.62
4. Fazit Der Beitrag hat lediglich einige wenige Beispiele für Betrachtungen der interkonfessionellen Beziehungen in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt in raumsoziologischer Perspektive angeführt. Es bliebe noch manches zu sagen, etwa zu der Umordnung städtischer Räume in Messezeiten und, noch deutlicher, bei Wahltagen oder in den Jahren, als Kaiser Karl VII. (1742-1745) im Frankfurter Exil residierte.63 Es dürfte dennoch bereits erkennbar geworden sein, dass ein raumsoziologischer Zugang durchaus neue Erkenntnisdimensionen zu bekannten Quellen der Frankfurter Geschichte erschließen und helfen kann, bekannte Aspekte der faktischen Multikonfessionalität in der de jure lutherischen Reichsstadt Frankfurt klarer zu erfassen.64 Praktiken des Ein-, Ab- und Ausschließens machten nicht nur für frühneuzeitliche Menschen soziale Ordnung im Raum erfahrbar, sondern können auch für Historikerinnen und Historiker des 21. Jahrhunderts Zugänge zum Verständnis frühneuzeitlicher Gesellschaften eröffnen. Zugleich hat sich gezeigt, dass ein und dasselbe Phänomen, je nachdem, welcher der mannigfaltigen raumsoziologischen Zugänge gewählt wird, sehr unterschiedlich bewertet und dargestellt werden kann. Das weist darauf hin – eine Selbstverständlichkeit, derer man sich aber dennoch stets bewusst sein sollte –, dass eine raumsoziologische Herangehensweise großes Erkenntnispotential besitzt, zugleich aber – wie jeder andere Zugang auch – notwendigerweise andere Aspekte in den Hintergrund treten lässt bzw. nur eine Dimension bestimmter Phänomene beleuchtet. Was bedeutet das für die in diesem Sammelband erörterte Frage, wie im 21. Jahrhundert in zeitgemäßer Weise die Geschichte frühneuzeitlicher Städte über die Spezialistenkreise hinaus vermittelt werden kann? Vermutlich werden in einer stadtgeschichtlichen Überblicksdarstellung auch zukünftig längere narrative – wenn man so will: konventionelle – Passagen einen legitimen Platz 62 Vgl. Kracauer, 1925-1927, Bd. 2, S. 128-147, 352-335, 417 und passim. 63 Hier ist in Rechnung zu stellen, dass infolge der Wirren des Österreichischen Erbfolgekriegs nicht nur der Kaiserhof, sondern auch der Immerwährende Reichstag zeitweise in Frankfurt seinen Sitz nahm. Vgl. Hammerstein, 1986; Heidenreich, 1986. 64 Vgl. Schindling, 2005. 93
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behaupten, ja unentbehrlich bleiben, um einem mit dem Gegenstand weniger vertrauten Lesepublikum einen Zugang zum Gegenstand zu ermöglichen. Dabei sollte man allerdings nicht stehenbleiben, denn ergänzende, beispielsweise raumsoziologische Analysen besitzen das Potential, Spezifika einer Epoche, einer gesellschaftlichen Konstellation, einer Akteursgruppe etc. herauszuarbeiten – dasselbe gilt mutatis mutandis auch für andere durch die Turns der vergangenen Jahre eröffnete Zugangsweisen. Nicht nur »Eigenes« und »Vertrautes«, sondern insbesondere auch »Fremdes« oder gar »Exotisches« an der Frühen Neuzeit dürfte so deutlicher wahrgenommen und in seinen von den heutigen oftmals stark abweichenden Rationalitäten erfassbar werden. Auf diese Weise wird man vielleicht nicht darstellen können, wie es »wirklich« gewesen ist, wohl aber einen Zugang zu einer vergangenen Epoche und ihren Besonderheiten eröffnen können, der dieser gerecht wird.
Abstract By using different concepts of spatiality, the article analyses the confessional situation in Frankfurt from the 16th to the 18th century with its Lutheran majority and strong Catholic, Calvinist and Jewish minorities. In a first step, the paper takes a look at the sacral landscape of the imperial city before and after the Reformation as well as the evolution of the spaces of church. The second part deals with public spaces: the fight for hegemony or even exclusive control over the streets and the parish church Saint Bartholomew. Moreover, the article examines the marginalization or even extinction of the minorities’ practices – or, in the case of the Jews, the minorities themselves – from the public sphere. Finally, the remaining Catholic convents and the Judengasse are considered with respect to their status as closed spaces. The article’s aim is to show how adapting concepts of spatiality may help to better understand the characteristics of early modern societies.
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Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge Andreas Hansert Was tragen raumanalytische Ansätze zur Erforschung der maßgeblichen Führungsschicht einer der bedeutendsten Reichstädte des römisch-deutschen Reichs, nämlich des Patriziats der Stadt Frankfurt am Main, bei? Bringt die Kategorie des Raums methodisch wirklich ein Mehr oder wenigstens eine Präzisierung an Erkenntnissen über den vorliegenden Gegenstand? Was kann sie über die Ergebnisse der Verfassungs- und Stadtgeschichte, der Gesellschaftsund Kulturgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Religions- und Kirchengeschichte, der Genealogie und Verwandtschaftsforschung, der Geschlechtergeschichte etc. hinaus an spezifisch neuen und originären Einsichten über den Gegenstand beitragen? In einschlägigen Arbeiten haben vor allem Martina Löw und Susanne Rau versucht, einen »analytischen Raumbegriff« für die historische Betrachtung und Analyse fruchtbar zu machen.1 Ein anspruchsvoller Raumbegriff hätte Folgendes zu leisten:2 • die Prozesse der Produktion und Konstruktion von Räumen zu beleuchten • auf kulturelle Praktiken einzugehen • Differenzen und Koexistenzbeziehungen von Raumvorstellungen aufzudecken • Verortungen und Verräumlichungen sozialer Beziehungen zu beobachten 1
2
Rau/Schwerhoff, 2004; Rogge, 2008; Rau, 2013; Dies., 2014; Bachmann-Medick, 5 2014. Rudolf Schlögl betrachtet historische Raumvorstellungen im Kontext von Luhmanns Systemtheorie, vgl. Schlögl, 2014, S. 109-136. Rau, 2013, S. 11. 99
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• räumliche Selbstbilder und Ordnungsarrangements von Gruppen und Gesellschaften zu analysieren und ihre Auswirkungen zu verfolgen • sowie auf die raumzeitlichen Veränderungen sozialer Prozesse hinzuweisen. Bei einem solchen raumanalytischen Zugang zur Frankfurter Geschichte wären verschiedene Kategorien von Raum zu unterscheiden: einmal der geographische, topographische und territoriale Raum, also der Stadtraum und seine Umgebung als Ganzes bis hin zu seiner geographisch und geopolitisch zentralen Lage in Mitteleuropa, was vor allem die Entwicklung Frankfurts als Handelsund Messestadt begünstigt hat; zum anderen der Raum als gebaute Architektur, der umschlossene und geschlossene Raum, der durch seine Fassade nach außen wirkt und einen Raum im Inneren absondert – Raum eben verstanden als Haus. Also der Raum draußen und der Raum drinnen. Das Haus ist eine physische und ästhetische Konstruktion des Architekten, des Baumeisters – auch der Handwerker; allgemeiner gesprochen ist es damit eine »soziale Konstruktion«, um die es den gängigen Raumtheorien ja vor allem zu tun ist. Beide Arten von Raum, der naturgegebene wie der gebaute, stehen für – mehr oder weniger – lange Dauer und wirken damit über die Generationen hinweg auf die Menschen, die in ihnen leben, zurück. Die natürlichen Gegebenheiten des geographischen Raums sind teilweise sogar von »ewiger« Dauer und ändern sich nur graduell. Im Fall von Frankfurt: die Lage und Fließrichtung des Mains, die Silhouette der Taunusberge, der leichte Anstieg des Geländes von der Senke des Flusses nach Süden und Norden hinauf, so dass im (heute mit dem Nordend bebauten) ehemaligen Vorland der Stadt Weinbau möglich war, schließlich die Lage im nordalpinen Mitteluropa mit allem, was daraus für Klima, Landnutzung, Kultur etc. folgt – all diese Gegebenheiten der Landschaft sind in ihren Grundzügen praktisch konstant und ändern sich nur graduell (wie z.B. der Verlauf des Flussufers, das historischen Verlagerungen ausgesetzt war, wie das Auffinden der aus der Stauferzeit stammenden Hafenmauer belegt, auf die man bei den Ausschachtungsarbeiten für den Neubau des Historischen Museums 2012/13 überraschend stieß). Der Blick auf den Raum im Sinne von Gebiet und Landschaft, vor allem auch Stadtlandschaft, hat vor allem aber auch danach zu fragen, wie er sozial belegt wird. Zunächst: wenn die Fläche, die Landschaft, zum »Territorium« wird, indem sie durch den Bau einer Stadtmauer und einer an der Gemarkungsgrenze verlaufenden Landwehr nach außen abgegrenzt, nach innen aber mit einem Herrschaftsanspruch, hier dem Herrschaftsanspruch des Frankfurter Rats und der Frankfurter Bürgerschaft, und einer eigenen Rechtsordnung belegt wird, dank derer die Bewohner dieser Fläche als ein Verbund von Bürgern mit Rech100
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
ten und mit Plichten konstituiert werden. Unter raumanalytischer Perspektive ergibt sich daraus des Weiteren die Frage nach rechtlich ausgewiesenen Sonderregionen innerhalb dieses Territoriums: Das waren zum einen die Gebäude und die Gelände der vorreformatorischen Kirche, auf die der Rat keinen Zugriff hatte und die konfliktträchtige Enklaven innerhalb des Territoriums der politisch verfassten Stadtgemeinde bildeten. Und das war seit 1462 das Ghetto der Judengasse, das die jüdische Bevölkerung für mehr als 300 Jahre räumlich separierte und das ebenfalls einem Sonderrecht, der Stättigkeit, unterstand. Und von großer Bedeutung für die Frage nach dem Raum sind schließlich auch private Eigentumsrechte an Grund, Boden und Häusern auf diesem Territorium, denn gerade die Patrizier gehörten zu den Großgrundbesitzern; bestimmte Häuser und Landgüter waren mehr oder weniger dauerhaft in ihrer Hand. Was die (architektonisch) »konstruierten« Straßenzüge und Bauwerke der Stadt, den gebauten Raum, betrifft, so verkörpern auch bei einer ansonsten kompletten und nachhaltigen Veränderung des Erscheinungsbildes in der Fläche hier noch immer die markanten historischen Baulichkeiten ebenfalls Kontinuitäten vom Mittelalter bis heute: das Rathaus der Stadt, der Römer, die alten Innenstadtkirchen, Wehrtürme wie der Eschenheimer Turm und die alten Warten in den Außenbezirken, die einstigen Wallanlagen als die Innenstadt komplett umschließende Parkanlage, die die geschleiften Stadtmauern nachzeichnet, die Fluchtlinien einzelner Straßen und Plätze, insbesondere die des Römerbergs als des historisch bedeutendsten Platzes etc. Nur eine Porta Nigra, die in ihrer ganzen Monumentalität materiell eine ununterbrochene Präsenz von annähernd sogar zweitausend Jahren Kulturgeschichte darzustellen vermag, gibt es in Frankfurt nicht. In einem Gedankenexperiment ließe sich einmal der Frage nachgehen, ob all diese wenigen andauernden Monumente – die naturgegebenen ebenso wie die an zentralen Stellen gelegenen architektonischen – in dem durch Neubebauung ansonsten flächendeckend veränderten Stadtbild nicht ausreichen würden, damit ein Goethe, würde er wiederkehren, seine Vaterstadt, wie er sie in Dichtung und Wahrheit dargestellt und wahrgenommen hat, nach einiger Irritation letztlich doch identifizieren würde. Besonders die Monumente des Patriziats – seine Trinkstuben am Römer, der Römer selbst als Ort der (wesentlich von ihm selbst ausgeübten) Stadtherrschaft, einige seiner großen Stadthäuser oder Landsitze (wie das Holzhausenschlösschen), die von ihm gestifteten und ausgestatteten Kirchen etc. – haben sogar die 500-jährige Epoche der Existenz des Patriziats selbst überdauert, die mit der Stauferzeit begann und mit Napoleon endete. Die maßgeblichen Räume des Patriziats sind im Kern und am identischen Ort also bis heute vorhanden, nachdem das Patriziat selbst und seine Lebenswelt als his101
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torische Formationen längst untergegangen sind. Sie machen noch den heutigen Bewohnern der Stadt (zumindest den historisch reflektierten) klar, dass sie in einer originär bürgerlichen Kommune – nicht in einer Residenzstadt, nicht in einer Bischofsstadt und bei aller Affinität des heutigen Frankfurter Bankenviertels eben auch nicht in einer amerikanischen Stadt – leben. Diese historische Substanz, die sich nicht zuletzt auch räumlich Ausdruck verschafft, hat bis heute ihre Wirkung auf die Stadtgesellschaft – etwa an den eher kleinen Dimensionen der Museumsarchitektur (im Vergleich etwa zu den Pinakotheken der Residenzstadt München). An solchen Phänomenen lässt sich also beobachten, dass räumliche Gegebenheiten auch habituell ein sehr langfristiges und sehr persistentes Element im Lauf der Zeit sind oder sein können, das über Jahrhunderte, über sehr viele Generationen, über historischen Wandel und fundamentale Umbrüche hinweg ein strukturierendes Potential zu entfalten vermag. Das Patriziat selbst hatte eine solche Auffassung des Raums, der Kontinuität im Wandel: An dem großen Gutshaus, das eine der führenden unter den Frankfurter Patrizierfamilien, die Familie Günderrode im 18. Jahrhundert in Höchst an der Nidder, etwa 30 km nordöstlich von Frankfurt in der Wetterau gelegen, besaß, findet sich ein in diesem Zusammenhang interessanter Sinnspruch, der in verschiedenen Varianten (in einer Kurzform etwa in der Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs) auch anderweitig erscheint: »Dies Haus ist mein u. doch nicht mein, der nach mir kommt, deß wird’s auch nicht sein. Der wird’s dem Dritten übergeben und dem wird es wie mir ergehen. Den Vierten trägt man auch hinaus. Freund sag̓ mir: Wem gehört dies Haus?«3
Das Haus/der gebaute Raum bleibt, die Menschen kommen und gehen – zumindest und vor allem das Haus/der Raum, die mit den historischen Führungsschichten in Berührung stehen, da sie im Gegensatz zur einfachen Kate eine lange Lebensdauer haben. So darf man bei allem Wandel eine hohe Überlebens- und damit auch Prägungsfähigkeit des Raums konstatieren. Bis zu den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, in einzelnen Exemplaren wie dem Haus Grimmvogel und Paradies am Liebfrauenberg oder dem Holzhausenschlösschen auch noch in der Gegenwart, bildeten die Häuser des Patriziats markante Monumente im 3
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Eine Photographie des Hausspruchs in https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_ Günderrode, 13.11.2016.
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
Stadtbild, die auch in vielen Stadtveduten auftauchen und so auch heute noch die museale-ästhetische Selbstwahrnehmung der Stadt bestimmen. Da es sich um »Geschlechter« – Ratsdynastien – handelte, die diese Räume/ Häuser bewohnten und/oder bewirtschafteten, liegt es im Rahmen einer raumanalytischen Betrachtung nahe, eine ganz neue Kategorie einzuführen: die des Verwandtschaftsraums. Dies ist kein physikalisch fassbarer Raum, der Verwandtenraum hat im engeren Sinn keinen Ort, wiewohl dynastische Herrschaft sich immer auf ein bestimmtes Territorium richtet. Aber die Verwandtschaft ist insofern räumlich strukturiert, als sie aus der Perspektive des einzelnen Individuums immer ein Oben und Unten sowie ein Links und Rechts hat. In den graphischen Darstellungen der Verwandtschaft, insbesondere in Form von Ahnentafeln, die analog zu den adligen und fürstlichen Dynastien im Frankfurter Patriziat seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert eine Rolle zu spielen beginnen, wird die Verwandtschaft in ein räumlich angeordnetes Protokoll transformiert: Ein Proband ist in einer bestimmten Systematik oben, unten, links und rechts von Verwandten umgeben. Bereits die bloßen lateinischen Bezeichnungen Aszendenz (aufsteigend – für die Vorfahren) und Deszendenz (absteigend – für Nachkommen) sind inhaltlich unmittelbar Raum- und Richtungsbegriffe. Daher werden auch in einer bildlichen Darstellung die Vorfahren i.d.R. oben, Nachkommen nach unten hin dargestellt (gelegentlich auch gerade umgekehrt), woraus sich die Position von Geschwistern sowie von Cousins/Cousinen verschiedener Grade als Seitenverwandten ergibt. Zur Sphäre des Verwandtschaftsraums gehört selbstredend die Geschlechterpolarität: Die Familien bestehen aus Männern und Frauen, Vätern und Müttern, Söhnen und Töchtern, Brüdern und Schwestern. Von zentraler Bedeutung ist die Stellung der Geschlechter natürlich gerade auch in Bezug zum territorialen und baulichen Raum. Die unterschiedlichen Nutzungen und Nutzungsmöglichkeiten von architektonischen Räumen durch Männer und Frauen werden im Folgenden daher ein ständiges und systematisches Begleitmotiv sein. Zum Komplex der Seitenverwandtschaft gehört die Stellung des Einzelnen in einer Geschwistersequenz, was in bestimmten adligen Kontexten – in besonderer Schärfe in der Erbmonarchie des Absolutismus – mit ihren Primogeniturordnungen eine entscheidende Rolle spielte. Auch im Frankfurter Patriziat wird an späterer Stelle die Bedeutung der verwandtenräumlichen Positionierung innerhalb der Geschwistersequenz für die Zugänglichkeit zur Ratsstube anhand der Söhne des Justinian von Holzhausen noch zu exemplifizieren sein. Eine Besonderheit des Frankfurter Patriziats, zumindest seines dominanten Teils (nämlich derjenigen Familien, die der Ganerbschaft Alten-Limpurg angehörten), war es darüber hinaus, dass es sich dank geschlossener Heiratskreise 103
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nach außen hin von der übrigen Bürgerschaft separierte und im Lauf der Generationen so einen eigenen Verwandtenraum konstituierte. Durch ausführliche genealogische Rekonstruktionen lässt sich die historische Genese dieses verwandtschaftlichen Sonderraums eindringlich darstellen.4 Es ließe sich auf die Arbeiten insbesondere von Sigrid Weigel verweisen, die der Genealogie eine moderne kulturgeschichtliche Fundierung zu verschaffen versucht, die insbesondere auch die systematische Verklammerung von Kultur- und Naturwissenschaften, die sich zwingend daraus ergibt, in den Blick nimmt.5 Eine Betrachtung des Patriziats kann und muss daher die Genealogie und die Erkenntnisse aus der historischen Verwandtschaftsforschung mit einbeziehen. Jedes Ego hat in seiner Verwandtschaft immer eine räumlich zu definierende Position – einen ganz bestimmten relativen Ort –, seine Perspektive auf seine Familie ist immer relativ davon abhängig; sie ist anders als die seines direkten Verwandten, der eine andere Position einnimmt, anders als die seines Vaters, seines Bruders, seines Sohnes etc. Die Formulierung von Martina Löw, der Mensch sei in seiner »stets platzierten Körperlichkeit […] in Räume eingebunden«6, hat so unmittelbar auch Gültigkeit für den Verwandtschaftsraum. Der oben zitierte Sinnspruch bringt die Raumkonzeptionen des Hauses und die der Verwandtschaft eindrücklich zusammen. Bezeichnungen wie Vater-stadt oder Vater-land integrieren rein sprachlich ebenso beide Sphären. Lokalisiert bin ich gleichermaßen in einem bestimmten Haus, einer Stadt, einem Land und in einer bestimmten Generation einer Familie; ich komme von einem bestimmten (geographisch und kulturell bestimmten) Ort, und ich komme von einer bestimmten Familie. Beides, der Genius Loci und meine (Herkunfts‑)Familie, prägen mich. Goethe in München wäre ebenso ein anderer, wie er, der geborene Frankfurter, ohne seinen Vater Johann Caspar, seine Mutter Aja und seinen alten Großvater Textor ein Anderer gewesen wäre. Wegen seiner markant geburtsständischen Ausprägung wird diese grundlegende Konstellation am Frankfurter Patriziat besonders deutlich. 4
5 6 104
Zum Patriziat: Lerner, 1952; Körner, 22003; Hansert, 2000; Ders., 2014; Ders., 2016a. – Dazu eine große Zahl von monographischen Studien, die für Frankfurt die Thematik anhand einzelner Personen und Familien, einzelner Epochen oder bestimmter struktureller Aspekte vertiefen. – Zum spätmittelalterlichen Patriziat der Stadt Mainz hat Heidrun Ochs jüngst eine analoge Arbeit vorgelegt. Vgl. Ochs, 2014. – Siehe dazu auch die Rezension des Autors in den Rheinischen Vierteljahresblättern 80 (2016), S. 301f. Weigel, 2006; vgl. auch Willer /Weigel/Jussen, 2013. Löw, 2004, S. 464.
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Goethe selbst fügte dem eine dritte Dimension hinzu: die (historische) Zeit. Ihm ging es darum, wie er in den einleitenden Bemerkungen zu Dichtung und Wahrheit postulierte, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen«, also zu realisieren, »daß […] ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein«.7 – Ein ganz anderer! Goethe benennt hier in aller wünschenswerten Klarheit bereits jenes Phänomen, das die Soziologie später im Gefolge von Karl Mannheim als Generationenprägung abgehandelt hat. Auch historische Zeiten und Epochen wurden mit dem Raumbegriff in Verbindung gebracht, eben als »Zeitraum«. Streng genommen hätte die raumanalytische Betrachtung also die Trias von geographischem/architektonischem Raum, Verwandtschaftsraum und Zeitraum zu reflektieren – die Einbettung oder Platzierung des Menschen in den Ort mit seinen Traditionen, in die familiäre Herkunft und in die geschichtliche Zeit. Eingedenk dieser methodischen Trias werden sich die folgenden Ausführungen zum Patriziat auf den Raum, wie ihn Löw, Rau und die anderen Autoren verwenden, konzentrieren. Das Patriziat verkehrt vorzugsweise an bestimmten Stellen in der Stadt, an anderen hingegen kaum oder gar nicht: Man trifft es im Patrizierhaus, auf der patrizischen Trinkstube, in der Ratsstube und im Rathaus, als Gläubige und Stifter an herausgehobener Stelle im Kirchenschiff, unter Veränderung seiner Rechtsstellung auch in Klöstern und Stiften. Man sieht es in der Frühzeit im Handelskontor (später dann aber nicht mehr), auf den zentralen Plätzen und Straßen der Stadt und dort – gerade wenn außergewöhnliche Ereignisse wie Handelsmessen, Kaiserhuldigungen, Prozessionen, Bürgerversammlungen etc. stattfinden – an bevorzugten Aufstellungsplätzen in den ersten Reihen. Man sieht das Patriziat von außen in die Stadt einwandern (sei es aus dem agrarischen Umland oder aus den Patriziaten anderer Städte), und man sieht es zum Teil ins Umland und weit in den deutschen und europäischen Raum hinausstreben: auf die Landgüter, auf Handelsexkursionen, zu Pilgerreisen, zu Universitätsbesuchen und Bildungsreisen, zu diplomatischen Missionen, auf Kavalierstouren und Karrierestationen an den Höfen in der Nähe und in der Ferne, in der Bekleidung höherer und hoher Militärränge in den Fürstenheeren. Dagegen gibt es Räume und Plätze, wo man das Patriziat nicht, oder allenfalls ausnahmsweise, antrifft: Das sind die Armenviertel, die Zunftstuben, die Werkstätten der Handwerker, die Krämerstuben; in der Kirche sind es der Altarraum, die Kanzel und die Sakristei; und auch die Judengasse ist kein Ort, an dem sich Patrizier i.d.R. 7
Goethe, 1998, S. 9. 105
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aufhalten. Solche Raumbezüge im engeren Sinne sind im Folgenden näher in den Blick zu nehmen.
1. Das Frankfurter Patriziat und seine Trinkstuben Das Raumkonzept des Hauses und dasjenige der Verwandtschaft sind durch die Praxis der Trinkstubengesellschaften, in denen die Patrizier sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zu vereinigen beginnen, eng miteinander verbunden. Alle Gesellschaften in Frankfurt – Alten-Limpurg, Frauenstein, Laderam und Löwenstein8 – bezogen ihren Namen von dem Haus, in dem sie (zumindest den größten Teil ihrer zeitlichen Existenz) ihren Sitz, eben ihre Trinkstube und ihren Versammlungsort, hatten. Das waren, nicht von ungefähr, Häuser in direkter oder nächster Nachbarschaft des Römers, eben die Häuser Alten-Limpurg, Frauenstein, Laderam und Löwenstein – die letzten drei als Bestandteil der fünfgiebligen westlichen Römerbergfront, wobei das historische Haus Römer im eigentlichen Sinne nur das zweite Staffelgiebelhaus von links meint. Zugleich ist zu konstatieren, dass die Mitglieder dieser Gesellschaften miteinander verwandt waren – enger oder weiter verwandt, was eine wichtige Feststellung ist. Denn eine stringente Strukturierung, ja gezielte Konstruktion eines ebenso weitläufigen wie dicht gewobenen Verwandtschaftsraums im Sinne einer ausgeprägten und ausdifferenzierten Geburtsaristokratie gelang einzig Alten-Limpurg, den Frauensteinern hingegen nur in Ansätzen, während Laderam und Löwenstein sich zugunsten der beiden anderen Ende des 15. Jahrhunderts ohnehin schon aufgelöst hatten. Dieser Erfolg bei der systematisch betriebenen Herausbildung eines Geburtsstands ist denn auch der entscheidende Grund, weshalb die Quellen die Bezeichnung »Patriziat«, die seit der Renaissance für die alten Ratsgeschlechter aufkam, allein für die Limpurger verwandt haben. Die Frauensteiner haben erst im 18. Jahrhundert den Anspruch erhoben, ebenfalls als Patrizier zu gelten, was ihnen von dem Limpurgern auch in der Endphase der Reichsstadt noch streitig gemacht wurde. Erst die moderne Geschichtswissenschaft verfährt hier ungeachtet dieser historischen Quellenlage egalitär: Sie verwendet den Begriff »Patriziat« nicht mehr normativ, sondern rein als Ordnungsbegriff und spricht heute von allen vier historischen Vereinigungen als Patriziergesellschaften. Viel strikter als die Frauensteiner übten die Limpurger über die Generationen hinweg eine Heiratskontrolle mit dem Ziel, die Ebenbürtigkeit der Partner 8 106
Kurzer Überblick über diese Gesellschaften in Hansert, 2014, S. 500-502.
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zu gewährleisten, um dadurch »adlige Nachkommen« zu generieren.9 Dieses Kriterium wurde vor allem dadurch erreicht, dass die meisten Ehen in der Gesellschaft Alten-Limpurg ohnehin zwischen Söhnen und Töchtern aus eingesessenen Familien geschlossen wurden, was die Gleichrangigkeit von vornherein garantierte. Nur bei den vergleichsweise wenigen exogamen Heiraten, die vor allem nötig waren, um neue Familien als Ersatz für die ausgestorbenen zu rekrutieren, wurde die Sicherung der Ebenbürtigkeit zu einem praktischen Problem. Man führte daher (in Form von Geburtsbriefen, auch Rezeptionsurkunde genannt) formelle Ahnenproben ein: Der fremde Heiratskandidat musste wie beim Stifts- und Ritteradel eine Ahnenprobe vorlegen, die sich im 16. Jahrhundert auf die Stellung seiner vier Großeltern, im 17. Jahrhundert dann sogar auf seine acht Urgroßeltern bezog (wobei das 17. Jahrhundert andernorts auch 16er- und 32er-Ahnenproben kannte).10 Doch nicht nur die Frauen, die durch die Heirat eines gesellschaftsfremden Mannes (ob einheimisch oder auswärtig) eine neue Familie einführten, mussten bei ihrer Partnerwahl auf Ebenbürtigkeit achten, auch Söhne aus eingesessenen Familien, die eine fremde, von außen kommende Frau ehelichten, waren dazu angehalten. Nicht nur, dass die Standesgenossen sich durch eine nicht standesgemäße Frau (eine »Magd«, wie es dann mitunter hieß11) im gesellschaftlichen Verkehr auf der Trinkstube eventuell gestört fühlten. Noch schwerer wog, dass die Kinder aus einer solchen Ehe mütterlicherseits keine standesgemäßen Vorfahren gehabt hätten und sie damit keine geschlossen patrizische Ahnentafel mehr vorlegen konnten. Auf diese Weise hätte sich der über viele Generationen hinweg erarbeitete (geburts‑)ständische Abstand zu der übrigen Bürgerschaft bedrohlich verringert. Deshalb bestand man auf standesgemäßem Verhalten und standesgemäßer Gattenwahl für beide Geschlechter und praktizierte einen rigorosen Hinauswurf oder gleich die Aufnahmeverweigerung von abtrünnigen Söhnen und Töchtern. Mit diesen Methoden stellten die Limpurger im Lauf der Zeit einen geschlossenen und quasi adligen Verwandtschaftsraum her: Sie 9
Zur Systematik der Heiratspolitik zum Zweck der Herstellung eines geburtsadligen Status der Nachkommen siehe Hansert, 2014, S. 23f., 95-98, 119f. u. 208-217. sowie Ders., 2016a, S. 79-83. 10 Vgl. Harding/Hecht, 2011. 11 Fichard, der historische Chronist der Ganerbschaft Alten-Limpurg, hat diese Bezeichnung »Magd« häufig aus den Quellen der Ganerbschaft zitiert, die uns heute in Folge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr verfügbar sind. Vgl. den Bestand im ISG Ffm, Fichard, Frankfurter Geschlechtergeschichte (Manuskripte, 347 Faszikel aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts). 107
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allein, nicht aber die Frauensteiner vermochten als spätes Resultat dieser Heiratskontrolle im 17. und 18. Jahrhundert dann jene Ahnentafeln mit kompletter patrizischer Vorfahrenreihe vorzulegen, die jenes hohe ständische Ansehen garantierte, das lange Zeit auch ein entscheidendes Legitimationskriterium für die Ratsherrschaft bildete. Von größtem Interesse ist hier nun der historische Rechtsbegriff der Ganerbschaft, denn in ihm verbinden sich Haus und Verwandtschaft unmittelbar und systematisch miteinander. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts begann die Gesellschaft Alten-Limpurg ihn zu verwenden und sich von nun an Ganerbschaft Alten-Limpurg zu nennen. Damit wurde das Eigentum zur »gesamten Hand« am Gesellschaftshaus, das man 1495 käuflich erworben hatte, bezeichnet; das Haus gehörte allen Mitgliedern gemeinsam, niemand konnte einen Anteil daran individuell auslösen. Der Begriff kam aus den ritterschaftlichen Traditionen Süddeutschlands, wo er den gemeinsamen Besitz an einer Burg meinte.12 Entscheidend ist, dass es sich bei dem Besitz um eine Immobilie, also um ein unteilbares Gut, handelte. Auch einige Privathäuser in Frankfurt (der Nürnberger Hof, der Saalhof etc.) waren ganerbschaftlich organisiert. Das Haus sollte die Ganerben über die Generationswechsel hinweg integrieren, durch persönliches Erbe von der einen Generation zur nächsten, theoretisch »auf ewig«, den verwandtschaftlichen, durch Heiraten stets erneuerten Zusammenhalt der Gemeinschaft sichern. Bevor die Bedeutung dieser Konstruktion für die Ratsherrschaft erörtert wird, sei auf eine interessante Episode hingewiesen, die auch die politische Bedeutung des gebauten Raums des Hauses für die Ganerbschaft unterstreicht. Mehrere fremde Familien (Ruland, Fleischbein von Kleeberg, bei den Frauensteinern ein Mitglied der Familie Grambs) versuchten in den 1670er Jahren, sich den Zugang zur Ganerbschaft Alten-Limpurg gegen deren Willen zu erstreiten, indem sie den Kaiser zu einer entsprechenden Direktive zu veranlassen versuchten.13 Sie waren mit Blick auf die Praxis in anderen Städten, insbesondere Augsburg, der Ansicht, der Kaiser sei befugt, Patriziatserhebungen vorzunehmen und die interessierten Familien den Gesellschaften quasi aufzuoktroyieren. Der Kaiser war schließlich formal nach wie vor das Oberhaupt der Stadt und hatte in den Belangen der Stadtherrschaft, die das Patriziat vor Ort und letztlich in seinem Namen ausübte, zumindest latente Hoheitsrechte. Gegen dieses Einschalten des Kaisers durch die fremden Familien setzte sich die Ganerb12 Lersner, 1975 sowie Ogris, 1971, Sp. 1380f.; zum Begriff Ganerbschaft siehe auch Krieger, 2009. 13 Vgl. Riedenauer, 1967 u. Hansert, 2014, S. 293f. u. 300-308. 108
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schaft Alten-Limpurg zur Wehr. Ihr entscheidendes Argument war nicht die von ihr ausgeübte Stadtherrschaft, die sie zum damaligen Zeitpunkt ohnehin schon mit anderen Gruppen teilen musste, sondern der Besitz ihres Hauses, eben des Hauses Alten-Limpurg. Der Kaiser könne der Ganerbschaft gegen deren Willen nicht Fremde als Miteigentümer aufzwingen. Leopold I. sah sich tatsächlich gezwungen, dieser Einschätzung der Rechtslage durch den Reichshofrat zu folgen und von einem solchen Eingriff Abstand zu nehmen. Der gemeinschaftliche Hausbesitz machte die Alten-Limpurger so autonom und unangreifbar selbst gegenüber dem Kaiser. Die Trinkstube war ein Raum, in den noch nicht einmal der Kaiser hineinregieren konnte.
2. Trinkstube und Ratsstube Das Patriziat wurde auch als Geburtsstand definiert. Die Verwandtschaft, die in Ahnentafeln konstruiert bzw. rekonstruiert ist, zeigt nicht nur die ständische Geschlossenheit patrizischer Ahnen in allen Linien der Vorfahren. Bei hinlänglicher Dichte der durch Heirat hergestellten Verwandtschaft stellte sich daran auch heraus, dass der Vater des Probanden, seine beiden Großväter, die vier Urgroßväter und weitere männliche Vorfahren im Rat gesessen waren, und damit erhob die Ahnentafel für die Person, deren (männliche) Vorfahren kollektiv eine Machtstellung innegehabt hatten, den Anspruch, geboren zu sein, um ebenfalls zu herrschen. Um diese Herrschaft, die Herrschaft über die Stadt, auszuüben, wechselten die Herren Patrizier aber den Raum: Sie gingen von der Trinkstube in die unmittelbar benachbarte Ratsstube. Schon allein die räumliche Nähe von Trink- und Ratsstube ist aufschlussreich. Die Limpurger hatten immer auf diese Nachbarschaft geachtet, die Frauensteiner nicht ganz so konsequent. Insofern ist auch die historische Wanderung des Herrschaftszentrums im Stadtraum aufschlussreich. Zur Zeit der Staufer waren es die königlichen Ministerialen, die die Stadt, die damals im Wesentlichen nur eine Königspfalz war, verwalteten, und eben diese staufischen Ministerialen waren die Urschicht des späteren Frankfurter Patriziats. Sie hatten ihren Sitz damals im Saalhof (an der Stelle des heutigen Historischen Museums, in dessen Baukomplex noch die Saalhofkapelle als ältestes Gebäude der Stadt vorhanden ist). Seit Ende des 13. Jahrhunderts begann sich (analog zu anderen Städten) auch in Frankfurt eine städtische Selbstverwaltung herauszubilden. Aus den Ministerialen wurden zunächst Schöffen und wenig später Ratsherren. Entsprechend dieser strukturellen Transformation der Herrschaft von einer Königsherrschaft in eine (viel später erst) vollausdifferenzierte autonome bürgerli109
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che Ratsherrschaft über die Stadt wanderte topographisch auch das Herrschaftszentrum: vom Saalhof am Mainufer etwa hundert Meter nach Nordosten in ein erstes Rathaus – eine domus consilii Frankenfordensis. Es lag an der Pfarrkirche und dem Markt, etwa an der Stelle, an der sich heute der Domturm erhebt. Just an dieser Stelle wird 1353 dann auch erstmals eine »dryngkestoben«, eine Trinkstube genannt, in der sich die Schöffen zusammenfanden. Dieser Kreis, die Geschlechterstube, war die Urzelle der erst später sogenannten Ganerbschaft Alten-Limpurg. Wegen des Baus des Domturms, dessen Grundstein 1415 gelegt wurde, wurde das Herrschaftszentrum erneut verlegt. 1405 kaufte der Rat das Haus Römer, das bis dahin als Privathaus bedeutender Geschlechter gedient hatte. Die Geschlechterstube vollzog diese Wanderung erneut mit und bezog nach einer Zwischenstation ebenfalls im Haus Römer das Haus (Alten-)Limpurg an der Westseite des Römerbergs, zwei Häuser südlich des neuen Rathauses. Von diesem Haus übernahm die Geschlechterstube dann ihren Namen. Nach einer Zwischenstation im Haus Löwenstein am Römer kaufte die Gesellschaft 1495 das Haus Laderam, das direkt an den Römer gebaut war, und übertrug ihren Namen auf dieses Haus, das seither und bis heute »Haus Limpurg« heißt. Jetzt lagen Trink- und Ratsstube wieder Wand an Wand, und so blieb es bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit. Patriziat und Rat blieben über alle Wanderungen in der Topographie des Stadtraums hinweg also schon rein räumlich miteinander verklammert. Die Frauensteiner nahmen ihren Sitz erst im frühen 14. Jahrhundert am Römerberg, und ein Vierteljahrtausend später 1694 verließen sie die Nachbarschaft des Rathauses wieder und siedelten sich mehrere 100 Meter nördlich im traditionsreichen Haus Braunfels am Liebfrauenberg an. Diese räumlich gesehen weniger ausgeprägte Bindung an die Ratsstube hat ihr Pendant in einer geringeren Beteiligung an der Ratsregierung.14 Das räumliche Nebeneinander von patrizischer Trinkstube und städtischer Ratsstube entsprach der Logik des reichsstädtischen Herrschaftssystems. Die Trinkstuben (in einem in Frankfurt enger gesteckten Rahmen auch die Zunftstuben) waren die Rekrutierungsbasis für den städtischen Rat. In dieser Hinsicht hatten sie in etwa die Funktion der Parteien im modernen Verfassungsstaat. Doch sie waren keine Parteien, denn sie nahmen für sich in Anspruch, die Stadt als Ganze zu repräsentieren, und sie hatten nicht wie diese eine inhaltlich-politische Programmatik, vor allem aber waren sie nicht wie jene vereinsmäßig orga14 Zu den Wanderungen der patrizischen Trinkstuben im Stadtraum Hansert, 2014, S. 500-502; analog der geringere Anteil der Frauensteiner an der Ratsregierung, siehe Listen und Tabellen ebd., S. 225f., 230, 265. 110
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
nisiert, sondern waren altständische Korporationen, zu denen, wie gezeigt, nur Verwandte und ebenbürtige Heiratspartner Zugang hatten. Was die Zugänglichkeit betrifft, gab es zwischen Trink- und Ratsstube wichtige Unterschiede. Das gilt als erstes für die Frauen: Die Ratsstube war ihnen verschlossen, die Trinkstube stand ihnen (eingeschränkt) offen. Als natürlicher Bestandteil der Familien und des Geschlechterverbandes waren die Frauen auch formal Mitglied in den Patriziergesellschaften. Auf einer der zahlreich vorhandenen historischen Mitgliederlisten, und zwar einer informell aufgezeichneten der Gesellschaft Alten-Limpurg aus dem Jahr 1497, werden sie mit aufgeführt,15 während sonst allein die Männer genannt werden. Bei den Hochzeitsfesten, die seit dem 16. Jahrhundert generell auf der Trinkstube abgehalten wurden, spielten die Frauen – naturgemäß! – eine gleichberechtigte Rolle. Auch bei Fastnachtsbällen, Tänzen und sonstigen Festivitäten waren sie präsent. Weniger klar ist ihre Anwesenheit bei den Urten, den täglichen Umtrünken der Patrizier. Keine Rolle spielten sie hingegen bei statuarischen Angelegenheiten, und die Ämter der Stubenmeister lagen der Zeit entsprechend allein in Händen der Männer. In die benachbarte Ratsstube gingen die Herren ebenfalls allein; auf den Stühlen dort saßen immer und ausschließlich Männer. Die Ratsstube als Herrschaftszentrum unterscheidet sich hier auffällig vom Thronsaal im Fürstenschloss. Dort waren Frauen zugelassen und saßen beim Ausfall der Männer, sei es als Erbtöchter oder als Witwenregentinnen für ihre noch minderjährigen Söhne, mitunter sogar selbst auf dem Thron. Die Erbdynastie eröffneten den Frauen prinzipiell, wenn auch nur subsidiär den Zugang zur Herrschaft, die (Stadt-) Republik mit ihrem Wahlmodus (Kooptation) bei der Bestellung des führenden Personals schloss sie – bis zur Einführung des Frauenwahlrechts 1918 – prinzipiell aus. Insofern ist die Nichtzugänglichkeit der Ratsstube für Frauen letztlich ein deutliches Indiz dafür, dass die Reichsstadt in ihrer Anlage bürgerlich-republikanisch organisiert war und der patrizischen Geburtsaristokratie, die sich als solche primär in ihrer Trinkstube formierte, beim Zugriff auf die Ratsmacht insofern immer die Spitze gebrochen war, als sie de jure nicht durch Erbe, sondern durch Wahl (Kooptation), für die immer genug männliche Kandidaten verfügbar waren, zum Zuge kam. Die Ratsstube hatte für Frauen hinsichtlich der Zugänglichkeit zu Herrschaftspositionen eine andere – nämlich eine restriktivausschließende – Wirkung als der Thronsaal, der solche Positionen für sie prinzipiell erreichbar machte. 15 Nach einer Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Job Rohrbach, vgl. Rohrbach, 1497, S. 276-278. 111
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Beim Vergleich der Zugänglichkeit von Trink- und Ratsstube ergeben sich aber auch für die Männer des Patriziats Unterschiede. In herrschaftlichen, politischen und justiziellen Beschlussgremien gab es seit jeher und gibt es bis heute feste Sitzordnungen. Jeder Beteiligte hatte und hat sich an einem bestimmten, ihm zugewiesenen Platz niederzulassen oder zu stehen. Eine Verletzung dieser Sitzordnung konnte ein rebellischer Akt sein und wurde je nach Machtverhältnissen mit Sanktionen belegt. In der Frankfurter Ratsstube wurde die Sitzordnung durch drei Ratsbänke und einen zusätzlichen Stuhl für den Stadtschultheißen vorgegeben. Die historisch älteste Bank war die (seit Anfang des 13. Jahrhunderts erwähnte) Schöffenbank, die später (etwa im Jahr 1266) um die zweite Ratsbank und (seit Ende der 1320er Jahre) schließlich um eine dritte Bank, die der Handwerker, ergänzt wurde, die in Frankfurt politisch seit Mitte des 14. Jahrhunderts aber schon wirksam marginalisiert war. Auf den ersten beiden Bänken saßen je 14, auf der dritten 15 Herren. Die ersten beiden Bänke waren die Bänke des Patriziats. Hier stellten die Alten-Limpurger 80 bis 85 Prozent der Ratsherren, die übrigen Sitze nahmen die Frauensteiner ein (bis zu deren Auflösung auch Mitglieder der Gesellschaften Laderam und Löwenstein). Die zweite Ratsbank war das Entree für einen (patrizischen) Neuankömmling in den Rat. Beriefen die anderen ihn durch Kooptation in ihren Kreis, ließ er sich auf dem letzten Platz in der Bank nieder. Dann rückte er im Lauf der Zeit nach dem Anciennitätsprinzip immer weiter auf, wenn vor ihm platzierte Ratsherren entweder auf die Schöffenbank wechselten, verstarben oder aus anderen Gründen ausschieden. Nach Erreichen des ersten Platzes rückte er selbst auf die Schöffenbank vor; die Schöffenbank rekrutierte sich (in der Regel) nur aus solchen Nachrückern aus der zweiten Ratsbank.16 Der Stadtschultheiß als nomineller Vertreter des Stadtoberhaupts, des Kaisers, saß auf einem eigenen Platz. Seit dem Kauf des Stadtschultheißenamts durch die Stadt 1372 konnten die Ratsherren den Stadtschultheißen in der Regel selbst benennen; im Spätmittelalter waren es häufig Herren von auswärts, während seit dem 16. Jahrhundert meist ein Herr aus dem Rat, für lange Zeit häufig ein Alten-Limpurger, berufen wurde. Die tradierten Regeln der Frankfurter Ratsherrschaft brachten es mit sich, dass die Ratsstube den Mitgliedern des Patriziats nicht in gleichem Maße offenstand wie die Trinkstube. (Männliche) Mitglieder der Trinkstube hatten selbstredend große Chancen, früher oder später auch in den Rat oder – dies vor allem im 16. und frühen 17. Jahrhundert in Folge der Rezeption des Römischen Rechts 16 Für das 17. Jahrhundert lässt sich die Praxis dieses sukzessiven Vorrückens anhand der historischen Ratslisten im ISG Ffm, Bestand »Ratswahlen und Ämterbestellungen«, darin insbesondere Nr. 4 bis 6, nachvollziehen. 112
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
– in das wichtige Amt eines Syndikus berufen zu werden. Doch während die Abkömmlinge der eingesessenen Familien sowie die standesgemäßen Ehemänner aus fremden Familien auf der Trinkstube alle aufgenommen wurden (sofern sie sich nicht grob sittenwidrig verhielten oder gegen die Ebenbürtigkeit bei der Partnerwahl verstießen), gab es schon 1399 eine gesetzliche Regelung, die den Zugang zum Rat je nach Familienkonstellation reglementierte: Es durften nämlich Väter, Söhne und Brüder nicht zugleich auf derselben Ratsbank sitzen.17 Erst wenn der Verwandte von der zweiten Ratsbank auf die Schöffenbank aufgerückt oder durch Tod abgegangen war, konnte dessen naher Angehöriger auf die zweite Ratsbank nachgewählt werden bzw. dann selbst auf die Schöffenbank vorrücken.18 Beispielhaft lässt sich die Wirkung dieses Verwandtenverbots für den Rat an den sechs Söhnen des Justinian von Holzhausen (1502-1553) zeigen. Dazu folgende Daten: Die Söhne des Justinian von Holzhausen
Lebenszeit
Präsenz auf der zweiten Ratsbank
Präsenz auf der Schöffenbank
Trajan
1530-1571
--
--
Justinian
1532-1579
1559-1570
1570-1579
Achilles
1535-1590
1570-1577
1577-1590
Johann Hector
1541-1597
1580-1590
1590-1597
Hieronymus Augustus
1543-1596
1590-1596
--
Julius
1545-1590
--
--
Der älteste Sohn, Trajan, musste auf eine Ratskarriere möglicherweise verzichten, weil sein Schwiegervater Johann von Busek von 1551 bis 1556 das Frankfurter Stadtschultheißenamt bekleidete. So kam der zweite Sohn Justinians, Justinian der Jüngere, zum Zug und absolvierte die klassische Ratskarriere von der zweiten zur ersten Ratsbank. Der nächste Bruder, Achilles, konnte 1570, als der Bruder auf die Schöffenbank aufgerückt war, in den Rat kommen. 1577 kam er auf die Schöffenbank, so dass es möglicherweise doch einmal zu einem marginalen Verstoß des Brüderverbots auf derselben Ratsbank kam. Der Zugang zur zweiten Ratsbank war damit für seinen Bruder Johann Hector frei geworden, der 1580 dorthin kommen konnte. Als dieser nach dem Tod seines älteren Bruders 17 Siehe Wolf, 1969, Nr. 69, S. 176. 18 Vgl. Matthäus, 2002, S. 332, Anm. 235; Ders., 2012a, S. 20f.; Ders. 2012b, S. 75; Hansert, 2014, S. 114f. 113
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auf die Schöffenbank aufrückte, beerbte ihn sein nächster Bruder Hieronymus Augustus, der es aber nicht mehr bis zum Schöffen brachte, da er bereits vor seinem Bruder 1596 verstarb. Der Jüngste, Julius, ging wegen der Blockade durch seine Brüder ganz leer aus. – Das Beispiel zeigt, und es ließen sich weitere Beispiele anführen,19 wie die Rekrutierung in den Rat wegen des Verwandtenverbots einer eigenen Rhythmisierung folgte, während es eine solche Bestimmung für die Trinkstube, wo sich Väter, Söhne und Brüder ohne Einschränkungen begegnen konnten, nicht gab. Ein Strukturmerkmal des Verwandtschaftsraums (hier die Sequenz der Brüder) interagiert hier also mit der Zugänglichkeit zum Funktionsraum (der Ratsstube). In einer solchen Divergenz deutet sich im Ansatz bereits die Scheidung der Sphäre von privat-gesellschaftlich (Trinkstube) und staatlich (Rat) an. Interessant ist die Beobachtung, dass die Patrizier sich in der Ratsstube oft anders verhielten und anders entschieden als in der nebenan liegenden Trinkstube oder gar im Wohnhaus. Die Frage ist, ob eine raumanalytische Betrachtung an diesem Punkt nicht besser durch eine klassische soziologische Begrifflichkeit – nämlich die der Rolle – zu ersetzen wäre. Das Amt, hier das Ratsamt, nötigt einen Menschen immer zu einem anderen Verhalten als in den Belangen, die außerhalb einer solch herausgehobenen Position liegen. Im Amt oder beim Agieren innerhalb der Berufsrolle hat man anders aufzutreten als zuhause oder in seinem »Club«. Ein Beispiel: Im Spätmittelalter war das Patriziat gemeinsam mit der Kirche und den Zünften intensiv daran beteiligt, das monogame und legalisierte Ehemodell als normativ verbindlich zu etablieren. Man erließ im Rat sowohl einschlägige Gesetze, sorgte aber vor allem dafür, dass unehelich Geborene, auch solche, mit denen man als Halbbruder/Halbschwester eng verwandt war, keinen Zugang erhielten – nicht zum Rat, nicht zur Zunftstube, nicht zu kirchlichen Karrieren und, wie gesagt, auch nicht zur patrizischen Trinkstube. Das hielt die Ratsherren in der Zeit vor der Reformation freilich nicht davon ab, selbst immer wieder außereheliche Verbindungen einzugehen und sich mit Konkubinen zu umgeben.20 Im Hoch- und Fürstenadel wurde diese Doppelung von legitimer Ehe und Mätressenwirtschaft ohnehin in extenso praktiziert und allgemein toleriert. Auch das spätmittelalterliche Patriziat kannte und tolerierte, wie gesagt, die Konkubine. Im Haus des Claus Stalburg des Reichen (1469-1524), der Großen Stalburg am Kornmarkt, lebte ein Halbbruder, Georg (1474-1529). 19 Ebd. der Fall der Familie Blum. 20 Hansert, 2014, S. 91-95. 114
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Diesen hatte der Vater der beiden Halbbrüder außerehelich gezeugt.21 Dennoch war er in die Familie voll integriert, wurde in den Testamenten der Verwandten bedacht, nahm Teil an den Handelsgeschäften, lebte mit seinen »legitimen« Angehörigen und wurde von ihnen als Taufpate für Kinder der Familie eingesetzt. Im Gegensatz zum Halbbruder Claus war ihm, dem Bastard, der im großen Patrizierhaus seinen festen Platz hatte, der Zugang zu Trink- und Ratsstube aber verwehrt. Uneheliche hatten weniger Bewegungsfreiheit im städtischen Raum, der an dieser Problematik deutlich als sozial definierter und konstruierter Raum erkennbar wird. Eine andere Divergenz im Verhalten der Patrizier innerhalb und außerhalb der Ratsstube betraf ihr Auftreten in der Reformation. Führende und humanistisch gebildete Kreise des Patriziats sorgten Anfang der 1520er Jahre auch in Frankfurt dafür, dass Luthers Gedankengut Eingang in die Stadt fand. Dafür schuf Hamman von Holzhausen den nötigen Raum, als er einem evangelisch orientierten Prediger 1522 die Pforten der Katharinenkirche öffnete, über die er aufgrund seines mütterlichen Erbes das Patronat ausübte. Die Mehrzahl der Mitglieder des Frankfurter Patriziats neigte bald der Reformation zu. Bald schloss sich ihnen, teils auch aus sozialen Gründen, die breite Bevölkerung in Frankfurt an. Doch war die Stadt in mindestens zwei wichtigen Belangen vom altgläubig gebliebenen Kaiser, ebenso vom Erzbischof und Kurfürsten von Mainz abhängig, nämlich beim Privileg für die Handelsmesse und beim Privileg für die Königswahl. Um diese beiden wichtigen Säulen für die Existenz der Stadt nicht zu gefährden, scheuten sich die Patrizier und insbesondere die verantwortlichen Ratsherren unter ihnen, den Übergang zur Reformation offen, und das heißt durch ein formelles Verbot des altgläubigen Kultus, zu betreiben. Räumlich war dies insbesondere ein Kampf um die Bartholomäuskirche, die alte tradierte Wahlkirche der Könige, die in dieser für die Stadt ganz allgemein so wichtigen Funktion nur zu erhalten war, wenn sie katholisch blieb. Die Staatsraison gebot es daher, sich mit dem Kaiser und dem Erzbischof von Mainz zu arrangieren. Das bedeutete eine Zweiteilung in der religionspolitischen Haltung des Patriziats: pragmatisch und kompromissbereit mit den katholischen Mächten in der Ratsstube, protestantisch in der religiösen Praxis in der Kirche. 1533 vermochte die Bevölkerung eine Abstimmung über die religionspolitische Haltung der Stadt zu erzwingen. Eine Umfrage in den Zunft- und Trinkstuben ergab eine klare Mehrheit für ein Verbot des altgläubigen Gottesdienstes (auch und gerade in der Bartholomäuskirche), während die Geschlechterstube auf Alten-Limpurg 21 ISG Ffm, Fichard, Frankfurter Geschlechtergeschichte Nr. 286, fol. 22v; Kriegk, 1868/1871, Bd. 2, S. 278f. 115
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sich aus den genannten Gründen dagegen aussprach. Die zwei Jahre zuvor 1531 stattgefundene Wahl Ferdinands I. war von den Habsburgern nicht von Ungefähr räumlich von der konfessionell unsicher gewordenen Stadt der Goldenen Bulle abgezogen und vorsorglich schon nach Köln verlegt worden. Will man es in Kategorien des Raums ausdrücken, so überstimmten die Zunftstuben die patrizische Trink- und die Ratsstube, wiewohl die Patrizier in der Kirche selbst mit den Zünften weitgehend kongruent waren.22
3. Die Kirche als Sonderraum Von besonderem Interesse ist die Stellung der Kirche, hier zunächst vor allem der alten, vorreformatorischen Kirche. Die Kirche bildete in jeder Hinsicht einen Sonderraum im Stadtgefüge: architektonisch, verfassungsrechtlich, für die Stadtökonomie, als Sphäre des Sakralen. Und einmal mehr ist die Verwandtschaft – der »Verwandtenraum« – unter kirchlicher Perspektive von größtem Interesse: Das klerikale Personal entstammte vielfach direkt den Patrizierfamilien, scherte mit dem Zölibat und dem Übergang in eine andere rechtliche Stellung jedoch wirksam daraus aus. Darüber hinaus gehört die markante Trennung der Geschlechter in der Kirche ebenso zu diesem Komplex wie das interessante Thema von Stiftungen der weltlich gebliebenen Verwandten für die Kirche und für ihre Verwandten unter dem klerikalen Personal. Das Frankfurter Bürgerrecht, das sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ausbildete, war von seiner Anlage her sehr egalitär.23 Es sollte alle Bewohner der Stadt – vom Ratsherrn über den Kaufmann und Handwerker bis zum Schweinehirten, ja bis zu den Pestjahren 1349 zunächst sogar auch die Juden – den gleichen Rechten und den gleichen Pflichten unterwerfen. Alle waren der städtischen Gerichtsbarkeit unterstellt, alle sollten Steuern und Abgaben leisten und sich an der Verteidigung der Stadt oder dem Feuerlöschen beteiligen. Dafür schützte die Stadt die Interessen ihrer Bürger, räumte ihnen freien Zugang zum Markt und zur Allmende etc. ein und gewährte ihnen Freiheit. Der Klerus aber schied aus diesem Verband der rechtlich Gleichen aus und beanspruchte eine Sonderstellung. Max Weber sprach in seiner Stadtsoziologie in diesem Zusammenhang vom Klerus eindrucksvoll als einer »unbequemen und unassimi22 Hansert, 2014, S. 162f. 23 Zum Folgenden Andernacht, in: Ders./Stamm, 1955, S. XI-XXVII; Dilcher, 1980; Schmieder, 1999; Dies., 2012, S. 99; Hansert, 2014, S. 57-61. 116
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lierbaren Fremdmacht«.24 An zwei entscheidenden Punkten scherte der Klerus aus der rechtlichen Gleichheit der Bürger aus: Steuerfreiheit und eigene Gerichtsbarkeit. Kirchen waren exterritoriale Räume innerhalb des Stadtgebiets; sie durften von städtischen Amtsträgern in Ausübung ihres Amtes nicht betreten werden. Seit Ausbildung der städtischen Selbstverwaltung und eines autonomen Bürgerverbands blieb das Verhältnis zu Kirche und Klerus bis zur Reformation angesichts dieser Verhältnisse äußerst gespannt. Dem steht eine andere Beobachtung entgegen. Das Patriziat war diejenige Schicht, die den tiefen Graben zwischen Kirche und Bürgerschaft zugleich überbrückte. Zum einen, indem sich der Klerus zu einem gewissen Teil, dann aber vor allem die Insassinnen der Frauenklöster unmittelbar aus den Familien des Patriziats rekrutierten, zum anderen durch die hochdotierten Stiftungen, mit denen das Patriziat die Kirchen teils errichtete, teils mit kostbarer Ausstattung versah. Das Patriziat war in der mittelalterlichen und vorreformatorischen Stadt daher vielleicht doch diejenige Schicht, die den sozialen und verfassungsrechtlichen Hiatus zwischen Rathaus und Kirche bis zu einem gewissen Grad zu konterkarieren vermochte. Das lässt sich besonders deutlich an der Gründung des Liebfrauenstifts und des benachbarten Katharinenspitals und -klosters in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeigen.25 Es geht hier nicht zuletzt um das, was Susanne Rau die »Produktion und Konstruktion von Räumen« – hier konkret auch verstanden als Bau von Kirche und Kloster – genannt hat sowie um die »Differenzen und Koexistenzbeziehungen von Raumvorstellungen« – nämlich zwischen den Räumen der Kirche und den Räumen der »Welt« oder eben zwischen den Räumen von Kirche und Rat. Es geht also um die Frage, wie diese in sich gespannten Bewegungen und räumlichen Verortungen im Handeln führender Vertreter des Frankfurter Patriziats deutlich werden. Der Aufbau des Liebfrauenstifts wurde maßgeblich von der Familie Wanebach initiiert. Wigel Wanebach († 1322) war Schöffe und Älterer Bürgermeister. Sein plastisches Ganzkörperporträt ist bis heute an der Nordwand in der Liebfrauenkirche zu sehen. Beteiligt an der Gründung war auch sein Schwiegersohn Wigel Frosch, der ebenfalls im Rat saß. Ratsherren wurden hier also als Kirchengründer und -stifter tätig. Beide starben jedoch schon früh 1322 bzw. 1326. So blieben der weitere Aufbau der Kirche und deren Ausstattung der Witwe und Schwiegermutter, Katharina von Wanebach, vorbehalten, und Katharina wird daher oft auch als eigentliche Stifterin des Liebfrauenstifts betrachtet. Von 24 Weber, 1999, S. 251 sowie zum gesamten Kontext ebd., S. 248-250. 25 Vgl. Hansert, 2014, S. 61-68 und zur zugehörigen Verwandtentafel ebd., S. 481. 117
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ihr existiert ein ausführliches Testament, das mit 50 x 210 cm schon rein material raumgreifende Dimension hat,26 in dem sie ihren reichen Nachlass, der aus weitläufigem Immobilienvermögen und Rechten an Immobilien bestand, regelte und zugunsten des Stifts einsetzte. Nicht nur das Heil der eigenen Seele, auch die Versorgung von Verwandten war ein Hauptmotiv für ihr Vorgehen. Das Patronat über die Kirche vermachte sie ihrer väterlichen Herkunftsfamilie, der Ratsfamilie Hohenhaus, die wenig später zu den Gründungsmitgliedern der Geschlechterstube (also Alten-Limpurgs) gehörte. Die Hohenhaus starben 100 Jahre später, 1420, aus. Besonders interessant aber sind die Verwandten Katharinas mütterlicherseits, von denen sie etliche am Stift als Dekane, Vikare oder als Kantor installierte. Der Dekan, ihr Vetter Niklas, mochte dabei noch so sehr auf sein Eigenrecht und auf seine Autonomie als Kleriker pochen, faktisch war er seiner Cousine, die nicht nur sein Amt dotierte, sondern ihm auch ad personam bedeutende Güter (vier ihrer besten Pferde und die enorme Summe von 1.000 Pfund Heller) zur freien Verfügung vermachte, zutiefst verpflichtet. Die in der Welt verbliebenen patrizischen Stifterinnen und Stifter betrieben also nachhaltig Klientelpolitik in der Kirche, die Verwandtensolidarität reichte über das Zölibat hinweg somit in die Kirche hinein. Man hat hier im städtischen Raum in gewisser Weise ein Analogon zu jener groß angelegten Intervention fürstlicher und ritterlicher Familien (Habsburg, Wittelsbach, Schönborn etc.), die einen Teil ihrer Söhne gezielt auf den führenden Positionen der Reichskirche, nämlich den wichtigsten (Erz-)Bischofstühlen wie etwa Mainz oder Köln, zu platzieren verstanden und so eine durch Verwandtensolidarität untermauerte politische Klammer zwischen Kirche einerseits und Kaisertum, weltlichen Fürstentümern und Reichsritterschaft andererseits herstellten.27 Auch bei der Gründung des Katharinenklosters, die nur wenige Jahre später in der Nachbarschaft des Liebfrauenstifts stattfand, wurde der rechtliche Graben zwischen Ratsstube und Kirche durch engste patrizische Familienbindungen überbrückt. Der Initiator war der herausragende Kleriker Wicker Frosch († 1363). Er war zunächst Priester und Kantor am Sankt Bartholomäusstift, 1341 dann an Sankt Stephan in Mainz mit guten Beziehungen zum Erzbischof, er wurde Hofkaplan Kaiser Karls IV. und von diesem 1360 in den Adelsstand 26 Das Testament war ausgestellt auf der Ausstellung Patriziat im Alten Frankfurt im Historischen Museum der Stadt 2000, vgl. Hansert u.a., 2000, Kat. Nr. 42, S. 47. Der Text des Testaments in: Böhmer /Lau, 1901/1905, Bd. 2, Nr. 425. 27 Reinhardt, 1982. 118
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erhoben.28 Die nächsten männlichen Verwandten Wickers – Vater, Bruder, Neffe, Schwager – spielten als Schöffen alle eine wichtige Rolle im Frankfurter Rat. Insbesondere der Bruder Siegfried Frosch und der Schwager Jakob Knoblauch unterhielten ebenfalls enge Beziehungen zu den Kaisern Ludwig dem Bayern und Karl IV. und spielten eine wichtige Rolle beim schwierigen Übergang vom einen zum anderen Kaiser und während der Episode des Gegenkönigs Günther von Schwarzburg (1349). Wicker erhielt bei seinen Gründungsbemühungen jedenfalls massive Unterstützung sowohl von seinen Verwandten persönlich als auch dank deren Funktionen im Rat der Stadt. Die Familie Frosch ist insofern ein markantes Beispiel, als man an ihr besonders deutlich erkennen kann, wie Klerus und Ratsherren oft aus der gleichen patrizischen Familie kamen und sich in ihren jeweiligen kirchlichen und weltlichen Belangen und Funktionen gegenseitig unterstützten. Patrizische Verwandtschaft vermochte architektonisch, sozial und rechtlich heterogene Räume also immer wieder zu integrieren. Das gelang partiell sogar noch nach der konfessionellen Polarisierung in Folge der Reformation, als protestantisch gewordene Patrizier noch bis Ende des 16. Jahrhunderts ererbte Pfründen in katholisch gebliebenen Kirchen verwalteten und katholische Verwandte vor allem durch Pfarrstellen damit versorgten.29 Der Kirchenraum gehörte für das Patriziat ebenso zum Alltag wie die Ratsstube, die Geschlechterstube oder das Patrizierhaus. Der Tagesablauf eines patrizischen Ratsherrn führte ausgehend von seinem Privathaus auf dem Weg zu den Sitzungen des Rats im Römer und später dem Umtrunk in der Geschlechterstube vorab immer zu einem Gottesdienst in der Nikolaikirche vis-à-vis des Rathauses. In den Alltag des Patriziers waren alle diese Räume integriert. Aber auch über den Alltag, letztlich über die eigene Lebenszeit hinaus spielte der Kirchenraum in Gestalt der reichen Stiftungen des Patriziats bis zur Reformation eine wichtige Rolle.30 Im Kirchenraum selbst ist die religiöse Haltung des spätmittelalterlichen Patriziats bis heute materialisiert: sei es wie beim Aufbau der Liebfrauenkirche durch die Wanebach-Stiftung, den Bau von Seitenkapellen wie dem Brommchörlein oder dem hängenden Gewölbe der Holzhausen – beide in der Leonhardskirche –, dann aber auch in Form des reichhaltigen Wappenschmucks, der bis heute überall in den alten Kirchen im Altstadtbereich von 28 Es war die erste Erhebung in den Adelsstand und damit der Anfang des Briefadels im römisch-deutschen Reich überhaupt; vgl. Erler, 1990, Sp. 1914-1916. – Zu Frosch siehe auch Fischer, 1994. 29 Hansert, 2014, S. 163-167. 30 Ausführlicher Überblick über die nachfolgenden Nennungen mit Literaturverweisen ebd., S. 122-132. 119
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den Stiftungen des Patriziats zeugt, schließlich in der kostbaren künstlerischen Ausstattung der Kirchen, die in besonderer Dichte in der Dominikanerkirche stattfand. Den Höhepunkt dort bildete der von Dürer und Grünewald geschaffene Altar für Jakob Heller und seine Frau, der – wie die meisten Altäre – nach der Säkularisation ins Museum gewandert ist, während nur wenige – wie etwa der Maria Schlaf-Altar, eine Stiftung des Ulrich von Wehrstatt aus dem 15. Jahrhundert – noch am originalen Platz in Sankt Bartholomäus erhalten geblieben sind. Dazu gehören auch eher verborgene Schätze wie der kostbare Buch- und Handschriftenbesitz der alten Stifts- und Klosterbibliotheken mit Zimelien wie dem kostbaren Rohrbach-Missale aus den Beständen des Bartholomäusstifts – seit der Säkularisation in die Stadtbibliothek (die heutige Universitätsbibliothek) integriert. Für die patrizischen Stifter waren diese Objekte Kultgegenstände gewesen. Als sie aus dem Kirchenraum in die Bibliothek, das Archiv bzw. vor allem in die durch die Säkularisation ganz neu geschaffene Institution des Museums gelangten, wandelten sich diese Dinge von Kultgegenständen zu musealen Gegenständen, zu historischen Quellen oder zu bibliophilen Kostbarkeiten. Ihre Translokation – auch das ein interessanter raumanalytischer Aspekt – ging einher mit einem fundamentalen Bedeutungs- und Funktionswandel. Hinzu kommt eine weitere wichtige Funktion, die der Kirchenraum für das Patriziat hatte, nämlich als Ort der Grablege. Die alten Kirchen waren die Orte des Totengedenkens: Seelstiftungen, Grabkapellen, Epitaphien, darunter als eines der bedeutendsten die jetzt über 600 Jahre alte Grabplatte des Johann von Holzhausen und seiner Frau Guda Goldstein, die in der im 19. Jahrhundert abgebrochenen Michaelskapelle hing und dann in den Dom verbracht wurde, wo sie gut erhalten heute prominent zu sehen ist – all das stiftete im Kirchenraum Kontinuität, Memoria, historische Tiefendimension, so dass die Geschlechter an diesem Ort eine Art von transzendenter Einheit bildeten. Die (vorreformatorische) Kirche kannte aber nicht nur die Einheit der religiösen und transzendenten Vergemeinschaftung aller Gläubigen, sondern auch verschiedene markante Trennlinien im kirchlichen Binnenraum. Das gilt nicht nur für die ausgeprägte ständische und rechtliche Trennung zwischen Klerikern und Laien, die bereits angeklungen ist und die später durch Luthers Gedanken vom »Priestertum aller Gläubigen« stark relativiert wurde, es gilt vor allem durch die sich auch räumlich Ausdruck verschaffende Trennung der Geschlechter, die, wie gezeigt, etwa anhand der Ratsstube auch außerhalb der Kirche vielfach ihr Pendant hatte. Geschlecht und Raum – was letztlich ebenfalls eine Variante jenes Interagierens von Verwandtschaftsraum und gebautem Raum darstellt – eröffnet ein zu weites Feld, als dass es hier bearbeitet werden kann und soll. In der katholischen Kirche ist die Ungleichstellung der Geschlechter 120
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
bis heute vorhanden: Die Frau hatte keinen Zugang zum Altarraum (und selbst heute allenfalls in Form von assistierenden Tätigkeiten als Lektorinnen, Kommunionhelferinnen, Ministrantinnen) – mit allem, was daraus generell für die Stellung der Geschlechter in der Kirche folgt. Es gibt eine Episode, die im Kontext des Frankfurter Patriziats in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, da der Bezug unterschiedlicher Räume hier neue Handlungsmöglichkeiten für Frauen eröffnete. Es handelt sich um einen prominenten Vorgang, der sich lange nach der Reformation, zur Zeit von Philipp Jakob Speners Tätigkeit in Frankfurt, ereignete. Spener,31 eine der führenden Figuren des Pietismus in Deutschland, bekleidete von 1666 bis 1686 das Amt des Seniors des Predigerministeriums und war somit der ranghöchste evangelische Geistliche der Stadt. Ein kleiner Kreis frommer und gebildeter Männer, darunter auch mehrere Mitglieder der Gesellschaften Alten-Limpurg und Frauenstein, begehrten 1670 unter seiner Leitung eine Vertiefung seiner Predigten, die gemeinsame Lektüre erbaulicher Schriften und die Pflege des Ideals der »heiligen Freundschaft«. Es war die Geburtsstunde des legendären Collegium pietatis, eines zunächst kleinen Kreises, dessen regelmäßiger Treffpunkt Speners Pfarrhaus war.32 Der Ruf dieses Zirkels begann sich bald zu verbreiten, so dass auch Vertreter breiter Schichten und Frauen um Aufnahme baten. Doch die Vergrößerung erwies sich für die Diskussionskultur als Herausforderung, mehr aber noch die Anwesenheit von Frauen. Spener fühlte sich dem Paulus-Wort (1 Korinther 14, 34-36) verpflichtet, wonach die Frauen in der Gemeindeversammlung zu schweigen hätten. Er sorgte daher für ihre räumliche Separierung und platzierte sie bei geöffneten Türen in einem Nachbarraum, so dass sie durch Hören passiv an den Diskussionen teilnehmen konnten. Als das Collegium weiter anwuchs, wechselte man in die Barfüßerkirche, in der die Frauen dann durch einen Vorhang abgesondert wurden. Einige Personen aus dem Gründerkreis, die sich durch das Anwachsen der Gruppe in ihren spirituellen Ambitionen gestört fühlten, verließen 1675 das Collegium, um sich in einem kleinen Zirkel auf ihre Ziele zu konzentrieren. Dabei spielten Frauen und eine Ortsverlagerung eine entscheidende Rolle: Maria Juliana Baur von Eysseneck, Witwe des verstorbenen Spener-Freundes Johann Vinzenz Baur von Eysseneck und ihrerseits Mitglied der Ganerbschaft Alten31 Dechent, 1921, S. 59-104; Wallmann, 21986. 32 Zum Kreis der Teilnehmer siehe Dechent, 1921, S. 76f.; Wallmann, 21986, S. 264-298 sowie mit z.T. detaillierten biographischen Angaben Proescholdt, 2007, S. 110f. 121
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Limpurg,33 stellte dafür ihre Privaträume im Saalhof zur Verfügung. Die Personen, die sich nun bei ihr trafen und sich teilweise sehr rigoros von der als verworfen erachteten Volkskirche abgrenzten, gingen als »Saalhofpietisten« in die Kirchengeschichte ein. Neben Maria Juliana Baur von Eysseneck spielte ihre Freundin Johanna Eleonora von Merlau34 eine entscheidende Rolle. Sie wurde neben Johann Jakob Schütz zu einer Impulsgeberin des Kreises. Hier im Saalhof ergriffen die Frauen selbstbewusst das Wort. Die räumliche Separierung, die auch ein physisches Heraustreten aus der Amtskirche markierte, eröffnete Frauen neue Handlungsmöglichkeiten, freilich um den Preis der Separation. In den Genderstudien unserer Zeit wollte man im Auftreten der Saalhofpietisten/-pietistinnen daher Anfänge der Frauenemanzipation erkennen.35 Das Privathaus machte möglich, was der Kirchenraum verhinderte.
4. Grund- und Hausbesitz: Umwidmung und Überschreibung von Räumen Haus- und Grundbesitz36 war hinsichtlich der Gestaltung des städtischen Raumgefüges generell ein Feld, auf dem sich auch für diejenigen, denen die Ratsstube und damit die Herrschaftsausübung, aber auch etwa der Altarraum und die Kanzel von vornherein verschlossen waren, gewisse und unter Umständen sogar nachhaltige Einflussmöglichkeiten ergaben: für die Frauen. Das Frankfurter Patriziat hatte es verstanden, beutenden Haus- und Grundbesitz an den für das Messegeschehen günstig gelegenen und damit hoch lukrativen Straßenzügen in der Stadtmitte, darüber hinaus auch etliche Häuser, Höfe und Ländereien im Umland über lange Zeit, sogar über die gesamte reichsstädtische Epoche hinweg in seinen Reihen zu halten. Auch diese lange Kontinuität des Immobilienbesitzes war ein Effekt und je länger desto mehr auch ein Ziel der geschlossenen Heiratskreise. Wenn das Haus bzw. der Hof blieben, so kamen und gingen nicht nur die Generationen, sondern mit ihnen häufig auch wechselnde Besitzerfamilien. Je nach Dauer der Bindung bestimmter Immobilien an eine Familie setzte sich, oft vom Erbauer und ersten Besitzer herkommend, entweder ein eigener Hausname 33 34 35 36
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Taege-Bizer, 1998, S. 131-133; Körner, 22003, S. 46 u. 235. Matthias, 1993, S. 79-95; Taege-Bizer, 1998, S. 128-131. Wunder, 1995, S. 67-73; Taege-Bizer, 1998, S. 113f. Grundlegend dazu: Battonn, 1861-1875; Wolff/Jung/Hülsen, 1896/1914; Lenhardt, 1933; Sage, 1959; Schwindt, 1984. – Besonders wichtig für diese Frage ist der Bestand Hausurkunden im ISG Ffm.
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durch – wie etwa beim Haus Grimmvogel und Paradies, beim Haus Fürsteneck, beim Haus Braunfels, beim Kranichhof –, oder der Hausname änderte sich mit dem Wechsel der Besitzerfamilie – vom Glauburger Hof zum Nürnberger Hof, vom Knoblauchshof über den Kühornshof zum Bertramshof –, oder die sehr lange dort weilende Familie verlieh dem Haus auf Dauer ihren Namen wie bei der Holzhausen-Öd, dem Stralenberger Hof oder der Großen Stalburg. Die Namensgeschichte lässt häufig Rückschlüsse auf die Besitzgeschichte zu. Der Wechsel von einer Besitzerfamilie zur anderen geschah gerade im Fall der alten Häuser, Höfe und Güter weniger durch Kauf als vielmehr häufiger durch Erbe über eine Tochter, die das Gut in die Ehe mit einem namensfremden Mann einbrachte und so auf die gemeinsamen Kinder übertrug. Den weiblichen Linien und den Töchterstämmen, die in den ansonsten eher patrilinear strukturierten Patrizierfamilien mitunter nachhaltig Wirkung entfalten, ist hier erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Lehensbesitz am südöstlich der Stadt zwischen dem Main und Oberrad gelegenen Stralenberger Hof ist dafür ein eindrückliches Exempel: Er kam von der Familie Ovenbach Ende des 15. Jahrhunderts zur Frauensteiner Familie Kule, von den Kule Anfang des 16. Jahrhunderts zur Alten-Limpurger Familie Stralenberg, von den Stralenberg über zwei Töchter des letzten männlichen Vertreters der Familie Mitte des 17. Jahrhunderts je hälftig zu den Familien Kellner und Humbracht, die Kellner’sche Hälfte Ende des 17. Jahrhunderts dann zu den alteingesessenen Holzhausen, in deren bald darauf gegründetes Fideikommiss sie einging. Immer wieder waren es Erbtöchter, die den Hof durch Ehen in die neue Familie einbrachten.37 Ein sehr eindrückliches Beispiel für das reiche Erbe entlang einer TochterFiliation ist der Übergang des großen inner- und außerstädtischen Haus- und Grundvermögens von der Letzten und Erbtochter der alten Familie Knoblauch, Maria Margretha Knoblauch verheiratete Völcker (1578-1634), auf ihre Tochter Justina Margretha Völcker (1621-1692), die dann einen Steffan von Cronstetten heiratete.38 Diese teilte ihren Besitz später zwischen ihrem Sohn, Johann Adolph, und ihrer Tochter, Euphrosyne Margaretha, auf und strukturierte damit langfristig bedeutende Raumbezüge im patrizischen Grundbesitz: Die Tochter Euphrosyne Margaretha (1639-1707) heiratete den später zum Stadtschultheiß 37 Siehe den Erbweg des Stralenberger Hofs entlang einer Generationenabfolge auf Verwandtentafeln in Hansert, 2014, S. 483 u. 495 sowie 96f. u. 211f. 38 Siehe die Hintergründe im Einzelnen in Hansert, 2016b, S. 26-32. – Zur familiären Situation siehe Körner, 22003, S. 411f. u. 85; weiterreichende genealogische Informationen in dem Portal Das Frankfurter Patriziat, unter: www.frankfurterpatriziat.de, 31.08.2016. 123
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aufgestiegenen Heinrich Ludwig von Lersner (1629-1696) und erhielt von ihrer Mutter Land- und Gutsbesitz in dem zu Frankfurt gehörenden Nieder-Erlenbach. Über diese dreifach weibliche Erblinie Knoblauch – Völcker – Steffan von Cronstetten kam die für Frankfurt so wichtige (und bis heute blühende) Ratsfamilie Lersner zu diesem für sie bedeutenden Landgut im Norden der Stadt, das für sie über Jahrhunderte (bis zum Verkauf im Jahr 1953) ein zentraler Bezugspunkt wurde.39 Die zweite wichtige Immobilie der Justina Catharina Margretha Völcker gab sie ihrem Sohn, von dem sie wiederum dessen Tochter Justina Catharina Steffan von Cronstetten (1677-1766) als einziger überlebender Nachkomme aus dieser Linie zum Erbe erhielt. Mit dem Lersner’schen Gut in Nieder-Erlenbach und dem Kranichhof, dem späteren Cronstett’schen Damenstift, wurden aus ehemals Knoblauch’schem Besitz über die Erbtöchter somit zwei Lokalitäten und Raumbezüge geschaffen, die für die Geschichte des Frankfurter Patriziats langfristig von großer Bedeutung waren und die – jenseits des im Adel geltenden Mannesstammprinzips – durch Frauen konstituiert wurden. Im 18. Jahrhundert, als das Frankfurter Patriziat seinen Zenit bereits überschritten hatte, bemühte man sich in seinen Kreisen verstärkt, das überkommene (materielle) Erbe zu sichern. Es war die Zeit, in der die Familien ihren Besitz in die adelstypische Eigentumsform des Fideikommisses einbrachten.40 Fideikommisse wurden von einem Familienmitglied oder einem Ehepaar der Familie regelrecht »gestiftet«. Der Grund- und Hausbesitz (oder Teile davon) sollten als ein nicht veräußerbares Gut dauerhaft erhalten bleiben, an dem den Nachkommen bzw. meist dem ältesten der Söhne ein bloßes Nießbrauchrecht eingeräumt war. Durch den so gestifteten Familienzusammenhalt und das Bewusstsein, in einer Generationenkette Gutsbesitzer zu sein, sollte neben der Sicherung der materiellen Basis vor allem auch das Adelsbewusstsein der Familie gestärkt werden. Großer und bedeutender Landbesitz wurde so von den Familien Holzhausen, Günderrode, Lersner, Syvertes, Kellner und Wiesenhütten in eine dauerhafte Organisationsform gebracht und im Zuge der Heiraten mit weiteren Erbtöchtern immer wieder vermehrt. Strukturell eng verwandt mit dem Fideikommiss waren hinsichtlich der langfristigen Sicherung von Vermögen zwei bedeutende Stiftungen, die im 18. Jahrhundert von zwei Alten-Limpurger Erbtöchtern der alten Familien gegründet wurden, nämlich die 1732 ins Leben gerufene Stiftung der Anna Sibylla 39 Siehe die Verwandtentafel in Hansert, 2014, S. 497, dort die Personenziffern 2 und 18 sowie zum Lersner’schen Fideikommiss ebd., S. 391-393. 40 Ebd., S. 384-393. 124
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Schad von Mittelbiberach (1666-1737)41 und die große Stiftung der eben erwähnten Justina Catharina Steffan von Cronstetten.42 Beide Stifterinnen hatten hinsichtlich Herkunft, Familiensituation, Vermögen und Stiftungsintention viel gemein. Beide verfügten über ererbten Haus- und Grundbesitz in der Stadt. Sowohl das Haus Anna Sibyllas, nämlich das traditionsreiche Haus Grimmvogel und Paradies am Liebfrauenberg, als auch der oben erwähnte, von der VölckerGroßmutter herkommende Kranichhof Justinas am Rossmarkt verfügten über eine mehr oder weniger durchgängige patrizische Besitzgeschichte bis zu ihren Ursprüngen im Mittelalter. Das hier eingangs entwickelte Motiv eines Kontinuums des (patrizischen) Hauses bei ständigem Wechsel der Generationen der patrizischen Familien, die es bewohnen, taucht an diesen Lokalitäten einmal mehr besonders deutlich auf. Dann aber wurde der Ablauf der Generationen gestoppt, denn Anna Sibylla und Justina verzichteten beide auf Heirat und Familiengründung, waren andererseits jeweils aber die Letzten ihrer Familien und damit wohlhabende, um nicht zu sagen reiche Erbtöchter. Als solche waren sie unumschränkt zu Herrinnen des Familienvermögens geworden und gründeten mit ihrem Hausbesitz nun Stiftungen. Ihre entscheidende Tat bestand darin, den Ort des Hauses funktional umzuwidmen und damit einen neuen Raum zu schaffen: Aus dem Privathaus von Justinas Familie wurde ein adliges Damenstift, das sie darin etablierte; Anna Sibyllas Haus, Grimmvogel und Paradies, wurde ebenfalls Eigentum der von ihr gegründeten Stiftung, der von Schad’schen Stiftung. Beide Stifterinnen wollten letztlich ihren eigenen Stand, die Angehörigen der Ganerbschaft Alten-Limpurg, versorgen, der Zeit entsprechend waren es Klientelstiftungen, im weitesten Sinne Familienstiftungen, denn die Begünstigten waren, wenn auch nicht direkte Nachkommen (denn sie hatten ja keine), so doch Angehörige des weitläufigen Familienverbands der Ganerbschaft Alten-Limpurg. Sie waren damit erst einmal dem Gedanken des Fideikommisses verwandt, hatten historisch langfristig aber bessere Überlebens- und Entwicklungschancen als diese, wie gleich noch zu zeigen sein wird. Damals erhofften sich die Stifterinnen davon eine Stabilisierung der Position des Patriziats, dessen herrschaftliche Stellung in der Stadt in Folge der Verfassungsreformen des frühen 18. Jahrhunderts zu erodieren begonnen hatte. 41 Lerner, 1952, S. 97-99.; Ders., 1992; Körner, 1975; Ders., 1983; Ders., 22003, S. 377; Hansert, 2000, S. 145f.; Ders., 2014, S. 397-400. 42 Jetzt dazu die Monographie Hansert, 2016b. – Ältere Literatur: Lerner, 1952, S. 99-109; Körner, 21998; Ders., 22003, S. 413f.; Hansert 2000, S. 147-152 u. 155157; Ders., 2014, S. 400-405. 125
Andreas Hansert
1806 kam praktisch das Ende: Mit dem Fall des Alten Reiches und der zwischenzeitlichen Mediatisierung der Reichsstadt im kurzlebigen Dalberg’schen Großherzogtum wurde die Herrschaft des Patriziats auch verfassungsrechtlich kassiert. Doch konnten die Familien mit ihren Stiftungen, Fideikommissen und dem Besitz vieler alter traditionsreicher Häuser noch einiges Ansehen über die napoleonische Epochenschwelle hinwegretten. Für einen Aufsatz, der sich in einer raumanalytischen Sicht dem Thema widmet, ist ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung interessant. Die Fideikommisse der Frankfurter Patrizierfamilien wurden meist noch im 19. Jahrhundert, spätestens jedoch in Folge des Verbots der Fideikommisse durch die Weimarer Verfassung aufgelöst. Alter Immobilienbesitz wurde von den Nachkommen der alten Familien in großem Stil zu Geld gemacht. Das gleiche geschah auch mit dem Gesellschaftshaus AltenLimpurg am Römer. Hatte die Ganerbschaft dafür über Jahrhunderte hinweg ein Veräußerungsverbot in ihren Statuten festgeschrieben, so wurde das Haus 1878 für 214.000 Mark an die Stadt verkauft, die es dem Rathauskomplex zuschlug. Der seit 1495 geltende Name »Haus Limpurg« ist dabei – bis heute – erhalten geblieben. Die Ganerbschaft war damit eigentlich ihres Inhalts beraubt, sie blieb (und zwar bis heute) nur dem Titel nach erhalten, der fortan die alte ritterschaftliche Tradition konservierte. Die Ganerben erhielten von dem durch den Verkauf zustande gekommenen Kapital dann jährlich eine Dividende ausbezahlt.43 Auch die Holzhausen lösten ihr Fideikommiss auf. Ihre Ländereien im nördlichen Vorland der damals rasch expandierenden Stadt wurden um 1900 zu hoch attraktivem Bauland. Da die beiden damaligen Vertreter der Familie, Georg (1841-1908) und Adolph von Holzhausen (1866-1923), keine Neigung hatten zu heiraten und eine Familie zu gründen, zeichnete sich das Aussterben des Frankfurter Zweigs der Familie ab. So entstand der Plan, die Gunst der Stunde für den Verkauf des Landbesitzes zu nutzen, um mit dem so erwirtschafteten Kapital eine große Stiftung zugunsten Frankfurts einzurichten und so das Andenken an die Familie zu wahren. Diese Transformation des Vermögens vom Eigentum an Grund und Boden in Geldkapital bedeutete die Lösung vom Raum. Geld an sich ist ohne Ort – abstrakt. Dieser Schritt sollte sich bitter rächen. Kaum 15 Jahre später ging das so erworbene neue Vermögen der Familie Holzhausen in der Inflation von 1923 weitgehend zugrunde. Das gleiche Schicksal ereilte die Ganerbschaft Alten-Limpurg: Auch sie verlor ihr Geld, das sie keine 50 Jahre zuvor aus dem Verkauf ihres Hauses am Römer erworben hatte, in diesem säkularen finanzpolitischen Desaster. 43 Hansert, 2003, S. 17f. 126
Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge
Dagegen bestehen die beiden Stiftungen – Schad und Cronstetten – bis heute, und zwar vor allem deshalb, weil sie über alle historischen und stadtplanerischen Umbrüche und Zäsuren hinweg an ihrem ererbten Hausbesitz bis heute festhielten – am Haus Grimmvogel und Paradies und am historischen Gelände des Kranichhofs. Wurde das ursprünglich mittelalterliche Haus der Schad’schen Stiftung44 1785 durch einen barocken Neubau ersetzt, der nach einigen Restaurierungsmaßnahmen, die nicht zuletzt in Folge von erlittenen Schäden im Zweiten Weltkrieg erforderlich waren, in seiner äußeren Gestalt bis heute vorhanden ist, so erlebte der historische Kranichhof mehrfach komplette Neubauten und einige signifikante Neuzuschnitte, damit letztlich auch beträchtliche Verkleinerungen des Geländes. Das Erscheinungsbild des Ortes hat sich vollkommen verändert – sowohl baulich wie in den Verläufen der Straßen und der Fluchtlinien. Die »Stadt als Palimpsest«, so der Titel einer jüngst erschienenen Dissertation,45 das ständige Überschreiben eines bestimmten Ortes – dieses Motiv gilt an einer Stelle wie dieser in höchstem Grad. Und dennoch gibt es untergründig einen ununterbrochenen, andauernden Entwicklungsstrang, nämlich den der Besitzverhältnisse. Hier gilt beides: Kontinuität und Diskontinuität des Raums. Formal geographisch ließe sich der Ort, der hier zu behandeln ist, mit den Koordinaten ca. 50,111 Grad nördliche Breite und 8,686 Grad östliche Länge definieren. Postalisch lautete seine Adressbezeichnung heute Kaiserstraße 1 in Frankfurt. Äußerlich und funktional handelt es sich dabei um ein nüchternes reines Geschäftshaus, dessen Eigentümer die Cronstetten-Stiftung ist. Diese bezieht daraus einen Großteil der Erträge, die sie für ihre heutigen gemeinnützigen Zwecke (das ist nicht mehr das Damenstift, sondern es sind Altenpflege, Kultur etc.) verwendet. Doch diese Adresse belegt nur noch einen Teil des historischen Grundstücks: Durch die Vergrößerung des Rossmarkts nach den Kriegszerstörungen des Zweiten Weltkriegs und dem Durchbruch und der Neuanlegung der Kaiserstraße etwa 70 Jahre zuvor, zu Beginn der 1870er Jahre, wurde das historische Gelände der Stiftung beträchtlich verkleinert. Bis zur Errichtung der Kaiserstraße lautete die Adresse noch Rossmarkt 17, 19 und 21. Doch auch diese Bezeichnung reichte damals historisch nicht weit zurück, denn sie hatte erst kurz zuvor ein noch älteres Benennungssystem abgelöst, das sich an der Einteilung der Stadt in 14 Quartiere orientierte, die mit Buchstaben bezeichnet worden waren. Dieses Adresssystem war von den Franzosen, die Frankfurt während des 44 Darstellung des mittelalterlichen Gebäudes vor dem barocken Neubau in einer Vedute von Christian Georg Schütz in Brinkmann/Sander, 1999, Tafel 105 u. S. 51. – Vgl. zur Baugeschichte auch Staden, 1995. 45 Binder, 2015. 127
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Siebenjährigen Kriegs von 1756 bis 1763 besetzt gehalten hatten, eingerichtet worden. Der Bezeichnung Rossmarkt 17 bis 21 ging demnach also die Adresse Lit. E 1 voraus. Bis zur Anwendung dieser sehr abstrakten Bezeichnung der Häuser in Frankfurt waren nur individuelle Hausnamen üblich. Geht man historisch also weiter zurück, lässt sich die Stelle nur noch mit dem individuellen Namen Kranichhof oder (seit 1767) Cronstetten’sches Damenstift benennen. Der Hausname hatte die längste Dauer in der historischen Abfolge der Bezeichnungen und Definitionen dieses Ortes, nämlich etwa 400 Jahre von seiner Ersterwähnung um 1320 bis in die Mitte 18. Jahrhunderts. Dem Ort ist von dieser Geschichte heute nichts mehr anzusehen: Er hat durch die mehrfache historische Änderung der Adressbezeichnung und insbesondere durch mehrfache Abrisse sowie die Kriegszerstörung und dreimalige Neuerrichtung verschiedener Baulichkeiten, durch die gänzlichen Neuzuschnitte der Parzelleneinteilung und durch den Funktionswandel vom Sitz eines Damenstifts, das Ende des 19. Jahrhunderts zunächst ins Westend verlegt und später ganz aufgegeben wurde, zu einer reinen Geschäftsimmobilie in dem Zeitraum von ca. 1870 bis in die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg völlig sein Gesicht geändert.46 Diesen jähen Transformationen steht jedoch die lange Kontinuität des Besitzes der Stifterin und der von ihr hinterlassenen Stiftung entgegen, wie sie sich niederschlägt auf dem Pergament der historischen Hausurkunden im Institut für Stadtgeschichte, diversen Zeichnungen der historischen Grundrisse, den historischen Ortsbeschreibungen Johann Georg Battonns (1740-1827),47 über die Einträge in städtischen Grundregistern bis hin zu den digital erfassten Grundbucheinträgen der Gegenwart. – Eine besondere Pointe dabei: Die Schlaf- und Repräsentationsgemächer der Kaiser und Könige, die während ihrer Krönung in Frankfurt im Obergeschoss des historischen Cronstetten-Palais residierten – 1764 Franz I. mit seinem Sohn Joseph II. und 1790 Leopold II.48 –, lassen sich heute in einem Luftraum über dem Ende der 1940er Jahre beträchtlich erweiterten unbebauten Gelände des Rossmarkts lokalisieren. Geschichte hat in diesem Fall materialiter vorhanden gewesene Räume, die Gemächer der Kaiser, virtuell gemacht.
46 Vgl. dazu vor allem Stamm, 1975 und Hansert, 2016b. 47 Battonn, 1861-1875. Battonns Arbeiten wurden erst posthum veröffentlicht. 48 Siehe einen historischen Grundriss des Cronstetten-Stifts mit genauer Bezeichnung des kaiserlichen Schlafgemachs in Hansert, 2016b, S. 116f. (dort Nr. 6). 128
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5. Fazit Im Ergebnis zeigt sich, dass eine Formation wie das altständische Patriziat nicht zuletzt deshalb eine so ungewöhnlich lange Dauer seiner Existenz zu erreichen vermochte, weil es ihm – darin der Kirche vergleichbar – gelang, sein Schicksal eng und systematisch mit räumlichen Bezügen – prominent gelegene Häuser, halböffentliche Gebäude (wie z.B. das Holzhausenschlösschen), Grundbesitz, Landgüter etc. – zu verbinden. Dazu gehört auch die Jahrhunderte lang praktizierte direkte räumliche Nachbarschaft von Trink- und Ratsstube, die das Pendant zur Symbiose von Patrizierkultur und Ratsherrschaft darstellt. Diese Kontinuität der Raumbezüge wirkte ihrerseits auf das Patriziat zurück: Das Konstrukt der »Ganerbschaft«, die Einrichtung von Fideikommissen, die Etablierung von immobilienbasierten Familienstiftungen etc. verbinden die soziale Formation unmittelbar mit dem Schicksal des Haus- und Grundbesitzes. Aus diesen generationenübergreifenden Bindungen an das Haus folgen spezifische Heirats- und Erbstrategien, habituelle Eigenarten, tiefreichende Traditionsbildungen etc., und die räumliche Kontinuität unterstützt wirksam das Bewusstsein von langer Dauer – das Bewusstsein und den Anspruch auf den ersten Rang, eben weil man »uralt« ist. Hinzu kommt, dass viele der zentralen Gebäude des Patriziats in der Mitte, im historischen Kern der Stadt liegen, woraus sich – auch hier ähnlich wie bei der Kirche – immer ein Standortvorteil und eine prägende Wirkung auf die Selbstwahrnehmung der Stadt als Ganzes ergibt.
Abstract This chapter analyses the patriciate of Frankfurt regarding its multiple positions in urban space. What options presented themselves in certain venues, e.g. Trinkstuben (taverns), Ratsstuben (town halls), or patrician’s houses? And what spaces were either completely forbidden for certain patricians, such as Ratsstuben for women, or restricted, such as Ratsstuben for younger brothers who only had access to them after their elder brother. A special spatial and legal case is the pre-Reformation church which was seen as an enclave in Frankfurt’s urban space: on the one hand, patricians, although they were the dominant group in the alder council, did not have direct access to it. On the other hand, many sons (and daughters in cases of monasteries) of patrician families became clerics and thus part of this ecclesiastically dominated space. Secular and spiritual splits could be bridged by family relations, e.g. by charity donations given to ecclesiastical institutions which housed family members. 129
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In addition, this chapter takes a closer look at the private residences of patricians which had a long-standing tradition and are often still visible in today’s city centres due to their size, central location, and representative functions in the old towns. Today, they represent a continuity connecting the Middle Ages with the present. – The chapter develops and argues for the concept of Verwandtschaftsraum (kinship space) since kinship relations, too, can be understood as a spatial structure, e. g. through ancestry (Aszendenz) and descent (Deszendenz). This dimension is especially important to further understand the patriciate and its structure based on birth.
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Wahrnehmungen (in) der Stadt
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt – eine Herausforderung für die Stadtgeschichte der Frühen Neuzeit Philip Hahn »Die Stimmung dessen, der sie ansieht, ist es, die der Stadt Zemrude ihre Gestalt gibt«, schreibt Italo Calvino in seinem Roman Die unsichtbaren Städte. Je nachdem ob man pfeifend, »die Nase in der Luft hinter dem Pfiff«, oder aber »mit dem Kinn auf der Brust, die Fingernägel in die Handflächen gegraben« durch die Stadt geht, fallen andere Dinge ins Auge: dem einen wehende Vorhänge und Springbrunnen, dem anderen dagegen Gullys und herumliegende Abfälle. Keiner der beiden Eindrücke sei »wahrer« als der andere, doch »für alle kommt früher oder später der Tag, an dem wir den Blick die Dachrinnen hinuntergleiten lassen und ihn nicht mehr vom Straßenpflaster lösen können.« Auch in der Stadt Fillide verändert sich die Wahrnehmung: Als Besucher denkt man zunächst: »Wie glücklich, wer jeden Tag Fillide vor Augen hat und nie aufhört, all die Dinge zu sehen, die es enthält!« Doch je länger man dort verbleibt, umso mehr verblassen die Schönheiten der Stadt, ihre Kuppeln und Rosettenfenster bis zur Unsichtbarkeit.1 Die Aspekte des Stadtlebens, über die Calvinos Protagonist Marco Polo hier dem Kublai Khan berichtet, sind jüngst auch in den Fokus der interdisziplinären Stadtforschung gerückt.2 Zemrude und Fillide, zwei von den insgesamt 55 imaginären Städten des Romans, prägen offenbar die Wahrnehmung und das Verhalten der in ihnen lebenden Menschen auf eine jeweils spezifische Weise – ein Phänomen, das in der Kulturanthropologie und Soziologie als Habitus oder Eigenlogik der Städte diskutiert wird. Zemrude erinnert in der Abhängigkeit sei1 2
Calvino, 1985, S. 75f, 105f. Einen Überblick bieten die Beiträge in Mieg/Heyl, 2013. 139
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ner Gestalt vom emotionalen Zustand der Betrachter ferner an das soziologische Konzept der affective spaces, das dafür entwickelt wurde, um die Zusammenhänge von Raum, Sinnen und Affekten zu interpretieren.3 Die Stadt Fillide führt darüber hinaus ein Problem vor Augen, mit dem man sich bei einer Analyse genau dieser Zusammenhänge konfrontiert sieht. Den Besuchern einer Stadt fällt manches auf, was ihre Bewohner nicht mehr wahrnehmen, weil sie sich längst daran gewöhnt haben. Es ist also nicht nur die Stimmung des Betrachters, welche einer Stadt ihre Gestalt gibt, sondern Städte prägen die Wahrnehmung ihrer selbst insofern mit, als sie die Sinneseindrücke des Betrachtenden strukturieren. Wem eröffnet sich nun eher ein Eindruck dessen, was für die Stadt charakteristisch ist? Sind es nicht gerade die eigenlogischen Wahrnehmungsmuster ihrer Bewohner? Wie lassen sie sich erforschen? An diesen Fragen kommt man nicht vorbei, wenn man ergründen will, in welchem Verhältnis Stadt und Wahrnehmung zueinander stehen. Anders als die gegenwartsbezogene Stadtsoziologie ist eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung dieses Zusammenhangs mit dem Problem konfrontiert, dass vergangene Sinneseindrücke nur in begrenztem Maß rekonstruiert werden können. Allenfalls der Zeitgeschichte bietet sich die Möglichkeit, Stadtbewohner auf ihre Wahrnehmungen hin zu befragen; bei weiter zurückliegenden Epochen ist man hingegen auf die Überlieferung schriftlicher Aufzeichnungen oder auf andere Quellen, die indirekt Rückschlüsse erlauben, angewiesen.4 Zudem führt der Versuch, historisches Empfinden nachzufühlen, in eine Sackgasse. Denn es wäre naiv, davon auszugehen, dass unsere Vorfahren ihr städtisches Umfeld in der gleichen Weise wahrgenommen haben wie wir selbst. Es wird in diesem Beitrag also darum gehen, die Möglichkeiten und Herausforderungen einer Geschichte eigenlogischer Wahrnehmungsmuster in der Frühen Neuzeit auszuloten. In einem ersten Schritt sollen die bereits angesprochenen theoretischen Ansätze im Hinblick auf diese Zielsetzung näher betrachtet werden. Im Anschluss wird am Beispiel einer deutschen Stadt mittlerer Größe ausprobiert, inwieweit sich die entlang dieser Ansätze aufgeworfenen Fragen am konkreten Quellenmaterial ergründen lassen.
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Reckwitz, 2012. Missfelder, 2012, S. 33f.
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
1. Die Eigenlogik der Städte und die Geschichte der Sinne Schon seit einigen Jahren lässt sich in deutschen Städten der Trend beobachten, durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verloren gegangene städtebauliche Ensembles zu rekonstruieren. Vor allem die Neubebauung des Dresdener Neumarkts sowie des Frankfurter Römerbergs haben weit über die Stadtgrenzen hinaus beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen und kontroverse Debatten über den Sinn solcher Projekte ausgelöst. Letztlich handelt es sich dabei um Versuche, der jeweiligen Stadt etwas von ihrem althergebrachten, individuellen Gesicht wiederzugeben, nachdem sich die stadtplanerische ModernisierungsEuphorie der Nachkriegsjahrzehnte verflüchtigt hat. Während man noch vor einigen Jahrzehnten Altstädte mit »Elend, Dreck, Enge und Verwahrlosung« assoziierte, sucht man in ihnen nun »Traditionen, die der Bürger in Zeiten der Globalisierung gut gebrauchen kann«, wie man 2007 in der Frankfurter Rundschau mit Bezug auf das Römerberg-Projekt lesen konnte.5 Auch der Historiker Daniel Jütte urteilte 2014 im Fazit seines Aufsatzes über die spezifisch vormoderne Erfahrung des Eintretens in eine Stadt durch ihre Stadttore, dass es heute angesichts immer schneller anwachsender Städte eine immer schwierigere Aufgabe sei, deren »special character« aufrecht zu erhalten oder neu zu definieren, und gerade deshalb sei dies wichtiger als je zuvor.6 Doch ist diese Sorge keineswegs neu: Schon der konservative Sozialpolitiker Wilhelm Heinrich Riehl beklagte 1853, dass in den rasch wachsenden und einander »uniform« gleichenden Großstädten »der besondere Charakter der Stadt als eines originellen, gleichsam persönlichen Einzelwesens von selber auf[höre]«.7 Was aber macht diesen Charakter eigentlich aus?8 Die Soziologin Martina Löw betont, dass das »lokal Besondere des Stadtbildes nicht mit der Eigenlogik einer Stadt gleichgesetzt werden kann«.9 Erst die »kulturelle Überformung der topographischen Gegebenheiten«, so der Kulturwissenschaftler Lutz Musner, verwandle »einen Ort in einen sozial konstruierten und sozial geschichteten Raum mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen« und mache »aus einer Landschaft eine distinkte und unverwechselbare kulturgeographische Entität«. 5 6 7 8 9
Löw, 2010a, S. 150-153 (Zitate S. 152, 153); vgl. ebd., S. 116; Will, 2008; vgl. Rehberg, 2005. Jütte, 2014, S. 227; vgl. Roodenburg, 2014b, S. 13 im Anschluss an Burke, 2006. Riehl, 51861, S. 97; vgl. hierzu auch Lees, 1985, S. 83-85. Vgl. zum Folgenden auch den Überblick in Wietschorke, 2013, S. 206-211. Löw, 2010a, S. 152. 141
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Es ist demnach nicht allein der umbaute Raum einer Stadt, sondern es sind »ihre Stimmungen, ihre Atmosphäre und ihre sinnliche Kontur aus Gerüchen, Geräuschen und Farbtönen«, die sie unverwechselbar machen und die bestimmte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen hervorbringen.10 Anders als das bauliche Ensemble lässt sich eine solche »sinnliche Kontur«, wie Musner und Löw gleichermaßen betonen, nicht einfach von Bürgermeistern oder Werbefachleuten auf dem »Reißbrett« entwickeln und durch »kulturindustrielle Interventionen« beliebig gestalten, denn sie seien historisch gewachsen: Die »tradierten Merkmale« einer Stadt seien das Resultat der »Aneignung und des Gebrauchs der Stadt durch viele Generationen«.11 Somit erscheint die Stadt als »Sediment ihrer eigenen Geschichte« oder eine »Assemblage« im Sinne Bruno Latours, also als ein langfristig gewachsenes Akteur-Netzwerk aus Menschen, Dingen, Normen, Organisationen usw.12 Im Anschluss an den Ethnologen Rolf Lindner und den Kulturgeographen Martyn Lee rekurriert Musner in seiner Analyse dieses Phänomens auf den Habitus-Begriff Pierre Bourdieus.13 Doch impliziert die Übertragung dieses eigentlich für die Interpretation des Verhaltens menschlicher Akteure entwickelten Konzepts auf eine Stadt eine, wie Martina Löw angemerkt hat, unzulässige »Gleichsetzung von Körper und Stadt«.14 Um dem zu entgehen, schlägt Löw stattdessen ein zweigliedriges Interpretationsmodell vor. Auch sie interessiert sich dafür, wie es dazu kommt, dass Städte von Menschen »als eigen und als anders erfahren« werden. Im Gegensatz zu Lindner, Musner und anderen unterscheidet sie jedoch zwischen einer Ebene der »Strukturen eines städtischen Sinnkontextes, der sich in Regeln und Ressourcen vor Ort artikuliert« und in »Architektur, Technologien, Stadtplanung, Vereinen« manifestiere (von ihr im Anschluss an Bourdieu »Doxa« genannt), sowie einer Ebene der Individuen, in deren Körper sich diese Strukturen einschreiben (»Habitus«). Letzteres gehe Löw zufolge so weit, dass Menschen in einer Stadt sich beispielsweise in ihrer Gangart oder der Empfindlichkeit gegenüber Lärm von denjenigen in einer anderen Stadt unterscheiden. Beide Ebenen zusammen ergeben ein »Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen«, welches sie 10 11 12 13
Musner, 2009, S. 36f. Ebd.; vgl. Löw, 2010a, S. 83. Berking/Löw, 2005, S. 19; Wietschorke, 2013, S. 216f. Musner, 2009, S. 45-48, unter Bezug auf Lindner, 2003, S. 46-53. Vgl. Guckes, 2005, S. 9f., 26, sowie Lee, 1997, S. 126-141. 14 Löw, 2010a, S. 87. Vgl. hierzu die Verteidigung von Musner, 2009, S. 47. 142
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
als »Eigenlogik der Stadt« bezeichnet.15 Löw ist sich darüber im Klaren, dass es »das Empfinden, die Wahrnehmung, die Deutung« einer Stadt nicht geben kann, sondern dass sich »Stadterfahrung« je nach sozialem Milieu, Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit ausdifferenzieren kann. Trotzdem geht sie davon aus, dass »quer zu den Milieus die Taxifahrer, Hochschullehrer, Tänzer und Priester etc. einer Stadt gemeinsame Praxisformen ausprägen«. Denn: »Was über eine Stadt erzählt werden kann, was in ihr gefühlt wird, wie in ihr gehandelt wird, hängt davon ab, welche Deutungsmuster als plausibel etabliert werden.«16 Um diese Praxisformen zu entdecken, sei es zwingend notwendig, mehrere Städte miteinander zu vergleichen.17 Auf diese Weise empirisch gewonnene Erkenntnisse über solche städtische Eigenlogiken hält Löw für unabdingbar für ein erfolgreiches Stadtmarketing oder -branding, denn dieses könne letztlich nur Vorhandenes akzentuieren.18 Die Herausforderungen für Historiker liegen allerdings nicht in städtischer Imagepflege. Anders als in der Stadtsoziologie geht es zunächst einmal darum, ein solches Phänomen nicht nur synchron durch Städtevergleich zu konstatieren, sondern seine Entstehung vielmehr diachron im Prozess seiner Entstehung zu begreifen. Eine solche Herangehensweise wirft Fragen hinsichtlich der historischen Tiefendimension städtischer Eigenlogiken auf. Wenn Martina Löw beispielsweise von einer »formative[n] Periode der Stadtgeschichte« spricht, so denkt sie etwa an das frühe 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet, als hier eine proletarische »Geschmackslandschaft« ausgeprägt worden sei; was davor war, wird von ihr ausgeblendet.19 Im städtischen Kontext, wo auch die Erinnerungskultur mitunter Jahrhunderte zurückreicht, wie Aleida Assmann betont hat, können solche Praxisformen aber eine deutlich längere Geschichte haben.20 Hier ist also die Stadtgeschichte der Vormoderne gefragt. »Like towns today«, schreibt der historische Anthropologe Herman Roodenburg, »early modern towns had their own sensory identities.« Er führt dies einerseits auf die Regelungstätigkeit städtischer Obrigkeiten, andererseits auf physische Strukturen wie das Gelän15 Löw, 2010a, S. 71, 76, 78, 91 (Hervorhebungen im Original); vgl. auch Berking/ Löw, 2008. 16 Löw, 2010a, S. 81-83 (Hervorhebungen im Original); vgl. Berking/Löw, 2005, S. 12. 17 Löw, 2010a, S. 80; vgl. Berking/Löw, 2005, S. 18. 18 Löw, 2010a, S. 102; vgl. Dies./Terizakis, 2011. 19 Zit. bei Wietschorke, 2013, S. 216. 20 Assmann, 2007, S. 29f. 143
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deprofil, die Straßenbreite oder das Vorhandensein von Wasserwegen zurück.21 Mit dieser Umschreibung deckt er allerdings nur den Bereich dessen ab, was Martina Löw unter »Doxa« versteht – die individuelle Wahrnehmung bleibt bei Roodenburg hingegen unberücksichtigt. Einen ersten Zugang zum historischen »Habitus« von Stadtbewohnern bieten Reiseberichte, denn Reisende taten meist genau das, was Löw verlangt: Sie verglichen Städte miteinander.22 Ein gutes Beispiel bietet der Berliner Verleger und Anhänger der Aufklärung Friedrich Nicolai, der 1781 durch Süddeutschland und die Schweiz reiste und darüber eine umfangreiche und um zahlreiche Materialien ergänzte Reisebeschreibung veröffentlichte.23 Bei seiner Durchreise durch Franken fiel ihm folgendes auf: »Bey den Protestanten in Erlangen sind nicht so viel äußerliche Religionsübungen, und mehr Thätigkeit und Industrie. In Bamberg sieht man auf den Strassen angemalte Heiligenbilder, feyerliche Proceßionen, gemächliche andächtelnde Gesichter, Domherren und Mönche; in Erlangen nichts von allen dem. Die Manufakturisten arbeiten in den Häusern; wer auf den Strassen ist, geht bloß Geschäfte halber, sogar der Gang ist hier lebhafter.«24
Zwar betont Nicolai, er habe sich bemüht, »so viel den Umständen nach möglich war, die Wahrheit zu sagen«. So sehr sein Hinweis auf die unterschiedlichen Gangarten an Löws Eigenlogiken erinnert, erfährt man an dieser Stelle dennoch vermutlich mehr über den Verfasser als über die beiden fränkischen Städte, denn er nahm wahr, was er erwartete.25 Entscheidet sich der Historiker/die Historikerin dagegen selbst für einen historischen Vergleich, so sieht er/ sie sich mit erheblichen Problemen konfrontiert, die bei der Wahl der zu vergleichenden Städte beginnen und über die Vergleichskriterien bis hin zur Frage des Erkenntnisgewinns des Vergleichs reichen. Ein inzwischen klassisches, gelungenes Beispiel stellt Peter Burkes Studie über die Eliten von Venedig und Amsterdam im 17. Jahrhundert dar, das auch ein Kapitel über den »Lebensstil« enthält; aktueller ist Oliver Zimmers Buch Remaking the Rhythms of Life, das 21 Roodenburg, 2014b, S. 12f. Zum Identitätsbegriff in diesem Kontext vgl. Christmann, 2004, sowie kritisch hierzu Löw, 2010a, S. 90f. 22 Landwehr, 2001, S. 60f.; vgl. Esch, 1991. 23 Bödeker, 2008. 24 Zit. ebd., S. 320. 25 Zit. ebd., 2008, S. 329; vgl. ebd., S. 314. 144
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
die Entwicklungsmuster dreier mittelgroßer deutscher Städte im Zeitalter des Nationalstaats vergleicht.26 Doch worin liegt der Ertrag für die Stadtgeschichte, wenn man herausfindet, was »typisch« für eine bestimmte Stadt ist? Martina Löws Angebot, dass ihr Konzept der Eigenlogik »tiefenscharfe Entscheidungsgrundlagen« für jede einzelne Stadt biete und »der Städtevergleich die lokale Treffsicherheit von Prognosen« verbessere, ist für Historiker weitaus weniger verlockend als für Stadtplaner.27 Deutlich interessanter sind hingegen die übergreifenden Fragen, die Löw als Leitlinien für eine »Soziologie der Städte« formuliert, allen voran, wie der Prozess zu charakterisieren sei, »in dessen Folge Städte eigenlogische, vergesellschaftende Einheiten werden«.28 Dabei ist zunächst einmal grundsätzlich zu hinterfragen, ob das von Löw entwickelte Konzept überhaupt epochenübergreifend anwendbar ist. Es mag ja sein, dass jede frühneuzeitliche Stadt »had its own auditory, olfactory, or tactile identity«, wie Roodenburg behauptet, aber wie wurden diese Identitäten wahrgenommen?29 Konnten sie eine vergleichbare homogenisierende Wirkung entfalten, wie es Löw für die Eigenlogik annimmt? Zu bedenken ist doch, dass vormoderne Städte in hohem Maße durch sensorielle Regime gekennzeichnet waren, die darauf abzielten, soziale Differenzen sinnlich erfahrbar zu machen. In der Frühneuzeitforschung ist dieses Phänomen als Teilaspekt der »guten Policey« wohlbekannt,30 auch wenn aus sinnesgeschichtlicher Perspektive durchaus noch Forschungsbedarf besteht. Indem frühneuzeitliche Obrigkeiten Kleidung und Konsumverhalten einer ständischen Differenzierung unterwarfen, schufen bzw. förderten sie unterschiedliche Wahrnehmungsräume, in denen die Sinne der Einwohner einer Stadt jeweils spezifisch habitualisiert wurden.31 Die daraus resultierenden Differenzen stellten keineswegs »feine Unterschiede« (Bourdieu) dar, sondern waren womöglich ausgeprägter als die Gemeinsamkeiten, welche alle Bewohnerinnen und Bewohner einer frühneuzeitlichen Stadt miteinander verbanden. Eine Möglichkeit, sozial differenzierte Wahrnehmungsweisen in die Analyse zu integrieren, bietet 26 Burke, 1993, S. 23-31, zum Verfahren, S. 97-109, zum »Lebensstil«; Zimmer, 2013. 27 Löw, 2010a, S. 102. 28 Ebd., S. 112f., Zitat S. 112. 29 Roodenburg, 2014b, S. 12f. 30 Hunt, 1996; Iseli, 2009, S. 37-45; vgl. Atkinson, 2014, S. 25-28, 39f. 31 Vgl. hierzu Howes/Classen, 2014, S. 65-92. Auch die Konsequenzen dieser Unterschiede für das Funktionieren einer Vergesellschaftung unter Anwesenden sind noch eingehender zu untersuchen: vgl. Schlögl, 2008. 145
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der Ansatz von Werner Schiffauer und anderen Kulturanthropologen, die die »Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten« von einer Typologie unterschiedlicher Berufskulturen her interpretieren, denn in jeder Stadt finde man sie in einem jeweils spezifischen Mischungsverhältnis vor.32 Will man den Entstehungsprozess eigenlogischer Wahrnehmungsmuster in einer longue durée nachzeichnen, kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu. Zwar hat sich die biologische Funktionsweise der Sinne in historischen Zeiträumen kaum verändert, doch haben sowohl anthropologische als auch historische Untersuchungen inzwischen belegt, dass die Verarbeitung der Sinnesreize sehr wohl kulturell überformt und damit historischem Wandel unterworfen ist. Dies lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die selektive Aufmerksamkeit gegenüber dem stets vorherrschenden Überangebot an Sinnesreizen einerseits durch gesellschaftliche Normen und Tabus sowie andererseits durch die Gedächtnisspuren früherer Eindrücke gesteuert ist.33 Eine Kartierung von »sensuous geographies«, wie sie R. Murray Schafer bereits vor Jahrzehnten mit der Aufzeichnung von »soundscapes« begonnen hat und wie sie neuerdings auch in Form von »urban smellscapes« betrieben werden, ist für die Vormoderne daher nicht nur aus technischen Gründen lediglich ansatzweise möglich.34 Allenfalls lassen sich, falls es die Quellenlage erlaubt, Karten potentieller akustischer und olfaktorischer Emissionen durch Handwerksbetriebe erstellen.35 Von solchen »sensescapes«36 auf die Wahrnehmungen der Zeitgenossen zu schließen, wäre jedoch positivistisch.37 Der Historiker Mark M. Smith hat sich vehement dagegen ausgesprochen, die sensory history als Mittel zu verstehen, »to make the past come ›alive‹«. Man könne zwar den Klang eines Hammers beim Schlag auf einen Amboss von 1812, ja sogar den Geruch von Pferdedung um 1750 reproduzieren, dennoch sei es unmöglich, die Sinneseindrücke nachzuempfinden, die der Hammer oder der Pferdedung bei den Zeitgenossen auslöste. Daher sieht er die Aufgabe der sensory history darin, die Vergangenheit radikal 32 Wietschorke, 2013, S. 210. 33 Schwibbe, 2002, S. 7-9. 34 Missfelder, 2012, S. 36-39; Ders., 2015, S. 637-639; vgl. Atikinson, 2007; Henshaw, 2013; Reinarz, 2014, S. 177-208; vgl. Musner, 2009; Diaconu, 2011; sowie als Überblick Wietschorke, 2013, S. 211-213. 35 Hadamczyk /Kampherm, 1993; vgl. Dobson, 2003, S. 14. 36 Mit Bezug auf die Stadt: Diaconu, 2011; der Begriff geht zurück auf Classen/ Howes, 2006. 37 Missfelder, 2012, S. 34f. 146
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
zu historisieren. Anstatt sich populären Reenactments anzudienen, müsse sie helfen zu verhindern, dass Geschichte kommodifiziert und konsumiert wird.38 Dies wirft allerdings die Frage auf, wann und wo der Bruch zu verorten ist, der uns von den Wahrnehmungen unserer Vorfahren trennt. Diese Frage ist in der Sinnesgeschichte zunächst unter Bezug auf die von Marshall McLuhan und Walter J. Ong entwickelte Great Divide Theory diskutiert worden. Ihr zufolge habe der Sehsinn in der westlichen Welt einen langfristigen Aufstieg erlebt, der mit der Erfindung des Buchdrucks begann und durch die Renaissance, die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts und die Aufklärung weiter beschleunigt worden sei. Diesem unverkennbar modernisierungstheoretisch ausgerichteten Narrativ gemäß habe sich der Westen damit nicht nur von der primär oral/aural geprägten europäischen Vormoderne verabschiedet, sondern insbesondere auch die Distanz zum synästhetischen Weltverhältnis vorliterarischer außereuropäischer Kulturen vergrößert (daher Great Divide).39 Das McLuhanOng’sche Großnarrativ ist jedoch längst relativiert worden, allen voran dank der Arbeiten von Alain Corbin über die Bedeutung des Geruchssinnes und des Gehörs im 19. Jahrhundert.40 Mark M. Smith zufolge sollte die Geschichte der Sinne ohnehin nicht als eine Art Nullsummenspiel verstanden werden, in der der Aufstieg des einen zwangsläufig mit dem Bedeutungsverlust der anderen Sinne einhergehe. Er hält es für sinnvoller, den Wandel der »intersensoriality«, also des Zusammenwirkens mehrerer Sinne, zu untersuchen.41 Damit lässt sich die Frage nach einem Bruch zwischen den Sinneswelten von Moderne und Vormoderne nicht mehr so einfach beantworten, doch das Erklärungspotenzial eines solchen binären Modells ist ohnehin fraglich. Statt nach dem sensorischen Eigensinn der Vormoderne zu suchen, wie es noch Robert Mandrou getan hat,42 gilt es zu untersuchen, wie sich sowohl die Funktions- und Bedeutungszusammenhänge der einzelnen Sinne als auch deren Wechselwirkung historisch gewandelt haben – und zwar ohne von vornherein die etablierten Periodisierungen als gegeben hinzunehmen.43 Allerdings scheinen nicht nur die eingangs zitierten Ausschnitte aus Italo Calvinos Roman in ihrer Fokussierung auf das Sehen das Bild vom westlichen Okularzentrismus zu bestätigen. Auch in der städtegeschichtlichen Forschung 38 39 40 41 42 43
Smith, 2007b, S. 844-847. Ders., 2007a, S. 8-13. Corbin, 1984; Ders., 1995. Smith, 2007a, S. 125-128. Vgl. kritisch dazu Missfelder, 2012, S. 31-33. Mandrou, 1998, Kap. III.1 »Primauté de l’ouïe et du toucher«. Vgl. dazu auch Missfelder, 2012, S. 32f. 147
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standen – zuletzt noch einmal gefördert durch den Iconic Turn – visuelle Aspekte vormoderner Städte lange im Zentrum der Aufmerksamkeit.44 Erst seit ein paar Jahren ist ein Zuwachs an Arbeiten zu den anderen Sinnen, vor allem dem Hören, zu beobachten, wobei die von Smith eingeforderte »intersensoriality« nach wie vor ein Desiderat bleibt.45 Nicht viel anders ist es in der Soziologie, die erst seit kurzer Zeit ihre auch forschungsgeschichtlich begründete »Sinnesvergessenheit« hinter sich gelassen hat.46 Andreas Reckwitz hat im Anschluss an ein relationales Raumverständnis sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie Latours ein Modell der »affective spaces« entwickelt, dem zufolge soziale Praktiken »artefact-space arrangements« herstellen, die je nach ihrer Einbettung in kulturelle Schemata bestimmte Emotionen auslösen können. Reckwitz’ Modell ist nicht zuletzt deshalb für die Stadtgeschichte attraktiv, weil es Prozesse historischen Wandels von Sinneswahrnehmungen und Affekten mit einbezieht, und zwar nicht nur auf der Ebene der Diskurse, sondern auch – gut praxeologisch – auf der Ebene sozialer Praktiken.47 Die ›neue Sinnlichkeit‹ sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Soziologie verdankt wesentliche Impulse der Kulturanthropologie, allen voran den seit den 1980er Jahren erschienenen maßgeblichen Arbeiten des Teams um Constance Classen und David Howes an der Universität Montreal.48 Nicht ohne Grund fungiert Classen als Gesamtherausgeberin einer sechsbändigen Cultural History of the Senses.49 Allem sinnesgeschichtlichen Revisionismus zum Trotz lässt sich dennoch nicht von der Hand weisen, dass es seit Anbeginn der Neuzeit mehrere große Entwicklungsschübe in der Wahrnehmungsgeschichte gab: Neben dem rasanten Zuwachs des optischen und akustischen Wissens seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert, der sich auch auf die Wahrnehmungsweisen auswirkte, zählen dazu Veränderungen in der Wohnkultur bürgerlicher Eliten ab dem 17. Jahrhundert ebenso wie der Wandel der Hygienevorstellungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.50 Letztere wirkten sich in Form von großangelegten Stadt-Assa44 Behringer /Roeck, 1999; Roeck, 2006; vgl. auch Ders., 2004. 45 Garrioch, 2003; Cockayne, 2007; Cowan/Steward, 2007; vgl. den Überblick bei Burke, 2014. 46 Reckwitz, 2015, S. 442-444; vgl. den umfassenden Forschungsüberblick bei Göbel/Prinz, 2015, S. 9-49. 47 Reckwitz, 2012, S. 249-256; vgl. Scheer, 2012, S. 209-217. 48 Um nur einige zu nennen: Classen, 1993; Dies. u.a., 1994; Howes, 2004; Classen, 2012; Howes/Classen, 2014. 49 Classen, 2014. 50 Mancosu, 2006; Crowley, 2001, vgl. zu London Heyl, 2004. 148
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
nierungsprojekten massiv auf die Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert aus.51 Ferner ist für die Frühe Neuzeit der Einfluss konfessionell geprägter Leitvorstellungen und Praktiken auf städtische Strukturen und Lebensweisen nicht zu unterschätzen, wie es der zitierte Ausschnitt aus Friedrich Nicolais Reisebericht erkennen lässt.52 Wie viel Platz lassen solche Großtrends noch für die langfristige Entwicklung städtischer Eigenlogiken? Oder sind diese eher in der jeweils stadtspezifischen Aneignung jener Entwicklungen zu suchen? Auf einer forschungspraktischen Ebene stellen das Auffinden von geeigneten Quellen und die Beurteilung ihres jeweiligen Aussagewerts für die Erforschung vormoderner städtischer Eigenlogiken den Historiker bzw. die Historikerin vor Herausforderungen. Einblicke in die normative Perspektive städtischer Obrigkeiten auf die Sinne bieten die mitunter in beträchtlicher Anzahl überlieferten Verordnungen; deren Implementierung sowie eigensinniges Verhalten der Bevölkerung ist in Rats- oder Amtsprotokollen sowie Prozessakten greifbar.53 Hinzu kommt die ebenfalls bereits angesprochene Möglichkeit der Kartierung potentieller Sinnesreize. Einblicke in subjektive Wahrnehmungen gewähren hingegen nur Selbstzeugnisse wie Tagebücher sowie – insoweit sie egodokumentarischen Charakter haben – Chroniken und Reiseberichte.54 Bei diesen Quellen ist man jedoch mit dem generell für die Körpergeschichte geltenden Problem konfrontiert, dass nur verschriftlicht ist, was für sagbar erachtet und daher diskursiviert wurde, so dass ungewiss bleibt, inwiefern die in den Quellen greifbaren KörperDiskurse hintergehbar und somit die Körperempfindungen historischer Akteure überhaupt greifbar sind.55 Zu erwähnen ist ferner die im Zuge des aktuellen Material Turn stärker in die Aufmerksamkeit gerückte dingliche Überlieferung, die freilich in der Volkskultur bzw. europäischen Ethnologie bereits seit langem erforscht wird; als Beispiel für Objekte aus dem städtischen Kontext, die eng in soziale Praktiken eingebunden sind, seien hier die sogenannten Zunftaltertümer genannt.56 Schließlich bleiben noch bildliche Darstellungen, deren Quellenwert 51 Rodriguez-Lores/Fehl, 1985; Reinarz, 2014, S. 187-196. 52 Stellvertretend sei hier (wegen seines direkten Bezugs auf Nicolai) nur genannt: Holzem, 2013. 53 Vgl. hierzu Härter /Stolleis, 1996ff. 54 Einschlägig hierzu: Schulze, 1996; Greyerz u.a., 2001; aus der Perspektive der Sinnesgeschichte: Jütte, 2000, S. 23f. 55 Sarasin, 1999. 56 Hamling/Richardson, 2010; vgl. Richardson u.a., 2017; zu Zunftaltertümern s. Reininghaus, 1998. 149
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für die Sinnesgeschichte sich längst nicht im Visuellen erschöpft, weil sie auch Hinweise auf Praktiken geben können, die den Tastsinn betreffen.57 Einschränkend ist zudem festzuhalten, dass sich sinnliche Wahrnehmungen – im Gegensatz etwa zur Gangart wie bei Nicolai oder Löw – von Außenstehenden nur in sehr begrenztem Umfang beobachten lassen, was die Möglichkeit ihrer Beschreibung bzw. bildlichen Darstellung durch andere limitiert. Außerdem gilt insbesondere für das Riechen und Hören, dass die Sinne einer mitunter erstaunlich raschen Habitualisierung an Reize unterliegen – und nicht mehr bewusst Wahrgenommenes hinterlässt keine Spuren in den Quellen.58 Aufgeschrieben wurden also eher diejenigen Sinneseindrücke, die man bewusst wahrnahm, weil sie ungewohnt waren. Damit wird man auf die eingangs gestellte Frage zurückgeworfen, ob das habitualisierte Nicht-Wahrnehmen der Stadtbewohner nicht eigentlich das Zentrum einer »sensorischen Eigenlogik« bildet, die in historischer Perspektive kaum mehr rekonstruierbar ist – oder vielleicht doch?
2. Städtische Eigenlogik in der Vormoderne? Die Reichsstadt Ulm vom späten Mittelalter bis in die 1780er Jahre Die bei der nun folgenden Analyse eines Fallbeispiels angewandte Vorgehensweise sucht das arbiträre Element zu umgehen, das dem von Martina Löw empfohlenen Städtevergleich zur Identifikation städtischer Eigenlogiken letztlich innewohnt. Es wird daher nur um eine einzige Stadt gehen, deren Eigenarten aber durch eine Verschränkung dreier Perspektiven beleuchtet werden sollen: erstens der Fremdperspektive von Besuchern der Stadt, zweitens des Blicks der Einwohner auf ihre eigene Stadt sowie drittens deren Wahrnehmungen, wenn sie ihrerseits andere Städte besuchten.59 Was wurde von wem in der Stadt wahrgenommen? Inwieweit waren in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft überhaupt die Bedingungen für die Herausbildung eigenlogischer Wahrnehmungsmuster gegeben? Lassen sich Wahrnehmungsweisen rekonstruieren, die den 57 Gilman, 1993; Jütte, 2000, S. 83-96. 58 Jenner, 2011, S. 342. 59 Die anderen oben angesprochenen Quellengattungen können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht berücksichtigt werden. Das Folgende entstammt dem Kontext meines Habilitationsprojekts mit dem Arbeitstitel »Sensory Communities: Perception, Order, and Community Building in the Premodern Town, ca. 1470-1880«. 150
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
Einwohnern gemeinsam waren und die sie zugleich von denjenigen anderer Städte unterschieden? Im Zentrum steht nicht Frankfurt am Main, sondern die bis 1802 ebenfalls freie Reichsstadt Ulm an der Donau. Abgesehen von diesem Status und der Lage am Fluss hatten (und haben) die beiden Städte wenig gemein. Im Fall Frankfurts war es neben der Eigenschaft als Wahlort des Römischen Kaisers und dem Judenghetto vor allem die Messe, die in Reiseberichten seit dem späten Mittelalter als Besonderheit der Stadt hervorgehoben wird.60 Über mehrere Brüche in der politischen Geschichte der Stadt hinweg blieb die Messe und, damit verbunden, eine starke Ausrichtung auf wirtschaftlichen Erfolg die einzige langfristige Konstante im Selbstverständnis der Stadt, die eine eigenlogische Dynamik entfaltet hat, wie etwa an der Herausbildung einer spezifischen Modeszene in den letzten Jahrzehnten erkennbar ist. So lautet zumindest eine aktuelle stadtsoziologische Interpretation, die allerdings aus frühneuzeithistorischer Perspektive zu einseitig erscheint.61 Im Fall Ulms liegt weniger offensichtlich auf der Hand, was die Eigenlogik dieser Stadt ausmachen könnte.62 Die Stadt ist heute weltbekannt für ihr Münster mit dem höchsten Kirchturm der Welt, der allerdings erst 1890 vollendet wurde.63 Der bereits kurz zu Wort gekommene Friedrich Nicolai urteilte in der Beschreibung seiner Reise 1781, dass das Münster »wirklich Aufmerksamkeit« verdiene, denn es sei hinsichtlich der Ausmaße seines Innenraums »in Deutschland das einzige in seiner Art«.64 Damit stand er in einer langen Tradition, die sich bis zum Reisebericht eines jungen Venezianers aus dem Jahr 1492 zurückverfolgen lässt.65 Auch für die Ulmer selbst blieb das Münster über die Jahrhunderte hinweg nicht nur der sichtbare Mittelpunkt des Stadtbildes, sondern war (zunächst) die einzige Pfarrkirche und der größte Innenraum der Stadt, in dem sich an Sonn- und Feiertagen ein Großteil der Einwohner versammelte und durch gemeinsame Wahrnehmungen wichtige Prägungen erfuhr.66 Nicolai suchte und fand den »allgemeinen Charakter der Bürger Ulms«, wie er es nannte, aber nicht in ihrer Pfarrkirche, sondern in den Häusern der Stadt 60 Dülmen, 1992, S. 67-71. 61 Siekermann, 2014, S. 238f. Ich danke Julia A. Schmidt-Funke für den kritischen Hinweis. 62 Vgl. Löw, 2010b, Klappentext. 63 Zum Ulmer Münster s. v.a. Specker /Wortmann, 1977. 64 Nicolai, 1795, S. 17f. 65 Franceschi, 1903. 66 Hahn, 2014; vgl. Dietel, 1977. 151
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und in den Gesichtern der Menschen. Die Ulmer Häuser seien zwar »entweder plumpe massive Steinmassen, oder elende hölzerne Gebäude«, denen es im Innern »sehr an Bequemlichkeit und fast immer an Zierlichkeit« fehle und deren Möblierung »so sehr einfach« sei, »daß man sie fast schlecht nennen möchte«.67 Dennoch sehe man in der Stadt »allenthalben so viel ruhige und frohe Gesichter, daß man bald merkt, der anscheinende Mangel an Bequemlichkeiten entstehe nicht aus Dürftigkeit, sondern sey bloß Landessitte«. Und so verwundert es nicht, dass der Aufklärer diese Beobachtung zu einer verallgemeinernden Reflexion nutzte – schließlich war ihm an der »Gemeinnützigkeit«68 seines Reiseberichts gelegen: »In jedem Gesichte sieht man so sehr die Züge der Zufriedenheit, daß man hier anschauend empfindet, der Mensch brauche wenig, um glücklich zu seyn, wenn er sich selbst nicht erkünstelte Bedürfnisse macht.«69 Erneut scheint man hier mehr über Nicolai bzw. die Berliner Aufklärung zu erfahren als über seine Ulmer Zeitgenossen. Dass Bürger dieser Stadt nämlich zu eben dieser Zeit vor dem Reichshofrat gegen ihren von Patriziern dominierten Rat prozessierten, passte nicht so recht in Nicolais Bild von der Ulmer »Glückseligkeit«. Wie es kam, dass »ein so zufriedenes, mit so Wenigem vergnügtes Völkchen mit seiner Obrigkeit unzufrieden seyn könnte«, konnte er sich nur damit erklären, dass es ein »Mißverhältniß irgend einer Art in der Regierung« der Stadt gebe.70 Auf seinen eigenen Vorschlag zur Lösung des Konflikts wird noch zurückzukommen sein. Zunächst einmal ist also zu hinterfragen, wie glaubwürdig seine Beobachtungen über den Ulmer »Charakter« sind. Nicolai entnimmt den Gesichtszügen der Menschen eine Zufriedenheit, die er letztlich auf eine Differenz in der Wahrnehmung zurückführt: Was in den Augen des aus Berlin Zugereisten »elende« und »schlecht« eingerichtete Häuser sind, war für die Ulmer ein gewohntes Umfeld. Einmal abgesehen davon, dass auch die zeitgenössischen Wohnverhältnisse in Berlin noch manches zu wünschen übrig ließen,71 lohnt daher ein Perspektivwechsel auf die Seite der Ulmer. Der Patrizier Anton Schermar notierte in seinem Reisetagebuch aus den 1620er Jahren einige vergleichende Überlegungen über die Schönheit von Städten. »Gar schöne Stätt« wie in den Niederlanden und in Italien dürfe man etwa in Frankreich nicht erwarten. Während die Franzosen gemeinhin Orléans für die schönste Stadt des Landes hielten, könne 67 68 69 70 71 152
Nicolai, 1795, S. 17, 135. Zit. nach Bödeker, 2008, S. 308. Nicolai, 1795, S. 132. Ebd., S. 134f. Biskup, 2008, S. 66f., 73; vgl. Zelljadt, 2008, S. 128-131.
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er dies »nicht befünden«. Seine persönliche Favoritenliste der sechs schönsten Städte Frankreichs beginnt stattdessen mit Bordeaux, »wegen vüler schöner zirlicher gebäw, und weite der gaßen, auch weil sie schön am waßer gelegen, und einen Meerhaffen hat, eine schöne statt«.72 Leider ist nicht überliefert, wie Schermar mit seinen an der Schönheit ausländischer Städte geschulten Augen seine eigene Heimatstadt wahrnahm, die keineswegs diesen Kriterien entsprach. Schermars Zeitgenosse, der Ulmer Stadtbaumeister Joseph Furttenbach d. Ä., war ebenfalls als junger Mann gereist und hatte in Italien die zeitgenössische Architektur studiert. Zurück in Ulm, produzierte er zahlreiche Bauentwürfe, die stark von seinen Eindrücken aus Italien inspiriert waren, von denen jedoch nur ein kleiner Teil umgesetzt wurde. Zumindest Angehörige der Ulmer Oberschicht waren also in ihren Vorstellungen und Erwartungen an eine Stadt nicht allein vom Aussehen ihrer Heimatstadt geprägt, denn sie hatten ihre Augen an den Stadtbildern unterschiedlicher europäischer Städte geschult. Für sich selbst baute Furttenbach ein bestehendes Haus in Ulm um, um es seinen gestiegenen Bedürfnissen anzupassen. Beispielsweise plante er auf jedem Stockwerk des Hauses den Einbau eines Aborts ein, und zwar in der Mitte des Hauses, damit man sich seiner »mit guter Commoditet bedienen« könne, zugleich aber von »frembden Personen gleichsamb nit wahrgenommen« werde. Um sicherzugehen, dass »einiger böser Geruch/deßhalben in disem gantzen Hauß nit zu spüren« sei, baute er Entlüftungsrohre ein.73 Furttenbach bot seinen zahlreichen, teils weitgereisten Gästen Führungen durch sein Haus und ließ die Umbaupläne sogar drucken, um sie einem größeren Publikum bekannt zu machen. Mit seinen Vorstellungen von Wohnkomfort befand er sich international auf der Höhe der Zeit.74 Zwar kam nur ein Bruchteil der Ulmer Bevölkerung in den Genuss eines vergleichbaren Wohnumfeldes, doch belegt der von Furttenbach geleitete Umbau von Wachtstuben auf der Ulmer Bastionärsbefestigung 1632, dass er auch an Verbesserungen für die unteren Schichten dachte: Er ließ nämlich darin die Öfen so einbauen, dass sie nicht nur die Offiziers- und Schreibstube, sondern auch die große Wachstube zu wärmen vermochten, »dahero die gemeine Soldaten dise Invention wol geniessen mögen, wie die Experienza solches genuegsam zuerkennen gibt«.75 Dennoch drifteten die Wahrnehmungswelten der Ulmer Oberschicht und der übrigen Stadtbevölkerung zunehmend auseinander: Die Tagebucheinträge des Ratskonsulenten Dr. Johann Georg Fries aus den ers72 73 74 75
Schermar, 1623-1626, unpag.; vgl. Lang, 2011b, S. 188. Furttenbach, 1641, S. 10f. Crowley, 1999; Zaugg 2013, S. 40. Furttenbach, 1633-1634, S. 21. 153
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ten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts berichten immer wieder über junge Patrizier und Großkaufleute, die einem ausschweifenden Lebensstil frönten, ihren herausragenden sozialen Status zur Schau stellten und wenig Rücksicht auf andere Einwohner der Stadt nahmen.76 Vor dem Hintergrund dieser lokalen Entwicklungen, die zum Zeitpunkt der Durchreise Friedrich Nicolais bereits mehr als anderthalb Jahrhunderte zurücklagen, erscheint kaum glaubwürdig, dass es sich bei den Ulmern tatsächlich um ein »mit so Wenigem vergnügtes Völkchen« handelte, wie er glauben wollte. Auch für die von ihm gleichsam als Abweichung vom eigentlichem »Charakter« der Ulmer wahrgenommenen Bürgerprozesse lassen sich längerfristig zurückreichende Ursachen identifizieren.77 Nicolais Urteil über die Ulmer »Glückseligkeit« fiel vermutlich nicht zuletzt deshalb so aus, weil sie sich in seinen Augen deutlich von der »beständige[n] Begierde nach Genuß« unterschied, die er zuvor in Wien beobachtet haben wollte. Auch war Nicolai als Protestant in Ulm nicht, wie in Oberfranken und in Bayern, mit den von ihm als obsolet erachteten Ausdrucksformen katholischer Frömmigkeit konfrontiert.78 Dennoch traf Nicolai auch in Ulm auf Bräuche, die dem »engagierten, aufgeklärten bürgerlichen Reisenden«, wie Hans-Erich Bödeker ihn charakterisiert hat, nicht minder fremd waren.79 Dies gilt insbesondere für die großen Ulmer Leichenbegängnisse, die Nicolai ausführlich schilderte, weil ihm »die Form dieser Feyerlichkeit original und einzig in ihrer Art« erschien und weil zumindest die Leichenzüge der höheren Stände einen beträchtlichen Teil der Einwohnerschaft involvierten.80 Was ihn offensichtlich daran faszinierte, waren die körperlichen Strapazen, die die Teilnehmer dabei zu ertragen hatten, vor allem wenn das Wetter schwül war, ein Platzregen niederging oder es hagelte, während sich der Leichenzug langsam vor dem Trauerhaus aufstellte. Dieser wurde angeführt von den sechs leidtragenden Männern, die »etwas bedachtsam« gehen mussten, »damit sie wegen des schwarzen Lappens vor der Nase nicht fallen«. Nicolai gab sich gar nicht erst Mühe, seinen Spott zu verbergen; die eigentliche Funktion dieses vom Hut bis vor die Augen herabhängenden Tuchlappens im Ulmer Trauerritual interessierte ihn nicht weiter: Während die leidtragenden Männer nämlich im Haus die Kondolenzbezeigun76 Lang, 2011a, S. 80f. 77 Zu den Bürgerprozessen s.a. Palaoro, 2013; eine zeitgenössische Außenperspektive bietet Gaum, 1784, S. 225-230. 78 Bödeker, 2008, S. 318f., 324. 79 Ebd., S. 306. 80 Nicolai, 1795, S. 122-131; auch abgedruckt in: Krünitz, 1800, S. 670-678. 154
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gen entgegennahmen, konnten sie auf diese Weise nicht erkennen, wer ihnen gerade den »treuherzigen Händedruck« gab, darunter auch »Frauen geringern Standes, gebeten oder nicht gebeten«. Die Ständeordnung der Stadtgesellschaft war also kurzfristig aufgehoben; wenn der Leichenlader anschließend auf der Gasse »jeden nach seinem Range« zur Aufstellung im Trauerzug aufrief, wurde diese Ordnung akustisch und visuell wiederhergestellt. Ob Nicolai selbst einem solchen Leichenbegängnis beigewohnt hatte, gab er nicht zu erkennen, auch verschwieg er die Quelle seiner Ausführungen. Er wies allerdings ausdrücklich darauf hin, dass es möglicherweise in anderen Reichsstädten ähnliche Bräuche gab, deren etwaige Ansprüche auf ihre »langweilige Originalität der Leichenbegleitungen« er mit seinem Bericht keineswegs in Frage stellen wolle.81 Über die Wahrnehmungen und Empfindungen der Teilnehmer eines solchen Leichenzugs erfährt man bei Nicolai kaum etwas. Einmal bemerkt er, »die Ulmische Gravität erlaubt doch, daß von den leichenbegleitenden Frauen den leidtragenden Frauenzimmern Gesellschaft geleistet und dabey etwas geschwatzt werde; doch versteht sich, sehr traurig«.82 Allerdings scheint es auch in Ulm Kritiker der traditionellen Trauerrituale gegeben zu haben: Nicolai verweist auf eine 1788 (also erst sieben Jahre nach seiner Reise) gedruckte Anzeige einer »Gesellschaft vernünftiger Patrioten«, unterzeichnet von Angehörigen »aller Stände […] aber keine[m] Patricier«.83 Exemplare dieses »Avertissement« sind erhalten und erlauben einen Einblick, wie knapp 60 Ulmer Bürger zwar nicht den Leichenzug selbst, aber die traditionellen Vorschriften für die sich anschließende Trauerzeit einfach umgingen.84 Der Rat habe zwar »schon mehrmals […] den rühmlichen Vorsatz gehabt, eine Einschränkung des unnöthigen Aufwands bey der Trauer zu verfügen«, doch sei »wegen des durchkreuzenden Interesse verschiedener Stände« bislang nichts daraus geworden. Daher hätten sich die Unterzeichner »einstweilen, und bis eine hochobrigkeitliche Verfügung allenfalls eintreten wird«, zu einem Programm von sechs Punkten »untereinander verbindlich gemacht«: Unter anderem wolle man im Trauerfall die »tiefe Trauer« nur bis zum Ende der Beerdigung tragen; anschließend genüge auch für die nahen Anverwandten das Tragen eines Flors am Arm bzw. eines schwarzen Bandes am Hut. Es überrascht kaum, dass Nicolai diese »löbliche patriotische Vereinigung« nicht nur begrüßte, sondern auch 81 Nicolai, 1795, S. 123, 125f., 131. Zur Interpretation des Rituals s. Dörk, 2004, S. 529-536. 82 Nicolai, 1795, S. 124f. 83 Ebd., S. 131. 84 Für das Folgende: StA Ulm, G 1 1800/2, Bd. 4, S. 1060f. 155
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die Hoffnung ausdrückte, dass sich ihr inzwischen (1795) auch Angehörige des Patriziats angeschlossen hätten. So »original« wie die Ulmer Trauerrituale gewesen sein mögen, hatten sie offenbar zu diesem Zeitpunkt für einen repräsentativen Querschnitt der Stadtgesellschaft längst ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Die Leichenzüge waren längst nicht das einzige, was Nicolai in Ulm negativ auffiel. Vor allem stieß er sich an dem »Müßiggange und der Verschwendung des gemeinen Mannes in Ulm«, für die er hier nicht einmal, wie andernorts in Süddeutschland, die katholischen Feiertage verantwortlich machen konnte (sehr wohl aber die großen Leichenzüge, die »viele halbe Tage« wegnähmen).85 Es handelte sich hier also in den Augen des Norddeutschen keineswegs um ein Charakteristikum Ulms, sondern um ein Phänomen, das im süddeutschen Raum allenthalben zu beobachten war und das seinen eigenen bürgerlichen Tugendidealen von Fleiß, Sparsamkeit und ökonomischer Vorsorge widersprach.86 Doch gab es in Ulm eine »seltsame Gewohnheit«, die man »auswärts unglaublich finden wird«, nämlich die »Aderlaßfeste«. Da Nicolai ein solches Fest nicht persönlich erlebt hatte, bot er seinen Lesern hierüber den Bericht eines anonymen Verfassers aus dem Jahr 1787. Wenn jemand sich zur Ader lasse, so verbringe er die nächsten drei Tage »mit Müßiggang und Verschwendung«, und zwar nicht nur allein, sondern mit seiner ganzen Familie und seinen Bekannten, die diese Einladung dann zu einer anderen Zeit erwiderten. Da jeder in Ulm sich zwei- bis viermal im Jahr zur Ader lasse, komme hierdurch für jeden eine beträchtliche Anzahl an arbeitsfreien Tagen zusammen, die der »gemeine Bürger so gut als die Vornehmen« in Gasthöfen mit üppigem Essen und »hitzige[m] Neckar- und Tyrolerwein« sowie »starken Lagerbieren« feierten. Auf diese Weise, resümierte der Verfasser spöttisch, sammele man »immer wieder neue Voranlassung« für das nächste Aderlassfest.87 Dieses Verhalten, das der Berichterstatter in den 1780er Jahren für »unglaublich« hielt, konnte (nicht nur) in Ulm auf eine längere Tradition zurückblicken. Vom Anfang des 17. Jahrhunderts datiert ein Gemälde (Abb. 1), das eine Gruppe von acht jungen Ulmer Patriziern zeigt, die in einer holzgetäfelten Stube mit entblößtem Oberkörper im Halbkreis um einen Kachelofen sitzen und sich von einem Bader schröpfen lassen.88 Die Herren sind jeweils durch Wappendarstellungen zu ihren Füßen identifizierbar: Gleich drei von ihnen gehören 85 86 87 88 156
Nicolai, 1795, S. 61; s.a. Gaum, 1784, S. 234f.; vgl. Bödeker, 2008, S. 318. Bödeker, 2008, S. 318f.; vgl. hierzu auch Hersche, 1989. Nicolai, 1795, S. 61 und Beilage VI.1, S. 23f. Zum Folgenden Seiz, 1985.
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
Abb. 1: Hans Denzel, Junge Ulmer Patrizier werden während eines Trinkgelages vom Wundarzt geschröpft, Öl auf Holz, 130 x 196 cm, Ulmer Museum, Inv. Nr. 1985.1940.9190, 1604. © Ulmer Museum, Ulm, Aufnahme: Bernd Kegler, Ulm.
der alten Ulmer Patrizierfamilie Besserer an, die mehrere Bürgermeister hervorgebracht hat. Zwei der jungen Männer halten ein großes Glas in der Hand, auf den Tischen liegen ein paar angeschnittene Brote. An der hinteren Wand hängt wahrscheinlich ein Kalender, dem man die für das Schröpfen und Aderlassen geeigneten Tage entnehmen konnte. Die untere Bildmitte wird von der folgenden Inschrift ausgefüllt: »Als man Zält Sechzehnhundert vier | Ist dise Pompam Allhier | Ohn Alßgefahr zue samen kom[m]en | Als sie vom Wiert hatten vernom[m]en | Das er Jm wolte schrepffen lassen | Sie Alle gleich zuesamen Sassen | Vnd liessen schrepffen wie man sieht | Keiner wolt sich Dezidern Nicht | Haben als bald den Mahler betten | Der sie All solte Conterfeten, | Zue gueter gedechtniß das geschehn | Wie man hie eß tut vor Augen sehen.«
Warum die jungen Patrizier diese Veranstaltung für so bemerkenswert hielten, dass sie sich dabei porträtieren ließen, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Schließlich war es zu dieser Zeit durchaus noch üblich, Schröpfen und andere Behandlungen durch den Bader mit einer Bewirtung zu kombinieren. Allerdings 157
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lässt sich in Ulm und anderswo schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine zunehmende Reglementierung des Badebetriebs beobachten. Vor allem versuchte der Rat, Handwerker und Dienstboten am zu häufigen Baden zu hindern und die Errichtung und Nutzung privater Badstuben einzuschränken.89 Möglicherweise diente das Gruppenporträt also auch der Zurschaustellung eines privilegierten Verhaltens; dies würde auch erklären, warum die Herren mit ihren Wappen dargestellt sind. Die Ulmer »Aderlaßfeste«, die einem Fremden im ausgehenden 18. Jahrhunderts so »unglaublich« erschienen, stellten also nur den lokalen Überrest einer ursprünglich alles andere als außergewöhnlichen Praxis dar. Was sie als eigenlogisch erscheinen ließ, war der inzwischen gewandelte medizinische und hygienische Kontext.90 Vermutlich interpretierte der Verfasser des Berichts über die »Aderlaßfeste« diese vor allem als Ausdruck einer allgemeinen Grundstimmung, denn »Kopfhängerey ist in Ulm nie Mode gewesen«, wie er behauptet. Vielmehr sei »der Geist des Volkes zur unbefangenen Fröhlichkeit gestimmt«, der sich darin äußere, dass die Ulmer nicht nur daheim, sondern in »öffentlichen Gasthöfen« Feste feierten, bei denen »der Zusammenfluß so mannichfaltiger Menschen aus allen Ständen den Ton der gesellschaftlichen Vertraulichkeit und der unbesorgten Mittheilung angiebt«.91 Nicolai selbst sah dies allerdings anders. Zwar hatte er in Ulm persönlich am sogenannten »Berg« teilgenommen, einem alljährlich in den Schulferien nach dem Johannistag stattfindenden Kinderfest vor den Toren der Stadt, bei dem sich die Schulkinder in Begleitung ihrer Eltern und Verwandten »mit Tanzen, Springen und Essen vergnügen«. Er bekannte auch, dass dies für ihn »ein sehr angenehmer Anblick« gewesen war und er ohnehin »ein großer Freund von allen Nationalfesten« sei, »welche den Gemeinsinn mehr befördern als man glaubt«. Doch genau dies fehlte ihm in Ulm: »Wären die Patricier in Ulm nicht so ganz von den Bürgern getrennt, sondern hielten zuweilen einen Berg mit den Bürgern«, so würden sie möglicherweise nicht vor dem Reichshofrat gegeneinander prozessieren. Die »Herren vom Patriciate« seien jedoch »weit davon entfernt, diese Vereinigung in Gesellschaften zu suchen«. Stattdessen zögen sie sich für Festlichkeiten immer in die ihnen vorbehaltene sogenannte »Bürgerstube« (auch Obere Stube genannt) zurück, die kein »bürgerliches Geschöpf« ohne Sondererlaubnis betreten dürfe.92 89 Kinzelbach, 1995, S. 88-95; Roeck, 2000, S. 30f.; Winckelmann u.a., 2013, S. 9198; vgl. Büchner, 2014, S. 38f., 78f. 90 Vigarello, 1988; Frey, 1997; Smith, 22008. 91 Nicolai, 1795, Beilage VI.1, S. 45f. 92 Nicolai, 1795, S. 144-146. 158
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
Genau dies pflegten die Ulmer Patrizier auch am alljährlichen Schwörtag zu tun, den Nicolai erstaunlicherweise nur kurz erwähnt.93 Zwar hatte dieser Tag, an dem die erwachsene männliche Bevölkerung der Stadt auf dem Weinhof vor dem Schwörhaus einen Eid auf die Stadtverfassung schwor und der neugewählte Bürgermeister seinen Amtseid ablegte, durch die Verfassungsänderung durch Karl V. 1548 seine eigentliche politische Bedeutung verloren. Seit seiner Wiedereinführung 1558 war er jedoch, bereichert um Elemente aus der nach der Reformation abgeschafften Fastnacht, rasch zum Höhepunkt des Ulmer Festkalenders geworden.94 Der Ulmer Kartograph und Schulmeister David Seltzlin schrieb über den Schwörakt in seinem Lobgedicht auf die Stadt Ulm (1566/67): »Mein Lebenlang hab ich doch nie | Solch Einigkait gesehen«. Anschließend passierte allerdings das, was Nicolai später kritisierte: »Ein ersamer Ratt sich bald wendt, | An ir alters gebreüchig Orth«, also in die Obere Stube, während ein »yede Zunfft thet auch hingon | Wo iede ir Tzunffthaus thett hon, | Nach altem Brauch ein Trunckh zethan«. Die dann folgende gereimte Aufzählung der Namen aller 18 Zunftherbergen unterstreicht umso mehr den Eindruck, dass die Stadt in ständisch und zünftig getrennte Festgemeinschaften zerfiel.95 Zudem ist zu bedenken, dass Männer aus unterbürgerlichen Schichten zwar am Schwurakt teilnahmen, von diesen Umtrünken aber ausgeschlossen waren; Frauen waren sogar auf dem Weinhof nur ungern als Zaungäste gesehen. Andererseits bekamen die Kinder im Waisenhaus am Schwörtag eine halbe Maß Wein und ein Brot von der Kramerzunft geschenkt, erlebten diesen Tag also zumindest geschmacklich als eine Verbesserung ihres regulären Speiseplans.96 Glaubt man Johann Ferdinand Gaum, Professor an der Klosterschule Blaubeu ren und Verfasser einer 1784 gedruckten Reisebeschreibung durch Schwaben in Briefform, so war der Ulmer Schwörtag mit so großer Verschwendung verbunden, dass manche Familien von dem, was sie in den paar Tagen ausgaben, mehrere Monate hätten leben können. Wollte jemand allerdings dieser »verderblichen Ueppigkeit« Einhalt gebieten und versuchen, »gewisse Unordnungen abzustellen«, könne er dafür »wenig Ehre« erwarten und würde »vielleicht gar Unruhen erregen«.97 Was man sich unter diesen »Unordnungen« vorzustellen hat, illus trieren zahlreiche Einträge in den Ratsprotokollen sowie Ratsdekrete des 17. und 18. Jahrhunderts, die den feuchtfröhlichen Charakter des Schwörtags dokumen93 94 95 96 97
Ebd., S. 147. Petershagen, 1999. Zit. ebd., S. 151f. Petershagen, 1999, S. 74f., 116, 166f., 187-189; zum Waisenhaus vgl. Kurz, 1928. Gaum, 1784, S. 246f.; zur Biographie s. WKGO. 159
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tieren. 1647 sah sich der Rat sogar genötigt, die städtischen Ordnungskräfte zu ermahnen, »nit selbsten voll und bezecht uf den Weinhoff [zu] erscheinen«; 1777 beschwerte man sich über das »ärgerliche, wilde und ruheloße […] beschwehrliche Geschrey und Geiohl« von Frauen und Kindern während des Schwöraktes.98 Deutlich harmloser klingt die Perspektive eines siebzehnjährigen Teilnehmers, wie sie die Erinnerungen des in Ulm geborenen Stuttgarter Rechnungsrats Friedrich Ludwig Bührlen an einen Schwörtag der 1790er Jahre bieten: »Eine derlei hehre Feier übergießt aber alles mit farbigem Schein, und das Gemeingefühl von ihr ist gemischt aus Bürgersinn, Kleider‑, Obst-, Blumenlust und Vorempfindung des mittäglichen Leibgerichts und Backwerks fürs Abendbrod.« Für den Gymnasialschüler, der sich zudem auf den Anblick »weiblicher Schönheiten« in den Gaststätten außerhalb der Stadt freute, spielte es offenbar keine Rolle, dass Patriziat und Zünfte getrennt voneinander feierten; er spricht ganz allgemein von »Gemeingefühl« und »Bürgersinn«, wobei auffällig ist, wie sehr beides mit sinnlichen Eindrücken verschiedenster Art verknüpft war.99 Hinsichtlich der Ulmer Festkultur, die in ihren Ausprägungen sowohl von fremden Beobachtern als auch Einheimischen als charakteristisch, mitunter einzigartig für Ulm wahrgenommen wurde, bieten die Quellen also ein ambivalentes Bild: Neben verallgemeinernden Aussagen über den »Geist des Volkes« einerseits stehen das Wissen um bzw. die Kritik an der lokalen Tradition ständisch ausdifferenzierten Feierns. Während Nicolai bei der Veröffentlichung der Beschreibung seines Ulm-Besuchs 1795 das Fehlen von gemeinschaftsstiftenden Festen beklagte, meinte der Ulmer Schüler Bührlen etwa zur gleichen Zeit am Schwörtag das »Gemeingefühl« der Stadt sinnlich zu erfahren – zumindest sah er dies so in der Rückschau. Ob seine Vorfahren im 16. und 17. Jahrhundert dies ähnlich wahrgenommen hatten, ist angesichts der stände- und gruppenspezifisch unterschiedlichen Entwicklung des Verhaltens am Schwörtag seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu bezweifeln, auch wenn Seltzlin in den getrennten Trinkstuben noch keinen Widerspruch zur »Einigkait« der erwachsenen männlichen Stadtbevölkerung gesehen hatte.100 Auch die Schröpfgelage bzw. Aderlassfeste spielten sich unter Standesgenossen oder innerhalb von Verwandt- und Bekanntschaftskreisen ab; bezeichnenderweise sah der Entwurf des bereits erwähnten Stadtbaumeisters Furttenbach für die Gestaltung eines öf-
98 Petershagen, 1999, S. 162-177, die Zitate S. 167, 177. 99 Zit. ebd., S. 160. 100 Ebd., S. 178-191. 160
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fentlichen Bades die Trennung nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Standeszugehörigkeit vor.101 Wie wichtig außerdem die Abgrenzung vor allem von als unehrlich wahrgenommenen Personen in Ulm genommen wurde, offenbart der Reisebericht des wohlhabenden Ulmer Kaufmannssohns Samuel Kiechel, der von 1585 bis 1589 kreuz und quer durch Europa und bis in den Orient reiste. In Lübeck fiel ihm nämlich auf, dass dort der Henker »von andern leithen nicht gescheit oder abgesöndert [wird], als wol bey unns beschicht«. Stattdessen nehme dieser an gesellschaftlichen Veranstaltungen wie Zunftessen teil und sitze »neben erlichen leüthen zu tüsch«. Allerdings – man beachte die feine Differenzierung – habe er »sein besonder trinkgeschür«. Der Lübecker Scharfrichter lade sogar selbst Gesellschaften zu sich ins Haus, da er einen Bierausschank betreibe, »wölchs bey unns ein selzam aussehen haben würde, aber landts art, landts manir«.102 Angesichts dieser Befunde liegt es näher, zumindest für die Zeit vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert von ständischen Eigenlogiken der Wahrnehmung innerhalb der Stadtgesellschaft zu sprechen als von der Eigenlogik einer Stadt – und das nicht nur in Bezug auf frühneuzeitliche Metropolen wie London oder Paris, sondern sogar auf Städte mittlerer Größe wie Ulm.103 Gerade der Reisebericht Kiechels zeigt aber, dass die jeweilige lokale Ausprägung solcher ständisch differenzierter Sinneskulturen durchaus als charakteristisch für eine Stadt wahrgenommen wurde. Angesichts dieses Befunds scheint die von der Kulturanthropologie entwickelte Typologie der jeweils lokal spezifischen Zusammensetzung unterschiedlicher Berufskulturen eher anschlussfähig als Martina Löws Konzept der Eigenlogik.104 Schließlich verdient noch die »Reinlichkeit« berücksichtigt zu werden, die der Blaubeurer Professor Gaum neben der »Fröhlichkeit« als ein weiteres kennzeichnendes Merkmal der Ulmer hervorhob. Ihm zufolge werde darauf nämlich in der Stadt – gleichsam als Kompensation für den Mangel an »modernen Gebäuden« – sowohl in den Häusern als auch »auf den Gassen nahe an den Häusern und an den Hausthüren« so viel Wert gelegt, »daß es einigen bis auf das Lächerliche getrieben scheinen könnte«. Allerdings relativierte er sein Urteil sogleich, denn die »Reinlichkeit der Holländer werden sie doch nicht erreichen«, außerdem finde man »doch solche Dinge mit unter, die mit dieser Propretè [sic!] sehr stark kontrastiren«.105 Man erinnere sich, dass schon Anton Schermar vor allem 101 102 103 104 105
Kinzelbach, 1995, S. 92. Kiechel, 1866, S. 51. Vgl. Nowosadtko, 1994; Stuart, 2000. Vgl. Burke, 2006, S. 29-31. Wietschorke, 2013, S. 210. Gaum, 1784, S. 221; zu den Niederlanden vgl. Schama, 1987, S. 375-397. 161
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die niederländischen Städte als schön wahrgenommen hatte. Interessanterweise schrieb Nicolai in seinem Reisebericht überhaupt nicht über dieses Thema, obwohl es ihm hätte auffallen müssen, schnitt doch seine Heimatstadt Berlin in Reiseberichten in dieser Hinsicht gar nicht gut ab, in denen die »Unreinlichkeit in Berlins Straßen«, eine übelriechende, schlammige Mischung aus Staub und Abwasser, als charakteristisch für die rasch gewachsene Großstadt geschildert und auch als Zeichen ihrer moralischen Verwerflichkeit gewertet wurde.106 Sehr wohl bemerkte Nicolai allerdings die »häusliche Reinigkeit der Sitten«: Es gebe in Ulm schon lange kein Bordell mehr (er verzichtet hier auf einen Vergleich mit Berlin),107 und auch als die Stadt noch über eines verfügt hatte, habe sich eine Prostituierte wegen mangelnder Nahrung zwecks Unterstützung an den Rat gewandt. Gelegentliche Vergehen dieser Art würden durch einen sogenannten »H**schneider« geahndet.108 Eine Verbindung dieser beiden voneinander unabhängigen Beobachtungen von Sauberkeit einerseits und Reinheit andererseits ist nicht belegt, obwohl beides in der Frühen Neuzeit miteinander in einem komplexen Verhältnis zueinander stand.109 Das Thema Sauberkeit spielte auch in der lokalen Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Schon der Dominikanermönch Felix Fabri schrieb 1488, nachdem er sich nach zwei Pilgerfahrten ins Heilige Land in Ulm niedergelassen hatte, über seine neue Wahlheimat: »Mit großem Eifer wird die Stadt sauber gehalten, und es gibt dort keinen Kloaken- und Latrinengestank wie anderswo, sondern alles läuft durch unterirdische Kanäle ab.«110 Dabei handelte es sich freilich um einen topischen Aspekt des zeitgenössischen Städtelobs: Fabri selbst hatte im wenige Jahre zuvor niedergeschriebenen Bericht über seine zweite Palästinareise Venedig als frei von Schmutz und Gestank gepriesen, da die Gezeiten allen Dreck aus der Stadt schwemmten.111 Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Enea Silvio Piccolomini Ulm als eine »mächtige, saubere Stadt« bezeichnet, ähnliches aber über manche andere deutsche Stadt geschrieben.112 Ganz unbefleckt ist Fabris Ulm-Bild jedoch nicht, denn durch zahlreiche Schweine, »die überall ihren Dreck lassen«, würden die »Straßen verschmutzt und die Luft verpestet«. Wären die Schweine nicht da, »würde man kaum je 106 107 108 109 110 111 112 162
Biskup, 2008, S. 66f. Ebd., S. 67. Nicolai, 1795, S. 141f. Burschel, 2014. Fabri, 2012, S. 98f. Schröder, 2009, S. 110f. Fouquet, 2004, S. 56; vgl. Arnold, 2000, S. 250f.
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
eine so saubere und gesunde Stadt finden«.113 Die Viehhaltung war ebenfalls in vielen anderen Städten der Zeit normal, es gab jedoch auch Ausnahmen, wie der bereits erwähnte Kaufmannssohn Samuel Kiechel erfuhr, als er nach Stockholm kam, denn dort pflegten sie »das vüch, als ross, küeh, schwein und dergleichen aller usserhalb der statt zu halten«. Andererseits musste Kiechel feststellen, dass es dort keine »secret« in den Häusern gab, sondern nur nach Geschlechtern getrennte öffentliche Örtlichkeiten – von denen er prompt die falsche Seite erwischte und sich dafür Ärger einhandelte.114 Als er später auf der Weiterreise im Haus eines småländischen Bauern übernachtete, musste er auf dem Fußboden der Stube schlafen, wo auch die Ferkel ihr Lager hatten »und wol nächtlicher weyl, wann einer schleft, einen under dem gesicht löckhenn«. Ironisch bemerkte er, »was für ein anmüetig geruch« in der Stube herrschte, da der »geschmack« nur herauskönne, wenn man die Tür öffne. Der Geruch sei so intensiv, dass man davon »vül sätter und voller« werde als von der besten Mahlzeit.115 Für Kiechel war es also ebenso fremd, dass in einer Stadt keine Nutztiere lebten, wie mit ihnen einen Raum zu teilen. Die Wohnverhältnisse mancher Einwohner Ulms werden sich allerdings nicht wesentlich von denen des småländischen Bauern unterschieden haben: 1542 wurde ein ursprünglich vom Ulmer Rat geplantes Verbot der Schweinefütterung auf der Gasse zurückgezogen, weil es sonst »dem gemeinen armen Man« nicht mehr möglich gewesen wäre, ein Schwein zu halten, wenn er in oder hinter seinem Haus keinen Platz dafür hatte.116 Zudem waren manche Handwerker wie Gerber, Färber und Seifensieder bei ihrer Arbeit intensiven Gerüchen ausgesetzt.117 Kiechel hingegen war in anderen Wohnverhältnissen aufgewachsen; zwei Jahre vor seiner Abreise hatte sein Vater ein noch heute erhaltenes, großes Haus erworben, das Samuels Bruder Daniel Anfang des 17. Jahrhunderts prunkvoll umbauen ließ.118 In den Häusern wohlhabender Ulmer Bürger gab es bekanntlich (anders als in Stockholm) Aborte, selbst wenn nicht alle so geruchsarm gewesen sein mögen wie 113 Fabri, 2012, S. 98f. 114 Kiechel, 1866, S. 66 (Zitat), 477 (zur Person); Brückner, 1958, S. 45-47 (Bsp. Münster); Rajkay, 2012, S. 337-342 (Bsp. Hamburg, Nürnberg, Augsburg, Nördlingen). 115 Kiechel, 1866, S. 82. 116 StA Ulm, A 3681, fol. 12r-13v. 117 StA Ulm, A 3682, fol. 262r-263v (Verordnung vom 17.08.1666); vgl. Hadamczyk / Kampherm, 1993. 118 Zur Biographie Kiechels: Specker, 1977; das Kiechelhaus ist heute Teil des Ulmer Museums. 163
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in Furttenbachs Haus. Außerdem verfügten manche von ihnen trotz der dichten Bebauung über Gärten, für deren Bepflanzung der Stadtbaumeister eine üppige Auswahl von Blumen vorschlug, von denen er einige als »sehr wolriechendt« oder »von gutem Geruch« empfahl.119 Die frühneuzeitlichen Ulmer lebten also je nach ihrer Standeszugehörigkeit und ihrem Beruf in Umfeldern, die sich hinsichtlich ihres Geruchs mitunter stark voneinander unterschieden. Dennoch teilten sie sich die Straßen, deren Sauberkeit nicht nur Fabri und Gaum hervorhoben, sondern auch ein italienischer Durchreisender, der 1676 bemerkte, sie machten auf ihn einen »fröhlichen, sauberen Eindruck«.120 Die Behauptung einer etwa zeitgenössischen Ulmischen Chronik, dass die Stadt sich »eines guten, frischen und gesunden Luffts« erfreuen könne, wurde außerdem in zahlreichen Abschriften bis um 1800 in der Stadt verbreitet und übte vermutlich einen gewissen Einfluss auf die Wahrnehmung der Leser aus.121 War den Ulmern also ein gewisser Hang zur Sauberkeit und eine Gewöhnung ihrer Nasen an die (topographisch bedingt vergleichsweise) gute Luft ihrer Stadt eigen? Oder lösten auch bei ihnen Gerüche in erster Linie Distinktionsprozesse aus, wie bereits Georg Simmel argumentiert hat?122 Aus der Sicht (bzw. durch die Nase) des Philosophen Gernot Böhme ist eine Stadt ohne Geruch »eine Stadt ohne Charakter«, doch welcher Geruch ist nun charakteristisch für eine Stadt: Ist es das wie auch immer zusammengesetzte Ensemble aus Gerüchen, das die Einwohner nicht mehr wahrnehmen – analog zu den Einwohnern von Calvinos Fillide, für die ihre Stadt so gut wie unsichtbar ist? Oder ist es eher – erneut im Anschluss an Schiffauers Typologie der Berufskulturen – die stadtspezifische Zusammensetzung olfaktorischer Distinktionspraktiken?123 Jedenfalls endet die vormoderne Geschichte einer vermeintlichen olfaktorischen Ulmer Eigenlogik mit einer derben Ohrfeige. Denn im Frühjahr 1800, während der Revolutionskriege, bekam der Ulmer Rat Post vom FeldmarschallLeutnant der österreichischen Truppen: Dieser beklagte sich darüber, dass fast alle Straßen Ulms mit »Haufen von Unrath und Dünger« belegt seien; die Stadt sei »überhaupt so unsauber […] als man solches vielleicht in wenigen Ortschaf119 Furttenbach, 1641, S. 12-14. 120 Dussler, 1974, S. 152; vgl. das ital. Original: Pacichelli, 1685, S. 344: »E poi allegra, e polita di strade«. 121 StA Ulm, G 1 1795, fol. 72v. 122 Simmel, 1992, S. 733f.; Wietschorke, 2013, S. 212; vgl. Reinarz, 2014, S. 145175; Fischer, 2015. 123 Wietschorke, 2013, S. 210, 212 (Zitat); vgl. Jenner, 2011, S. 342. 164
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ten und in keiner civilisirten Stadt antreffe«.124 War damit das in der lokalen Chronistik tradierte Selbstbild von der sauberen Stadt endgültig diskreditiert? Nun erweckt diese wenig schmeichelhafte Außenperspektive eines Militärs zunächst den Eindruck, dass die Sinne der Ulmer in dieser Hinsicht abgestumpft gewesen sind. Doch noch im Sommer desselben Jahrs bekam ein Bürger die Erlaubnis, den Waffenstillstand auszunutzen, um eine Woche lang vor den Toren der Stadt »frische Luft zu schöpfen«. Im Lauf des 19. Jahrhunderts nahmen dann die Beschwerden Ulmer Bürger über Übelgerüche in der Stadt zu: Es lässt sich also ein Prozess der geruchlichen Sensibilisierung erkennen, der zwar im Patriziat bereits im 17. Jahrhundert erkennbar ist, nun aber erst, nicht zuletzt durch Anregungen von außen wie die territoriale Medizinalpolizei sowie die wissenschaftliche Hygiene, eine Breitenwirkung entfaltete.125 Die neuen, zunächst von außerhalb kommenden Erwartungen an die Sauberkeit einer Stadt um 1800 haben also die hergebrachten Deutungen zunächst einmal überholt. Abb. 2: Karikatur im Ulmer Monatsspiegel, Bd. 1 (1949). © Stadtarchiv Ulm.
124 StA Ulm, A 3692, fol. 156 (vom 16.4.1800). 125 Zur Geschichte der Luftwahrnehmung in Ulm ausführlich: Hahn, 2016. Vgl. zu Ulm auch Haug, 2012; zu Berlin Biskup, 2008, S. 73; generell Corbin, 1984. 165
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Eine 1949 im Ulmer Monatsspiegel veröffentlichte Karikatur mit dem Titel »Wenn schon vorne – dann auch hinten!« (Abb. 2) führt jedoch vor Augen, dass man sich nicht geschlagen gab. Die Zerstörung der Altstadt 1944 bot nun (so sah es zumindest die progressiv orientierte »Gesellschaft 1950«) endlich die Gelegenheit, Verhältnisse zu schaffen, die modernen stadthygienischen Anforderungen genügten – und damit auch der Selbstwahrnehmung der Stadt entsprachen.126 Auch Anfang der 2000er Jahre, als die Neue Straße, eine nach dem Krieg durch die Altstadt geschlagene Schneise, neu bebaut wurde, entschied man sich – anders als am Römerberg in Frankfurt – nicht für die Rekonstruktion von damals verlorengegangenen Häusern, sondern für eine modernistische Architektur.
3. Fazit und Perspektiven Folgt man den Berichten außenstehender Beobachter, so wären für eine Eigenlogik Ulms im ausgehenden 18. Jahrhundert vier Aspekte hervorzuheben: Zufriedenheit, antiquierte Rituale, Festfreudigkeit und ein Hang zur Sauberkeit. Trotz vergleichsweise bescheidener Wohnverhältnisse waren die Einwohner der Stadt glücklich, und sie ertrugen regelmäßig körperlich strapaziöse Leichenzüge. Sie ließen kaum eine Gelegenheit zum Feiern aus, auch nicht eine noch so skurril erscheinende, feierten aber getrennt nach sozialen Gruppen. Ihre Sauberkeitsliebe schien zwar übertrieben, nichtsdestoweniger ließ der Zustand der Straßen zu wünschen übrig. Zumindest dieser Aspekt lässt sich in Ulm mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen und ist sowohl in der Außenperspektive als auch im städtischen Selbstbild und den Wahrnehmungen von Ulmer Bürgern in anderen Städten erkennbar. Zugleich handelt es sich dabei schon im späten Mittelalter um einen auf viele Städte angewandten Topos des Städtelobs, der auch in der lokalen Chronistik weitergegeben wurde. Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert scheint dieses ›saubere‹ Selbstbild Ulms nicht nur das Sehen und Riechen der Ulmer, sondern auch ihr beinahe ›niederländisches‹ Putzverhalten geprägt zu haben, selbst wenn Auswärtigen die Stadt mittlerweile eher dreckig vorkam. Fraglich ist allerdings, wie viel die allen Einwohnern gemeinsame Habitualisierung an die Ulmer Luft und der gewohnte Anblick der Misthaufen letztlich ausmachte angesichts der großen Unterschiede der Lebensbedingungen, die beispielsweise im Patriziat an den seit Anfang des 17. Jahrhunderts gestiegenen Ansprüchen an den Wohnkomfort deutlich greifbar sind. 126 Gnahm, 2009, S. 16, 75. 166
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
Bei den sogenannten Aderlassfesten lässt sich ebenfalls ein Wandel beobachten. Auch sie konnten in Ulm auf eine längere, jedoch keineswegs lokalspezifische Tradition zurückblicken und gewannen ihre angebliche Einzigartigkeit erst dadurch, dass dem Beobachter solche Feste offenbar nirgendwo anders mehr begegnet sind. Für die Ulmer selbst blieb aber die Verknüpfung einer schmerzhaften wundärztlichen Behandlung mit anschließenden Gaumenfreuden über Generationen hinweg eine gewohnte und offenbar geschätzte Sinneserfahrung. Anders war dies bei den Trauerritualen, gegen die sich in den 1780er Jahren quer durch die Stadtgesellschaft eine Opposition bildete. Anfang des 19. Jahrhunderts konnte man dann bereits kleine bemalte Tonfiguren in traditioneller Trauerkleidung und anderen Trachten der Reichsstadtzeit am Stand eines Hafners auf der alljährlichen Wintermesse kaufen. Zweifellos war ein nostalgischer Blick auf die als Sammelobjekt beliebten Figuren angenehmer als selbst an einem Trauerzug teilzunehmen.127 Selbst dieser zeitlich recht eng eingrenzbare Wandel vom erlebten Ritual zur Erinnerungskultur erlaubt allerdings nur ungefähre Rückschlüsse auf die Brüche in der Wahrnehmung der Einwohner. Womöglich war lange vor dem »Avertissement« von 1788 das Gefühl für die eigentliche Bedeutung der Trauerrituale verlorengegangen. Auch das sinnesbezogen-hedonistische Erlebnis von »Gemeingefühl« eines Schülers am Schwörtag, das recht gut in das von mehreren Reisenden gezeichnete Bild von Feierfreudigkeit und Verschwendung passt, lässt sich nämlich längerfristig zurückverfolgen, denn der Schwörtag überlebte die Verfassungsänderung von 1548 nur deshalb, weil er damals schon den Charakter eines Volksfestes hatte.128 Zusammengenommen lassen sich diese langfristig sedimentierten Verhaltensweisen und Wahrnehmungen der Einwohner Ulms durchaus als Eigenlogik der Stadt werten, selbst wenn sie nicht so einzigartig waren, wie die Verfasser der Reiseberichte oder auch die Ulmer selbst glauben wollten. Allerdings lässt sich der Prozess der Entstehung dieser Eigenlogik nur lückenhaft nachvollziehen, da die Dichte der direkt über Wahrnehmungen berichtenden Quellen sehr unregelmäßig ist und ihre Aussagekraft durch gattungs- und zeitspezifische Vorstellungen vom Sagbaren und Berichtenswerten eingeschränkt wird (Richard van Dülmen hat dies einmal die »Veränderung des sozialen Blicks« genannt).129 Wenn man unter der sensorischen Eigenlogik einer Stadt in erster Linie die Habitualisierung ihrer Einwohner an das lokal gegebene Ensemble von Sinnesreizen begreift, dann wird man ohnehin stärker auf die Kartierung der sensescape 127 Zumsteg-Brügel, 1988, S. 13, 49-56. 128 Petershagen, 1999, S. 155. 129 Dülmen, 1992, S. 67. 167
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von Städten hinarbeiten, den Stundenplan des örtlichen Glockengeläuts und die Verteilung lärm- und geruchsintensiver Gewerbe untersuchen und beides mit der vorherrschenden Windrichtung in Bezug setzen usw. Dass man auf diese Weise nicht einfach herausbekommt, wie die vormoderne Stadt geklungen, gerochen und sich angefühlt hat, liegt auf der Hand: In wessen Ohren, Nase, oder sonstigen Sinnesorganen denn? Ebenso wenig kann man umgekehrt schließen, dass die Einwohner an all diese Reize gewöhnt waren und sie daher nicht mehr wahrgenommen haben. Deshalb sind direkte Aussagen über Wahrnehmungen, so sporadisch sie auch überliefert und mit quellenkritischen Problemen behaftet sein mögen, unverzichtbar. Sie lassen zwar einerseits erkennen, wie stark Wahrnehmungen in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft ausdifferenziert waren. Andererseits geben sie Hinweise darauf, dass die jeweiligen lokalen Besonderheiten dieser Ausdifferenzierung von den Zeitgenossen sehr wohl wahrgenommen wurden. Besonders aufschlussreich sind dabei die Beobachtungen der Ulmer in anderen Städten, denn fremde Stadtbilder und Gepflogenheiten machten ihnen die zuvor kaum beachteten Eigenheiten ihrer Heimatstadt bewusst. Durch diese Erweiterung ihres Wahrnehmungshorizonts verließen die reisenden Ulmer allerdings auch die Sphäre der habitualisierten Wahrnehmungsweisen ihrer Heimatstadt. Somit näherte sich ihr Blick auf Ulm (und ihre Hör- und Riechweisen etc.) denjenigen fremder Besucher der Stadt an. Die interdisziplinäre, gegenwartsbezogene Stadtforschung hat die Stadtgeschichte mit ihrer These von der langfristigen Herausbildung der Eigenlogik einer Stadt jedenfalls herausgefordert. Möglicherweise wird die stadthistorische Forschung zeigen, dass städtische Eigenlogiken vielleicht nicht am Reißbrett gestaltbar, aber dennoch deutlich flexibler und somit epochenspezifisch überformbarer waren (und sind) als von der Stadtforschung angenommen. Denn ansonsten hätten sie die tiefgreifenden Umwälzungen in den Körper- und Sinnespraktiken in den vergangenen Jahrhunderten gar nicht überdauert. Andererseits ist fraglich, ob eine vermeintliche stadtspezifische Eigenlogik in der longue durée überhaupt einer kontextualisierenden stadthistorischen Betrachtung standhält. An der Geschichte der Ulmer Sauberkeitsvorstellungen lässt sich dieses Problem veranschaulichen: Eine Traditionslinie entweder von den Äußerungen Felix Fabris Ende des 15. Jahrhunderts bis zu den Reiseberichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts oder von den letzteren bis zur stadthygienischen Polemik der Nachkriegszeit zu ziehen erscheint plausibler als den Bogen von 1470 bis 1950 zu spannen. Aber warum eigentlich?130 Vielleicht lassen wir uns hierbei zu 130 Vgl. hierzu auch Le Goff, 2016. 168
Die Eigenlogik der Sinneswahrnehmung in der Stadt
sehr vom Denkbild einer Schwelle von der Vormoderne zur Moderne leiten und verkennen dabei, dass die Geschichte sinnlicher Wahrnehmung möglicherweise einer eigenen Chronologie folgt. Wenn das Konzept der städtischen Eigenlogik auch nur dazu beiträgt, epochenübergreifende Zusammenhänge in der Sinnesgeschichte der Stadt zu erschließen, ist schon eine Menge gewonnen.
Abstract Did early modern towns have an ›inner logic‹? And if so, how did it affect their inhabitants’ sensory perception? This essay takes up recent approaches in urban sociology as well as the anthropology and history of the senses and discusses the benefits and limits of applying these approaches to the study of early modern urban history. A case study of a middle-size town in the Holy Roman Empire demonstrates how urban peculiarities in behaviour and sensory perception can be traced by comparing travel accounts with the inhabitants’ own views on their town and other towns. The study is rounded off by local administrative records and material evidence. It argues, though, that a long term historical perspective reveals the pitfalls of applying sociological theory to urban history. Firstly, one has to take into account shifts in bodily and – which is more easily overlooked – sensory regimes and practices which cannot be explained with references to local circumstances alone. These shifts could, for their part, lead to the gradual erosion of a town’s traditional inner logic, whereas there was only limited room for its redefinition. Secondly, early modern travellers may have thought they detected particular ways of behaviour even in smaller towns and they did in fact notice things which the inhabitants ignored because they had been long accustomed to them. But should one thus regard these non-perceptions as the inhabitants’ sensory inner logic? Not only did the inhabitants – especially in smaller towns – experience the differences of estate within urban society with all their senses, but the town dwellers also differed from each other in the way they used their senses. Given these circumstances, how is it possible to develop a common way of sensing that could be regarded as part of a town’s inner logic?
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Der »Central-Platz« Frankfurt Die Reichsstadt als kulturelles Zentrum in der literarisch-publizistischen Öffentlichkeit Marina Stalljohann-Schemme
1. Einleitung und Fragestellung »Ocellus Germaniae«1 – Perle oder Augapfel Deutschlands. So bezeichnete der Rechtswissenschaftler und Publizist Philipp Andreas Oldenburger im Jahr 1675 die Reichsstadt Frankfurt am Main. Damit spielte er offensichtlich auf das Ansehen Frankfurts als vorteilhafter Zentralort an – in geographischer wie symbolischer Hinsicht. Oldenburgers Beschreibung ist nur ein kleiner, aber elementarer Auszug aus dem Diskurs über Frankfurt am Main in der frühneuzeitlichen literarisch-publizistischen Öffentlichkeit,2 um den es hier gehen soll. Aus diesem rege geführten Diskurs hat sich seit etwa 1500 ein Stadtbild als Zentralort bzw. kulturelles Zentrum3 des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation entwickelt. Das zentrale Erkenntnisinteresse meiner kürzlich abgeschlossenen Dissertation Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum 1 2
3
Oldenburger, 1675, S. 1293. Diese besteht aus den Autoren und Rezipienten folgender untersuchter Quellen: Stadtlobgedichte, Kosmographien, Chroniken, Stadt- und Reisebeschreibungen, Zeitschriftenartikel und Lexikon-Einträge. Hervorgegangen ist die nachfolgend genannte Studie aus dem am Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück angesiedelten Forschungs- und Publikationsprojekt »Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit«. Siehe hierzu: Adam/Westphal, 2012. 181
Marina Stalljohann-Schemme
im publizistischen Diskurs,4 deren Ergebnisse hier mit dem Fokus auf die geographische Lage dargelegt werden, besteht einerseits in der Herausbildung und Entwicklung des Frankfurter Stadtbildes, andererseits in dessen Funktion. Denn als Voraussetzung für die Entstehung eines kulturellen Zentrums sind nicht nur die strukturellen Faktoren entscheidend, sondern auch die Wahrnehmung der Zeitgenossen und weit verbreiteten Darstellungen eines Ortes als Zentrum. Kann das Stadtbild als Mittel zur Kompensation oder Profilierung fungiert haben, um in der Öffentlichkeit ein Ansehen der Stadt zu erhalten, das sich zunehmend von den bestehenden Gegebenheiten und dem historischen Wandel Frankfurts entfernt hat? Inwiefern verweist die Rezeption darauf, dass frühere Wahrnehmungsmuster und Topoi, die in der wirtschaftlichen Blütezeit Frankfurts im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert entstanden waren, tradiert wurden und der Reichsstadt bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert eine Bedeutung zuschrieben, die nicht mehr den stadtgeschichtlichen Entwicklungen entsprach? Konnte Frankfurt im Verlauf der Frühen Neuzeit vom öffentlichen Ruf und einem tradierten Bild profitieren, das ungeachtet des vermeintlichen Niedergangs der Stadt auf ihre spätmittelalterliche, auf zahlreichen Privilegien beruhende Bedeutung rekurrierte? Und wurde es dadurch immer wieder zur Station auf Reisen und Gegenstand von Beschreibungen? Um diese Fragen beantworten zu können, soll im folgenden zweiten Teil zunächst die Begrifflichkeit des »Stadtbildes« definiert und der Forschungsstand zur Wahrnehmung von Städten dargelegt werden. Nachdem in einem dritten Abschnitt die methodische Vorgehensweise erläutert worden ist, werden im vierten Teil anhand des Beispiels von Frankfurts zentraler geographischer Lage die Entwicklung und Funktion des Stadtbildes dargestellt. Abschließend fasst ein Fazit die zentralen Erkenntnisse zusammen.
4 182
Stalljohann-Schemme, 2017.
Der »Central-Platz« Frankfurt
2. Stadtbilder und ihre Wahrnehmung: Forschungsstand Das hier zu untersuchende Stadtbild umfasst schriftlich produzierte, in der Publizistik5 veröffentlichte Bilder im Sinne sprachlicher Kategorien, Beschreibungsmuster, Stereotype6 und Topoi7 – und nicht die architektonische Anlage oder visuelle Ansicht der Stadt. Untersucht wird somit die Art und Weise, mit der die Menschen ihre Erfahrungen und Eindrücke von der Stadt schriftlich wiedergegeben und festgehalten haben. Der Begriff des Bildes wird ganz bewusst verwendet, in Abgrenzung zur Wahrnehmungs-, Identitäts- und Erinnerungsforschung.8 Denn die Analyse publizierter oder einem größeren Kreis bekannter Texte kann nicht den tiefgründigen Begriff der Identität ermitteln. Das Bild erscheint auch gegenüber dem methodischen Zugang des Images9 der geeignete Zugang zu sein, weil ein Image etwas Künstliches und mit einer ganz bestimmten Intention vom Menschen Geschaffenes ist. Außerdem dient es nach modernem Verständnis dazu, etwas zu verkaufen und Werbestrategien zu entwickeln.10 Demgegenüber beinhaltet das hier untersuchte literarisch-publizistische Bild eine nach bestimmten Kriterien – eigene Erfahrungen, literarische Konventionen, rezipiertes Wissen etc. – zusammengestellte Auswahl von Eigenheiten und Beschreibungsmustern, die im Zuge der Rezeption der Quellen zu Topoi amalgamierten. Doch auch »wenn die reale Gestalt einer Stadt hinter die literarisch geformten Abbilder zurücktreten 5 6
Schilling, 1998, S. 112-141. Beim Stereotyp handelt es sich um ein »vereinfachtes Denkbild (von) einer bestimmten Kategorie von Menschen, Institutionen oder Ereignissen, das […] von einer großen Anzahl von Menschen geteilt wird«. Vgl. Bullock /Stallybrass, 1983, S. 601. Stereotyp wird hier als eine verfestigte, stets wiederholbare und deswegen in der Kommunikation als (Routine-)Formel einsetzbare Sprachform verstanden. Vgl. Heinemann, 1998, S. 7. 7 Hier wird der Topos mit »Thema, Stoff der Rede oder Gemeinplatz« umschrieben. Angewandt wird damit die literaturwissenschaftliche Deutung von Topoi als mehr oder weniger fixierte Bauelemente literarischer Texte, d.h. inhaltliche Topoi. Siehe dazu: Ostheeren, 2009, Sp. 630, 690f., 695. 8 Meyer, 2009. 9 Siehe zur Imagepflege der Stadt in Texten, Bildern und Karten Stercken/Schneider, 2016, S. 11-20. 10 Schmid, 2012, S. 126. 183
Marina Stalljohann-Schemme
kann«,11 wie es Peter Wolf formulierte, sollte deren Funktion und Aussagewert analysiert und interpretiert werden. Die Wahrnehmung von Städten und »Stadtbildern« ist im Zuge der Hinwendung zu kulturhistorischen Fragen mit dem Cultural Turn schon vergleichsweise früh untersucht worden und scheint auf den ersten Blick kein völlig neuer Untersuchungsgegenstand zu sein. Doch um von der stadtgeschichtlichen Ebene auf die Ebene der Wahrnehmung zu gelangen, bleibt die Frage nach den Städtebildern weiterhin relevant. So hat Peter Johanek noch jüngst bedauert, dass Historiker zu selten fiktionale Texte, wie zum Beispiel (Stadtlob-)Gedichte, für wissenschaftliche Untersuchungen heranziehen würden, obwohl diese »ein Bild der Stadt mit Worten«12 zeichnen würden. Auch wenn dieses Bild keine topographischen Einzelheiten beinhalte, könne es über sich bzw. den einzelnen Begriff oder das einzelne Stereotyp hinausweisen, Begriffsfelder evozieren und damit das Wesentliche, »sozusagen die Essenz«13 einer Stadt, erfassen. Abgesehen von einigen stark frankfurtisch geprägten Zitatsammlungen und Aufsätzen14 ist das publizistische Stadtbild Frankfurts bislang ein Desiderat. Im frühen 20. Jahrhundert sowie in den 1970er- bis 90er-Jahren entstanden einige Arbeiten, die überwiegend Sammlungen frühneuzeitlicher Beschreibungen von Frankfurt beinhalten. Es handelt sich dabei jedoch um keine wissenschaftliche Aufarbeitung des Quellenmaterials.15 Die Wahrnehmungsgeschichte von Städten hat hingegen einige bedeutende Untersuchungen hervorgebracht, die sich mit der Medialisierung von Wahrnehmung16 oder mit der Wahrnehmung einzelner geographischer Regionen17 auseinandersetzen. Doch eine chronologisch breit angelegte Untersuchung von Konstanten und Veränderungen in Städtebildern wurde noch 2008 als Desiderat
11 12 13 14
Wolf, 1999, S. 145. Johanek, 2012b, S. 1f. Ebd., S. 7. Ziehen, 1923; Diehl, 1939; Birkner, 1973, S. 393-400; Sarcowicz, 1988, S. 59100; Fried, 1990; Kathrein/Krüger, 1990; Korenke, 1990; Bong, 22009. 15 Eine Ausnahme ist Pierre Monnet, der am Beispiel des spätmittelalterlichen Frankfurts die Frage nach den »particularismes urbains et patriotismes locals« aufwirft und eine städtische Identität Frankfurts herausarbeitet. Vgl. Monnet, 1997, S. 389-400. 16 Hauser, 1990, S. 4. 17 Taetz, 2004. 184
Der »Central-Platz« Frankfurt
beklagt.18 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sind neben der bildlich-graphischen Darstellung der Stadt und der Vedutistik19 vor allem Reiseberichte und die Großstadtliteratur der Moderne20 untersucht worden, während sich die auf einzelne Städte bezogenen Arbeiten häufig auf die Dokumentation von Darstellungen der Stadt in der Kunst oder in bestimmten Diskursen beschränken und auf eine weitergehende politisch-soziale bzw. kulturell-mediale Kontextualisierung verzichten.21 Darüber hinaus konzentrieren sich die Untersuchungen zur Wahrnehmung oder zum Bild einer Stadt zumeist auf eine Perspektive – von innen22 oder außen23 – oder untersuchen eine ausgewählte Quellengattung bzw. ein ausgewähltes Werk.24 Erste Ansätze zur Erforschung der historischen Entwicklung eines breit angelegten Stadtbildes aus beiden Perspektiven existieren bislang nur für die Moderne.25 Bedeutend ist darüber hinaus der Aufsatz von Franz Irsigler über Köln in der Fremd- und Eigenwahrnehmung26, in dem er die doppelte Perspektive27 auf die Stadt im 15. und 16. Jahrhundert in Städtelob und Stadtbeschreibung untersucht hat. Wichtig ist auch der vor wenigen Jahren von Peter Johanek herausgegebene Sammelband Bild und Wahrnehmung der Stadt (2012),28 dessen Beiträge interdisziplinär einerseits bildliche, d.h. gezeichnete, 18 Biskup/Schalenberg, 2008, S. 10: Die bisherige Forschung habe entweder Stadtbilder im engeren Sinne in Literatur und Kunst untersucht oder das Stadtmarketing als ein aktuelles Management- und Verwaltungsphänomen begriffen. 19 Siehe hierzu Achleitner, 1990, S. 184-195; Glasner, 1999, S. 229-253; Behringer /Roeck, 1999; R iis, 2004, S. 219-221; Roeck, 2006; Békési, 2007, S. 267-282; Roeck u.a., 2013. 20 Zum Beispiel: Maderthaner, 2006; Migley u.a., 2006; Prutsch, 2006; SchulzForberg, 2006; Sommer, 2006; Strigl, 2006. 21 Biskup/Schalenberg, 2008, S. 10. 22 Zum Beispiel Meyer, 2009; Legnér, 2004. 23 Hundsbichler, 21980; Fouquet, 2004; Samsonowicz, 2004; Biskup 2008; Schalenberg, 2008; T ieben, 2008. 24 Siehe dazu die einzelnen Beiträge in Opll, 2004; außerdem Böning, 1996; Bogu cka, 1996; Freytag, 1996. 25 Z.B. Christmann, 2004; Laister, 2004; Nussbaumer, 2007. 26 Irsigler, 2004. 27 Ein weiteres Beispiel hierfür ist Szende, 2004. Szende untersucht jedoch besonders die Topographie bzw. topographischen Merkmale ungarischer Städte. Siehe außerdem den Sammelband von Sommer /Gräser /Prutsch, 2006. 28 Johanek, 2012a. 185
Marina Stalljohann-Schemme
gestochene oder gemalte Abbilder von Städten als Spiegelung der Realität des gebauten Stadtraumes analysieren. Andererseits untersuchen die Beiträge auch die Wahrnehmung von Städten mit Worten, also schriftlich gezeichnete Bilder in Gedichten, Literatur oder Geschichtsschreibung, um der Rekonstruktion von Topographie, Baubestand oder Straßenführung näher zu kommen.29 Kürzlich ist ein Sammelband von Martina Stercken und Ute Schneider über die Inszenierung von Urbanität in Texten, Karten und Bildern erschienen, in dem die Qualität und Modi, in denen urbane Eigenschaften vergegenwärtigt und etabliert werden, im Fokus stehen.30 Darüber hinaus ist hinsichtlich der Methode und Darstellungsart eine umfassende diachrone und synchrone Erforschung von Bildern über das Untersuchungsobjekt Stadt in publizistisch-literarischen Texten bislang nicht erfolgt. Indem Frankfurt exemplarisch für andere Städte und Zentren der Frühen Neuzeit untersucht wird, steht nicht in erster Linie die Stadtgeschichte im Fokus des Interesses, sondern intertextuelle Kommunikations-, Rezeptions- und Diskursformen, mit denen bestimmte Bilder, Topoi und Stereotype tradiert und verfestigt wurden, sich veränderten oder an Bedeutung verloren. Frankfurt am Main bietet sich für diesen Zugriff besonders gut an, weil die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit als Wahl-, Krönungs- und Messestadt per se Zentralitätsfunktionen einnahm. Frankfurt war außerdem geographisch besonders zentral am Kreuzungspunkt der wichtigsten Handelsstraßen im Alten Reich, am »Straßenkreuz Europas«31, gelegen.32 Außerdem befand sich Frankfurt als reichsunmittelbare Stadt und Ort der Kaiserwahl eingespannt in ein weitreichendes europäisches Netz politischer und ökonomischer Zusammenhänge. Als selbstverwaltete Reichsstadt und Teil der europäischen Fürstengesellschaft legte sie außerdem großen Wert auf eine kollektive Selbstdarstellung in der reichspolitischen Öffentlichkeit.33
29 Ders., 2012b, S. 2f. Zu den interessantesten Aufsätzen gehören Bogucka, 2012; Corbineau-Hoffmann, 2012; Esser, 2012; Schmid, 2012. 30 Stercken/Schneider, 2016, S. 12. 31 Klötzer, 2000, S. 21. 32 Dietz, 1919-1925; Holtfrerich, 1999. 33 Krischer, 2007, S. 1. Ausführlich hierzu auch Ders., 2006. 186
Der »Central-Platz« Frankfurt
3. Historische Stereotypenforschung – methodische Überlegungen Das in der publizistisch-literarischen Öffentlichkeit entwickelte und tradierte Stadtbild von Frankfurt ist sowohl in einer synchronen – zu einem gegebenen Zeitpunkt in unterschiedlichen Quellenarten – als auch diachronen Entwicklung – über einen bestimmten Zeitraum hinweg – untersucht worden. Chronologisch bewusst breit angelegt, reicht dieser Untersuchungszeitraum von dem vermehrten Aufkommen deutsch- und lateinischsprachiger Berichte um 1500 bis zum Ende des Alten Reiches 1806 und der aufkommenden Romantik. Einen methodischen Zugriff im Sinne einer historischen Rezeptionsgeschichte zur Erforschung der Überlieferungsmechanismen und Topoi forderte bereits 2002 Susanne Rau.34 Um dieses Forschungsdesiderat zu beheben, ist hier für die Erforschung des durch Topoi und Stereotypen geprägten Stadtbildes ein methodisches Instrumentarium entwickelt worden, das sich an die unter anderem von Philipp Sarasin initiierte und später von Achim Landwehr (mit-)formulierte historische Diskursanalyse35 anlehnt. Anhand der methodischen Untersuchung größerer Textkorpora sollen inhaltliche Strukturierungen aufgedeckt werden.36 Bereits Michel Foucault hat dazu aufgefordert, Dokumente nicht nach wahr oder falsch zu interpretieren, sondern die Quelle im Kontext des überlieferten historischen Materials zu sehen, in dem sie auftrat.37 Die historische Diskursanalyse erforscht sowohl die Sachverhalte, die zu einer bestimmten Zeit als gegebene Wirklichkeit anerkannt wurden, als auch die Frage, wie soziale Wirklichkeiten umgeformt wurden, sich allmählich veränderten und zuweilen sogar untergingen.38 Hilfreich für die Analyse des publizistischen Stadtbildes von Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum ist außerdem die von Eva und Hans Henning Hahn 2002 initiierte »historische Stereotypenforschung«,39 die den Begriff des Stereotyps in einem Brückenschlag zwischen den Geschichtswissenschaften und Kulturwissenschaften näher definieren und gleichzeitig in historische Beobachtungsfelder einbetten will.40 Bislang erfolgte 34 35 36 37 38 39
Rau, 2002, S. 37. Landwehr, 2008, S. 14. Sarasin, 32011, S. 66. Foucault, 1997, S. 33-41. Bublitz, 2003, S. 55. Siehe hierzu ausführlich Jaworski, 1987; Hahn, 1995a; Ders., 1995b; Ders./Hahn, 2002, S. 19-25 . 40 Hahn/Hahn, 2002, S. 19. 187
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die historische Stereotypenforschung ausschließlich in der Sozialpsychologie, Kommunikationswissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft. Die aktuelle Stereotypenforschung betont jedoch die Präsenz der Geschichte im Stereotyp, die ein untersuchenswertes Phänomen sei, weshalb Stereotype auch ein geschichtswissenschaftliches Forschungsobjekt sein können und sollten.41 Als Antwort auf dieses Desiderat soll das Konzept auf die Untersuchung des frühneuzeitlichen Stadtbildes von Frankfurt übertragen werden, indem der historische Kontext der Äußerungen, der räumliche und gesellschaftliche Bezug, der zeitgenössische Wissenshorizont, die Funktion und Zielsetzung der Textsorten berücksichtigt werden. Mit diesem Vorgehen lassen sich historische Stereotypenforschung und historische Diskursanalyse sehr gut miteinander verbinden.42 Damit soll der von der Forschung43 beklagte deskriptive Charakter der Stereotypenforschung überwunden und die Funktion von durch Stereotype geprägten Diskursen untersucht werden. Der hier verwendete Diskursbegriff beinhaltet einen Sprach- und Zeichengebrauch im Sinne schriftlicher Aussagen und bezeichnet einen konkreten Kommunikationsprozess.44 Ein Diskurs wird geformt durch Aussagen, die bezogen auf ein bestimmtes Thema systematisch organisiert und durch eine gleichförmige (nicht identische) Wiederholung geprägt sind.45 Die Kategorienbildung und die Frage danach, welche Aspekte bei der Beschreibung einer Stadt von Inte resse waren, stellten daher zunächst die Hauptaufgabe dieser Untersuchung dar. Stadtbilder können als kulturelle Gebilde, die interessegeleitet und unter spezifischen Bedingungen eingesetzt werden können,46 nur auf der Grundlage einer möglichst großen Anzahl von Quellen schematisiert und quantifiziert werden. Der breite Textsortenfundus hängt zum anderen damit zusammen, dass die frühneuzeitlichen Gattungen nicht immer trennscharf auseinanderdividiert werden können, wie zum Beispiel Kosmographien und geographische Reiseanleitungen, die wiederum verwandt sind mit Reisebeschreibungen, während 41 42 43 44
Ebd., S. 17-56. Siehe hierzu Imhof, 2002. Ebd., S. 61. Landwehr, 2008, S. 15f. Michel Foucault spricht von einer diskursiven Formation, wenn eine bestimmte Anzahl von Äußerungen in einem ähnlichen System der Streuung beschrieben werden kann, und wenn sich für die Gegenstände des Diskurses eine gewisse Regelmäßigkeit feststellen lässt. Siehe Foucault, 1997, S. 61-103. Siehe außerdem Bublitz, 1999, S. 23-25. 45 Landwehr, 2008, S. 92f. 46 Biskup/Schalenberg, 2008, S. 19. 188
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die Gattung der Stadtbeschreibung immer auch Elemente der Stadtchronistik übernimmt. Damit lässt sich keine klare Trennlinie zwischen den Bereichen historiographischer, publizistischer, literarischer und sogar teils fiktionaler (z.B. Städtelob) Literatur ziehen. Auch Alfred Noe hat bereits in den 1990er-Jahren die unscharfen Grenzen zwischen Historiographie, Städtelob, Reisebericht und Reisedichtung aufgezeigt.47 Diese Beobachtung ist elementar für die Aussagen, die über den Diskurs zu Frankfurt am Main gemacht werden können, bedingten die Eigenheiten und Prinzipien der Textsorten doch sehr stark die Informationsund Kommunikationsstränge. So beförderten sie schließlich das Tradieren und die Kontinuität bestimmter Topoi. Die ermittelten Topoi und Stereotypen lassen sich schließlich drei unterschiedlichen Kategorien zuordnen: Erstens war das Stadtbild geprägt durch tradierte und kolportierte Topoi, die sich einerseits durch den gesamten Untersuchungszeitraum hindurchziehen, andererseits inhaltlich verändern konnten. Hierzu gehören die geographische Lage, die Kaiserwahlen und -krönungen sowie Frankfurt als Aufbewahrungsort der Goldenen Bulle, Frankfurt als Handelsund Messestadt sowie die Zweiteilung der Stadt durch eine steinerne Brücke. Zur zweiten Kategorie gehören Topoi, die in ihrer Bedeutung verblassten, wie Entstehungsmythos und Namensgebung, die Wehrhaftigkeit und Schutzfunktion der Stadt sowie Tugenden, Gerechtigkeit und Frieden. Die dritte Kategorie umfasst Topoi, die neu hinzukamen und das Bild Frankfurts besonders im 18. Jahrhundert prägten. Diese entstammen größtenteils dem Bereich der ›klassischen‹ Kultur wie Architektur, Musik, Theater und Bildung. Dazu gehören aber auch die Charakteristika der Bewohner und die Mehrkonfessionalität der Reichsstadt. Die geographische Zentralität Frankfurts war als Voraussetzung für die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentralortfunktionen im Stadtbild besonders präsent, weshalb an ihr im Folgenden die Entwicklung und Funktion des Frankfurt-Bildes dargestellt werden soll. Kaum ein Städtelob oder eine Stadtbeschreibung aus der kosmographischen Literatur ging nicht auf die geographische Zentralität Frankfurts ein: »Sie wird beschützt vom ganzen Reich/Weil sie liegt in der Mitten gleich«,48 schrieb 1580 David Sigismund (Büttner). Dies liegt neben der tatsächlichen geographischen Verortung der Reichsstadt auch in der humanistischen Beschäftigung mit den Laudes urbium der Antike begründet, in denen die Kategorie des Situs eine gro47 Noe, 1993, S. 277. 48 Davidis Sigemundi, 1580, S. 591-594, Frankfurt-Vers auf S. 593. Deutsche Übersetzung aus: Kathrein/Krüger, 1990, S. 17. Lateinisches Original: »Moenia Teutonici tua sunt compendia Regni.« 189
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ße Rolle spielte.49 Ein Lob auf eine Stadt galt sogar als unvollständig, wenn es keine Angaben über die topographischen Verhältnisse und deren Vorzüge enthielt.50 Die humanistische Tradition und die gattungsspezifischen Eigenheiten des Städtelobs und der geographisch-topographischen Abhandlungen sowie der Apodemiken und Reiseanleitungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die grundsätzlich die geographische Lage beschrieben,51 führten schließlich dazu, dass sie im publizistischen Bild Frankfurts einen großen Stellenwert einnahm, und das unter einer sich wandelnden inhaltlichen Fokussierung bis zum Ende des Alten Reiches.
4. Gute Erreichbarkeit: Wechselwirkung von geographischer und politischer Zentralität Einer der wichtigsten Aspekte im Diskurs über Frankfurts zentrale geographische Verortung war die gute Erreichbarkeit der Reichsstadt sowohl für die Kurfürsten als auch für Handelsreisende. So stand die geographische Zentralität im Frankfurt-Bild in einer sehr engen Verbindung mit der politischen Zentral ortfunktion. Schon Gunther de Pairis hob 1187 im Ligurinus die Bedeutung des Ortes aufgrund seiner politisch und geographisch prominenten Lage hervor: »Über den nächsten Träger der heiligen Krone beratend/Kommen die edelsten Fürsten des ganzen Reiches zusammen/An der Stätte, die weithin bekannt am strömenden Mainfluß/Hochberühmt durch Lage und Volk.«52 500 Jahre später klang das Frankfurt-Lob von Christoph Colerus auffallend ähnlich: »Ein Stadt gelegen an dem Mayn/Nicht weit da er fällt in den Rhein/Die kan sich rühmen überall/Daß sie sey aller Kayser Saal.«53 49 50 51 52
Schmid, 2012, S. 141. Kugler, 1982, S. 107; Ders., 1983, S. 175. Arnold, 2000, S. 251; Szende, 2004, S. 258. Lateinisches Original: »Acturi sacrae de successore Coronae/Conveniunt Proceres totius viscera Regni/Sede satis nota, rapido quae proxima Mogo/Clara situ, populoque frequens.« Vgl. Knapp, 1982, nicht pag. Deutsche Übersetzung aus Diehl, 1939, S. 207. 53 Christoph Colerus, um 1630. Abgedruckt im lateinischen Original bei Reusner, 1651, S. 60f.: »Heic Mercatorum fanum clarissima fundo/Qua Moenus Rheni trepidat miscerier vadis/Et sua participant cordati nomina Franci./Caesaribus sum nota domus templumque legendis.« Deutsche Übersetzung in Diehl, 1939, S. 228f. 190
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Gegenüber der stilisierten Form des Städtelobs mit seinen stereotypen Beschreibungen gingen die Kosmographien des 16. und 17. Jahrhunderts stärker auf die tatsächliche geographische und topographische Lage Frankfurts ein: »Die Statt Franckfort ligt zwar am Mayn, sie ligt aber doch nicht im Fränckischen Zirck, aber doch nicht weit darvon, sie ist ein vorneme Reichsstatt, hat in long. 25 grad 38 min. in latit. 50 grad. 12 min«54 – so steht es in der 1597 gedruckten Cosmographia von Johann Rauw. Neben den Stadtlobgedichten trugen somit auch die topographischen Beschreibungen zur Verbreitung des Bildes von Frankfurt in einer gut erreichbaren Lage in der Mitte des Alten Reiches bei, ebenso wie die Chronisten. Zum Beispiel führte der Verfasser der Annales Reipublicae Francofurtensis (1571-1698) als scheinbar einfache Erklärung für die Bestimmung Frankfurts zur Kaiserwahlstadt die günstige Lage im Heiligen Römischen Reich an: »Zu der wahl [sei] kein gelegener ort im Römischen Reich zufinden gewesen«, wie man auch bei dem Trierer Rechtsgelehrten August Vischer55 nachlesen könne, den der Chronist ebenfalls zitiert.56 Im Anschluss an diese Beschreibung hat der Chronist außerdem einige bekannte – und oben bereits erwähnte – Lobsprüche auf Frankfurt in seinen Text eingefügt, in denen die geographische Lage thematisiert wird. Unabhängig von sich verändernden Handels- und Reiserouten oder Fortbewegungsmöglichkeiten blieb die gute Erreichbarkeit im Stadtbild fest verankert. Durch die Präsenz des Zentralitäts-Topos in den Stadtlobgedichten, Kosmographien und Chroniken fand dieser schließlich Eingang in die Reiseliteratur, deren fester Bestandteil bis ins ausgehende 18. Jahrhundert die topographischen Gegebenheiten waren.57 1611 verortete der Engländer Thomas Coryate Frankfurt sogar »in the very meditullium or heart of all Germany«.58 Auch die gute Erreichbarkeit für die Kurfürsten als Erklärung für die Bestimmung Frankfurts 54 Rauw, 1597, S. 395. 55 Vischer, 1620: »Sita est urbs in eo Germaniae loco, quo nullque commodior optari qveat, […] dinarum tantam multitudinem hominum accire solet, eam veluti centrum in medio positam esse reperiemque. […] Francofurto, […] tanta est loci opportunitas, tanta est copia commerciorum, tanta illic frequentium commeantium ut qcqd usquam nascitur, illic commodius distrabatur.« (Hervorhebungen der Verfasserin). 56 Annales Reipublicae Francofurtensis. Verfasst: 1571-1698, Laufzeit: 744-1698. ISG Ffm, Chroniken S5/1, fol. 29v-30r. 57 Hentschel, 1991, S. 62. 58 Coryate, 1611, S. 161. 191
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zum Ort der Königswahlen und Kaiserkrönungen übernahmen die Reisenden. Frankfurt liege, wie der Baron Carl Ludwig von Pöllnitz 1735 in seinem Reisebericht schrieb, »mitten in dem Reich« und sei von allen Fürsten, »sonderlich aber die Geistlichen Churfürsten, und den von der Pfalz viel bequemer« zu erreichen. Sie könnten »alle ihre Equipage zu Wasser hin und her kommen lassen«.59 Auch im Ausland ist Frankfurts gute Erreichbarkeit stetig tradiert worden, wie der Reisebericht des Engländers Stevens Sacheverell von 1759 deutlich macht, der auch ins Deutsche übersetzt worden ist.60 Gründe für Frankfurts Entwicklung zu einem der wichtigsten reichspolitischen Zentren waren demnach für die Zeitgenossen der Frühen Neuzeit nicht nur seine Königsnähe, sondern auch seine zentrale, verkehrsgünstige Lage, die bei den Kaiserwahlen von allen Kurfürsten – insbesondere den vier rheinischen – verhältnismäßig bequem erreicht werden konnte.61 Der Historiker Lothar Gall spricht sogar von »eine[m] der natürlichen Zentren Deutschlands«,62 das Frankfurt über viele Jahrhunderte hinweg gewesen sei. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den Lexikonartikeln, beschränkten sich die Informationen über Frankfurt zumeist auf eine kurze geographische Einordnung in den regionalen Raum.63 Ähnlich sachlich schilderten auch die Stadtbeschreibungen Frankfurts geographische Lage, ohne auf besondere Vorteile einzugehen, wie zum Beispiel Johann Heinrich Faber 1788: »Frankfurt am Mayn liegt eigentlich in der nördlichen gemässigten Zone, nemlich 50 Grade nebst 4 Minuten von der Mittellinie nach dem Nordpol hin, und steht von dem Meridiane, den man über Paris zieht, 6 Grade und 10 Minuten ab.«64 Im Laufe der Zeit sahen die Autoren dann nicht mehr die geographische Zentralität als Voraussetzung für die politische Bedeutung an, sondern beurteilten umgekehrt die vorteilhafte politisch-nachbarschaftliche Verortung als güns59 Pöllnitz, 1735, S. 45. 60 »This city is said to be in the very centre of Europe, and on this account it was thought a proper place to crown the emperors in, being so convenient for all the electors to meet at on that occasion.« Vgl. Sacheverell, 1758, S. 378. 61 Härter, 2006, S. 179. 62 Frankfurter Historische Kommission, 1991, S. 8. Siehe auch Mack, 1994. 63 »Franckfurt am Mayn, […] zum Ober-Rheinischen Crayß gehörig, 2 Meil. von Hanau, und 4 von Maynz, an den Fränkis. Gränzen in der Wetterau gelegen.« Vgl. Hübner, 1759, Sp. 421. 64 Faber, 1788, S. 1. Allerdings verfasste Faber jeweils eigene ausführliche Kapitel zur besonderen Fruchtbarkeit und zum Verlauf des Mains. 192
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tig für Frankfurts weitere Entwicklung. Der in Höchst bei Frankfurt geborene Jurist, Schriftsteller und Reisende Johann Kaspar Riesbeck beschrieb in seiner 1783 anonym veröffentlichten Reisebeschreibung die günstige (Ausgangs-) Lage Frankfurts gegenüber seinen Nachbarterritorien, indem es »mitten in dem beßten Theil von Deutschland [liege], dessen natürlicher Reichthum den Luxus begünstigt, und der in so unendlich kleine Herrschaften zerstückt ist, daß sie von Verboten fremder Waaren und Prachtgesetzen nichts zu beförchten hat.«65 Darüber hinaus habe die Stadt keinen »so mächtigen und über seinen und seiner Unterthanen Nutzen so aufgeklärten Nachbarn, wie Danzig, welches die nämliche Art von Gewerbe trieb, als sie«.66 Sowohl die sachlich verfassten politisch-geographischen Gelehrtenschriften und Lexikon-Einträge als auch die empathisch-affektiv geprägten Stadtlobgedichte und Reisebeschreibungen formten ein Bild von Frankfurt als einem geographischen Zentrum des Alten Reiches, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts tradiert wurde. Die stereotype Ausprägung des Zentralitätsaspektes wird auch an der Vielzahl an Städten deutlich, die für sich beanspruchten, in der Mitte des Alten Reiches oder Europas zu liegen, was aber häufig symbolisch gemeint war oder sich auf die jeweilige lokale und überregionale gute Verkehrsanbindung bezog.67 Parallelen in den publizistischen Stadtbildern gibt es daher vor allem zu den Städten, die in Funktion und Bedeutung einer ähnlichen Kategorie angehörten wie Frankfurt, d.h. Reichs-, Messe- und Handelsstädte. Nürnberg, Köln, Lübeck oder Speyer wurden – ähnlich wie Frankfurt – von den Humanisten stereotyp als Zentralorte, als Mitte Deutschlands und der Welt bezeichnet und an Kreuzungspunkten wichtiger Fern- und Handelsstraßen sowie an Flüssen verortet.
5. Die Lage am Main: »Motor« für Verkehr und Handel Es hat sich im vorangegangenen Kapitel bereits angedeutet, dass das FrankfurtBild sehr stark auf die geographische Lage am Main und gute Erreichbarkeit als Vorteil auch für Wirtschaft und Handel68 abzielte: »Auch schiffrich wasser 65 66 67 68
Riesbeck, 1783, S. 387. Ebd., S. 387f. Siehe beispielsweise bei Neuhaus, 2002, S. 20f.; Staab, 1994, S. 362, 380. Siehe zur Bedeutung des Mains für die mittelalterliche Binnenschifffahrt und den Handel Molkenthin, 2004. 193
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Meun genent/von manchem Kauffmann wol bekent«,69 lobte Johann Steinwert von Soest 1501 die Lage Frankfurts am Main. »Intersecat hac urbem Moenus magnus & navigabilis«,70 heißt es in den Deliciarum Germaniae von Gaspar Ens (1570-1650); ein weiteres von zahlreichen Beispielen. Im MarckschifferGespräch von 1596 werden die zentrale geographische Lage und der sichere Warentransport auf dem Main als ›Qualitätsmerkmal‹ für den internationalen Warenhandel besonders deutlich hervorgehoben: »Die Mitt dess Teutschland eingenommen/Von allen Orthen weit herkommen/Die Kauffleut in grosser Anzal. […] Dass also ist in ganz Teutschland/ Kein glegner Orth, der besser zhand. […] Der Mayn daran hin fliessen thut./ Auff dem sovil Schiff kommen an/Mit allerley Wahren, Weib und Mann. […] Halten also der Main und Rhein/Correspondentz und gutverein.«71
Wie wichtig die Betonung der zentralen geographischen Lage im 16. Jahrhundert offenbar war, zeigt auch das Städtelob von David Chytraeus (1530-1600) auf die Handelsstadt Rostock. Er fühlte sich bemüßigt, die fehlende angenehme Lage damit zu kompensieren, dass die wertvollen Verdienste städtischer Gemeinschaft (evangelische Lehre, Wissenschaft, wahre Frömmigkeit, Tugenden) ebenso wie die Schönheit der Mauern und Häuser viel kostbarer seien als die Vorteile eines Hafens.72 Interessanterweise spielte der Hafen am Main – trotz seiner erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung – im literarischen Frankfurt-Bild keine große Rolle.73 Während Maria Bogucka in der polnischen Reiseliteratur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausführliche Beschreibungen von Danzigs Hafen als mächtigem Treffpunkt von Kaufleuten aus fernen Ländern und Einheimischen aus ganz Polen, als Raum vom »aktiven Verkaufs- und Kaufgeschehen«,74 aber auch von den Speichern, Hafenanlagen und Schiffen ausmachen konnte, wurde das Geschehen am Frankfurter Hafen nur rudimentär beschrieben. In den 69 70 71 72 73
Soest, 1501 (1811), S. 77. Ens, 1609, S. 138. Mangold, 1596, S. 58f. Hammel-Kiesow, 2004, S. 38. Julia A. Schmidt-Funkes Forschungen zu materieller Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt haben gezeigt, dass es sich in den frühneuzeitlichen bildkünstlerischen Darstellungen anders verhält. Vgl. Schmidt-Funke, 2016, S. 166-171. 74 Bogucka, 2012, S. 74. 194
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Chroniken wurde der Hafen z.B. erwähnt, wenn die Schiffe wegen Hochwasser nicht beladen oder gelöscht werden konnten. Eine Erklärung hierfür mag darin liegen, dass der Hafen im Danziger Stadtbild die Funktion übernahm, die die Handelsmessen im Frankfurter Bild übernommen haben: »Viele benachbarte Örter bringen in Meß-Zeiten leichtlich eine solche grosse Menge Volcks zusammen, daß man wohl sagen kann, sie mache die Mitte von allen herumliegenden Örtern aus.«75 Abb. 1: Matthäus Merian, Die Steinerne Brücke zu Franckfurt, Kupferstich, Frankfurt a.M. 1646.
Den zeitgenössischen Äußerungen nach wurde Frankfurt besonders während der Handelsmessen zu einem Zentralort. Ein Sprung an das Ende des Untersuchungszeitraums zeigt die Kontinuität des Zentralitäts-Topos im Frankfurter Stadtbild. Frankfurt habe sich nämlich nach Ansicht eines anonymen Verfassers, der 1789 im Journal von und für Deutschland über die Reichsstadt schrieb, dadurch vor anderen wichtigen Städten ausgezeichnet, »daß die jährlichen zwey Messen daselbst einen großen Zufluß von Fremden auf einigen Wochen veranlassen; da sich eben daselbst die Reise-Ruten beynahe durch ganz Europa kreuzen«.76 75 Lersner, 1706, S. 7f. 76 Anon., 1789, S. 193. 195
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Parallelen finden sich wiederum in Stadtbeschreibungen und Lobgedichten auf Danzig, die häufig die Lage der Stadt in der Nähe des Meeres und an der Weichsel beschreiben, die schiffbar gewesen sei, den Handel mit Polen ermöglicht und den Zugang zu lebenswichtigen Gütern gewährleistet habe, was der eigentliche Grund für den Reichtum Danzigs gewesen sei.77 Auch im Hamburger Städtelob nimmt die Elbe eine zentrale Stellung als Begründung für die wirtschaftliche Stärke und den Reichtum der Stadt ein.78 Gleiches gilt für Warschau. Obwohl die polnischen Städte in Stadtlobgedichten (kaum vorhanden) und Reisebeschreibungen eher selten positiv beschrieben wurden, nahmen die Reisenden die schöne Lage der Stadt auf dem hohen Weichselufer lobend wahr.79 Einige Autoren verglichen Frankfurt und den Main mit europäischen ›Hauptstädten‹ und Hauptflüssen und machten Frankfurt gar zu einer »Hauptstadt« des Reiches und Europas, wie Johann Ludwig Gottfried um 1630: »Gallia Lugdunum miratur, at Itala tellus/Rem Venetam, Hispanos operosa Sevillia jactat,/ Londinum Tamesis, speciosa Antwerpia Scaldem,/Ast ego Teutonicas inter caput altius urbes/Effero Francfurtum, qua pons tua, Moene, fluenta.«80 Gottfried stellt hier einen Vergleich mit anderen Städten und Flüssen aus der Antike an, in dem das gelobte Frankfurt sämtliche Städte überbot. Der Autor Christoph Petschke erwähnte 1657 die Reichsstadt in einem Atemzug mit Venedig, um Frankfurts strategisch vorteilhafte Lage innerhalb des europäischen Handelsnetzes zu betonen.81 Selbst die zentrale Lage der europäischen Handelsstadt Venedig könne nicht mit Frankfurt konkurrieren. Sie berge sogar mehr Nach- als Vorteile, weil Hochwasser, Unwetter und Stürme eine Gefahr darstellen würden.
77 Zeller, 1998, S. 34, 39. 78 Hammel-Kiesow, 2004, S. 47. 79 Vgl. Bogucka, 2012, S. 72. Es handelt sich um den Reisebericht von Jean Paul Mucante von 1596. 80 Diesen Vers hat Johann Ludwig Gottfried um 1630 für die Vignette des Frankfurter Stadtplans von Matthäus Merian (Abb. 2) geschrieben. Deutsche Übersetzung: »Frankreich bewundert Lyon, Italien rühmt sein Venedig,/Das Hispanische Volk ist stolz auf das tätige Sevilla,/London rühmt sich der Themse, das schöne Antwerpen der Schelde,/Ich aber preise höher als alle Städte in Deutschland/Frankfurt und seinen Strom, den Main.« Vgl. Diehl, 1939, S. 225. 81 Christoph Petschke: O edles Franckfurt, 1657. Abgedruckt in: Kathrein/Krüger, 1990. 196
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Abb. 2: Matthäus Merian, Francofurti ad Moenum, Kupferstich, Frankfurt a.M. 1628.
Für die historische Literaturforschung gehörte das Einreihen einer Stadt in den Rang antiker griechischer und großer bedeutender italienischer Städte zum humanistischen Verständnis insbesondere der lateinischen Literatur.82 So war die geographische Zentralität und vorteilhafte Lage an Handels- und Schifffahrtsstraßen als Bedingung für einen blühenden Handel nicht nur typisch für das Frankfurt-Bild. Sie fand sich regelmäßig in Lobgedichten auf Handels- und Messestädte. Auch die Stadtchroniken kolportierten im 17. und 18. Jahrhundert die für den Handel unerlässliche Lage am Main: Auf dem Fluss transportierten »die vornehmsten handelsstätt« Köln, Straßburg, Speyer, Würzburg, Bamberg »und andere örter« ihre Waren per Schiff von und nach Frankfurt, und zwar »alles in guter ordnung, auch ob schon etwan ein schiff außer seiner stell am Kran muß gelediget oder eingeladen werden, hatt es andoch so bald zu seiner stell wieder abzuweichen und sich in seiner ordnung finden zulaßen«.83 82 Ludwig, 1995, S. 63. 83 Aschaffenburg, ca. 1624, fol. 54v. 197
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Die Frankfurter Stadtlobgedichte, Kosmographien und Chroniken entwarfen somit ein Bild von Frankfurt als Handels-Knotenpunkt, dessen Lage am Main einen reichsweiten Handelsverkehr und Warenumschlag ermöglichte. Anknüpfend an humanistische Traditionen, blieb die Lage am Main bis in das 18. Jahrhundert hinein Bestandteil des Frankfurt-Bildes, nachdem es auch Eingang in die Reiseliteratur gefunden hatte. Der reisende Engländer Edward Browne ließ sich Ende des 17. Jahrhunderts besonders ausführlich darüber aus: »Dieses ist ein Ort von trefflicher Handelschafft, als dazu er wohl gelegen ist, durch den Vortheil, der ihm von dem Meyn-Fluß zukommet, als welcher Strom bey Bamberg, Schweinfurt, Würtzburg, Wertheim, Gemünd […] und andere Örter mehr vorbey fliesset; Über dieses fället auch der Tauberstrom und mehr andere Flüsse in diesen Meyn-Fluß, welches alles bequeme Gelegenheit giebet, vor den Handel mit den entlegenen Plätzen von Francken und andern Ländern; auch weil der Meyn hinunterwarts zu den Rhein sich gesellet, so giebet solches eine grosse Gemeinschafft sowohl der Auf- als der Niederfahrt bey diesen Flüssen.«84
Der Frankfurter Publizist und Schriftsteller Johann Isaak Freiherr von Gerning erwähnte zum Ende des Untersuchungszeitraums zwar nicht direkt die Lage am Main, beschrieb in einer im Neuen Teutschen Merkur veröffentlichten Stadtbeschreibung ganze 300 Jahre nach den ersten Stadtlobgedichten jedoch die »glückliche Lage« Frankfurts als »Grenzpunkt zwischen Norden und Süden« sowie als großen »Post- und Transito-Mittelpunkt von Europa«, was »noch lange den Wohlstand Frankfurts erhalten«85 werde. Neben die Funktion des Mains als Haupthandels- und Transportweg traten im 18. Jahrhundert weitere Aspekte, wie die Beschreibung des Flusses und des Wassers selbst. Nach Ansicht des Chronisten Johann Adolf Stock habe Frankfurt durch die Lage am Main einen »ansehnlichen und sonderbahren Vorzug«,86 weil in ihm nicht nur Goldkörner und Perlen gefunden würden, sondern der Main »ein angenehmer und lieblicher Fluß«87 sei, auf dem die Schiffe und Boote trotz seiner Strömung gefahrlos an ihr Ziel kämen.
84 85 86 87 198
Browne, 1685, S. 55. Gerning, 1799, S. 49. Stock, 1719, S. 79. Ebd., S. 80.
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Gleichwohl verschwiegen die Chronisten nicht die »zwo widrige[n] und böse[n] Eigenschaften«88 des Mains: Zum einen sei er in manchen Jahren zur Zeit der Herbstmesse an der Anlege- und Abladestelle so flach gewesen, dass es große Mühe bereitet habe, die Schiffe zu löschen und die Waren an Bord zu bringen. Zum anderen konnte es zur Ostermesse starke Hochwasser geben, dass die »Kaufleuthe zu ihren Kräm zu schiff fahren« mussten und das Handelsgeschäft erst in der letzten Messewoche verrichten konnten.89 Wiederholt war der Main zugefroren, das Wasser stand so tief, dass die Schiffe fast nicht über den Rhein gelangen konnten, oder die Mühlen mussten aufgrund des niedrigen Wasserpegels stillstehen.90 Die zentrale Bedeutung des Flusses im alltäglichen Leben der Frankfurter Bevölkerung sowie im tradierten Stadtbild wird aus der regelmäßigen Berichterstattung und Erfassung wetterbedingter Ereignisse offensichtlich. Zum Stadtbild gehörten somit auch die Gefahren und Probleme, die sich aus dem unmittelbaren Leben am Main ergaben.91 Es zeigt sich, dass das in der publizistischen Öffentlichkeit entworfene und tradierte Frankfurt-Bild trotz der vorherrschenden literarischen Konventionen keine reine Idealisierung und Verherrlichung war, denn die Stadtchroniken, aber auch Stadt- und Reisebeschreibungen setzten sich zum Teil kritisch mit den Eigenheiten und Besonderheiten Frankfurts und seiner Lage am Main auseinander. Überraschenderweise äußerten sich nicht nur auswärtige Beobachter kritisch, sondern auch aus städtischer Perspektive prägten differenzierte Stimmen das publizistische Frankfurt-Bild, möglicherweise in der Intention, eine größtmögliche Ausführlichkeit und Objektivität zu erreichen.
6. Die fruchtbare Umgebung: Ernährung und Versorgung Zum geographischen Frankfurt-Bild gehörte neben den politischen, verkehrstechnischen und ökonomischen Vorteilen die fruchtbare Lage am Main als Voraussetzung für eine mühelose Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Im Frankfurt-Bild des 16. und 17. Jahrhunderts nahm die Versorgungsfunktion einen prominenten Platz ein. Der Dichter Petschke machte in seinem Lobspruch von 1657 die Fülle an Nahrungsmitteln in Frankfurt durch eine Auflistung der 88 89 90 91
Waldschmidt, nach 1704, fol. 37. Ebd. Stock, 1719, S. 64f. Siehe hierzu ausführlich Schüssler, 2004. 199
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Götterfiguren deutlich, die für die vegetative Fruchtbarkeit und Reichhaltigkeit an Obst und Gemüse verantwortlich seien: »Obs gleich durch große Flut nicht wird herbey getrieben/So bringt es doch der Mayn, dem Tagus selber weicht/Dem seine Hand der Rhein, der Flüsse Vatter/reicht. […] Den satten Überfluß/die Cereß ihn bekräntzt/Der Liber und Pomon auff seinem Tische gläntzt./Hiermit ist sonderlich der Franken Furt bereichet/Daß ihm an Luft und Kost Elysium nur gleichet.«92
Dabei war es nicht untypisch für die humanistischen Lobsprüche, eine Stadt in ihrem ländlichen Umfeld zu zeigen,93 um auf die wirtschaftlichen Vorteile, die bevorzugte Lage in einer fruchtbaren Landschaft und die sichere Versorgung zu verweisen.94 Zu beachten ist an dieser Stelle die Anmerkung des Germanisten Hartmut Kugler, dass es im Städtelob nicht um die »Genauigkeit im wahrnehmbaren Detail« geht, sondern um »literarische […] Passformen«, die der Landschaft angeglichen werden,95 denn Ceres und Bacchus passen zwar durchaus ins Frankfurter Land, aber eben nicht nur dorthin. In den Laudationes anderer Städte findet man die Getreidegöttin und den Weingott ebenfalls. Für Kugler macht es den Eindruck, als hätten die humanistischen Lobredner »die beiden mediterranen Landgottheiten gern dort im Norden angesiedelt, wo es galt, das Umland einer Stadt als fruchtbar darzustellen«.96 Somit konnte sich der humanistische Ernährungs- und Wohlstandstopos im Stadtbild verankern, war aber nicht nur spezifisch für das Frankfurt-Bild. Er gehörte zum üblichen Themenkanon des Städtelobs von Reichs- und Handelsstädten. Als ein Beispiel von vielen ist das Preisgedicht auf Flensburg, Regiae Urbis Flensburgae Qualecundque Praeconium (zwischen 1587 und 1593), von Zacharias van Widing zu nennen. Darin schrieb er: »Denn Du bietest Nahrung und Wohnung allen […]. Denn der Herr hat Dich durch allerlei Gaben gesegnet, durch eine Flotte, die Förde, den Hafen und die Bequemlichkeit der Lage.«97 92 Christoph Petschke: O edles Franckfurt, 1657. Abgedruckt in: Kathrein/Krüger, 1990, S. 29f; Diehl, 1939, S. 229f. 93 Haselberg, 2006, S. 37. 94 Fouquet, 2004, S. 48. 95 Kugler, 1982, S. 104. 96 Ebd.; Ders., 1983, S. 172. 97 »Tu siquidem praebes alimenta habitacula cunctis, Commoda divitibus, commoda pauperibus. Omnigena siquidem Dominus te dote beavit Classe, freto, portu, commoditate situs. […] Distribuis iusto merces dein aere colonis Finitimis, tibi 200
Der »Central-Platz« Frankfurt
Doch nicht nur die auf die Vorteile eines Ortes konzentrierten Stadtlobgedichte, sondern auch die kosmographisch-geographischen Beschreibungen des 17. Jahrhunderts beschrieben Frankfurt als eine Stadt, die auf einem »schönen Boden«98 gelegen sei, womit sie auf dessen Fruchtbarkeit abzielten. Die Lage Frankfurts und die Versorgungsmöglichkeiten spielten auch in den Chroniken des 17. Jahrhunderts eine Rolle, wobei erneut der Main ein facettenreiches und zentrales Element darstellt, habe er doch »ein sehr frisches, gesundes Waßer«.99 Bekannt sei der Main außerdem laut Waldschmidt-Chronik »wegen seiner guten und vielen fische […], daß er von etlich Moenus pisciferus oder piscopus, der fischbringende oder fischreiche Mayn genennet wird«.100 Im Sommer 1625 sei der Main sogar so reich an Fischen gewesen, dass »nicht alle verkauffet werden«101 konnten. Was der Stadt ansonsten fehle, würden die vier berühmten Auen ersetzen, die »Wetterau, welche den Speicher, das Ringau den Keller, das Gerau die Küchen mit Gemüß reichlich versorget«. Was dann womöglich immer noch fehle, das »ersetzet der Mayngaw«, insbesondere Brenn- und Bauholz sowie Früchte.102 Der Fruchtbarkeitstopos wurde infolge intertextueller und kompilatorischer Schreibgewohnheiten des 16. und 17. Jahrhunderts auch von Reisenden rezipiert, die in ihren Beschreibungen von Frankfurts Lage »am Mayn […] in einem fruchtbaren Lande«103 berichteten, wie 1694 Prinz Wilhelm von Nassau-Dillenburg. Ein Herr von Blainville beschrieb Frankfurt sogar wegen seiner vorteilhaften versorgungstechnischen Lage in einer weiten, ebenen und offenen Landschaft als »Hauptstadt«104 der Wetterau. Sie sei »so wohl gelegen, daß Franken und die Pfalz ihr allen Überfluß an Korn und Wein bequem zuführen können«.105 Die gedruckten Chroniken und Reisebeschreibungen führten im 18. Jahrhundert das Bild von Frankfurt als in einer fruchtbaren Gegend gelegener Stadt
98 99 100 101 102 103 104 105
ceu proximitate sitis; Sede sitis tibi quin longinqua sive propinqua […]: In quibus es sita, ceu centrum, regionibus atque Cincta tibi atque istis commoditate loci.« Abgedruckt in: Ehrhardt, 2006, S. 156f. Nigrinus, 1673, S. 28. Waldschmidt, nach 1704, fol. 34. Ebd. Aschaffenburg, nach 1638, fol. 54r. Lersner, 1706, S. 8. Nassau-Dillenburg, 1694, fol. 240. Blainville, 1764, S. 162. Ebd. 201
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fort.106 Andreas Meyer hat sich von zahlreichen Reisenden besonders ausführlich mit der fruchtbaren Lage Frankfurts beschäftigt: »Was nun die Lage der Stadt anbetrift [sic], so hat man die angenehmste und zugleich die fruchtbarste Gegend für sie ausgesucht. Der Mayn stiesset gleich an den Thoren der Stadt vorbey, an welchem nicht allein eine Menge artiger Gärten angelegt sind.«107 Schließlich trugen auch die Zeitungs- und Konversationslexika des späten 18. Jahrhunderts dazu bei, dass sich Frankfurts fruchtbare Lage am Main bis zum Ende des Alten Reiches im Stadtbild erhalten konnte. Gegenüber der wirtschaftlichen und Versorgungsfunktion trat im Laufe der Frühen Neuzeit die politische Zentralitätsfunktion in Bezug auf das Reichsgefüge zunehmend in den Hintergrund. Johann Adolf Stock zum Beispiel setzte in seiner Stadtbeschreibung Mitte des 18. Jahrhunderts den Schwerpunkt auf die Fruchtbarkeit des Bodens und die lokalen Vorteile, von denen Frankfurt habe profitieren können, während er die zentrale Bedeutung auf Reichs- und europäischer Ebene nicht mehr ansprach.108 Neben der historisch-politischen Zentralität als Begründung für Frankfurts Ansehen im Alten Reich spielte die Funktion der Ernährung und Versorgung der Bevölkerung aufgrund der günstigen Lage in einer ertragreichen Natur eine zunehmende Rolle. Damit deutet sich ein Wandel im öffentlichen Bild Frankfurts an. Die politisch zentrale Bedeutung der Stadt für Versammlungen rückte gegenüber sozialen Bedürfnissen sukzessive in den Hintergrund, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.
7. Landschaft, Kultur und Natur Während Frankfurts geographische Verortung im 16. und 17. Jahrhundert vorwiegend aus einer politischen, ökonomischen und pragmatischen (Ernährung, Versorgung) Perspektive betrachtet wurde, trat Mitte des 18. Jahrhunderts eine ästhetische Konnotation hinzu. Im Gegensatz beispielsweise zu den humanistischen Laudes auf Köln, die bereits im 16. Jahrhundert das ländliche Umfeld der Stadt als topische Frühlingslandschaft des locus amoenus, des Lustortes, darstellten, sind für Frankfurt in dieser Zeit noch keine derartigen Beschreibungen überliefert.109 Das mag damit zusammenhängen, dass die für Frankfurt über106 107 108 109 202
Siehe z.B. Stock, 1753. Meyer, 1777, S. 61. Stock, 1753, S. 23. Rautenberg, 1994, S. 62.
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wiegend vorhandenen volkssprachlichen Lobsprüche die Stadt nicht von außen wahrgenommen haben.110 Der Reisebericht des Italieners Galeazzo Gualdo-Priorato war eine frühe Ausnahme und verortete Frankfurt bereits 1668 in einer der schönsten und bevölkerungsreichsten Gegenden des ganzen Reiches.111 Friedrich Andreas Walther stellte dann erstmals in seinem 1748 erschienenen Lobgedicht auf Frankfurt einen romantisch anmutenden Bezug zur Herrlichkeit der Natur her: »Hier, wo der Mayn auf grünen Matten/Die plauderhaften Wellen stillt/Hier mahlt sich auf der Flut im Schatten/Des alten Tyrus Ebenbild./Hier sieht man Franckfurt sich bemühen/Hier sieht man seine Grentzen blühen.«112 Sogar den Ernährungstopos untermalte Walther mit einem romantisierten Bezug zur Natur, umschrieben mit zahlreichen harmonisierenden Adjektiven und Verben.113 Anton Kirchner beschrieb Frankfurts Lage um 1800 als »freundlich an des Maines schönem Strande. […] Und ringsherum, ein Schooskind der Natur/begrenzt die freie Stadt die freie Flur«.114 Eine Erklärung für das sich wandelnde Stadtbild und den Einbezug der als schön beschriebenen Frankfurter Gegend kann der Literaturwissenschaftler Paul Gerhard Schmidt liefern. Während im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Aspekte des städtischen Lebens wegfielen, wurden gleichzeitig die zum Maßstab angelegten Auswahlprinzipien zur Beschreibung der Städte umfangreicher und vielfältiger. Dazu gehörte auch die Berücksichtigung des städtischen Umlands und bedeutender Persönlichkeiten einer Stadt.115 So liege Frankfurt »in einer großen und sehr schönen Ebene, welche die gütige Natur mit 110 Kugler, 1986, S. 5, 188-227. 111 »Giace questa Città nel Paese chiamato la Vetteravia trà la Franconia, e l’Landgraviato d’Hassia, una della più belle, e popolate regioni della Germania, in campagna aperta, e piana abbondantissima de grani, e d’ogni intorno coronata de piaccevoli monti, e collinette ripiene de vigne d’arbori fruttiferi tempestate di casamenti, & alle falde delle medesime.« Vgl. Gualdo-Priorato, 1668, S. 93f. 112 Die Vorzüge der Stadt Franckfurt erschienen 1748 als Privatdruck. Zitiert nach: Walther, 1926, nicht pag. 113 »Ein Walt umhüllet Berg und Hügel/Bald schwingt der West die sanften Flügel/ Ins Reich beladner Aehren hin:/Bald sieht man durch die fette Wiesen/Den großen Mayn-Strom wallend fließen/Und bald den theuren Weinstock blühn.« Zitiert nach: Walther, 1926, nicht pag. 114 Anton Kirchner: Hoch strahlst du. Abgedruckt in: Kathrein/Krüger, 1990, S. 175. 115 Schmidt, 1981, S. 123f. 203
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allen ihren Schätzen reichlich versehen hat«,116 schrieb Friedrich Justinian von Günderode 1783 in seiner Reisebeschreibung. Für den Reisenden Samuel Gottlieb Voigt war Frankfurt 1780 »eine der schönsten Städte im deutschen Reiche« in einer unvergleichlichen Lage und einer »der angenehmsten [Gegenden] in der Welt«.117 Die spezifischen Gegebenheiten vor Ort rückten im Frankfurt-Bild sukzessive in den Vordergrund, wie die herrlich anzusehende Natur auf dem Weg von Mainz nach Frankfurt, das in den Augen des Reisenden August Joseph Ludwig von Wackerbarth »majestätisch ausgebreitet daliegt«, schon von außen »bezaubert« und mit seinen grünen Weingärten fremde Besucher »unwiderstehlich« anlocken würde.118 Ein Perspektivwechsel mit dem Blick in die Stadt hinein und fokussiert auf persönliche und gesellschaftliche Belange lässt sich 1780 auch bei Johann Georg Sulzer ausmachen, der das städtische Vergnügen, die schönen Gärten119 und Landhäuser sowie das Erscheinungsbild der Stadt beschrieb.120 Der königlich preußische Ökonomie-Kommissar Karl Cranz, der seine Reise 1801 explizit unter landschaftlichen Aspekten unternahm, fand die schönsten Spazierwege in der Nähe des Mains. Der Fluss verschönere die Lage der Stadt sowohl durch seinen »grossen Wasserspiegel« als auch durch die »beständig auf demselben ankommenden und abgehenden Schiffe ungemein«.121 Als Begründung für Frankfurts außerordentliche Lage nannten die Verfasser der Stadt- und Reisebeschreibungen seit etwa 1700 auch kulturelle Aspekte, Sehenswürdigkeiten und geographisch-geologische Besonderheiten, wie den Feldberg, auf dem man »alte heydnische Monumenta«122 betrachten könne, das Hochfürstliche Hessische Schloss Homburg, die Kur-Mainzische Festung Königstein, das alte Stamm-Haus der Grafen von Cronburg und neben Falckenstein die »alte berühmte Reichs-Stadt Friedberg«.123 Auch die ›natürlichen Nachbarn‹ Frankfurts fielen den Betrachtern nun stärker ins Auge. Dazu zählten der Spessart, der Odenwald mit der bekannten Bergstraße und die weinreiche Gegend von Hochheim und Mainz. 116 117 118 119 120 121 122 123 204
Günderode, 1783, S. 311. Voigt, 1780, fol. 16v. Wackerbarth, 1794, S. 79. Ausführlich siehe hierzu Kern, 2004. Sulzer, 1780, S. 17. Cranz, 1805, S. 100. Gottschling, 1709, S. 8. Ebd., S. 8f.
Der »Central-Platz« Frankfurt
Doch nicht nur die Natur, das Freizeitvergnügen und kulturelle Sehenswürdigkeiten in und um Frankfurt prägten in der zweiten Jahrhunderthälfte das Stadtbild, sondern auch gesundheitliche Aspekte und persönliches Wohlbefinden.124 Johann Bernhard Müller erwähnte 1747 in seiner Stadtbeschreibung die in einem kleinen Bezirk um Frankfurt herum gelegenen »Gesundheits-Brunnen und warme[n] Bäder« in Wiesbaden, Schlangenbad oder Schwalbach.125 Er hat der »Laage und Gegend« sogar ein eigenes Kapitel gewidmet, liege die Stadt doch unbestritten in einer der schönsten Gegenden Deutschlands, was auch mit der gesunden Luft zusammenhänge.126 Einige Zeitschriftenartikel dieser Zeit rühmten Frankfurt für seine »wegen der Lage, Winde und Speisen sehr gesund[en]«127 Situation.
8. Zusammenfassung: Kontinuität und Wandel Die geographische Lage Frankfurts war ein zentraler Bestandteil des Stadtbildes. Frankfurts Wahrnehmung als »Central-Ort« war geprägt durch eine untrennbare Wechselwirkung zwischen geographischer, politischer, wirtschaftlicher, aber auch kultureller Zentralität – ausgehend davon, dass die geographische Zen tralität im Humanismus als ›Qualitätsmerkmal‹ für Reichs- und Handelsstädte hervorgehoben wurde und dadurch Eingang in den Frankfurt-Diskurs fand, der bis in das ausgehende 18. Jahrhundert Bestand hatte. Gleichwohl veränderte sich das Bild von einem reichs- und europaweit politisch und handelstechnisch zentral gelegenen Standort am Main zu einem wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich bedeutsamen Ort in einer angenehmen und sehenswerten Gegend. Dabei fiel es den Zeitgenossen offenbar schwer, von dem lange tradierten Topos abzuweichen, wie die teilweise wortwörtliche Kontinuität des Zentralitätstopos im Frankfurt-Bild verdeutlicht. Somit wurde trotz oder gerade wegen des politischen und wirtschaftlichen Wandels128 im 17. und 18. Jahrhundert, sozialer 124 Über die Ursachen von Krankheit oder Gesundheit – wie die saubere Luft am Main – in der Frankfurter Bevölkerung hat Johann Adolph Behrends 1771 ein umfangreiches Werk verfasst. Vgl. Behrends, 1771. 125 Müller, 1747, S. 3, 15. 126 Ebd., S. 12f. 127 Burggrave, 1753, S. 334. 128 Schwerpunktverschiebungen von Handelszentren und wirtschaftliche Einbrüche durch Kriegsereignisse insbesondere im Zuge des Dreißigjährigen Krieges ab 1631 bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Siehe Schindling, 1991, S. 223f. 205
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innerstädtischer Konflikte129 und der nachlassenden politischen Bedeutung des Kaisertums und der Institutionen des Heiligen Römischen Reiches gegenüber einer zunehmenden Territorialisierung130 das Bild von Frankfurts zentraler geographischer Lage in der gesamten Frühen Neuzeit stereotyp tradiert. Ein Grund hierfür war Frankfurts Stellung als Reichsstadt, die laut der Germanistin und Historikerin Ursula Paintner zwischen »lokaler Anbindung und reichsstädtischer Bedeutung oszilliert[e]«.131 So ging es darum, den Bewohnern der Stadt nach innen zu vermitteln, in welcher Form Frankfurt regional und überregional eingebunden sei, als auch darum, nach außen den Anspruch reichsstädtischer Geltung überzeugend darzulegen. Parallel dazu verengte sich der Fokus im Frankfurt-Diskurs sukzessive von der europäischen und reichsweiten Bedeutung der Stadt auf die regionale und lokale Ebene. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass Frankfurts politische Rolle nicht nur im Reich, sondern auch im eigenen Stadtbild allmählich verblasste. Stattdessen rückte die Bedeutung der Kommune für ihre Bewohner, ihr Umland und die Nachbarschaft in den Mittelpunkt. Diese Entwicklung ist sicherlich auch auf die Weiterentwicklung der literarischen Gattungen und einer sich verändernden Praxis des Reisens und Beschreibens zurückzuführen. Denn nicht mehr nur die einzelnen Stationen, sondern auch der Reiseweg zwischen den Zielen geriet verstärkt in den Blick des Betrachters.132 Schließlich trat die politische Mittelpunktfunktion im Frankfurt-Bild im Laufe des 18. Jahrhunderts hinter die Bedeutung als kulturell und wirtschaftlich bedeutsamer Ort mit individuellen Vorzügen für die Bewohner und Besucher zurück, die in Frankfurt offenbar auf eine schöne, fruchtbare Gegend und herrliche Natur samt reizvollen Sehenswürdigkeiten stießen. Die eingangs gestellte Frage nach der Entwicklung und Funktion des in der literarisch-publizistischen Öffentlichkeit tradierten Frankfurt-Bildes der Frühen Neuzeit lässt sich nicht mit einem Satz beantworten. Zunächst bleibt festzuhalten, dass viele der Bildbestandteile – so auch die geographische Zentralität – so alt sind wie das Genre des Städtelobs und der humanistischen Stadtbeschreibung. Die Untersuchung der Stereotypen hat aber auch ergeben, dass im Laufe der Zeit neue Topoi und Stereotypen hinzukamen, während andere verblassten oder trotz ihrer bemerkenswerten Kontinuität neu betrachtet wurden und sich 129 130 131 132 206
Duchhardt, 1991, S. 289-295. Burgdorf, 2006, S. 15. Paintner, 2010, S. 372. Bödeker, 1986, S. 292-295.
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inhaltlich veränderten, wie hier ausführlich anhand der geographisch zentralen Lage Frankfurts aufgezeigt wurde. Somit war der Diskurs geprägt durch eine kontinuierliche intertextuelle Fortschreibung von Topoi und Stereotypen, die unter anderem in den untersuchten literarisch-publizistischen Formen begründet liegt. Letztere orientierten sich an relativ starren rhetorischen und stilistischen Vorgaben und waren durch feste inhaltliche Punkte charakterisiert, die es von den Autoren praktisch ›abzuarbeiten‹ galt. Einmal entwickelt, konnten diese Stereotypen sich zwar verändern, zeitweise auch verblassen oder durch neue ergänzt werden, doch vollständig verschwunden sind sie nie. Dabei mag erstaunen, wie kontinuierlich und langlebig gewisse Topoi das Bild Frankfurts prägten, insbesondere bezogen auf die rühmliche Erinnerung an Frankfurts Entstehung, Privilegierungen und Aufstieg im Spätmittelalter, wovon die Stadt bis zum Ende des Alten Reiches zehren und profitieren konnte. Diese Topoi wurden demnach nicht durch neue Eindrücke verdrängt, sondern blieben weiterhin bestehen, da ältere Wissensbestände als Autorität galten und in den verschiedenen Gattungen tradiert wurden. Der Diskurs hielt lange Zeit ein mittelalterlich-privilegiertes Bild Frankfurts als wertgeschätzte Stadt der Kaiser in einer gut zu erreichenden geographisch zentralen Lage in der Mitte des Alten Reiches aufrecht, bis sich Bild und Wahrnehmung im Laufe der Frühen Neuzeit voneinander entfernten. Die Untersuchung auch anderer Diskursstränge, etwa über Frankfurt als Wahl- und Krönungs- sowie Messeort, hat ergeben, dass Frankfurts (zeitlich begrenzte) Funktion als Wahl- und Krönungsstadt zum Ende des Alten Reiches offenbar nicht mehr attraktiv genug war. Folglich richtete sich der Fokus stärker auf die städtische Ebene und die lokale Umgebung, die kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Belange. Frankfurts Verortung auf der Reichsebene wurde immer blasser, die Betonung kommunaler und persönlicher Belange immer stärker. Im publizistischen Diskurs entstand der Eindruck von einem eher rückständigen, ehemals prächtigen Frankfurt, indem ein Bild der Reichsstadt fortgeschrieben und aufrechterhalten wurde, das sich konsequent auf die Bedeutung Frankfurts im Hoch- und Spätmittelalter bezog. Auch wenn Frankfurt während des wittelsbachischen Kaisertums (1742-1745) gewiss eine große reichspolitische Bedeutung hatte, das 18. Jahrhundert ökonomisch eine Blütezeit war und die Reichsinstitutionen für die Zeitgenossen von großer Bedeutung waren, wurden diese Aspekte im publizistischen Stadtbild des 18. Jahrhunderts kaum thematisiert. Damit besaß das stereotyp geprägte und über 300 Jahre tradierte Frankfurt-Bild eine kompensierende Funktion, die einen wahrgenommenen 207
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Verlust an Bedeutung und Ansehen, den Frankfurt als Stadt der Messe und Kaiserwahlen, aber ohne Hof und Universität erlitt, auffangen und aufrechterhalten sollte. Dabei gilt es auch mit Verweis auf die oben genannte Blütezeit Frankfurts im 18. Jahrhundert zu bedenken, dass der literarisch-publizistische Topos von der Rückständigkeit oder gar vom Verfall Frankfurts im Vergleich zur aufstrebenden Stadt im Mittelalter möglicherweise dadurch hervorgerufen wurde, dass die Autoren der Frühen Neuzeit sich noch immer stark auf die mittelalterlichen Stärken bezogen und die zeitgenössischen Entwicklungen zunächst aus dem Blick verloren. Gleichzeitig erfuhr das Altehrwürdige und Hergebrachte im 18. Jahrhundert einen Bedeutungswandel, indem die Aufklärung vermehrt auf den Fortschritt und weniger auf die Tradition setzte. Diese Entwicklung zeigt sich besonders in der Reiseliteratur. Hergebrachtes wurde nun deshalb thematisiert, weil es vor diesem Hintergrund überholt, unnütz oder lächerlich erschien. Nichtsdestoweniger hat es im 18. Jahrhundert auch Bewahrer gegeben, für welche die Tradition einen Wert an sich darstellte – je älter desto besser – und deshalb thematisiert wurde. Deshalb büßte die Stadt zunächst nicht ihre (Dar-)Stellung als historisches Wirtschafts- und politisches Zentrum ein, sondern gewann seit etwa 1700 auch jenseits der als »geistiges Athen« gerühmten herausragenden Buchmesse den Ruf als »kulturelles Zentrum« dazu. Die disparate Ausprägung des FrankfurtBildes – zwischen einer altehrwürdigen ›Kaiserstadt‹ und einer im Verfall begriffenen Reichsstadt – war auch davon beeinflusst, auf welche literarischen Vorlagen sich die reisenden Schreiber bezogen: auf fremde, kritische Reiseberichte von aufgeklärten Reiseschriftstellern, wie z.B. Johann Heinrich Campe,133 oder auf städtische Quellen, wie zumeist positiv geprägte Stadtbeschreibungen und Reiseführer. Die diachrone und synchrone Diskursanalyse des FrankfurtBildes hat außerdem gezeigt, dass durch die Praxis des Rekurrierens auf ältere Quellen und durch den Umgang mit bereits vorhandenem Wissen die Grenzen zwischen Fremd- und Eigenbild so stark verwischten, dass eine klare Trennung nicht möglich ist. Insgesamt konnten sich im Frankfurt-Bild die überwiegend im Humanismus entstandenen Topoi hartnäckig halten und erfuhren erst sukzessive mit sich wandelnden literarischen Textsorten unter dem Einfluss der Aufklärung eine Ausdifferenzierung. Nur allmählich entwickelte sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts die altehrwürdige Messe-, Wahl- und Krönungsstadt im Zentrum Europas und 133 Campe, 1786. 208
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des Alten Reiches zu einem aufgrund der naturräumlichen Gegebenheiten angenehmen, kulturell aktiven und gesellschaftlich attraktiven Zentrum.
Abstract The article summarizes the main argument of the recently published dissertation Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs. The study examines the image of the free city of the Holy Roman Empire Frankfurt as a cultural centre in the early modern age in literary and published sources. This article focuses on Frankfurt’s geographic location at the centre of the Holy Roman Empire. The analysis is led by the key question of how and when this image developed and what influence it had. The central question leads to particular functions of the Frankfurt-image. The analysis proves that the contemporary society principally used to refer back to images and stereotypes that already existed. They were strongly rooted in Frankfurt’s importance during the Middle Ages, when the city had become an important trading city and place of coronation. The investigation has revealed that the intertextual continuation of existing stereotypes and topics served in a way as compensation for an alleged loss of importance in the early modern age due to the decline of the trade fairs or Frankfurt’s less important position as the place of coronation.
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Franco furtum, Furtum franco Zur Bedingtheit von J. Chr. Senckenbergs Wahrnehmung der reichsstädtischen Eliten Vera Fasshauer
1. Frankfurt und Gomorrha Was der Arzt Johann Christian Senckenberg (1707-1772) in seinen Tagebüchern über die Frankfurter notierte, ist alles andere als ruhmvoll: Glaubt man seinen Aufzeichnungen, grassierte in der Reichsstadt zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein geradezu babylonischer Sittenverfall, der vor allem von dem unchristlichen Lebenswandel der Stadtoberen ausging. Den Urheber allen Übels erkannte Senckenberg in dem Bürgermeister Friedrich Maximilian von Lersner, mit dem Korruption und Habgier in den Römer eingezogen seien. Obwohl bereits 1753 verstorben, sündige dieser in seinen Anhängern weiter, welche im Rathaus noch immer die wichtigsten Posten einnähmen und in seinem Geiste fortregierten.1 Lersners Nachfolger erkannte Senckenberg in jenen »7 Spitzbuben«, die im Januar 1759 den französischen Truppen Zugang zur Stadt verschafft und dadurch die Besatzung Frankfurts bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges verschuldet hätten, nämlich der Stadtschultheiß Johann Wolfgang Textor sowie die Ratsmitglieder Erasmus Karl Schlosser, Philipp Jakob von Stalburg, Johann Isaak Moors, Nikolaus Konrad Hupka, Johann Daniel von Olenschlager und Remigius Seiffart von Klettenberg.2 Diese »Lersneriani urbis proditores, à quibus omnia mala«, trachteten stets danach, »ihre Mitbürger zu depauperieren« 1
2
»Dieser sündigt noch in sorore et posteris ejus, da auch sein project alles noch fortgesetzt wird. uti et in Curia ejus creaturae adhuc primas tenent.« Senckenberg, 1760-62, fol. 504r. Ebd., fol. 183r. 223
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und »die stadt mit schulden zu beschweren«, um das »Geld Gallis et Caesari zu geben« und dann durch Gewährung von Wucherkrediten reichlich für ihren »privatum commodum« zu sorgen.3 Sie, die doch die Freiheit der Reichsstadt verteidigen sollten, »veneriren alles was Kayserl[ich] ist v[nd] subjugiren ihr Vatterland«.4 Wer ihnen »opponirt v[nd] die Wahrheit redet wird persecutiert, in das schwartze Buch geschrieben, gantz ruinirt, v[nd] die famille ausgerottet«.5 Anstelle der Bibel und des Naturrechts hätten sie sich zum »Catechismo Mandeville fable des abeilles« erwählt, »da die Spitzbuben vor honneten leute ausgegeben v[nd] dem staat nützlich erkannt worden«.6 Um ihre kriminellen Machenschaften ungehindert ausüben zu können, nähmen sie auch weiterhin nur »Delabrirte« in den Rat auf, »die gefressen, gesoffen, gehurt« hätten und »zu allem bösen geschickt« seien, wobei Senckenberg Olenschlager und Breitenbach in diesem Zusammenhang besonders hervorhebt.7 Zu ihnen gesellen sich Johann Karl von Fichard, »der ein hertz hat mit Lumpen gefüttert«, Christian Bonaventura Mohr von Mohrenhelm, der »tumm« sei, sowie Schmidt, »der nur auf fressen saufen v[nd] spatzieren fahren denckt«.8 Textor und Hupka werden als »leichtsinnige Hurenjäger« tituliert, die »aller Tugend feind sind« und »sich gallico more durch nichts genieren«.9 Um des schnöden Profits willen lasse der Rat sogar »die argste Hurenhäuser zu«,10 welche unter anderem von den weiblichen Mitgliedern der Familien Perret, Bernhard und Schönemann betrieben würden;11 wie bei den letzteren handele es sich auch bei den Frauen der Familie 3 4
Senckenberg, 1760-62, fol. 182v-183r. Ebd. – Zu Johann Wolfgang Textors Parteilichkeit für den Kaiser vgl. auch Goethe, 12 1994, S. 46-48. 5 Senckenberg, 1760-62, fol. 182r-183v. 6 Ebd., fol. 257v. Senckenberg bezieht sich auf die 1740 erschienene französische Ausgabe von Mandevilles Fable of the Bees, deren Titel zugleich auf das 1705 erstmals veröffentlichte Gedicht »The Grumbling Hive, or, Knaves turn’d Honest« und auf die Buchausgabe von 1714 mit dem Untertitel »Private Vices, Public Benefits« verweist; vgl. Mandeville, 1740. 7 Ebd., fol. 312r. Vgl. auch ebd., fol. 248v: »Scultetus Textor nequissimus homo, vellet pessimos et infirmos maximè esse Consules, so kann er desto leichter s[eine] Spitzbüberey per eos treiben v[nd] neben ihnen.« 8 Ebd., fol. 247r. 9 Ebd., fol. 262v. 10 Ebd., fol. 178r. 11 Gemeint sind Susanne Elisabeth Schönemann, geb. d’Orville, Gemahlin von Johann Wolfgang Schönemann, Mutter von Goethes Braut Anna Elisabeth (Lili), Johanna 224
Franco furtum, Furtum franco
Textor um »lauter Huren Volk«.12 Aus purer Habgier richteten also die Frankfurter Ratsmitglieder ihre eigene Stadt zugrunde und achteten dabei weder ihrer geschworenen Eide noch ihres Seelenheils: »Ex Francofurtensibus ipsis Francofurtensium pernicies.«13
2. Stadthistorische Quelle oder chronique scandaleuse? Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt derartiger Urteile beschäftigt die Frankfurter Stadthistoriker seit fast 150 Jahren. In der Zeit um 1900 gingen die Ansichten hierüber noch weit auseinander und schwankten zwischen Zustimmung und Skepsis. Als erster Biograph Senckenbergs hielt der Stadtarchivar Georg Ludwig Kriegk sie für »sehr wertwolle Beiträge zur Geschichte der Sitten sowie der Stadt Frankfurt«, wenngleich ihr Autor in seiner übersteigerten SittenBernhard, geb. Geit, Gemahlin des Kaufmanns Johann Nikolaus Bernhard, und Susanna Perret, Gemahlin des Kaufmanns Johann Jakob Perret und Tochter Isaac Behaghels. Hierzu heißt es am 5.4.1763: »Sie [=Frau Perret], Bernhardin geborene Geuth so ihr leben lang eine hure war, v[nd] Schönemännin haben es mit einander gehabt. Bey Schönemännin war Bureau d’Addresse junge leute zu fangen die da delicates essen v[nd] trincken hinbringen ließ, Schönemännin [genoss] es mit etc.« Senckenberg, 1763b, fol. 40r. Zu Susanna Perret vgl. auch ebd., fol. 19r und 43r. 12 Senckenberg, 1760-62, fol. 333r. – Am 26.1.1763 heißt es, »daß Rath Gothe s[einer] Frau Textoris Sculteti filiam Manskopf nach der opera v[nd] redoute nach Mannheim mitgegeben. Cornutus si non est fieri potest. ihre Schwester Melberin ist eine Hure wie bekannt v[nd] der Mann muß alles von ihr leiden da hae non mirum est. Der Vatter Textor hat gehurt, die Mutter auch. Der apfel fällt nicht weit von stamm«. Senckenberg, 1763a, fol. 24r. Als »Huren Vogel« bzw. »Huren Volk« wurden Textor, »s[eine] Frau v[nd] gantze famille«, insbesondere die »Rathin Göthe« sowie »die tochter so den Pfarrer Starck hat«, schon am 28.8.1762 bezeichnet: Senckenberg, 1760-62, fol. 333r. Mit letzterer Tochter habe die Mutter Anna Margaretha Textor, geb. Lindheimer, den Pastor der Frankfurter Katharinenkirche Johann Jakob Starck verkuppelt und ihn durch Gestattung vorehelichen Beischlafs (»concubitum praematurum«) für die Tochter »festgemacht«; ebd., fol. 228r. Hinsichtlich der jüngsten Tochter Anna Christine befürchtet Senckenberg, er könne selbst Gegenstand ihrer Verkupplungsabsichten sein: »Forte putat me se capere posse pro filia coelibe?« Ebd., fol. 181r. 13 Senckenberg, 1760-62, fol. 278r. 225
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strenge zur Morosität und zum Eifern geneigt habe.14 Auch will er den darin geschilderten moralischen Verfall nicht dem Frankfurter Bürgertum allein, sondern dem im gesamten Reich herrschenden Zeitgeist anlasten. Kriegks späterer Amtsnachfolger Rudolf Jung war hingegen der Meinung, dass Senckenbergs eigensinniger und verbitterter Charakter ihn zu einer unduldsamen »Verachtung« für alle weniger sittenstrengen Mitbürger und zu entsprechend »ungerechten Urteilen« geführt habe; vor allem einflussreichen Amtspersonen habe er fast durchweg »unlautere Beweggründe« sowie »Verrat und Bestechung« unterstellt.15 Aus diesem Grund hält Jung die Aufzeichnungen für »eine unglaubliche Chronique scandaleuse«, eine böswillig übertreibende Satire auf die geheimen Laster und Machenschaften der Stadtoberen, die »nur mit vorsichtigster Kritik« zu behandeln sei.16 Alexander Dietz will sich angesichts der Diskrepanz zwischen Senckenbergs Urteilen über Johann Wolfgang Textor und dessen positiver Schilderung durch seinen Enkel Goethe in Dichtung und Wahrheit17 auf keine Seite festlegen: Obschon »rücksichtslos und einseitig«, sei Senckenbergs Urteil immerhin das eines »in geistiger und sittlicher Beziehung ausgezeichneten, ehrenhaften Mannes«; außerdem stehe es »[i]m Einklang mit der öffentlichen Meinung«, zu der Dietz jedoch keine näheren Angaben macht.18 Sehr skeptisch äußert sich auch Ernst Beutler angesichts der drastischen Urteile Senckenbergs über Personen aus dem Umkreis der Familie Goethe: Seine notorisch negativen Urteile dürfe man nicht völlig beim Wort nehmen, da sie zugleich seiner pietistischen Sittenstrenge und einer von seiner Mutter ererbten Disposition zu psychischen Erkrankungen entsprungen seien. Darüber hinaus habe er seine Informationen vornehmlich aus dem Frankfurter Gassengeschwätz bezogen, was ihre Verlässlichkeit zusätzlich mindere. »[I]m einzelnen«, so Beutler, »wird niemand mehr unterscheiden können, auch nicht unterscheiden wollen, was wahr, was übertrieben, was gänzlich erlogen ist«.19 Die Senckenberg-Forschung seit der Nachkriegszeit äußert hingegen kaum noch Zweifel an der Korrektheit der Vorwürfe: Im Gegensatz zu Jung und Beutler hält August de Bary sie keineswegs für parteiisch, subjektiv oder übertrieben, sondern erkennt in ihnen vielmehr »eine unbedingte Wahrheitsliebe und 14 15 16 17 18 19 226
Kriegk, 1869, S. 294-306; vgl. auch ebd., S. XIV. Jung, 1909, S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. Goethe, 121994, S. 10 und 39-41. Dietz, 1894, S. 631. Vgl. Beutler, 61962, S. 278f.
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Aufrichtigkeit«20 und somit eine verlässliche Quelle für die »Kultur- und Sittengeschichte jenes Zeitabschnittes«.21 Gerade die Aufzeichnungen aus der französischen Besatzungszeit 1759-62 sind in seinen Augen der womöglich einzige Zeitzeugenbericht, »der die Ereignisse und Zustände so beschreibt, dass sich aus ihnen ein zuverlässiges Gesamtbild entwerfen lässt«.22 Auch Hans-Heinz Eulner sieht »keinen Grund, an der Ehrlichkeit der Aufzeichnungen zu zweifeln«, zumal Senckenberg sich schwerlich selbst belogen habe und seine Aufzeichnungen nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren.23 Noch in jüngster Zeit wurden sie als »herausragende historische Quelle für die Erforschung der Lebenswelt einer Freien Reichsstadt« bezeichnet, die authentische Informationen »zum städtischen Geschehen im Alltag wie auf der politischen Bühne« enthalte.24 Angesichts so gegensätzlicher Forschungsmeinungen scheint die Frage nach der objektiven Wahrheit oder Falschheit der senckenbergischen Urteile wenig ergiebig zu sein. Da es sich zudem meist um sittliche und moralische Vorwürfe handelt, wird sich nach einem Vierteljahrtausend schwerlich noch klären lassen, inwieweit sie berechtigt gewesen sein mögen. Nicht zuletzt in Anbetracht ihrer grimmigen Bitterkeit liegt es deshalb nahe, stattdessen nach den Gründen für Senckenbergs negative Äußerungen über die Frankfurter zu suchen und seine Selbstzeugnisse auf Anhaltspunkte für die Perspektive, die Bedingtheit und das Interesse seiner Wahrnehmung zu befragen. Als Ansätze hierfür kommen seine Herkunft und Erziehung ebenso in Betracht wie sein soziales Umfeld und seine Weltanschauung. Als Deutungsschlüssel für die späten Aufzeichnungen bieten 20 De Bary, 1947, S. 41; vgl. auch ebd., S. 22: »Man hat nicht den Eindruck, daß er eilfertig und voreingenommen urteilt oder übertreibt, er erscheint vielmehr bestrebt, unparteiisch und gerecht zu sein.« 21 Ebd., S. 152. 22 De Bary, S. 208. 23 Eulner, 1973, S. 10. – Kein Urteil über den Wahrheitsgehalt findet sich bei Bauer, 2007, der in seinen Angaben zu Senckenbergs Person weitestgehend den früheren Biographien folgt. 24 Jehn/Marschall, 2013, S. 57f. – Die gleiche Ansicht findet sich auch in der Tagespresse der Jahre 2012 und 2013. So werden sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »wertvolle Quelle für die Stadtgeschichte« bezeichnet (Hein, 2013, S. 35); auch die Frankfurter Rundschau betrachtet sie vor allem wegen der darin enthaltenen »ungeschönten Notizen aus dem normalen Leben« als eine »überreiche Quelle für das Alltagsgeschehen« (Kraft, 2012), und die Welt erwartete gar, dass durch die Aufzeichnungen »etliche pikante Geheimnisse« oder gar »der ein oder andere Skandal aufgedeckt« werden würden (Die Welt kompakt, 2013). 227
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sich deshalb Senckenbergs frühe Tagebücher ab dem Jahre 1730 an, in denen er sich hauptsächlich mit seiner eigenen Person beschäftigte und täglich bis zu sieben Seiten mit je 800-900 Wörtern zu Papier brachte.25 An ihnen lässt sich seine Persönlichkeitsentwicklung wie auch die Genese seines Weltbildes nachvollziehen, das ihm sowohl für die Umstände seines eigenen Lebens als auch für seine Beurteilung anderer als Deutungsrahmen diente.
3. Soziales und religiöses Bewusstsein 1707 in Frankfurt geboren, war Senckenberg stark von dem hier florierenden radikalen Pietismus geprägt und hatte sich schon als junger Mann den Separierten um Christian Fende in der Nachfolge von Johann Jakob Schütz angeschlossen.26 Im Unterschied zu den gemäßigten Pietisten um den lutherischen Theologen Philipp Jakob Spener zogen sich die Separierten ganz aus dem kirchlichen Gemeindeleben zurück und verweigerten den Besuch des Gemeindegottesdienstes ebenso wie den Empfang der Sakramente. Anstelle eines geistlichen Seelsorgers und Beichtvaters diente Senckenberg das Tagebuch als Medium der Zwiesprache mit seinem Schöpfer, als Gewissensspiegel sowie als Instrument der Selbsterkenntnis, die in seinen Augen eine notwendige Voraussetzung für die Gotteserkenntnis darstellte.27 In den frühen Aufzeichnungen finden sich deshalb neben den Ereignissen des jeweiligen Tages auch umfangreiche Einträge über seine 25 Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1730-1732 übertitelt Senckenberg mit Observationes in me ipso factae; ab 1733 erscheint stattdessen der Titel Observationes ad cognitionem mei et al.iorum. Die späteren Aufzeichnungen ab 1743, die Senckenberg auf losen Blättern vornahm, hat Kriegk nach inhaltlichen Kriterien sortiert und in Ärztliche und Nichtärztliche Tagebücher eingeteilt. Zur digitalen Auswahledition der Tagebücher Senckenbergs, die seit Februar 2017 am Institut für Deutsche Literatur der Universität Frankfurt entsteht und von der Dr. Senckenbergischen Stiftung finanziert wird, vgl. Fasshauer, 2017a, sowie die Projektbeschreibung unter https://www.unifrankfurt.de/43891858/projekte, 20.9.2017. 26 Zu den Frankfurter Separierten vgl. Dechent, 1921, S. 79-83 sowie 207-210 (zu Senckenberg); Oswalt, 1921, passim; Schneider, 1995, S. 156-160; Deppermann, 2002, passim; Buss, 2004, S. 56-62 und 130-159; Kronenberg, 2005, S. 302-307 sowie Buss, 2010, S. 293-301. 27 Zur Bekenntnisfunktion des Tagebuchschreibens vgl. Boerner, 1969, S. 42f.; Jurgensen, 1979, S. 7-15, bes. S. 13; Wuthenow, 1990, S. 12; Schönborn, 1999, S. 5f., 16-18 und 42-45; Ernst, 2003, S. 31-35 und 55-60; Gleixner, 2005, S. 119-145. 228
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religiösen Reflexionen, seine Sünden und Laster sowie die Fortschritte und Rückschläge bei seiner Selbsterziehung vom sündhaften ›alten Adam‹ zum erlösungsfähigen Wiedergeborenen. Mindestens ebenso viel Raum beanspruchen jedoch Notizen zu seiner körperlichen und seelischen Verfassung in Wechselwirkung mit allen spürbaren Umwelteinflüssen, wobei Umgebungstemperatur und Luftdruck eine ebenso große Rolle spielen wie Speiseplan und Bewegungspensum. Kein Detail der Stoffwechselaktivität, kein Gähnen oder Jucken bleibt dabei unerwähnt.28 Die gründliche Selbsterkenntnis sowohl in seelischer als auch in physischer Hinsicht ist nach Senckenberg insbesondere dem Arzt unerlässlich, da sie »der Schlüssel ist auch andere Menschen kennen zu lernen«.29 Wie nämlich die Sündenerfahrung dazu befähige, Anfechtungen des Bösen zu erkennen und sich davor zu hüten, so könne auch die Erfahrung von Krankheit künftig vor Leichtfertigkeit oder Unmäßigkeit bewahren. Da körperliche und seelische Gesundheit sich in Senckenbergs Augen gegenseitig bedingen, zeitige alles sündhafte Verhalten früher oder später auch pathologische Wirkungen. In seinem Medizinverständnis spielte deshalb die Diätetik eine entscheidende Rolle: Genau wie Anfechtungen den Menschen für sinnliche Begierden anfällig machten, resultiere auch jede kulinarische Unmäßigkeit oder sexuelle Ausschweifung umgekehrt in der Schwächung des Körpers und der Traurigkeit der Seele.30 Gegen alle Arten von Krankheiten hülfen deshalb in erster Linie Enthaltsamkeit und Gottvertrauen. Dies gilt für den Patienten und den Arzt gleichermaßen, denn erfolgreiche Kuren gelängen nur dem Mediziner, »der Gottes Geist in der Untersuchung seiner selbst und desjenigen auser ihm zum Leitstern hat, und sich dem Geiste sowohl alß dem leibe nach gegen die Vergängliche Güther dieser Welt mässig verhält.«31 Um dereinst dieser Verantwortung gegenüber seinen Patienten gerecht werden zu können, fühlte Senckenberg sich selbst in besonderem Maße zur Selbstdisziplinierung verpflichtet. Der Umstand, dass Senckenberg eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit veröffentlichen und den Doktortitel erlangen musste, um zum Arztberuf zugelassen zu werden, bereitete ihm schwere innere Konflikte und ließ ihn ernsthaft 28 Vgl. dazu Fasshauer, 2014, S. 342f.; Dies., 2016, S. 50-52; Dies., 2017b, passim. 29 Senckenberg, 1735, fol. 1v. 30 Vgl. Senckenberg, 1730-32, S. 133: »Ita si quis in carnis voluptates incidit, & appetitus ad varia palato grata aderit, & reliqua, ita jacebit ad tempus aliquod enervatus, donec abstinendo & sustinendo recipiat novas vires in bono progressus faciendi.« 31 Senckenberg, 1735, fol. 1r. 229
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um sein Seelenheil fürchten. Wer nämlich seine Zeit und Kraft mit dem Streben nach Wissen und Ruhm vergeude, könne weder sich selbst noch die Natur oder gar Gott erkennen und müsse, »aliis notus sibi ignotissimus«, schließlich »im Elend auß der welt gehen«.32 Aus diesem Grund gelte es, den Urteilen und Versuchungen der »Weltmenschen« gleichgültig gegenüberzutreten, sei es nun in kirchlicher, wissenschaftlicher oder sozialer Hinsicht: »Es muß sich einer in die positure stellen, nicht complaisant gegen die welt zu seyn, ihr nichts zu gefallen thun, nicht trincken essen p in allem was gegen die gesundheit des leibes v[nd] der seelen, oder die Natur v[nd] das gewissen laufft, daß man sich also in positure setze, v[nd] nicht achte obschon die welt einen vor einen Eigensinn und Narren hält, denn so muß es allen frommen ergehen, ut ipsi Servatori, die in dessen in dem bund eines guten gewissens mit Gott alle süssigkeit genießen, v[nd] der welt ihren Spott gerne ertragen, auch ihnen ihre schnöde Wollust so momentanea ist v[nd] fucata dagegen gerne lassen.«33
Da also der Gläubige sein Seelenheil nur durch die beständige Besinnung auf Gott erlangen konnte, lehnten die Separierten allen Luxus sowie alle Vergnügungen und Zerstreuungen grundsätzlich ab: Dadurch würden nämlich nicht nur die Gedanken von Gott weg- und auf weltliche Dinge hingelenkt, sondern auch die als Gottesgeschenk betrachtete Zeit unwürdig vergeudet. Darüber hinaus galt auch die alle Kräfte und Gedanken absorbierende Berufsarbeit als unvereinbar mit der inneren Einkehr.34 Schon der Begründer der Frankfurter Separierten, Johann Jakob Schütz, hatte in den 1670er Jahren seine berufliche Tätigkeit als Jurist stark eingeschränkt. Er begründete diesen Schritt mit der Absicht, seine 32 Ders., 1732, S. 884; vgl. auch ebd., S. 646 und 778. 33 Ebd., S. 847; vgl. auch Senckenberg, 1760-62, fol. 483r. Zur Weltflucht der Separierten vgl. auch Lehmann, 1989, S. 188-201 und Deppermann, 2002, S. 76-80. 34 Vgl. dazu Weber, 91988, S. 108: »Der religiöse Virtuose kann seines Gnadenstandes sich versichern entweder, indem er sich als Gefäß, oder, indem er sich als Werkzeug göttlicher Macht fühlt. Im ersten Fall neigt sein religiöses Leben zu mystischer Gefühlskultur, im letzteren zu asketischem Handeln.« Zu den extremen Steigerungsformen des »Gefühlpietismus« vgl. ebd., S. 132-134. – Vgl. dazu Lehmann, 1969, S. 62-65 und 355-357; Ders., 1989, S. 196f.; Deppermann, 2002, S. 210-212 und Kronenberg, 2005, S. 259 und 263f. Zur Verhinderung der inneren Einkehr durch äußerliche Geschäfte vgl. bereits Augustinus, 2009, Conf. VI, 3.3. 230
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»freyheit in Christo« zu bewahren und sich nicht zu sehr in irdische Streitigkeiten verwickeln zu lassen. Fortan arbeitete er gerade noch so viel, wie sein Lebensunterhalt und das Gebot der Nächstenliebe es erforderten.35 Ebenso hielten es die engsten Freunde Senckenbergs: Der ehemalige Theologe und spätere Buchhändler Andreas Groß hatte, wie er Senckenberg im Herbst 1732 mitteilte, »allen buchhandel aufgegeben, v[nd] ist Nachmittags gantz frey vor sich. Mane arbeitet er von 8 ad 12 uhr« als Sekretär des Weinhändlers Friedrich Ludwig von Reineck.36 Einige Zeit später erklärte er vollends, »er wolle alle überflüssige Correspondence abschneiden v[nd] auff das gebeth sich legen, jenes sey doch nichts wesentliches«.37 Den Studenten Senckenberg kritisierte er dementsprechend für seine mangelnde Demut, denn er »gehe zu viel ins wissen ein« und werde zu ehrgeizig.38 Derlei Warnungen von Seiten der Separierten werden Senckenberg in dem Entschluss bestärkt haben, sein 1730 an der Universität Halle begonnenes Medizinstudium schon nach drei Semestern wieder abzubrechen und sich stattdessen auf ein zwölfjähriges empirisches Selbststudium mit dem vorrangigen Ziel der Selbst- und Gotteserkenntnis zu verlegen. Die Entscheidung, sein medizinisches Wissen fortan auf eine gottgefälligere Weise zu erwerben, trug ihm wiederum die Kritik seiner Verwandten und Kollegen jenseits des separierten Kreises ein. Vor allem seine Mutter forderte ihn wiederholt auf, endlich den Doktortitel zu erlangen und eine ärztliche Praxis zu eröffnen: »dicit es seyen die letzten Zeiten die Leute lebten nach ihren Lüsten, ich auch«.39 Mit wachsender Verzweiflung warf sie dem Sohn vor, er wolle sie mit seinem trotzigen Verhalten und »un ordentl[ichen] wandel« unter die Erde bringen. Der Sohn musste zwar gestehen, dass er seinen »eigensinn v[nd] faulheit selbst mit händen offt greiffe« und wohl wisse, dass man »gegen superiores besser parere et pati alß wiederbellen v[nd] imperitiren« sollte;40 auch hielt er seiner Mutter ihr wohlmeinendes Unwissen 35 36 37 38 39
Zu Schützʼ Berufsethik vgl. Deppermann, 2002, S. 210-214. Senckenberg, 1732, S. 477. Ebd., S. 750. Ebd., S. 856. Ebd., S. 813. Anders als von Dechent angenommen, war der Grund für Senckenbergs frühzeitigen Studienabbruch also nicht der Tod des Vaters und die daraus folgende Notwendigkeit des selbstständigen Gelderwerbs; vgl. Dechent, 1921, S. 207. – Zu Senckenbergs Zwiespalt zwischen Gottesfurcht und Wissenschaft vgl. Fasshauer, 2016, S. 53 und 59-63. 40 Senckenberg, 1732, S. 719. 231
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zugute: »Amor est wil mir gerne ihr gutes gönnen so ich nicht vor gut halte.«41 Dennoch konnte er sich nicht zum Gehorsam überwinden, denn er fürchtete, dass er sich dadurch »in der Welt einwickeln v[nd] vor immer verderben« würde.42 Von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, beschloss er, sich hierin durch nichts beirren zu lassen: »Confirmari me prius opus est in bono, quam ad talia accendam & seducar. Nullo me flecti oportet vel beneficio vel laesione ut Deum semper habeam in mente & oculis praesentem.«43 Zugleich vertraute er fest auf Gottes Beistand und Gutheißung seines Weges: »Gott der gerecht ist, v[nd] weiß daß ich kein böses absehen habe wird mich secundiren.«44 Die Ärzte aus seinem Bekanntenkreis versuchten derweil, ihn zur Aufnahme einer ärztlichen Tätigkeit zu animieren. Der Gerichtsmediziner Georg Christoph Moeller bot ihm seine Wetzlarer Praxis an, was Senckenberg jedoch ausschlug.45 Der Frankfurter Arzt Johann Jakob Grambs offerierte ihm den Posten als Leibarzt in Nassau-Dillenburg bei 300 Talern Gehalt und freiem Logis, doch Senckenberg lehnte wiederum ab.46 Sein Cousin Otto Rudolph aus Friedberg appellierte gar an sein karitatives Gewissen und meinte, »ich soll practiciren, da ich im stande ein mal bin es zu thun, v[nd] sey verfänglich dem nechsten nicht dienen so man könne«.47 Doch auch dies zeigte nicht die erhoffte Wirkung: Zwar erteilte Senckenberg gelegentlich einzelnen Personen auf Nachfrage seinen ärztlichen Rat und verschrieb ihnen Medikamente, doch hielt er zu diesem Zeitpunkt die Arbeit an seiner Selbstvervollkommnung noch für weitaus dringender geboten als die berufliche Tätigkeit. Der Notwendigkeit des Gelderwerbs fühlte Senckenberg sich zum Ärger seiner Mutter aufgrund seines ererbten Vermögens enthoben: »wenn ich etwas Geld haben wil zanckt sie ich soll verdienen, da mir doch et paterna & avunculi bona interesse zukommt ob majorennitatem«.48 Die denkbar beste Verwendung für dieses Zinseinkommen war in seinen Augen das fromme Werk der Selbsterkenntnis. Dieser Zwiespalt zwischen religiösem und sozialem Bewusstsein erklärt sich aus dem radikalpietistischen Dilemma, gleichzeitig in zwei miteinander 41 42 43 44 45 46
Ebd., S. 732. Ebd., S. 719. Ebd., S. 813. Ebd., S. 720. Ebd., S. 464: »Ille offerebat mihi suam praxin Wetzflarianam.« Ebd., S. 579: »Offerebat mihi Grambs Dillenburgensis Archiatri munus vor 300 thaler v[nd] alles frey.« 47 Ebd., S. 467. 48 Ebd., S. 827. 232
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unvereinbaren Welten zu leben: Einerseits legitimierte sich der Status als Wiedergeborener maßgeblich dadurch, dass alles Denken und Handeln nicht auf die diesseitige Existenz, sondern vielmehr auf die Erlösungsfähigkeit im Jenseits ausgerichtet waren; andererseits war der Gläubige für die Dauer seiner irdischen Existenz auch allen profanen Pflichten und Zwängen unterworfen. Senckenbergs Bestreben, sich im Diesseits als rechtgläubiger Wiedergeborener gegenüber den Orthodoxen zu behaupten, entfaltete seine eigentliche Relevanz erst auf transzendenter Ebene, wo er seine Erlösungsfähigkeit gegenüber den Verdammungswürdigen erkämpfen musste. Während zweier Besuche im sayn-wittgensteinischen Berleburg, wo radikale Pietisten und Inspirierte wie Johann Konrad Dippel oder Charles Hector de Marsay Zuflucht vor behördlicher Verfolgung gefunden hatten, konnte Senckenberg 1732 seine mangelnde Eignung für das Leben eines Eremiten feststellen: »Video, me non posse solum in solitudine permanere, sondern daß ich nach grosen örtern wo ich her bin, verlange exempli gratia Frankfurth«.49 Da sich also der Zwiespalt zwischen seiner religiösen und seiner sozialen Existenz zu verstetigten schien, sah Senckenberg sich langfristig zu Kompromissen mit der Welt und insbesondere mit seiner Mutter gezwungen: »gnug ists ich wil die dinge so sie haben wil alle thun, nur so schnell nicht«.50 Ein wesentlicher Aspekt dieses Kompromisses war jedoch die interpretative Einpassung seines Umfelds in den Rahmen des eigenen Weltbildes. Dies wird etwa dann deutlich, wenn er seine Mutter zur Verkörperung eines feindlichen Prinzips erklärt, das ihn zur Erprobung seiner Glaubensfestigkeit heimsuche: »Ohne Verfolgung v[nd] leiden kan ich hier nicht seyn, ist nöthig«.51 Da nur die allerwenigsten Mitmenschen seine radikalen religiösen Ansichten teilten, musste er die meisten unter ihnen zwangsläufig als irrgläubige Unerweckte betrachten, die nur eine äußerliche Scheinfrömmigkeit pflegten, statt ihren Glauben lebendig zu empfinden. So heißt es über die Mutter, die standhaft dem lutherischen Bekenntnis anhing: Sie »gibt den bettlern it[em] geht in die Kirche thut alia externa religiosa, die alle zum wesen nichts thun, v[nd] meynt sie sey fromm«, doch »an das wahre wesen der dinge kommt sie nicht«.52 Er versuchte deshalb mit allen Mitteln, sie »zu bewegen etwan ihren orthodoxen äusserl[ichen] lumpen v[nd] conversa tions Kram fahren zu lassen«.53 Ebenso bemühte sich die nicht minder aufrechte 49 50 51 52 53
Ebd., S. 355. Ebd., S. 719. Ebd., S. 720. Ebd., S. 832f. Ebd., S. 852f. 233
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Lutheranerin, ihren weltabgewandten Sohn von seinem Separatismus abzubringen, und ermahnte ihn, er »solle in die Kirche v[nd] zum abendmal gehen, die ordentl[ichen] wege«.54 In den Disputen mit der Mutter, die ebenso um das Seelenheil des Sohnes fürchtete wie dieser um ihres, bewies Senckenberg schon als junger Mann wenig Langmut. In einem Grundsatzstreit über das Abendmahl, »da ich ihr ex verbis bewiese daß sie das bedeuten de S[ancta] Coena statuire v[nd] nicht wisse was sie glaube, da sie ferner sagte hierinnen dissentire sie, weil sie sich retten wolte, v[nd] nicht gefehlt haben, sagte ich & me dissentire suae flebat, v[nd] auf das flennen hatte der Zanck ein Ende«.55 An anderen Tagen fühlte er sich dazu veranlasst, über dem gemeinsamen Mittagstisch laut Gott anzuflehen, er möge seiner verblendeten Mutter gnädig sein und sie von ihrem irrigen Eifer befreien: »ejus misereor & oro pro eam, sic vinco & tacet.«56
4. Sünde und Krankheit Senckenbergs strenge Religiosität bestimmte nicht nur sein soziales und konfessionelles Bewusstsein, sondern auch seine medizinischen und pädagogischen Ansichten. Die Tatsache, dass seine Mutter an Übergewicht, Rückenschmerzen und Asthma litt, führte er nicht nur auf ihr übermäßiges »essen v[nd] trincken, Zancken v[nd] schelten v[nd] müssiggehen v[nd] lang schlafen« zurück, sondern vor allem auf ihre weltliche Gesinnung und lasterhafte Gemütsart: »Sordida mater est animo & corpore & in omnibus actionibus, spirituale nempe est vitium«.57 Anders als in den späten Tagebüchern fällte er dergleichen Urteile in den früheren Jahrgängen aber noch keineswegs von einem erhabenen Standpunkt aus: Seiner eigenen Unvollkommenheit eingedenk, diente ihm die Mutter zugleich als Objekt seiner medizinischen und diätetischen Studien und als warnendes Beispiel für die gesundheitlichen Auswirkungen eines ungezügelten Luxuslebens. Entsprechenden Gefahren sah er auch sich selbst und seinen jüngeren Bruder Johann Erasmus ausgesetzt: Neben mangelnder erzieherischer Härte erkannte Senckenberg nämlich vor allem im Überfluss ein Grundübel, »so die reiche franckfurther v[nd] leipziger Kinder verdirbt«.58 So seien auch 54 55 56 57 58
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Ebd., S. 472. Ebd., S. 717. Ebd., S. 661; vgl. auch ebd., S. 655. Ebd., S. 832. Ebd., S. 617. Zu Senckenbergs pädagogischen Ansichten vgl. Fasshauer, 2016, S. 55-58.
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die Brüder Senckenberg, die aufgrund ihrer erblich veranlagten Dickblütigkeit ohnehin schon zu Genusssucht, Wollust, Trägheit und Melancholie neigten,59 von den Eltern stets ihrem Eigensinn und ihren Begierden überlassen worden und hätten deshalb schon in früher Jugend Anlagen zu Krankheiten ausgebildet: »nemine fere parentum dehortante desidia, et ingurgitatio multorum potulentorum & esculentorum, cui accessit venus, hinc sanguinis lentor & spirituum exhaustio, & hinc omnium actionum tam sensuum internorum & externorum debilitatio«.60 Wenngleich angeborene und anerzogene Veranlagungen schwer zu korrigieren seien, müssten sie doch keineswegs zwingend zu Krankheit und lasterhaftem Lebenswandel führen, »sed vincendae sunt per Dei gratiam, preces, temperantiam v[nd] fasten, per labores v[nd] alles was die faulheit müssiggang, unmässigkeit hindert, dem leib die Nahrung entzieht, und dem Geist auffhilfft, daß er in naturalibus & divinis geschickt werde tugenden v[nd] wahrheiten zu fassen«.61 Bei seinem jüngeren Bruder, der sich dem mühsamen Unterfangen der Selbstdisziplinierung nicht unterzog, hätten sich dagegen bereits im Alter von 15 Jahren erste negative Auswirkungen gezeigt: »nil agit, edit, bibit, memoriam debilitat, pinguescit, oculi tenebricosi fiunt, & tamen sibi sapientissimus videtur, haec est sentina malorum juventutis quae in omni aetate efflorescit.«62 Im Fall des jüngeren Bruders sollten sich Senckenbergs Befürchtungen bewahrheiten: Nach seinem rechtswissenschaftlichen Studium in Altdorf und Göttingen praktizierte Johann Erasmus zunächst als Advokat in Frankfurt, wo er auf Empfehlung seines Bruders, des Reichshofrats Heinrich Christian Senckenberg, und Friedrich Maximilian von Lersners 1746 in den Senat gewählt wurde. Bereits ein Jahr später wurde er der bewaffneten Vergewaltigung einer Hausangestellten, der Falschaussage und der Urkundenfälschung überführt, konnte sich aber durch Vermittlung seines Wiener Bruders bis 1761 im Amt halten, nachdem ihm der Kaiser bereits 1751 den Titel eines Reichsfreiherrn verliehen hatte. Erst 13 Jahre später wurde er seines Ratsamtes enthoben und 1769 unter anderem wegen Majestätsbeleidigung, Verleumdung, Mordversuchs, Erpressung, Diebstahls und Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt. Nachdem zunächst die 59 Ebd., S. 558 und 547. 60 Ebd., S. 560. – Der ältere Bruder und spätere Reichshofrat Heinrich Christian wurde hingegen seit früher Kindheit von einer Tante in Gießen erzogen, die dem Neffen eine strenge Erziehung und sorgfältige Ausbildung hatte angedeihen lassen: »Der ältere bruder so nicht hier gewesen labori assuetus fuit, ist besser worden.« Ebd., S. 833. 61 Ebd., S. 547. 62 Ebd., S. 523. 235
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Todesstrafe gefordert worden war, wurde er für den Rest seines Lebens auf der Frankfurter Hauptwache inhaftiert, wo er 1795 starb.63 Durch derartige Erfahrungen in seinen Ansichten gefestigt, suchte Johann Christian Senckenberg auch bei seinen übrigen Mitbürgern und Patienten stets nach den Zusammenhängen zwischen ihrer Lebensweise und ihrem Gesundheitszustand. Gemäß seiner Überzeugung, dass die Körper der Menschen Gottes Gliedmaßen seien und von ihren Besitzern schon um des Herrn willen behutsam gepflegt werden müssten, interpretierte er Krankheiten oftmals als göttliche Strafen für fleischliche Sünden. So erkannte er etwa die Ursache für die Gicht und Hypochondrie des Syndicus Remigius Seiffart von Klettenberg in seinem »greul[ichen] Huren in jungen Jahren«.64 Wer nämlich hure, so hatte schon Paulus die Korinther ermahnt, der sündige nicht an anderen Menschen, sondern »an seinem eigenen Leibe« und damit unmittelbar gegen den Herrn.65 Dementsprechend setzte Senckenberg auch das schmerzhafte Sterben mancher seiner Mitbürger mit ihrem sündhaften Lebenswandel in Beziehung. Susanna Perret etwa »habe sich todt gehurt« und sei im Kindbett eines schmerzhaften Todes »mit greul[ichen] Convulsionibus« gestorben.66 Ebenso sei es einer ihrer Schwestern ergangen, die schon während ihrer diversen Schwangerschaften mit unehelichen Kindern häufig über Kopfschmerzen geklagt habe; genau wie die Tatsache, dass »ihr das Gesicht etwas verzogen« war, führte Senckenberg dies auf ihre sexuelle Promiskuität zurück und schlussfolgerte: »Stasin et Convulsiones ex venere nimia et titillatione continua oriri posse non impossibile.«67 Franz von Barckhaus hingegen habe nicht allein der Wollust, sondern auch dem Alkohol gefrönt und sei deshalb nach schweren Krämpfen an einem Schlaganfall gestorben.68 Den »Ertzseductor politicus« Friedrich Maximilian von Lersner, der nach Senckenberg zeit seines Lebens von »hochmuth v[nd] Eigennutz« getrieben war, habe Gott »schändl[ich] auf dem Scheißhaus sterben v[nd] s[eine] Consilia perfida dahinein fallen« lassen,69 nachdem Lersner noch am Morgen desselben Tages 63 Zu Johann Erasmus Senckenberg vgl. Kriegk, 1869, S. 36-212 und de Bary, 1947, S. 190-206. 64 Senckenberg, 1763a, fol. 66v. 65 1 Kor. 6, 15-19. 66 Senckenberg, 1763b, fol. 40v-41r. 67 Ebd., fol. 41v. 68 Ebd., fol. 42r: »Frantz v[on] Barckhauß auf der Zeil soffe v[nd] hurte, hinc convulsiones tandem in apoplexiam desinentes etc. venere nervi laedantur imprimis.« 69 Senckenberg, 1760-62, fol. 226v. 236
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seinem leiblichen Schwager »das decretum eligibilitatis ad senatum« verschafft hatte.70 Doch nicht erst die Todesart, sondern bereits die Umstände der Geburt eines Menschen hielt Senckenberg für moralisch signifikant. So erschien ihm die Häufung von Frühgeburten unter den Mitgliedern der Familie Textor als symptomatisch für ihren sittlichen Wandel: »Scultetus Textor ist eine Frühbirne. mater ejus mit ihm zu frühe in das Kindbett gekommen. Er ein Huren Vogel v[nd] s[eine] Frau v[nd] gantze famille. s[eine] tochter Rathin Göthe ist auch zu früh gekommen it[em] hat die tochter so den Pfarrer Starck hat, zu frühe geboren. lauter Huren Volck.«71
5. Seelenheil und Gemeinwohl Den Mitgliedern der politischen und gesellschaftlichen Elite Frankfurts galt Senckenbergs Interesse vor allem deshalb, weil sie seiner Überzeugung nach den Bürgern gegenüber eine ebenso große Verantwortung trugen wie Ärzte für ihre Patienten. Allein schon im Interesse des Gemeinwesens seien sie deshalb zu einem tadellosen Lebenswandel verpflichtet, »denn nichts als Weißheit v[nd] Tugend erhelt den staat an leib seel v[nd] Beutel gesund v[nd] starck«.72 Statt maßvoller Selbstbeherrschung stieß Senckenberg aber allenthalben auf Luxus und Unmäßigkeit, sei sie nun kulinarischen, sexuellen oder pekuniären Ursprungs. Selbst weltlich und amoralisch gesinnt, verhinderten die Mächtigen auch den Sittenverfall unter den Bürgern nicht; vielmehr machten sie durch ihr schlechtes Vorbild »die gantze stadt sündigen« und richteten dadurch das gesamte Gemeinwesen zugrunde.73 Obwohl weltliche Potentaten eigentlich »ViceDei« sein sollten, waren die Frankfurter Stadtoberen nach Senckenberg »meist Vice-Diaboli«,74 denn sie handelten just nach den Prinzipien, »die der Teufel zum ruin der welt ersonnen hat v[nd] in den seinen, den politicis sceleratis nährt v[nd] erhält«.75 Wenngleich sie regelmäßig in die Kirche gingen und sich durch Geistliche von ihren Sünden absolvieren ließen, betrachtete Senckenberg sie
70 71 72 73 74 75
Ebd., fol. 510r. Ebd., fol. 333r. Ebd., fol. 225v. Ebd., fol. 333r. Ebd., fol. 511r. Ebd., fol. 225v. 237
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als »wahre Atheisten«, denn sie »fingiren sich eine Religion gegen Gott v[nd] Menschen v[nd] sich selbst, zum dienste ihrer laster«.76 Als ihm nach der Amtsenthebung seines jüngeren Bruders dessen Ratsamt angetragen wurde, bot sich ihm die Gelegenheit, selbst aktiv in die sittlichen und politischen Geschicke der Reichsstadt einzugreifen. Doch Senckenberg lehnte ab.77 Zwar äußerte er wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass der Berufsstand der Juristen den größten Teil der Ratsmitglieder stellte: »Advocaten taugen nicht im Obrigkeitl[ichen] stand«,78 denn »ob sie schon sollen mala removiren à fortunis so ersinnen sie doch offt streiche exempli gratia in defensione malorum, das gute v[nd] wahre zu verdunckeln v[nd] zu schaden«.79 Ärzte hingegen »taugen mehr zu ehrlichen redlichen leuten, Gott zu Ehre v[nd] dem Nächsten zu Nutz zu arbeiten«,80 denn schließlich seien sie schon von Berufs wegen dazu angehalten, »allzeit dem nächsten gutes zu thun« und ihn von seinen Krankheiten zu erlösen: »Ergo regimini aptiores illis.«81 Der Unwille, seine professionelle und sittliche Überlegenheit in die Regierung des Gemeinwesens einzubringen, war wiederum religiös motiviert: Wie in jeder anderen Form der Gemeinschaft mit Unreinen hätte er durch seine Mitgliedschaft im Rat sein Seelenheil aufs Spiel gesetzt.82 Dabei ging die Gefahr nicht allein von der schlechten Gesellschaft einzelner sündiger Mitglieder aus, sondern auch von den weltlichen Interessen der reichsstädtischen Politik, die einem wiedergeborenen Christen ebenso wenig zuträglich seien wie die orthodoxe Glaubenspraxis: 76 77 78 79 80 81 82
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Ebd., fol. 225v. Vgl. de Bary, 1947, S. 228f. Senckenberg, 1760-62, fol. 313r. Ebd., fol. 185r. Ebd., fol. 313r. Ebd., fol. 185r. Zur separatistischen Ablehnung des Abendmahls vgl. Deppermann, 2002, S. 188f.; Buss, 2010, S. 297f. – Zum Verhältnis zwischen sündiger Welt und reinzuhaltender christlicher Gemeinde vgl. auch Paulusʼ Bild vom Sauerteig, der »den ganzen Teig versäuert«. Damit sind ausdrücklich nicht alle Sündigen der Erde gemeint, denn »sonst müßtet ihr die Welt räumen«, sondern nur die Mitglieder der eigenen Gemeinde: »so jemand sich läßt einen Bruder nennen, und ist ein Hurer oder ein Geiziger oder ein Abgöttischer oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber; mit dem sollt ihr auch nicht essen. Denn was gehen mich die draußen an, daß ich sie sollte richten? Richtet ihr nicht, die drinnen sind? Gott aber wird, die draußen sind, richten.« (1 Kor. 5, 6-13). – Zum Seelenheil als privatem Gut vgl. Geuss, 2013, S. 85.
Franco furtum, Furtum franco »In Curia nil boni habitat. Zeitliche Ehre v[nd] Güther v[nd] die zu erhalten v[nd] zu vermehren list v[nd] betrug. dei filiis non terra sed coelum pro fine est, in terra nil boni. si quis cupit Curiae inesse, terrena quaerit et bonus spiritus in eo non habitat. Hat er noch etwas gutes verliert er es in Consortio malorum, et malo continuo actu, paulatim corruptus et mersus in perniciem gantz.«83
Einmal in diese Kreise geraten, könnten die Mitglieder ihr Seelenheil auch durch äußerliche Frömmigkeit nicht mehr retten: »Und so werden sie mit samt ihren leidigen Pfaffen das verdorbene Imperium & Sacerdotium, mit allen ihren heiligen sacramenten ohne Gott dem Teufel ein mahl fein säuberlich in den Arsch fahren.«84
6. Besitz und Entäußerung Die einzige Möglichkeit, zugleich Gott und dem Gemeinwesen zu dienen, erkannte Senckenberg in seinem Arztberuf, zumal er seine medizinischen Fähigkeiten als gottgegebene Einsichten und sich selbst als Heilkundigen in den Fußstapfen Christi betrachten konnte. Nachdem er jahrelang an der Überwindung seiner eigenen moralischen Unvollkommenheiten gearbeitet hatte, konnte er sich schließlich doch noch zur Abfassung einer Dissertation überwinden und wurde 1737 in Göttingen promoviert. Nicht nur den Anfechtungen des akademischen Rationalismus, sondern auch seinen hohen Ansprüchen an die ärztliche Tätigkeit fühlte er sich nun offenbar gewachsen, denn unmittelbar nach seiner Rückkehr ließ er sich auf dem Sanitätsamt als praktizierender Arzt eintragen.85 Seinen Beruf, der auch die Möglichkeit karitativen Handelns bot und der für ihn deshalb die einzige gottgefällige Art des Gelderwerbs darstellte,86 übte er trotz seiner sonstigen sozialen Zurückgezogenheit mit großer Hingabe aus. Von seiner ebenso arbeitsamen wie sparsamen Lebensweise zeugen seine Haushaltungsbücher, in denen er alle seine Ausgaben aufs Gewissenhafteste verzeich83 84 85 86
Senckenberg, 1760-62, fol. 186r. Ebd., fol. 226r. Vgl. de Bary, 1947, S. 138. »Gratis facere spe lucri nulla & meriti est bene facere.« Senckenberg, 1732, S. 839. – Zur karitativen Arbeit separierter Ärzte und Juristen vgl. auch Deppermann, 2002, S. 213f. 239
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nete.87 Damit trug er seiner Überzeugung Rechnung, dass der Mensch die ihm von Gott anvertrauten Güter treulich und sorgsam zu verwahren und dadurch Gott zu ehren habe.88 Durch seine Einkünfte aus der ärztlichen Arbeit sowie mehrere Erbschaften häufte Senckenberg im Laufe seines Lebens ein Vermögen von knapp 100.000 Gulden an, das er in »Ermangelung ehelicher Leibes-Erben« schließlich seiner Vaterstadt übermachte.89 Auch diese Stiftung erfolgte in dem Bewusstsein, dass die Menschen »auf diese Welt nichts mitgebracht haben, also auch nichts eigenes besitzen, und blose Verwalter sind, die verrechnete Dienste haben«.90 Entscheidend war jedoch die Art des Vermögenserwerbs. Keinesfalls durfte er durch Profit erfolgen, da dieser in Senckenbergs Augen einer Selbstbereicherung auf Kosten anderer gleichkam: »Kaufleute Reichtum ist offt male acquiriert, geht male fort.«91 Entsprechend harsche Kritik übte er deshalb auch am Medikamentenhandel der Hallenser Pietisten, bei dem durch überhöhte Preise »Rebbes« gemacht92 und »sub titulo arcani per monopolium fraudulentum das publicum betrogen v[nd] beschissen« würde.93 Für einen noch verwerflicheren Betrug am Gemeinwesen hielt er allerdings die Fälle leichtfertig oder gar absichtlich herbeigeführten Bankrotts, an denen sich die Frankfurter Obrigkeit zu allem Überfluss noch bereichere. Mehrfach äußerte er den Vorwurf, der Rat sehe gegen Bestechungsgelder von der gerichtlichen Verfolgung der Bankrot87 Vgl. Senckenberg, 1749-1772. 88 Vgl. Weber, 91988, S. 189-191. Vgl. parallel zur finanziellen Buchführung auch die Umschreibung des religiösen Tagebuchs als »sittliche Buchführung«: ebd., S. 123. 89 Vgl. Senckenberg, 1770b, S. 38f.; zu Senckenbergs Stiftung vgl. auch de Bary, 1947, S. 230-300. 90 Senckenberg, 1770a, S. 5. 91 Senckenberg, 1760-62, fol. 510r. 92 Ebd., fol. 356r. 93 Ebd., fol. 382r. Vgl. auch ebd., fol. 356r: »Wenn der sel[ige] Diesterweg pilulas polychrestas Hal[enses] machte, kam ihm das Pfund etwa 10 thaler zu stehen. ohne die Mühe zu rechnen. Orphanotropheum Halense aber verkaufft 1 loth à fl 1. Ist mehr als alterum tantum. Rebbes. Pulv[erem] antisp[asticum] Halens[em] verkaufft orphanotroph[eum] 1 loth à 16 Kreuzer. Macht man es selbst, kommt es kaum etl. Kreuzer zu stehen. Pietas sic dicta ad omnia utilis mala et ad fraudes quascumque.« Vgl. dazu auch Luther, 1991a, S. 265. – Zur Wirtschaftsethik des Halleschen Pietismus im Unterschied zu den Württemberger Pietisten, die Senckenbergs Einstellung zu Arbeit und Profit teilten, vgl. Lehmann, 1969, S. 62-64 und 356; Ders., 1989, S. 196-198, sowie Ders., 1996, S. 62-64. Zu den Herrnhutern vgl. Mettele, 2005, S. 315-319. 240
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teure ab: »Man nimmt den dieben einen theil der beute ab, theilt mit ihnen den diebstahl das übrige hat der Dieb in salvo, v[nd] der Creditor ist betrogen.«94 Auf die Tatsache, dass Senckenberg auch das Geldverleihen gegen Zinsen für Diebstahl hielt, wurde eingangs schon hingewiesen. Anders verhielt es sich jedoch mit Zinserträgen aus Kapitalanlagen, die auch in Senckenbergs Stiftung eine maßgebliche Rolle spielten: Da sie zu niemandes Ungunsten zustande kamen, befanden sie sich mit dem Gebot der getreuen Besitzverwaltung im Einklang.95 Umgekehrt hielt er auch allzu große Freigiebigkeit für ein Zeichen schlechten Haushaltens, sofern sie bloßer Gefälligkeit entsprang. Einen solchen »Furor complacendi« hielt er seiner Mutter vor, die das Hausgerät seiner Meinung nach nicht nur schlecht wartete, sondern auch zu viel davon verborgte und verschenkte. Hierdurch tue sie nicht nur dem ihr anvertrauten Gut Schaden, sondern auch ihrem Seelenheil, da sie der Kreatur einen höheren Rang als dem Schöpfer einräume: »mater subinde ita complacet aliis ut sibi noceat, bedenckt es nicht allemal, alios homines magis atque Deum veneratur«.96 Diese Form der Großzügigkeit war in seinen Augen lediglich ein weiteres Indiz für ihre Neigung zu Luxus und Verschwendung. Um gottgefällig zu sein, müsse Freigebigkeit immer karitativen Motiven entspringen. Als er sich einmal mit dem Gerücht konfrontiert sah, er halte sich nur aus Geiz von den Gesellschaften fern, wies er es mit der Bemerkung von sich: »was jene verfressen versaufen verprahten gebe ich den armen v[nd] patriae.«97 Seine kurz zuvor getätigte Spende von 3.000 Gulden begründete er mit dem Bedürfnis, alle irdischen »vanitates« abzulegen, um vor Gott makellos zu erscheinen und seine Erlösung zu befördern.98 Bedachtsames Haushalten ist nach Senckenberg auch hinsichtlich der begrenzten Lebenszeit geboten, die nicht mit weltlichen Dingen vertan, sondern »rectis studiis« und damit Gott geweiht werden sollte: »Zeitvertreib den die armen Menschen suchen, wann sie zusammen gerafft haben ihren Mammon ist Zeitverderb. Mi tempus omne pretiosum et curo ne pereat […] ne vel minima temporis particula decedat, […] Der Verlust ist zu gros gegen ein gewinn von 94 Senckenberg, 1760-62, fol. 179r. Vgl. auch ebd., fol. 225r und 257v. 95 Vgl. dazu Senckenbergs Bestimmungen im Haupt-Stiftungsbrief: Senckenberg, 1770b, S. 39-43; vgl. auch das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, Mt 25, 14-30 und Lk 19, 12-27. 96 Senckenberg, 1732, S. 743. 97 Senckenberg, 1760-62, fol. 483r. Ein ähnliches Beispiel erwähnt Weber, 91988, S. 189, Anm. 3. 98 Vgl. Senckenberg, 1760-62, fol. 483r. 241
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dreck v[nd] von Schaden v[nd] Betrug.«99 Derselben ökonomischen Metaphorik hatte sich bereits der junge Senckenberg bedient, der nicht durch akademische Studien und Berufsarbeit, sondern allein durch Selbstbeobachtung und innere Einkehr »etwas profitiren« zu können glaubte.100 Indem er durch unausgesetzte Arbeit an seiner Selbst- und Gotteserkenntnis ein großes Erfahrungskapital erwarb, übte er seiner Überzeugung nach eine überaus strenge Zeitökonomie. Die gewonnenen Erfahrungen waren jedoch nicht allein eine ertragreiche Investition in die Erlösung nach dem Tod, sondern zahlten sich bereits zu Lebzeiten aus, indem sie als Basis für die Erlösungsgewissheit seiner späteren Jahre dienten und zudem im Rahmen seines Arztberufes dem Gemeinwohl zugute kamen. Ebenso wenig wie über Zeit und materiellen Besitz kann der Mensch nach Senckenberg über seine Geistesgaben beliebig verfügen: Geistreiche und witzige Einfälle dürfe man nicht einfach in geselliger Unterhaltung »ad risum« verschwenden, sondern müsse sie in seinem Inneren »zum neuen leben« aufbewahren.101 Wer nämlich all seine Gedanken entäußere, verarme im Geist und büße seine Substanz ein: »Dona sua ubivis dispergens nihil servabit sibi, nec altas aget radices, nec thesaurum colliget, ex quo urgente necessitate opportunè possit depromere spiritualia arma.«102 Aus demselben Grund wollte Senckenberg auch die aus physischer und geistiger Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse nicht durch Publikation zur Mehrung seines weltlichen Ruhms missbrauchen, sondern sie lieber höheren Zwecken weihen: Seiner Meinung nach »gehören nicht solche Perlen vor die gelehrte Welt. Säue so sie zertretten.«103
7. Sprachgebrauch und Wahrnehmungsperspektive Die geschilderten religiösen, medizinischen und ökonomischen Überzeugungen sind im Umgang mit Senckenbergs rigorosen Urteilen über seine Mitmenschen immer im Auge zu behalten. Da sich ihre drastische Strenge aus seiner göttlich 99 Ebd., fol. 483r-484r. 100 Senckenberg, 1732, S. 468. 101 Ebd., S. 840f.: »Non ridendi alii, nec ego me extollere in donis debeo, quae mea non sunt sed Dei, qui eripere potest, et saepe eripuit, & suo tempore reddidit, quod homo non potest ad voluntatem suam disponere. Est Dei regula.« Vgl. dazu 1 Kor. 6, 20: »Denn ihr seid teuer erkauft; darum so preist Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes.« 102 Senckenberg, 1730-32, S. 127. 103 Ders., 1732, S. 678. 242
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inspirierten Einsicht in den Lauf der Welt legitimierte, die allen Unerweckten verschlossen bleiben musste, war sein Interesse an der Erkenntnis der Wahrheit nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach Objektivität. Senckenberg, der als 25-jähriger Gott um Verleihung des Zölibats bat, auf dass er sich nicht in den Lüsten der Welt verstricke,104 dem jeder unkeusche Gedanke Gewissenspein und Höllenängste verursachte und der sich das Betrachten eines Feuerwerks ebenso versagte wie den Genuss eines Apfels,105 musste überall Zeitvergeudung und Ausschweifung erkennen, wo nicht strenge Askese herrschte; da er überall nach den Spuren göttlichen Wirkens suchte, sah er zwangsläufig den Teufel am Werk, sobald die Dinge nicht gemäß den als richtig erkannten Grundsätzen gehandhabt wurden. Als Ausdruck seiner subjektiven Wahrnehmung bedarf seine Kriminalisierung und Diabolisierung anderer somit selbst einer interpretierenden Auslegung, so dass einer historischen Quellenanalyse notwendig eine kritische Text- und Sprachanalyse vorangehen muss. Wie gesehen, bezieht sich das Urteil »scheinfromm« in Senckenbergs Sprachgebrauch nicht nur auf heuchelnde Tartüffe, sondern auf alle Menschen, die seine strengen religiösen Ansichten nicht teilten. Als »fanatisch« bezeichnete er dementsprechend nicht nur verblendete Sektierer, sondern auch die gelehrten und geselligen ›Weltmenschen‹.106 Wer habgierig oder betrügerisch genannt wird, war möglicherweise bloß ein profitorientierter Geschäftsmann; ein als »korrupt« und »verräterisch« betiteltes Mitglied des reichsstädtischen Rats fühlte sich wahrscheinlich nur dem Kaiser zur Treue verpflichtet, und Prädikate wie »ausschweifend« und »verschwenderisch« sind lediglich mit »genießerisch« und »lebenslustig« zu übersetzen. Entsprechende Vorsicht ist auch bei dem Wort »Hurerei« geboten, das sich bei Senckenberg keineswegs nur auf sexuelle Promiskuität bezieht, sondern ganz allgemein »Weltzugewandtheit« bedeutet und deshalb besonders häufig in 104 »Ego ad libere judicandum & ne laqueis irretiar, orabo Deum ut coelibatum mihi donet, ut sibi & proximo queam servire, & mundo non ita sim devinctus & adstrictus zu heucheln pp ut & ad persecutiones sim expeditior ferendas solitarius & tentationes non nimis magnas experiar; quaeque deus omnia ferre nos doceret si eum sequamur.« Ebd., S. 844. 105 Am 20.10.1732 heißt es: »Machen diesen abend ein Feuer werck vor dem GalgenThore. […] Das Feuerwerck rauschte, so zwang mich es nicht zu sehen, v[nd] ließ es seyn, obschon die Lust gros.« Ebd., S. 575. – Vgl. auch den Eintrag vom 10.11.1732: »Bekomme innerliche Kraft v[nd] trieb zum guten cum vici vorhin den appetitum ad poma Comedenda, worauff ich gewiß wäre schläfrich v[nd] träge geworden zu allem guten.« Ebd., S. 660. 106 Vgl. ebd., S. 839, 847 und 890. 243
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religiösen Kontexten erscheint. So heißt es etwa im Zusammenhang mit der Absage an weltliche Vergnügungen, man müsse »die geistl[iche] Ehe mit Christo rein bewahren« und dürfe »nicht mit der Welt huren«.107 Dementsprechend wurden die Mitglieder des orthodoxen Klerus von ihm auch als »geistl[iche] Huren« bezeichnet, die nicht nur selbst »von gott abhuren«, sondern auch »das Volck abhuren machen«.108 Durch ihre Messzeremonien hielten sie nämlich nicht nur die Gläubigen davon ab, Gott in ihren Herzen wahrhaft zu empfinden, sondern stellten dabei auch nicht den Herrn, sondern sich selbst in den Mittelpunkt: »Pfarrer führen von Gott ab ex corde ex spiritu ex veritate, auf ihre Tempel Ceremonias v[nd] ihr selbst Verehrung, ambitionem, avaritiam, voluptatem sequentes«; statt sich aber derart zu prostituieren, sollten sie die Gemeinde »zu Christo hin v[on] sich selbst wegweisen«.109 Dass damit nicht nur orthodoxe Geistliche gemeint waren, zeigt Senckenbergs Urteil über die Hallenser Pietisten, »die sub gesticulari larva pietatis, huren, stehlen v[nd] alle schelmstücke treiben«.110 Auch ihnen stellte er nicht nur alle Sittlichkeit und Redlichkeit, sondern auch ihre Rechtgläubigkeit in Abrede: »Hic Deus nihil facit. Sie erhalten sich selbst mit menschlichen Schelmstücken gegen Gottes ordnung.«111 Wie stark Senckenbergs Wahrnehmung der Welt mitunter seinen Sprachgebrauch und damit auch seine Urteile über andere beeinflusste, lässt sich auch an folgender Aussage ermessen: »Mercatores machen aus kleinen banqueroutes nichts da aber von de Walle einen großen machte sagte Herr Manskopf er habe einen considerablen banqueroute gemacht. Vielleicht heisst das zu teutsch, einen schönen, ansehnlichen vielleicht gar honorable. Etwas groses stehlen ist vielleicht ansehnlicher, weil es mehr der Mühe werth ist als was weniges. Endlich würde so diese dieberey nicht mehr gestrafft würde, v[nd] so hingeht, handeln v[nd] betrügen oder stehlen synonyma werden. So weit nimmt hier das böse überhand. Franco furtum. Furtum franco.«112
107 Ebd., S. 841. 108 Senckenberg, 1760-62, fol. 334r. Schon Luther hatte sowohl die katholische Kirche als auch die Vernunft als »Hure des Teufels« bezeichnet. Vgl. Luther, 1991b, S. 161; Ders., 1991c, S. 297; Ders., 1991d, S. 41; Ders, 1991e, S. 266. 109 Senckenberg, 1760-62, fol. 510v. 110 Ebd., fol. 237v. 111 Ebd., fol. 382r/v. 112 Ebd., fol. 436r. 244
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Auch diese Passage erweckt schwerlich den Eindruck einer realistischen Einschätzung der Frankfurter Handelsmoral: Eher mutet sie wie eine prophetische Vision zukünftiger Entwicklungen an, die sich nicht allein auf die bevorstehenden Sitten, sondern auch auf das gesellschaftliche und moralische Wertesystem, auf die Rechtsprechung sowie auf die Sprache und ihre Semantik erstreckt. Darüber hinaus wird hier ersichtlich, auf welchem Wege Senckenbergs Urteile über seine Mitbürger mitunter zustande kommen: Aus einer neutralen bis leicht ironischen Aussage über eine bestimmte Person wird durch subjektive Ausdeutung und semantische Verschiebung ein allgemeines Urteil über die moralische Beschaffenheit der gesamten Stadtbevölkerung. Ebenso wie Individuum und Allgemeinheit, Tatsache und Fiktion, Wortbedeutung und Auslegung fließen hierbei auch Gegenwart und Zukunft ineinander. In Anbetracht dessen stellt sich grundsätzlich die Frage, wie hoch der Anteil prophetischer Deutungen und subjektiver Mutmaßungen an Senckenbergs Äußerungen über die Sitten in seiner Heimatstadt tatsächlich sein mag. Indem er sein gesamtes irdisches Dasein nur als kurze Station auf dem Weg ins Jenseits betrachtete, war auch sein Denken und Handeln eher vertikal als linear ausgerichtet. An eben diesem Schnittpunkt zwischen Diesseits und Jenseits ist auch die Wahrnehmungsperspektive seiner Tagebücher anzusiedeln: Wenn er die moralischen Verfehlungen seiner Mitmenschen reflektierte, dann nicht primär hinsichtlich ihrer sozialen, rechtlichen oder ökonomischen Beziehungen untereinander, sondern vor allem in Bezug auf ihr Verhältnis zu Gott. Aus dem Bewusstsein, ihr Tun von einer zwischenweltlichen Position und damit von einem höheren Standpunkt aus zu betrachten, legitimierte sich nicht nur Senckenbergs Überzeugung von der Richtigkeit seiner Einsichten, sondern auch seine Überschreitung zeitlicher, sprachlicher, individueller oder faktischer Bedingtheiten.113 Aus seiner erhöhten Perspektive erklärt sich letztlich auch Senckenbergs verzweifelte Empörung angesichts der Sorglosigkeit seiner sündigen Mitmenschen, die ihr Seelenheil durch ihr eigensinniges Beginnen leichtfertig verspielten. Seinem Weltbild nach hat Gott für jeden Menschen eine bestimmte Funktion in der Welt vorgesehen, die jeder treulich und genau erfüllen muss. Abweichende Selbstentwürfe sind dabei nicht vorgesehen: Sobald jemand den ihm zugedachten Ort verlässt oder seine Funktion eigenmächtig verändert, stellt 113 Zur ähnlich gelagerten Soziologie der Herrnhuter, die sich »in einer Art Nebenund Gegenraum zu ihrer jeweils bestehenden Umwelt« verortet hätten und deshalb »mehr Bürger einer Gegenwelt als Weltbürger« gewesen seien, vgl. Mettele, 2006, S. 54. 245
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er die göttliche Ordnung in Frage. Je verantwortungsvoller die ihm bestimmte Funktion ist, desto verwerflicher erscheint sein Abweichen vom festgelegten Weg. Dieser Gedanke dominierte auch seine Kritik an der weltlichen und geistlichen Elite Frankfurts: »Lex nova novum nunc valet ex perditissimorum seculorum moribus praeceptis: Ihr Eltern seyd gehorsam euren Kindern, Ihr Männer gehorchet euren Weibern. inversa et perversa omnia!«114 Derselbe Gedanke findet auf europäischer Ebene Anwendung: Eine Revolte gegen Gottes Ordnung hatte Senckenberg auch in der Tatsache erkannt, dass sich im Siebenjährigen Krieg die Herrscherinnen von Österreich und Russland gegen den König von Preußen verbündeten und mit ihrem »hartnäckigen Weiber Regiment«115 dem einzig gerechten Verfechter des Rechts entgegenstellten: »Hoc in bello opprimere Regem Borussiae voluere mulieres v[nd] die Pfaffen nil efficient. Er muß immer oben auff dignus est. Weder geistl[iche] Huren […] noch die leibliche, werden ihn fällen.«116 Als sich 1762 ein positiver Kriegsausgang für Preußen abzeichnete, sah Senckenberg die göttliche Ordnung wiederhergestellt: »quanta quanta Dei providentia omnipotentis rerum conversio! quem opprimere voluere maligni, jam superior hostibus omnibus est, et leges Caesari Imperioque dat!«117 Alles in allem können Senckenbergs Urteile über seine Mitbürger wahrnehmungsbedingt nur als wenig verlässlich gelten, und auch seine Notizen über stadthistorische Fakten und Ereignisse sind nicht in jedem Fall beim Wort zu nehmen. Anders als bisher angenommen liegt die Bedeutung seiner Tagebücher für die Frankfurter Stadtgeschichte daher nicht im Bereich der politischen Geschichte und Sittengeschichte, sondern vielmehr auf dem Gebiet der Kultur-, Kirchen- und Wissenschaftsgeschichte. Lässt man sich auf Senckenbergs Wahrnehmung der Welt ein, gestatten seine Aufzeichnungen nicht nur einen umfassenden Einblick in die Persönlichkeitsbildung und Bewusstseinsstruktur eines radikalen Angehörigen einer separatistischen Glaubensgemeinschaft, sondern auch in die Lebens- und Arbeitsweise eines gottesfürchtigen Vertreters der reichsstädtischen Ärzteschaft. So weltfremd und verschroben das radikalpietistische Weltbild auch anmuten mag, so nachhaltig sollte es schließlich die Reichsstadt prägen: Ohne die kompromisslose Frömmigkeit, welche Senckenbergs asketische Lebensweise ebenso bedingte wie sein medizinisches Verantwortungsbewusstsein, wäre seine Stiftung schwerlich zustande gekommen. 114 115 116 117 246
Senckenberg, 1763a, fol. 24r. Senckenberg, 1760-62, fol. 467r. Ebd., fol. 334r. Ebd., fol. 467r/v.
Franco furtum, Furtum franco
Abstract In his journals, the Frankfurt physician Johann Christian Senckenberg passes quite drastic moral verdicts on his fellow citizens. While earlier research conjectured about their accuracy or falsity, this article investigates the backgrounds of his negative judgments on the basis of his early journals. As they principally served his religious and medical self-education, they allow of profound insights into the formation of his confessional, social, medical and economic opinions according to radical pietist ideas. The more conscious he grew of his own right eousness, the more prone he became to criminalize and diabolize every deviation from his own moral and dietetic standards. His special interest in the Frankfurt counsellors and their families derives from his notion that a political leader should function as a role model for other members of the community. In Senckenberg’s eyes, their lack of true faith, ethical integrity and sexual temperance endangered not only their own physical and spiritual welfare but also caused the moral decline of the whole city. The fact that his judgments seem to reflect reality in a rather inadequate and distorted way is owing to his radically religious perspective of perception, which was oriented more towards life in the next world than in this. Both the contents and the terminology of his journals must therefore be scrutinized by means of critical text and language analysis.
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Vera Faßhauer
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Stadt und Markt
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt in kulturwissenschaftlicher Perspektive Philip Hoffmann-Rehnitz
Im Nachwort zu diesem Band stellen Julia Schmidt-Funke und Matthias Schnettger fest, dass, anders als im Fall der Kulturgeschichte des Politischen, »das Programm einer auf die frühneuzeitliche Stadt bezogenen Neuvermessung des Ökonomischen unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen erst noch entwickelt werden« müsse.1 Dieser Diagnose kann in der Grundtendenz, zumal im Blick auf die Situation in Deutschland, durchaus zugestimmt werden, jedoch gilt es hierbei zu differenzieren, insbesondere wenn man den internationalen Forschungskontext mit einbezieht. Wie aber könnte das Programm einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt zumindest in seinen Grundzügen aussehen und profiliert werden? Und inwieweit finden sich in der jüngeren (Stadt-)Geschichtsschreibung Forschungen und Forschungsansätze, an die dabei angeschlossen werden kann? Diesen Fragen wird im Folgenden in drei Schritten nachgegangen. Zunächst wird in einer knappen historiographischen Rückschau aufgezeigt, dass und warum sich zumindest hierzulande das Programm einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt als eines distinkten, konzeptionell klar umrissenen und auch empirisch untersuchten Forschungsfelds bis heute nicht ausgeprägt hat. Daran anschließend werden allgemeine konzeptionelle Fragen und Begrifflichkeiten vor allem zu »Stadt/ -geschichte« und »Kultur/-geschichte« diskutiert, um so grundlegende Voraus1
Siehe dazu das Nachwort in diesem Band, S. 456. 255
Philip Hoffmann-Rehnitz
setzungen für den Entwurf eines solchen Programms zu klären. Diese allgemeinen programmatischen Überlegungen lassen sich im Rahmen dieses Aufsatzes zwar nicht einmal annährungsweise mit empirischem Gehalt füllen, dennoch soll am Ende des zweiten Abschnitts zumindest kurz auf ein Fallbeispiel aus dem frühneuzeitlichen Lübeck eingegangen werden. Im dritten Abschnitt werden auf neuere Forschungen und Forschungsansätze diskutiert, die einer solchen Wirtschaftsgeschichte der (frühneuzeitlichen) Stadt in kulturwissenschaftlicher Perspektive entsprechen. Diese stammen vornehmlich aus der westeuropäischen und insbesondere aus der französischen Frühneuzeitforschung. Allen voran sind hier diejenigen Untersuchungen zu nennen, die durch und im Umkreis von Laurence Fontaine durchgeführt worden sind,2 aber auch an die Forschungen von Craig Muldrew zum Wandel der Kredit- und Handelspraktiken und ihrer kulturellen und sozialen Grundlagen im frühneuzeitlichen England.3 In beiden Fällen werden sozial- und wirtschaftsgeschichtliche mit kulturgeschichtlichen Ansätzen in produktiver Weise verbunden und so auch neue Einsichten in die Entwicklung der kulturellen und ökonomischen Grundlagen städtischer Vergesellschaftung in der Frühen Neuzeit eröffnet. Die Diskussion der jüngeren Forschung kann hier allerdings nur in stark selektiver Weise erfolgen. Insofern sollen auch nur einige, für die in diesem Aufsatz verfolgten Zwecke als besonders relevant und aufschlussreich erscheinende Forschungsgebiete etwas genauer beleuchtet und diskutiert werden. Hierbei handelt es sich um das städtische Finanz- und Kreditwesen sowie um Märkte und kommerzielle Praktiken vor allem im Bereich des lokalen und innerstädtischen (Klein‑)Handels. Auf diesen Forschungsfeldern mangelt es für die mitteleuropäische Stadt der Frühen Neuzeit, gerade im Vergleich zu Westeuropa, bislang 2
3
256
Exemplarisch hierfür die Untersuchungen von Anne Montenach zu den kommerziellen Räumen und Praktiken in Lyon im 17. Jahrhundert; Montenach nutzt neuere kultur- wie auch raum- und geschlechtergeschichtliche Ansätze, um wirtschaftliche Phänomene und Entwicklungen in frühneuzeitlichen Städten in einer innovativen Weise zu untersuchen und dabei neue Perspektiven auf wesentliche Grundlagen städtischer Vergesellschaftung in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen zu entwickeln: vgl. dazu v.a. Montenach, 2009 sowie unten. Vgl. dazu v.a. Muldrew, 1998a; sowie Ders., 1998b. Die von Fontaine und Muldrew durchgeführten und initiierten Forschungen überschneiden sich dabei in thematischer wie konzeptioneller Hinsicht, so in der Ausrichtung auf die übergreifende Frage, wie sich die kulturellen Bedingungen frühneuzeitlicher Ökonomien wandelten, gerade im Hinblick auf den Umgang mit (neuen) Risiken und die Herstellung von Vertrauen.
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt
an einschlägigen Untersuchungen, zumal an solchen, die an kulturwissenschaftlichen Ansätzen und Erkenntnisinteressen ausgerichtet sind.4 Schließlich wird etwas ausführlicher auf die in jüngster Zeit auch hierzulande verstärkt in den Fokus gerückten informellen und irregulären Dimensionen und Bereiche frühneuzeitlicher Stadtökonomien eingegangen, auch weil dieses Feld in besonderer Weise dazu geeignet erscheint, Potentiale und Probleme einer ›alternativen‹, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt aufzuzeigen.
1. Stadt, Wirtschaft, Kultur, Frühe Neuzeit – eine kurze Beziehungsgeschichte Den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bildet die Beobachtung, dass es zumindest in Deutschland jenseits einiger weniger Untersuchungen bis heute nicht zu einer Konvergenz von Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Frühneuzeitforschung und Stadtgeschichtsschreibung gekommen ist und dass sich dementsprechend eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt als distinktes und deutlich konturiertes Forschungsgebiet nicht ausgebildet hat. Vielmehr haben sich, den jeweiligen Entwicklungen des historiographischen Felds entsprechend, innerhalb der Beziehungsgeschichte von (vormodernder) Stadthistoriographie, Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte/Historischen Kulturwissenschaften und Frühneuzeitforschung immer wieder Zweier- oder auch Dreierkonstellationen ergeben, bei denen (mindestens) eines der genannten Felder aber ausgeschlossen oder zumindest randständig geblieben ist.5 4
5
Andere Forschungsfelder, die wie die Konsum- oder die jüngere Handwerks- und Zunftgeschichte in letzter Zeit ebenfalls intensiver – auch und gerade im Blick auf kulturgeschichtliche Aspekte – untersucht worden sind, werden in diesem Aufsatz nur am Rande thematisiert, auch weil sie in diesem Band mit eigenen Beiträgen vertreten sind. Ebenso kann auf die hierzulande gerade für die Frühe Neuzeit vergleichsweise stark ausgeprägten Forschungen zum interregionalen Fernhandel nicht näher eingegangen werden; diese zeichnen sich zudem dadurch aus, dass in ihnen kulturgeschichtlichen Aspekten eine eher nachrangige Bedeutung zukommt: vgl. dazu zuletzt u.a. Häberlein/Jeggle, 2010; Denzel/Dalhede, 2014; Caracausi /Jeggle, 2014a. Ein solcher historiographischer Rückblick ist natürlich mit dem Problem konfrontiert, dass sich dasjenige, was mit diesen vier Begriffen bezeichnet und was 257
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So kommt wirtschaftshistorischen Fragestellungen (neben politik-, rechtsund verfassungsgeschichtlichen Aspekten) innerhalb der traditionellen Stadtgeschichtsschreibung, die das Bild der vormodernen bzw. alteuropäischen Stadt bis weit ins 20. Jahrhundert (und zum Teil bis heute) maßgeblich geprägt hat, eine hervorgehobene Bedeutung zu, sah und sieht man diese doch als eine Gesellschaftsform an, deren soziale Ordnung und Kultur in besonderer Weise durch ökonomische Faktoren und Entwicklungen bedingt waren. Zudem wurde und wird vor allem den mittelalterlichen Städten eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der modernen (west-)europäischen Wirtschaft und ›Wirtschaftskultur‹ zugemessen, da sich in ihnen wesentliche, nicht zuletzt auch kulturelle Voraussetzungen und Grundlagen markt- und erwerbsorientierter respektive (früh-) kapitalistischer Ökonomien entwickelten.6 Insbesondere die Konzentration der traditionellen Geschichtsschreibung und speziell auch der Stadt(wirtschafts)ge-
6
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darunter begriffen wird, im Laufe der Zeit veränderte. Besonders augenfällig ist dies im Fall der Kulturgeschichte, nicht zuletzt da sich das Verständnis des Kulturbegriffs seit dem 19. Jahrhundert grundlegend gewandelt hat (siehe dazu auch unten Abschnitt 2). Andreas Reckwitz hat in unterschiedlichen Publikationen eine Typologie der Ausprägungen des Kulturbegriffs entwickelt und daran anschließend die Veränderungen der Kulturtheorie untersucht. An seine Überlegungen und Unterscheidungen wird in der folgenden Darstellung angeknüpft: vgl. dazu u.a. Reckwitz, 2011; Ders., 22012. Im ersten Abschnitt soll mit diesem begrifflichen Problem zunächst einmal insofern pragmatisch umgegangen werden, als damit dasjenige gefasst wird, was den jeweiligen zeitgenössischen Begriffs- und Redekonventionen gemäß unter »Kulturgeschichte« verstanden wurde. Im Fall von »Frühneuzeitforschung« soll hier eingedenk der Tatsache, dass sich diese als eigenes Fach erst nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisierte, nicht mehr gemeint sein als diejenigen Forschungen, die sich auf die Zeit zwischen 1500 und 1800 beziehen. Unter Wirtschaft (und entsprechend unter Wirtschaftsgeschichte) werden hier im Anschluss an ein konventionelles Verständnis diejenigen sozialen Phänomene (Handlungen, Kommunikationen, Institutionen, Akteure etc.) gefasst, die auf die Erzeugung, Umwandlung, Distribution, den Austausch sowie Verbrauch knapper Güter und Dienstleitungen ausgerichtet sind. Zum Begriff der Stadtgeschichte siehe unten. Stellvertretend kann dafür auf die einschlägigen Abhandlungen von Max Weber und Werner Sombart verwiesen werden. Jedoch beschränkte insbesondere Weber die Kulturbedeutung der (mittelalterlichen) ›okzidentalen Stadt‹ keineswegs auf die wirtschaftliche Dimension, sondern er wies diese als einen Ursprungsort von allgemeinen Entwicklungen aus, die wie die Ausbildung des Bürgertums oder Pro-
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt
schichte auf normative und institutionelle Aspekte brachte es mit sich, dass diese ein besonderes Augenmerk auf kulturelle und insbesondere ideelle Faktoren richtete.7 Jedoch konzentrierte sich die ältere Geschichtsschreibung zur vormodernen Stadt und ihrer Wirtschaft vor allem im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich auf das Mittelalter (inklusive der Reformationszeit), während die nachreformatorische bzw. frühneuzeitliche Stadt aufgrund des ihr zugeschriebenen epigonalen Charakters innerhalb der historischen Forschung ein randständiges Dasein fristete und speziell auch innerhalb der allgemeinen (Wirtschafts-) Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit lange Zeit nur wenig Beachtung fand.8 Erst seit den 1960er Jahren wurde die Geschichte und insbesondere auch die Wirtschaftsgeschichte des frühneuzeitlichen (mitteleuropäischen) Städtewesens allmählich erschlossen.9 Dies ging einher mit dem Vordringen von sozial-
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zesse der Rationalisierung (u.a. im Bereich des Rechts) und der Individualisierung zur Ausbildung einer modernen, westlichen Gesellschaftsordnung führten. Das hier zugrundeliegende, (nicht nur) für die traditionelle Geschichtsschreibung charakteristische Verständnis von Kultur ist primär normativ ausgerichtet und totalitätsorientiert, d.h. Kultur wird verstanden als die historisch gewachsene normative und ideelle Disposition bestimmter Kollektivsubjekte, die deren Lebensweise auszeichnet und in diesen zum Ausdruck kommt: vgl. dazu Reckwitz, 2011, S. 3-6. Seinen Hauptgrund hatte dies in dem hierzulande bis heute wirkmächtigen Masternarrativ der traditionellen Stadtgeschichtsschreibung vom Aufstieg und der Blüte der ›Alten Stadt‹ und speziell der Stadtwirtschaft im Hoch- und Spätmittelalter, der in der Frühen Neuzeit eine Zeit des Niedergangs und des allgemeinen Bedeutungsverlusts des Städtewesens folgte. Dies ist eng mit der Auffassung verbunden, dass zwischen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Stadt weitgehende strukturelle Kontinuitäten bestünden und die frühneuzeitliche Stadt demnach (im Gegensatz zur mittelalterlichen Stadt) auch aufgrund des ihr zugeschriebenen Traditionalismus und Strukturkonservatismus kaum als Ort anzusehen sei, der bedeutende genuine Neuerungen hervorbrachte und von dem allgemeine historische Entwicklungsimpulse ausgingen. Diese gerade in Deutschland bis heute weit verbreitete Meistererzählung hat nicht zuletzt die Darstellungen zur Geschichte einzelner Städte, insbesondere der autonomen (Reichs-)Städte, maßgeblich geprägt, und zwar selbst dort, wo, wie etwa im Fall Frankfurts, die Entwicklung gerade in der Frühen Neuzeit dieser Erzählung offensichtlich nur bedingt entspricht. Einen Markstein hierfür bildet die auch auf Frankfurt eingehende Studie von Mauersberg, 1960. 259
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und strukturgeschichtlichen Ansätzen innerhalb der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Wirtschaftsgeschichte im Besonderen. Jedoch spielten in diesem ganzen Forschungszusammenhang kulturelle Aspekte auch deswegen kaum eine Rolle, weil sich die ›neue‹ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der 1960er und 70er Jahre durch die Ausblendung oder zumindest Unterordnung kulturell-qualitativer unter sozialstrukturelle Aspekte und quantifizierbare Faktoren gegenüber dem ›Kulturalismus‹ und ›Idealismus‹ der traditionellen ›historistischen‹ Geschichtsschreibung abzugrenzen versuchte.10 Mit dem seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert erfolgten Vordringen kulturwissenschaftlicher Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft ging bekanntermaßen ein Bedeutungsverlust der Wirtschaftsgeschichte und wirtschaftsgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen gerade für die Vormoderne einher, der hierzulande besonders markant ausgefallen ist.11 Dementsprechend blieb auch das Interesse der durchaus vielgestaltigen kulturgeschichtlich ausgerichteten Forschungen der letzten Jahre zur vormodernen und speziell zur frühneuzeitlichen Stadt an wirtschaftshistorischen Themen und Fragestellungen gering. Nun ist über die gestörte Beziehung zwischen den (Historischen) Kulturwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften bzw. der Wirtschaftsgeschichte und ihre (Hinter-)Gründe in den letzten Jahren ebenso viel geschrieben und reflektiert worden wie darüber, wie diese wieder miteinander in Beziehung gesetzt werden können.12 Noch vor fünf Jahren stellte Achim Landwehr fest, dass »Kul10 Die Vernachlässigung von und Ignoranz gegenüber kulturellen Aspekten ist auch ein Kennzeichen des Mainstreams der neo-klassisch geprägten Wirtschaftswissenschaften, an denen sich zumindest ein bedeutender Teil der Wirtschaftsgeschichte orientiert (hat). 11 In anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Großbritannien ist diese Tendenz weit weniger ausgeprägt gewesen; dies gilt insbesondere auch für die BeneluxStaaten, wo wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ansätze gerade auch innerhalb der vormodernen (Stadt-)Geschichtsschreibung bis heute eine wichtige Rolle spielen. 12 Dies wird oftmals verbunden mit der Frage, inwieweit eine (Wieder-)Annäherung von Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften möglich ist: vgl. dazu bereits Ray/ Sayer,1999,v.a.S. 1-24;Siegenthaler,1999;Berghoff/Vogel,2004a;Hilger/Landwehr, 2011; sowie zuletzt Dejung u.a., 2014. Jedoch sind die in den etwas älteren Publikationen, etwa in dem von Berghoff und Vogel herausgegeben Sammelband, getroffenen Diagnosen mittlerweile zum Teil überholt; so kann etwa kaum mehr die Rede davon sein, dass die neuere Kulturgeschichte materielle Aspekte und Phänomene weitgehend ausblenden würde und eine »Entmaterialisierung der Ge260
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt
turgeschichte und Wirtschaftsgeschichte […] derzeit wie zwei entfernte Verwandte an[muten], die mehr oder minder eifrig darum bemüht sind, einen unterbrochenen Kontakt mühsam wieder aufzunehmen.« Landwehr zeigte sich aber auch vorsichtig optimistisch, denn: »Erstens fallen die Bemühungen der Wirtschaftsgeschichte auf, kulturhistorische Fragen stärker in den eigenen Kanon zu integrieren; zweitens wenden sich – wenn auch immer noch vereinzelt – Kulturhistorikerinnen und Kulturhistoriker wirtschaftlichen Gegenständen zu.«13 Die letzte Tendenz hat sich in jüngster Zeit deutlich verstärkt, und zwar nicht zuletzt innerhalb der Frühneuzeitforschung, so dass sich die Konturen einer ›neuen‹, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte (nicht nur) der Frühen Neuzeit immer deutlicher abzeichnen.14 Einer Annäherung zwischen Wirtschaftswissenschaften und weiten Teilen der Wirtschaftsgeschichte auf der einen und den (Historischen) Kulturwissenschaften auf der anderen Seite steht jedoch weiterhin das Gegenüber unterschiedlicher ›Kulturen‹ im Wege, soll heißen: Auf beiden Seiten sind divergente Begriffe und Verständnisse von Kultur leitend, die nicht oder nur bedingt kompatibel sind. Denn während für die Kulturwissenschaften und die ›Neue Kulturgeschichte‹ ein »bedeutungs-, wissens- und symbolorientierte(s) Kulturverständnis« den »Hintergrund für das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm« bildet,15 herrschen in den Wirtschaftswissenschaften und in weiten Teilen der Wirtschaftsgeschichte weiterhin schichtsbetrachtung« für diese kennzeichnend sei: so noch Berghoff/Vogel, 2004b, S. 12. 13 Landwehr, 2011, S. 175. 14 Eine Renaissance der vormodernen Wirtschaftsgeschichte, die auch kulturgeschichtliche Ansätze mit einbezieht, hat es in jüngster Zeit auch in der Mediävistik gegeben; in diesem Zusammenhang ist insbesondere der vor wenigen Jahren gegründete »Arbeitskreis spätmittelalterliche Wirtschaftsgeschichte« zu nennen, aus dem auch ein DFG-Netzwerk hervorgegangen ist: www.wirtschaftsgeschichte. org, 27.09.2016. Allgemein kann in den Kulturwissenschaften in letzter Zeit eine verstärkte Hinwendung zu ökonomischen Problemen und Themen beobachtet werden: vgl. dazu Eder u.a., 2013; Klein/Windmüller, 2014: die Bände zeigen jedoch auch deutlich, dass es sich hierbei um ein sowohl thematisch wie auch theoretisch und methodologisch höchst divergentes Feld handelt. 15 Dieser Kulturbegriff entspricht einer konstruktivistischen Sicht auf die über sprachlich-symbolische Ordnungen und Praktiken konstituierte soziale Wirklichkeit, die die für das kulturwissenschaftliche Denken allgemein kennzeichnende Kontingenzperspektive im Vergleich zu anderen kulturtheoretischen Ansätzen noch einmal radikalisiert: Reckwitz, 2011, S. 7f., 14-18 (Zitat S. 7). 261
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institutionell-normative, differenztheoretisch-sektorale oder auch ganzheitliche Verständnisweisen von Kultur vor,16 die von einem Großteil der Vertreter der (Historischen) Kulturwissenschaften als nicht mehr zeitgemäß erachtet und somit auch als allenfalls bedingt anschlussfähig angesehen werden.17
2. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen (mit einem Ausblick in die Empirie) Derzeit erscheint es weitgehend offen, inwieweit von der allgemeinen Renaissance des Ökonomischen in der historischen und gerade auch der historischkulturwissenschaftlichen Forschung die vormoderne und speziell die frühneuzeitliche Stadtgeschichte erfasst werden wird und profitieren kann. Aus heutiger Sicht erscheint hier eine gewisse Skepsis angebracht zu sein, da die leitenden Erkenntnisinteressen der ›neuen Wirtschaftsgeschichte‹ sich zumindest im Be16 Ein ganzheitliches respektive totalitätsorientiertes Verständnis von Kultur liegt etwa dem von Werner Abelshauser u.a. herausgegebenem Band Kulturen der Weltwirtschaft zugrunde: Abelshauser, 2012; der hier verfolgte Ansatz nimmt an, dass sich bestimmte Länder oder Weltregionen respektive Kollektivsubjekte (z.B. USA, Europa, der Westen, China, Japan) durch eine jeweils spezifische und zugleich relativ homogene ›Wirtschaftskultur‹ auszeichnen, die weitgehend durch die jeweils geltenden Spielregeln (wie sie sich in Institutionen manifestieren) und die diesen zugrundeliegenden Wertevorstellungen geprägt sind; in diesem Sinne können Wirtschaftskulturen dann auch miteinander verglichen werden oder auch in einen Wettbewerb miteinander treten. 17 Zu diesem Problem siehe auch Conrad, 2004. So (miss-)versteht etwa Christoph Boyer die (neue) Kulturgeschichte, wenn er sie – in Analogie zu Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte – als eine akademische Großdisziplin bezeichnet, die Kultur als einen bestimmten »Objektbereich« untersucht: Boyer, 2007, S. 186. Auch das von Vertretern institutionenökonomischer Ansätze gemeinhin verwendete Verständnis von Kultur schließt mit seiner Ausrichtung auf Institutionen und Normen bzw. Spielregeln an einen klassischen Kulturbegriff an und unterscheidet sich damit von bedeutungsorientierten Konzeptionalisierungen von Kultur, die Institutionen und Spielregeln nicht an sich schon als Teil von Kultur begreifen, sondern vielmehr als soziale Phänomene verstehen, die es auf ihre kulturelle Dimension hin zu untersuchen gilt, sprich auf die Sinnbildungen, Wahrnehmungsformen und Bedeutungskonfigurationen, die Institutionen und Prozessen der Institutionalisierung zugrunde liegen: vgl. dazu auch Landwehr, 2011, S. 176f. 262
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt
reich der Frühen Neuzeit weitgehend jenseits des Horizonts der (deutschen) Stadtgeschichte zu bewegen scheinen. Einschlägige Forschungen und Forschungsprojekte richten sich vielmehr an anderen, nicht zuletzt globalgeschichtlichen Agenden aus. Dies schließt die Einbeziehung einer stadtgeschichtlichen Perspektive keineswegs aus, jedoch interessieren in einem solchen Zusammenhang Städte sowie translokale städtische Netzwerke und Urbanisierungsprozesse vornehmlich im Hinblick darauf, welchen Beitrag sie in der und für die Entwicklung globaler Verflechtungen und für Vorgänge des Kulturtransfers gespielt haben.18 In der Regel ist es kein, zumindest aber kein primäres Ziel solcher Forschungen, einen genuinen Beitrag zur Stadtgeschichte zu leisten, zumindest wenn man im Anschluss an Gerd Schwerhoff darunter mehr versteht als die Untersuchung bestimmter historischer Phänomene in Städten oder auch von einzelnen Städten als je individuellen Entitäten,19 sondern Stadtgeschichte vielmehr als Geschichte der Stadt begreift und Stadt dabei als eine spezifische Form der Vergesellschaftung fasst.20 In einem solchen Sinne besteht denn auch das 18 Deutlich wird das etwa am Programm der 11. Arbeitstagung der AG »Frühe Neuzeit« zu »Globalen Verflechtungen«: www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/fruehneuzeittag/index.html, 03.02.2017. Gerade außerhalb Deutschlands ist die Hinwendung zur Global- und zur (Kultur‑)Transfergeschichte auch an der (vormodernen) Stadtgeschichte keineswegs vorbei gegangen, wie das von Peter Clark herausgegebene Handbook of Cities in World History zeigt: Clark, 2013. Hier wird die Kultur zwar mit einbezogen, sie wird aber, einem differenztheoretischen und sektoralen Verständnis von Kultur folgend, wie es auch für die Historischen Sozialwissenschaften kennzeichnend ist, als ein Teilbereich neben Wirtschaft, Politik/Macht, Demographie, Sozialstruktur etc. gefasst. Eine Verflechtung von Wirtschafts- und Kulturgeschichte findet hier kaum statt, auch nicht in dem von Bruno Blondé und Ilja van Damme verfassten Kapitel zum Städtewesen im frühneuzeitlichen Europa, wo Wirtschaft und Kultur jeweils ein separater Abschnitt gewidmet ist: Blondé, van Damme, 2013. 19 Diese Tendenz zum »urban individualism«, der einzelne Städte als letztlich historisch einzigartige, individuelle Kollektivsubjekte betrachtet und untersucht, ist trotz aller komparatistischen Ansätze nicht allein in der Stadtgeschichtsschreibung, sondern allgemein in den Urban Studies verbreitet: vgl. dazu auch Hassenpflug, 2011a, v.a. S. 50f. 20 Vgl. dazu den Beitrag von Gerd Schwerhoff in diesem Band. Dies wirft dann natürlich die Frage auf, was diejenigen allgemeinen, zeit- wie raumübergreifenden Kennzeichen sind, die städtische Vergesellschaftung ausmachen; dies kann und soll hier nicht weiter diskutiert werden, jedoch gilt im Allgemeinen das Zusam263
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primäre und übergreifende Erkenntnisinteresse von Stadtgeschichte darin, die Bedingungen, Grundlagen und Ausprägungen städtischer Vergesellschaftung in ihrer historischen Entwicklung zu untersuchen. Die frühneuzeitliche Stadtgeschichte untersucht dementsprechend die Entwicklung städtischer Vergesellschaftung und ihrer sozialen wie kulturellen Bedingungen in der Frühen Neuzeit. Wenn dabei in analytisch gehaltvoller Weise von der Geschichte der frühneuzeitlichen Stadt gesprochen werden soll, dann setzt dies voraus, dass es sich bei dieser um eine eigene und spezifizierbare Form städtischer Vergesellschaftung handelt, die sich durch bestimmte strukturelle Merkmale und Entwicklungen etwa im wirtschaftlichen Bereich auszeichnet, die für diese genuin und kennzeichnend sind und durch die sie sich von anderen Formen der (städtischen) Vergesellschaftung, so auch von der mittelalterlichen Stadt, unterscheiden lässt.21 Grundlagen für eine Konzeptualisierung vormoderner bzw. frühneuzeitlicher städtischer Vergesellschaftung sind in den letzten Jahren insbesondere durch Rudolf Schlögl entwickelt worden.22 Diese folgt dem sozialkonstruktivistischen Postulat, dass es Soziales (und damit auch Wirtschaftliches) und auch Gesellschaft nicht gibt, sondern diese kommunikativ hergestellt werden und dass Vergesellschaftung als ein eigenlogischer, in menwirken eines hohen Maßes an Verdichtung und zugleich an Diversität (von Menschen, Dingen, Handlungen, Kommunikationen etc.) als ein grundlegendes Charakteristikum, das die Logik städtischer Vergesellschaftung in spezifischer Weise bestimmt. 21 Die Auffassung, dass es sich bei der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Stadt um jeweils eigene und distinkte Formen der Vergesellschaftung handele, steht jedoch im Gegensatz zu der hierzulande verbreiteten Auffassung, dass beide gerade in struktureller Hinsicht als eine historische Einheit im Sinne der vormodernen bzw. alteuropäischen Stadt zu fassen seien: vgl. dazu zuletzt etwa mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte Hauptmeyer, 2011. Eine Position, die dagegen auf die strukturelle Diskontinuität zwischen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Stadt abhebt, lässt sich unter anderem damit begründen, dass sich die medialen und kommunikativen Bedingungen städtischer Vergesellschaftung im Übergang und im Verlauf der Frühen Neuzeit mit der Ausbreitung von Distanzmedien und von Formen der Kommunikation unter Abwesenden deutlich wandelten, und zwar gerade auch im ökonomischen Bereich. 22 Vgl. dazu Schlögl, 2004; sowie allgemein Ders., 2014. Eine solche vergesellschaftungsgeschichtliche Perspektive verfolgt für die spätmittelalterliche Stadt auch Franz-Josef Arlinghaus; in unserem Zusammenhang besonders interessant Arlinghaus, 2014. 264
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und über Kommunikation laufender Prozess anzusehen ist, der wesentlich auf kulturellen Bedingungen und Voraussetzungen beruht. Ein solcher vergesellschaftungsgeschichtlicher Ansatz ist somit in konstitutiver Weise kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Dies wirft dann die Frage auf, was in einem solchen Zusammenhang mit Kultur gemeint ist. Den (Historischen) Kulturwissenschaften und speziell der ›Neuen Kulturgeschichte‹ ist, zumal wenn sie sich auf ein kulturanthropologisches Verständnis von Kultur beziehen, nicht zu Unrecht immer wieder ihr (zu) weites Verständnis von Kultur und die damit einhergehende Tendenz zur Entgrenzung vorgehalten worden, die dazu führen, dass unklar bleibt, wo kulturgeschichtliche Forschungen beginnen und vor allem wo sie enden. Tatsächlich erscheint in den (Historischen) Kulturwissenschaften Kultur oftmals als Universalkategorie und als leerer Code, der auf alles verweisen kann, damit aber inhaltsleer bleibt und für Unterscheidungen ungeeignet wird. Die Alternative zu einer solchen expansiven Tendenz kann jedoch nicht darin bestehen, zu einem traditionellen, sei es normativen, totalitätsorientierten oder auch sektoralen, Verständnis von Kultur zurückzukehren. Vielmehr gilt es daran festzuhalten, dass Kultur eine Dimension ist, die alles Soziale und damit auch alles Ökonomische durchzieht, ohne damit Kulturelles und Soziales ineinander fallen zu lassen. Die neuere Systemtheorie und systemtheoretisch orientierte Kommunikationstheorie stellen einen Kulturbegriff zur Verfügung, der genau dies zu leisten vermag.23 Kultur wird hier als die Gesamtheit derjenigen Beobachtungen gefasst, die auf der Grundlage bestimmter Unterscheidungen Soziales auf seine Bedingungen und Voraussetzungen hin reflektiert.24 Dies wird jedoch erst dann für andere (so auch für Historikerinnen und Historiker) beobachtbar und kann damit auch zum Gegenstand von (geschichts-)wissenschaftlichen Untersuchungen gemacht werden, wenn diese Beobachtungen mitgeteilt werden. Beobachtbar ist demnach nicht kulturelles Beobachten an sich, sondern kulturelle Kommunikation, in welcher medialen Form sich diese auch immer äußert. 23 Vgl. dazu u.a. Nassehi, 2010. Man kann darüber diskutieren, ob das systemtheoretische Verständnis von Kultur dem bedeutungsorientierten kulturtheoretischen Paradigma, wie es Reckwitz beschreibt, zuzuordnen ist oder einen diesem verwandten, jedoch eigenen, und zwar beobachtungsorientierten Kulturbegriff repräsentiert. 24 In einer kommunikationstheoretischen Logik bedeutet dies, dass es sich bei kulturellen Beobachtungen immer um Beobachtungen zweiter Ordnung handelt, da hier Kommunikationen auf die ihnen zugrundeliegenden Beobachtungen und Unterscheidungen hin beobachtet werden. 265
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Der Gegenstand kulturwissenschaftlicher und damit auch kulturgeschichtlicher Forschungen besteht demnach in der Analyse kultureller Kommunikationen; ihr primäres Erkenntnisziel ist es, die Ausprägungen, die Logik und die Möglichkeitsbedingungen kulturellen Kommunizierens (und damit auch kulturellen Beobachtens) zu untersuchen – im Fall der Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des längerfristigen historischen Wandels von Kultur. Differenzieren lässt sich Kulturgeschichte nach den jeweiligen Gegenständen und Phänomenbereichen, auf die sich kulturelle Beobachtungen und Kommunikationen beziehen. Entsprechend umfasst eine (Historische) Kulturwissenschaft des Ökonomischen alle diejenigen kulturellen Kommunikationen, die sich auf ökonomische Phänomene und Zusammenhänge beziehen und die diese auf ihre jeweiligen Bedingungen und Voraussetzungen hin reflektieren. Dies beinhaltet dann auch die Frage, inwieweit in bestimmten historischen und sozialen Kontexten (zum Beispiel in frühneuzeitlichen Städten) das Ökonomische überhaupt als distinkter Phänomenbereich beobachtet werden kann bzw. konnte. Kulturelles Beobachten und Kommunizieren können dabei selbst- oder auch fremdreflexiv sein, je nachdem ob die jeweiligen Beobachtungen und Kommunikationen sich auf denjenigen Sozialzusammenhang beziehen, dem sie sich selbst zuordnen, oder auf einen anderen. Demnach lässt sich eine Kulturgeschichte des Ökonomischen auch nicht als Teilbereich der Wirtschaftsgeschichte i.e. S. verstehen. Vielmehr können sich entsprechende Untersuchungen etwa auf dem Feld der Politikgeschichte bewegen, wenn man beispielsweise der Frage nachgeht, inwieweit innerhalb politischer Kontexte wirtschaftliche Phänomene und Zusammenhänge reflektiert und zum Gegenstand der Kommunikation gemacht wurden bzw. werden konnten (oder eben auch nicht), in welcher Weise dies geschah und wie sich dies wandelte.25 Dies lässt sich dann mit der oben ent25 Jede Stadt wie auch jeder Stadttypus zeichnet sich dabei durch eine für sie spezifische Logik und Ausprägung kultureller Kommunikation aus, die sich jedoch an übergreifenden kulturellen Codes und Dispositiven orientieren. Für die historische Forschung interessante Ansätze zur Analyse der Kultur von Städten bietet die urbane Hermeneutik, zumal diese auf einem Verständnis von Stadt als einer verräumlichten Gesellschaft basiert, die vornehmlich über in den städtischen Raum eingeschriebene Zeichen und entsprechende Codierungs- wie auch Entschlüsselungspraktiken konstituiert wird; sie verbindet damit semiotische und raumtheoretische Ansätze eng miteinander: vgl. dazu die Beiträge in dem Band Hassenpflug u.a., 2011b; v.a. Hassenpflug/Giersig/Stratmann, 2011. Hier bestehen denn auch enge Bezüge zu neueren raumsoziologisch orientierten Untersuchungen, wie sie innerhalb der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte etwa von Anne Montenach und 266
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worfenen stadtgeschichtlichen Perspektivierung verbinden, wenn der Fokus auf die Frage gerichtet wird, inwieweit solche kulturellen Kommunikationen über ökonomische Phänomene auf die Stadt als eine Form der Vergesellschaftung bezogen wurden, aber auch welchen Stellenwert und welche Relevanz ökonomischen Sachverhalten und Aspekten in der und für die (Selbst‑ wie Fremd‑)Beschreibung von Städten und städtischer Vergesellschaftung (etwa in der Frühen Neuzeit) zukommt – auch dies immer im Blick darauf, ob und in welcher Art sich dies mit der Zeit veränderte. In exemplarischer Weise lassen sich solche Fragen und Zusammenhänge, wie sie im Vorigen diskutiert worden sind, für die frühneuzeitliche Stadt anhand der zahlreichen innerstädtischen Auseinandersetzungen untersuchen, die sich in den Kommunen an denjenigen Problemen entzündeten, die das (bislang zumindest für die deutschen Städte noch unzureichend erforschte) städtische Schulden- und Steuerwesen betrafen.26 Solche fiskalpolitisch bedingten Konflikte wurden im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und insbesondere in der Nachkriegszeit in besonderer Weise virulent,27 denn in vielen Städten waren während Susanne Rau durchgeführt worden sind: Montenach, 2009; Rau, 2014; siehe dazu auch unten. 26 Auf die unzureichende Erforschung des Finanz-, Steuer- und Schuldenwesens der frühneuzeitlichen Städte im Deutschen Reich hat zuletzt Bernd Fuhrmann hingewiesen: Fuhrmann, 2012. Dieses Feld ist nicht nur für die Stadtgeschichte, sondern auch im Blick auf übergreifende Entwicklungen wie die Ausprägung des modernen Territorialstaates bzw. des Fiscal-Military State sowie die Verbreitung neuer Wirtschaftslehren wie des Kameralismus von großer Bedeutung. Nicht zuletzt angesichts der verbreiteten Zersplitterung des kommunalen Finanzwesens ist aber trotz einer oftmals guten Quellenlage die Erforschung des kommunalen Finanzwesens im Blick auf seine (quantitative wie qualitative) Struktur, die Entwicklung der städtischen Verschuldung oder des Umfangs und der Ausgestaltung der kommunalen Steuern und Abgaben schwierig und aufwändig. Jedoch finden sich in der jüngeren Zeit entsprechende einschlägige Forschungsvorhaben für andere Länder, vor allem die Niederlande, die u.a. von und im Umfeld von Marc Boone durchgeführt werden (auch wenn kulturgeschichtliche Aspekte hier kaum eine Rolle spielen): vgl. dazu die Beiträge in Ucendo/Limberger, 2012a. 27 Gerade die Nachkriegszeit ist für die deutsche Stadtgeschichte wenig erforscht; dies gilt trotz oftmals guter Quellenlage insbesondere für die ökonomischen Entwicklungen gerade im Bereich der innerstädtischen gewerblichen Wirtschaft, des Handwerks wie auch des Kleinhandels: vgl. dazu auch Rügge, 2000, S. 21. Zu dieser Vernachlässigung haben maßgeblich die in der traditionellen Historiographie 267
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des Kriegs vor allem aufgrund von Kontributionszahlungen und Ausgaben für ›Defensionsmaßnahmen‹ die kommunalen Schulden wie auch die Steuerlast stark angestiegen. Diese konnten nach dem Krieg u.a. aufgrund der finanziellen Belastungen, die mit dem Friedensschluss gerade für die Reichsstädte einhergingen, zumeist auch nicht abgebaut werden, sondern nahmen vielmehr oftmals noch weiter zu. Die in vielen Städten bedrohliche Finanzlage stellte daher in der innerstädtischen politischen Kommunikation der Nachkriegszeit einen wesentlichen diskursiven Brennpunkt für vielfältige Reflexionen über die wirtschaftlichen Zustände und Probleme der Stadt wie auch die sozialen und kulturellen Bedingungen städtischer Wirtschaft und Vergesellschaftung dar. Lübeck kann hierfür als Beispiel angeführt werden, denn in der Hansestadt kam es seit dem Ende des Kriegs zu vielfältigen ›Kommunikationen‹ (hierbei handelt es sich um einen Quellenbegriff) und Auseinandersetzungen über die Frage, wie die Stadt ihren finanziellen Verpflichtungen, die sie unter anderem für die schwedische Satisfaktion aufzubringen hatte, nachkommen konnte, aber auch, wie sie längerfristig wieder ›aus den Schulden‹ gebracht werden sollte.28 Darüber, dass ein Abbau der kommunalen Schulden notwendig war, bestand zwar Einigkeit unter allen an den ›Traktaten‹ (auch dies ein Quellenbegriff) beteiligten Parteien, also dem Rat sowie den zwölf bürgerschaftlichen Kollegien, in denen ein Großteil der Lübecker Bürger organisiert war. Erhebliche Meinungsunterschiede ergaben sich jedoch darüber, welches die am besten geeigneten wie auch gerechtesten und praktikabelsten Mittel seien, um dieses Ziel zu erreichen. Insbesondere in den ›Kommunikationen‹ der Jahre 1650/51 traten diese Differenzen offen zu Tage.29 Auf der einen Seite wollte der Rat die bislang praktizierte Steuerpolitik (inklusive der Erhöhung von bzw. Einführung verbreiteten und teilweise bis heute bestehenden Auffassungen über den angeblichen Traditionalismus, die Fortschritts-, Wettbewerbs- und Innovationsfeindlichkeit und die geringe Entwicklungsdynamik großer Teile der städtischen Wirtschaft und Bürgerschaft, wie sie insbesondere dem frühneuzeitlichen Zunfthandwerk weithin zugeschrieben worden sind, beigetragen. 28 Auf die Hintergründe und den Verlauf der politischen Auseinandersetzungen, die sich in Lübeck in den Nachkriegsjahren ereigneten, kann hier nicht weiter eingegangen werden: vgl. dazu zukünftig Hoffmann-Rehnitz, 2018, Kap. III (hier auch ausführliche Hinweise auf die einschlägige Forschungsliteratur). 29 Angesichts einer drohenden Eskalation des Konflikts, die unabsehbare Folgen für alle Seiten gehabt hätte, wurden die ›Kommunikationen‹ im Spätwinter 1651 abgebrochen, ohne dass in zentralen Streitfragen und vor allem in der Schulden- und Steuerproblematik eine Einigung erzielt werden konnte; dies bildete denn auch die 268
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neuer, vor allem indirekter Abgaben) weitgehend fortführen, von der vor allem die Angehörigen der vermögenden Oberschicht und speziell der landbegüterten patrizischen Familien, die eine dominierende Rolle im Rat spielten, profitierten. Dagegen forderten auf der anderen Seite die meisten bürgerschaftlichen Kollegien weitgehende Änderungen ein. So vertraten insbesondere die gewerblichen Zünfte wie die Rotbrauerzunft oder die Handwerksämter die Auffassung, dass eine ›Remedierung‹ der wirtschaftlichen Situation der Bürger und die Bekämpfung der zahlreichen Missstände, mit der sich vor allem diejenigen, die in den städtisch-zünftischen Gewerben tätig waren, konfrontiert sahen, das beste Mittel darstellten, um die Stadt wieder aus den Schulden zu bringen. Begründet wurde dies damit, dass eine Verbesserung der Nahrung der Bürger diese in die Lage versetzen würde, ihren bürgerschaftlichen Pflichten – allen voran der Ableistung von Abgaben und Steuern – besser nachkommen zu können. Einer Erhöhung bzw. einer Einführung von (neuen) Abgaben wollten diese denn auch nur unter der Bedingung zustimmen, dass zuvor in effektiver Weise und mit Taten anstatt nur (wie bisher) mit Worten gegen die von ihnen vorgebrachten Missstände vorgegangen werde. Aber auch die kommerzierenden Kollegien, in denen die im Fernhandel tätigen Kaufleute organisiert waren, lehnten die Vorschläge des Rates ab. Vor allem wollten sie die Erhöhung der indirekten Abgaben, insbesondere der Zulage, verhindern, da aus ihrer Sicht die steuerlichen Belastungen der Kaufleute ohnehin schon zu hoch seien und die Einführung der Zulage dem Lübecker Fernhandel bereits in der Vergangenheit in erheblicher Weise geschadet habe: So »thete« der ›fremde Kaufmann‹ denn auch »nerrisch wan er seine guter ließe anhero gehen« und sich »alhier solche beschwernus auflegen« lassen würde.30 Vielmehr forderten die kommerzierenden Kollegien, die benötigten finanziellen Mittel vor allem über die Erhebung von vermögensbezogenen Abgaben (insbesondere in Form des Hundertsten) aufzubringen, was aber bei der patrizischen Oberschicht und der Mehrheit der Ratsherren auf scharfe Ablehnung stieß. Voraussetzung für die ›verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen‹ der 1660er Jahre, die sich an der ungelösten Schuldenfrage entzündeten: vgl. dazu Asch, 1961. 30 Das Zitat stammt aus einem undatierten schriftlichen Gutachten, dessen Autor nicht bekannt ist, das aber die von den kommerzierenden Kollegien in den Auseinandersetzungen der Jahre 1650/51 vertretenen Positionen wiedergibt und begründet: dieses befindet sich im Bestand Archiv der Hansestadt Lübeck, ASA Interna 06793 (»Acta Communicationis inter Senatum et collegia civica pt. contributionis et gravaminum a. 1650-1651«), o. fol. 269
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Diesen Differenzen und Auseinandersetzungen lagen unterschiedliche Sichtweisen auf die städtische Gesellschaft und insbesondere auf die wirtschaftliche Situation und deren (vergangene wie zukünftige) Entwicklung zugrunde. Dabei stellten die einzelnen Akteure diese aus ihrer jeweiligen interessengeleiteten Perspektive und damit in hochselektiver Weise dar.31 Schaut man sich (soweit das die Quellen zulassen) den politischen Diskurs in Lübeck während der Nachkriegsjahre als Ganzen an und setzt die einzelnen Stimmen und ›Lesarten‹ der daran beteiligten Akteure zusammen, dann ergibt sich daraus jedoch ein Bild der städtischen Wirtschaft, das nicht nur sämtliche Bereiche und Ebenen städtischer Ökonomie umfasst, sondern diese auch miteinander sowie mit der Stadt als einem umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang in Beziehung setzt. Damit entsteht zwar für den distanzierten Beobachter ein zugleich vielgestaltiges und umfassendes wie auch integriertes Bild der städtischen Wirtschaft, das so innerhalb des Diskurses aber von keiner Seite – auch nicht vom Rat – vertreten wurde, weil ein allgemeiner Begriff und ein abstraktes Verständnis von ›der Wirtschaft‹ noch nicht zur Verfügung standen. Die jeweiligen partikularen Positionen und Perspektiven wurden jedoch dadurch transzendiert, dass in den einzelnen Stellungnahmen aufgezeigt werden musste, inwieweit die jeweils thematisierten wirtschaftlichen Phänomene, Zu- bzw. Missstände und Entwicklungen mit dem städtischen Gemeinwohl verbunden waren, wobei letzteres in diesem Zusammenhang weitgehend über das Schuldenproblem und seine Lösung bestimmt war. So begründeten die Vertreter der kommerzierenden Kollegien ihre Forderung, dass die Belastungen des Fernhandels verringert, auf keinen Fall aber weiter erhöht werden sollten, damit, dass andernfalls dies dazu führen würde, dass in weniger als zehn Jahren »diese gute Stadt gar in Abnahm der Nahrung komme und die heuser derselben nur Halbgeltt werth sein, wie solcheß, billich mitt leidwesen, bereids an den brauheusern zu sehen« sei. Wer aber sollte in einem solchen Fall »die Große schulden last dieser guten Stad […] abtragen«? – so ihre rhetorische Frage.32 Auf der anderen Seite würden von einer Wiederbelebung des Fernhandels nicht allein die Kaufleute profitieren, sondern es würde damit auch anderen Lübecker Bürgern wie den Krämern, Gewandschneidern, Salzhändlern, Bäckern, Brauern, »ja 31 Dies gilt im Prinzip auch für den Rat, für dessen Perspektive jedoch charakteristisch ist, dass er sich auf eine Diskussion über die wirtschaftlichen Zustände und Entwicklungen praktisch nicht einließ, auch weil eine Ausweitung der ›Kommunikationen‹ über die fiskalpolitischen Fragen hinaus nicht in seinem Interesse war. 32 Dieses wie auch die folgenden Zitate stammen aus dem oben angeführten schriftlichen Gutachten. 270
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jedem handwerck hohest gedienet« sein. In diesen Ausführungen wird wie auch in anderen Eingaben und Stellungnahmen dieser Zeit ein entwickeltes Bewusstsein städtischer Vergesellschaftung als eines vor allem über wirtschaftliche Beziehungen strukturierten Zusammenhangs sichtbar, über den die einzelnen Teile bzw. ›Glieder‹ der civitas in wechselseitiger Weise miteinander wie auch mit der Stadt als Ganzer verbunden waren. Von daher konnte dann auch die Gefährdung und Schwächung eines Gliedes (unter anderem als Folge einer falschen Steuerpolitik) als allgemeines bzw. als das städtische Gemeinwohl betreffendes und damit politisch relevantes Problem ausgewiesen werden, das es nicht zuletzt durch entschiedenes politisches und obrigkeitliches Handeln zu verhüten galt. Vor allem auf Seiten der Lübecker Bürgerschaft waren innerhalb der innerstädtischen politischen Kommunikation dieser Zeit solche Reflexionen über wirtschaftliche Entwicklungen wie auch über die wirtschaftlichen Bedingungen städtischer Vergesellschaftung in ausgeprägtem Maße durch ›Schwächediskurse‹ und Dispositive des Niedergangs und der Gefährdung gerahmt, die mehr oder weniger dramatisch bis hin zu weitgehend säkularisierten apokalyptischen Untergangsszenarien aufgeladen werden konnten. Diese ließen sich auch insoweit dynamisieren, als sie als Entwicklungen ausgewiesen werden konnten, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reichten. So heißt es in dem oben angeführten schriftlichen Gutachten: »Man betrachte diese gute Statt nur vor 30: 20: 10 jaren, wie solche nach einander abgenommen (von vorigen zeiten nicht zusagen) und was in kurtzen weiter daraus erfolgen werde weill gar keine beßerung vor Augen […]. [E]in guter Patriot dieser Stadt […] wird […] daruber leid tragen und seine gedancken dahin richten, wie derselben nunmehr fast in agore liggende [Stadt] wider aufgeholffen muge werden, Aber eß scheint fast dz der termin da, dz eß mit derselben volligh soll ein ende nehmen, daß Godt verhute.«
Solche Fallbeispiele können einen Ausgangspunkt bilden, um im Rahmen einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt in kulturwissenschaftlicher Perspektive in unterschiedliche Richtungen weiterzudenken. Zum einen lässt sich nach allgemeinen Charakteristika und Wandlungen in der Art und Weise fragen, wie in frühneuzeitlichen Städten ökonomische Phänomene gerade auch in ihrem Bezug zur städtischen Vergesellschaftung reflektiert und repräsentiert wurden. So kann in der starken Ausrichtung der innerstädtischen politischen Diskurse an ökonomischen Aspekten und zumal in der zunehmend ökonomischen Bestimmung des Gemeinwohls, wie wir dies im Lübeck der Nachkriegszeit beobachten können, ein Ausdruck für Prozesse der Ökonomisierung frühneuzeitli271
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cher (städtischer) Gesellschaften und ihrer Selbstbeschreibung im 17. (und 18.) Jahrhundert gesehen werden.33 Dies kann zudem mit Veränderungen in der Zeitvorstellung in Verbindung gebracht werden, wie sie u.a. Reinhart Koselleck für den Übergang zur Moderne dargestellt hat, vor allem mit der allmählichen Verbreitung dynamisch-linearer Zeitmodelle, durch die Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft nicht zuletzt in einer kausalen Weise als eine fortschreitende Entwicklung verbunden wurden.34 Gerade im Fall der Städte scheinen vor der Ausprägung und Verbreitung des Fortschrittsdenkens in der Aufklärung Niedergangssemantiken eine wichtige und hierfür auch katalytische Funktion gespielt zu haben. Darin kann wiederum ein Aspekt allgemeinerer Verschiebungen in der Form kultureller Kommunikation und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung gesehen werden, die sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur in den Städten beobachten lassen und die sich insbesondere durch die Tendenz auszeichnen, dass soziale, politische wie auch wirtschaftliche Situationen und Zustände als Teil oder Ergebnis einer in der Zeit evolvierenden ›Entwicklungsgeschichte‹ wahrgenommen wurden.35 Solche kulturellen Wandlungsprozesse wären dann im Hinblick auf ökonomische Zusammenhänge noch genauer mit Veränderungen in den Grundlagen frühneuzeitlicher Vergesellschaftung in Verbindung zu bringen, welche sich in den Städten (und nicht nur hier) vollzogen, beispielsweise mit der Verbreitung von Distanzmedien und mit neuen Formen einer Kommunikation unter Abwesenden, wie sie etwa bei der Entwicklung des frühneuzeitlichen Kreditwesens zu beobachten sind.36 Eine andere Richtung, die sich ebenfalls mit einer Analyse von allgemeinen Prozessen des sozio-kulturellen Wandels verbinden lässt, kann eingeschlagen werden, wenn die vielfältigen ökonomischen und ökonomisch bedingten Phänomene und Probleme, die von den Zeitgenossen innerhalb der politischen Kom33 Zu allgemeinen Tendenzen der Ökonomisierung im 17. Jahrhundert vgl. jetzt auch die Beiträge in Richter /Garner, 2016. 34 Vgl. dazu u.a. Koselleck, 1988; sowie Hölscher, 2016; Landwehr, 2014. 35 Dem entspricht eine allmähliche Verbreitung narrativer Darstellungsmuster im 17. und 18. Jahrhundert gerade auch in der politischen Alltagskommunikation (nicht nur) der Städte. Narrative sind dabei von deskriptiven Darstellungsweisen zu unterscheiden; letztere sind etwa kennzeichnend für Vergleiche zwischen zwei Situationen (etwa nach dem Muster heute vs. früher oder Ist- vs. Soll-Zustand), die aber nicht über (mehr oder weniger kohärente) Entwicklungsgeschichten miteinander verbunden werden: vgl. dazu auch die Überlegungen in Hoffmann-Rehnitz, 2016b. 36 Zu den allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen siehe Schlögl, 2014. 272
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munikation thematisiert wurden, aufgegriffen und genauer untersucht werden. So wurde in den politischen Auseinandersetzungen in Lübeck nach dem Dreißigjährigen Krieg neben dem zentralen Bereich des kommunalen Finanzwesens immer wieder und von unterschiedlicher Seite auf die Entwicklung des städtischen Häusermarkts verwiesen. Dem Zustand und dem Wert der Häuser wurde, wie das oben angeführte Zitat deutlich macht, deswegen eine signifikante, nicht zuletzt auch symbolische Bedeutung zugeschrieben, da sich hieran in augenfälliger Weise die Lage der städtischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. bestimmter Bereiche und ›Glieder‹ ablesen ließ, zumal ein bedeutender Teil des Vermögens der Bürger und der städtischen Institutionen in Immobilien angelegt war. So erschien das Schicksal des Brauwerks und der Brauhäuser den zeitgenössischen Beobachtern nicht nur in Lübeck als Menetekel eines drohenden allgemeinen Niedergangs der Stadt. Mit den Entwicklungen auf dem Häusermarkt wurde auch die Brücke zu den ›privaten‹ Kreditbeziehungen geschlagen. Die jüngsten Entwicklungen auf den Kapitalmärkten wurden dabei kritisch gesehen, so wenn in der angeführten Schrift in durchaus stereotyper Weise darüber geklagt wurde, dass sich diejenigen Personen, die über Kapital verfügten, aufgrund der schlechten Aussichten im Fernhandel und der damit verbundenen hohen Risiken der ›Handlungen‹ enthalten und sich lieber »auf den wucher« begeben würden.37 Dass sich in den politischen Auseinandersetzungen im Lübeck der Nachkriegszeit die Vertreter des ›Kaufmanns‹ in ihren (schriftlichen) Stellungnahmen und Ausführungen vornehmlich mit Problemen und Entwicklungen im Fernhandel beschäftigten, während sich die gewerblichen Zünfte auf solche konzentrierten, die die gewerbliche Binnenwirtschaft inklusive der Distribution gewerblicher Produkte auf den städtischen Nahmärkten betrafen, verwundert kaum. Dabei fällt jedoch auf, dass insbesondere bei den von der Lübecker Rotbrauerzunft wie auch den Handwerksämtern artikulierten Missständen diejenigen wirtschaftlichen Tätigkeiten und Akteure im Mittelpunkt standen, denen 37 Es wäre lohnend, diesem Hinweis gerade auch für Lübeck genauer nachzugehen und zu untersuchen, inwieweit sich kapitalkräftige Bürger im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs tatsächlich verstärkt den (spekulativen) Finanzgeschäften zuwandten, anstatt sich im Fernhandel oder auch in anderen wirtschaftlichen Bereichen zu engagieren und ihr Kapital hier zu investieren. Dass dem so gewesen ist, erscheint insofern plausibel, als nicht nur die öffentliche Hand während des Dreißigjährigen Kriegs immer mehr Kredite gerade auch von Privatpersonen aufnahm, sondern Lübeck als relativ sichere Stadt einen durchaus guten Ruf auf den ›Kapitalmärkten‹ besaß und entsprechend die Nachfrage nach dem privaten Kapital Lübecker Bürger und Institutionen groß war. 273
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von diesen ein irregulärer Charakter zugeschrieben wurde und die von den Zeitgenossen unter anderem als Störerei bzw. Störer bezeichnet wurden.38 Besonders vehement beklagten sich dabei die Lübecker Bürger und Zünfte über die von ihnen als irregulär angesehene Ausübung gewerblicher Tätigkeiten im städtischen Umland, was nicht nur die Erzeugung von Waren wie Bier oder Brot auf den Gütern und Dörfern,39 sondern auch Distributionspraktiken einschloss: So beschwerten sie sich insbesondere darüber, dass die auf dem Land hergestellten Waren mehr oder weniger heimlich in die Stadt eingeführt würden oder aber dass das auf den Gütern und Dörfern gebraute wie auch das von außerhalb eingeführte ›fremde‹ Bier in den Landkrügen ausgeschenkt würde.40 Aber nicht allein die gewerblichen Zünfte, sondern auch die kommerzierenden Kollegien beschwerten sich über irreguläre Praktiken, so insbesondere über die ›Durchschleiferei‹, also den Schmuggel von Waren, weil dadurch nicht nur die ›ehrlichen‹ Kaufleute, sondern auch das städtische Aerarium aufgrund des Verlusts von Einnahmen aus Zoll und Zulage geschädigt würden. Dass die Ausübung von wirtschaftlichen Tätigkeiten, denen ein irregulärer Charakter zugeschrieben wurde, von Seiten der Lübecker Zünfte eine solche Bedeutung zugemessen wurde, lag zum einen darin begründet, dass in der (behaupteten) 38 Bestimmte Phänomene der sozialen Wirklichkeit (Personen, Handlungen, Orte etc.) als irregulär auszuweisen, stellt eine Form der kulturellen Beschreibung und Kommunikation dar, da dem die Beobachtung einer Differenz zwischen diesen und einer allgemein geltenden, hegemonialen normativen Ordnung zugrunde liegt. Bei einem irregulären Phänomen handelt es sich demnach um ein solches, das es letzterer entsprechend eigentlich nicht geben dürfte, das aber trotzdem existiert (ohne dass dies zwingend als illegal oder gar kriminell ausgewiesen sein muss). 39 Als besonders problematisch wurde dabei die Ausübung von irregulären gewerblichen Tätigkeiten auf denjenigen Dörfern und Gütern angesehen, die im Besitz vermögender patrizischer Lübecker Familien waren, zumal diese ja auch eine dominierende Rolle im Rat spielten. Diesem Punkt kam, wie sich auch in den nachfolgenden politischen Konflikten in Lübeck während der 1650er und speziell der 1660er Jahre zeigen sollte, eine besondere politische Brisanz zu, da damit die Auffassung verbunden war, dass der Rat nicht wirksam gegen diesen Missstand vorgehe sondern ihn vielmehr dulde, weil dies den (ökonomischen) Interessen der Landbegüterten und ihrer Familien entspreche, und er diese somit der Förderung des städtischen Gemeinwohls vorziehe. 40 Glaubt man den Darstellungen der Zünfte, dann war es unter Lübecker Bürgern in dieser Zeit zunehmend populär geworden, in den Landkrügen einzukehren, nicht zuletzt weil das dort ausgeschenkte (Land-)Bier billiger war als das städtische. 274
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Zunahme solcher Praktiken und der diese ausübenden Personen ein Hauptgrund für den Verlust der ›bürgerlichen Nahrung‹ ausgemacht wurde. Dies wurde zum anderen wiederum mit der Steuerfrage verknüpft und dadurch politisch aufgeladen, dass behauptet wurde, dass durch die wachsende Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben die Störer, die ja keine bürgerlichen Pflichten zu leisten hätten und deswegen ›wohlfeiler‹ arbeiten könnten, gegenüber den bürgerlichzünftischen Gewerbetreibenden einen immer weiter zunehmenden Vorteil besäßen. Neben diesen ökonomischen und politischen Aspekten kam diesem Problemkomplex aber auch eine eminent kulturelle Dimension zu, weil der Störer und damit verwandte irreguläre Figuren als Personen imaginiert wurden, die im Verborgenen und außerhalb der von den Zünften repräsentierten städtischen Ordnung agierten. Sie wurden aufgrund dieses ihnen zugeschriebenen irregulären Charakters als das Andere städtisch-bürgerschaftlicher Vergesellschaftung und zugleich als eine Gefahr für die civitas dargestellt.41
3. Markt, Handlung und Kredit: Ansätze und Perspektiven der jüngeren Forschung Die Phänomene und Probleme, die in den oben skizzierten zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen thematisiert wurden, sind von der historischen und speziell der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung durchaus zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden. So wurden etwa die Ausbreitung des Landgewerbes im Laufe der Frühen Neuzeit und damit zusammenhängend auch das (wirtschaftliche) Verhältnis von Stadt und Um-/Land insbesondere im Rahmen der Protoindustrialisierungsforschung untersucht, wenn auch nicht unbedingt in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Nichtsdestotrotz bestehen für die mitteleuropäische Stadt auf vielen Feldern und vor allem für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg erhebliche Forschungslücken. Dies gilt, gerade im Vergleich zur neueren westeuropäischen Forschung, für die innerstädtischen kommerziellen Praktiken und (Nah-)Märkte42 wie auch damit verbunden 41 Die Ab- und zumindest rhetorische Ausgrenzung von irregulären Gewerbetreibenden (den ›Störern‹, ›faux ouvriers‹ etc.) als den Anderen und Antipoden des ehrenwerten bürgerlichen (Zunft-)Handwerkers gehörte in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern wie etwa Frankreich zu den Kernelementen des kulturellen Systems des frühneuzeitlichen Korporativismus bzw. der »langage corporative«: vgl. dazu u.a. Cerrutti, 1990; Ferguson, 2000. 42 Vgl. dazu aber Fenske, 2006. 275
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für die urbanen und städteübergreifenden Kreditverhältnisse und -beziehungen bzw. ›Kreditkulturen‹, deren Untersuchung in den letzten Jahren einen Schwerpunkt der internationalen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung gebildet hat.43 Angesichts ihrer zentralen Rolle bei der Ausprägung und Verbreitung von neuen, insbesondere ›spekulativen‹ Kredit- und Finanzierungsformen stehen dabei naturgemäß die westeuropäischen Wirtschafts- und Finanzzentren wie London, Amsterdam und Paris im Mittelpunkt.44 Aber auch einzelne (westeuropäische) Provinzstädte sind zum Gegenstand solcher Untersuchungen gemacht worden. So zeigt Craig Muldrew am Beispiel von King’s Lynn auf, dass und in welcher Weise in England im Zuge der quantitativen wie auch qualitativen und räumlichen Expansion der Handels- und Kreditbeziehungen seit der zweiten 43 »Deutschland zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert« ist, so Mark Häberleins Fazit aus dem Jahr 2008, »kreditgeschichtlich noch in vieler Hinsicht eine terra incognita«: Häberlein, 2007, S. 39; an dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert, trotz einzelner neueren Untersuchungen etwa von Beate Sturm zu Hannover: Sturm, 2009. Sturm knüpft hier zwar u.a. an die Forschungen von Craig Muldrew an, jedoch spielen bei ihr kulturgeschichtliche Ansätze und Perspektiven nur am Rande eine Rolle; für Göttingen siehe auch Winnige, 1996, S. 357-404. Zur neueren Kreditgeschichte vgl. die Sammelbände Fontaine u.a., 1997; Schlumbohm, 2007a; Clemens, 2008; Signori, 2014. Letztgenannter Band, der den Schwerpunkt auf Schulden(-praktiken) legt, hat seinen Schwerpunkt jedoch im Spätmittelalter. Vor allem die Beiträge in den drei letzteren Publikationen nehmen auch kulturgeschichtliche Aspekte und den Wandel von ›Kredit-‹ und ›Schuldenkulturen‹ in den Blick, so etwa die Bedeutung von Zeit- und Zukunftsvorstellungen und die Rolle des Vertrauens: vgl. dazu u.a. Lipp, 2007; für eine literaturwissenschaftliche Analyse siehe Finn, 2003. Eine gewisse Konjunktur hat in letzter Zeit auch im Blick auf die mitteleuropäischen Städte der Frühen Neuzeit das Thema des wirtschaftlichen Bankrotts bzw. Konkurses gefunden; jedoch liegt der Schwerpunkt der einschlägigen Forschungen auf (im engeren Sinne) wirtschaftsund sozial- sowie rechtgeschichtlichen Aspekten, während ›Kultur‹ hier eher am Rande und wenn, dann vor allem in ihrer normativen und institutionellen Dimension einbezogen wird: vgl. dazu Guggenheimer, 2014; Lindemann, 2015, Kap. 6; Cordes/Schulte Beerbühl, 2016. 44 Vgl. dazu u.a. die Untersuchungen von Philip T. Hoffman u.a. zur Entwicklung des Kreditwesens in Paris zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert; diese folgen weitgehend wirtschaftsgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Ansätzen und verbinden dabei Methoden der quantitative Datenanalyse mit institutionengeschichtlichen Untersuchungsansätzen: Hoffman u.a., 2000. 276
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Hälfte des 16. Jahrhunderts die auf persönlichen Beziehungen und der Kommunikation unter Anwesenden basierenden Strukturen der städtischen Lebenswelt transzendiert und dadurch die bisherigen sozialen wie auch kulturellen Bedingungen ökonomischen Handelns in Frage gestellt wurden; allem voran gilt dies für die Frage, wie zwischen den wirtschaftlichen Akteuren Vertrauen gebildet und abgesichert werden konnte.45 Die Expansion der Handels- und Kreditketten und die damit verbundene Komplexitätssteigerung führten zu einem erheblichen Grad an Handlungsunsicherheit und zu einem entsprechenden Bedarf an ›Versicherheitlichung‹, wie er sich in den englischen Städten in der Zeit um 1600 in einer starken Zunahme von gerichtlichen Auseinandersetzungen äußerte, die wegen Schuldsachen geführt wurden. Darüber hinaus waren damit aber auch Prozesse des kulturellen Wandels und eine Veränderung der ›Kreditkulturen‹ verbunden. Da die hergebrachten Formen der sozialen, in lokale Verhältnisse eingebetteten Vertrauensbildung immer weniger in der Lage waren, ausreichende Sicherheit zu erzeugen, und dies auch auf jurisdiktioneller Ebene nur zum Teil ausgeglichen werden konnte, gewann zumindest in den öffentlichen Diskursen paradoxerweise die personal gebundene Glaubwürdigkeit als zentraler Wert wirtschaftlichen Handelns und ökonomischer Interaktion im Verlauf der Frühen Neuzeit immer mehr an Bedeutung. Auch in der französischen Forschung ist der Wandel der Kreditmärkte und -kulturen in den frühneuzeitlichen (französischen) Städten in letzter Zeit intensiv untersucht worden, insbesondere durch und im Umfeld von Laurence Fontaine. Fontaine hat dabei den Fokus jedoch vor allem auf die finanziellen Mikrokreisläufe und speziell auf die Klein- und Mikrokredite gelegt, die für das alltägliche Funktionieren städtischer Ökonomien der Frühen Neuzeit und gerade der »economy of makeshifts«46 von zentraler Bedeutung waren.47 Die45 Muldrew gelingt es in seinen Untersuchungen, wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen mit kulturgeschichtlichen Erkenntnisinteressen und Ansätzen zu verknüpfen und zugleich seinen Untersuchungsgegenstand sozial- und gesellschaftsgeschichtlich zu perspektivieren: vgl. hierzu v.a. Muldrew, 1998a; sowie u.a. Ders., 1993; Ders., 1998b. 46 Dieser Begriff wurde 1974 von Owen Hufton eingeführt, um die Erwerbs- und Subsistenzstrategien der armen, unvermögenden Bevölkerungsschichten zu bezeichnen: Hufton, 1974; vgl. auch King/Tomkins, 2003. 47 Vgl. dazu Fontaine, 2014a; zur ›Kultur des Kredits‹ (gerade auch des Kleinkredits) in Lyon im 17. Jahrhundert vgl. auch Montenach, 2009, S. 339-350; Montenach betont ähnlich wie Muldrew, wie sehr die Kreditbeziehungen in Lyon in den auf Vertrauen und wechselseitiger Bekanntschaft basierenden städtischen Strukturen 277
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se Untersuchungen stehen dabei in Zusammenhang mit Versuchen, den Markt und die Geschichte des Marktes gerade auch in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive neu auszurichten.48 In ihrem im Jahr 2014 publizierten Essay »Le Marché« konzipiert Fontaine Märkte in allgemeiner Weise als soziale Orte von Kämpfen und Konflikten, auf denen nicht nur um ökonomische Macht und um die Durchsetzung ökonomischer Interessen gerungen wird. Vielmehr versuchen unterschiedliche wirtschaftliche wie nicht-wirtschaftliche Akteure, ihren normativen Auffassungen und sozialen Ordnungsvorstellungen Geltung und Anerkennung zu verschaffen. Insofern sind bei einer (historischen) Analyse von Märkten immer auch Fragen der politischen und kulturellen Hegemonie zu be-
und Netzwerken, wie sie etwa auch für Nachbarschaften typisch sind, eingebettet waren und dass diese im Verlauf des 17. Jahrhunderts durch unterschiedliche Entwicklungen transzendiert und umgeformt wurden, etwa durch eine zunehmende Verschriftlichung und Formalisierung von Normen (ebd., S. 364f.); zur Bedeutung des (Klein-)Kreditwesens für das Pariser Fleischgewerbe vgl. auch Watts, 2006, Kap. 8. 48 Vgl. dazu u.a. die von Oliver Kühschelm herausgegebene Ausgabe der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (Kühschelm, 2015); zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für die Analyse frühneuzeitlicher (städtischer) Märkte vgl. Freitag, 2013. Was in den einschlägigen Forschungen unter Markt verstanden und wie dieser konzipiert wird, variiert in hohem Maße, gerade auch in der Frühneuzeitforschung: Auf der einen Seite werden Märkte in einem eher konkreten Verständnis (in jüngerer Zeit in einer raumsoziologischen Perspektive) als spezifische und für Städte typische Orte in den Blick genommen. In neueren wirtschaftsgeschichtlichen Publikationen wird dagegen u.a. von Christof Jeggle gerade auch für die Vormoderne ein allgemeines, stärker abstraktes und integratives Verständnis vertreten, das Märkte als Formen sozialer Interaktion bzw. als soziale Schnittstellen bzw. als »interfaces« versteht, über die verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten und Netzwerke (der Produktion, Distribution und Konsumtion) verknüpft und damit (in der Regel zeitlich befristet und lose) integriert werden: vgl. dazu Caracausi/Jeggle, 2014b, v.a. S. 8; Jeggle, 2014, v.a. S. 46. Jeggle betont hier auch, dass es unwahrscheinlich und ausgesprochen voraussetzungsvoll ist, dass Märkte in dem genannten Sinne als eine soziale Konfiguration entstehen und stabilisiert werden können; dass dies auch auf kulturellen Voraussetzungen beruht, liegt nahe, ist bislang aber noch nicht ausreichend verstanden und untersucht worden. 278
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rücksichtigen.49 Ihre spezifisch kulturelle Ausprägung entfalten solche Auseinandersetzungen um die Ordnung von Märkten insbesondere dadurch, dass diese im Rekurs auf das Andere, das Un-Ordentliche und Un-Kontrollierte respektive dasjenige, das es zu ordnen, zu kontrollieren und zu marginalisieren gilt, reflektiert wird.50 Folgt man solchen Konzeptualisierungen von (städtischen) Märkten und ihrer Geschichte, die sowohl den wirtschaftlichen Alltag gerade auch der ›prekären‹ Bevölkerungsschichten in den Blick nehmen als auch kulturgeschichtliche Aspekte stark machen, dann lassen sich Märkte nicht mehr auf ihre ›offiziellen‹ und ›regulären‹ Seiten und die normativen und institutionellen Settings reduzieren, auf die sich die traditionelle stadt- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung konzentriert hat. Vielmehr kommen dadurch diejenigen informellen und irregulären Dimensionen, Praktiken und Akteure in den Blick der Historikerinnen und Historiker, die Teil der ›alternativen‹ städtischen Ökonomien waren und lange Zeit weitgehend jenseits des Horizonts der historischen Forschung lagen. Besonders intensiv ist eine solche ›alternative‹ Wirtschaftsgeschichte frühneuzeit-
49 Fontaine, 2014b. Kulturelle Hegemonie kommt dabei denjenigen zu, die die Macht haben, die Art und Weise, wie bestimmte Phänomene und Zusammenhänge (etwa Märkte und deren Ordnung) wahrgenommen und bewertet werden (sollen) und wie über diese kommuniziert wird bzw. werden soll, zu bestimmen, und zwar so, dass andere Akteure, die eine davon abweichende Sichtweise vertreten, sich gezwungen sehen, sich in ihren Handlungen und Kommunikationen hieran zu orientieren und darauf zu beziehen. Grundlegend für neuere Hegemoniekonzepte sind die u.a. an Gramsci anschließenden Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, u.a. Laclau/Mouffe, 42012. 50 Aufgrund der spezifisch urbanen Natur, die Märkten im vormodernen Europa zugeschrieben wurde, standen gerade auch in der späten Frühen Neuzeit Auseinandersetzungen, die über deren Ordnung geführt wurden, in enger Verbindung mit übergreifenden Diskursen über den Charakter städtischer Vergesellschaftung und ihrer sozialen und kulturellen Bedingungen. Dieser Diskurs wurde insbesondere über die und in den Metropolen wie Paris und London geführt; wie eng gerade in den Diskursen der Aufklärung Stadt und Markt(-geschehen) verbunden waren, zeigen die Beschreibungen des vorrevolutionären Paris durch Louis-Sébastian Mercier besonders prägnant, auf die sich Fontaine und andere immer wieder beziehen. 279
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licher Städte in den letzten Jahren auf dem Feld des innerstädtischen Nah- und Einzelhandels51 und speziell des Handels mit Lebensmitteln betrieben worden.52 Insbesondere der Handel mit Grundnahrungsmitteln ist nicht nur wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die städtische Bevölkerung in hohem Maße signifikant, sondern auch deswegen, weil kaum ein Bereich des städtischen Lebens in vergleichbarer Weise von Ordnungs-, Normierungs- und Regulierungsmaßnahmen durchzogen und geprägt war. Informelle, irreguläre und auch illegale Praktiken waren deshalb auch hier besonders weit verbreitet und wurden nicht allein von den Obrigkeiten als ein virulentes Problem und als Gefahr für die Wohlfahrt der Bürger und der Stadt angesehen. Solche Praktiken zeichneten sich nicht nur durch ein spezifisches Sozialprofil, sondern auch durch eine eigene Raumordnung aus: So lagen wesentliche Handlungsräume und -orte an den städtischen Peripherien, etwa in den Vorstädten/Faubourgs und dort speziell in den Gasthäusern. Eine wesentliche Rolle nicht nur für den informellen Lebensmittelhandel spielten mobile und ambulante Formen des (Straßen-)Handels, mit denen außerstädtische und periphere mit den innerstädtischen Räumen verbunden wurden.53 Wie auch die oben dargestellten Lübecker Auseinandersetzungen 51 Vgl. dazu die Beiträge in dem Sammelband Il commercio al minuto, 2015; hier spielen kulturgeschichtliche Ansätze jedoch nur am Rande eine Rolle. 52 Vgl. dazu vor allem die Untersuchungen von Anne Montenach zu Lyon, u.a. Montenach, 2009; Dies., 2011; Dies., 2016; sowie Watts, 2006; Schläppi, 2010. 53 Zu den Straßenverkäufern und insbesondere -verkäuferinnen in kulturgeschichtlicher Perspektive vgl. van den Heuvel, 2015: ein zentrales Element der Wahrnehmung von Straßenverkäufer/innen, wie man sie sowohl in populären (auch bildlichen) Darstellungen wie auch in Supplikationen von Bürgern und Zünften gerade des 17. und 18. Jahrhunderts findet, war neben ihrem mobilen Charakter die Zuschreibung unterschiedlichster betrügerischer Aktivitäten (etwa der heimliche Verkauf irregulär erzeugter und/oder verdorbener Lebensmittel) und die Charakterisierung als Fremde. Dadurch und weil sie sich hauptsächlich außerhalb der regulären Handelsorte und -zeiten bewegten, wurden diese Personen in den frühneuzeitlichen Städten als potentielle und auch wachsende Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen, die es daher (besser) zu kontrollieren und einzuschränken galt. Diese Sicht auf den ambulanten Straßenverkauf in den Städten äußerte sich dann auch darin, dass schon im Zeitalter der Aufklärung wie später im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt versucht wurde, diesen über Regulierungen einzuhegen oder die ›Ökonomien der Straße‹ gar ganz zu verdrängen: Fontaine, 2014b, S. 97; vgl. auch Wadauer, 2011. Ähnliche Prozesse lassen sich etwa auch für die südosteuropäischen und nahöstlichen Städte des ausgehenden 20. Jahrhunderts beobachten; 280
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in der Mitte des 17. Jahrhunderts zeigen, stellte für die Zeitgenossen die Frage, wie irregulär hergestellte bzw. gehandelte Lebensmittel und andere Güter von außerhalb in die Stadt (heimlich) eingeführt und in den dortigen Wirtschaftskreislauf ›eingespeist‹ werden konnten (aber auch, wie dies verhindert werden konnte), ein wichtiges Problem dar. Von entscheidender Bedeutung waren dabei ein gewisses Maß an Raum- und Handlungswissen und insbesondere Kenntnisse über Grenzen und ihre Durchlässigkeit, räumliche Diskontinuitäten und Orte, an denen irregulär handelnde Personen relativen Schutz vor Verfolgungen finden konnten. Solche Kenntnisse besaßen nicht zuletzt weibliche Akteure wie die Pariser regrattières, die im frühneuzeitlichen Paris vornehmlich mit Gebrauchtwaren handelten und dadurch über weitläufige Kundenkontakte verfügten, die sie unter anderem dazu nutzten, trotz bestehender Verbote Lebensmittel und insbesondere Fleischprodukte jenseits der offiziellen Märkte zu vertreiben.54 Dieses wie auch viele andere Beispiele verweisen auf die hohe Präsenz von Frauen als ein grundlegendes Merkmal, das die alternativen Ökonomien nicht nur in der frühneuzeitlichen Stadt auszeichnete.55 So betonen mehrere neuere Untersuchungen u.a. von Anne Montenach, dass sich für Frauen aufgrund von Regulierungs- und Formalisierungsprozessen die Spielräume in den offiziellen und regulären Bereichen der städtischen Ökonomien tendenziell verengten und dass damit für sie diejenigen (durchaus vielfältigen) Handlungsmöglichkeiten und Formen der Agency, die sich ihnen innerhalb der informellen und irregulären Kontexte boten, zunehmend wichtiger wurden, um auch außerhalb des begrenzten Bereichs des Haushalts wirtschaftlich aktiv sein zu können.56 Die Existenz solcher informellen und irregulären Handlungsräume und -möglichkeiten trug denn auch maßgeblich zur ›Pluriaktivität‹ bei, die in der Frühen NeuOrhan Pamuk hat die prekäre Existenz der Straßenhändler in Istanbul der letzten 50 Jahre eindrücklich beschrieben: vgl. dazu v.a. Parmuk, 2016. 54 Watts, 2006, S. 78-82; zur wesentlichen Rolle von Raum und Raumwissen im informellen städtischen (Lebensmittel-)Handel siehe auch Montenach, 2009, S. 89100, v.a. S. 100; Dies., 2011, S. 93-96. 55 Ein wichtiger Grund für die starke Präsenz von Frauen in den alternativen Ökonomien frühneuzeitlicher Städte lag auch in dem rechtlichen Status von Frauen, der ihnen bei der Ausübung informeller und irregulärer Tätigkeiten einen gewissen Schutz vor Verfolgung und Bestrafung gewährte. 56 Vgl. dazu die Beiträge in Montenach/Simonton, 2013a, insb. Dies., 2013b; Fontaine, 2011; Montenach, 2013; sowie P ennington, 2015. Zur Bedeutung von Händlerinnen für den informellen und illegalen Handel in deutschen Städten siehe Schötz, 2011. 281
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zeit gerade weibliches ökonomisches Handeln speziell in den städtischen Mittel- und Unterschichten auszeichnete. Im Besonderen agierten Frauen, wie etwa die Beispiele des Handels mit Gebrauchtwaren57 oder der Pfandleihe58 deutlich machen, in frühneuzeitlichen Städten als Vermittlerinnen zwischen den männ57 Zu dem lange Zeit von der Forschung wenig beachteten, für die städtischen Ökonomien der Frühen Neuzeit aber essentiellen Handel mit Gebrauchtwaren siehe u.a. Fontaine, 2008; Stobart, van Damme, 2010; sowie für die frühneuzeitliche mitteleuropäische Stadt Stöger, 2011a; Ders., 2011b. 58 Die Pfandleihe spielte in den alternativen (Subsistenz-)Ökonomien frühneuzeitlicher Städte eine wichtige Rolle, auch weil sie mit anderen Feldern wie dem Gebrauchtwarenhandel eng verbunden war; auch aufgrund ihres lange Zeit weitgehend unregulierten Charakters war hier der Übergang zwischen regulären, irregulären und kriminellen Praktiken fließend. Die Pfandleihe ist auch ein gutes Beispiel, um Prozesse der Formalisierung und die diesen zugrundeliegenden kulturellen Voraussetzungen wie auch deren widersprüchliche Folgen zu studieren. So basierten die im 18. und 19. Jahrhundert unternommenen Versuche, diesen Bereich stärker anhand formaler Regelungen zu ordnen und zu überwachen, auf kulturellen Vorstellungen, mit denen zwischen regulären und irregulären Formen der Pfandleihe und des Kreditgeschäfts im Allgemeinen unterschieden wurde. Dadurch, dass die nunmehr offiziell anerkannten Pfandleiher ihre Geschäfte immer stärker auf die städtischen Ober- und Mittelschichten konzentrierten, erfolgte eine zunehmende Differenzierung zwischen einem offiziell anerkannten und einem informellen, vornehmlich auf die städtischen Unterschichten ausgerichteten Bereich. Prozesse der Formalisierung und der Informalisierung liefen somit gleichzeitig ab und verstärkten sich wechselseitig. Zugleich wurden damit auch diejenigen kulturellen Unterscheidungen fort- und festgeschrieben, die diesen Vorgängen zugrunde lagen. Mit der fortdauernden Existenz von als irregulär wahrgenommenen informellen Praktiken wurde aber wiederum auch ein permanenter Bedarf für weitere Ordnungs- und Formalisierungsversuche geschaffen: vgl. dazu Fontaine, 2014a, S. 100-104, 114-127. Allgemein war das städtische Finanz- und Kreditwesen bis ins 19. Jahrhundert in hohem Maße von informellen Institutionen und Praktiken geprägt. So war der Pariser Kreditmarkt in hohem Maße von einem Netzwerk von Notaren bestimmt, deren Vermittler- und Brokerfunktionen zumindest bis zur Französischen Revolution maßgeblich für dessen Leistungsfähigkeit und die Ausbreitung von Kreditbeziehungen auch über den Kreis der persönlich bekannten Personen hinaus verantwortlich war: Hoffman u.a., 2000. Für deutsche Städte ist die Rolle und Funktion solcher ›informellen‹ Institutionen und Akteure auf den städtischen Kreditmärkten bislang noch kaum erforscht: Häberlein, 2007, S. 46f. 282
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lich dominierten formalen und regulären und den informellen und irregulären Bereichen der städtischen Wirtschaft.59
4. Ausblick Nun wurden, wie das im zweiten Abschnitt behandelte Beispiel zeigt, in den frühneuzeitlichen Kommunen die informellen und irregulären Dimensionen städtischer Ökonomien keineswegs ausschließlich im Blick auf kommerzielle Praktiken thematisiert und reflektiert.60 Dies gilt vielleicht in einem noch stärkeren Ausmaß für den Bereich der gewerblichen Produktion und des Handwerks, wie mehrere neuere Untersuchungen zu den irregulären bzw. als irregulär wahrgenommenen gewerblich-handwerklichen Tätigkeiten, die von den sogenannten Störern und Pfuschern ausgeübt wurden, und den darüber geführten Auseinandersetzungen zeigen.61 Diese durchaus disparaten Forschungen, die zu unterschiedlichen Formen und Ausprägungen informeller, irregulärer und 59 Dass Frauen in den wenig regulierten, informellen Bereichen der (städtischen) Wirtschaft, gerade auch im Kreditwesen, besonders präsent waren, wurde von den Zeitgenossen durchaus thematisiert und reflektiert, und zwar nicht zuletzt als eine reale oder potentielle Gefahr für die Gesellschaft und die gute Ordnung (nicht nur) der Städte. Unter anderem ist hier an zeitgenössische Beschreibungen der ›Exchange Alley‹ in London als einem Ort der unregulierten Spekulation zu denken, der von den ›Kapitalismus-Kritikern‹ des 18. Jahrhunderts als ein typischerweise städtischer Ort der Pervertierung der gesellschaftlichen Ordnung beschrieben wurde, gerade weil er von so vielen Frauen bevölkert war und dadurch die Geschlech tergrenzen aufgehoben wurden: vgl. dazu Stratmann, 2000, S. 95-101. 60 Ein interessantes Beispiel sind in diesem Zusammenhang auch die Einfuhr und Distribution von Kolonialwaren und die damit verbundenen ›Defraudationspraktiken‹, die aufgrund der hohen Abgaben, die auf diese zu entrichten waren, besonders lukrativ waren. Hierbei wie auch bei der Aneignung von Kolonialwaren spielten in den frühneuzeitlichen Städten kulturelle Auffassungen und Unterscheidungen (wie etwa zwischen alt und neu oder eigen und fremd) wie auch darauf beruhende Distinktionspraktiken eine wichtige Rolle, wie Christian Hochmuth am Beispiel Dresdens aufzeigt: vgl. dazu Hochmuth, 2007; Ders., 2008, v.a. S. 106113; Ders., 2011. 61 Diese sind in letzter Zeit gerade auch von der deutschen Forschung vor allem für die Städte des 17. und 18. Jahrhundert untersucht worden: vgl. dazu u.a. Buchner, 2001; Ders., 2004; Hoffmann-Rehnitz, 2004; Ders., 2011; Strieter, 2011, S. 183283
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klandestiner ökonomischer Praktiken in frühneuzeitlichen Städten in letzter Zeit durchgeführt worden sind, in systematischer Weise zusammenzuführen, könnte eine alternative Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt ermöglichen, die überkommene Sichtweisen und Erzählungen revidiert. Zudem besteht hier ein großes Potential für die Anwendung kulturwissenschaftlicher Zugänge und ihrer Verknüpfung mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen.62 Eine solche alternative Wirtschaftsgeschichte kann dann auch weiterführende Einsichten in die sozialen und kulturellen Bedingungen städtischer Vergesellschaftung in der Frühen Neuzeit und ihres Wandels eröffnen. So haben die neueren Forschungen, die die informellen wie auch die irregulären und klandestinen Dimensionen ökonomischer Praxis in konstitutiver Weise in ihre Betrachtung und Analyse der Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt einbezogen haben, deutlich gemacht, wie sehr alle sichtbaren wie unsichtbaren, sozialen wie geographischen Räume der Stadt durch marktförmige oder zumindest an Märkten ausgerichtete ökonomische bzw. kommerzielle Handlungen durchdrungen waren.63 Dabei waren es insbesondere die irregulären ökonomischen Tätigkeiten, die sich einer örtlichen wie sozialen Fixierung entzogen und den städtischen Raum transzendierten. Dadurch wurden nicht nur Unterscheidungen und Grenz200; Hörl, 2015, S. 254-355; speziell zu irregulären Praktiken in den Druckgewerben Hoffmann-Rehnitz, 2016a. 62 Hierbei wäre es nötig und sinnvoll, in systematischer Weise die Kategorien des In-/Formellen und des Ir-/Regulären zu unterscheiden (vgl. dazu die Überlegungen bei Buchner /Hoffmann-Rehnitz 2011). Auf der Grundlage einer solchen kategorialen Unterscheidung könnten dann, wie das Beispiel der Pfandleihe zeigt, auf das oben kurz eingegangen wurde, Prozesse der In-/Formalisierung und der Ir-/ Regularisierung und darüber auch sozialstrukturelle mit kulturellen Wandlungsprozessen miteinander in Verbindung gesetzt werden. Zu der insbesondere in der französischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung verbreiteten Kategorie der ›informellen Ökonomie‹ vgl. u.a. den Band Fontaine/Weber, 2011a, vor allem Dies., 2011b, sowie Ledeneva, 2011. Der Band macht deutlich, dass gerade in Bezug auf vormoderne wirtschaftliche Verhältnisse die Anwendung der Unterscheidung formal/informell und insbesondere der Kategorie des Informellen nicht unproblematisch ist; vgl. dazu auch Montenach, 2009, S. 14f.; Davis/Stabel, 2015. 63 »La commerce est partout« – so lautet denn auch der Titel des 2. Kapitels von Montenach, 2009. Und auch Fontaine stellt mit Blick auf die frühneuzeitliche Stadt fest: »Ainsi, le marché envahit toute la société et tout le monde joue dès possible avec les règles et les espaces – chacun cherchant à tirer profit selon les occasions de sa position de consommateur ou de marchand«: Fontaine, 2014b, S. 85. 284
Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt
ziehungen wie die zwischen Stadt und (Um-)Land, Bürgern und Nicht-Bürgern/ Fremden oder Mann und Frau unterlaufen, sondern es wurde auch immer wieder neuer Bedarf für zahlreiche Ordnungs-, Normierungs- und Formalisierungsversuche erzeugt, die nicht zuletzt darauf abzielten, grundlegende soziale Ordnungsvorstellungen und kulturelle Unterscheidungen (wieder) zu befestigen. Die Omnipräsenz von und dynamische Wechselbeziehung zwischen ökonomischen, marktförmigen Praktiken unterschiedlichster (offizieller wie informeller, regulärer wie irregulärer) Art war demnach sowohl ein konstitutiver Faktor für die Vergesellschaftung frühneuzeitlicher Städte als in zunehmender Weise auch für deren (Selbst-)Wahrnehmung. Vor allem in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit wurde denn auch nicht nur in elaborierten Diskursen, sondern auch in der innerstädtischen Kommunikation zunehmend ein (Selbst-)Bild der Stadt dominant, das diese als eine über ökonomische und insbesondere kommerzielle, marktförmige Interaktionen in dynamischer Weise integrierte Form der Vergesellschaftung fasste.64 Es waren dementsprechend solche Repräsentationen der Stadt als einer ›Marktgesellschaft‹, die maßgeblich das Bild der Stadt und speziell der Großstadt in der Aufklärung sowie nachfolgend in der bürgerlichen Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts prägen sollten.
Abstract The article asks why an economic history of early modern cities from a culturalhistorical perspective has not taken shape in a distinct way, at least with regard to the history of central-European towns. Possible conceptual outlines of such an approach are developed by discussing recent research on financial markets and commercial practices in Western European cities by Laurence Fontaine, Craig Muldrew and others. A closer look is taken at the informal and irregular aspects of early modern urban economies. The paper shows that and how informal and irregular practices contributed to the complex and dynamic character of early modern cities’ economies by offering alternative venues and forms of agency, for example for women. 64 Vgl. dazu auch Hoffmann-Rehnitz, 2016b. So wurden in enger Verbindung zu den kommerziellen Handlungen auch der Kredit und die Kreditbeziehungen in den Städten zumindest seit dem 17. Jahrhundert als omnipräsentes, die sozialen Schichten und Stände übergreifendes Phänomen wahrgenommen, wie etwa das Flugblatt über den ›Abschied und Tod des Herrn Kredit‹ aus der Spätzeit des Dreißigjährigen Kriegs deutlich macht: vgl. dazu Lipp, 2007, S. 21f.; Schlumbohm, 2007b, S. 7f. 285
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Markt, Nahrung und der Kampf um Anerkennung Das Frankfurter Handwerk im 17./18. Jahrhundert Robert Brandt In der Einladung zum Workshop »Frühneuzeitliche Stadtgeschichte und die Herausforderung der turns. Frankfurt am Main im Vergleich«, auf den dieser Band zurückgeht, war die Rede von einem »Programm einer auf die frühneuzeitliche Stadt bezogenen Neuvermessung des Ökonomischen unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen«, das »erst noch entwickelt werden« müsse.1 Ein solches, wie auch immer geartetes Programm ist angesichts des aktuellen Forschungsstandes in der Tat mehr als notwendig, kann aber an dieser Stelle natürlich nicht geboten werden. Stattdessen sollen ausgehend von drei einfachen Fragen – Wie nahmen die Frankfurter Handwerksmeister an der vormodernen Ökonomie teil? Welche Vorstellung von Wirtschaft hatten sie? Und welchen Wert hatte letztere für die Meister? – einige grundlegende Entwicklungen der Frankfurter Handwerksgeschichte zwischen Spätmittelalter und frühem 19. Jahrhundert skizziert werden. Ausgehend von der These, dass sich das Gewerbe der Reichsstadt als eine handwerkliche Marktwirtschaft beschreiben lässt, die in einen übergeordneten politischen, von der Obrigkeit kontrollierten Kontext eingebettet war, soll zunächst der konzeptionelle Rahmen mit einigen kurzen Anmerkungen zur Debatte um Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie zum Stand der Frankfurt-Forschung abgesteckt werden. Es folgen einige quellenkritische Anmerkungen, bevor anschließend unter primär deskriptiv-positivistischen Gesichtspunkten die Geschichte der Frankfurter Handwerksmeister und Handwerke in der Vormoderne vorgestellt wird. 1
Vgl. dazu das Nachwort zu diesem Band S. 456. 295
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1. Konzepte: Alte und neue Meistererzählungen Seit der berühmten Göttinger Tagung im Jahre 2003 wird in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft eine Grundsatzdebatte über das Verhältnis von Wirtschafts- und Kulturgeschichte geführt.2 An programmatischen – und mitunter auch empiriearmen – Texten herrscht in diesem Zusammenhang kein Mangel; ein Dialog zwischen beiden Seiten findet – von Ausnahmen abgesehen – bisher eigentlich nicht statt.3 Ganz im Gegenteil: Beide Seiten stellen mit großer Leidenschaft die epistemologischen Differenzen zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichtsschreibung heraus und zelebrieren regelrecht die Abgrenzung. Der Mainstream der deutschsprachigen Wirtschaftsgeschichtsschreibung sieht bis heute keine große Notwendigkeit, sich dem Cultural Turn zu öffnen, und hält – von der Beschäftigung mit der Institutionenökonomik einmal abgesehen – an dem von Klassik und Neoklassik geprägten Standardmodell mit seinen umfassenden Rationalitätsannahmen und ahistorischen, kontextlosen Generalisierungen (etwa an der Annahme eines überzeitlichen Homo oeconomicus) fest.4 Dies alles ungeachtet aller Kritik an diesem stark normativ aufgeladenen Modell, die gerade auch von Seiten der Wirtschaftswissenschaften schon seit vielen Jahren geübt wird. Aber auch weite Teile der Kulturgeschichtsschreibung zeigten bis in jüngste Zeit kein rechtes Interesse am Thema Wirtschaft sowie an den Debatten, die in den Wirtschaftswissenschaften geführt werden, obwohl mittlerweile aus der Feder von Ökonomen einige Publikationen vorliegen, die an ein breiteres Publikum gerichtet sind und die auf der Suche nach einem realistischeren Menschenbild Konzepte wie den Homo oeconomicus sowie die Vorstellung perfekter Märkte, über die eine optimale Allokation knapper Ressourcen laufen soll, weit hinter sich gelassen haben.5 2 3 4 5
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Berghoff/Vogel, 2004. Boyer, 2007; Grabas, 2007; Spoerer, 2007; Landwehr, 2009, S. 108-119; Hilger /Landwehr, 2011. Ausnahme: Dejung/Domann/Speich Chassé, 2014a. Hesse, 2013. Fehr /Schwarz, 22002; Akerlof/Shiller, 2009; Akerlof/Kranton, 2011. Die wirtschaftswissenschaftliche Kritik an dem Modell ist, dies sei hier nur kurz angemerkt, deutlich älter; sie lässt sich seit dem 19./frühen 20. Jahrhundert nachweisen (Historische Schule der Nationalökonomie, Marxismus, Institutionenökonomik). Ein überzeugendes Beispiel, wie man das Standardmodell dennoch historiographisch nutzbar machen kann, indem man es zunächst historisiert und damit zugleich Möglichkeiten und Grenzen des Modells aufzeigt, findet sich bei Engel,
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Wo könnte angesichts dieser eher unbefriedigenden geschichtswissenschaftlichen Diskussionen eine kulturhistorische Wirtschaftsgeschichtsschreibung ansetzen? Neben den erwähnten alternativen wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten bieten sich Wirtschaftsethnologie und Wirtschaftssoziologie an, da beide Fächer ihre intensiven Theoriedebatten weitgehend hinter sich gelassen haben und mittlerweile primär empirisch und akteurszentriert arbeiten. Die Wirtschaftssoziologie hat mit ihrer Kritik am Mainstream der Wirtschaftswissenschaften zeigen können, dass Wirtschaft keine von Gesellschaft, Politik und Kultur getrennte Sphäre darstellt und dass ökonomisches Handeln folglich eine Form sozialen Handelns ist, also immer sozial eingebettet ist. Einbettung, ein von Karl Polanyi eingeführter Begriff, ist deshalb die zentrale Kategorie der Wirtschaftssoziologie geworden und meint sowohl die gesellschaftliche Einbettung des Wirtschaftssystems als auch die sozialstrukturelle Einbettung der Akteure und Institutionen. Märkte sind deshalb höchst voraussetzungsvolle gesellschaftliche Institutionen, und Marktpreise sind nicht nur das Ergebnis des Spiels von Angebot und Nachfrage, sondern auch Ausdruck der bestehenden sozialen Bedingungen in der Gesellschaft. Werden Transaktionen auf Märkten untersucht, ist deshalb nicht nur der Marktmechanismus zu beschreiben, sondern auch nach Macht, Ressourcen und sozialer Ungleichheit zu fragen.6 Fundamentale Kritik am Homo oeconomicus wurde auch von Seiten der Wirtschaftsethnologie und der ökonomischen Anthropologie geübt: Der geldbasierte Markttausch, nach neoklassischer Lesart das Zentrum jeglicher Beschäftigung mit Wirtschaft, stellt nur eine Form des Ressourcentransfers dar, neben anderen wie beispielsweise dem Schenken, dem Vererben oder dem Rauben. Leidenschaftlich wurde in diesem Zusammenhang über die universelle Geltung des Homo oeconomicus diskutiert. Ob der individuelle, rationale Nutzenmaximierer wirklich überall und zu allen Zeiten anzutreffen war, wurde in Frage gestellt und darauf verwiesen, dass Tauschakte nicht immer auf individuelle Nutzenmaximierung zielten, sondern sozial eingebettet waren und häufig der Stabilisierung der eigenen Gruppe dienten.7 In diesen Debatten ist mittlerweile eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Ganz pragmatisch werden anschauliche Beschreibungen und systematische Analysen von Märkten und den dort statt-
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2009. Zum Homo oeconomicus aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Plumpe, 2007. Maurer, 2008; Beckert, 2010; Funder, 2011; Hedtke, 2014. Zu dem auf Polanyi, 31995 zurückgehenden Begriff »Einbettung« vgl. Hann/Hart, 2009. Dejung, 2014, S. 47. 297
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findenden Transaktionen bei gleichzeitiger Historisierung der eigenen Begriffe und Konzepte gefordert.8 Was könnte man unter einer Kulturgeschichte des Ökonomischen unter Berücksichtigung der hier vorgestellten Vorarbeiten sowie in einfachen Worten und ohne überflüssigen theoretischen Ballast verstehen? Der in diesem Aufsatz verfolgte Ansatz ist ein akteurszentrierter, d.h. er geht von historischen Individuen und Gruppen aus, wenn nach den kulturellen Grundlagen ökonomischer Phänomene gefragt wird. Im Zentrum stehen dabei die Semantiken und Praktiken der Akteure sowie ihre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Auf der Basis solider Quellenkritik und -interpretation sowie bei gleichzeitiger Historisierung der geschichtswissenschaftlichen Begriffe und Konzepte sollen zunächst die Fremd- und Selbstbeschreibungen der Akteure in den Quellen untersucht werden, bevor dann die Praktiken, Strategien und Institutionen der Individuen und Gruppen analysiert werden. Die Analyse von Fremd- und Selbstbeschreibungen dient u.a. der Beantwortung der Frage, wer eigentlich in den Quellen zu uns spricht und wessen Semantiken und Vorstellungen von Ökonomie dort eigentlich aufgezeichnet wurden. Da Wirtschaft bekanntlich ein »Terminus non fixus« ist, wie bereits der Zedler wusste, wird man entlang des Paradigmas Einbettung von einem situativ wechselnden Bündel unterschiedlichster Einflüsse und Faktoren ausgehen müssen, welche die Vorstellungen der Zeitgenossen von Ökonomie sowie ihre ökonomischen Praktiken bestimmten, anstatt Einzelfaktoren einseitig zu favorisieren.9 Erst auf dieser Grundlage lässt sich klären, was die Zeitgenossen unter Wirtschaft verstanden und welchen Wert diese für sie hatte. Gleiches gilt für die Frage, ob historische Akteure bei ihren ökonomischen Praktiken eher ihr Eigeninteresse verfolgten oder ob ihr Handeln auf die Stabilisierung sozialer Beziehungen zielte – oder ob derartige Unterscheidungen für sie überhaupt von Bedeutung waren. Dieser in aller gebotenen Kürze skizzierte Ansatz zielt auf eine empirische Untersuchung der Logiken und Praktiken vormoderner Ökonomie, welche immer in Relation zum rechtlichen und sozialen Status der beteiligten Akteure gedacht werden. Er ist als eine Suchanweisung zu verstehen und erfordert eine solide Überlieferung – eine Voraussetzung, die – wie weiter unten erläutert wird – für das Frankfurter Handwerk allerdings nicht immer gegeben ist. 8 9
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Rössler, 22005; Wilk /Cliggett, 22007; Seiser, 2009; Carrier, 22012; Dejung, 2014. Art. »Wirthschafft«, in: Zedler, 1748, Sp. 1130-1187, hier Sp. 1131. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt mittlerweile auch die kulturgeschichtlich inspirierte Wirtschaftsgeschichtsschreibung; vgl. Dejung/Domann/Speich Chassé, 2014b.
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Von den hier skizzierten Theoriediskussionen findet sich im Mainstream der Frankfurter Stadtgeschichtsschreibung kein einziges Wort. Dort dominiert stattdessen bis heute eine Meistererzählung, die »strahlende Helden« und »böse Buben« kennt. Die Lichtgestalten dieser Stadtgeschichtsschreibung sind die Frankfurter Kaufleute, merchant bankers und Bankiers, welche rational gehandelt haben sollen, internationale Märkte erschließend, der Zukunft zugewandt – der Fleisch gewordene Fortschritt. Als Schurken müssen in dieser Schmierenkomödie die Frankfurter Handwerker und Zünfte herhalten, die einem unreflektierten Traditionalismus verhaftet geblieben seien und irgendwie immer alles falsch gemacht haben sollen: undynamisch und unflexibel, markt- und innovationsfeindlich; orientiert an der »Nahrung«, dem standesgemäßen Auskommen; organisiert in und verschanzt hinter einer allmächtigen Zunft, die von der Wiege bis zur Bahre das Leben der Handwerker bestimmt habe.10 Wer glaubt, solch platte Stereotypen müssten doch im Zeitalter der »Turns« längst überholt sein, lasse sich eines Besseren belehren und schaue sich die jüngste Publikation der von der Frankfurter Historischen Kommission herausgegebenen mehrbändigen Geschichte der Stadt Frankfurt an. Dort wird im Jahre 2013 in einem Band, der eine Gesamtdarstellung Frankfurts 1789-1866 bieten soll, eine Neuauflage der alten Meistererzählung präsentiert: Die Stadtgeschichte des 18./19. Jahrhunderts wird auf die Geschichte des modernen Bürgertums, vor allem des Wirtschaftsbürgertums (Kaufleute, Bankiers etc.), reduziert; die Frühe Neuzeit schrumpft zur Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Weite Teile der reichsstädtischen Gesellschaft kommen in diesem eindimensionalen SchwarzWeiß-Bild folglich nur am Rande oder gar nicht vor.11 10 Stellvertretend für etliche Titel: Klötzer, 1983. 11 Roth, 2013. Nicht nur bei Roths Ausführungen zum Handwerk (ebd., S. 82-85, 119f.) fehlen durchweg einschlägige Literaturverweise (Reith/Griessinger /Eggers, 1992; Brandt, 2004a; Ders., 2004b; Ders., 2008; Schmidt, 2009), sondern ganz generell vermisst man in dieser »Überblicksdarstellung« wichtige Publikationen aus den letzten Jahren, die ein differenziertes Bild von der frühneuzeitlichen Stadt zeichnen (z.B. Eibach, 2003; Amend, 2008). Die Passagen zum Handwerk ähneln Roths Ausführungen zum Handwerk, die er bereits in seiner Dissertation veröffentlicht hatte, und enthalten folglich auch dieselben spekulativen Interpretationen und Fehler (Roth, 1996, S. 62-64): die politische Ohnmacht des Handwerks seit dem 14. Jahrhundert trotz der Vertretung im Rat (dritte Ratsbank) wurde nicht erkannt; zeitgenössische Bewertungen des Handwerks aus der Feder von Bildungsbürgern werden ohne jede Quellenkritik übernommen; bei einer Handwerksstatistik aus dem Jahre 1762 wird suggeriert, es handele sich um vollständige Angaben zu allen 299
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2. Der politische Rahmen: Frühe Entmachtung Wie lässt sich die Geschichte des Frankfurter Handwerks jenseits solcher schlichten Dichotomien darstellen? Um das Handeln der Handwerksmeister in der Frühen Neuzeit verstehen zu können, muss man bei den Zunft- und Bürgerunruhen im 14. Jahrhundert beginnen.12 Zwischen dem 14. Jahrhundert und dem Ende der Reichsstadt 1806 wurde die Geschichte des Frankfurter Handwerks ganz entscheidend geprägt von dem Konflikt zwischen den Handwerksmeistern auf der einen und dem vom Stadtadel dominierten Rat auf der anderen Seite. Einen ersten Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung stellten die Bürger- und Zunftunruhen Mitte des 14. Jahrhunderts dar. Nach ihrer Niederlage in diesem gut zwei Jahrzehnte andauernden Konflikt verloren die Institutionen des Handwerks nach 1377 entscheidende Teile ihrer Mitte des 14. Jahrhunderts noch schriftlich niedergelegten Autonomie. Zwar gab es weiterhin die innerhalb der Bürgerschaft privilegierte Gruppe der ratsfähigen Handwerke, deren Angehörige bis 1806 die dritte Bank des Rates besetzten sollten, doch war deren Einfluss gegenüber den beiden oberen, vom Stadtadel besetzten Bänken eher marginal.13 Seit 1377 waren die Zünfte, geht man nach den normativen Quellen, »in allem, was sie taten und ließen, von der Zustimmung des Rates abhängig«; der Rat verordnete seitdem sämtliche neuen Handwerksartikel!14 Zwar durften die Zünfte ihre Vorsteher selbst wählen; doch bekam jedes Handwerk Ratsherren »zugeordnet, die in allen wichtigen Angelegenheiten entscheidend mitzureden hatten.«15 Gebote der Meister durften nur auf Geheiß oder mit Wissen des Rates abgehalten werden, Beschlüsse der Zünfte erlangten nur mit Einwilligung des Rates Gültigkeit; die Zunftgerichtsbarkeit wurde stark zugunsten des Rates be-
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Frankfurter Meistern, Witwen und Gesellen; durch zwei Ratsverordnungen von 1766 und 1775 wurde mitnichten der rechtliche Rahmen neu geordnet, sondern nur die bisherigen Normen nochmals bestätigt; »Nahrungsschutz« etc. Zum Folgenden ausführlich Brandt, 2008, S. 247-252. Bei den ratsfähigen Handwerken handelte sich um Bäcker, Metzger, alle Feuerhandwerke, Schuhmacher und Wollweber mit je zwei Sitzen; Fischer, Gärtner, Kürschner und Löher mit je einem Sitz. Schmidt, 1914, S. 17*-92*, Zitat S. 44*. Zu den Zunft- und Bürgerunruhen vgl. außerdem: Kriegk, 1862, S. 22-80, 354-404; Elkan, 1890, S. 1-52; Fromm, 1899, S. 1-160, 2-44; Bothe, 1913, S. 76-82, 115-125, 128f., 146-151, 178-182; Rothmann, 1998, S. 57-60; Schmieder, 2004, S. 75-88, 85. Zum Frankfurter Stadtadel vgl. allg. Hansert, 2014. Göttmann, 1975, S. 8-18, 91-98, Zitat S. 17.
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schnitten. Aufnahme in die Zunft sollte nur mit Erlaubnis des Rats und nach vorheriger Erlangung des Bürgerrechts erfolgen; vor der Aufnahme in die Zunft und dem Erwerb des Bürgerrechts hatten in der Stadt ansässig werdende Handwerker dem Rat einen Treueeid zu schwören. Weitergehende Forderungen nach geänderter Zusammensetzung und Bestellung des Rates, wie sie noch während der Unruhen erhoben worden waren, waren nach 1377 zunächst einmal passé. Und obwohl die Gruppe der ratsfähigen Handwerke, wie gesagt, eine von drei Bänken des Rats besetzen konnte, lässt sich in Frankfurt sicher nicht von einer »politischen Zunft« sprechen, welche die spätmittelalterliche Stadt prägte.16 In den großen innerstädtischen Unruhen im Kontext der Reformation sowie während des Fettmilch-Aufstandes Anfang des 17. Jahrhunderts versuchten die Handwerke nun Teile ihrer Autonomie zurückzuerlangen. So enthielten beispielsweise die Frankfurter Reformations-Artikel von 1525 auch die Forderung, das »mindern oder mehren« der Handwerksartikel durch den Rat an »Willen und Wissen ein Hantwerks« zu binden; auch sollte Kommunikation ohne obrigkeitliche Kontrolle möglich sein und deshalb nur das Handwerk die »Macht habe«, die an sie gerichteten Briefe »ufzutun und zu leßen«. Außerdem wurde die Einhaltung des Zunftzwangs angemahnt bzw. die Aufnahme von unqualifizierten Kandidaten ins Handwerk kritisiert: Zukünftig sollte wirklich nur aufgenommen werden, wer »reddlich ausgelernet und mit sinner Hand [das jeweilige Handwerk, R.B.] bewißet.«17 Während des Fettmilch-Aufstandes 1612-1614, d.h. während der vor allem vom Handwerk getragenen innerstädtischen Unruhen, die gegen den Stadtadel und gegen die jüdische Minderheit gerichtet waren, gingen die Zünfte sogar noch einen Schritt weiter. Sie forderten nicht nur Selbstverwaltung für ihre Institutionen zurück, sondern konnten für kurze Zeit sogar ihr eigenes Vergesellschaftungs- und Ordnungsmodell auf die übrige Bürgerschaft übertragen. Im Bürgervertrag von 1612/13 wurde gleich im dritten der 71 Paragraphen festgehalten, dass zukünftig alle Bürger in »gewisse Gesellschaften und Zünfte« 16 Schulz /Giel, 1994, S. 1-20. Falsch ist der Hinweis von Schulz/Giel, dass es in Frankfurt »überhaupt zu keiner verfassungsmäßig verankerten Mitwirkung der Zünfte gekommen« sei (ebd., 19; derselbe Fehler nochmals bei Schulz, 1998, Sp. 688f.). 17 Die Artikel der Frankfurter Gemeinde, in: Franz, 1963, S. 455-461, hier S. 459f.; zu den Artikeln und den unterschiedlichen Versionen des Textes vgl. Jung, 1889, S. 198-208. Zur Reformation in Frankfurt allgemein vgl. Kriegk, 1862, S. 137-203; Bothe, 1913, S. 266-324; Kracauer, 1925, S. 284-308; Jahns, 1991, S. 151-204. 301
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zu organisieren seien.18 Mit der Niederschlagung des Aufstandes 1614, die nur durch das entschiedene Eingreifen der kaiserlichen Seite möglich war, kam der im Spätmittelalter einsetzende Prozess der Entmachtung und Kontrolle des Handwerks in gewisser Weise zu einem »Ende«, als Kaiser Matthias nämlich sämtliche Zünfte aufheben ließ und ihr gesamtes Vermögen sowie alle schriftlichen Aufzeichnungen konfisziert wurden. Die vom Rat nach 1616 neu gegründeten Institutionen des Handwerks waren schließlich nur noch Berufsverbände mit begrenzten ökonomischen Regelungskompetenzen und minimaler Selbstverwaltung; die Vorsteher der Handwerke, die sogenannten Geschworenen, wurden seitdem vom Rat ernannt.19 Und während bis 1616 noch eine partielle gerichtliche Autonomie der Zünfte existiert hatte, über deren genaues Ausmaß und die dahinter stehenden Praktiken sich die Forschung mangels Quellen nicht ganz im Klaren ist,20 wurden nach dem Aufstand die letzten Reste handwerksinterner Gerichtsbarkeit zunächst einmal beseitigt; in den unmittelbar nach 1616 vom Rat erlassenen neuen Handwerksordnungen wurde das Richten und Strafen untereinander ausdrücklich ausgeschlossen.21 In den Artikeln aus dem 18. Jahr18 Kommissionsabschied oder Bürgervertrag vom 24. Dezember 1612/3. Januar 1613, in: Bothe, 1920, S. 492-510, hier S. 496; Meyn, 1980, S. 68. Zum Fettmilch-Aufstand vgl. außerdem Bothe, 1913, S. 409-438; Kracauer, 1925, S. 358-398; Brandt u.a., 1996. 19 Elkan, 1890, S. 53-69, 139-145 (kaiserliches Kommissionsdekret von 1616). Zu den Zunfthäusern vor 1616 sowie zum Verlust der Memoria durch die Konfiszierung sämtlicher Gegenstände und Aufzeichnungen der Korporationen vgl. Lenhardt, 1937; Schmidt, 2009. Die Auflösung der Zünfte hatte auch eine interessante Zäsur in Semantik und Pragmatik der Obrigkeit zur Folge: Der Rat und seine Ämter achteten seitdem peinlichst darauf, dass in den Texten nicht mehr von »Zunft« bzw. »zünftig«, sondern nur noch von »Handwerk« in der disziplinierten Variante gesprochen wurde. Wenn der Eindruck der Lektüre der gedruckten Quellen nicht täuscht, hat der Rat eine solche Sprachpolitik auch nach der Niederschlagung der Zunft- und Bürgerunruhen im 14. Jahrhundert praktiziert, konnte diese aber nicht vollständig durchhalten, da Handwerksmeister und Zünfte als die wichtigste Trägerschicht der Reformation seit dem 16. Jahrhundert ihre eigene Semantik pflegten und Wörter wie »Zunft« und »zünftig« sich seitdem in den Quellen wieder nachweisen lassen (vgl. Schmidt, 1914, passim). 20 Ausführlich dazu Brandt, 2008, S. 250. 21 Vgl. beispielsweise die Ordnungen der Schuhmacher von 1617, Goldschmiede von 1617 und Feuerhandwerker von 1623, abgedruckt bei Elkan, 1890, S. 146-183 (hier S. 147, 157 und 174). 302
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hundert dagegen wird eine handwerksinterne Bagatellgerichtsbarkeit wieder erwähnt. Ob diese Konfliktregulierung nur noch informell praktiziert wurde, da sie in den Quellen kaum noch Spuren hinterlassen hat, oder ob sie gar nicht erst stattgefunden hat, muss an dieser Stelle offenbleiben.22 Während des Verfassungskonflikts im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts starteten die Handwerke abermals einen Versuch, sich der obrigkeitlichen Kontrolle und Disziplinierung zu entledigen. In den Gravamina an die kaiserlichen Kommissare tauchen dabei die bekannten Forderungen auf, also: Satzungsautonomie statt »Mehren und Mindern« durch den Rat; Kommunikation ohne obrigkeitliche Kontrolle etc. Außerdem wurde die Wahl der Geschworenen durch die Meister verlangt sowie die Einrichtung einer von den Meistern selbst ausgeübten Handwerksgerichtsbarkeit. Lediglich bei der Auswahl der Geschworenen konnte ein Teilerfolg errungen werden: Das Handwerk durfte zukünftig drei Meister vorschlagen, aus denen der Rat den neuen Geschworenen auswählte, eine Praxis, welche die Frankfurter Handwerksmeister erst im Revolutionsjahr 1849 beenden und durch die freie Wahl ihrer Vorsteher ersetzen konnten.23 Nach dem Ende der Reichsstadt 1806 wurde Frankfurt Teil eines napoleonischen Reform- und Satellitenstaates unter Leitung des Fürsten Karl Theodor von Dalberg (Primatialstaat 1806-1810, Großherzogtum Frankfurt 1810-1813): Das Bürgerrecht wurde durch ein allgemeines Staatsbürgerrecht ersetzt, die mit dem Bürgerrecht zuvor verbundenen berufsständischen Privilegien des Handwerks 22 Vgl. z.B. die Artikel der Perückenmacher von 1750, in: ISG Ffm, Handwerkerbuch Nr. 86, 1-18, 8: Keine handwerksinterne Gerichtsbarkeit, straffällig Gewordene müssen die Geschworenen der Obrigkeit melden. Aber in Handwerkssachen dürfen die Geschworenen bei Strafen bis zu drei Gulden während des Meistergebots und bei offener Lade richten. Problematisch sind deshalb die Ausführungen bei Eibach, 2003, S. 59, der – auf der Basis älterer Literatur – keine eigene Strafgerichtsbarkeit des Handwerks nach 1616 sieht. 23 Zum Handwerk während des Verfassungskonflikts ausführlich: Brandt, 2004a; zu dem neuen Modus bei der Wahl der Geschworenen seit 1849 vgl. Ahn, 1991, S. 41. Bei dem jahrhundertelangen Konflikt zwischen Handwerk und Stadtadel um Macht und Einfluss in der Stadt gelang es den Meistern in dem langen Zeitraum zwischen 14. und frühem 19. Jahrhundert interessanterweise nur in einer Krisensituation um 1400, als während kriegerischer Auseinandersetzungen mit dem landsässigen Adel die Unabhängigkeit der Stadt in Gefahr war, aus ihren Reihen Bürgermeister zu stellen. In der übrigen Zeit besetzten immer nur Vertreter des Stadtadels die beiden Bürgermeisterstellen; vgl. Kriegk, 1862, S. 81-103; Ders., 1868, S. 479-507 (Liste der Bürgermeister 1311-1866); Bothe, 1913, S. 146-151, 175. 303
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(z.B. dritte Ratsbank) wurden aufgehoben; zugleich wurde in der höheren Verwaltung intensiv über die Einführung der Gewerbefreiheit diskutiert. Ebenfalls wurden die Privilegien des Stadtadels aufgehoben, die Emanzipation der Frankfurter Juden verkündet, und erstmals traten jüdische Lehrlinge in das christliche Handwerk in Frankfurt ein.24 Die Dalbergzeit ist für das Frankfurter Handwerk eine ausgesprochen quellenarme Zeit; Reaktionen der Frankfurter Handwerksmeister auf diese hier eher stichwortartig wiedergegebene Entwicklung sind nur ganz wenige überliefert. Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Herrschaftssystems wurde Frankfurt durch Beschluss des Wiener Kongresses als Freie Stadt ein selbständiger Stadtstaat. Sogleich traten die alten politischen Gegensätze wieder offen zutage, die schon seit dem 18. Jahrhundert die politische Auseinandersetzung in der Stadt bestimmt hatten: Von 1813 bis 1816 tobte ein heftiger Verfassungsstreit unter Politisierung weiter Teile der Bürgerschaft.25 Waren die Vertreter des Handwerks anfangs – wie schon in der Dalbergzeit – von den Debatten auf höchster politischer Ebene ausgeschlossen, so sollten die Meister schließlich in Koalition mit den Frühliberalen, den Vertretern von Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, den Konflikt für sich entscheiden und eine Restauration fast aller alten berufsständischen Privilegien durchsetzen, während zugleich die herrschaftsständischen Vorrechte des Adels endgültig abgeschafft wurden, die Emanzipation der Juden rückgängig gemacht und der Zugang zum Bürgerrecht erschwert wurde. Das Handwerk besetzte ab 1816 wieder die dritte Ratsbank und entsandte in die neu geschaffene »Gesetzgebende Versammlung« eigene Vertreter. Die Meister hatten nicht nur dem Verfassungskonflikt die entscheidende Wendung geben können, sie hatten ihn für sich entschieden! Will man an dieser Stelle ein vorläufiges Resümee ziehen, so kennzeichnete – aus der Makroperspektive der normativen Quellen betrachtet – nicht Vielfalt, sondern Alternativlosigkeit die Geschichte des Frankfurter Handwerks bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Partikularrechte des Handwerks waren spätestens 1616 endgültig beseitigt und dem Gewalt- und Rechtsmonopol des Rates unterworfen worden. Einer dominanten Obrigkeit, die sich aus dem Stadtadel rekrutierte und die Institutionen der Stadt beherrschte, standen ohnmächtige Handwerksmeister gegenüber, die zwar als Bürger zur rechtlich privilegiertesten Gruppe in der Stadt gehörten, die sich aber in ihrer Verzweiflung über ihren faktischen Ausschluss von der Stadtregierung mitunter nur durch Gewalt zu hel24 Darmstaedter, 1901; Rob, 1995; Roth, 2013, S. 199-224. 25 Zum Verfassungskonflikt vgl. Schwemer, 1910, S. 1-242; Koch, 1978; Ders., 1983, S. 55-75; McNaughton, 1985, S. 252-293; Roth, 2013, S. 244-261. 304
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fen wussten. Zugespitzt könnte man mit Blick auf die jüngere Forschung zur Herrschaft in den Fürstenterritorien während der Frühen Neuzeit sagen: kein Aushandeln, keine Kooperation, keine akzeptanzorientierte Herrschaft in der Freien Reichsstadt!26
3. Die Quellen: Wer schreibt, der bleibt Die permanenten Niederlagen der Meister im Konflikt mit dem Rat – vor allem die Zäsur von 1616 – haben bis heute für die Überlieferung des Handwerks weitreichende Konsequenzen, da die Quellen, die über das vormoderne Handwerk informieren, in hohem Maße obrigkeitlich geprägt sind.27 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Handwerk betreffende Quellen vom Archiv kassiert wurden, darunter vermutlich auch Quellen, die nichts Konfliktträchtiges, eher Alltägliches und Regelmäßiges festhielten, beispielsweise »Meisterrechtsgesuche«, bei denen, wie es in einem Archivbericht aus dem Jahre 1811 heißt, »keine besondere Rechtsfrage zur Entscheidung kam«.28 Um das, was Arnold Esch vor einigen Jahren als »Überlieferungs-Chance« bezeichnet hat, ist es bei den Frankfurter Handwerken also eher schlecht bestellt.29 Die große Masse der Quellen, die heute vorliegen und aus denen wir die Lebenswelt der Frankfurter Handwerker zu rekonstruieren versuchen, sind schriftliche Quellen, die nach 1616 entweder von der Obrigkeit angelegt wurden – also Vernehmungs- und Verhörprotokolle aus der Audienz des jüngeren Bürgermeisters, Conclusa des Rats, Schöffenratsprotokolle, Berichte der Ämter, Korrespondenz etc. – oder die von Advokaten aufgezeichnet wurden, die im Auftrag ihrer Mandanten aus dem Handwerk Supplikationen und andere Prozessunterlagen erstellten.30 Die sogenannten Handwerkerbücher, die vermutlich meist von den Geschworenen geführt wurden und die interne Verwaltung der Handwerke 26 Asch/Freist, 2005; Brakensiek, 2009. 27 Vgl. zum Folgenden Brandt, 2008, S. 258-264. 28 Jung, 1909, S. 329-345, Zitat S. 335; auch wurden »alle Handwerksangelegenheiten betreffende Schreiben, z.B. Erkundigungen etc.«, zur Kassation vorgeschlagen (ebd.). 29 Esch, 1985. 30 Die Quellen der Obrigkeit und der Advokaten sind fast durchweg in der Form von Texten abgefasst; serielle Daten oder datenähnliche Informationen finden sich in den Akten sehr selten. 305
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in mehr oder weniger ausführlicher Form dokumentieren, machen nur einen Bruchteil der Überlieferung aus und sind auch inhaltlich von unterschiedlicher Aussagekraft – vermutlich aufgrund der obrigkeitlichen Kontrolle.31 Wer spricht in diesen Quellen? Hört man wirklich die Stimmen der ›kleinen Leute‹ oder liest man nur die Semantik der Experten, über deren Schreib- und Aufschreibkonventionen wir für Frankfurt so gut wie gar nichts wissen? Wer ist in den Verhörprotokollen eigentlich der Herr bzw. die Herrin der Diskurse? Die Ratsherren? Die Advokaten? Oder vielleicht die juristisch gebildeten Stadtund Ratsschreiber?32 Oder doch die ›kleinen Leute‹, die Handwerksmeister und Handwerkerwitwen, welche sich der »Listen der Ohnmacht« zu bedienen wussten?33 Durften die Meister oder die Geschworenen der Handwerke, von denen vermutlich die meisten im 17./18. Jahrhundert des Lesens fähig waren, die Verhörprotokolle vielleicht sogar einsehen und Einfluss auf die Aufzeichnungen nehmen oder waren diese ein Arkanum, gehütet von der Obrigkeit und ihren Helfern?34 Bei aller Detailfülle, welche die Quellen des Rats und der Advokaten 31 Die sogenannten Handwerkerakten im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt (ISG Ffm) – Ratsakten, Suppliken etc. – lassen sich über das Repertorium Nr. 629, die Handwerkerbücher über das Repertorium Nr. 539 erschließen; interessante Nutzung der Handwerkerbücher bei Schmidt, 2009. Die zahlreichen von der Frankfurter Obrigkeit erlassenen Normen sind aufgelistet bei Halbleib/Worgitzki, 2004. 32 Zu den Schreibern im Dienst der Stadt, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer häufiger eine juristische Ausbildung oder wenigstens juristische Kenntnisse hatten, vgl. die kurzen Angaben bei Dölemeyer, 1993, S. XXXIXf., XLIII; Hohenemser, 1911, S. 72. Ob es sich bei den Frankfurter Schreibern um unsichtbare Dienstleister oder um die »heimlichen Herren« der Diskurse im Hintergrund handelte, muss mangels Wissen über deren Praktiken und Handlungsspielräume unbeantwortet bleiben. Hingewiesen sei aber auf die Person des Ratsschreibers Laurentius Pyrander, der während des Fettmilch-Aufstandes eine nicht unwichtige politische Rolle spielte und bei dem sich ein Zusammenhang von Schrift, persönlicher Nähe zu den politisch Mächtigen und Geheimhaltung anzudeuten scheint; vgl. Bothe, 1913, S. 403, 416, 425.; Meyn, 1980, S. 38, 47, 49, 57, 63. 33 Honegger /Heintz, 1984. 34 Zum Zusammenhang von Schriftlichkeit, Geheimhaltung und politischer Kontrolle vgl. Elkan, 1890, S. 68, Anm. 12: Nach dem kaiserlichen Kommissionsdekret von 1616 sollten die neuen, vom Rat erlassenen Artikel von diesem auch aufbewahrt und den Handwerken nicht ausgehändigt werden. Auf eine Beschwerde der Geschworenen reagierte der Rat schließlich 1617 und ordnete die Aushändigung 306
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mitunter aufweisen, hat man es aufgrund dieser einseitigen und uneinheitlichen Überlieferung doch häufig mit »Informationsknappheit« zu tun.35 Die Folgen der Parteilichkeit der Texte liegen auf der Hand: Letztlich kann die Geschichte des Frankfurter Handwerks über weite Strecken nur aus der Perspektive der Obrigkeit oder aus der Sicht uns weitgehend unbekannter Juristen geschrieben werden. Welche Strategien und Semantiken beispielsweise die Advokaten wählten, um im Auftrag ihrer Mandanten mit der Obrigkeit zu kommunizieren, und wie sie damit bis heute unser Bild vom Handwerk prägen, ist bisher nicht untersucht worden.36 Gleiches gilt für das Wissen und die Argumente, welche die Ämter zur Verfügung stellten und worauf der Rat und die anderen Gerichte relativ häufig zurückgriffen, wenn sie Entscheidungen in Sachen Handwerk trafen. Über die Praktiken dieser Ämter wissen wir nur vereinzelt etwas; wie sie beispielsweise ihre vielen Informationen gewannen, wie sie ihr Wissen organisierten – das alles entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis.37 von Kopien an. Systematische Forschungen zum Lesen und Schreiben in Frankfurt vor dem 19. Jahrhundert fehlen. Bei Lektüre der das Handwerk betreffenden Quellen gewinnt man aber den Eindruck – dies sei an dieser Stelle ohne Quellenbelege und allein auf Basis rein visueller Quellenkritik angemerkt –, dass bei den Meistern zumindest im 18. Jahrhundert von einem gewissen Maß an Literalität, an elementarer Lese- und Schreibfähigkeit auszugehen ist: selbst verfasste Supplikationen; Signierfähigkeit, wobei vermutlich auch Allographie zu berücksichtigen ist; handwerksinterne Aufzeichnungen in den Handwerkerbüchern; Buchbesitz von Handwerkern (Wittmann, 1934, S. 44-66, 133-144). Andererseits gibt es für die Zeit um 1600 auch Hinweise auf Analphabetismus unter den aus den Handwerken kommenden Ratsherren (Meyn, 1980, S. 176). 35 Jeggle, 2004, S. 24. 36 Vgl. Dölemeyer, 1993 mit ausführlichen biobibliographischen Daten zu den Frankfurter Juristen, aber ohne Angaben zu deren Praktiken. Vgl. dazu wenigstens die bei Beyerbach, 1799, Bd. 8, S. 1579-1646 abgedruckten normativen Texte des Frankfurter Rats für Advokaten, Notare und Prokuratoren. Sehr interessant, aber leider ohne Frankfurter Beispiele ist in diesem Zusammenhang Falk, 2006, der zeigt, dass auch »die Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit […] als Markt zu verstehen [ist], auf dem professionelle juristische Dienstleistungen in großer Zahl angeboten und nachgefragt wurden« (ebd., S. XIX), und dass sich die Aktivitäten der Juristen in den seltensten Fällen als interessenfreie Parteilosigkeit charakterisieren lassen. 37 Hohenemser, 1911; Ruppersberg, 1932/1982, S. 68-81. 307
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»Möglichkeiten und Grenzen sinnvoller Rede« über das Frankfurter Handwerk bzw. »kohärenten sozialen Handelns« des vorindustriellen Handwerks werden also bis heute vor allem von der reichsstädtischen Obrigkeit und von Juristen festgelegt sowie von einer Geschichtsschreibung, die seit dem 19. Jahrhundert diesen Quellen ohne weitergehende Quellenkritik oder Diskursanalyse folgt.38 Emphatisch könnte man sagen: Echte, authentische Stimmen des Handwerks, die sozusagen »unmittelbar« in die Lebenswelt der Handwerksmeister zurückführen, sind in Frankfurt rar; das »Sagbare und das Machbare« bzw. das sinnvolle Schreiben über das Handwerk legten vermutlich ganz andere soziale Gruppen fest.39 Die Frage, wer eigentlich für die Geschichte des Frankfurter Handwerks spricht, lässt sich also nicht pauschal, sondern nur im Einzelfall beantworten.
4. Kreative Justiznutzung und Verrechtlichung innerstädtischer Konflikte Im ausgehenden 17. Jahrhundert und mit Beginn des Verfassungskonflikts wurden Schriftlichkeit und juristischer Beweis für das Handwerk in Konfliktsituationen anscheinend immer bedeutender. Aus dieser Zeit liegt eine wesentlich dichtere Überlieferung für das Handwerk vor als für die beiden Jahrhunderte zuvor.40 Und wenn die Proportionen der Überlieferung die Proportionen der vergangenen Wirklichkeit nicht ganz verzerren, dann dürfte im Kontext des Verfassungskonflikts ein Strategiewechsel im Handwerk eingeleitet worden sein. Denn seitdem wurden sowohl von den ca. 50 in Handwerken organisierten Berufen, die sich für das 18. Jahrhundert nachweisen lassen, als auch in Individualklagen einzelner Meister wesentlich öfter als zuvor Konflikte vor den Rat und die anderen gerichtsähnlichen Institutionen gebracht, um dort, häufig durch Supplikationen eingeleitet, vornehmlich ökonomische Interessen geltend zu machen.41 38 Sarasin, 1996, S. 142; Ders., 2003, S. 10-60. 39 Steinmetz, 1993. 40 Vgl. zum Folgenden Brandt, 2008, S. 252-256. Die Handwerksprozesse aus dieser Zeit umfassen geschätzt ca. 3.000-4.000 Akten im Institut für Stadtgeschichte; vgl. ISG Ffm Repertorium Nr. 692. 41 Zur »Rechts- und Gerichtslandschaft« Frankfurt mit ihrer für die Frühe Neuzeit nicht untypischen »Unübersichtlichkeit« vgl. Amend, 2008; zum Mittelalter vgl. Krey, 2015. 308
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Prozessgegenstand waren dabei durchweg Fragen des Marktzugangs bzw. der -regulierung sowie Auseinandersetzungen um die Aufnahme in das Handwerk. Zugleich lässt sich mit Beginn des Verfassungskonflikts Anfang des 18. Jahrhunderts – neben den schon seit dem 16./17. Jahrhundert vor dem Reichskammergericht geführten Prozessen – eine große Zahl an Gerichtsverfahren nachweisen, welche die Frankfurter Handwerke vor dem Reichshofrat zur Durchsetzung ihrer Forderungen anstrengten bzw. mit denen sie ihre innerstädtische Ohnmacht auszugleichen versuchten. Bei fast allen der über einhundert zwischen 1712 und 1805 in Wien geführten Prozesse waren die oben erwähnten ökonomischen Konflikte Gegenstand der Klage.42 Noch während der Verfassungskonflikt lief und sich durch das Eingreifen Wiens die Waage zugunsten der Bürger zu neigen begann, eigneten sich die Handwerke also mit der Nutzung der Wiener Reichsjustiz ein neues politisches Instrument an, das zuvor im Kontext des Verfassungskonflikts nur von der Elite des Stadtbürgertums genutzt worden war. Die Meister versuchten, die für rechtliche Normen konstitutive Ambivalenz zu ihren Gunsten zu nutzen: Das Frankfurter Recht unterwarf die Handwerke einer umfassenden Beobachtung und Kontrolle durch die Obrigkeit, es überwachte und kontrollierte zugleich aber auch den Rat und die Ämter, welche die Normen erlassen hatten. Obwohl die Prozesse vor dem Reichshofrat, soweit man das in den Wiener Quellen erkennen kann, alle verloren gingen, dilatorisch behandelt wurden oder gar nicht entschieden wurden, dürfte der Reichshofratsprozess im 18. Jahrhundert auch in Frankfurt phasenweise den offenen innerstädtischen Konfliktaustrag zwischen Obrigkeit und Untertanen ersetzt und zur Verrechtlichung der innerstädtischen Konflikte beigetragen haben.43 Dem Rat hatten die vielen Anzeigen und Prozesse des Handwerks anscheinend überhaupt nicht ›geschmeckt‹. Im April 1789 erließ er deshalb die »Ordnung gegen üble Oeconomie der Künstler und Handwerker«, welche von einer »Proceßsucht« der Geschworenen sprach, die es zu unterbinden gelte:44 Geschworene sollten nur noch mit Vorwissen der Deputierten, d.h. der jedem Handwerk zugeordneten Ratsmitglieder, und mit der ausdrücklichen schriftlichen Einwilligung von wenigstens zwei Dritteln der Mitglieder des Handwerks, 42 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Archivbehelf I/1/7, fol. 232v-247v. Eine Auswahl dieser Prozesse ist aufgelistet bei Moritz, 1785, S. 143-183. Zu den Prozessen vor dem Reichkammergericht vgl. Kaltwasser, 2000; Riemer, 2012. 43 Zur Justiznutzung vgl. allg. Dinges, 2000, S. 503-544. Zum Reichshofratsprozess als Ersatz für den offenen innerstädtischen Konflikt vgl. die anschaulichen Beispiele bei Lau, 1999. 44 Beyerbach, 1798, Bd. 2, S. 272-274, hier S. 273. Hier auch die folgenden Zitate. 309
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sei es als klagende oder beklagte Partei, Prozesse beginnen oder »gegen hiesige Raths- oder Schöffen=Raths Erkänntnisse und Verfügungen, Appellationen oder Revisionen einlegen«. Dabei anfallende Kosten hatte nicht die gemeinsame Kasse des jeweiligen Handwerks zu tragen, sondern alle Mitglieder, welche die Einwilligung zum Prozess gegeben hatten, mussten privat dafür aufkommen. Außerdem wurden eine exakte Buchführung durch die Geschworenen mit jährlicher Präsentation vor dem gesamten Handwerk sowie generell die Einhaltung aller Vorschriften durch die Geschworenen und die Deputierten angemahnt. Ob und wie diese »Ordnung« umgesetzt wurde, ist nicht bekannt. Ihr Erfolg war anscheinend begrenzt, denn in den politisch wie ökonomisch ausgesprochen krisenhaften Jahren nach 1789 gingen die Handwerke den Rechtswege kaum seltener, wie allein schon ein Blick in die Repertorien des Instituts für Stadtgeschichte verdeutlicht.45
5. Zahlen: Umfang und ökonomische Lage des Handwerks Die Handwerksmeister und ihre Familien waren während der Frühen Neuzeit vermutlich die größte soziale Gruppe innerhalb der Frankfurter Bürgerschaft. Exakte Zahlen sind für das Gesamthandwerk aber nicht überliefert; die Schätzungen divergieren.46 Nur für einzelne der ca. 50 Handwerksberufe, die im 18.
45 ISG Ffm Repertorien Nr. 692 sowie Nr. 6, S. 12-14, 16f. 46 Roth, 2013, S. 83 schätzt auf Basis einer Statistik aus dem Jahre 1762 ca. 3.000 »Berufstätige« im Handwerk, dabei über 2.000 Gesellen. Besagte Statistik enthält jedoch nur unvollständige Angaben zur Anzahl der Handwerke, Meister, Witwen und Gesellen, was Roth aber nicht anmerkt und ihm anscheinend auch gar nicht aufgefallen ist. Man sollte also von deutlich mehr als 3.000 »Berufstätigen« ausgehen. Die Statistik von 1762, die an dieser Stelle nicht ausführlicher vorgestellt werden kann und die noch mehr statistische Fallstricke enthält als die oben erwähnten, wurde erstmals in den 1920er Jahren publiziert und ist abgedruckt bei Lerner, 1987b, S. 74-88; die Handwerkerakte, der sie ursprünglich entnommen wurde, existiert heute nicht mehr. Voelker, 1932/1982, S. 91 geht von »rund 2.000« Meistern im 18. Jahrhundert aus und schätzt für das gesamte Handwerk »einschließlich ihrer Familienangehörigen, Gesellen und Lehrlinge« 8.000-9.000 Personen. Wie er zu diesen Zahlen kommt, verrät er aber nicht. 310
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Jahrhundert in über 30 Korporationen organisiert waren, liegen genauere Zahlen vor.47 Die meisten Mitglieder hatten, gemessen an der Zahl der Meister, Witwen und Gesellen, die Bierbrauer, Fischer, Gärtner (= Bauern), Metzger, Schneider, Schreiner und Schuhmacher; alles Handwerke, die für die Versorgung der Stadt mit Nahrungsmitteln und alltäglichen Gebrauchsgütern elementar waren.48 Dies war an sich nicht ungewöhnlich für eine mittelgroße Stadt während der Frühen Neuzeit. Jedoch wird im Mainstream der Frankfurter Stadtgeschichtsschreibung meist übersehen, dass es auch Handwerke gab, die Kunden außerhalb der Stadt hatten oder die an den Geschäften der Kaufleute partizipierten. Die Bender beispielsweise waren neben den erwähnten Versorgungshandwerken eines der großen Gewerke in der Reichsstadt und produzierten ihre Fässer nicht nur für den lokalen, sondern auch für den überregionalen Handel der Fernhandelsund Speditionskaufleute.49 Von den Messen profitierten nicht nur die Nahrungsmittelhandwerke, wenn im Frühjahr und Herbst jeden Jahres der Hunger und Durst tausender Messegäste gestillt werden musste. Die Schreiner bauten die Messestände für die Präsentation der Waren; die Schneider und Schuhmacher flickten vermutlich nicht nur, was zu Messezeiten kaputt gegangen war, sondern schneiderten und produzierten auf Bestellung auch ganze Kleidungsstücke. Es ist vermutlich kein Zufall, dass im »Franckfurter Mercantil-Schema« seit 1773 jedes Jahr hunderte von Namen von Handwerkern aufgelistet wurden, die Ihre Dienste den Messegästen empfahlen.50 Auf den Messen konnten einzelne Handwerksmeister auch größere Aufträge »an Land ziehen« und darüber in das Exportgeschäft einsteigen; für die Leder- und Textilhandwerke sind beispielsweise größere Aufträge zur Ausstattung auswärtigen Militärs überliefert, die auch
47 Zahlen für das 16. Jahrhundert auf Grundlage der älteren Forschung bei Wesoly, 1985, S. 394f. Für das 18. Jahrhundert Zahlen bei Moritz, 1786, S. 287-312: Mindestens 50 Berufe in 34 Korporationen; daneben existierten auch 17 »unzünftige« Gewerke wie beispielsweise das Druckerhandwerk. Die in Korporationen organisierten Handwerke lassen sich ganz »klassisch« in Nahrungsmittel-, Textil-, Bausowie holzverarbeitende und metallverarbeitende Handwerke einteilen. 48 Wolff, 1904; Spaett, 1927; Herberger, 1931; Lenhardt, 1933; Hussong, 1936; Lerner, 1959; Ders., 1987a. 49 Lüttecke, 1927; Lerner, 1987b, S. 42-73, 107-115. Aus dem Mainstream stellvertretend für viele: Roth, 2013, S. 82-85. 50 Beispielsweise Franckfurter Mercantil-Schema, 1773, S. 41-86. 311
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schon mal mehrere tausend Gulden umfassen konnten.51 Diese Transaktionen sind in den Frankfurter Quellen selten untersucht worden und bisher auch nur vereinzelt nachweisbar, werfen aber ein anderes Licht auf das Handwerk und die in der Literatur immer wieder präsentierte Behauptung, in Frankfurt habe es seit dem Niedergang des Wollweberhandwerks im Spätmittelalter kein volkswirtschaftlich relevantes Exporthandwerk mehr gegeben. Die überregionale Nachfrage und der Export kamen über die Messen in die Stadt.52 Ökonomisches Potential und Vermögen waren aber unter den Frankfurter Meistern sehr ungleich verteilt. Zieht man die wenigen vorliegenden Daten zu Betriebsgrößen und Steuerleistungen heran, dann fallen ausgeprägte handwerksinterne Hierarchien auf. Neben etlichen »Alleinmeistern«, die ohne Gesellen arbeiteten, gab es anscheinend auch viele Werkstätten, in denen ein bis zwei Gesellen beschäftigt waren, sowie einen kleineren Kreis von Meistern, die eine größere Zahl an Gesellen für sich arbeiten ließen.53 Überdies dürften in vielen Betrieben auch Frauen unterschiedlichen rechtlichen Status’ gearbeitet haben, die in diesen Zahlen nicht berücksichtig wurden, wie sich aber in den wenigen Forschungen zu diesem Thema mittlerweile auch für das frühneuzeitliche Frankfurt andeutet.54 Bei den Schneidern, dem einzigen Handwerk mit solider Überlieferung für Steuern und den Steuern zugrunde liegenden Vermögenswerten, wurde im gesamten 18. sowie im frühen 19. Jahrhundert immer mindestens die Hälfte der Meister in der niedrigsten Steuerklasse (bis 300 Gulden) veranlagt. Mitte des 18. Jahrhunderts umfasste diese Gruppe fast 80 Prozent der Meister. Die Unterschicht dominierte also das Schneiderhandwerk.55 Selbst bei den Bäckern (1767) und Sattlern (1785), zwei ökonomisch deutlich besser gestellten Handwerken, gab es mit einem Viertel bzw. einem Drittel der Meister in den untersten Steuerklassen nicht wenige arme Meister; jedoch war hier die jeweilige Mittelschicht deutlich breiter als bei den Schneidern. In allen drei Handwerken lassen sich aber auch ausgesprochen reiche Meister nachweisen; 51 Ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert sowie weitere Literaturhinweise bei Brandt, 2004b, S. 160-175. 52 Zu ähnlichen Einschätzungen kommt auch Julia Schmidt-Funke in ihrer 2016 eingereichten Habilitation: Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Habilitationsschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena 2016. 53 Lerner, 1987b, S. 86. 54 Brandt, 2001; Halbleib/Kern, 2007. 55 Hussong, 1936, S. 86-91. 312
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eventuell besaßen diese Handwerker die oben erwähnten Werkstätten, in denen Gesellen in größerer Zahl beschäftigt waren.56
6. Markt und Nahrung Die oben erwähnte »Ordnung gegen üble Oeconomie« signalisiert, dass es sich lohnt, das handwerkliche Aneignen von obrigkeitlichen Normen zwischen spätem 17. Jahrhundert, als die Überlieferung dichter wurde, und 1806 nochmals näher zu betrachten. Prozessgegenstand war dabei durchweg das, was in der Geschichtsschreibung meist etwas vorschnell und ohne genauer auf die Quellen zu schauen als »Nahrungsschutz« bezeichnet wird: also Fragen des Marktzugangs und der Marktkontrolle, der Preis- und Qualitätskontrolle; Wettbewerb um Preis und Qualität; Konflikte um illegale Importe; Abgrenzung von Arbeitsfeldern; der Zugang zum Handwerk; Fragen der Ausbildung; Witwenrecht etc. – also all das aus der vormodernen Ökonomie, was vielleicht angemessener mit vormodernen Verteilungskonflikten oder mit Selbsterhaltung, ökonomischem Interesse und »Kampf um Anerkennung« umschrieben werden kann als mit »Nahrungsschutz«.57 56 Schneider, 1920, Teil III, Blatt 139f.; Heinemann, 1934, S. 89. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für Spätmittelalter und 16. Jahrhundert: Ausgeprägte soziale Unterschiede in und zwischen den einzelnen Handwerken sowie breite Unterschichten neben einigen wenigen wohlhabenden und reichen Meistern lassen sich auch für diese Zeiträume nachweisen (Bothe, 1906, S. 142-156, *122-*129, *134f.). 1587 beispielsweise wurden 55 % der Schneidermeister und -witwen in den untersten drei Steuerklassen veranlagt (bis 200 Gulden), während andererseits 11 von insgesamt 94 statistisch erfassten Meistern und Witwen ein Vermögen zwischen 1.000 und 2.000 Gulden besaßen. Beim Bäckerhandwerk waren es zur selben Zeit 44 % in den unteren drei Klassen, während 4 der insgesamt 45 Meister und Witwen sogar Vermögen im Wert von über 2.000 Gulden versteuerten (Ders. 1920, S. 50-157, S. 145 u. 148). 57 Zum Quellenbegriff und zum wissenschaftlichen Konzept »Nahrung« vgl. Brandt/ Buchner, 2004; die Begriffe »Nahrungsschutz« und »Nahrungssicherung«, die in der Frankfurter Stadtgeschichtsschreibung gerne benutzt werden, um das vormoderne Handwerk zu beschreiben und zu bewerten (z.B. Schindling, 1991, S. 228f., 233; Duchhardt, 1991, S. 265, 272f., 279 und 292), sind keine Quellenbegriffe! Zur Theorie der Anerkennung, eigentlich ein Konzept für die Moderne und nicht für die Vormoderne, vgl. Honneth, 1992: Auch »materielle Ungleichheit und Vertei313
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Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts sind nun wesentlich mehr solcher Verteilungskonflikte überliefert als für Spätmittelalter und 16. Jahrhundert. Im Einzelnen hatten dabei die Aktivitäten der Handwerksmeister, die von Suppliken an den Rat bis hin zu – vereinzelter – Selbstjustiz auf offener Straße reichen konnten, eine sechsfache Stoßrichtung:58 Sie richteten sich zunächst gegen den eigentlich verbotenen Import und Verkauf auswärts produzierter Handwerkerwaren sowie gegen Trödelhandel mit Produkten des Handwerks, d.h. gegen Konsumenten und Distributoren jeden Standes und Milieus sowie beiderlei Geschlechts: Kaufleute, Krämer, Witwen und Juden sowie gegen Privatpersonen, meist Personen aus dem modernen Bürgertum oder dem Adel, die für den privaten Verbrauch beispielsweise modische Artikel einführen wollten, welche die Frankfurter Handwerker nicht produzierten und die auf dem Frankfurter Markt sonst nur zu Messezeiten zu erwerben waren; denn nur während der Frühjahrsund Herbstmessen war der Import auswärts produzierter Handwerkerwaren erlaubt. Darüber hinaus wurde gegen auswärtige Produzenten suppliziert, die mit obrigkeitlicher Genehmigung unter bestimmten Auflagen (bestimmte Tage und Orte) ihre Waren regelmäßig auf den Frankfurter Märkten anbieten durften und die überwiegend von den Frankfurter Dörfern, aber auch aus Nicht-Frankfurter Gemeinden kamen, sowie gegen christliche und jüdische Kaufleute und Krämer, die mit Erlaubnis der Frankfurter Behörden Detailhandel mit einigen ausgewählten Handwerksprodukten betreiben durften. Vor allem attackierten die Handwerke das, was sie häufig als »Pfuscherey« oder »Störerey« bezeichneten, nämlich die Tätigkeit einer recht heterogenen Gruppe von Gewerbetreibenden, die in Frankfurt ohne gewerberechtliche Absicherung als Handwerker arbeiteten: Gesellen und Witwen unterschiedlichster Berufe, Handwerker aus den Frankfurter Dörfern und ortsfremde Meister sowie Personen ohne handwerklichen Hintergrund und ohne Bürgerrecht wie beispielsweise Beisassen, Juden und Soldaten.59 Supplikationen richteten sich viertens auch gegen Meister des lungskämpfe« können »als Ausdruck einer Verletzung von berechtigten Ansprüchen auf Anerkennung gedeutet werden«. Denn »die Subjekte nehmen institutionelle Vorgänge dann als soziales Unrecht wahr, wenn sie dadurch Aspekte ihrer Persönlichkeit mißachtet sehen, auf deren Anerkennung sie ein Anrecht zu haben glauben«. Honneth, 2003, S. 159 und 156. 58 Zum Folgenden vgl. Brandt., 2004a, S. 243-248; Ders., 2016, S. 336-340. Ein Beispiel für Selbstjustiz aus dem Sattlerhandwerk bei Dems., 2004b, S. 243-248. 59 Zur ausgeprägten Judenfeindschaft im Frankfurter Handwerk vgl. Brandt, 2004b, S. 183-185. Bis heute fehlen systematische Untersuchungen zu Ursachen und Erscheinungsformen der Judenfeindschaft in der Reichsstadt Frankfurt. In einigen 314
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eigenen Handwerks, welche die geltenden Normen beispielsweise durch Hausieren oder Taxvergehen unterliefen oder technische und organisatorische Innovationen vorgenommen hatten (neue Werkzeuge und Maschinen, Beschäftigung einer größeren Zahl an Gesellen). Außerdem richtete sich der Protest der Handwerke auch gegen Meister anderer Gewerke und manchmal sogar gegen ganze Handwerke wegen der Abgrenzung der jeweiligen Arbeitsfelder. Nicht zuletzt gab es immer wieder Konflikte wegen des Zugangs zum Handwerk: Mal supplizierten Interessenten, denen das Handwerk die Aufnahme aus unterschiedlichsten Gründen (z.B. katholische Religion) verweigert hatte, mal beschwerten sich die Korporationen selbst, da sie auf Druck des Rats aus ihrer Sicht ungeeignete Interessenten aufnehmen mussten. Sicher ist bei der Auswertung der Handwerkerakten zwischen einzelnen Handwerken und Branchen zu differenzieren; auch lassen sich besondere Phasen ausmachen, beispielsweise wurden die Beschwerden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer zahlreicher, während sie nach 1800 rückläufig waren. Erkennbar ist aber in den Quellen aus der Zeit zwischen spätem 17. und frühem 19. Jahrhundert eine handwerkliche Marktwirtschaft, die neben dem Handelskapitalismus im frühneuzeitlichen Frankfurt existierte.60 Diese handwerkliche jüngeren einflussreicheren Überblicksdarstellungen zur Frankfurter Geschichte wird aber gemeinhin davon ausgegangen, dass vor allem das Handwerk Träger der Judenfeindschaft in Frankfurt während der Frühen Neuzeit war (z.B. Duchhardt, 1991, S. 264f., 271f.), obwohl eingehende Studien dazu bisher fehlen und obwohl sich judenfeindliche Einstellungen und Praktiken auch bei anderen Gruppen der reichsstädtischen Gesellschaft nachweisen lassen. Die großen innerstädtischen Unruhen in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert beispielsweise (Reformation, Fettmilch-Aufstand, Verfassungskonflikte 1705-32 und 1813-16 sowie Revolution 1848/49) waren nicht nur gegen die jeweiligen Obrigkeiten, sondern vor allem auch gegen die Juden gerichtet. Diese judenfeindlichen Ziele wurden in den Unruhen aber nicht nur von den Meistern und ihren Familien, sondern auch von weiten Teilen der Bürgerschaft getragen (Nachweise bei Brandt, 2004b, S. 183185). Ein weiteres Desiderat sind in diesem Zusammenhang die Transaktionen zwischen Juden und Christen, die ohne Konflikte abliefen. Es fehlen Studien zum alltäglichen Handel zwischen christlichen Handwerkern und jüdischen Kunden und vice versa, Studien also, welche die alten Dichotomien – hier »die« Juden, da »die« Christen – überwinden. 60 Brandt, 2004b, S. 183-185, 189-199 (exemplarisch für das Frankfurter Bäckerhandwerk). Konzept und Begriff »handwerkliche Marktwirtschaft« sind inspiriert von Braudel, 1986a, S. 23-32, 58, 41-69; Ders., 1986b, Bd. 2, S. 15-79, 237-246, 315
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Marktwirtschaft war eingebettet in einen übergeordneten politischen Kontext, sie war Teil eines politisch regulierten Wirtschaftssystems: Die ökonomischen Aktivitäten waren marktorientiert und wurden zugleich vom Rat kontrolliert, der festlegte, welche Güter von wem produziert und verkauft werden durften; Ratsconclusa, Verordnungen etc. bestimmten, was begünstigten Gruppen und Individuen gestattet werden sollte. Markt und Regulierung waren in dieser handwerklichen Marktwirtschaft kein Gegensatz: Zu Messezeiten sowie innerhalb des Handwerks waren Konkurrenz, Wettbewerb und Gewinn gang und gäbe und auch akzeptiert; der Wettbewerb mit den Mitmeistern war Alltag. In den Quellen ist also keine grundsätzliche Markt- und Wettbewerbsfeindschaft der Handwerksmeister erkennbar. Die phasenweise recht zahlreiche illegale Konkurrenz inner- und außerhalb des eigenen Handwerks wurde aber vehement bekämpft, vor allem die Konkurrenten außerhalb der Korporation drängten im 18. Jahrhundert verstärkt auf die Märkte des Handwerks. Ihre Tätigkeit war nicht mehr gebunden an besondere Orte und Termine: illegaler Import, Hausieren und Schwarzarbeit statt obrigkeitlich regulierter Handel auf dem Marktplatz oder in der Werkstatt. Ein zeitgenössischer Begriff ist für das komplexe Gebilde aus Erlaubtem und Verbotenem, aus Akzeptiertem und Verhasstem, das hier handwerkliche Marktwirtschaft genannt wird, nicht überliefert.61 437-475, 500-503; ebd., Bd. 3, S. 704-708. Braudel trennt zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Unter Kapitalismus versteht er den Kaufmanns- bzw. Handelskapitalismus, der von Groß- und Fernhandelskaufleuten getragen wurde und an Herrschaft orientiert war. Akteure der Marktwirtschaft dagegen waren Handwerker, Bauern und Krämer, die ihre Waren auf Wochen- und Jahrmärkten oder in ihren Läden verkauften; Marktwirtschaft war gekennzeichnet von einer gewissen Transparenz und Konkurrenz, während der kapitalistische Tausch Transparenz und Kontrolle mied und Monopole anstrebte. Entgegen den Annahmen von Liberalismus und Marxismus, der Kapitalismus habe einen freien, von Konkurrenz bestimmten Markt geschaffen, sah Braudel im Kapitalismus einen »contremarché«, ein gegen den Markt gerichtetes System. Zu Braudels Konzept und der Kritik daran vgl. zuletzt Garner /Middell, 2012; Fontaine, 2014, S. 136-142. 61 Ob sich die in dieser Form beschriebene handwerkliche Marktwirtschaft auch schon vor der Frühen Neuzeit in Frankfurt nachweisen lässt, kann beim derzeitigen Stand der Forschung nicht wirklich abschließend beantwortet werden. Neuere Forschungen betonen generell, dass sich die gewerblichen Märkte in den spätmittelalterlichen Städten ausgebildet und institutionell verfestigt haben, dass aber zu dieser Zeit die Handwerke diese Märkte in geringerem Ausmaß kontrollieren konnten als bisher angenommen (vgl. Buchner /Hoffmann-Rehnitz, 2009, S. 331f.). Ein 316
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Ein ordnungspolitisches Programm des Rates lässt sich in diesem Zusammenhang nicht rekonstruieren; die Quellen lassen leider in den seltensten Fällen erkennen, welche Strategie der Rat im Einzelnen verfolgte. Auf die Beschwerden der Handwerke wurde sehr unterschiedlich, situativ reagiert. Bei den Nahrungsmittelhandwerken beispielsweise ließ sich die Obrigkeit auf keine langen Diskussionen mit den Meistern ein: Der Rat erließ nach Protesten zwar häufig neue Normen, die dann aber oft unverbindlich blieben, und ging Beschwerden gegen Illegale nur halbherzig nach; möglichst viele Produzenten welcher Herkunft auch immer sollten – so vermutlich die Strategie des Rats – die Stadt mit Lebensmitteln versorgen. Der Konsumentenschutz – und damit auch der Schutz der Ratsoligarchie – hatten Vorrang vor den Interessen der Frankfurter Nahrungshandwerke.62 Anders stellt sich die Situation beispielsweise bei den Posamentierern dar, wo es dem Handwerk im 17./18. Jahrhundert gleich mehrfach gelang, die Einführung des mechanischen Webstuhls gegen die Interessen der Kaufleute, aber auch gegen interessierte Kreise im Rat zu verhindern.63 Und bei den Schneidern tolerierte der Rat die Praktiken meist reicherer Meister, die bei größerer Nachfrage einfach mehr Gesellen beschäftigten, als es die Handwerksordnungen eigentlich zuließen.64
wichtiges regulatorisches Element der handwerklichen Marktwirtschaft war das Bürgerrecht. Wenn man berücksichtigt, welche Probleme der Frankfurter Rat im Spätmittelalter hatte, alle volljährigen männlichen Einwohner »unter das Bürgerrecht« zu bekommen, und zugleich berücksichtigt, dass Einbürgerung seit 1352 prinzipiell Vorbedingung für die Aufnahme in die Zunft bzw. das Handwerk war, dann sind das Indizien, die darauf hinweisen, dass die handwerkliche Marktwirtschaft wahrscheinlich eher ein Phänomen der Frühen Neuzeit sein dürfte (Schmieder, 2000). 62 Brandt, 2004b, S. 189-199 (exemplarisch für die Frankfurter Bäcker); Ders., 2016, S. 336-342 (Metzger). 63 Beyerbach, 1798, Bd. 4, S. 901-909; Dietz, 1925, S. 79-87; Klötzer, 1983, S. 139150; laut Klötzer soll es sich im ganzen 18. Jahrhundert um »Klagen weniger leistungsfähiger Handwerker« gegen »fabrikmäßige« Produktion gehandelt haben (ebd., S. 149, Anm. 68); man vermisst aber bei seinen Ausführungen einen Beleg für diese Behauptung. Letzteres ist nicht überraschend, da bei vielen Frankfurter Verteilungskonflikten die Quellen häufig keine weitergehenden Aussagen zu den Personen zulassen, welche die Supplikationen lancierten und unterschrieben. 64 Hussong, 1936, S. 38, 44f. 317
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7. Ohnmacht und Kooperation Eine abschließende, zusammenfassende Bewertung ist beim momentanen Stand der Forschung nicht möglich, da systematische Studien zu den vormodernen Verteilungskonflikten in und zwischen den Frankfurter Handwerken bzw. außerhalb von ihnen sowie zur Rolle des Rats in diesem Zusammenhang fehlen. Die wenigen angeführten Beispiele lassen aber erkennen, dass die Handwerksmeister jenseits der politisch-institutionellen Ohnmacht bei ihren alltäglichen Transaktionen größere Handlungsspielräume und Kontrollmöglichkeiten hatten, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Auch in der »Freyen Reichsstadt« beruhte also Herrschaft »auf der Kooperation von Obrigkeiten und Untertanen«, deren Reichweite – Kooperation und Aushandeln oder nur phasenweise Interessenkonvergenz? – aber nur im Einzelfall zu klären ist.65 Eine mögliche Ebene der Interaktion zwischen Handwerk und Rat waren die Ämter der Stadt. Bei den Metzgern beispielsweise wurde die Fleischakzise, die Schlachtsteuer, seit 1717 nicht mehr vom Rat bzw. den Ämtern eingetrieben, sondern an den Meistbietenden verpachtet. Seit 1755 konnte das Metzgerhandwerk diese Tätigkeit dauerhaft an sich binden und somit in eigener Regie die Steuer erheben; die Korporation war damit zu einem integralen Bestandteil der städtischen Verwaltung geworden.66 Mit dem Bürgerrecht stand den Meistern in den Verteilungskonflikten ein nicht zu unterschätzendes Inklusions- bzw. Exklusionsinstrument zur Verfügung, um den Rat zum Handeln zu bewegen und um beispielsweise gegen »Pfuscher« oder Personen anderer Konfession und Religion (Katholiken, Reformierte, Juden) vorzugehen. Die strukturelle Ungleichheit zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten, zwischen Inhabern des Bürgerrechts und im Vergleich dazu rechtlich Minderprivilegierten wie Beisassen, Juden und Bewohnern der Frankfurter Dörfer wurde genutzt, um bürgerliche Ordnungsvorstellungen im Rahmen einer hierarchisch strukturierten, durch rechtliche und soziale Un65 Brakensiek, 2009, S. 406. 66 Lerner, 1959, S. 236, 251, 279-281, 317-321. Systematische Studien zum Zusammenhang von Herrschaft und Verwaltung, beispielsweise inwieweit einzelne Meister oder die Handwerker von der dritten Ratsbank an der Verwaltung der Ämter beteiligt waren, fehlen für Frankfurt bis heute. Gleiches gilt für an solche Strukturen möglicherweise anschließende klientilistische Beziehungen in und außerhalb des Handwerks. Zu den Ämtern bis 1612 vgl. Meyn, 1980, S. 191-194; zum 18. Jahrhundert mit vereinzelten Hinweisen auf Handwerker in den Ämtern vgl. Ruppersberg, 1932/1982, S. 74, 77, 79 und 80. 318
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gleichheit gekennzeichneten stadtbürgerlichen Gesellschaft zu legitimieren und zu sichern. Ob es gerade die ärmeren Meister waren, die in den handwerksinternen Hierarchien unten standen, welche den Rat und die Handwerksvorsteher für ihre Interessen einzuspannen wussten, lässt sich bei der Frankfurter Überlieferung häufig gar nicht klären, da die Quellen allzu oft keine weitergehenden Informationen zu den Personen enthalten, welche die Supplikationen lanciert und unterschrieben hatten. Sicher ist aber, dass die Meister sehr konkrete Vorstellungen von dem hatten, was der Rat und seine Ämter eigentlich zu leisten hatten, nachdem die Normen einmal in der Welt waren. Mit Gehörfinden und sprachlicher Anerkennung war es aus Sicht des Handwerks nicht getan, die Untertanen erwarteten auch, dass Normen implementiert wurden.67 Sprachliche Anerkennung der Anliegen der Untertanen durch die Obrigkeit und umgekehrt die semantische und symbolische Anerkennung des Rats als Obrigkeit durch die Meister spielten bei den Verteilungskonflikten sicher eine wichtige Rolle. Nur war die Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen bei diesen Themen aufs engste auch an handfeste ökonomische Interessen und Praktiken gebunden, welche die Anwendung von Normen voraussetzen. Die Handwerker erwarteten von ihrer Obrigkeit eben nicht eine schier unendlich laufende politische ›Bewusstseinsindustrie‹, die mehr und mehr Papier produzierte, sondern auch die Durchsetzung von Normen und damit die Anerkennung ihrer Rechte. Hatten die Meister den Eindruck, dass der Rat den Beschwerden über Importverstöße oder »Pfuscherey« nicht nachging, wurde nochmals suppliziert. Wenn dann aus ihrer Sicht immer noch keine Lösung der Probleme erkennbar war, wurden die Reichsgerichte eingeschaltet, oder man griff zur Selbstjustiz und stellte beispielsweise eigene Wachen an die Stadttore oder attackierte auf offener Straße und am helllichten Tag Personen, die man für »Illegale« hielt.68 67 Gegen Schlumbohm, 1997 und Landwehr, 2000, bei denen frühneuzeitliche Gesetzgebung auf eine symbolische, rituelle Selbstdarstellung von Obrigkeiten bzw. auf die Definitionsmacht über die Wahrnehmung von Wirklichkeit reduziert wird. Schlumbohm und Landwehr gehen vom Fürsten- bzw. Flächenstaat mit geringen exekutiven Ressourcen der Obrigkeit sowie fehlenden Möglichkeiten der Informationsbeschaffung zwecks effektiver Durchsetzung der Normen aus – alles Annahmen, die für die Reichsstadt Frankfurt bezweifelt werden dürfen (vgl. Brandt, 2008, S. 252, 256-258). 68 Wolff, 1904, S. 19 (Bierbrauer); Schnapper-Arndt, 1915, S. 127-129 (Bierbrauer); Lerner, 1959, S. 217f., 234-243, 255-259, 303-313 (Metzger); Brandt, 2004b, S. 189-199 (Bäcker); Ders., 2016, S. 342-344 (Bäcker und Metzger). 319
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Die zuletzt hier vorgestellten Beispiele sollten verdeutlichen, dass sich ganz generell ein zweiter Blick auf die Geschichte des vorindustriellen Frankfurter Handwerks lohnt. Denn auf den ersten Blick erscheint die Entwicklung eindeutig: frühzeitige Entmachtung mit der Folge politischer und institutioneller Ohnmacht des Handwerks bis ins frühe 19. Jahrhundert. Bei näherem Hinsehen gestalten sich aber das Aneignen der Normen durch das Handwerk und die Ökonomie des Handwerks komplizierter. Es bleibt noch viel Forschungsbedarf, dies ist in diesem Aufsatz hoffentlich deutlich geworden. Eine neue, umfassende Studie zum Frankfurter Handwerk während der Frühen Neuzeit bleibt ein Desiderat.
Abstract In the 14th century, the Frankfurt crafts had to accept an early loss of corporate autonomy and political power, which would characterize its history until the 19th century. During the early modern period, the crafts tried to compensate for this lack of urban power through a creative use of justice – i.e. by invoking the imperial courts – and to obtain recognition of their rights and interests by the council which was dominated by the aristocracy of the city. As far as the sources reveal – the tradition is strongly influenced by the authorities due to the crafts’ early defeat –, this resulted in a partial cooperation between the craftsmen and council regarding individual trades in the 17th and 18th centuries. Only after the privileges of the city’s nobility had been abolished in the early 19th century, could the crafts enforce their own interests more successfully within the citizenry. The Frankfurt handicrafters’ economic situation during the early modern period can be described as a craft market economy which was embedded in a higher-level political context dominated by the council: the council regulated the economy, economic activities were market-oriented. Evidence of violent distributional conflicts within, between and outside the crafts exists. Examining these conflicts and employing concepts of economic anthropology and economic sociology provide new paths of investigation which go beyond the master narrative dominating Frankfurt’s historiography down to the present day.
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330
Die Stadt als Konsumgemeinschaft Urbaner Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main Julia A. Schmidt-Funke
1. Stadt und Konsum Justinian von Holzhausen haderte mit seiner Vaterstadt, als er sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts im fortgeschrittenen Alter die Frage stellte, womit ein Leben in Frankfurt eigentlich noch gerechtfertigt werden könne. Angesichts des politischen Bedeutungsverlustes, den seine Familie infolge des sogenannten Verfassungskonflikts hatte hinnehmen müssen,1 schien es für Justinian trotz der jahrhundertealten Verbindung der Holzhausen mit der Stadt nicht mehr ratsam, in Frankfurt zu leben.2 Freilich ließ sich das Herkommen für einen traditionsund standesbewussten Patrizier, wie es Justinian von Holzhausen war, nicht einfach ignorieren, so dass die Entscheidung gegen Frankfurt Punkt für Punkt erörtert und schriftlich fixiert werden musste. Justinian erstellte also eine sieben Punkte umfassende Liste, in der es unter viertens hieß: »Pro 4. Francfurt wird von allen hier ankommenden Fremden gerühmt, so wohl wegen seiner schönen lage und dass mann alles zur Nothdurft wollust und Ueppigkeit besser als an sehr vielen Orten haben könne, und es demjenigen an nichts fehle, der nur zahlen will.
1 2
Zum Verfassungskonflikt vgl. noch immer grundlegend Hohenemser, 1920. Zu seinen Auswirkungen auf das Patriziat vgl. zuletzt Hansert, 2014, S. 343-367. Vgl. Lerner, 1953a, S. 131; Lerner, 1953b, S. 175-177. 331
Julia A. Schmidt-Funke Contra 4. Frankfurts Gegend ist gewiß schön, aber jedes Land hat seine Vorzüge und Nachteile. In Frankfurt ist das Leben zu teuer, weil das Meiste von auswärts eingeführt werden muß. Bei 1.000 fl Jahreseinkommen hat man 54 fl Schatzung, 200 fl Hauszins und 150 fl für Kleidung zu rechnen, sodaß nur 600 fl für Verköstigung und gesinde bleiben. Auf dem Land lebt man dagegen billiger und Gott wohlgefälliger.«3
Wie die Position innerhalb der Sieben-Punkte-Liste verrät, stellten diese Erwägungen für Justinian von Holzhausen keinen marginalen Aspekt dar. Sie schlossen unmittelbar an Ausführungen über das Ansehen der Familie (Punkt 1), des patrizischen Familienverbands (Punkt 2) und der Stadt (Punkt 3) an, gefolgt von Gedanken über die Sicherheitslage und die medizinische Versorgung (Punkt 5), die Bildungsmöglichkeiten (Punkt 6) und die Höhe der Abzugsgelder (Punkt 7).4 Justinian von Holzhausens Ansichten über den städtischen Konsum sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Ganz davon abgesehen, dass sie wertvolles Zahlenmaterial über die Aufwendungen eines patrizischen Haushalts um die Mitte des 18. Jahrhunderts liefern, geben sie Auskunft über zeitgenössische Wertungen des Konsums. Sie reflektieren die Stereotype des frühneuzeitlichen Städtelobs, nämlich die reizvolle Umgebung und die herausragende Versorgungslage Frankfurts,5 und verbinden sie mit einem Diskurs um die hohen Lebenshaltungskosten6 und die moralischen Gefährdungen des Stadtlebens.7 Schon im Pro zeigt die Begriffswahl die Ambivalenz des Konsums an, denn Wollust und Üppigkeit implizieren Begierde und Maßlosigkeit,8 mit denen sich der zahlungswillige Konsument (»der nur zahlen will«9) als zügellos charakterisieren lässt. 3 4
5
6 7 8 9 332
IfSG, Holzhausen-Archiv, Kasten 75, Fasz. Justinian von Holzhausen. Zitiert nach Lerner, 1953a, S. 132. Vgl. ebd. Abzugsgelder waren die Gebühren, die von den Angehörigen eines Gemeinwesens bei ihrem Wegzug gefordert wurden. In Frankfurt fielen sie bis 1847 an. Vgl. Dölemeyer, 2008. Vgl. dazu Diehl, 1984; Paintner, 2010; Schmidt-Funke, 2015; Dies., 2016a, S. 159166; Stalljohann-Schemme, 2017, bes. S. 180-208; sowie den Beitrag von Marina Stalljohann-Schemme in diesem Band. Vgl. Behrends, 1771. Vgl. Borst, 1984, S. 68-75, 360-364. Vgl. Grimm, 1936; Zedler, 1748. Lerner, 1953a, S. 132.
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
Wenngleich ins Negative gewendet, verweisen die Notizen des Justinian von Holzhausen auf eine enge Verbindung von Stadt und Konsum, welcher im Folgenden weiter nachgegangen werden soll. Die Ausführungen nehmen ihren Ausgang von der Frage, inwieweit Versorgungssicherheit, Angebotsvielfalt und differenzierter Konsum konstituierende Elemente frühneuzeitlicher Urbanität bildeten,10 wobei Urbanität als eine relationale Kategorie verstanden werden muss, die erst in der Abgrenzung des Städtischen vom Ländlichen greifbar wird und die stets eine zweifache Beobachtungsebene erfordert.11 Denn zum einen lässt sich die frühneuzeitliche Stadt trotz einiger Sonder- und Zwischenformen als ein distinkter Rechts- und Wirtschaftsraum fassen, auch wenn dessen Lebenswirklichkeit sich nicht immer grundlegend vom Ländlichen unterschied. Zum anderen aber war die Stadt das Ergebnis eines Sinnbildungsprozesses, in welchem das Städtische als eine spezifische Lebensform konstruiert wurde. Urbanität wird also, so formulieren es Martina Stercken und Ute Schneider, »fassbar in den Mustern der Diskurse über die Stadt, mit kollektiven Sinnbildern und Zuschreibungen an das Gemeinwesen, seien diese vor Ort produziert oder aus dem Blickwinkel von Fremden entwickelt.«12 Die Andersartigkeit des Städtischen wird folglich wesentlich im Diskurs geformt, doch löst sie sich nicht vollständig darin auf. So beschreiben auch Wolfgang Kaschuba, Dominik Kleinen und Cornelia Kühn Urbanität als ein Spannungsfeld von »Materialität und Imagination«, als eine »Projektionsfläche«, die einerseits »eng an den Stadtraum und seine Praktiken gebunden ist«, andererseits aber aufgrund ihrer »imaginäre[n] Qualität« darüber hinausweise.13 Was heißt dies für den Zusammenhang von Urbanität und Konsum in der Frühen Neuzeit? Zunächst muss festgehalten werden, dass das Kaufen und Verkaufen sowie das Ge- und Verbrauchen von nicht selbstproduzierten Gütern zwar ein alltägliches Aktions- und Interaktionsfeld der städtischen Bevölkerung darstellte. Doch dies allein machte noch keine Besonderheit der Stadt aus. Zweifellos war der außerstädtische Raum in der Frühen Neuzeit weder rein agrarisch geprägt noch autark. Auch hier spielten sich alltägliche Warentransfers 10 Zur konstituierenden Rolle des Konsums für moderne Urbanität vgl. Miles/Miles, 2004. 11 Vgl. Kleinen/Kühn, 2016, S. 8: »Zum einen ist die Stadt der Raum, in dem urbane Akteure aktiv werden. Zum anderen ist die Stadt aber zugleich ein symbolischer Ort, der als diskursstrategisches Element Verwendung findet.« 12 Stercken/Schneider, 2016, S. 14. 13 Vgl. Kaschuba, 2015, Klappentext. 333
Julia A. Schmidt-Funke
ab,14 und die Verfügbarkeit überregionaler Konsumgüter in ländlichen Regionen ist anhand des Wanderhandels und des Haushaltsbesitzes aufgezeigt worden.15 Dennoch waren es Städte, die als Orte des Kaufens und Verkaufens imaginiert wurden.16 Eine solche Wahrnehmung wiederum war zwar das Ergebnis einer diskursiven Vereindeutigung des Städtischen, doch ruhte diese durchaus auf einem ökonomischen und rechtlichen Fundament, denn in den Städten ließen sich vom Land unterscheidbare Konsumerfahrungen machen. Die als Marktorte des Nah- und Fernhandels fungierenden Städte17 beherbergten nicht nur niedergelassene Krämer und kramende Handwerke, sondern sie gründeten als Gemeinwesen auch wesentlich darauf, Konsum durch Markt- und Gewerbeaufsicht18 und die damit zusammenhängenden Ämter, Gebäude und Plätze zu sichern und im Sinne des Gemeinwohls19 zu ordnen. Für den einzelnen ergaben sich daraus Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln, die den Umgang mit den städtischen Konsummöglichkeiten im Sinne einer zurückhaltenden, gesitteten, maß- und geschmackvollen urbanitas20 einhegten. Der hier skizzierten Bedeutung des Konsums innerhalb der frühneuzeitlichen Stadt steht eine langjährige Missachtung konsumgeschichtlicher Themen in der stadthistorischen Forschung gegenüber. Obwohl schon Max Weber in seiner vielzitierten Stadtdefinition nicht nur auf die Spezialisierung der städtischen Bevölkerung in Handel und Gewerbe sowie auf die ökonomischen Transfers zwischen Stadt und Umland abhob, sondern ausdrücklich auch auf den Konsum der inner- und außerstädtischen Bevölkerung hinwies,21 ist weder die Stadt als 14 Vgl. Kiessling, 2014. 15 Vgl. zum Hausierhandel den Überblick bei Radeff/Denzel, 2014, sowie zuletzt Ogivlie/Küpker /Maegraith, 2011. Zum ländlichen Konsum im deutschsprachigen Raum vgl. bspw. die Beiträge in Freist/Schmekel, 2013. 16 Vgl. Welch, 2005, S. 23f. 17 Vgl. Kiessling, 1989. 18 Vgl. Dilcher, 1980. 19 Zum Gemeinwohl vgl. Isenmann, 2010. 20 Vgl. Rau, 2014. 21 Vgl. Weber, 1922, S. 514: »Jede Stadt im hier gebrauchten Sinn des Wortes […] hat einen Lokalmarkt als ökonomischen Mittelpunkt der Ansiedlung, auf welchem, infolge einer bestehenden ökonomischen Produktionsspezialisierung, auch die nicht städtische Bevölkerung ihren Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen oder Handelsartikeln oder an beiden deckt, und auf welchem natürlich auch die Städter selbst die Spezialprodukte und den Konsumbedarf ihrer Wirtschaften gegenseitig aus- und eintauschen.« Zur Einordnung vgl. Heit, 2004, S. 7-9. 334
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
Raum des Konsums noch das Einkaufen als konstituierendes Element von Urbanität systematisch und epochenübergreifend erforscht worden. Lange Zeit galt das Interesse fast ausschließlich der Produktion und dem Fernhandel. Doch auch als Konsum und städtischer Einzelhandel seit den 1990er Jahren stärker thematisiert wurden, gerieten innerhalb der deutschsprachigen Forschung zunächst nur die Metropolen des (langen) 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick. Für die Beschäftigung mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt schien Konsum hingegen keine adäquate Forschungsperspektive zu sein; lediglich eine kleine Zahl von Studien wandte sich dem Thema unter sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen zu.22 Erst in jüngster Zeit hat sich dies unter dem Einfluss einer internationalen, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung zu ändern begonnen. Konsum wird nicht mehr nur als »ein Element des wirtschaftlichen Handelns […], sondern auch als Artikulation von kultureller Identität und Differenzen« untersucht.23 So werden die städtischen Räume und Praktiken des Konsumierens und der Kommodifizierung zunehmend erschlossen.24 Zudem gerät im Rahmen einer epistemologischen Aufwertung des Materiellen in den Sozial- und Geisteswissenschaften25 die Bedeutsamkeit einzelner Konsumgüter bis hin zum überlieferten Einzelobjekt in den Blick.26 Die ursprünglich sozial- und wirtschaftshistorisch geleitete Erforschung vergangener Konsumptionsformen zeigt sich damit fraglos von einer durch die cultural turns geleiteten Neuorientierung geprägt27 und erweist sich als prädestiniert für eine kulturwissenschaftliche Neuvermessung des Ökonomischen bzw. für den schon oft geforderten Brückenschlag zwischen Wirtschaftsgeschichte einerseits und Kulturgeschichte andererseits.28 Die folgenden Ausführungen zeigen die Relevanz des Konsums für das frühneuzeitliche Frankfurt am Main auf.29 Der erste Abschnitt variiert den Titel einer 22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Dirlmeier, 1978; Schnapper-Arndt, 1915. Vgl. Hahn, 2014, S. 97. Vgl. Blondé u.a., 2006a; Lesger /Furnée, 2014; Welch, 2005. Vgl. dazu aus Sicht der Frühneuzeitforschung die Überblicke von Füssel, 2015 und Siebenhüner, 2015. Vgl. u.a. Findlen, 2012; Gerritsen/Riello, 2014; Schmidt-Funke, 2018. Vgl. Bachmann-Medick, 2014. Vgl. Berghoff/Vogl, 2004; Daniel, 2004; Nolte, 1997. Die Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf meine 2016 fertiggestellte Habilitationsschrift, die derzeit für den Druck überarbeitet wird. Vgl. SchmidtFunke, 2016a. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese unveröffentlichte Fassung. 335
Julia A. Schmidt-Funke
inspirierenden Studie von Evelyn Welch aus dem Jahr 200530 und fragt nach der spatialen und temporalen Organisation des Einkaufens. In einem zweiten Schritt wird die auf Konsum bezogene »gemeinsame Ordnungsanstrengung«31 von städtischer Obrigkeit und Bevölkerung anhand der frühneuzeitlichen Aufwandsordnungen analysiert. Ein dritter Abschnitt thematisiert den Konnex von Urbanität und Konsum am Beispiel der Kleidung. Ein Ausblick schließt die Ausführungen ab.
2. Shopping in der Reichsstadt Wie sehr die Stadt von den kommerziellen Interaktionen der sie bewohnenden und besuchenden Menschen geprägt wurde, erhellt bereits der Blick auf ihre bauliche Gestalt.32 Ein großer Teil der Frankfurter Altstadt, nämlich die Zone zwischen Römerberg, Liebfrauenberg und Sankt Bartholomäus, war auf das Kaufen und Verkaufen ausgerichtet. Dies galt für viele der Wohnhäuser, deren Erdgeschoss auf den Kundenverkehr zugeschnitten bzw. denen ein hölzerner Laden vorgelagert war.33 Ebenso beherbergte eine Reihe öffentlicher Gebäude wie die Stadtwaage, das Leinwandhaus oder das Rathaus dauerhafte oder temporäre Verkaufsplätze. Dem Handel dienten zudem Gebäude, die wie die sog. Kaufhäuser im Besitz von Korporationen waren, sowie einige Häuser der bis 1616 bestehenden Zünfte. Selbst die Plätze und Gebäude von Kirchen und Klöstern waren einer kommerziellen Nutzung unterworfen. Karren, Stände und Buden unter freiem Himmel kamen hinzu, zusätzlich existierte auf Straßen, öffentlichen Plätzen und in Gasthäusern ein streng reglementierter Hausierhandel. Diese verschiedenen Verkaufsplätze bestanden im Wesentlichen über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg in ähnlicher Form fort. In ihrer Gesamtheit bildeten sie einen von hoher Kontinuität gekennzeichneten städtischen Raum des Konsums, in dem Versorgungssicherheit, Angebotsvielfalt und differenzierter Konsum auf mehreren Ebenen zum Tragen kamen. So repräsentierte der von der umgebenden Landbevölkerung beschickte mittwöchliche und samstägliche Wo30 31 32 33
336
Welch, 2005. Kästner /Schwerhoff, 2013, S. 13. Vgl. zum Folgenden Schmidt-Funke, 2016a, S. 176-205. Besonders deutlich wird dies in einer Zeichnung der Ladenbauten rund um den Dom, die im Zusammenhang mit einem Rechtskonflikt im Metzgergewerbe entstand. Abbildung bei Kaltwasser, 2000, S. 70f.
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
chenmarkt in besonderem Maß die tägliche Versorgung der Stadt.34 Marktpolizeiliche Vorgaben zielten unter anderem darauf ab, Zwischenhandel zu unterbinden, weil der wochenmärktliche Verkauf direkt durch den Erzeuger erfolgen sollte. Das für die in der Stadt aufgestellten Stände beinahe überall zu findende Prinzip, die Anbieter gleicher Waren nebeneinander feilbieten zu lassen, erleichterte nicht nur die obrigkeitliche Qualitätskontrolle, sondern forderte auch die Konsumentinnen und Konsumenten zur aktiven Auswahl auf. Zugleich machte das Nebeneinander der Verkaufsplätze die städtische Angebotsfülle unmittelbar erfahrbar. Neben Vielfalt spiegelte sich in den unterschiedlichen Verkaufsorten aber auch die Ungleichheit des sozio-ökonomischen Gefüges der Stadt. Jede einzelne Verkaufsstelle besaß eine spezifisch räumlich-zeitliche Dimension und erforderte jeweils eigene »Handlungszuschnitte«35, je nachdem, ob sie ephemer oder beständig war, ob sie offen und für jedermann (und jede Frau) einsehbar oder durch Türen und Fenster, Klappläden und Gitter, Verschläge und Mauern in ihrer Zugänglichkeit begrenzt war, ob sie die Waren in greifbarer Nähe oder dem unmittelbaren Begreifen entrückt präsentierte. Die räumlichen Arrangements, die feilgebotenen Waren und die am Verkaufsgeschehen beteiligten Personen generierten dabei Bedeutungen und Wertzuweisungen, mit denen sich soziale Positionen darstellen, bekräftigen oder hinterfragen ließen. Das Renommee eines Ortes, der Wert einer Ware und die Ehre einer Person beeinflussten sich wechselseitig und wurden in Praktiken des Kaufens und Verkaufens verhandelt. So war gerade die Zugänglichkeit des öffentlichen Markts aufgrund frühneuzeitlicher Ehrvorstellungen beschränkt, denn mit seinen Gerüchen und Geräuschen galt er als ein Ort der rohen Leute und der Frauen, auf dem die Regeln städtischen Kaufens und Verkaufens durch marktpolizeiliche Aufsicht gewährleistet werden mussten. Der Aufenthalt auf dem Markt musste mit der jeweiligen geschlechtlichen und ständischen Ehre vereinbar sein.36 Ähnliches dürfte für die Verkaufsorte innerhalb der Judengasse gegolten haben. Von der christlichen Obrigkeit streng reglementiert und von innerjüdischen Vorschriften einem eigenen Rhythmus unterworfen, bot die Enge der Judengasse Raum für Geschäfte mit Gebrauchtwaren, uneingelösten Pfändern und Diebesgut.37 Angehörige der christlichen Eliten dürften es als ungeziemend empfunden haben, 34 35 36 37
Vgl. Dietz, 1970, Bd. 1, S. 117-130. Vgl. Kuchenbuch/Schulte, 2006. Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 177, 230-231. Vgl. auch Fenske, 2004, S. 336. Den Wahrheitsgehalt und die Hintergründe des antijüdischen Stereotyps der Hehlerei hat Eibach differenziert analysiert. Vgl. Eibach, 2003, S. 354-371. 337
Julia A. Schmidt-Funke
dort persönlich einzukaufen.38 Ganz anders sah es hingegen in den Ladenlokalen der Apotheker, Spezerei- und Materialwarenhändler aus, deren eingeschränkte Zugänglichkeit aus der Exklusivität und Kostspieligkeit ihres Warenangebots resultierte. Arzneien, rare und exotische Substanzen, Gewürze und feines Konfekt wurden hier in einer Verkaufsumgebung feilgeboten, die auf das mit den Handelswaren verbundene Wissen und die ihnen zugeschriebene Exotik rekurrierte.39 Mohrenbilder, exotische Vögel und das unverzichtbare Krokodil, eine sorgfältige Magazinierung der Waren und ihre gefällige Präsentation in bunten Fayencen unterstrichen die Würde dieser Verkaufsräume, die deshalb modellgebend für die Gestaltung von Sammlungs- und Museumsräumen werden konnten.40 Hierarchien der Orte, Waren und Menschen drückten sich ebenso in den Verkaufsplätzen des periodischen Messehandels aus. So stellten die von den finanzstarken Luxuswarenhändlern aus Nah und Fern angemieteten Stände in den zentralen Schwanenhallen des Römers einen Ort dar, der von den höchsten Standespersonen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, nämlich den angereisten Adligen umliegender Höfe bzw. deren Agenten, besucht wurde. In den Kirchen und Klöstern wurden zu Messezeiten vornehmlich Werke der Kunst und der Bildung angeboten, etwa Bücher, Goldschmiedearbeiten und Gobelins. Auf dem untersten Rang der Verkaufsplätze rangierten hingegen die unter freiem Himmel und peripher außerhalb der Stadtmauern am Mainufer aufgestellten Stände, die beispielsweise geringwertige ›Pfennwertwaren‹ feilboten.41 Der Messehandel war für die Reichsstadt Frankfurt bekanntlich von überragender Bedeutung.42 Die Messen bescherten der städtischen Bevölkerung aufgrund der kalkulierten Ausnahmesituation einer von Handelsbeschränkungen freien Zeit ökonomische Spielräume, die andernorts nicht bestanden. Halbjähr38 Die Frankfurter Patrizierfamilie zum Jungen bediente sich jüdischer Mittelsmänner, um in der Judengasse Silbergeschirr einkaufen zu lassen. Vgl. SchnapperArndt, 1915, Bd. 2, S. 108, 111. Die Beschreibungen der Judengasse aus dem 18. Jahrhundert betonen Schmutz, Gestank und Zudringlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner, sie bedienen sich damit jedoch antijüdischer Stereotype, so dass kaum entschieden werden kann, inwiefern die Schilderungen zutreffend sind. Vgl. Diehl, 1984, S. 58, 66, 72, 74, 92, 100f. 39 Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 187-190. 40 Vgl. Holm, 2018. 41 Vgl. Rothmann, 1998, S. 108-118; Schmidt-Funke, 2016a, S. 193-197; Wagner, 2014, S. 192-202. 42 Vgl. grundlegend Koch, 1991. 338
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
lich bot das Messegeschäft den Frankfurterinnen und Frankfurtern eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, denn auf den Messehandel richteten sie ihre Produktion, Dienstleistungen und Geldgeschäfte aus. Zugleich war die Messe eine regelmäßig wiederkehrende Gelegenheit, um Geld auszugeben, denn das Frankfurter Messegeschehen lag keineswegs nur in den Händen der Großhändler und Bankiers.43 Vielmehr trug die frühneuzeitliche Frankfurter Warenmesse stets auch den Charakter eines Verbrauchermarkts, wie er für kleinere Jahrmärkte typisch war. Auf den Messen kauften einheimische wie fremde Verbraucherinnen und Verbraucher Waren und gebrauchsfertige Güter, die sonst nicht oder nur teurer erhältlich waren.44 Diese Warenfülle fand als Topos schon früh Eingang in das Frankfurter Städtelob: »Waß nymantz hott/vynd men by dyr/Du bist dem romschen rich eyn zyr«, dichtete etwa 1501 Johann Steinwert von Soest.45 Trotz oder gerade wegen dieser überragenden Bedeutung als Verbrauchermarkt sind periodische Märkte wie die Frankfurter Messe von der wirtschaftshistorischen Forschung als gleichsam archaische Verkaufsformen einer vorkapitalistischen Zeit interpretiert worden, die im Zuge fortschreitender Kommerzialisierung durch dauerhafte Formen des Verkaufs abgelöst wurden. Jüngere Studien haben demgegenüber herausgearbeitet, dass selbst im frühneuzeitlichen Westeuropa nicht die Abfolge verschiedener Verkaufsformen, sondern deren Nebeneinander üblich war: »shops did not replace systems of periodic and collective retail.«46 Ein starker verstetigter Einzelhandel, wie er gleichwohl für die Metropolen westeuropäischen Typs kennzeichnend wurde, spielte im Alten Reich augenscheinlich eine geringere Rolle, weil der periodische Messehandel mit der Dezentralität bzw. Multizentralität des deutschen Städtenetzes korrespondierte. Von der geringeren Einzelhändlerdichte im deutschsprachigen Raum eine Art ökonomische Entwicklungsverzögerung abzuleiten, erscheint deshalb als problematisch.47 Einmal vom Odium der Rückständigkeit befreit, geraten die Frankfurter Messen als diejenigen zentralen Konsumereignisse in den Blick, als die sie auch von den frühneuzeitlichen Menschen wahrgenommen wurden: »Das Hänschen und der Hans/der große und der klein/Das Mägdgen und der Bub/mußt in der 43 Die generalisierende Einschätzung Markus A. Denzels, dass der Detailhandel auf den Messen nebensächlich gewesen sei, deckt sich nicht mit meinen Frankfurter Forschungsergebnissen. Vgl. Denzel, 2014. 44 Beispiele dafür bei Schmidt-Funke, 2016a, S. 205-216. 45 Steinwert von Soest, 1984, S. 209. 46 Vgl. Blondé u.a., 2006b, S. 12-16. 47 Vgl. Ogilvie, 2010, S. 302. 339
Julia A. Schmidt-Funke
Messe sein.«48 Das hier von einer Flugschrift des späten 17. Jahrhunderts beschriebene »gewimmel« und »getümmel«49 der Messebesucher, die nicht nur vom messezeitlichen Warenangebot, sondern auch von Schaustellern und Lotterien angezogen wurden, zählte zwar fraglos zu den Topoi des frühneuzeitlichen Frankfurtbildes. Doch die große Zahl von Buden und Ständen, die über die Jahrhunderte in der am nördlichen Mainufer gelegenen Frankfurter Altstadt aufgeschlagen wurden, gibt einen Hinweis darauf, wie voll die Stadt während der Messe tatsächlich war.50 Keineswegs spiegeln diese Zahlen einen Niedergang der Frankfurter Messe im 18. Jahrhundert wider, vielmehr verzeichneten gerade die Jahre um 1800 einen Zuwachs an Ständen.51 Typische Handelsgüter des messezeitlichen Verbrauchermarkts stellten über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg Kurzwaren und Konfektionskleidung, Blechwaren und Keramik, Seife und Konfekt, Spielzeugpferde und Tischdecken dar. Die Messen werden damit als zentrale Absatzmärkte seriell gefertigter Gebrauchsgüter fassbar, mit denen sich die teils weitgereisten Messebesucher versorgten. So erinnerte sich beispielsweise der Basler Thomas Platter in seiner um 1570 entstandenen Autobiographie »[…] von uns fuhren immer zwei gen Frankfurt, so wollten dann die Weiber, man sollte viel kramen; die wollte hübsche Kissen, die zinnen Geschirr, ich kaufte eiserne Häfen und brachte etliche Male ein ganzes Faß voll gekramter Dinge; aber Geld wenig.«52 Diese Zeilen illustrieren in Platters Text seine zeitweilige, wenig ertragreiche Geschäftstätigkeit im Buchwesen und sind somit nicht frei von Stilisierung. Doch gerade deshalb machen sie deutlich, wie groß die Anziehungskraft der auf der Frankfurter Messe angebotenen Gebrauchsgüter für frühneuzeitliche Konsumentinnen und Konsumenten war – die Frankfurter Erfahrung konnte in Platters Autobiographie als Chiffre für das Unglück desjenigen fungieren, der der Verführung des Warenangebots erlag, ohne es sich leisten zu können. Dank der Messen und ihres überragenden Einflusses auf den Handel und das Gewerbe der Stadt war im frühneuzeitlichen Frankfurt wahrscheinlich wirklich nahezu alles zu bekommen, was frühneuzeitliche Konsumentinnen und Konsumenten begehrten. Dazu zählten zunehmend auch globale Güter. In dem Maß, in dem Städte innerhalb des transkontinentalen Handels als »Tore zur Welt«53 48 49 50 51 52 53 340
Jorman, 1922, S. 5. Ebd., Titelblatt. Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 200. Vgl. Dietz, 1970, Bd. 1, S. 108. Platter, 1911, S. 131. Ertl, 2014.
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fungierten, war urbaner Konsum daher stets auch ein globaler Konsum. Bereits einige der Gaben, die im Rahmen des im 13. Jahrhundert entstandenen messezeitlichen Rituals des Frankfurter Pfeifergerichts überreicht wurden (»einen schön gedrechselten hölzernen Pocal mit Pfeffer angefüllt« und »ein paar Handschuhe, wundersam geschlitzt, mit Seide besteppt und bequastet«),54 reflektierten mit Pfeffer und Seide die Relevanz außereuropäischer Güter.55 In der Frühen Neuzeit wurde die Einbindung Frankfurts in globale Handelsnetze durch die Verfügbarkeit von Edelsteinen und Textilien, von Porzellanen und Fayencen, von Genussmitteln und Gewürzen für Frankfurter Konsumentinnen und Konsumenten mehr und mehr erfahrbar; auch entstanden mit den drei Frankfurter Kaffeehäusern im ausgehenden 17. Jahrhundert spezifisch urbane Orte des globalen Konsums.56 Selbst für die weniger zahlungskräftige Frankfurter Kundschaft lässt sich beobachten, dass sie in Form schlichten Porzellans, gemischter Seidengewebe, einfacher Baumwollwaren oder gestreckten Kaffees Anteil am globalen Konsum hatte57 bzw. sich notfalls durch Diebstahl Zugang dazu verschaffte.58 Viele Erzeugnisse des Kunst- und Luxusgütermarkts blieben jedoch einer reichen Käuferschicht vorbehalten, zu der nicht nur Patrizier, Kaufleute und Bankiers gehörten, sondern auch Angehörige des Hochadels, von denen sich einige sogar dauerhaft in Frankfurt niederließen. So lebte der regierende Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht in seiner thüringischen Residenz, sondern zur Miete in Frankfurt, wo er die konsumtive Vielfalt der Messestadt genoss.59 Dies galt ebenso für Prinzessin Henriette Amalie von Anhalt-Dessau,60 die 1753 im vor den Toren der Stadt gelegenen Bockenheim ein Anwesen erwarb und zusätzlich ein Haus innerhalb Frankfurts anmietete.61 Anton Ulrich und Henriette Amalie, die in Frankfurt umfangreiche Ankäufe für ihre Sammlungen an Gemälden, Juwelen und Mineralien tätigten, stehen für eine Verbindung von urbanem Konsum und adligem 54 Goethe, 1811, S. 40. 55 Zum Pfeifergericht vgl. Plechatsch, 1991. Auf Pfeffer und Seide als Chiffren globaler Verflechtung im Mittelalter verweist auch Ertl, 2008. 56 Vgl. Lersner, 1706-1734, Bd. 1.1, S. 28; Dietz, 1970, Bd. 4.1, S. 208; SchnapperArndt, 1915, Bd. 1, S. 351. 57 Vgl. u.a. McCants, 2007; Hochmuth, 2008, S. 126-133; Schmidt-Funke, 2015. 58 Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 156-158. 59 Vgl. Fischer, 2015; Schmidt-Funke, 2016b. 60 Vgl. Grosskinsky/Michels, 2002. 61 Vgl. Dettmar /Michels, 2002, S. 13f. 341
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Lebensstil, den Justinian von Holzhausen zur gleichen Zeit aus seinem patrizisch-adligen Selbstverständnis heraus ablehnte. Möglicherweise konnten der Herzog von Sachsen-Meiningen und die Prinzessin von Anhalt-Dessau beides aber auch nur deswegen so gut miteinander vereinbaren, weil sie auch sonst gegen Konventionen ihrer hochadligen Standeskultur verstießen.
3. Das Ordnen der Stadt im Konsum Wenn die Stadt durch das ihr wesenhafte Marktgeschehen ein Ort des Warentausches war, der sich gegenüber dem Umland durch erhöhte Warenverfügbarkeit und -vielfalt auszeichnete, ist es naheliegend, dass auch die Bemühungen zur Steuerung übermäßigen Konsums zunächst und vor allem in der Stadt ansetzten. Tatsächlich waren die Aufwandsgesetze, die in der Tradition der leges sumptuariae den individuellen Aufwand in Kleidung und bei Festen regulierten, Hervorbringungen der spätmittelalterlichen Kommunen.62 Mit erhöhter Warenverfügbarkeit allein ist ihr Aufkommen jedoch nicht zu erklären, vielmehr scheint es geradezu ein Kennzeichen der Aufwandsgesetze zu sein, dass sie als Lösungen für eine ganze Reihe von Problemen angesehen wurden. Obrigkeitliche Konsumbeschränkungen stellten angesichts bedrohlich wahrgenommener Veränderungen den Versuch dar, gute Ordnung wiederherzustellen, wobei sich der von den Zeitgenossen empfundene Ordnungsbedarf aus vielen Quellen speiste, darunter unmittelbar erfahrene Krisen und Dynamiken wie Einwanderung, sozialer Aufstieg, Geldentwertung, Kriege oder Seuchen. Aufwandsordnungen sollten den städtischen Konsum ebenso mit religiös geprägten Normen wie Sittlichkeit und Mäßigkeit in Einklang bringen, wie sie die bürgerliche Wirtschafts- und Solidargemeinschaft vor ökonomischen Belastungen in Form individueller und kollektiver Verschuldung bewahren sollten. Sie sollten angesichts wachsender sozialer Heterogenität die concordia der städtischen Eidgenossenschaft erhalten63 und gleichzeitig garantieren, dass sich der politisch, ökonomisch oder ständisch begründete Vorrang einzelner in der materiellen Welt widerspiegelte. 62 Zum deutschsprachigen Raum vgl. u.a. Bulst, 1998; Ders., 1993; Ders., 2003; Eisenbart, 1962; Iseli, 2009; Lüttenberger, 2003; Schwerhoff, 1990; Weller, 2006; Ders., 2014; Zander-Seidel, 1993. Aus angelsächsischer Perspektive vgl. Hunt, 1996. Zu Frankfurt vgl. Keller, 2012; Schmidt-Funke, 2016a; Worgitzki, 2000; Dies., 2002. 63 Vgl. dazu den Beitrag von Joachim Eibach in diesem Band. 342
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
Der Gedanke eines abgestuften Konsums im Sinne standesgemäßen Aufwands wurde erst in den Jahrzehnten um 1500 zu einem bestimmenden Element der Aufwandsordnungen. Seit dieser Zeit trifft es zu, dass die Kleiderund Feierordnungen eine Art »Essenz«64 der vormodernen Ständegesellschaft darstellten, weil sie dem zentralen Ordnungsprinzip ständischer Ungleichheit Ausdruck verschafften, und zwar in einer für die vormoderne Anwesenheitskommunikation typischen Form: durch die sicht- und damit lesbare Staffelung von Kleidung und Schmuck, Speisen und Getränken, Geschenken und Dienstleistungen. In Frankfurt brach sich dies vergleichsweise früh, nämlich bereits in den Jahren 1468 und 1488, Bahn, indem Ratsangehörigen und Großkaufleuten ein größerer Aufwand zugebilligt wurde als Krämern und Handwerkern. Nicht zuletzt dieses frühe Aufkommen ständischer Durchgliederung in Frankfurt lässt Zweifel an der in der Forschung diskutierten These aufkommen, wonach dieses Prinzip von außen – nämlich vom entstehenden Territorialstaat – in die Städte hineingetragen worden sei, weil es dem Wesen des Bürgerverbands eigentlich fremd gewesen sei.65 Zutreffender dürfte es sein, ein in den Städten verankertes Widerspiel von genossenschaftlicher Homogenität und sozio-ökonomischer Heterogenität anzunehmen. Ausgehend von der zunächst städtischen und dann auch territorialen Regulierung des Aufwands flossen entsprechende Vorgaben im 16. Jahrhundert in die Reichspoliceyordnung von 1530 ein.66 In den Bestimmungen »Von unordenlicher und köstlicheyt der kleydung«67 wurde urbaner Konsum 1530 durch die Abgrenzung zum Land einerseits und zum Hoch- und Niederadel sowie zu dem durch Promotion ausgezeichneten Gelehrtenstand andererseits definiert. Während die ländliche Bevölkerung unterschiedslos dem Stand der gemeinen Bauersleute zugerechnet wurde, dem das Tragen ausländischer Tuche, das Anfertigen stoffreicher und aufwendig geschlitzter Oberbekleidung, die Verwendung von Gold- und Edelsteinschmuck sowie kostbarem Pelz verboten war, wurde im Fall der städtischen Bevölkerung eine Binnengliederung vorausgesetzt. Dem undifferenzierten ländlichen Konsum wurde damit ein differenzierter urbaner Konsum gegenübergestellt. Krämer und Handwerker, Kaufleute und »gewerbs leut«68 sowie die ratsfähigen Geschlechter markierten jeweils einen von drei städtischen Ständen, denen eine gestaffelte Verwendung von Stoffen, Kopfbede64 65 66 67 68
Weller, 2014, S. 206. Vgl. Bulst, 1988, S. 45-47; Eisenbart, 1962, S. 70. Vgl. Weber, 2002, S. 141-147. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. 343
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ckungen, Schmuck und Pelz zugewiesen wurde. Das dem untersten städtischen Stand Zugebilligte überstieg dabei im Hinblick auf erlaubte Stoffe, Pelze und Schmuck deutlich das den Bauersleuten Gestattete. In Auseinandersetzung mit den Reichspoliceyordnungen und in Reaktion auf die massenhafte Einwanderung niederländischer Glaubensflüchtlinge entstand im Frankfurt der 1570er Jahre ein von den mittelalterlichen Vorläufern klar zu unterscheidender Typus ständisch untergliederter Aufwandsordnungen, der mit einer Reihe von Modifikationen bis ins 18. Jahrhundert hinein gültig blieb. Die städtische Einwohnerschaft sollte nach außen durch ein Höchstmaß an Konsum sichtbar von denjenigen unterschieden sein, die in ständischer Hinsicht über ihnen standen. Nach innen zogen die Aufwandsordnungen eine stetig wachsende Zahl ständischer Differenzierungen ein, die ein immer größeres Spektrum an Waren integrierten und damit versuchten, die städtische Angebotsvielfalt in den Griff zu bekommen. Die detaillierten Vorgaben sollten es ermöglichen, jedem einzelnen einen Platz in der städtischen Hierarchie zuzuweisen. Das auf diese Weise entworfene ständische »Koordinatensystem«69 abgestuften Konsums gab allerdings nicht nur dem patrizisch dominierten Rat als städtischer Obrigkeit oder den um Sittlichkeit und Gottesfurcht besorgten lutherischen Predigern,70 sondern der gesamten Bevölkerung ein Mittel an die Hand, um die in ihren Augen richtige soziale Ordnung immer wieder aufs Neue herzustellen bzw. durchaus konfliktreich über sie zu verhandeln. Da der auf finanziellem Vermögen beruhende Konsum in der Lage war, die an Anciennität und Erwerbsweise gebundene ständische Hierarchie der Stadtgemeinschaft in Frage zu stellen, drückten sich Dynamiken und Verwerfungen innerhalb der Stadtbevölkerung auch und gerade auf der Ebene der Aufwandsordnungen aus, etwa zwischen Rentiers und Großkaufleuten einerseits und Krämern und Handwerkern andererseits, zwischen lutherischem Patriziat und reformierten Kaufleuten, zwischen geburtsständischen und akademischen Eliten, zwischen Frauen und Männern, Hauseltern und Gesinde. Auch das Verhältnis zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung Frankfurts wurde, wenn auch in anderer Form, im Medium der Aufwandsordnungen verhandelt.71 Die jüdische Gemeinde besaß zunächst in Fragen des Aufwands eine faktische Rechtsautonomie und erließ dazu eigene Vorgaben. Im ausgehenden 17. Jahrhundert stellte der Rat dies jedoch in Frage, indem er 1681 69 Schwerhoff, 1990, S. 119. 70 Vgl. Grabau, 1913, S. 320-387. 71 Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 465-467. 344
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eine Verordnung gegen den Aufwand bei jüdischen Hochzeiten in Kraft setzte.72 Den Anlass bot die Eskalation eines innerjüdischen Konflikts, in den eine der beiden kontrahierenden Parteien den Rat einschaltete, nachdem die Gegenseite auf einem Hochzeitsfest in der Judengasse einen verunglimpfenden Maskenzug veranstaltet hatte.73 Dies stellte zwar mit Blick auf die innerjüdische Auseinandersetzung eine erfolgreiche Strategie dar, allerdings um den von der gesamten Gemeinde zu zahlenden Preis, dass sich dem christlichen Rat nun eine willkommene Gelegenheit bot, die jüdische Rechtsautonomie zu beschneiden. Als dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts bekannt wurde, dass sich die jüdische Gemeinde eine neue Aufwandsordnung gegeben hatte, nahm dies der Rat nicht länger als autonomes Recht hin und schritt ein.74 In den Bemühungen, die in den Aufwandsordnungen formulierten Normen innerhalb des städtischen Gefüges umzusetzen, treten die Aporien kommunaler Herrschaftsausübung immer wieder hervor. Auf der einen Seite wurden die an die gesamte (christliche) Einwohnerschaft gerichteten Konsumbeschränkungen regelmäßig aktualisiert, innerhalb der Stadt in mündlicher und gedruckter Form publiziert und Verstöße im Rahmen der Ratsgerichtsbarkeit durch das im 16. Jahrhundert entstandene Sentenamt geahndet. Auf der anderen Seite verhallten die Aufrufe einzelner Ratsherren oder der lutherischen Stadtpfarrer, die Bestimmungen zu verschärfen und ihre Befolgung noch strenger zu überwachen, oftmals ungehört. Auch erwies es sich als unmöglich, die differenzierten Regelungen zu Stoffqualitäten in die Praxis umzusetzen, weil dies eine kaufmännische Expertise verlangte, die bei den Beteiligten in der Regel nicht vorhanden war. Auf Seiten der Konsumentinnen und Konsumenten wurde zuweilen demonstrativ gegen die Vorschriften verstoßen, wurden Ausnahmegenehmigungen eingeholt oder ein rechtlicher Sonderstatus beansprucht; in einem Fall kam es sogar vor, dass Unbekannte durch das Abreißen der öffentlich ausgehängten Ordnung ihre Missbilligung äußerten. So hielten sich die Aufwandsordnungen zwar über mehrere Jahrhunderte hinweg als Instrumente kommunaler Ordnungsbemühungen, und die städtische Obrigkeit konnte durch ihre Ausarbeitung, ihren Erlass und ihre Überwachung Regierungsfähigkeit und -tüchtigkeit demonstrieren. Insgesamt stellten sie aber ein umstrittenes politisches Mittel dar, dessen Nutzen und Wirksamkeit bereits im 16. Jahrhundert kontrovers diskutiert wurde, bevor es im 18. Jahrhundert vollends seine Legitimität verlor. In Frankfurt wurde eine 72 Vgl. Beyerbach, 1798, S. 182f. 73 Vgl. Kasper-Holtkotte, 2010, S. 296. 74 Vgl. Schmidt-Funke, 2016a, S. 467f. 345
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letzte Aufwandsordnung 1731 erlassen, doch scheint sie nicht mehr in Anwendung gekommen zu sein.75
4. Urban Styles Die Aufwandsordnungen machten es sich zunutze, dass Konsum eine trennende und verbindende Wirkung entfalten konnte, d.h. sie beruhten darauf, dass Konsum an Prozessen der Identitätsbildung wesentlich beteiligt ist. Der Mensch, so die Soziologin Aida Bosch, brauche Dinge, »um seine soziale Rolle und Zugehörigkeit, seine Position in der Gesellschaft zu zeigen und auszudrücken.«76 Er benötige dingliche Objekte zudem, »um sich als Person zu vergewissern und eine symbolische Gestalt für biographisch relevantes Geschehen zu finden.«77 Eine so überzeitlich formulierte Feststellung fordert freilich die Frage heraus, in welchem Maß sich solche anhand heutiger Gesellschaften formulierten Gewissheiten auf die Frühe Neuzeit übertragen lassen.78 Strittig ist dabei sicherlich nicht, dass Konsum sozialen Status anzeigt, denn genau dies stellte lange Zeit den dominanten Interpretationsstrang dar. Dabei sind die Konzepte des demonstrativen Konsums (conspicuous consumption), der Distinktion und des trickledown, um welche die soziologischen Modelle von Werner Sombart, Thorstein Veblen oder auch Pierre Bourdieu kreisen,79 von der Forschung über Gebühr strapaziert worden, indem Nachahmung der sozial Höherstehenden und Abgrenzung von den sozial Niedrigerstehenden als ubiquitäres Prinzip angenommen worden ist. Für die ständische Ordnung der Frühen Neuzeit, die auf gewollter Ungleichheit beruhte, leuchtet dies zwar zunächst ein. Gleichwohl ist schon vor Jahren Kritik daran geübt worden, dass der einseitige Blick auf ständische Distinktion und Nachahmung die agency der Akteure und insbesondere den Eigensinn der Macht- und Mittellosen zu wenig berücksichtigt habe.80 Dementsprechend betont auch die jüngere Materielle-Kultur-Forschung, dass Bourdieu »die soziale 75 76 77 78 79 80
346
Vgl. ebd., S. 481f. Bosch 2014, S. 76. Ebd. Vgl. Schlögl, 2008, S. 156. Vgl. Bourdieu, 1987; Sombart, 1967; Veblen, 2007. Campbell, 1993; Certeau, 1998, S. 13; Dinges, 1997, S. 197; Schindler, 1992, S. 35-40.
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Dingfunktion auf soziale Ungleichheit« verkürzt habe.81 Insofern ist verstärkt danach zu fragen, was im frühneuzeitlichen Umgang mit den Dingen außer ständischer Distinktion noch alles zum Tragen kam. Zu berücksichtigen sind also kollektive Identitäten jenseits ständischer Hierarchien, also etwa verwandtschaftliche, geschlechtliche, ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten, wobei jeweils zu prüfen ist, wie sich das Spannungsverhältnis von Distinktion und Kohäsion gestaltete. Zu untersuchen ist zudem, wo Raum für konfliktreiche oder kreative Umdeutungen der sich materiell manifestierenden Prestigeordnung bestand. Und zu fragen ist schließlich auch, in welchem Maß und unter welchen Voraussetzungen frühneuzeitlicher Konsum individuelle Subjektentwürfe ermöglichte. Der Kleidung, die in den Aufwandsordnungen zum zentralen Distinktionsmedium erhoben wurde, kam für die dingbezogene Formulierung kollektiver oder personaler Identitäten fraglos eine tragende Rolle zu.82 Zu Recht hat zwar die Forschung herausgearbeitet, dass in der Frühen Neuzeit die Norm einer äußerlich klar unterscheidbaren Struktur des sozialen Gefüges, einer »Lesbarkeit der Welt«,83 bestand, nach der nicht nur ständische, sondern auch geschlechtliche und religiöse Zugehörigkeiten sowie die geographische Herkunft durch Kleidung markiert sein sollten. Dennoch ist es keineswegs klar, inwieweit sich diese Norm im Kleidungsverhalten niederschlug. Von der trügerischen Eindeutigkeit obrigkeitlicher Vorgaben zu standesgemäßer oder stigmatisierender Kleidung kann jedenfalls nicht unmittelbar auf die tatsächlichen vestimentären Praktiken geschlossen werden, und auch bei bildlichen Zeugnissen sind die jeweiligen Darstellungstraditionen und -intentionen zu beachten. Daher muss beispielsweise offen bleiben, inwieweit sich die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner Frankfurts in ihrer Kleidung von ihren christlichen Nachbarinnen und Nachbarn unterschieden.84 Einerseits finden sich zwar bis ins ausgehende 18. Jahrhundert Hinweise auf eine spezifisch jüdische Tracht. Andererseits können die seit dem 15. Jahrhundert propagierten antijüdischen »Stigma-Symbole«85 auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass Jüdinnen und Juden an ihrem Äußerem gerade nicht unmittelbar zu erkennen waren, weshalb das Tragen diffamierender Erkennungszeichen gefordert wurde. Vor dem Hintergrund dieses uneindeutigen Befunds veranlasst die in einer überlieferten Kleiderordnung fassbare innerjü81 82 83 84 85
Hellmann, 2014, S. 84. Vgl. u.a. Keupp, 2010; Rublack, 2010. Dinges, 1993. Vgl. zum Folgenden Schmidt-Funke, 2016a, S. 462-473. Vgl. Jütte, 1993. 347
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dische Differenzierung86 zu der Frage, ob die Unterschiede zwischen armen und reichen Frankfurterinnen und Frankfurtern nicht größer waren als die zwischen christlicher und jüdischer Bevölkerung. Gleichfalls schwer zu ermessen ist es, ob bzw. wie lange die große Gruppe der niederländischstämmigen Frankfurter Bevölkerung eine distinkte Kleidungspraxis betrieb. Der nach Frankfurt emigrierte flämische Maler Lucas van Valckenborch bildete im ausgehenden 16. Jahrhundert Frauen in Antwerpener Tracht vor Frankfurter Kulisse ab,87 und tatsächlich ist der charakteristische schwarze Kopfmantel dieser Tracht, die sog. Heuke, 1624 in einem Inventar als Kleidungsstück der aus einer vermögenden Antwerpener Seidenhändlerfamilie stammenden Margaretha de Walperge nachweisbar.88 Auch das Inventar der niederländischstämmigen Anna de Litt, Ehefrau des reichen Spezereikrämers Abraham de Hamel, weist 1636 den Besitz einer Heuke nach.89 Dagegen lässt sich der Kopfmantel im etwas früher (um 1613) inventarisierten Besitz der Frankfurter Patrizierin Katharina Humbracht nicht finden; stattdessen taucht hier die alternative Mantelform der Husecke auf, die auch für das Nürnberger Patriziat dieser Zeit belegt ist.90 Die Husecke, in Frankfurt als Hosecke oder Hosäcke bezeichnet, war ein bodenlanges, mantelartiges Frauengewand mit seitlichen Ärmelschlitzen.91 Ähnlich wie bei der Schaube handelte es sich um ein materialreiches Obergewand, dessen Stoffqualität in den zeitgenössischen Aufwandsordnungen reguliert wurde.92 In den Frankfurter Kleiderordnungen treten Husecken als Kleidungsstücke der höheren Stände hervor. Während ihre Anfertigung aus edelmetalldurchwirkten Stoffen den außerhalb der Bürgergemeinde stehenden Standespersonen vorbehalten bleiben sollte, war es ein Privileg patrizischer Frauen, Husecken aus Atlas oder Damast zu tragen.93 Die Garderobe der Katharina von Humbracht wies tatsächlich neben schlichten Husecken aus Wollstoff solche kostbaren Gewänder auf, etwa eine Husecke aus 86 Vgl. Schudt, 1714-1718, Bd. 4, III. Continuation, S. 74-106. 87 Vgl. Schmidt-Funke, 2010, S. 227. 88 ISG Ffm, Rechnei vor 1816, Nr. 344, fol. 13v. Zur Familie Walperge vgl. Dietz, 1971, Bd. 2, S. 317. 89 Vgl. Ruppersberg, 1928, S. 18. 90 Vgl. Grimm, 1877; Zander-Seidel, 1990, S. 87-90. 91 Vgl. ebd., S. 87. 92 Für Frankfurt ist die Husecke zwischen 1576 und 1640 in den Aufwandsordnungen nachweisbar. Zu Nürnberg vgl. Zander-Seidel, 1990, S. 88f. 93 Vgl. ISG Ffm, Ratsverordnungen 1576, fol. Ciir; ISG Ffm, Edikte, Bd. 1, Nr. 52, S. VIIf. 348
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nelkenfarbenem Damast mit zwei Samtverbrämungen am Saum, die auf 15 Gulden taxiert wurde, sowie eine schwarze Husecke aus moiriertem Schamlott mit Samtleisten im Wert von 13 Gulden.94 Auch wenn es aufgrund der fragmentarischen Frankfurter Überlieferung nicht möglich ist, weitere Belege anzuführen, verweisen Heuke und Husecke möglicherweise auf die sichtbare Unterscheidbarkeit von Frauen des patrizischen Familienverbands, deren Kleidungsstil dem des oberdeutschen Patriziats in Nürnberg oder Augsburg nahestand, und den reichen Einwandererfrauen aus den Niederlanden, die sich auf niederdeutsche Art kleideten. In der Wahl des Obergewandes spiegelte sich demnach nicht nur die ständische Hierarchie der Stadt, sondern auch die migrationsbedingte Diversität des frühneuzeitlichen Frankfurt wider. Diese konnten die Zeitgenossen auch auf anderer Ebene erfahren. So unterschied eine Frankfurter Bäckerordnung des Jahres 1595 zwischen deutschen und welschen Backwaren,95 und eine Aufwandsordnung des Jahres 1640 reagierte darauf, dass vor allem auf den Hochzeitsfesten der niederländischstämmigen Bevölkerung aufwendige Schauessen sowie Konfekt, Marzipan »und dergleichen Schleckerey« aufgetragen würden.96 Dass sich solche Abweichungen und Unterschiede im Konsum in den Quellen niederschlugen, gründete darauf, dass sie mit der städtischen Ordnung – Nahrungsschutz hier, Aufwandsregulierung dort – in Einklang gebracht werden mussten. Während Heuken und Husecken eine gruppenspezifische Differenz markierten, bot die jeweilige Gestaltung der Kleidungsstücke auch Raum für individuelle Entwürfe: Vestimentäre Praktiken hatten das Potential, gezogene Grenzen in kreativer Aneignung zu überschreiten, eigene Akzente zu setzen und individuelle Beziehungen abzubilden.97 Schon vor den Dandys des 19. Jahrhunderts scheint das städtische Leben gerade (jungen) Männern der Eliten solche Entfaltungsmöglichkeiten geboten zu haben.98 Ein betont modisches Auftreten gehörte zu den Rollen, die jungen Männern zugeschrieben und bis zu einem gewissen Maß auch zugestanden wurden. Ähnlich wie Frauen, die nach zeitgenössischen Vorstellungen generell als anfällig für Verschwendung galten, wies der Hoffartsdiskurs jungen Männern einen Hang zu übermäßigem Kleidungsaufwand zu.99 Für Frankfurt gibt es einige Belege dafür, dass das modische Auftreten junger 94 95 96 97 98 99
Vgl. ISG Ffm, Holzhausen Archiv, Fasz. Lit. T, Nr. 23, fol. 8v. Vgl. Schmidt, 1914, Bd. 2, S. 48. Vgl. ISG Ffm, Edikte, Bd. 3, Nr. 23, S. 9. Vgl. Freist, 2013a; Dies., 2013b. Vgl. Rublack, 2010, S. 10; Schmidt-Funke, 2016a, S. 380-388. Vgl. Knaust, 1567, fol. 48r-49v; Musculus, 1563, fol. Diiiv-Diiiiv. 349
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Männer als so provozierend empfunden wurde, dass es obrigkeitlich reglementiert wurde. So ermahnte der Rat 1492 und 1504 angesichts eines für Frankfurt angekündigten Besuchs Maximilians I. die jungen Gesellen der patrizischen Trinkstuben, ihren Kleideraufwand zu mäßigen und keine Samtverbrämungen, keine Perlen und keine goldenen Ketten zu tragen, wohl weil dies den erwarteten adligen Standespersonen vorbehalten bleiben sollte.100 Im Jahr 1611 waren es wiederum junge Männer, die wegen ihres unziemlichen Aufwands in die Kritik gerieten. Diesmal stellten prachtvolle Kleider und vergoldete Rapiere, welche die Söhne einiger niederländischstämmiger Familien beim Schlittenfahren getragen hatten, den Stein des Anstoßes dar. Diese Auseinandersetzungen verweisen auf vestimentäre Praktiken, mit denen sich junge Männer vom hausväterlichen Maßhalten absetzten, mit denen sie ihre generationelle, geschlechtliche, ständische bzw. ethnische Gruppenidentität ausdrückten und die vielleicht auch eingebunden waren in ein spielerisches Werben um das andere Geschlecht.101 Wie solche Selbstentwürfe aussahen, ist für Frankfurt in einigen Fällen in Bild oder Schrift überliefert. Auch wenn es in der Messestadt keinen zweiten Matthäus Schwarz gab, jenen Augsburger Fuggerfaktor also, der sich und seine Kleidung in einem über viele Jahre geführten Selbstzeugnis bespiegelte,102 wurden auch hier modische Details und außergewöhnliche Kleidung von den Zeitgenossen dokumentiert. So notierte der Patrizier Bernhard Rohrbach in seinem um 1480 verfassten Liber Gestorum für die Jahre 1464 bis 1472 die Kleidung, die er zu Hochzeitsfeiern und zum Karneval getragen hatte.103 Erwähnenswert waren für ihn aufwendige Stickereien sowie die teilweise im Stil des Mi-Parti geschneiderte Kleidung, die er gemeinsam mit seinen Gesellen aus der Trinkstube Altenlimpurg getragen hatte.104 Dass ihn dieselben Gesellen in diesen Jahren auch bei verschiedenen Prozessionen begleiteten,105 lässt auf eine cliquenartige Zusammengehörigkeit der Männer schließen, die sich in der gemeinschaftlichen Kleidung ausdrückte. Die modischen Kreationen Rohrbachs waren dabei nicht weniger aufsehenerregend als die des Augsburgers Matthäus Schwarz: Zu Karneval 1472 bei100 Vgl. Lersner, 1706-1734, Bd. 2.1, S. 250; ISG Ffm, Edikte, Bd. 16, fol. 175-176, hier 175v. 101 Die emotional-amouröse Bedeutung der Kleidung junger Männer weist Rublack, 2010, S. 55, für Matthäus Schwarz nach. 102 Vgl. Rublack, 2010, S. 33-78. 103 Vgl. Rohrbach, 1884, S. 219-221. Zur Familie Rohrbach vgl. Monnet, 1997. 104 Vgl. Rohrbach, 1884, S. 207-209. 105 Vgl. ebd., S. 218. 350
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spielsweise wählten Rohrbach und sein Stubengeselle Philipp Katzmann »rote kleider hosen und kugeln, die waren mit geschwerzet barchet verhauwen und rot daffet underfüttert«.106 Das Ensemble war also nach der Schlitzmode gestaltet, indem der feste schwarze Barchent eingeschnitten und mit rotem Taft unterfüttert worden war. Die Hosen und die Gugel genannten kapuzenartigen Kopfbedeckungen waren jeweils mit einem silbernen Skorpion bestickt und zeigten viermal den Buchstaben M bzw. V. Dies bedeutete »Mich Mühet Mannich Male Vnglück Vntrew vnd Vnfall«.107 Eines seiner Kleidungsstücke überlieferte Rohrbach sogar durch eine Umzeichnung, nämlich den kostbar bestickten Ärmel, den er Weihnachten 1464 als Achtzehnjähriger zu seinem braunen Rock getragen hatte. Da es zu einem Ensemble gehörte, mit dem Rohrbachs Aufzeichnungen von der Kleidung einsetzen, scheint diesem Ärmel eine besondere biographische Bedeutung zugekommen zu sein.108 Ins Bild gesetzt wurde auch das eindrucksvolle Ensemble, das der Frankfurter Patrizier Jeremias Bromm um die Mitte des 16. Jahrhunderts getragen hatte. Als sein Schwiegersohn Philipp Eisenberger 1583 mit der Chronik Eisenberger, einem bebilderten Geschlechterbuch, begann,109 ließ er den bereits 1563 verstorbenen Bromm in Kleidungsstücken darstellen, die dieser ausweislich seines Inventars tatsächlich besessen hatte.110 Es handelte sich um eine aufsehenerregende Kombination aus einem schieferblauen Kurzmantel mit schwarzer Samtverbrämung, einem mit kreuzförmigen Einschnitten verzierten roten Samtwams und einer roten Hose, die im Stil der Pluderhosenmode durchbrochen und mit rotem Taft unterlegt war.111 Diese Kleidung muss sich in besonderem Maß mit ihrem Träger verbunden haben, sei es durch ihre modische Extravaganz, ihren hohen Wert oder durch den Anlass, bei dem sie getragen worden war. Jeremias Bromm hob sich mit ihr nicht nur vom Aussehen eines wohlhabenden Schnei-
106 Ebd, S. 221. 107 Ebd. 108 Erhalten hat sich diese Umzeichnung, weil sie der patrizische Chronist Achilles August Lersner im frühen 18. Jahrhundert in Kupfer nachstechen ließ, als er für seine monumentale Frankfurter Chronik die über Generationen hinweg überlieferte Chronistik seiner Standesgenossen bearbeitete. Vgl. Lersner, 1706-1734, Bd. 1.1, S. 313. 109 Vgl. Bock, 2001. 110 Diese Erkenntnis ist Hartmut Bock zu verdanken. Vgl. ebd., S. 417. 111 Vgl. ebd., S. 187 (Bild 116). 351
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ders und Holzhändlers wie Hans Schilling, sondern auch von der Garderobe seines ältesten Bruders Hans Bromm ab.112 Während sich die Selbstentwürfe Rohrbachs und Bromms wie bei vielen ihrer Zeitgenossen in aufwendigen Schnitten, leuchtenden Farben und kostbaren Materialien ausdrückten, konnte dieser Logik des Luxuriösen auch ein bewusster Verzicht entgegengesetzt werden. Es spricht einiges dafür, dass diejenigen, die sich in Frankfurt seit den 1670er Jahren um eine protestantische Erneuerung bemühten, einen zurückhaltenden Kleidungsstil wählten und sich in gedeckten Farben zeigten. Der in diesen Jahren in Frankfurt als Prediger tätige Philipp Jakob Spener brachte das Prinzip der Selbstbescheidung gegen die Lesbarkeitsnorm des standesgemäßen Konsums in Stellung, indem er gerade von den höheren Ständen forderte, mit dem guten Beispiel einer »rühmlichen Christlichen modestiae«113 voranzugehen. Auch wenn man vereinzelte Bildzeugnisse wie die Porträts der Anna Elisabeth Kißner114 oder der Johanna Eleonora Petersen115 nicht überbewerten darf, legen diese Bildnisse einen religiös motivierten Konsumverzicht nahe, der auch für andere pietistische Gruppierungen nachgewiesen worden ist.116 Nicht zufällig ging eine solche Abkehr von der Mode vielfach mit einem bewusst außerstädtischen und asketischen Leben einher117 – in Frankfurt dürfte sie gleichwohl zur Diversität urbanen Konsums gehört haben.118
112 Vgl. Bothe, 1908, S. 155f., 164. Bei Hans Bromm ist zu berücksichtigen, dass er einen Großteil seines ursprünglichen Vermögens durch das fehlgeschlagene Geschäft im Saigerhandel verloren hatte. 113 Grabau, 1913, S. 365. 114 Bildnis der Anna Elisabeth Kißner, unbekannter Künstler, 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, Öl auf Leinwand, 90 x 77 cm, Porträtsammlung Dr. Senckenbergische Stiftung. Zu Kißner vgl. zuletzt Taege-Bizer, 2009. 115 Vgl. Petersen, 1718, Frontispiz. Zu Petersen vgl. grundlegend Albrecht, 2005. 116 Vgl. Breul, 2011, S. 229; Mettele, 2001. 117 Vgl. etwa die zeitgenössische Schilderung der Schwarzenauer Einsiedler bei Benz, 1963, S. 88. 118 Dies wäre beispielsweise an den Ausgabenbüchern Johann Christian Senckenbergs zu überprüfen. Vgl. dazu den Beitrag von Vera Faßhauer in diesem Band. 352
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
5. Stadt und Konsum – Frankfurt im Vergleich Eine Konsumgeschichte der Stadt, wie sie hier vorgestellt worden ist, analysiert anhand konsumtiver Praktiken die soziale Ordnung der städtischen Gemeinschaft. Sie zeigt auf, wie Hierarchien und Zusammengehörigkeiten durch den Ge- und Verbrauch von Dingen hergestellt wurden oder hergestellt werden sollten. Dies betraf alle Ebenen des Konsums, vom Viktualieneinkauf auf dem Markt über das Erstehen überseeischer Güter bis hin zum Tragen exquisiter oder bewusst einfacher Kleidung. Die materielle Kultur spiegelte daher nicht einfach nur die soziale Ordnung der Stadt, sondern brachte sie vielfach überhaupt erst hervor. Zugleich trug ein spezifischer, vom Land unterscheidbarer Konsum dazu bei, die Stadt als solche erfahrbar zu machen. Die von zeitgenössischen Stimmen oft beschworene Versorgungssicherheit und Angebotsvielfalt sowie der vielfach wahrzunehmende differenzierte Konsum machten im frühneuzeitlichen Frankfurt bestimmende Elemente des Städtischen aus. Insbesondere das messezeitliche Frankfurt wurde als ein Ort des Einkaufens, der Warenfülle und der konsumtiven Wahlmöglichkeiten qualifiziert und imaginiert. Doch inwiefern war dies einzigartig oder gar ›eigenlogisch‹119? Stellte die vergleichsweise große und zentral gelegene Messestadt eine Ausnahme unter den Städten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation dar, oder können die herausgearbeiteten Charakteristika auch auf andere Städte übertragen und mithin als konstituierende Merkmale frühneuzeitlicher Urbanität angesehen werden? Beim derzeitigen Forschungsstand ist dies nicht leicht zu beantworten, denn es fehlt nach wie vor an konsumgeschichtlichen Studien auf nahezu allen Ebenen. Dass die Situation in den großen Handelsstädten des süd-, mittel- und norddeutschen Raums mit den Frankfurter Gegebenheiten zumindest zeitweilig vergleichbar war, ist sehr wahrscheinlich. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Frankfurt dank des Messeprivilegs und dank seiner Mittellage über einen besonders langen Zeitraum einen zentralen Handelsort von wirtschaftlicher Prosperität darstellte. Zudem stand es als Buchhandelsstadt »im Schnittpunkt der Diskurse«120, so dass sich literarische Entwürfe des Urbanen möglicherweise besonders oft auf Frankfurt bezogen. Eine vergleichbare Fülle an literarischen und bildkünstlerischen Stadtbildern, wie sie für die großen Städte vorliegt, wird sich für kleinere Kommunen 119 Zum Konzept der Eigenlogik der Städte vgl. den Überblick von Frank, 2012, sowie den Beitrag von Philip Hahn in diesem Band. 120 Seidel/Toepfer, 2010. 353
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hingegen schwerlich finden lassen. Gleichwohl zeigen beispielsweise die Forschungen von Georg Moritz Wendt zu einem Konflikt zwischen den württembergischen Nachbarorten Owen und Kirchheim unter Teck, wie eindeutig das Marktrecht mit dem Selbstverständnis als Stadt verknüpft war. Als nämlich die Kirchheimer in den 1560er Jahren gegen die Aktivitäten eines Owener Tuchhändlers vorgingen und beim Landesherrn darauf hinwirkten, dass Owen das gut vierzig Jahre zuvor zugestandene Marktrecht wieder entzogen wurde, beklagten sich die Owener, die Kirchheimer wollten ihre Stadt zu »ainem dorf machen«.121 Die Studien von Michaela Fenske und Martin Scheutz beleuchten zudem, dass an die Anwesenheit eines Marktes auch in kleineren Orten spezifische Praktiken gebunden waren, die Versorgungssicherheit, Angebotsvielfalt und differenzierten Konsum implizieren.122 Auf dem Wochenmarkt im niederösterreichischen Marktort Scheibbs griff die Obrigkeit ebenso ordnend und sichernd ein wie auf dem Hildesheimer Viehmarkt. Hier wie dort spiegelte das Marktgeschehen die Differenz zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen höheren und niederen Ständen wider, hier wie dort spielten Geselligkeit und Amüsement eine zentrale Rolle. Das Scheibbser Beispiel zeigt zudem, dass auf dem Markt neben Lebensmitteln auch Kurzwaren, Hausrat und Kleidungsstücke erhältlich waren,123 und selbst dem württembergischen Ort Owen blieb trotz Entzug des Marktrechts zugestanden, mit Barchent, inländischen Tuchen, gesalzenen Waren und »gramplerey«124 zu handeln. Ein vertiefter Blick gerade auf solche kleineren Orte wird notwendig sein, um den Zusammenhang von Urbanität und Konsum in Zukunft weiter ausloten zu können.
Abstract Following recent debates in consumption and material culture studies, the article addresses open questions regarding the relation between consumption and early modern urbanity. Although urban sociologists emphasised the relevance of consumption as early as at the beginning of the 20th century, early modern urban history has rarely focused on this topic. The article proves the fruitfulness 121 122 123 124
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Zitiert nach Wendt, S. 88. Vgl. Fenske, 2004; Scheutz, 2004. Vgl. ebd., S. 319, 322f. Zitiert nach Wendt, S. 89. Gemeint ist Krempel (oft auch Grempel), womit einfacher oder gebrauchter Hausrat bezeichnet wurde.
Die Stadt als Konsumgemeinschaft
of such an approach, arguing that early modern cities were conceived as spaces of consumption where the variety of goods and the heterogeneity of consumers caused the emergence of specific urban lifestyles and consumption patterns. The article first reconstructs Frankfurt’s topography of buying and selling as an intricate spatial arrangement of different temporalities, accessibilities and reputations that confirmed and configured the city’s societal hierarchy. It then analyses the effects of Frankfurt’s sumptuary law which regulated the inhabitants’ dresses and festivities in order to make their material culture correspond to their status. By shedding light on dressing practices, the article finally shows that clothing was not only a question of status as it also expressed ethnicity, age, gender or religion. As a résumé, the article pleads for an approach in urban history that recognises consumption as a crucial factor in early modern city life.
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Extra muros – städtische Außenbeziehungen
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb Schützenfeste als Ausdruck der Konkurrenz im Heiligen Römischen Reich Jean-Dominique Delle Luche
1. Berühmte und vergessene Städte: Konkurrenz in der Städteforschung Die Heterogenität der Städtelandschaft, die den deutschen Raum seit dem Mittelalter wesentlich prägte, ist von der historischen Städteforschung längst thematisiert worden.1 Historische Vereine, wissenschaftliche Einrichtungen und Publikationsreihen haben sich besonders zwei Städtetypen des Heiligen Römischen Reichs gewidmet, den Freien und Reichsstädten sowie den Residenzstädten, wohingegen andere Stadttypen – insbesondere die Territorialstädte – vernachlässigt wurden.2 Während einige Städte wie Nürnberg oder Augsburg regelmäßig im Fokus der Forschung standen, erfuhren viele andere nur das Interesse von Lokalhistorikern und -archivaren, sodass zahlreiche Orte in wissenschaftlichen Monographien nur katalogartig erfasst wurden. 1 2
Für sprachliche und inhaltliche Hinweise möchte sich der Verfasser bei Christian Chandon (M.A., Bamberg) herzlich bedanken. Hier zu nennen sind die Residenzen-Kommission bei der Göttinger Akademie der Wissenschaften (Arbeitsstelle in Kiel) sowie zahlreiche Vereine und Publikationsreihen über Reichsstädte. Eine kritische Übersicht neuerer reichsstädtischer Vereine hat vor kurzem Philip Hoffmann-Rehnitz veröffentlicht, unter: www.sehe punkte.de/2016/02/25177.html, 17.06. 2016. Für weitere Stadtformen siehe z.B. Knittler, 2006. 369
Jean-Dominique Delle Luche
Der wesentliche Unterschied zwischen einer lokalbasierten und einer vergleichenden Studie des Städtewesens – also zwischen Stadt- und Städteforschung – besteht darin, inwiefern die Singularität bzw. Vergleichbarkeit einer Stadt ermessen werden kann. Zu oft wird der Vergleich aus praktischen Gründen auf lediglich zwei oder drei Fallbeispiele beschränkt. Die Zunft der Stadthistoriker überlässt oft Promovierenden die Pflicht, sich einem schon erforschten Thema (wie etwa der Armenpolitik, Gerichtsbarkeit oder pragmatischen Schriftlichkeit) am lokalen Beispiel zu widmen. Zwar tragen damit Nachwuchshistorikerinnen und -historiker zur Verifizierung der Hypothesen früherer Standardwerke bei, richten aber ihre Forschungen nur auf diejenigen Städte, deren Quellenbestände für das jeweilige Thema geeignet sind. In diesem Prozess werden vermeintlich minderwertige, kaum erforschte oder schlecht erschlossene Stadtarchive ausgeschlossen, weil die Bearbeitung ihrer Bestände nicht effizient erscheint. Die gegebene Heterogenität der Archivlandschaft begründet also das ungleichmäßige Interesse der Forschung und führt dazu, dass die Mehrheit der vorhandenen Stadtarchive ignoriert wird. In einem Zeitalter, in dem elektronische Kataloge, Nachrichtenaustausch und oft unbegrenzte Digitalisierungsmöglichkeiten viele bisherige Zwänge der zeitaufwändigen Bearbeitung vor Ort beseitigt haben, kann man diese Reduktion auf wenige Orte und Bestände zuungunsten vieler Stadt- und Regionalarchive nur bedauern. Dieser Aufsatz möchte zu einer breiten Erforschung der deutschen Städtelandschaft beitragen – und damit zum besseren Verständnis eines Raumes, in dem nicht nur die geradezu klassischen und berühmten Städte, sondern auch mittlere und kleinere Kommunen eine Rolle spielten. Obwohl die Überlieferung für jeden Ort sehr unterschiedlich ausfällt, besteht das Ziel darin, eine Geschichte städtischer Netzwerke zu schreiben, in der auch weniger erforschte Städte so weit wie möglich beachtet werden. An den herkömmlichen landesgeschichtlichen Grenzen kann eine solche Analyse nicht Halt machen. Zu fragen ist danach, wie die Bevölkerung und der Rat einer Stadt ihr Gemeinwesen innerhalb der verschiedenen, miteinander verflochtenen regionalen Städtenetze positionierten. Eine solche räumliche Perspektive ist kein wirklicher Turn, da die Historiographie die städtischen Beziehungen zu den benachbarten Städten und Territorien sowie zum städtischen Umland unter den Fragestellungen der Kooperation und Konfrontation längst beleuchtet hat.3 3
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Exemplarisch seien genannt die Publikationen Ludwig Schnurrers zu den Beziehungen der Stadt Rothenburg ob der Tauber zu ihren Nachbarn oder die Dissertation von Laurence Buchholzer-Rémy über die Nürnberger Netzwerke. Schnurrer, 1981 und 1994; Buchholzer-Rémy, 2006.
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
Die allgemeine Konkurrenz4 sowohl in friedlichen wie auch in kriegerischen Zeiten aber, d.h. die Positionierung und die Entscheidungen gegen Nachbarn und erklärte Rivalen, sind nur ansatzweise thematisiert worden. Seinen Grund hat dies vermutlich in den Quellen, die durch ihre verstreute Überlieferung selten einen expliziten Vergleich mit anderen Städten ermöglichen. Die Perspektive der Konkurrenz bzw. des Wettbewerbs oder Rankings erweist sich jedoch als fruchtbringend, da die Ratspolitik frühneuzeitlicher Städte als der Versuch analysiert werden kann, den Rang innerhalb regionaler Netzwerke zu behaupten. Aufstieg und Verfall werden damit nicht nur als interne wirtschaftliche und politische Prozesse greifbar, sondern auch als eine Dynamik von auf- und absteigenden Protagonisten innerhalb eines gemeinsamen Raums. Diese Konkurrenz betrifft keineswegs nur die führenden Kommunen: Während sich einige Städte als regionale Hauptstädte behaupteten, wollten andere ihren Platz auf einer niedrigeren Ebene aufrechterhalten. In diesem Beitrag wird versucht zu zeigen, inwiefern die Veranstaltung eines sportlichen Ereignisses – eines Schützenfestes – und die Teilnahme daran der Positionierung in regionalen Netzwerken der süddeutschen Städtelandschaft des Spätmittelalters und der Renaissance dienten. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass jeder konkurrierende Ort die Chance hatte, als Veranstalter oder Teilnehmer seine Position innerhalb des städtischen Prestigerankings zu verteidigen. Die These einer Konkurrenz zwischen den Städten des Reichs, ob Reichsoder Territorialstädte, wird sich im Folgenden auf einen oft nur marginal und kaum je seitens der Geschichtswissenschaft bearbeiteten Bereich stützen, das Schützenwesen im 15. und im 16. Jahrhundert.5 Dieses Phänomen ist nicht nur ein fruchtbares Thema der Städteforschung, sondern auch ein guter Ansatzpunkt um zu zeigen, mit welchen Methoden eine vergleichende Analyse anhand von bekannten und unbekannten Archivbeständen trotz der eklatanten Quellenheterogenität durchgeführt werden kann. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, wie es die Kombination städtischer Überlieferungen ermöglicht, Hunderte von Schützenfesten zu rekonstruieren, die innerhalb weniger Jahrzehnte aufeinanderfolgten. Im Dickicht der Feste sollen dann über die bloße Chronologie hinaus grundlegende Elemente hervorgehoben werden, die die Konkurrenzdynamiken zwischen den Städten beleuchten. Gezeigt wird, dass vom 15. Jahrhundert bis ins 4 5
Zum Begriff der Konkurrenz zwischen Städten siehe auch Kühnle, 2014. Unter dem Titel »Le plaisir des bourgeois et la gloire de la ville. Sociétés et concours de tir dans les villes du Saint-Empire, XVe-XVIe siècles« wurde die Dissertation vom Verfasser dieses Beitrags im November 2015 (École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris) verteidigt. 371
Jean-Dominique Delle Luche
Zeitalter der Reformation dutzende Städte an einem veritablen Veranstaltungswettlauf teilnahmen, der ein wichtiges Element in der allgemeinen Konkurrenz um Prestige darstellte und u.a. Innovationen wie Pferderennen, Glückshäfen und gedruckte Plakatbriefe hervorbrachte. Schließlich wird herausgearbeitet, welchen Beschränkungen die Dynamik der Feste unterlag und welche Umstände seit dem Beginn der Reformation dazu führten, dass das ›goldene Zeitalter der Schützenfeste‹ sein Ende fand.
2. Das Schützenwesen als kombinatorisches Forschungsobjekt Es erscheint naheliegend, für eine Beschäftigung mit dem Schützenwesen zunächst chronikalische und annalistische Aufzeichnungen heranzuziehen, in denen sich zahlreiche Schützenfeste verzeichnet finden. Allerdings ist die Überlieferung städtischer Schützenfeste in diesen Werken in zweifacher Hinsicht unzureichend, weil ihre Autoren lediglich über ausgewählte Veranstaltungen berichteten und dies auch bloß für einen begrenzten Zeitraum taten.6 Zumeist notierten sie nur außergewöhnliche sportliche Ereignisse, weil sie die saisonalen Feste nicht für erwähnenswert hielten. Einen ›memorialen Impact‹ entfalteten die Schützentreffen vor allem dann, wenn eine Generation sie lediglich einmal vor Ort erlebte. Der Esslinger Bürger Dionysius Dreytwein (1498-1576) beispielsweise nannte außer zwei zeitgenössischen Wettbewerben in Stuttgart und Colmar (1560) bloß denjenigen, den seine Heimatstadt 1516 veranstaltet hatte, also als der Chronist noch jung war. Das Esslinger Schützenfest des Jahres 1516 wurde von Dreytwein als ein Höhepunkt der städtischen Geschichte dargestellt, der bedauerlicherweise keine Fortsetzung erfuhr, weil der nächste Wettbewerb, den die Stadt Ulm ausrichten sollte, wegen einer Pestepidemie nicht zustande kam.7 Ähnlich selektiv wie Dreytwein nahm auch der Augsburger Chronist 6 Siehe Schorer, 1660, S. 12-21 und 31-36 (Teilnahme der Memminger an Schießen in Memmingen 1447, 1455 und 1464, Ulm 1448 und 1468, Augsburg 1453 und Göggingen 1472); die Anonyme Chronik (Hegel, 1892), S. 480, 483 u. 489 listete drei Feste in Augsburg 1426, 1432 und 1440 auf. 7 Diehl, 1901, S. 9. Beschreibung der Colmarer und Stuttgarter Feste ebd., S. 220222. Bemerkenswert ist, dass alle drei Ereignisse eher negativ dargestellt werden. In Colmar spalteten sich die Schützen wegen der Benutzung gezogener Büchsen, welche u.a. die Schweizer mitbrachten; für das Stuttgarter Fest klagte Dreytwein über die unangemessenen Kosten. 372
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
Wilhelm Rem das Schützenwesen seiner Zeit dar: Er listete mit Vorliebe solche Feste auf, bei denen er sich als Mitglied der Augsburger Delegation besonders ausgezeichnet hatte.8 Die St. Galler Bürger wiederum erinnerten sich noch in den 1530er Jahren an die Ereignisse des Jahres 1485, als die schweizerische Stadt die Versammlung ihrer Nachbarn nutzte, um ihre neuen Freundschaftsbündnisse dem feindlichen Abt Ulrich Rösch zu demonstrieren. Der St. Galler Chronist Johannes Rütiner beschwor in seinen Anekdoten mehrmals das Gedächtnis jenes fatalen Festes, das als Anfang aller folgenden Sünden betrachtet wurde – nämlich des »Rorschacher Klosterbruchs« und des verheerenden St. Gallener Kriegs 14891490.9 Der St. Galler Bürgermeister und Chronist Joachim von Watt (Vadianus) stützte sich nichtsdestotrotz auf die Veranstaltung des Jahres 1485, als die kurz zuvor reformierte Stadt im Jahre 1527 abermals ein Schützenfest ausschrieb. Dass Schützenfeste in der Reformationszeit eindeutig als beliebte Anlässe zu öffentlichen Freundschaftsbesuchen und besonders zu Burgrechtsverhandlungen zwischen Zürich, Straßburg, Konstanz oder Ulm dienten, ist der Forschung übrigens bislang entgangen.10 Für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Schützenwesen reichen Chroniken und annalistische Aufzeichnungen mithin nicht aus. Vielmehr erweist sich hier das Prinzip einer möglichst breiten Kombination von Archivbeständen als unabdingbar. In historiographischer Hinsicht wurde erst um 1890 eine ›kritische Masse‹ an Lokalstudien erreicht, deren Entstehungszeit vom Beginn des 18. Jahrhunderts, also der frühen Aufklärung, bis zur Landes- bzw. Kulturge8
Hegel, 1894, S. 463-470 (Zürich 1504, Augsburg 1509, München 1516, Augsburger Reichstag 1518 und Joachimsthal 1521). 9 Rüsch, 1996, II 83: »Memini eciam a matre mea sepiuscule audiuisse post concertationem nostram bombardis quando olla fortunae erectum fuit Nihil fausti secutum fuisse«. Dazu die ablehnende Antwort Vadians: »Und warend nachmals lüt, die saitend und vermaintend: wo das schießen vermiten bliben, so wer der klosterbruch ouch nit geschehen. Stulta opinio«. Götzinger, 1877, Bd. 2, S. 323-325. Als Unikat gilt der bebilderte Wiegendruck des Augsburgers Johann Schobser, der der unterfränkischen Stadt Ochsenfurt geschickt wurde (Stadtarchiv Ochsenfurt, Ganzhorn-Bibliothek [VE15 S-1]). Zur St. Galler Geschichte: Ehrenzeller, 1938. 10 Zwingli schrieb im Sommer 1527, nachdem alle diese Städte in freundlichen sportlichen Treffen mit den Zürchern geschossen hatten, den Bericht: »Warum man sich mit Konstanz, Lindau, Straßburg usw. in ein Burgrecht einlassen soll«, Egli, 1961, S. 200f. Dazu: Morita, 1992, S. 265-278. 373
Jean-Dominique Delle Luche
schichte der Kaiserzeit reicht.11 Nach dem Ersten Weltkrieg büßte das lokal und kulturgeschichtlich geprägte Thema das ihm bis dahin entgegengebrachte Interesse ein. Editionen spätmittelalterlicher Quellen wurden recht abrupt eingestellt. Seitdem liefern die Festschriften, Broschüren und – neuerdings – Webseiten der Schützenvereine lediglich lückenhafte Informationen, da sie nur für die jüngsten Geschehnisse aktualisiert werden und sonst oft alte Floskeln früherer Erzählungen wiederholen. Außerdem wurden von Chronisten nicht selten falsche Daten überliefert und Details falsch interpretiert, was nicht zuletzt daran lag, dass die Parallelüberlieferung anderer Städte unberücksichtigt blieb.12 Auch hier zeigt sich nochmals, wie unverzichtbar es für die lokalgeschichtliche Forschung ist, Archive anderer Städte heranzuziehen. Prinzipiell offenbart sich in allen Monographien des lokalen oder regionalen Schützenwesens das Problem der Überlieferungsverluste.13 Jede Ebene enthüllt erhebliche Lücken: Fragen zum lokalen Schützenwesen, die vor Ort nur unzureichend zu klären sind, können zwar manchmal mithilfe auswärtiger Archivbestände beantwortet werden, aber der Besuch fremder Archive lässt wiederum viele Dokumente zu Tage treten, in denen eine Menge Städte auftauchen, 11 Als erste Synthesen zum Schützenwesen können Erdmann, 1737 und Hendel, 1801-1803 betrachtet werden. August Edelmann, Bibliothekar der Königlichen Bibliothek zu München, schrieb Zusammenfassungen für verschiedene Themen (Schützenkönige, Schießkränze) und edierte Münchner Handschriften (Edelmann, 1890). Germann, 1928 und Ewald, 1938 versammelten (manchmal buchstäblich) Exzerpte aus der früheren Historiographie. In diesem Zusammenhang hat Theo Reintges’ sonst wichtige Dissertation (Reintges, 1963), die sich nur am Rande dem Thema der Schützenfeste widmet, keine wesentlichen neuen Erkenntnisse beizusteuern. 12 Zu verweisen ist beispielsweise auf die (inzwischen überarbeitete) Webseite des Heidelberger Schützenvereines 1490 e.V., der sich der Abhaltung eines sechs Monate langen Schützenfests rühmte, obwohl es sich eigentlich um die langwierige Organisation eines Glückshafens handelte, der die Kosten eines großen Schützenfests im Jahre 1490 decken sollte, und angeblich die »älteste urkundliche Erwähnung« des Heidelberger Schützenwesens sei. Dagegen wurde zu den Straßburger Schützen – wohl wegen der sich ändernden Staatsangehörigkeit – keine Monographie geschrieben. In den Straßburger Archiven liegen aber viele Schützenbriefe, darunter vier aus der Stadt Heidelberg, die bis 1445 zurückgehen. 13 So Bachmann, 1908, S. 52-55 u. 62-65: Die Kitzinger Schützengeschichte beruht auf einer breiten, aber lückenhaften Briefsammlung, auf einer Chronik und schließlich auf etlichen Rechnungen. 374
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
für die es noch keinerlei Untersuchung des lokalen Schützenlebens gibt. Von den Städten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation besitzen heute Kommunen wie Nördlingen, Nürnberg, Straßburg oder Kitzingen beträchtliche einschlägige Bestände, während andere Stadtarchive kaum etwas vorzuweisen haben. Schützenakten und -dokumente hatten vergleichsweise schlechte Überlieferungschancen.14 Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die für das Schützenwesen relevanten Bestände von den Archivaren des 15. und 16. oder auch des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt als erhaltenswert eingestuft wurden.15 Zum anderen erschwerte es die Überlieferung, dass die Schützensachen nicht nur Ratsgeschäfte waren, sondern auch die Schützengesellschaften betrafen, weshalb die Dokumente nicht selten zwischen dem Ratsarchiv und der Schützentruhe im Schießhaus zerstreut wurden. Schießhäuser lagen jedoch außerhalb der Stadtmauer und wurden recht oft Opfer von Beschädigungen durch Feuer und Wasser, so dass generell kaum noch »private« Quellen des Schützenwesens vorhanden sind.16 Detailreiche Quellen wie Schießregister haben sich deshalb nur ausnahmsweise erhalten, während Abordnungen oder Stiftungen für Schützenfeste, die in den oft gut erhaltenen Ratsprotokollen oder Rechnungen aufgezeichnet wurden, noch heute vorliegen.17 Als problematisch für die Überlie14 Den Begriff habe ich aus dem inspirierenden Aufsatz von Esch, 1985 übernommen. 15 Im Stadtarchiv Landshut, dessen sämtliche Bestände fast zur Gänze als Altpapier verkauft wurden, blieben die Rechnungen des großen Büchsenschießens vom Jahre 1493 erhalten (Stadtarchiv Landshut, Bestand 1 Nr. 176). Das Ereignis, das angeblich fast tausend Schützen anlockte, war z.B. vom Chronisten Veit Arnpeck überliefert worden, was sicherlich den Archivar motivierte, das historische Stück zu retten. Leidinger, 1915, S. 644. 16 In den meisten besuchten Archiven waren die meisten Dokumente, die die Schützen selbst geschrieben hatten, Suppliken oder Rechnungen, die dem Rat übergeben wurden. In wenigen Städten wie Nürnberg und Freiburg sind Akten und Briefe aus der privaten Provenienz erhalten: Stadtarchiv Freiburg i.Br., B 5-XVIII, Vereinsprotokolle; Stadtarchiv Nürnberg, E 6/699. 17 Folgende Schießregister, die nicht von den Pritschenmeistern, d.h. Gelegenheitsdichtern, sondern am Ort von den Schreibern gefasst wurden, konnte ich identifizieren (Abkürzungen: A = Armbrust, B = Büchse). Die kursiv geschriebenen Daten hat der Verfasser identifiziert bzw. vorgeschlagen: Archives de la ville et de l’eurométropole de Strasbourg, III/155/16a (1442, A, 1473, A), III/155/1 (1503, B). Archives municipales de Mulhouse, Actes 4638 (1540, B), 4472 (1560, B). Stadtarchiv Reutlingen, Akten aus der Reichsstadtzeit Nr. 12057 u. 12062 (1522, B) u. 12079 (1584, A). Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 403 Bü 8a (1501, A + B). Stadtarchiv Bad Wimpfen, 375
Jean-Dominique Delle Luche
ferung erwies es sich zum dritten, dass viele Schützengesellschaften nach dem Untergang des Alten Reichs obsolet wurden und untergingen. Im Zuge dessen konnten Dokumente städtischer oder korporativer Provenienz in private Hand gelangen, welche heute ab und zu im Handel auftauchen.18 Trotz der lückenhaften Überlieferung zum Schützenwesen gibt es jedoch eine Quellengattung, auf die sich die Rekonstruktion der Schützenfeste stützen kann: die Schützenbriefe, d.h. handschriftliche oder gedruckte Einladungen.19 Von 1398 bis etwa 1600 lassen sich vor allem für den süddeutschen Raum mehr R-P1 A u. B (1556, A + B). Stadtarchiv Augsburg, Schützenakten, D Nr. 1 bis 4 (1470, A, 1476, B, 1509, A, 1567, A) und HV 277/11 (1509, A + Gewinner des Büchsenschießens). Stadtarchiv Nördlingen, R29 F3 Nr. 8 (1585, B) und 9 (1464, A + B, 1478, A + B, 1496, A, 1513, B) siehe Delle Luche, 2017. Schützengesellschaft Öttingen (1592, B). Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg Akten, B-Laden Akten 10b (1458, A). Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber, A 1286 (1502, A, 1514 B). Stadtarchiv Bamberg, B 4 Nr. 3 fol. 66’-67 (1500, A). Stadtarchiv München, Stadtverteidigung 462/2 (1486 B, 1997 vom Stadtarchiv gekauft). Das Register vom Münchner Armbrustschießen 1467, das ohne Signatur ediert wurde (Hefner, 1852, S. 6–21), konnte nicht gefunden werden. Stadtarchiv Ingolstadt A/XII/1 (1494, B, 1496, A, 1499, A). Stadtarchiv Passau, III 13 u. 14 (1577, A + B). Stadtarchiv Amberg, AA 128 (Regensburg, 1513), 1529 (Amberg, 1527 A). Staatsarchiv Zürich A 39/1 (1504, A + B). Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, UGB A 85 E (1573 u. 1578, A). Stadtarchiv Leipzig, Urk-K. 81, 29 Band 2 (1551, A) 81, 30 Band 2 (1559, A). 18 So die Dokumente der Heidenheimer Schützengesellschaft, die vom Sohn des Schützenmeisters Paul Weiszäcker an das Archiv übergeben wurden (Weiszäcker, 1881), oder die Handschriften der 2007 aufgelösten Brüsseler Guilde des archers, die seit 2012 im städtischen Archiv aufbewahrt werden. Das Stadtarchiv München (Stadtverteidigung 466/2) und das Reutlinger Stadtarchiv (Urk. n.2520, Schützenbrief Ulm 1556) haben in den letzten Jahrzehnten einige Blätter gekauft oder bekommen. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass die Sammlung von Schützenbriefen, die die Staatsbibliothek zu Berlin nach der Wende von einem Antiquariat kaufte, offenbar aus dem Landesarchiv Meiningen stammte (die meisten wurden von Bechstein, 1862, S. 220-272 ediert), so dass diese Dokumente wohl nach 1945 oder gar nach 1990 in private Händen geraten sein dürften. 19 Einzelne Schützenbriefe wurden in zahlreichen Broschüren und Aufsätzen aufgelistet, abgebildet oder abgeschrieben. Anlässlich der Erschließung der Wiegendrucke veröffentliche Freys, 1912 alle bisher bekannten Wiegendrucke, deren Anzahl sich seitdem nur leicht verändert hat. Eine gründliche Untersuchung der Wiegendrucke besorgte Marc Ostermann (Ostermann, 2000, S. 397-443), wagte 376
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
als 600 Briefe auffinden, bei denen es sich oft um Unikate handelt, obwohl die städtischen Kanzleien oder Offizinen für die größeren Versammlungen mehrere Hundert Exemplare hergestellt haben müssen.20 Die Überlieferungschance eines Schützenbriefs beruhte entweder auf der gewissenhaften Sammlung eines interessierten Archivars oder auf jeweils spezifischen Umständen, welche die städtische Kanzlei zur Aufbewahrung der Ankündigung eines bahnbrechenden Ereignisses motivierten. Eine besonders reiche Sammlung an Schützenbriefen befindet sich beispielsweise im Stadtarchiv Nördlingen und umfasst die beeindruckende Vielzahl aller Briefe, die der Nördlinger Stadtrat erhielt und archivierte. Wahrscheinlich um 1900 wurden die meisten dieser Schützenbriefe in einen Pertinenzbestand überführt; weitere, wie etwa die der Stadt Windsheim, verblieben in der allgemeinen Briefsammlung. Für das diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt zu süddeutschen Schützenfesten wurde eine Datenbank erstellt, die auf der kombinierten Untersuchung von Schützenbriefen, Rechnungen und Ratsprotokollen basiert. Einbezogen wurden mehr als 50 Archive und Bibliotheken. Ergänzt durch bibliographische Hinweise (etwa aus landesgeschichtlichen Aufsätzen und Schützenbroschüren) konnten durch die Autopsie von sogenannten »Schützen-Akten« und seriellen Quellen fast tausend Schützenfeste verzeichnet werden, die eine fast lückenlose Reihenfolge der Veranstaltungen abbilden, welche zwischen 1440/1450 und 1586 in den Kernlandschaften Schwaben, Franken und Bayern stattfanden. Diese Regionen boten sich für die Untersuchung an, da sie nicht die katastrophalen Verluste zu beklagen haben, welche die Kriege des 17. und 20. Jahrhunderts den Stadtarchiven des Ober- und Mittelrheins zufügten und von denen auch Frankfurt am Main betroffen ist.21 Nur für die Frankfurter Schützenaber keinen Vergleich mit handschriftlichen Briefen. Eine erste Bearbeitung habe ich kürzlich vorgelegt (Delle Luche, 2015). 20 Eisermann, 2000, S. 143-177. Als Nördlingen den Markgrafen Friedrich von Brandenburg zu Gast hatte, wurden aber Briefe an 40 Reichs-, württembergische und brandenburg-ansbachische Städte geschrieben, wobei wegen der angespannten Beziehungen zu den bayerischen Herzögen keine bayerische Stadt eingeladen wurde. Stadtarchiv Nördlingen, Missivbuch 1490, fol. 44 (16.08.1490). Für das 1458er Armbrustschießen verschickte die Stadt Nürnberg 480 Briefe: Nur ein Trierer Exemplar und ein Konzept (Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, B-Laden Akten 10b) sind erhalten. Den Brief hat der Chronist Heinrich Deichsler abgeschrieben: Hegel, 1872, S. 230-233. 21 Schaufelberger, 1972. Zu denken ist neben Frankfurt etwa an die Bestände der Stadtarchive in Heilbronn, Heidelberg, Stuttgart, Baden-Baden, Pforzheim. 377
Jean-Dominique Delle Luche
feste der Jahre 1573 und 1587 liegen noch Dokumente vor, die Schießregister der Jahre 1506, 1559, 1565 und 1582 hingegen wurden 1944 zerstört. Durch die Kombination der Quellen konnten zwei Aspekte geklärt werden: Zum einen wurden jene Feste einbezogen, deren Details durch erhaltene Schützenbriefe erkennbar wurden, und zum anderen solche, die den Rat einer der untersuchten Städte motivierten, die Einladung aufzuzeichnen oder gar eine Abordnung zu schicken. Wie viele Schützenfeste ganz in Vergessenheit gerieten, ist leider nicht abzuschätzen. Allerdings ist von den heute nicht mehr nachweisbaren Veranstaltungen anzunehmen, dass sie nur niedrige Preise aussetzten und nur unmittelbar benachbarte Städte an ihnen teilnahmen, denn größere Feste hatten bessere Überlieferungschancen: Die Einladungen zu ihnen wurden in zahlreichen, prächtigen Exemplaren verschickt und verpflichteten die konkurrierenden Städte geradezu dazu, eine Abordnung zu entsenden. Inwiefern aus den etwa tausend rekonstruierten Schützenfesten, die wohl einen erheblichen Teil der gesamten sportlichen Ereignisse dieses Zeitalters darstellen, einige zentrale Elemente abgeleitet werden können, ist im Folgenden zu zeigen.
3. Das Fest als Wettbewerbsobjekt: Logiken und Innovationen Die Kontinuität der aufeinanderfolgenden Feste kann dargestellt werden, weil eine Datenbank Ähnlichkeiten und Entwicklungen verrät. Fast alle Schützenbriefe enthielten unter anderem Details wie die Zahl der Schüsse, den Wert des Leggelds (der Startgebühr) und die Höhe des Besten (d.h. des Hauptpreises), das üblicherweise von dem veranstaltenden Rat bzw. Fürsten gestiftet wurde. Eine vergleichende Analyse dieser sportlichen und finanziellen Elemente weist auf eine starke Differenzierung zwischen »größeren« und »gewöhnlichen« Schützenfesten hin. In vielen sportlichen Netzwerken wie dem Würzburger »Landkleinod« oder in den Festen der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach wurde zum Beispiel stets mit der Armbrust um 10 Gulden geschossen. Die niedrige Startgebühr von einem halben Gulden sollte die Teilnahme vieler Ortschaften befördern.22 Für anspruchsvollere Schützenfeste können aber andere Logiken festgestellt werden, die innerhalb einiger Jahrzehnte zu einem Wettlauf mit immer kostbareren Gewinnen und immer umfangreicheren Festprogrammen führten. 22 Delle Luche, 2014, S. 163. Für viele bescheidene Schießen konnten auch die Schützen »sich zu Rate werden« und das Leggeld vor Ort bestimmen. 378
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
Tab. 1: Bedeutendste Schützenfeste (mit Hauptpreisen über 24 Gulden) von 1443 bis 151623 Termin
Ort
Brief
1444.06.15 1448.05.13 1453.05.23 1458.06.12 1461.05.16 1464.05.21 1465.07.07 1467.05.18 1468.06.27 1468.10.16 1470.07.04 1470.08.13 1472.08.10 1473.07.06 1474.09.09 1476.07.07 1477 1477.07.28 1478.05.18 1478.10.18 1479.07.11
Augsburg Ulm Augsburg Nürnberg Solothurn Nördlingen Lindau München Ulm Landshut Augsburg Schw. Gmünd Würzburg Straßburg Rottweil Augsburg Nürnberg Erfurt Nördlingen Herrenberg Ulm
H H H H H H H H H H H H H H H (H) (H) H D D D
1479.08.28 1480.07.09 1480.09.30 1481.09.30 1481.10.14 1483.06.15 1484.08.11 1485.07.19 1486.06.12
Bamberg Schw. Gmünd Speyer Regensburg Günzburg Köln Passau St. Gallen München
D D D H H D D D D
Briefdatum 1443.11.25 1448.03.19 1453.01.25 1457.12.12 1461.04.21 1463.12.20 1465.05.28 1467.01.25 1468.04.20 1468.09.11 1470.01.05 1470.03.28 1472.05.01 1473.03.01 1474.04.28 1476.04.20
Frist (Mon.) 6,5 2 4 6 1 5 1 4 2 1 4 4,5 3 4 4 2,5
1477.07.03 1477.09.10 1478.08.24 1478.09.21
1 9,5 2 9
1478.02.07 1479.11.03 1480.05.18 1481.07.27 1481.09.17 1483.04.19 1484.07.19 1485.03.01 1485.11.08
8,5 8 4,5 2 1 2 1 4,5 7
Hauptpreis (fl) 24 31 24 50 24 32 24 50 80 24 101 50 40 80 25 50 110 30 60 40 101 50 50 40 32 24 60 32 60 102
Waffe Palio Glückshafen (Hauptpreis in fl) A x A A x A A AB A A 20 A x 31 A A x 40 A 31 A 20 A x 50 B 20 B AB x 100 A 12 (x) 40 AB 8 AB x 60 A B A B A A B AB AB
40 26 40
6,5 Mark 12 50 60
23 Erklärungen: Spalte 1 steht für das Versammlungsdatum der Schützen (Jahr-Monat-Tag). Bei Doppelschießen wurde nur das erste Datum angegeben. Die Frist (Spalte 5) zwischen dem Briefdatum und dem Versammlungsdatum wurde um einen halben Monat auf- bzw. abgerundet. Die Einladungen waren entweder handschriftlich geschrieben (Abk.: H) oder gedruckt (D). Falls kein originaler Brief erhalten ist, steht eine Einklammerung. Abkürzungen für die Waffe: A = Armbrust, B = Büchse, AB = Doppelschießen. 379
Jean-Dominique Delle Luche Termin
Ort
Brief
1489.07.05 1493.06.24 1493.09.15 1497.08.28 1498.07.08 1500.09.14 1501.08.31 1502.08.02 1503.06.28 1503.07.10 1503.08.28 1504.08.12 1506.08.23 1509.10.03 1511.08.03 1512.09.20 1512.09.26 1514.07.13 1515.08.06 1516 1516.08.11
Zwickau Landshut Worms Rottweil Leipzig Regensburg Stuttgart Köln Mainz Straßburg Schwaz Zürich Frankfurt Augsburg Nürnberg Freising Ingolstadt Heidelberg Heilbronn München Esslingen
D D D D D H D D D D H D D D D H (D)* D D ? D
Briefdatum 1489.02.14 1492.08.11 1493.03.28 1496.11.10 1497.07.31 1500.06.03 1500.08.31 1501.10.16 1503.05.06 1503.01.30 1503.06.25 1504.01.08 1506.03.25 1509.07.25 1511.06.23 1512.07.20 1512.07.05 1513.10.02 1515.06.09
Frist (Mon.) 5 10 5,5 9,5 11 3 12 9,5 2 5 3 7 5 2 1 2 2,5 9,5 2
1516.03.03 5,5
Hauptpreis (fl) 100 110 50 40 100 32 101 103 60 100 50 110 105 110 40 32 20 + 24 40 25 31 101
Waffe Palio Glückshafen (Hauptpreis in fl) A AB AB A AB AB AB AB AB AB B AB AB AB AB A AB B AB ? AB
100 62 32 20 1000 + 100
x
x
61 10 (Mark) 50 50 25 50 50 50
10
? 60
Bis 1443/44 sind 24 Feste mit Hauptpreisen von fünf bis 18 Gulden bekannt: Der maximale Preis von 18 Gulden wurde jedoch nur in Konstanz (1438), Augsburg (1440) und Straßburg (1442) ausgelobt, wobei dieselbe Stadt Augsburg 1443/44 eine neue Stufe mit 24 Gulden setzte (Tab. 1). Für die nächsten Jahrzehnte (bis 1470) sind sogar 50 Wettbewerbe überliefert, bei denen der Hauptpreis feststellbar ist. Das Best stieg allmählich von 31-32 Gulden (Ulm 1448, Nördlingen 1464) auf 50 Gulden (Nürnberg 1458, München 1467, Schwäbisch Gmünd 1470). Die Ulmer (1468, 80 Gulden) und bald darauf die Augsburger (1470, 101 Gulden) überboten dies noch und setzten eine Marke, die im folgenden Jahrhundert nur marginal erhöht und im Regelfall nicht überschritten wurde.24 24 Nur für Feste der Wettiner und der Habsburger aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, besonders mit Kurfürst August und Erzherzog Ferdinand, sind noch höhere Preise überliefert. Siehe u.a. Neubert, 1872, S. 257 (Dresden, 1554, 500 fl.). Das Verhältnis zwischen dem Schießen von Ulm (1463) und dem von Nördlingen (1464) wird erwähnt in Delle Luche, 2017, S. 134f. 380
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
Dass diese Städte die üblichen Preisstufen weit übertrafen, verursachte vielfache Veränderungen in der Art, wie ein Wettbewerb angekündigt und veranstaltet wurde, denn die sportlichen Netzwerke spalteten sich bald zwischen jenen Städten, die solche Ausgaben schultern konnten, und den anderen, die nicht die finanziellen Mittel hatten, um als Veranstalter solcher Feste aufzutreten, sondern nurmehr Teilnehmer zu Schützenfesten entsandten. In der Tat war es von den ersten Schützenbriefen an üblich, neben dem ersten »freien« Preis weitere Preise anzukündigen, deren Summe durch die Startgebühr finanziert wurde. Ein Schützenfest mit neun Nebenpreisen von neun bis zu einem Gulden ergab Gewinne von insgesamt 45 Gulden. Bald vergrößerte sich die Zahl der Nebenpreise,25 und die Gesamtsumme wuchs ebenfalls. Nürnberg und München boten 1458 und 1467 insgesamt 380 bzw. 430 Gulden, die durch die Startgelder von mehr als 300 Teilnehmern bereitgestellt werden sollten. Die Einladungen kündigten jedoch an, dass die Zahl oder der Wert der Nebenpreise auch erhöht (gemehret) werden könnte, falls das Schießen mehr Teilnehmer als gedacht anlocken sollte. Nicht alle Kommunen konnten Hunderte von Teilnehmern beherbergen, gerade wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der deutschen Städte weniger als tausend Bürger hatte. Selbst für erstrangige Städte waren die Besucherzahlen und der Kostenaufwand solcher Feste nicht problemlos, obwohl die Versorgung von Bürgern viel einfacher war als der Empfang fürstlicher Gäste mit Dienerschaft und Pferden.26 Wenn aber eine Stadt nicht in der Lage war, ihr Wort zu halten und die Veranstaltung wie angekündigt durchzuführen, konnte ihr Ansehen erheblich leiden: So handelte sich die elsässische Reichsstadt Colmar nach dem Fiasko eines Büchsenschießens 1560 viele üble Worte in ganz Süddeutschland ein, während die Stadt Köln mit Götz von Berlichingen in eine langwierige Fehde (bis 1510) geriet.27 Der Erfolg des Schießens beruhte deshalb auf der Ver25 Gesamtzahl der Preise: Nürnberg 1458: 22; Stuttgart 1501: Angabe fehlt; Zürich 1504: 32. Augsburg 1509: 35. 26 Das Landshuter Schützenfest 1493 soll 512 Armbrust- und 1200 Büchsenschützen empfangen haben. Leidinger, 1915, S. 644. Tatsächlich listet ein Zettel die Namen einer Nürnberger Delegation von 72 Büchsenschützen und 14 vermutlichen Armbrustschützen auf: Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg B-Laden 23 10a. 27 So die vernichtende Kritik Dreytweins, siehe Diehl, 1901, S. 220: »Also ward der stat Colmar nit vill lobs nachgesagt, es stat nit woll, wan man leütt in kosten furtt und sie verttagt, ettwas zu gwinen und manche stat ir besoldung den seinen gibtt, darnach mit lerer hand darvon ziechen, bringt ein schlecht lob, kanss gedencken.« Eine geschriebene Protestation des Straßburgers Hans Schatz gegen die Colmarer 381
Jean-Dominique Delle Luche
wirklichung der Versprechen, die im Schützenbrief angekündigt wurden, und vor allem auf ihrer Machbarkeit, weswegen es etwa den Ratsherren der Städte Zürich und Ulm geboten erschien, alternative Veranstaltungsabläufe ausarbeiten zu lassen. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Ressourcen entschied man sich in Zürich für die anspruchsvollere, in Ulm für die bescheidenere Version.28 Die Konkurrenz zwischen den Städten musste bereits bei der Terminfindung berücksichtigt werden. Veranstaltungen am gleichen Tag in mehreren Städten galt es zu vermeiden, da nicht alle Städte in der Lage waren, zwei gute Delegationen zu schicken. Deshalb wurden die Daten meistens penibel gewählt, um ein möglichst großes Publikum anzuziehen. Entsprechend frühzeitig wurden die Einladungen verschickt: Während bei den gewöhnlichen 10-Gulden-Festen meistens zwei bis vier Wochen zwischen der Einladung und dem Treffen lagen, wurden andere Schützenbriefe sechs bis dreizehn Monate vor dem eigentlichen Datum hergestellt. Von 78 Briefen zwischen 1398 bis 1469 wurden nur vier mehr als vier Monate vor dem Fest verschickt, zwischen 1470 und 1499 hingegen 19 von 147 Briefen. Die Jahrzehnte 1470-1479 und 1480-1489 stellten den Höhepunkt dieses Phänomens der frühzeitigen Einladungen dar.29
und ihre Freunde (u.a. den Esslinger Büchsenmacher Veit Koch) kränkte sie so sehr, dass die Colmarer noch 1565 das Straßburger Büchsenschießen zu blockieren drohten, wenn Schatz dabei schießen sollte. Archives Strasbourg, III/155/2 und Archives Colmar, EE 279/77. Weil schlechte Verlierer frühzeitig heimgingen, ohne das ganze Leggeld zu bezahlen, baten die Kölner 1502 den Stuttgarter Hans Sindelfinger, das mangelnde Geld den süddeutschen Gewinnern nach dem Schützenfest zu liefern. Da er danach aber kein Geld bekam, geriet er unter großen Druck der anderen Schützen. Die Teilnahme des berühmten Götz von Berlichingen ist in seiner Autobiographie ohne genaues Datum überliefert; dazu glaubte sich der Ritter zu erinnern, dass eine Fehde wegen eines gewonnenen ersten Preises stattgefunden habe. Berlichingen-Rossach, 1861, Nr. 18, S. 124-128, bes. S. 125. Zur Fehde siehe auch Ulmschneider, 1974, S. 50-57. 28 Hegi, 1942, Bd. 2, S. 556f., über alternative Preislisten für das Zürcher Schießen 1504. Stadtarchiv Ulm, A 3066 Nr. 2 (Vorschlag eines großen Schießens mit einem gesamten Doppel von 980 Gulden, der zugunsten einer bescheideneren Alternative abgeschlagen wurde, 1536). 29 Delle Luche, 2015, Tabelle 4. Seit der Veröffentlichung haben sich die Zahlen leicht verändert. 382
Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb
Für viele Schützenfeste wurde das Datum keineswegs zufällig gewählt, sondern spielte eine besondere Rolle für die städtische Wirtschaft.30 Meistens fand ein außergewöhnliches Schützenfest anlässlich der Kirchweihe oder einer Messe statt. In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts wurden die Messeprivilegien ein Faktor in der regionalen und überregionalen Konkurrenz. Die Einladung zum Schützenfest war also oft mit dem Hinweis verbunden, dass genau zur Zeit des Festes die Messezeit war, und oft wurde daran erinnert, dass die Messe durch ein neues Privileg nun eine günstigere Zeit habe.31 Hingegen war die Zeit der konkurrierenden berühmten Frankfurter Herbstmesse für die Stuttgarter Bürger ein gutes Argument, um in Verhandlung mit Herzog Christoph von Württemberg das Datum des städtischen Armbrustschießens im Jahre 1554 festzulegen – und zwar auf einen Termin, der sich nicht mit der Frankfurter Messe überschnitt.32 Während die frühesten Schützenbriefe nur einige Zeilen lang waren, mehrten sich ab 1450 Plakatbriefe von 50 bis 100 Zeilen. Anlass zur Verlängerung waren nicht nur die immer detaillierteren Regelungen der gültigen Schüsse und Floskeln der Einladungsformulare, sondern auch das wachsende Festprogramm. Seit den 1440er Jahren war auch die Handbüchse als sportliche Waffe zugelassen, so dass Doppelschießen mit Armbrust und Büchse oft nacheinander betrieben wurden.33 30 So ein Zettel, der für die Veranstaltung des Nürnberger Schützenfests 1477 die Daten der Nürnberger (1458), Münchner (1467), Ulmer (1469) Straßburger (1473) und Augsburger (1476) jüngsten Feste und Schützenbriefe verglich. Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, B-Laden Akten Nr. 10b. Dies bedeutet also, dass die Nürnberger entweder die Briefe behalten, kopiert oder im Briefeingangsregister registriert hatten. 31 Ostermann, 2000, S. 397 wies schon auf die Leipziger Messe hin, deren Privileg kurz davor erneuert wurde. Aber auch für Städte wie Nördlingen 1464, Speyer 1480 und Offenburg 1483 tritt klar hervor, dass die Ankündigung eines Schützenfests für die nächste Messezeit wenige Tage nach der Proklamation eines neuen Messeprivilegs erfolgte. 32 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 403 Bü 4, Supplik der Stahlschützen zu Stuttgart, 31.07.1554. Dazu Delle Luche, 2014, S. 169. 33 Die ersten überlieferten Einladungen zu Büchsenschießen wurden von Kaufbeuren 1444 und 1450 und Kempten 1452 verschickt: Einladungen im Stadtarchiv Esslingen (Reichstädtische Zeit, Fasz. 152) und Nördlingen (Schützenbriefe). 1447 sollen die Memminger für ein Schießen 31 Teilnehmer angelockt haben: Die Gewinner stammten aus Augsburg, Memmingen und Kaufbeuren. Schorer, 1660, S. 12. 383
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Nicht alle zusätzlichen Punkte des Festprogramms – wie Wettlaufen und Pferderennen oder athletische Wettkämpfe – können hier dargestellt werden. Besonders aufschlussreich für die städtische Konkurrenz ist aber die Entwicklung der von den Obrigkeiten veranstalteten sogenannten Glückshäfen, einer Form der Lotterie, die sich von Italien kommend seit 1465/67 in Süddeutschland verbreitete. Glückshäfen verdrängten bald andere Formen der eigentlich verbotenen, aber für die Dauer des Schießens erlaubten (Glücks-)Spiele und etablierten sich als obrigkeitliche Einnahmequellen.34 Fast alle Überlieferungen solcher Lotterien sind mit der Veranstaltung eines Schützenfests verbunden;35 sie dienten wohl dem Ausgleich des oftmals großen Kostenaufwands. Im Gegensatz zu den Schießnebenpreisen, die der Gesamtsumme des Leggelds entsprechen mussten – das Schießen war also ein Nullsummenspiel –, verpflichteten sich die Räte nicht, die Lotteriepreise an die Einlagen anzupassen. Glückshäfen waren moralisch vertretbar, so lange sie dem gemeinen Nutzen dienten. Um sich vor katastrophalen finanziellen Verlusten zu wappnen, gründeten die Städte ihre Hoffnung auf einen erfolgreichen Glückshafen, der zu diesem Zweck rechtzeitig angekündigt werden musste.36 Diese Neuerung, die dem Rat einer Stadt gleichzeitig Werbung wie Geld einbringen sollte, war ein weiterer Grund dafür, dass die Frist zwischen Einladung und Fest immer länger würde. Die Aussicht auf einen vermeintlich leichten Gewinn lockte nicht nur Schützen, sondern ein Acht Doppelschießen für die 1460er und 1470er Jahrzehnte (Ulm 1463 und 1479, Neuburg an der Kammel 1463, Nördlingen 1464 und 1478, Lauingen 1466, Bergbieten 1467), mindestens 18 zwischen 1480 und 1500. Obwohl Doppelschießen ein häufiger Anlass für den Druck eines Schützenbriefs wurden, war das Phänomen der Doppelschießen aber keineswegs die Norm: Von mindestens 240 Handbüchsenschießen zwischen 1550 und 1586 sind nur 25 auch Armbrustschießen, die generell zwei Wochen davor stattfanden. 34 Kühnel, 1996, S. 319-343. Ergebnisse meiner Arbeiten zu Glückshäfen und Schützenfesten sollen in weiteren Aufsätzen veröffentlicht werden. 35 Archives Strasbourg III/155/16 und III/92/5: Lotterien (ohne genauen Hinweis auf Schießen) in Breisach 1470, Basel 1472 u. 1473, Breslau 1507 und 1518. 36 Für das große Nürnberger Schießen 1477 kamen die Veranstalter auf Kosten um 2.047 Gulden (872 für das Doppelschießen, 60 für das Pferderennen, 20 für einen Schachwettbewerb, 615 für die Lotteriepreise und 500 für die Versorgung). »Zu verhoffen« waren nur 400 Gulden von den Schützen und 20 von den Palio-Rennern, sowie ca. 1.650 Gulden vom Glückshafen. Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg Akten, B-Lade Akten 23/10a, Zettel. 384
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breites Publikum, zu dem auch Klerus, Bauern und Gesinde gehörten.37 Wie zu erwarten, löste die Innovation des Glückshafens zudem eine eigene Dynamik aus, indem die Zahl und der Wert der Preise stiegen. Alle diese Neuerungen vollzogen sich in rascher Folge, obwohl politische Konflikte wie der süddeutsche Städtekrieg 1449/50 und der süddeutsche Fürstenkrieg 1458-1462 die Dynamik der friedlichen Treffen unterbrachen.38 Sehr wenige Dokumente weisen auf die Entscheidungsprozesse hin, sodass über die Hintergründe und Motive letztlich nur Hypothesen geäußert werden können. Allerdings ermöglicht es die datenbankgestützte Erfassung der Schützenfeste, hier zu neuen Erklärungen zu kommen. So lässt sich der Prozess, der zum erstmaligen Druck eines Schützenbriefs führte, durch eine detaillierte chronologische Untersuchung erhellen: Im September 1477 gab die schwäbische Messestadt Nördlingen beim Augsburger Drucker Erhard Ratold gedruckte Ausschreibungen in Auftrag, die anlässlich der 1478er Pfingstmesse ein prächtiges Fest mit Glückshafen und Pferderennen ankündigten. Gerade die Einladung der Nördlinger kann als Werbemittel für ihre von den Nürnbergern gefährdete Messe betrachtet werden.39 Dass auch die Nürnberger im Vorjahr ihre eigene Messe durch ein anspruchsvolles Fest stärken wollten, unterstützt diese Hypothese.40 Die Nördlinger Neuerung, einen gedruckten Brief zu schicken, motivierte weitere Konkurrenten zur Nutzung des Druckmediums41 – und dies hatte weitreichende Folgen: Schützenbriefe sind oft die ersten (erhaltenen) Einblattdrucke (und häufig wohl überhaupt die ersten Drucke), die im Auftrag der Stadträte hergestellt wurden.42 Nach dem Nördlinger Vorstoß wurde nur noch jeder dritte Brief, der mehr als zwei Monate vor dem Treffen verschickt wurde, als handschriftlicher Plakat37 Eine Analyse der Lotterieeinnehmer in Basel und Zürich bieten Hegi, 1942, Rippmann, 1990, S. 1-136, und Isacson/Koch, 2003, S. 127-151. 38 Die Speyerer Chronik betont die Einstellung der Frankfurter Messe im Jahre 1460, in einer Zeit, in der keine Stadt ihre Bürger außerhalb der Mauer fahren ließ, siehe Mone, 1848, § 153, S. 440. Die Anzahl an Schützenbriefen zwischen 1459 und 1461 fällt dramatisch, und betrifft eher Städte, die am Rand der vom Krieg betroffenen Landschaften lagen. 39 Diese Hypothese wird in meinem Aufsatz Delle Luche, 2015 belegt. Zur Rivalität zwischen den Nördlinger und Nürnberger Messen siehe Endres, 1964. 40 Der Nürnberger Schützenbrief ist nur als Abschrift zu finden: Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, B-Laden Akten 10b. 41 Die Liste der gedruckten Schützenbriefe hat Ostermann, 2000 aktualisiert. 42 Eisermann, 2004. 385
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brief hergestellt. Nicht alle Städte verfügten jedoch über eine Offizin, so dass das Unternehmen, einen gedruckten Brief zu produzieren, auch die Frist zwischen der Bestellung und der Lieferung beeinflusste. Von insgesamt 36 Wiegendrucken wurden trotzdem 16 unter einer zweimonatigen Frist verschickt: Auch kleinere Orte wie Lenzkirch (Baden-Württemberg), Offenburg und Zeil am Main konnten von nahen Offizinen (wie Freiburg, Würzburg oder Bamberg) profitieren.43 Bemerkenswert ist, dass alle Glückshäfen, die im Jahrzehnt zwischen 1480 und 1489 im Zusammenhang mit Schützenfesten veranstaltet wurden, durch gedruckte Briefe angekündigt wurden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wachsende Konkurrenz der Städte im sportlich-festlichen Bereich Entwicklungen auslöste, die den finanziellen und medialen Erfolg des Festes verstärken und damit den Rang der veranstaltenden Stadt behaupten oder erhöhen sollten. Die Höchstpreise stiegen von 24 Gulden 1443/1444 innerhalb von drei Jahrzehnten auf 101 Gulden; dies konnte aber nur von Städten versprochen werden, die die entstehenden erheblichen Kosten tragen konnten, wobei die Neuerung des Glückshafens den wirtschaftlich schwachen Städten neue Möglichkeiten eröffnete. Größere Schützenfeste wurden meistens während der Messezeit veranstaltet und sollten nicht nur Kaufleute, sondern auch ein breites Publikum anziehen. Ein umfangreiches Festprogramm – Wettläufe von Männern und Frauen, verbunden mit sonst seltenen Pferderennen (ab 1448 in Augsburg) und schließlich Glückshäfen (ab 1465/1467) – diente dazu, die oft schwachen Messen zu stützen. Seit 1477 bedienten sich die Räte der vorhandenen Druckereien, um Schützenbriefe in großer Zahl zu verschicken. Blickt man darauf, welche Städte den Vorrang hatten, waren dies vorwiegend die bedeutendsten süddeutschen Reichs- und Territorialstädte, wenngleich auch große mitteldeutsche Städte wie Zwickau und Leipzig auf den vorderen Plätzen lagen. Unbedeutendere Städte übernahmen die Innovationen hingegen mit bescheideneren Mitteln. Die zentrale Rolle Augsburgs in dieser Städtelandschaft ist wohl nicht nur der Archivlage zuzuschreiben, sondern seinem kontinuierlichen Aufblühen im 15. Jahrhundert, das die Stadt dem wirtschaftlichen Erfolg und der kaiserlichen Gunst verdankte. Dass München (1467, 1485) und Landshut (1468, 1492/93) als Residenzen beider überlebenden bayerischen Dynastien miteinander konkurrierten, wird den Mediävisten kaum überraschen. 43 Lenzkirch und Offenburg veranstalteten 1480 und 1483 Schützenfeste, die ihre Messen unterstützen sollten. Um die Jahrhundertwende wurde bald üblich, die Landkleinode (Hauptschießen des würzburgischen Netzwerks) mit gedruckten Briefen anzukündigen. 386
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Auch die Tatsache, dass Stuttgart erst 1501 ein bedeutendes Schützenfest veranstaltete, und zwar viel später als Tübingen (schon 1467), ist mit der dynastischen Spaltung in Württemberg (1442-1482) und dem verspäteten Aufschwung der Stuttgarter Residenz zu erklären.44 Dass Pforzheim 1471 ein großes Schützenfest ankündigte, bevor das Datum wegen der Abwesenheit des badischen Markgrafen kurzfristig verschoben wurde, kann wohl als ein verzweifeltes Unternehmen gelten, nach der katastrophalen Schlacht zu Seckenheim 1462 den Status als badische Hauptstadt wieder zu beanspruchen.45 Während der Wettlauf um Universitätsgründung und Residenzsetzung nicht für alle Städte möglich war und besonders die bedeutendsten Städte größerer Fürstentümer betraf, trug die sportliche Konkurrenz zum direkten Vergleich mit Nachbar- bzw. Peer-Städten bei, ohne dass der politische Status in Betracht gezogen wurde.
4. Grenzen des Wettbewerbs: Kranzübergaben und Paradigmenwechsel Eine letzte Fragestellung besteht darin, ob und wie dieser Prozess des zwischenstädtischen Wettbewerbs begrenzt wurde. Zunächst sollte man beachten, dass nicht nur die Liste der Veranstalter, sondern auch die der Teilnehmer für die Wahrnehmung und Aktualisierung der Konkurrenz wichtig war. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass jede Einladung, die an einen städtischen Rat geschickt wurde, in den Ratssitzungen besprochen wurde, da die Schützen meistens auf Ratskosten reisten. Leider sind die Entscheidungsprozesse zur Teilnahme nur in Ausnahmefällen belegbar.46 Es lässt sich jedoch davon ausgehen, dass die Teilnahme für viele Räte eine Ehrenfrage war, mit der die Zugehörigkeit zum regionalen Netzwerk bestätigt werden konnte. Trotz oder gerade wegen der bestehenden Konkurrenz konnten deshalb die Nürnberger ihre Schützen auch nicht daran hindern, dem Nördlinger Schützenfest 1478 beizuwohnen.47 Eine 44 Zum Stuttgarter Schützenbrief 1500 siehe Hannemann, 1962, S. 112-143. 45 Delle Luche, 2014, S. 157f. und 161f. Erst nach der Rückkehr des Markgrafen vom Regensburger Reichstag sollte das Fest stattfinden. 46 Die meisten Hinweise dazu finden sich in Ratsprotokollen. 47 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Ratsverlässe 90 (28.04.1478): »Item allen armprust vnd puchsen schutzen, die auff den außgeschriben schiessen zu Nordling ziehen vnd vmb die ausgeschriben cleynat nach laut des außschreibens schießen wollen, ist vergonnt das zethun doch daz sie sunst keyne ander handels do gebrauchen sund[er] die ding[en] außerhalb schiessen halten.« 387
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Stadt, die möglicherweise in den folgenden Jahren ein großes Fest veranstalten wollte, tat nicht gut daran, die nachbarlichen Feste zu boykottieren. Wie aber entschieden wurde, welche Stadt der nächste Gastgeber sein würde, ist eine offene Frage. Anscheinend ergriff über viele Jahrzehnte hinweg jede Stadt selbst die Initiative. Mit dem wachsenden Risiko der ambitionierten Feste wurden jedoch Begrenzungen festgesetzt. In regionalen Netzwerken wie in Sachsen oder im Würzburger Hochstift galt schon um 1450/60 die Regel, dass die Stadt, deren Schützen das »Kleinod erobert« hatten, binnen Jahresfrist den Preis wieder ins Spiel setzen musste.48 In den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts tauchten jedoch neue Mittel auf, um die Reihenfolge zu bestimmen. Durch die Übergabe eines Blumenkranzes, den generell eine Ratsherrentochter dem Leiter einer städtischen Delegation aufs Haupt setzte, wurde dieser vor allen Anwesenden verpflichtet, den Kranz nicht verwelken zu lassen.49 Das Versprechen war jedoch nur zu halten, wenn der Rat der ausgewählten Stadt bereits im Vorfeld zugestimmt hatte, für die Ausrichtung des nächsten Festes zur Verfügung zu stehen. Durch den Kranz wurde ein optimales System gebildet, nach dem nicht einer beschränkten Anzahl von Städten mit guten Schützen die Organisation kostspieliger Festen übertragen, sondern eine »rationale« Reihenfolge festgesetzt wurde. Jeder Stadt sollte ab und zu erlaubt – oder aufgetragen – werden, für eine Veranstaltung verantwortlich zu sein. Die Verleihung wurde mehrmals im Rat überdacht, indem die jeweils teilnehmenden Delegationen, besondere Freundschaftsbündnisse oder der Unmut gegen Drückeberger-Städte abgewogen wurden.50 Größere Städte wurden aber öfter ausgewählt als kleine, so etwa Frankfurt, das deshalb gleich mehrere Kränze angenommen hatte und 48 Delle Luche, 2014, S. 163-165. Das Phänomen der sächsischen Kleinodschießen ist nur unzureichend bearbeitet worden. 49 Der einzige Kranz, der erhalten blieb, wurde von den Nürnbergern den Regensburger Schützen 1579 übergeben (Historisches Museum, Regensburg). Abb. in Eigmüller, 2013, S. 138 (Kat.-Nr. 6.7.1). 50 Für die beiden Straßburger Kränze wurde 1576 zwischen Ulm, Basel, Frankfurt und Zürich abgewogen. Die Ulmer schickten aber keine Ratsherren, und angesichts der eindrucksvollen Anreise der Zürcher Bürger, die mit einem noch heißen Hirsebrei den Rhein tagsüber flussabwärts gefahren waren, wurde der Kranz den letzteren übergeben, was die Berner tief verdross. Die Frankfurter hatten sich schon im Voraus angemeldet, dass sie gerne ein nächstes Schießen veranstalten würden, wenn sie den Kranz erhielten; der Armbrustkranz wurde 1582 wieder ins Spiel gebracht. Reuss, 1876, S. 1-3 (11.02.1576), 21f., 27 und 35 (04., 06. und 18.06. sowie 05.07.1576). Die Konkurrenz zwischen den Einzügen der verschiedenen 388
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die daraus resultierende Pflicht, ein Schießen auszurichten, mit einer einzigen Veranstaltung abgalt.51 Der Kranz beschränkte zugleich die Anzahl der großen Feste – solche durfte man nur von Zeit zu Zeit veranstalten – und bedeutete eine Motivation zur kontinuierlichen Reihenfolge der Feste, obwohl Seuchen52 oder Kriegszeiten wie der Landshuter Erbfolgekrieg 1503/04 die Kette unterbrachen. Solche Zirkulationen der Kränze kann man mehr oder minder deutlich rekonstruieren, beispielsweise für eine Folge von Schützenfesten, die zwischen 1501 und 1516 veranstaltet wurden: Der Kranz wanderte von Stuttgart (1501) über Köln (1502), Straßburg (1503), Zürich (1504), Frankfurt (1506), Augsburg (1509) und Heidelberg (1513) bis nach Esslingen (1516).53 Die Reihenfolge großer Schützenfeste erstreckte sich über die Jahre 1460 bis 1516, bevor es nach 1555 (wohl mit dem Augsburger Religionsfrieden) zu einem erneuten Aufschwung kam. Mit der Reformation endete das Zeitalter der großen Schützenfeste: Nur sieben Feste mit Hauptpreisen von über 50 Gulden sind zwischen 1516 und 1549 überliefert, darunter nur zwei über 100 Gulden (Joachimsthal 1521, Wien 1546). Der Zusammenbruch dieser Dynamik kann wie folgt erklärt werden: In den Jahrzehnten 1520 bis 1540 verbreitete sich die Reformation in den meisten süddeutschen Reichsstädten. Dieser langwierige Prozess entwickelte sich aber nicht synchron, sondern verschob die Verhältnisse innerhalb der süddeutschen Städte- und Territoriallandschaft beträchtlich. Dazu kam, dass die evangelischen Bürger einfachere Schützenfeste favorisierten: Johannes Rütiner verglich das Schicksal des Augsburger Bürgermeisters Ulrich Schwarz 1478, der wegen der Hoffart des veranstalteten Ereignisses gehängt worden sei, sowie die Ausschweifungen des St. Galler Fests von 1485 mit den bescheidenen städtischen Delegationen war für flämische und brabantische Städte viel üblicher, siehe Lecuppre-Desjardin, 2004, S. 186. 51 Kelchner, 1862, S. 7f.: »von vielen fürnemmen, vnderschiedtlichen Orten, auff derselben gehaltenen Haupt, vnd Gesellen schiessen, etliche Kränz, gemeinen brauch nach, vns zu behendigen […] vnd zusammenkunfft anzustellen, vns zu erjnnern, seind gegeben vnd zugestellt worden.« 52 Dies galt beispielsweise für die Stadt Ulm, die – wie es der Chronist Dreytwein ausdrückte – den von Esslingen im Jahr 1516 erhaltenen Festkranz aufgrund einer Pestepidemie verwelken ließ. Diehl, 1901, S. 9. 53 Ein Beispiel für eine spätere Zirkulation: München (1577) – Nürnberg (1579) – Regensburg (1586). Dass viele süddeutsche Schützen auch nach Köln fuhren, wie im vorher erwähnten Fall Hans Sindelfinger, könnte die Verbindung mit den anderen südlichen Festen gerechtfertigt haben. 389
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Festen der nun protestantischen Bodenseestädte.54 Für die evangelischen Reichsstädte war die Zeit der kostspieligen Feste vorbei. Glückshäfen wurden immer weniger benutzt, was die finanziellen Möglichkeiten beschränkte. Für viele Feste des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts wurden zwar 100 Taler als Höchstpreis ausgelobt, wobei aber der Wert der Nebenpreise stark sank.55 Der Niedergang der Schützenfeste ist für die meisten Städte unübersehbar, während Residenzstädte wie Dresden, Stuttgart oder Innsbruck nunmehr den Vorrang hatten.56 Dass aber das ›goldene Zeitalter der Schützenfeste‹ nach der Reformation nicht ganz in Vergessenheit geriet, zeigt die Tatsache, dass in Straßburg (1576) oder Frankfurt (1582) die alten Schützenbriefe von 1503 und 1506 benutzt wurden, um das damalige Festprogramm und die Schießregister nachzuahmen.
5. Fazit Natürlich besteht nicht die ganze Geschichte aus selbsterklärenden Dokumenten. Dass sich aber oft aus einem eher anekdotischen Bereich der Stadt- und Kulturgeschichte ein organisiertes System herauskristallisiert, das ungeachtet des »Schweigens der Quellen« durch eine quantitative Untersuchung Entscheidungsprozesse in einem breiten Segment der süddeutschen Städtelandschaft enthüllt, 54 Rütiner, 1996, I 237, S. 136: »Consul est z Vlm post sagitantium brauium suspensus est de tribu Schwartz. Audiui ab Hulrich schaiawiller. Tam sumptuose illo tempore sagittando vixum deinde hoc secutun, Quemadmodum post nostra omnis infortunia secuta quia tam solute vixum ludendo bibendo saltando scortando, non difficile sit dictu. Proximo sagitando hic 12 gl brauium, Ißni vero 6 g.« Rütiner verlegte das Geschehen irrtümlich von Augsburg nach Ulm. Er irrte sich auch in der Bewertung des bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Ereignisses. Der Augsburger Ulrich Schwarz hatte nämlich große Einwände gegen die Kosten solcher Veranstaltungen. Das 1470er Fest war als kostspieliges Fest angeprangert worden. Panzer, 1914, S. 92-107, hier S. 96f. Dazu eine kurze Analyse der Bewertungen von Schwarz über das Schützenwesen von Rogge, 1996, S. 84f. 55 Augsburg 1509: 1. Preis 110 fl., Gesamtsumme ca. 1.020 fl. (Nebenpreise von 1 bis 100 fl.); Passau 1555, 1. Preis 50 fl., Gesamtsumme 230 fl. (Nebenpreise von 1 bis 19 fl.); Prag 1565, 1. Preis 100 fl., Gesamtsumme 300 fl. (Nebenpreise von 1,75 bis 18 fl.); Innsbruck 1574, 1. Preis 500 fl., Gesamtsumme 934 fl. (Nebenpreise von 5 bis 40 fl.). 56 Zu dem Wechsel von einem spätmittelalterlichen reichsstädtischen zu einem von Residenzstädten beherrschten Netzwerk in der Frühen Neuzeit siehe François, 1978, S. 587-603. 390
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ist das Ergebnis neuer Arbeitsmöglichkeiten und Methoden. Anhand einer umfassenden Literaturbasis, die nunmehr dank der Retrodigitalisierung zur Verfügung steht, und einer großen Anzahl von besuchten Archiven kann eine tragfähige Datenbank zu Schützenfesten gebildet werden, die die Reihenfolge der Städte, die solche Feste veranstalteten, und die Liste der Städte, die dem engeren oder weiteren Kreis der eingeladenen und teilnehmenden Orte angehörten, abbildet. Die Konkurrenz zwischen den Städten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, die ihre Stellung im Fürstentum oder auf Reichsebene absichern mussten, um den immer möglichen Verfall zu verhindern, betraf nicht nur die Rivalität der Messen, Landgerichte, Universitäten und Residenzen, sondern auch festliche Ereignisse, die den städtischen Ruhm stärken oder mindern konnten. Der friedliche Prozess wurde aber oft von Zeiten der Kriegs- bzw. Geldnot unterbrochen.57 Obwohl die Schützenfeste generell als Anlass zum friedlichen Kontakt und zur Kooperation mit bekannten und fernen Nachbarn betrachtet wurden, diente die Teilnahme an und die Veranstaltung von Festen auch als Selbstbehauptung gegenüber ebenbürtigen, »minderwertigen« oder »überragenden« Rivalen. Die Dynamiken heutiger »globaler Städte«, die mit symbolischen Gebäuden oder sportlichen Ereignissen wetteifern, lassen sich bis in das spätmittelalterliche Städtenetzwerk des Heiligen Römischen Reichs zurückverfolgen.
Abstract Shooting contests were the main form of interurban competition and festive events in late medieval and early modern Germany. The article focuses on a broad comparison between Southern German urban networks, rather than building a case study. Based on scattered invitation letters and civic accounts, the author draws up an almost exhaustive list of hundreds of contests. Moreover, this article analyses standard patterns, such as determining the value of the awarded prizes or the handing over of a flower wreath which constituted an assignment for the next contest organizer. These events not only promoted good neighbourhood relations, but also led to a symbolic ranking and economic competition between the mightiest free, imperial or territorial cities. The financial escalation during the second half of the 15th century, which was only interrupted by the Reformation’s effect on networks and the race for prestige, also contributed to innovations in 57 Man denke an die Reichsstadt Weißenburg (in Franken), die nach dem Bankrott 1480 für die folgenden Jahrzehnte aus dem mittelfränkischen Netzwerk verschwand. 391
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funding and advertising such as lotteries, horse races and the use of print letters. A chart presents the 50 most prestigious contests between 1444 and 1516.
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Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit Patronage, Zeremoniell, Korrespondenz André Krischer
Die historischen Forschungen zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte im deutschsprachigen Raum haben sich in den zurückliegenden fünfzig Jahren an verschiedenen Paradigmen orientiert.1 Als grundlegend für das Verständnis der vormodernen Städte erwiesen sich etwa Fragen nach der Entfaltung und Durchsetzung reformatorischer Bewegungen.2 Untersuchungen über das Verhältnis von und die Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft stellten wiederum einen wichtigen Zugang zur politischen Kultur des altständischen Bürgertums und seiner Partizipationsmöglichkeiten dar.3 Zentrale Beiträge zur frühneuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte spielten im (reichs-)städtischen Milieu.4 Rudolf Schlögl und seine Schüler haben die vormoderne Stadt als typische Ausprägung einer Vergesellschaftung unter Anwesenden beschrieben, für die performatives Handeln und ›leibhaftige‹ Medien (Körper, Stimme) konstitutiv gewesen seien.5 Ebenso hat auch Thomas Weller am Beispiel von Leipzig die Stadtgesellschaft als ein Theatrum praecedentiae dargestellt, in dem zeremonielles Handeln und Rangdenken eine nicht minder große Virulenz entfaltete als in der höfischen Welt.6 Man könnte noch weitere paradigmatische Themen der Stadtgeschichte nennen (z.B. Öffentlichkeit oder konfessionelle bzw. religiöse Minderheiten). Auffällig 1 2 3 4 5 6
Allg. dazu Schilling/Ehrenpreis, 32015. Moeller, 2011. Dazu jetzt Lau, 2012. Schwerhoff, 1991; Eibach, 2003. Schlögl, 2008. Weller, 2006. 399
André Krischer
ist aber vor allem das Fehlen eines Themas, dass in den mediävistischen Arbeiten zur Reichsstadtgeschichte einen viel selbstverständlicheren Ort hat, nämlich das Thema Außenpolitik. In den wenigen Arbeiten zur Außenpolitik der Reichsstädte in der Frühen Neuzeit stellt sich dieses Thema gleichsam als ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten dar: Demnach waren Reichsstädte im Spätmittelalter den Fürsten machtvoll und auf Augenhöhe begegnet. Dabei waren sie, und hier besonders Frankfurt, auch als Krieg und Fehde führende Akteure in Erscheinung getreten.7 Die Ausdehnung der städtischen Machträume über die Mauern hinaus wurde gerade im Falle von Frankfurt als Zeugnis einer effektiven Territorial- und Bündnispolitik gewertet.8 Die Reformationszeit brachte dann vorübergehend Gelegenheiten für eine korporative Reichs- und Religionspolitik, bei der die Städte auf den Reichstagen oder im Schmalkaldischen Bund einflussreich agierten.9 Diese Phase außenpolitischer Bedeutsamkeit endete für die meisten Städte allerdings dramatisch mit der Niederlage des Bundes gegen Kaiser Karl V.10 Nachdem sich einige Reichsstädte wie Nürnberg am Beginn des Dreißigjährigen Kriegs noch für eine Seite entschieden hatten, versuchten fast alle reichsunmittelbaren Kommunen im weiteren Kriegsverlauf, sich unter den Vorzeichen der Neutralität möglichst schadlos zu halten.11 Spätestens am Ende des 17. Jahrhunderts seien die Reichsstädte dann, um eine Formulierung von Hans-Wolfgang Bergerhausen aus seiner Kölner Stadtgeschichte von 2010 zu nutzen, zu »Schachfigur[en] im Mächtespiel« geworden, bei dem sie keinerlei Gestaltungsspielraum mehr besessen hätten.12 Diese Bedeutungslosigkeit schien sich im 18. Jahrhundert fortzusetzen. In älteren Forschungen ist von »Absinken«, »Ohnmacht« und »Niedergang« die Rede.13 In Friedrich Bothes Geschichte der Stadt Frankfurt am Main (1913) kommt das Thema »Außenpolitik« nach 1648 überhaupt nicht mehr vor. Auch im Ausstellungskatalog FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt ist von den auswärtigen Beziehungen der Reichsstadt keine Rede mehr,14 und selbst Heinz Duchhardt erwähnt das Thema in einem 7 8 9 10 11 12 13 14 400
Orth, 1973; Schubert, 2003. Schneidmüller, 1982. Schmidt, 1986; Friess, 1993. Kiessling, 2008. Vgl. am Kölner Beispiel Bartz, 2005, S. 46. Bergerhausen, 2010, S. 319. Franz, 1930. Gall, 1994.
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
Handbuchbeitrag über Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert nicht.15 Jüngere Forschungen dazu wurden, soweit ich sehe, nicht mehr vorgelegt. Als zu unergiebig erschien schon den älteren Historikern die archivalische Überlieferung zu den äußeren Angelegenheiten und den Reichssachen in der späteren Frühneuzeit. In einer Notiz am Beginn des Findbuchs zu den Reichssachen brachte der Archivar Rudolf Jung 1918 seine Enttäuschung zum Ausdruck »über die Menge von Akten, die ganz unwichtige Gegenstände behandeln«. »Schmerzlich« vermisse er »die Akten über geschichtlich bedeutsame Verhandlungen der auswärtigen Politik«.16 Tatsächlich findet man unter den Reichssachen III, neben vielem anderen, eine ganze Menge von Einladungsschreiben an Bürgermeister und Ratsherren zu höfischen Festlichkeiten, Glückwunsch- bzw. Kondolenzschreiben des Magistrats anlässlich von Geburten, Hochzeiten, Beförderungen, Geburts- und Namenstagen sowie Todesfällen im Reichsadel, Berichte über die Entsendung von Ratsboten zum Empfang von Fürsten, die durch das Frankfurter Territorium reisten, Notizen zur Begrüßung von fürstlichen Personen in der Stadt und nicht zuletzt Briefwechsel mit anderen Reichsstädten über Fragen des Zeremoniells am Reichstag, zu Courtoisien in der Korrespondenz untereinander und mit den Fürstenhöfen. Solche Aktenstücke verweisen auf Ebenen auswärtigen Handelns, die mit einem engen und implizit modern gedachtem Begriff von Außenpolitik (ergebnisorientierte Verhandlungen und Entscheidungen, Schließen von Bündnissen) oder von Reichspolitik (offizielles Verhältnis zum Kaiser, Reichstagsgeschäfte, Prozesse an Reichskammergericht und Reichshofrat) nicht in den Blick geraten und auch nicht adäquat beschrieben werden können. Der folgende Beitrag dient daher dazu, solche Ebenen exemplarisch genauer in den Blick zu nehmen, die von der älteren Forschung bislang allenfalls anekdotisch zur Kenntnis genommen wurden. Stadtgeschichte wird so mit zwei engverwandten, auf den Cultural Turn zurückgehenden Forschungsfeldern zusammengebracht, nämlich mit der Geschichte frühneuzeitlicher Außenbeziehungen sowie den Forschungen zur symbolischen Kommunikation. Im ersten Abschnitt wird zunächst skizziert, inwiefern sich der Blick auf die Handlungsspielräume verändert, wenn reichsstädtische Außenbeziehungen und nicht reichsstädtische Außenpolitik erforscht werden. In den darauffolgenden vier Abschnitten werden exemplarisch verschiedene Ebenen reichsstädtischer Außenbeziehungen anhand von Frankfurter Quellenmaterial vorgestellt. 15 Duchhardt, 1991. 16 ISG Ffm, Rep. 132. 401
André Krischer
1. Außenbeziehungen als Bezugsrahmen Die Reichsstädte hatten, wie andere Reichsstände auch, im Westfälischen Frieden (IPO, Art. VIII) das Bündnisrecht (bestätigt) bekommen, durch das sie im Prinzip zu außenpolitischen Mitspielern avancierten.17 Dem Reichspublizisten Johann Jacob Moser fiel aber ein Jahrhundert später (1751) nicht ein einziges Beispiel dafür ein, dass Reichsstädte jemals von diesem Recht Gebrauch gemacht hätten, ebenso wenig wie von ihrem gegen reichsfremde Mächte bestehenden ius armorum.18 Dementsprechend waren Reichsstädte auch nicht auf den großen Friedenskongressen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts präsent gewesen. Die Friedenskongresse von Nimwegen (1678/79) oder von Utrecht, Rastatt und Baden (1712-1714) erschöpften sich aber nicht in der Aushandlung von Friedensbedingungen und Territorialveränderungen. Sie waren stets auch Prüfsteine für die Anerkennung der politisch-sozialen Geltungsansprüche der daran Beteiligten.19 Insofern waren sie besonders für ambitionierte (Reichs-)Fürsten und statusbewusste Republiken (Venedig, Genua) interessant.20 Reichsstädte hingegen fanden keinen Zugang zu den Kongressen: Weder entsandten sie Gesandtschaften dorthin, noch wurden sie in die Friedensverträge eingeschlossen.21 Diese Abwesenheit hatte allerdings nicht nur mit der mangelnden machtpolitischen und wirtschaftlichen Bedeutsamkeit der Reichsstädte zu tun – andere »Kleine«, also mindermächtige Potentaten, waren beispielsweise auf dem Kongress von Utrecht sehr wohl präsent, und die Hansestädte – vertreten durch Lübeck – wurden gerade wegen der Commercia zum Teil der Friedensordnungen.22 Vielmehr verhinderte vor allem der soziale Status der Reichsstädte ihre Teilhabe an den Friedenskongressen als den zentralen Foren der (westeuropäi17 Allg. zum reichsständischen Bündnisrecht Böckenförde, 1969. 18 Moser, 1751, S. 131. 19 Am Beispiel Brandenburg-Preußens zeigt dies Stollberg-Rilinger, 1997. Mittlerweile sind Friedenskongresse von der Forschung als Foren mit ganz unterschiedlichen Dimensionen und vor allem als kulturelle Ereignisse konturiert worden, vgl. dazu den Sammelband Kampmann, 2011. 20 Duchhardt/Espenhorst, 2013; Schnettger, 2013; Bruin u.a., 2015; Windler, 2016. 21 Ein Sonderfall war die Aufnahme der Hansestädte (Hamburg, Bremen und Lübeck) in die Friedensverträge von Nimwegen, Rijswijk und Baden, vgl. Grassmann, 1972; Dies., 1977. 22 Moser, 1751, S. 195. 402
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
schen) Völkerrechtspraxis nach 1648.23 Als bürgerlichen Kommunen fehlte ihnen die notwendige soziale Schätzung, um in einer politischen Umwelt, die »im wesentlichen monarchisch geprägt war«24, bei der es sich trotz aller Nationen- und Staatsbildung nach wie vor um eine europäische Ständegesellschaft handelte, als Mitspieler anerkannt zu werden.25 Vor dem gleichen Problem, nämlich herkömmliche und vertraglich bestätigte Rechte aufgrund mangelnder ständischer Dignität nicht ausüben zu können, standen die Reichsstädte auch auf dem Reichstag.26 Zu einem Forum reichsstädtischer Politik wurde der Reichstag daher nur phasenweise.27 Am sonstigen Gesandtschaftsverkehr wurden Reichsstädte ebenfalls nur peripher beteiligt. Sie empfingen keine Botschafter oder Envoyés, mit denen sich die europäischen Fürsten und Republiken immer auch ihrer wechselseitigen Anerkennung als Souveräne versicherten.28 In größeren Reichsstädten wie Hamburg, Bremen, Köln, Augsburg oder eben Frankfurt stationierten Kaiser, Könige, Republiken und andere Fürsten zwar sogenannte Residenten. Als Gesandte der dritten Rangstufe stellten diese aber kein Indiz für völkerrechtliche Anerkennung dar und wurden häufig auch nicht als Diplomaten, sondern als Informationsbroker oder Handelsvertreter entsandt.29 Die in Frankfurt oder in Köln stationierten Residenten waren darüber hinaus nicht nur für die jeweiligen Städte zuständig, sondern vertraten ihre Prinzipale auch (in wechselnden diplomatischen Rollen) an benachbarten Fürstenhöfen oder bei 23 Diese regionale Beschränkung wird deshalb betont, weil zur neueren Geschichte der Außenbeziehungen auch die globalgeschichtliche Perspektive gehört und daher diplomatische Aktivitäten in Nord- und Westafrika, im Osmanischen Reich, in Russland oder im Mogul-Reich nicht länger als exotische Exkurse erforscht werden. Im Grunde geht damit eine »Provinzialisierung« Europas einher, zumindest ist die stillschweigende Voraussetzung, dass »Internationale Beziehungen« eine westeuropäische Angelegenheit waren (so noch Malettke, 2012), problematisch geworden. Zum Stand der Forschung zur interkulturellen Diplomatie vgl. Kühnel, 2015; verwiesen sei exemplarisch auf Brauner, 2015 und Hennings, 2016. 24 Schnettger, 2000, S. 176. 25 Die frühneuzeitlichen Republiken in Italien sowie die Vereinigten Niederlande kompensierten diesen Mangel mit monarchischen Symbolen (Dogen, Statthalter). 26 Laufs, 1974; Isenmann, 1980. Dabei ging es um das sogenannte votum decisivum. 27 Dazu mehr bei Krischer, 2013. 28 Ders., 2011. 29 Krauske, 1885, S. 173-175. Kaiserliche Residenten sollten wiederum die Autorität des Kaisers in den Städten festigen und bei Konflikten vermitteln, dazu jetzt Lau, 2012, S. 123-125. 403
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den Reichskreisen. Genauso wenig wie Kaiser, Könige, Fürsten und Republiken Botschafter oder Envoyés an die Reichsstädte entsandten,30 so wenig schickten Bürgermeister und Stadträte förmliche Gesandte der ersten beiden Klassen »an souveraine auswärtige Höfe«.31 Dennoch finden sich in den Beständen des Frankfurter Stadtarchivs Quellenbestände zur auswärtigen Politik, darunter etwa Aktenstücke zu den »nachbarlichen Beziehungen« Frankfurts »zu den Reichsständen der Umgebung«,32 sodann Amts- und Kopialbücher zu den Diplomaten in der Stadt oder über Gratulations- und Kondolenzschreiben sowie sogenannte Zeremonialbücher, die zwischen 1728 und 1789 in drei Bänden geführt wurden. Diese Quellen zeigen, dass trotz aller geschilderten Restriktionen und Hindernisse die Reichsstadt Frankfurt sehr wohl außenpolitisch aktiv war, auch wenn dies, wie es in der Frankfurter Bestandsübersicht heißt, auf den ersten Blick »ohne größere politische Bedeutung und Folgen«33 blieb. Verstehen lassen sich solche Aktivitäten dann, wenn man als Bezugsrahmen nicht nur die Außenpolitik der souveränen (und so gut wie souveränen) Mächte in Rechnung stellt, die Welt der »Höfe und Allianzen« (Heinz Schilling), der Botschafter und Friedenskongresse. Zwar hat man es auf dieser Ebene ohne Frage mit der Ausdifferenzierung der internationalen Beziehungen und des (westeuropäischen) Staatensystems zu tun, doch spielte sich darauf nur ein Teil der auswärtigen Aktivitäten ab. Wenn man den Bezugsrahmen dagegen erweitert, kommen weitere Akteure, Figurationen, Praktiken und Strukturen in den Blick und damit auch weitere Ebenen auswärtigen Handelns.34 Christian Windler und Hillard von Thiessen haben vorgeschlagen, diesen erweiterten Bezugsrahmen 30 Der Kaiser wurde in Hamburg seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von einem Ambassadeur vertreten, der dort die Funktionen ausfüllte, die anderswo von Residenten übernommen wurden. Dieser Umstand wurde in der Forschung verschiedentlich notiert, Lau, 2012, S. 124. Es müsste aber noch gezeigt werden, was dies in der Praxis zur Folge hatte und inwiefern Hamburg damit vom Kaiserhof in besonderer Weise prämiert wurde – immerhin wurde die Hansestadt erst 1764 offiziell auch zur Reichsstadt. 31 Moser, 1751, S. 129. 32 ISG Ffm, Bestand »Nachbarliche Beziehungen zu den Reichsständen der Umgebung: Hanau, Hessen, Isenburg, Mainz, Solms«. 33 So die Beschreibung des genannten Bestands »Nachbarliche Beziehungen« im Onlinefindbuch des ISG Ffm, unter: www.ifaust.de/isg/nav.FAU?sid=303F9A0F 78&dm=2&erg=I&npos=2, 07.09.2016. 34 Vgl. dazu jetzt den Überblick bei Duchhardt/Schnettger, 52015, S. 199-207. 404
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
mit dem Begriff »Außenbeziehungen« zu erfassen, der in verschiedener Weise auf spezifisch frühneuzeitliche Bedingungen reagiert. Erstens lässt sich damit zum Ausdruck bringen, dass auswärtige Beziehungen vor 1800 kein Monopol der Staaten darstellte und dass Staaten (Spanien, Frankreich, England, Niederlande) in diesem Kontext sogar eher die (westeuropäische) Ausnahme und nicht die Regel waren.35 Der Westfälische Frieden begründete gerade kein exklusives »Westphalian System«36 souveräner Staaten, sondern sorgte vielmehr für eine Art take off diplomatischer Praktiken ganz unterschiedlicher Akteure.37 Kaum ein Reichsstand (und auch kein Reichsritter) wollte nach 1648 auf diplomatische Förmlichkeiten verzichten, und sei es nur auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg.38 Zweitens wird postuliert, dass frühneuzeitliche Staaten nicht als geschlossene Einheiten betrachtet werden können, sondern stets der Blick auf ihre handelnden Akteure gerichtet werden muss.39 Exklusive, ressorthafte Zuständigkeiten für Außenpolitik wie im Staat der Gegenwart gab es im 17. und 18. Jahrhundert selbst in Frankreich und England nicht oder erst in Ansätzen. Daher wird auch der Begriff »Außenpolitik« eher provisorisch-heuristisch genutzt.40 Mit akteurszentrierten Perspektiven geraten dagegen, drittens, asymmetrische Beziehungen in den Blick, die von der älteren Geschichtsschreibung zumindest als Anomalie gesehen wurden, etwa zwischen der französischen Krone einerseits und den Kurfürsten von Köln oder der Republik Genua andererseits.41 Solche Asymmetrien waren aber auch für die reichsstädtischen Außenbeziehungen (nicht nur im Falle Frankfurts) charakteristisch. Viertens integriert das Außenbeziehungs-Konzept damit auch 35 Thiessen/Windler, 2010. 36 »Westphalian System« steht in der Politikwissenschaft für die Vorstellung, dass aus den Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück ein System von wenigen souveränen Staaten hervorgegangen sei, welches dann die internationale Politik bis zum Ersten Weltkrieg dominiert habe. Das Westphalian-System-Konzept blendet geradezu systematisch die tatsächliche Vielfalt diplomatischer Aktivitäten aus, indem es den Fokus auf Frankreich, England, Österreich oder BrandenburgPreußen richtet und diese Territorien als geschlossene, zentral gesteuerte staatliche Einheiten darstellt. 37 Haug, 2016, S. 108-110. 38 Friedrich, 2007, S. 119-121. 39 Das wurde auch für die alte Eidgenossenschaft nachgewiesen, vgl. Weber, 2015; Affolter, 2016. 40 Im Sinne von Tischer, 2016. 41 Haug, 2015; Schnettger, 2016. 405
André Krischer
Formen der Vernetzung und Verflechtung, die in der traditionellen Historiographie der internationalen Beziehungen nicht oder allenfalls als Problem gesehen wurden, nämlich Patronage- und Protektionsverhältnisse sowie die Bedeutung informeller Akteure und Figurationen.42 Die Frage, welche Akteure, Praktiken und Konstellationen zu den Außenbeziehungen zählten und welche nicht, ist damit nur empirisch zu beantworten und stellt sich von Fall zu Fall unterschiedlich dar. Jedenfalls war auswärtiges Handeln in Frankfurt nicht auf die Magistratsangehörigen beschränkt. Wenn etwa Frankfurter Patriziersöhne an Fürstenhöfen Karriere machten oder in auswärtige Militärdienste traten, dann konnten auch daraus Chancen für die Lancierung der reichsstädtischen Interessen entstehen.43 Frühneuzeitliche Außenbeziehungen waren, wie Hillard von Thiessen jüngst formulierte, immer auch Sozialbeziehungen,44 und dies nicht nur auf der Ebene der Mindermächtigen, sondern auch auf der der souveränen Mächte. Begriffe wie Staatensystem verdecken dieses Ausmaß personaler Verflechtung und sollten daher nur mit Vorsicht genutzt werden. Bei diesen Verflechtungsverhältnissen war Frankfurt allerdings nicht stets in der inferioren Rolle des Klienten: So gab es auch paritätische Außenbeziehungen durch persönliche Netzwerke oder Geschäftsbeziehungen zwischen Frankfurt und anderen Städten.45 Unter Umständen spielte der Magistrat auch selbst die Rolle des Patrons, wenn er etwa die Patenschaft für ein Kind aus einem niederen Adelshaus übernahm oder wenn er zum Adressaten von Widmungen literarischer Erzeugnisse wurde.46 Für das Außenbeziehungskonzept sind fünftens die Medien und Formen symbolischer Kommunikation zentral.47 Das diplomatische Zeremoniell und gerade auch seine flexiblen und situativen Aneignungs- und Umdeutungsweisen gelten als wichtiger Zugang zum Verständnis der Aushandlungen von Ansprüchen und Statusbehauptungen in asymmetrischen Beziehungen und personalen Netzwerken. Das soll im Folgenden an vier Beispielen gezeigt werden.
42 Suter, 2010; Thiessen, 2010; Köhler, 2011; Haug, 2015; Haug/Weber /Windler, 2016. 43 Hansert, 2014, S. 377-384. 44 Thiessen, 2016. 45 Vgl. etwa Glocke, 1962. 46 ISG Ffm, Dedikationen und Invitationen (1595-1779). 47 Windler, 2013. 406
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
2. Diplomatie in der Nachbarschaft Unter dem Begriffspaar »Present und verehrungen« bewahrte das reichsstädtische Archiv Briefe und Dokumente über jene Geschenke auf, die Frankfurt den beiden landgräflich-hessischen Häusern zwischen dem späten 15. und der Mitte des 17. Jahrhunderts gemacht hatte. Bei diesen »verehrungen« handelte es sich um nichts Geringeres als um Hengste aus den städtischen Marställen, die man dem einen Landgrafenhaus dann schenkte, wenn die Familie zu einer besonderen Feierlichkeit (Geburt, Hochzeit, Todesfall) in dem jeweils anderen Haus eingeladen war. Die Initiative ging dabei von hessischer Seite aus: 1568 bat etwa Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt um Pferde, weil man im eigenen Stall keine habe, Frankfurt aber in seinen Ställen doch Hengste habe, die sogar für »adeliche ritterspiele abgerichtet« seien.48 Diese seien gerade recht zur Heimführung seiner Braut aus Kassel. Tatsächlich gingen Bürgermeister und Rat sowohl in diesem als auch in weiteren solcher Fälle auf die Begehren ein, betonten allerdings stets, dass es sich dabei um eine freiwillige Gabe handelte, die der Stärkung der »vertraulichen nachbarschaft« diene.49 Ohne Frage stellten die Pferdegeschenke auch eine geschickte Abschöpfung städtischer Ressourcen dar.50 Doch der Magistrat wäre sicher nicht so spendabel gewesen, wenn dieser Transfer nicht auch für die Reichsstadt einen bestimmten Profit abgeworfen hätte. Tatsächlich wurde Frankfurt auf diese Weise in die Festkultur der Landgrafen einbezogen, die Überlassung von Hengsten durch die Reichsstadt wurde zum rituellen Bestandteil der hessischen Familienfeste. Die Geschenke der Stadt wurden wiederum zum Anlass fürstlicher Danksagungen, ab dem 17. Jahrhundert einhergehend mit der Versicherung der »guten affection«. Es handelt sich dabei um einen Begriff aus der Sprache der Patronage und damit aus dem Feld der asymmetrischen Außenbeziehungen. »Affection« zahlte sich auf symbolischer Ebene aus: etwa in einer Korrespondenzsprache, die den reichsfreien Status der Stadt honorierte, die Frankfurt nicht mit hochadliger Herablassung, sondern mit sozialer Anerkennung begegnete. »Affection« drückte sich aber auch in den Einladungen städtischer Vertreter zu den höfischen 48 ISG Ffm, Nachbarliche Beziehungen, Nr. 89, Schreiben vom 2. November 1568. 49 Ebd., Schreiben der Stadt an Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel vom 22. Januar 1570. 50 Allerdings waren auch städtische Akteure Empfänger von Gaben. So bekamen die Überbringer der städtischen Empfangsgeschenke (Wein und andere Viktualien) in aller Regel ein Trinkgeld. Bei Kaiserbesuchen empfing auch der Rat Geschenke (die aber auch der kaiserlichen Selbstdarstellung dienten), dazu Rudolph, 2013. 407
André Krischer
Feierlichkeiten aus, die nach 1650 üblich wurden und das Ritual des Pferdegeschenks ersetzten. An die Stelle der Hengste traten damit andere, gleichwohl nicht minder wertvolle Geschenke, die die Ratsvertreter nunmehr persönlich überbrachten, um dann aber auch in Darmstadt oder Kassel unmittelbar an der höfischen Festgemeinschaft zu partizipieren – bei Geburten sogar in der Rolle von Paten, denen dann bei Hof mit den Ehrenerweisen des diplomatischen Zeremoniells begegnet wurde.51 Zur Dokumentation dieser Einladungen und der dabei erworbenen Ehrenerweise wurde ein eigenes Zeremonienbuch angelegt.52 Hinter der Fassade bürgerlicher Selbstdarstellung, die auch zum Frankfurt des 18. Jahrhunderts gehörte, gab es auch in der Reichsstadt am Main das typische Interesse reichsstädtischer Eliten, dass sie und ihre Kommune als Teil der Adelswelt, der Fürstengesellschaft, anerkannt wurden. Symptomatisch dafür ist der Bericht der beiden Ratsherren Johann Christoph Ochs von Ochsenstein und Friedrich Maximilian Lersner, die zusammen mit dem Syndikus Burgk 1738 das Goldene Thronjubiläum von Landgraf Ernst Ludwig in Darmstadt mitfeierten.53 Dem Rat berichteten sie später nicht nur über Erfolge auf dem diplomatischen Parkett (Einfahrt mit der Kutsche in den inneren Schlosshof, Audienzen beim Landgrafen und Erbprinzen), sondern auch darüber, wie sie sich durch das festliche Geschehen treiben ließen und dabei dem Charme der Tochter des Landgrafen erlagen, Friederike Charlotte, den Zeitgenossen besser bekannt als die lebensfrohe »Prinzessin Max«.54 Solche Interaktionen zwischen reichsstädtischen Akteuren und den Landgrafen entziehen sich klassischen Vorstellungen von Außenpolitik. Sie waren auch nicht mit völker- und gesandtenrechtlichen Kategorien zu fassen, selbst wenn beide Seiten einander mit diplomatischen Formalitäten begegneten. Sie dienten der Aufrechterhaltung des Ideals der »guten Nachbarschaft«, an der nicht nur die Stadt ein Interesse hatte, sondern auch die umliegenden Fürsten, die den Rat z.B. nicht selten darum ersuchten, flüchtige Delinquenten festzunehmen, auszuliefern oder nach ihnen zu fahnden. Gerade weil man so häufig miteinander Konflikte austrug (um Zoll, Grenzen, Geleit), kam der symbolisch-interaktiven Bekräftigung des Ideals der guten Nachbarschaft eine wichtige Bedeutung zu.55 51 Krischer, 2016 52 ISG Ffm, Nachbarliche Beziehungen, Nr. 101. 53 Ausführlich dazu Krischer, 2006b, S. 229-234. Zu Ochs vgl. Hansert, 2014, S. 355. 54 Hansert 2014, S. 382 verweist auf die höfische Sozialisation der Lersners. 55 Zu den Praktiken der »guten Nachbarschaft« im 15. Jahrhundert vgl. Schäfer, 2000. 408
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
Johann Jacob Moser hat diese Ebene der regionalen Außenbeziehungen mit dem Begriff des Nachbarlichen Staatsrechts zu erfassen versucht. Der Begriff verdeckt allerdings, dass sich dabei nicht Reichsstände von Gleich zu Gleich gegenübertraten, sondern auch hier ständische Statusunterschiede zur Geltung kamen. Die Beziehungen zwischen Frankfurt und den hessischen Landgrafen besaßen den Charakter eines Patronageverhältnisses, wobei sich die Klientenrolle für Frankfurt nicht in materieller Weise auszahlte, sondern in Zeichen sozialer Schätzung.56 Dass die höfischen Erlebnisse der Ratsvertreter nicht bloß als private Anekdoten betrachtet wurden, zeigt der Umstand, dass ihre Berichte darüber im Rat verlesen wurden.
3. Das Frankfurter Empfangszeremoniell Die symbolischen Praktiken in den reichsstädtischen Außenbeziehungen dienten allerdings nicht allein der Herstellung guter Beziehungen in der Region, sondern auch dem performativen Abstecken der eigenen Grenzen. Einen wiederkehrenden Anlass dazu boten die Wahl- und Krönungstage. Dass es sich dabei nicht nur um »Reichsverfassungsfeste« handelte,57 sondern auch um hervorragende Gelegenheiten zur Selbstdarstellung der Stadt, ist in der Forschung bereits verschiedentlich bemerkt worden.58 Aus Frankfurter Sicht bedeuteten die Kaiserwahlen aber auch eine enorme Verdichtung der reichsstädtischen Außenbeziehungen. Bei allen offiziellen Einzügen der Kur- und Reichsfürsten und des Wahlkandidaten spielten Ratsvertreter eine aktive Rolle als Einholende und Geleitende. Dabei war der Ort des Empfangs signifikant: Die Ratsvertreter zogen zur Begrüßung weit vor die Tore der Stadt, in die Frankfurter Landwehr.59 Je nachdem, woher der Besuch kam, wurde dieser entweder an der Bockenheimer oder an der Friedberger Warte empfangen – genauer gesagt: ein paar Meter davor. Diese Position wurde von einigen Beteiligten genau registriert und führte regelmäßig zum Protest der Grafschaft Hanau. Diese Art der performativen Grenzziehung durch das Ehrengeleit wurde auch bei anderen Fürstenbesuchen praktiziert, etwa 1724 bei der Begrüßung der Polyxena von Hessen-Rotenburg, die auf dem Weg zu ihrem neuen Gemahl, Karl Emanuel von Sardinien, in Frankfurt Station machte. Auch als die vertriebenen Salzburger Protestanten nach Frankfurt 56 57 58 59
Vgl. dazu meinen Beitrag Krischer, 2016. Rudolph, 2010, S. 42. Koch, 1986; Wanger, 1994. Anon., 1711, S. 33 u. 38f. 409
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kamen, gingen die Ratsvertreter bei der Begrüßung an der Friedberger Warte buchstäblich einen oder ein paar Schritte zu weit, was wiederum zu heftigen Hanauer Beschwerden führte.60 Es scheint fast so, als wären solche symbolischen Markierungen der eigenen Machträume in der Frühneuzeit an die Stelle der Fehden getreten, mit denen das spätmittelalterliche Frankfurt seinen Status im näheren Umland behauptet hatte. In den Außenbeziehungen hatte somit eher ein Medienwechsel stattgefunden, aber kein kontinuierlicher Niedergang. Prinzipiell sollten aber die Besuche von Fürsten und anderen wichtigen Personen keinen Anlass für Konflikte bieten, sondern Gelegenheiten, um Frankfurt von seiner besten Seite zu zeigen, als eine blühende Reichs-, Wahl- und Handelsstadt und als eine Kommune, die ihre Besucher mit angemessenen Staatshöflichkeiten empfangen konnte. Zu deren Dokumentation dienten die erwähnten Zeremonialbücher. Aus der mittelalterlichen Tradition der Gastung der in der Stadt weilenden Fürsten61 wurde im Laufe der Frühneuzeit ein »Ceremoniel«, das auch für die Stadt Ehre abwerfen konnte. Die traditionelle Übergabe von Hafer und Wein, an der man auch im 18. Jahrhundert noch festhielt, wurde dabei zu einer eher lästigen Pflichtübung. Allerdings kam dem Magistrat das kulturelle Kapital seiner Stadt in besonderer Weise zugute. Die städtischen Highlights, die etwa Salomon Kleiners Kupferstich-Serie Das florirende Franckfurth (1738) visualisierte, wurden auch von den fürstlichen Besuchern in Augenschein genommen – und dies stets in Begleitung städtischer Vertreter. Als etwa 1728 die Kurfürsten von Köln und Bayern in Frankfurt Station machten, besichtigten sie die Goldene Bulle, was wiederum mit einem offiziellen Besuch im Rathaus einherging. Bei der Durchreise mied der hohe Besuch den Römer gewöhnlich. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts standen Konstabler Wache oder Haus Braunfels – Versammlungsort der Gesellschaft Frauenstein und Residenz der kaiserlichen Familie während Wahl und Krönung – auf dem Programm. Bei der Besichtigungstour fügten sich die fürstlichen Besucher stets dem offiziellen Zeremoniell, dem sie sonst durch ein Inkognito zu entgehen versuchten. Der kurze Bericht über solche Vorgänge im Zeremonienbuch konnte damit als Zuwachs an symbolischem Kapital, als Erwerb von Gesten sozialer Wertschätzung, verbucht werden. Solche Verbuchungen symbolischen Kapitals wurden auch noch in den 1780er Jahren fortgesetzt. Als große Ehre erachteten Bürgermeister und Rat z.B., dass Kaiserin Katharina II. im Juni 1783 den Grafen Nikolai Petrowitsch Rumjanzew als ihren bevollmächtigten Minister (also als Gesandten dritten 60 Krischer, 2006a. 61 Monnet, 2000, S. 32-34. 410
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
Ranges) in die Reichsstadt entsandte. Rumjanzew sollte von Frankfurt aus vor allem ein Auge auf die Vorgänge in Westeuropa haben. Dennoch wurde »Romanzow« (wie er im Zeremonienbuch geschrieben wurde) ausdrücklich beim Rat akkreditiert, mit einem »von Ihro Russisch Kayserlichen Majestät Catharina der Zweyten aigenhändig unterschriebenes Creditiv in Russischer Sprache samt einer teutschen Übersetzung«.62 Mit der Aushändigung eines Beglaubigungsschreibens wurde Frankfurt von der russischen Kaiserin ausdrücklich in die Völkerrechtspraxis einbezogen – wie immer der Status der Reichsstadt von der Völkerrechtstheorie auch sonst bewertet wurde. Entsprechenden Aufwand beschloss der Rat dann auch bezüglich des üblichen »Bewillkommnungs=Compliment« durch den Patrizier und Schöffen Adolph Carl von Humbracht und den Syndikus Karl Friedrich Seeger. Die beiden mussten sich damit zwar beeilen, da Rumjanzew kurz darauf schon wieder zu einer Reise aufbrechen wollte. Aber man konnte ja sicher sein, dass er zurückkehrte. Im September war Rumjanzew jedenfalls wieder in Frankfurt, um dort dem Rat ein Schreiben der russischen Kaiserin auszuhändigen, in welchem die Geburt einer Enkeltochter (Alexandra Pawlowna Romanowa) mitgeteilt wurde.63 Eine solche nur ausnahmsweise an eine Stadt gerichtete Notifizierung dynastischer Vorgänge innerhalb des regierenden Hochadels war für Frankfurt erneut ein prestigereicher Akt, zumal er in diesem Fall nicht, wie bei den Geburtsanzeigen der hessischen Landgrafen, mit offensichtlichen materiellen Interessen (Geschenken) einherging. Welches Kalkül auch immer mit dem Brief verbunden war: Im Rat wurde er als außerordentliche diplomatische Aufmerksamkeit erachtet, die wiederum die Gelegenheit darstellte, dem Gesandten Rumjanzew eine Visite abzustatten und ihm offiziell für den Brief zu danken. Bürgermeister und Rat hatten in dieser Zeit regelmäßig mit diplomatischen Empfängen zu tun. Mit Willkommensgrüßen durch Syndikus und Ratsherren wurden 1783 etwa die Kammergerichtsassessoren Constantin (von) Neurath,64 Heinrich Friedrich (von) Autenriet65 und Egid Joseph Karl von Fahnenberg,66 der Kurrheinische Kreisdirektorialgesandte Anselm Franz von Bentzel und der Mainzer Kreisgesandte Franz Georg von Kerpen, der General-Quartiermeister des Kurrheinischen Kreises Oberst Georg Adam Gmelin,67 der bran62 63 64 65 66 67
ISG Ffm, Zeremonienbücher, Bd. 3, Sp. 9. Ebd., Sp. 14. Ebd., Sp. 6. Ebd., Sp. 7. Ebd., Sp. 10f. Ebd., Sp. 8. 411
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denburgische Legationsrat Dr. Karl Friedrich Häberlin68 oder Friedrich August von Braunschweig, Fürstbischof von Osnabrück,69 bedacht. Die Fürsten und Diplomaten ließen sich jeweils beim Älteren Bürgermeister (Friedrich Adolph von Glauburg bzw. Johann Christoph von Adlerflycht) ankündigen, der diese Ankündigung dann dem Rat vortrug, welcher daraufhin über die Entsendung eines Empfangskomitees entschied. Die zeremonielle Initiative ging also vom Magistrat aus, anders als am Hof, wo sich der Gast beim Fürsten vorzustellen hatte. Nur in Ausnahmefällen wurde den Bürgermeistern zuerst die Visite abgestattet, so etwa beim Aufenthalt des Assessors Fahnenberg. Diese diplomatische Geste war ähnlich erwähnenswert wie die russische Geburtsanzeige, denn der Jurist wurde vom Magistrat nicht nur als gerichtlicher Funktionsträger betrachtet, sondern auch als ein hochgestellter Besucher, dem Ehren zu erweisen waren und der wiederum Ehren erweisen konnte. Einseitig blieb dagegen das Bemühen um den Fürstbischof von Osnabrück, der als Sohn Georgs III. von Großbritannien immerhin eine königliche Hoheit war. Friedrich August von Hannover war ins Reich gekommen, um in preußischen Diensten militärische Erfahrungen zu sammeln, und er reiste daher inkognito.70 Das allerdings interessierte den Magistrat nicht wirklich, als er den protestantischen Bischof durch den Syndikus Seeger, den Schöffen Johann Christoph von Lauterbach und den Ratsherrn (»Senator«) Anton Ulrich von Holzhausen komplimentieren ließ. Die Situation konnte sich aber auch genau andersherum darstellen: Oberst Gmelin nämlich bat den Rat ausdrücklich um »bezeigung der militärischen Honneurs«, der dem Gesuch »aus mancherley Rücksicht« stattgab.71 War dieses Festhalten an den Formen symbolischer Kommunikation in der Spätphase des Ancien Régime eine Ignoranz gegenüber den Zeichen der Zeit, ein skurriler Anachronismus des altständischen Bürgertums? Wohl kaum, denn auch wenn die Phase der grundsätzlichen Aushandlung von Rang und Status im Medium des diplomatischen Zeremoniells um 1800 allmählich abgeschlossen war, wenn also kaum mehr zweifelhaft war, wer zu den Souveränen gehörte und wer nicht, so ging damit doch kein grundsätzlicher Bedeutungsverlust des Zeremoniells einher. Rangstreitigkeiten blieben auch zwischen den »großen Mächten« (Frankreich, Großbritannien, Russland) notorisch und wurden nunmehr auch außerhalb von Europa ausgetragen.72 Das lässt sich als Indiz dafür werten, 68 69 70 71 72 412
Ebd., Sp. 8f. Ebd., Sp. 12. Dazu jetzt Barth, 2013. Ebd., S. 8. Dazu demnächst Krischer, 2018.
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dass Statuskonkurrenzen in den Außenbeziehungen insgesamt noch virulent blieben. Insofern fielen die Frankfurter Aktivitäten in den Außenbeziehungen nicht aus dem Rahmen, auch wenn manche Förmlichkeiten den fürstlichen Besuchern regelrecht aufgezwungen wurden. Allerdings nahm selbst Friedrich August von Hannover die Komplimente wohlwollend entgegen, wie auch das dabei (anstelle von Hafer und Wein) überreichte Konfekt. Schließlich: Der Sichtweise, dass Adel in der Stadt die Nobilität Frankfurts unterstrich und der Reichsstadt auf diese Weise einen Platz in der Fürstengesellschaft zuwies, folgte man nicht allein im Magistrat und seinen Zeremonialbüchern. Der Frankfurter Advokat Dr. Johann Bernhard Müller z.B. legte 1747 eine Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Freien Reichs- Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn vor, in der er das äußere Ansehen der Stadt nicht nur darauf zurückführte, dass sie »Schau=Platz so vieler der prächtigsten Kayserlichen Wahl und Crönungen« war, sondern auch darauf, dass sich hier so viele Diplomaten (Minister, Räte und Residenten) aufhielten, ganz gleich, ob diese nun beim Rat akkreditiert waren oder nicht. Müller zählte nicht weniger als sechsunddreißig Residenten vor allem aus dem Reich, darunter Johann Caspar Goethe, »Ihro Röm. Kayserl. Majestät würcklicher Rath«.73 Ganz verwunderlich war es freilich nicht, dass Müller die Residenten zu den städtischen Attraktionen zählte, trug er doch selbst den Ehrentitel eines LöwensteinWertheimischen Hofrats (und listete sich auch entsprechend mit auf). Für die Reichsstädte waren Residenten aus der eigenen Bürgerschaft tatsächlich ein Problem, weil sie mit Verweis auf diese Würde die bürgerliche Rangordnung durchkreuzten und steuerliche Privilegien einforderten.74 Dennoch hatte Müller nicht ganz Unrecht damit, dass Residenten gut fürs städtische Prestige waren, das zeigt schon der Umstand, dass ein jeder Resident vom Magistrat offiziell begrüßt wurde und der Bericht darüber ins Zeremonialbuch kam. Zudem hat Thomas Lau darauf hingewiesen, dass Residenten Kommunikationskanäle zu ihren jeweiligen Prinzipalen eröffneten und damit für die städtischen Außenbeziehungen relevant waren.75 Allerdings konnte der kaiserliche Resident auch zum Ansprechpartner für eine mit dem Rat streitende Bürgerschaft werden und dann zum Schlichter oder sogar zum Kommissar werden,76 was zeigt, dass die Außenbeziehungen nicht einfach vom Magistrat dominiert wurden. 73 74 75 76
Müller, 1747, S. 116. Krischer, 2006b, S. 72-81. Lau, 2012, S. 124. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Petry, 2011. Lau, 2012, S. 124-126. 413
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4. Zeremonialschreiben Wenn sich das frühneuzeitliche Reich durch eine »Vergesellschaftung unter Anwesenden«,77 durch eine »Präsenzkultur«78 auszeichnete, dann war es nicht verwunderlich, dass sich Außenbeziehungen überwiegend als Interaktion von Angesicht zu Angesicht darstellten. Allerdings gehörten auch Briefe zu den Medien der Außenbeziehungen.79 Im Frankfurter Stadtarchiv findet man solche Medien etwa im Bestand »Kaiserschreiben«, vor allem aber in den sechs Bänden der »Gratulations- und Kondolenzschreiben«, einem 1752 angelegten Bestand, der Briefe der Jahre 1652 bis 1805 enthält. Bei diesen handelt es sich, so der Titel des ersten Bandes, um »an kaysl. Maye., Churfürsten, Fürsten und Stände des Reichs wie auch an hohe auswärtige Ministres abgesandte- und von denselben wieder eingelangte Gratulations-, Condolenz und sonstige Ceremonial Schreiben«.80 In den Briefen des erstens Bands gratulierte der Magistrat etwa 1690 Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz zum Regierungsantritt.81 Ähnliche Glückwünsche erreichten 1712 Graf Johann Reinhard von Hanau, als dieser die Regierung in Hanau-Münzenberg übernahm.82 Andere Briefe wünschten Glück zur Geburt fürstlicher Kinder oder zur Erhebung in den Grafen- oder Fürstenstand, kondolierten zum Ableben von Gemahlinnen und wünschten ganz unterschiedlichen Standespersonen und Ministern regelmäßig alles Gute zum Neuen Jahr. Unter den Empfängern der Neujahrsgrüße waren der kaiserliche Hofrat Friedrich von Binder, der kaiserliche Generalmajor Johann Anton Franz von Buttlar, der schwedische Obrist Friedrich Wilhelm von Bergholz, der kaiserliche Minister Rudolph Joseph von Colloredo, der Prinz Eugen, Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen und als August III. polnischer König, die Fürstbischöfe von Würzburg und Bamberg, die Kurfürsten von Mainz u.v.m. Diese Briefe dokumentierten natürlich nicht die interessenlose Anteilnahme des Frankfurter Magistrats an freudigen und traurigen Ereignissen in Fürstenhäusern und die bloß höflichen Aufmerksamkeiten gegenüber kaiserlichen 77 Schlögl, 2008. 78 Stollberg-Rilinger, 2008, S. 11. 79 Dazu grundlegend Droste, 2005; Ders., 2006, S. 99-140; Bastian, 2013; Hengerer, 2013. 80 ISG Ffm, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Bd. 1. Allerdings beinhaltet der Bestand auch Berichte über zeremonielle Empfänge. 81 ISG Ffm, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Bd. 1, fol. 158. 82 Ebd., fol. 192. 414
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Amtsträgern und Mitgliedern der höchsten Reichsgerichte. Sie sind vielmehr Ausdruck der reichsstädtischen Patronagepraktiken und des breiten Spektrums an Patronen, die dafür aus Sicht des Magistrats in Frage kamen. Die anlassbezogenen und periodischen Aufmerksamkeiten – ob die Briefe zusätzlich auch Geldgeschenke enthielten, wie dies in Bremen üblich war,83 lässt sich nicht sagen – waren im Kontext der Patronage-Logik als Investitionen gedacht, die sich irgendwann einmal auszahlen sollten.84 Vom Reichsvizekanzler Schönborn hörte der Frankfurter Magistrat 1726 natürlich gerne in dessen Antwort auf ein Kondolenzschreiben, dass er dieses »als ein angenehmes Kennzeichen dero mir und meinem Haus zutragenden Affection annnehme« und er also »bey erfreulicheren Angelegenheiten derenselben und dero guten Statt hinwieder bestättigen zu können, daß zu Erweisung vieler Gefälligkeiten und bereittisten Willen und Neigung allerstets verharre«.85 Als Schönborn 1729 dann Fürstbischof von Bamberg und Würzburg wurde, konnte der Magistrat erneut mit ihm in Kontakt treten und ein Glückwunschschreiben senden. In seiner Antwort versicherte der Fürst wiederum, dem »gemeinen Statt=Wesen etwas Guttes und Höffliches erweisen« zu wollen.86 Was das genau sein sollte, wurde freilich nicht präzisiert, so wie der Magistrat von den Reichsfürsten, mit denen er in dieser Art und Weise korrespondierte, die versprochenen Gefälligkeiten auch zu keiner Zeit konkret einforderte. Der Profit blieb auf einer symbolischen – aber deswegen nicht inhaltsleeren! – Ebene. In einer Zeit, in der ständische Unterschiede zunehmend stärker betont wurden – wodurch gerade Reichsstädte in der europäischen Fürstengesellschaft in eine prekäre politisch-soziale Randlage gerieten –, war die Pflege von Patronageverbindungen schon ein Wert an sich. Die Stadt erhielt eine Antwort, sie wurde überhaupt als relevanter Kommunikationspartner (als geeigneter Sender und Empfänger von Zeremonialschreiben) angesehen, dem schließlich auch Dank gebührte – im Unterschied zu den Untertanen, die zwar jubeln und trauern, aber keine fürstlichen Reaktionen erwarten durften. Das diplomatische Zeremoniell diente eben nicht nur dazu, souveränen Status darzustellen.87 Es markierte auch nach unten die Grenze zwischen der Adelsgesellschaft 83 Schwebel, 1937, S. 180-188. 84 Auf die Bedeutung städtischer »Verehrungen« an kaiserliche Amtsträger, die es schon im 16. Jahrhundert gab, hat bereits Georg Schmidt hingewiesen: Schmidt, 1984, S. 177-179. 85 ISG Ffm, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Bd. 1, fol. 270. 86 Ebd., fol. 284. 87 Osborne, 2013. 415
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und dem einfachem »volck«, mit dem man nicht zeremoniell interagierte.88 Die Zeit, den Aufwand und die Unbeirrbarkeit, mit dem die reichsstädtischen Magistrate das Zeremonienwesen betrieben, lassen sich daher als der Versuch ansehen, auf der ›richtigen‹ Seite dieser sozialen Grenze stehen zu bleiben. Allerdings folgten nicht alle Gratulationsbriefe diesem eher allgemeinen Bemühen um die »Conservation dero gemeinen Statt=Wesens«, wie es der neu ernannte Reichshofratspräsident Wurmbrand in einem Dankesschreiben 1728 formulierte.89 Gerade im Falle der Mitglieder von Reichshofrat und Reichskammergericht verfolgte der Magistrat auch spezifische Interessen und hatte konkrete Erwartungen, z.B. an den neuen Kammerrichter Ambrosius Franz von Virmont. Als man diesem 1742 zur Ernennung gratuliert hatte, schrieb er zurück, dass es ihm »besonders angenehm sey[], Gelegenheit zu finden, denselben was Vergnügliches erweisen zu können«.90 Nach den jahrelangen Konflikten mit der eigenen Bürgerschaft im sogenannten Verfassungsstreit (1705-1732)91 wollte sich die städtische Obrigkeit einen exklusiven Zugang zu den Juristen der Reichsgerichte offenhalten. In dieser Hinsicht bestand das Patronageverhältnis nicht zwischen dem fürstlich-richterlichen Patron und der Reichsstadt, vielmehr war hier allein der Magistrat der Klient. Aus dem gleichen Interesse an der amtlichen Position und den damit verbundenen Entscheidungsmöglichkeiten wurden auch Reichskammergerichtsassessoren in Frankfurt (und anderen Reichsstädten) mit diplomatischem Protokoll empfangen. Korrespondenzpartner und Empfänger von Gratulationsschreiben wurden die Assessoren allerdings nicht. Die Kontakte blieben an die Zufälligkeit der Durchreise geknüpft. Umso wichtiger erschien Bürgermeistern und Ratsherren daher ein vollständiges Zeremoniell – und sie reisten dem Assessor nötigenfalls nach, wenn dieser nicht die Zeit fürs Protokoll aufbringen konnte oder den Zeitpunkt für den Empfang städtischer Geschenke für ungünstig hielt.92 Als sich 1783 der zuvorkommende Assessor Fahnenberg nach seinem Antrittsbesuch bei den Bürgermeistern unmittelbar wieder nach Wetzlar aufmachte, bat man den dortigen Ratskonsulenten Caspar Friedrich Hofmann, das »Compliment namens eines Hoch=Edlen Raths […] zu erstatten, und demselben das 88 Dazu immer noch Daniel, 2000. 89 ISG Ffm, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Bd. 1, fol. 278v. 90 ISG Ffm, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Bd. 2, fol. 20. Zur Korrumpierbarkeit der Kammerrichter vgl. Loewenich, 2012. 91 Dazu Hohenemser, 1920; Koch, 1991. 92 Ein Beispiel dazu findet sich in Krischer, 2006b, S. 173f. 416
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gewöhnliche Praesent zu offeriren«.93 Hofmann wusste genau, was er dabei zu tun hatte, schließlich funktionierte die Pflege ungleicher Außenbeziehungen in Wetzlar nicht viel anders als in Frankfurt.
5. Fazit Für die ältere Forschung war die Außenpolitik der Reichsstädte in der Frühneuzeit durch Niedergang und Bedeutungslosigkeit geprägt. Die jüngere stadthistorische Forschung wiederum hat unter sozial- und kulturgeschichtlichen Vorzeichen das Thema kaum noch aufgegriffen. Tatsächlich blieben die offiziellen Foren diplomatischer Interaktion (Höfe, Friedenskongresse, Reichstag) den Reichsstädten entweder weitgehend versperrt oder bargen das Risiko geringschätziger Behandlung. Aber in einer Epoche der auswärtigen Beziehungen, die noch nicht von der klaren Dichotomie zwischen souveränen, außenpolitisch agierenden Staaten einerseits und Privatpersonen andererseits geprägt war, eröffneten sich auch für die Reichsstädte noch verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Eine innovative Perspektive in der Stadtgeschichte liegt also in der Abkehr von einer älteren Vorstellung von Außenpolitik und der Perspektiverweiterung auf unterschiedliche Ebenen und Praktiken von Außenbeziehungen. Frühneuzeitliche Außenbeziehungen wurden durch ein weiteres Spektrum von Akteuren geprägt als dasjenige Feld, das die ältere Historiographie mit dem Begriff »Internationales System« im Sinn hatte. Hinsichtlich der beteiligten Personen, der Mittel und Foren der Diplomatie ist deshalb von einer größeren Varietät auszugehen, gab es doch nicht nur Kabinette, Minister, Botschafter, Konferenzen und Verträge. Man hat es im 17. und 18. Jahrhundert nicht im eigentlichen Sinne mit Staaten, sondern vor allem mit sehr ungleichen Akteuren der Fürstengesellschaft zu tun. In diesem politisch-sozialen Kontext können Außenbeziehungen unter dem Aspekt der (sozialen) Verflechtung und der dazu gehörigen Praktiken betrachtet werden. Die Zeremonialquellen, die im Frankfurter Archiv reichhaltig überliefert sind, stellen dafür ein wichtiges Anschauungsmaterial dar. Darin werden kleinere und größere Erfolge bei Gesandtschaften an die Höfe, bei Empfängen hoher Standespersonen in der Stadt oder in der Korrespondenz dokumentiert. Auf der Mikroebene zeigen sich dabei zahllose Beispiele dafür, wie etwa Ratsvertreter an Fürstenhöfen behandelt wurden – nämlich mit gewissen Ehrenbezeugungen – und wie Fürsten sich auch umgekehrt beim Aufenthalt in der Stadt auf das Empfangszeremoniell einließen. 93 ISG Ffm, Zeremonienbücher, Bd. 3, Sp. 11. 417
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Die Frankfurter Praxis lässt sich auch für andere Reichsstädte nachweisen. Von einer Exklusion der Reichsstädte aus der Fürstengesellschaft – und damit auch aus der frühneuzeitlichen Völkerrechtspraxis – kann daher nicht die Rede sein, auch wenn die Magistrate die fürstliche Interaktionsbereitschaft teilweise eigens motivieren mussten, mit Geschenken etwa. Durch die erfolgte diplomatisch-zeremonielle Kommunikation mit hochadligen Akteuren bestätigten reichsstädtische Magistrate zum einen ihr traditionelles Selbstbild, selbst ein Teil der Adelswelt zu sein – und gerade keine bürgerliche Republik, kein ›Sonderfall‹ in einer ansonsten fürstlich-monarchisch geprägten politisch-sozialen Umwelt. Zum anderen war das Bemühen um die Akzeptanz auf der Bühne des diplomatischen Zeremoniells aber auch als ein kontinuierliches Engagement im Feld der Außenbeziehungen zu lesen. Die schiere Partizipation daran – ganz unabhängig von dem, was am Ende dabei herauskam – war in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit für alle Herrschaftsträger wichtig, die ihre herkömmlichen Freiheiten und Territorialhoheiten bewahren wollten.94 Wer sich nicht auf dem höchst disparaten Feld der Außenbeziehungen seine Nische suchte, geriet in die Gefahr, in den Status der Untertänigkeit zu geraten. Daher findet man entsprechende Aktivitäten, zeremonielle Interaktionen vor Ort und auswärts, nicht nur bei Reichsstädten, sondern auch bei solchen Städten, die sich gegen einen landsässigen Status stemmten (Braunschweig, Münster). Völlig ergebnislos wurden die reichsstädtischen Außenbeziehungen indes nicht gepflegt: Sie konnten beispielsweise dazu dienen, informelle Kanäle zu Entscheidungsträgern bei den Reichsgerichten oder am Kaiserhof aufzubauen. Schließlich: Zeremonielle Interaktion war ein wichtiges Medium reichsstädtischer Außenbeziehungen. Aber diese erschöpften sich sicherlich nicht darin. Gerade das Feld der Patronage kannte noch andere Dimensionen als die symbolische Kommunikation. Auch wirtschaftliche und Handelsbeziehungen lassen sich unter Umständen als Außenbeziehungen interpretieren. Das Bild der angeblich erstarrten und in die Bedeutungslosigkeit versinkenden Reichsstädte des 18. Jahrhunderts lässt sich weiter revidieren, wenn mit der mikrogeschichtlichen Perspektive die vielfältigen Beziehungsebenen und Austauschprozesse mit der sozialen Umwelt unter die Lupe genommen werden.
94 Dazu jetzt auch Indravati, 2016. 418
Reichsstädtische Außenbeziehungen in der Frühen Neuzeit
Abstract Early modern foreign relations were typically asymmetrical. They allowed for numerous political actors to emerge whose status could not be expressed in the terminology of the law of nations and whose status criss-crossed the dichotomy between sovereigns and private persons. In the case of imperial cities, foreign relations always constituted a ritual process, a field of practice where ceremonial interaction was not of minor importance, but at the very centre of diplomatic relations. Urban emissaries being treated as diplomats or princes accepting a ceremonial reception by mayors and aldermen could be understood as signs of political and social acceptance which the ruling high nobility extended to imperial cities. This social factor in early modern diplomacy reminds us of the fact that we are not dealing with states, but with dynasties and princes who did not form an ›international system‹, but a society of princes. Although this aristocratic network produced problems for republican entities such as imperial cities in terms of social status, it was at the same time characterized by a tolerance of politico-legal ambiguity which ultimately allowed for a kind of urban status politics to develop through symbolic communication.
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Habsburgs Rückkehr – die Frankfurter Konfliktlandschaft im Spannungsfeld kaiserlich-preußischer Rivalität Thomas Lau Nach Aussage Karls VII. war der Tag seiner Krönung der einzig glückliche seines ersten Regierungsjahrs als Kaiser – die folgenden sollten nicht günstiger verlaufen. Abhängig von französischen Subsidien und Militärhilfe musste er fast zwei Jahre in Frankfurt residieren – erst im Oktober 1744, drei Monate vor seinem Tod, konnte er nach München zurückkehren.1 Sein Sohn übernahm am 20. Januar 1745 ein mehr als schwieriges Erbe, war es doch ein offenes Geheimnis, dass Österreich sich anschickte, das Kurfürstentum erneut zu besetzen und es als Kompensation für das an Preußen verlorene Schlesien zu annektieren. Einen Ausweg bot lediglich die Zustimmung des Wittelsbachers, bei der kommenden Kaiserwahl den Gatten Maria Theresias – Franz Stephan – zu unterstützen. Es war ein politischer Tauschhandel, der sich bereits im Frühjahr 1745 abzeichnete und der die nachträgliche Anerkennung des verstorbenen Kaisers durch die Habsburger beinhaltete. Der Traum von der Wittelsbacher Großmacht wurde mit ihm beerdigt, was blieb, war der Glanz der von ihm getragenen Krone.2 Die im Vertrag von Füssen (22. April 1745) zugesicherte Wahl Franz Stephans und der gelungene Ausgleich zwischen dem Hause Habsburg und dem Hause Wittelsbach war das eine, die Umsetzung der Vereinbarung etwas Anderes. Neben letzten politischen mussten auch technische Probleme gelöst werden. Dazu gehörte es, den Zugang der Kurfürsten zum Wahlort zu gewährleisten. Daraus, dass Frankfurt sich noch immer im militärischen Operationsgebiet der Franzosen befand, erwuchsen aus Sicht des engsten Beraterstabes um Maria 1 2
Hartmann, 1985. Ehgartner, 1910. 427
Thomas Lau
Theresia indes nicht nur Probleme, sondern auch Chancen. Das Haus HabsburgLothringen gewann Zeit für die Vorbereitung der Wahlverhandlungen. Es galt, das Profil eines Kandidaten zu schärfen, der auf dem Balkan und in Böhmen als wenig glücklicher Feldherr agiert hatte und am Wiener Hof als Großherzog der Toskana und Mitregent im zeremoniellen Schatten seiner Frau stand. Franz Stephan drängte auf den Oberbefehl jener Truppenverbände, die Frankfurt aus der militärischen Umklammerung des Feindes lösen sollten. Seine Frau zögerte – vorgeblich aus Sorge um die Person ihres Gatten.3 Als Franz Stephan schließlich mit dem Kommando betraut wurde und am 8. Juli 1745 im Feldlager eintraf, hatte er kaum noch die Gelegenheit, militärische Fehler zu machen. Feldmarschall Daun hatte das Feld für ihn bereitet. Gegenüber der Stadt und dem Reich konnte sich der Großherzog indes als Sieger präsentieren. Der erste Schritt einer Inszenierung der triumphalen Rückkehr des Hauses Habsburg war getan, ihm sollten weitere folgen. Der erste Schritt hin zur Kaiserkrone war bezeichnend für die Rückkehr der Habsburger an die Spitze des Reiches.4 Franz Stephan und seine Frau versuchten die Erwartungen der Reichsstände, aber auch jene der Zeitungsleser und Bürger der Reichsstadt Frankfurt zu erfüllen. So wurde auch im Rahmen der Wahlverhandlungen, die bereits am 13. September mit dem gewünschten Ergebnis endeten, und der Kaiserkrönung am 4. Oktober auf eine akribische Einhaltung tradierter Handlungsketten geachtet. Die Königin hatte umfangreiche und in dieser Intensität ungewöhnliche Recherchen in Auftrag gegeben, um das Krönungszeremoniell bis ins Detail vorzubereiten – stets unter der Maßgabe, dass nicht die kleinste Abweichung gegenüber dem überkommenen Ritus zu beobachten sein dürfe. Nicht der Hauch eines Zweifels sollte aufkommen, dass mit Franz I. nicht nur das Haus Habsburg auf den Thron zurückkehrte, sondern zugleich die geheiligte Ordnung des Reiches wiederhergestellt wurde. Die Obstruktionshaltung der Kurfürsten von Brandenburg und von der Pfalz, die Protest gegen die Kaiserwahl einlegten, führte eher noch zu einer Intensivierung dieser Bemühungen.5 Gleichwohl leitete die Wahl des Lothringers einen Wandel der Spielregeln in der Reichspolitik ein – einen Wandel, der sich nicht nur in den europäischen Entscheidungszentren niederschlug, sondern auch in der Verschiebung der Machtverteilung zwischen rivalisierenden Gruppen innerhalb einer Reichstadt wie Frankfurt spürbar wurde. Diese Veränderung soll im Folgenden nicht im 3 4 5 428
Lau, 2016c, S. 99f. Zedinger, 2008, S. 179-200. HHStA Wien, Ältere Zeremonialakten 44, 1745, insbesondere fol. 190-272.
Habsburgs Rückkehr
Sinne einer sich verändernden Verortung der Reichsstädte in der Reichsverfassung analysiert werden. Es geht nicht um städtische Reichs- oder Außenpolitik, da dieser Ansatz die Stadt als eine klar definierbare Entität, die geschlossen gegenüber Dritten auftritt, voraussetzt.6 Dass Räume sozial konstituierte Entitäten sind und damit in ihrem Bestand ebenso veränderlich wie instabil, gehört im Gefolge des Spatial Turn mittlerweile zu den Gemeinplätzen der Forschung.7 Diese Aussage mit Substanz zu erfüllen, ist indes alles andere als unproblematisch. In der archivalischen Überlieferung tritt uns die Stadt Frankfurt als klar definierte Rechtspersönlichkeit gegenüber, und das aus gutem Grund: Um Ansprüche auf Reichsebene vertreten zu können, war der Rat nicht daran interessiert, die Brüche zwischen Obrigkeit und Bürgerschaft, zwischen Beisassen und Bürgern, zwischen Juden, Katholiken, Reformierten und Lutheranern, zwischen Sachsenhausen und den übrigen Stadtvierteln, zwischen reichsstädtischen Dörfern und der Reichsstadt, zwischen Reichsstift und Rat, zwischen permanent Ansässigen und Gästen zu thematisieren.8 Auch die Unterschiede zwischen der Stadt Frankfurt als Rechtsraum und der Stadt Frankfurt als ökonomischer Agglomeration (zu der durchaus auch Hanau zu zählen war) oder zwischen dem Stadtraum Frankfurt und dem Reichsstand Frankfurt sind allenfalls auf den zweiten Blick erkennbar. So ist verständlich, dass die Historiographie der Aktenlage folgend das frühneuzeitliche Raumkonstrukt Reichsstadt ungebrochen rekonstruiert hat und dies zum Teil bis in die jüngste Zeit hinein tut.9 Deutlich wird dies etwa in der Forschungsdebatte zur reichsstädtischen Außenpolitik. Schon der Begriff präfiguriert das Ergebnis: Binnen- und Außenraum, System und Umwelt werden voneinander geschieden. Eine erstaunliche Vorgehensweise, ist doch die Grenzziehung zwischen Frankfurt und seiner Umwelt ausgesprochen schwierig. Von der Vermengung von Herrschaftsrechten im Untertanengebiet der Reichsstadt abgesehen, finden sich auch innerhalb der Stadt Enklaven, die obrigkeitlichen Kontrollen des Rates entzogen waren – wie das Reichsstift St. Bartholomäus.10 Letzteres war aus ökonomischer und sozialer Sicht selbstverständlich Teil der Stadt, aus juristischer jedoch nicht. Noch problematischer wird die Scheidung zwischen der Binnen- und der Außensphäre 6 7 8 9 10
Lau, 2012, S. 7f. Löw, 2001, S. 130-230. Dazu Moser, 1732. So etwa Goppold, 2007. Flachenecker, 2004. 429
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auf der Ebene der Akteure und der Akteursgruppen. Für die jüdische Gemeinde beginnt die Außensphäre bereits außerhalb der Judengasse.11 Da die moderne Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit (übrigens nicht nur in Bezug auf die Reichsstädte) nicht trägt, hat die neuere Diplomatiegeschichte den Begriff der Außenverflechtung an die Stelle der Außenpolitik gestellt – mit der ausdrücklichen Maßgabe, nicht die sozial konstituierten Räume, sondern die sich in und zwischen ihnen auf verschiedenen Ebenen bewegenden Akteure in das Zentrum ihrer Untersuchungen zu stellen.12 Die Vorstellung, die Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit seien von geschlossenen staatlichen Entitäten betrieben worden, ist damit längst ad acta gelegt.13 Auch der netzwerkanalytische Ansatz beruht allerdings auf der Voraussetzung, dass sich Innen und Außen scheiden lassen – lediglich die Grenze zwischen beiden Sphären wird durchlässiger und die Möglichkeit der Mehrfachzugehörigkeit wird eingeräumt. Der Forscher oder die Forscherin entkommt damit nicht dem Problem, zunächst das zu konstruieren, was er oder sie dann untersucht.14 Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Die historische Raumforschung gibt hier wichtige Hinweise, sofern sie an die eigentlichen Wurzeln des Cultural Turn, die im Performative Turn der 1950er Jahre liegen,15 rückgebunden werden und den Raum nicht als gegeben, sondern als flüchtig und wandelbar begreift. Schon Goffman zeigte, wie soziale Akteure ihre Bühnen kollektiv gestalteten.16 Verändern sich die Interaktionsgruppe und die Rahmenumstände ihres Zusammenspiels – wird also gleichsam der Spielplan des sozialen Theaters geändert –, so verändert sich auch die Bühne. Dies betrifft nicht nur die Gestaltung des Raumes sondern auch dessen Grenzen.17 11 Allenfalls für die patrizische Elite der Reichsstadt, die eine weitgehend endemische Heiratspolitik betrieb, mochte die strikte Trennung zwischen Innen- und Außenraum greifen, vgl.: Hansert, 2014, S. 275-286. Vgl. jedoch demgegenüber Johann Wolfgang Textor, der als kaiserlicher Rat firmierte und mit der hessendarmstädtischen Elite verschwägert war: Dietz, 1894. 12 Von Thiessen, 2010, S. 471-503. 13 Haug, 2015. 14 Dasselbe gilt für die Theorie der empowering interaction, die die Genese des Staates aus polypolarer Perspektive untersucht, dabei die Existenz eines stabilen Interaktionsfeldes jedoch voraussetzt: Holenstein, 2009, S. 1-31. 15 Fischer-Lichte, 2013. 16 Goffman, 1956. 17 Rau, 2013. 430
Habsburgs Rückkehr
Im Folgenden soll die Stadt ganz in diesem Sinne als eine Verdichtung von sich überlappenden, situativ immer wieder definierenden Ständen, Interessenverbänden, Religionsgemeinschaften und Klientelnetzen verstanden werden, die über die Stadt hinausreichten, sich miteinander in Konkurrenz befanden und nach Bündnispartnern suchten. Die Grenze zwischen Innen und Außen wird dementsprechend nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern es wird davon ausgegangen, dass sie im Spiel der Akteure untereinander immer wieder neu konstituiert wird.18 Dasselbe gilt für die Regeln der Interaktion, die von ihnen befolgt oder eingefordert wurden.19 Dieser Streit um Regeln und für alle verbindliche Entscheidungen – der politische Konflikt also – war selbstverständlich kein voraussetzungsloser.20 Er wurde auf Grundlage und mithilfe von Argumentationsmustern, Symbolen, Begriffen, Mythen und Rechtsfiguren geführt, die die Spielräume der Akteure begrenzten. Verschiebungen in der Ressourcenverteilung zwischen potentiellen Bündnispartnern sind ein geeigneter Anknüpfungspunkt, um zu untersuchen, wie eng diese Grenzen für die reichsstädtischen Akteure gezogen waren. Dass der Kaiser 1745 darauf bedacht war, sie als möglichst verbindlich und einengend zu definieren, hatte bereits sein Verhalten bei der Thronbesteigung unterstrichen. Frankfurts Bürgern wurde – ebenso wie den anderen Reichsständen – die Unantastbarkeit und Unveränderlichkeit der Reichsverfassung vor Augen geführt. Der Kaiser, und nur er, war und blieb Oberhaupt des Reiches und natürlich auch Herr der Reichsstädte. Mit der Krönung war ein Anspruch verbunden; ob er sich durchsetzen lassen würde, durfte bezweifelt werden. Dass Franz I. kaum unmittelbar an das Erbe seines Schwiegervaters Karls VI. anknüpfen konnte, lag auf der Hand, denn nicht er, sondern seine Ehefrau – Maria Theresia –, die auch für die Kosten der Krönungsfeierlichkeiten aufkam, verfügte über die umfangreichen Ressourcen der habsburgischen Erblande.21 Dass sie selbst auf eine Krönung als Kaiserin verzichtete, ist wohlbekannt und wird gerne als Zeichen der Distanz zum Reich gewertet. Treffender wird dieses Verhältnis wohl durch eine Episode illustriert, die Oberhofmarschall Khevenhüller in seinem Tagebuch notiert: Am 26. Oktober 1746 berief der Kaiser den Geheimen Rat (der nicht mit dem Reichshofrat zu verwechseln ist) ein. Maria Theresia nahm an der Tagung des Gremiums
18 19 20 21
Lau, 2016a. Giddens, 1995, S. 151-191. Vgl. dazu Asch/Freist, 2005; Stollberg-Rilinger, 2005. HHStA Wien, Ältere Zeremonialakten ÄZA 44, 1745, fol. 255. 431
Thomas Lau
nicht teil. Sie hatte jedoch in die Tür zum Sitzungszimmer ein Loch bohren lassen und beobachtete die Session offenbar genau und mit großem Interesse.22 Die Kaiserin war wohl die wirkungsmächtigste Abwesende in den Reichsgremien. Selbst in Sitzungen des Reichshofrates wurde bei Entscheidungen, die dem Kaiser vorzulegen waren, darüber beraten, wie wohl die Kaiserin den Beschluss aufnehmen würde. Zwar hatte sich seit 1740 zum Leidwesen des neuen Reichsvizekanzlers Rudolph Joseph von Colloredo der Schwerpunkt der habsburgischen Politik eindeutig auf die Erblande verlagert – was sich nicht zuletzt in der Zusammensetzung der Geheimen Konferenz widerspiegelte, aber auch darin, dass die Krönung des Mannes in Wien aufwändiger gefeiert wurde als in Frankfurt23 – von einem Desinteresse des Hauses Österreich am Alten Reich konnte indes keine Rede sein. Dies zeigte schon die entschlossene Personalpolitik des neuen Kaisers. Colloredo, der faktische letzte Leiter der Reichshofkanzlei unter Karl VI., wurde Reichsvizekanzler, Johann Wilhelm von Wurmbrand erneut Reichshofratspräsident – die zwei Hauptprotagonisten der Reichspolitik Karls VI. waren damit wieder im Amt.24 Darüber hinaus wurde durch die Beeinflussung der Wahlen in den Reichsstiften, durch die Ernennung zuverlässiger Residenten, durch die intensive Beeinflussung der Reichstagsgesandten und durch die kaiserliche Protektionspolitik gegenüber den kleineren Reichsständen eine Klientelpolitik betrieben, die über die von Karl VI. gesetzten Maßstäbe hinausging.25 Auch für Frankfurt war dies spürbar. So wirkte der einflussreiche Johann Anton von Pergen seit 1753 als Gesandter in Mainz, also in unmittelbarer Nähe der Reichsstadt, und hielt Kontakt zum dortigen kaiserlichen Residenten Blumenthal. Schon 1745 war mit Heinrich Christian (seit 1751 von) Senckenberg erstmals ein Sohn der Stadt in den Reichshofrat berufen worden.26 Angesichts der zahlreichen Reichshofratsprozesse aus Frankfurt, die Johann Jacob Moser einst zu dem Bonmot verleitet hatten, Frankfurt werde von Wien aus regiert, schien dies ein weiterer Schritt zu sein, um die wichtige Messe- und Festungsstadt noch enger an den Kaiser zu binden. Ungeachtet dieser Bemühungen hatte Wien jedoch mit erheblicher Konkurrenz zu kämpfen. Seit 1740 war Preußen zu einer Macht aufgestiegen, die eine überaus aktive Reichspolitik betrieb und dabei die Reichsstädte – insbesondere 22 23 24 25 26 432
Khevenhüller-Metsch, 1908, S. 121. Anon., 1746. Zedinger, 2008, S. 199. Rohrschneider, 2014. Kriegk, 1869, S. 20.
Habsburgs Rückkehr
Frankfurt – in ihren Bannkreis zu ziehen wusste. Es war eben diese Konkurrenz, die Franz Stephans Handeln in den Jahren seiner Regentschaft bestimmen sollte. Der Kaiser musste in den Reichsstädten – und nicht nur hier – stets die Aktionen eines Konkurrenten berücksichtigen, der weitaus einflussreicher war als alle bisherigen Gegenspieler auf reichspolitischer Bühne. Das reichspolitische Konzept der Hofburg, die Ressourcen des Reiches aufzubieten, um die Position des Hauses Habsburg zu stabilisieren, konnte er noch weniger realisieren als seine Vorgänger.27 Wie diese neue Situation in der Reichsstadt Frankfurt – als ein empfindlicher Gradmesser für den kaiserlichen Einfluss im Reich – wahrgenommen und genutzt wurde, soll im Folgenden auf der Grundlage von drei Einzelfällen schlaglichtartig analysiert werden. Es handelt sich um die Untersuchung von Münzmanipulationen in der Judengasse, den Fall Voltaire und den Konflikt um den reformierten Gottesdienst in Frankfurt.
1. Hausdurchsuchungen in der Judengasse – die Frankfurter Konfliktlandschaft Im Bestand »Kleinere Reichsstände« im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist die Abschrift eines 175128 entstandenen Briefes des Ratsschreibers der Stadt Frankfurt, vermutlich Johannes Adolph Seeligs,29 an den Rat erhalten, der Bestandteil eines umfangreicheren Verfahrens war.30 Der Autor wehrte sich gegen Vorwürfe aus der jüdischen Gemeinde. Der Beschwerdeführer wurde nicht genannt, aber es handelte sich wahrscheinlich um die im Wechselhandel tätigen jüdischen Geschäftsleute Hänle, Schuster und Lechenich.31 Zu seinen Aufgaben, so Seelig, gehöre unter anderem sein Dienst als Examinator. Da der Rat befohlen habe, gegen Münzmanipulationen einzuschreiten, habe er mit Ermittlungen begonnen und diese vor allem auf die Judengasse konzentriert. Dort habe er schon seit langem mit Schlomme Dillerheim, 27 Aretin, 1997, S. 19-112. 28 Die vorliegende Abschrift des Briefes ist undatiert. Er nimmt allerdings direkt auf die Münzkommission von 1749 als letztjährige Bezug. Zudem erklärt der Schreiber, er wirke seit 25 Jahren als Schreiber. Seelig wurde 1726 in das Ratsschreiberamt berufen. 29 Anon., 1748, S. 9. 30 HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 199r-207v. 31 Zum Fall Schuster-Lechnich Anon., 1760, S. 11-13. 433
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einem Kontaktmann innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, kooperiert. Dessen Informationen hätten sich stets als glaubwürdig erwiesen, und er habe mit seiner Hilfe eine Reihe von Diebesgut wiederbeschaffen können. Nun habe er ihn gebeten, im Umfeld der Messe auf Münzvergehen zu achten. Als Dillersheim ihm tatsächlich entsprechende Nachrichten habe zukommen lassen, habe er die beiden Bürgermeister kontaktiert und um Genehmigung gebeten, beim nächsten konkreten Hinweis Hausdurchsuchungen bei etwaigen Verdächtigen vornehmen zu dürfen. Den Namen seines Kontaktmannes habe er verschwiegen, da in der Vergangenheit der Quellenschutz immer wieder unterlaufen worden sei. Der Rat habe die entsprechenden Durchsuchungen dessen ungeachtet genehmigt. Als der Ermittler beim nächsten Hinweis seinem Auftrag gemäß vorgegangen sei, sei das Ergebnis indes enttäuschend gewesen. Zwar habe er einige Gegenstände, die den Verdacht der Hehlerei nahelegten, sichergestellt, klare Beweise für Münzmanipulationen habe er aber nicht gefunden. Noch während der Durchsuchung sei es zu Konflikten mit der jüdischen Gemeinde gekommen. Diese habe die Versiegelung des verdächtigen Kontors verlangt, während er dies zurückgewiesen und die beschlagnahmten Gegenstände in einen Kasten getan und während der Nacht in seinem Wohnhaus gelagert habe. In den folgenden Tagen hätten die Spannungen noch zugenommen. An den Rat ebenso wie nach Wien seien von jüdischer Seite Protestschreiben gesandt worden.32 Er selbst sei beschuldigt worden, Teile der beschlagnahmten Ware gestohlen zu haben und sein Amt zu missbrauchen. Er weise all diese Vorwürfe entschieden zurück.33 Seit 25 Jahren diene er dem Rat – als Ermittler könne er aufgrund von Arbeitsüberlastung dabei nur in einem Teil seiner Arbeitszeit wirken. Warum das durchsuchte Haus keine oder zumindest nur unzureichende Hinweise auf eine Straftat geliefert habe, wisse er nicht. Behauptungen, er habe die Durchsuchung des Kontors Schuster-Lechnich nur durchgeführt, um eigenen Freunden in der Judengasse, mit denen er stets zusammensitze und die auch mit dem Ratsherren und jüngeren Bürgermeister Dr. Nikolaus Konrad Hupka bekannt seien, einen Gefallen zu erweisen, seien nichts als üble Nachrede. Auch den Vorwurf, er habe mit dem Eindringen in das Kontor seine Kompetenzen überschritten, weise er zurück. Eine Verständigung des Rates sowie der jüdischen Gemeindeleitung vor der Aktion hätte den Erfolg des Zugriffs gefährdet. Zu groß sei die Gefahr 32 Zur Prozesstätigkeit jüdischer Mitglieder vor dem Reichshofrat vgl. Kasper-Marienberg, 2012. 33 Die Betroffenen erhoben im Übrigen gegen die Maßnahmen, die gegen sie eingeleitet wurden, Rechtsbeschwerde vor dem Reichshofrat: Braunschweigische Anzeigen, 1752, Sp. 1970. 434
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gewesen, dass einmal mehr die Betroffenen zur Unzeit gewarnt worden wären. An sich sei die Sachlage vollkommen klar, und er könne eigentlich darauf vertrauen, dass seine gute Amtsführung für sich selbst spreche. Kompliziert werde der Fall aber aufgrund der sich überlagernden Konflikte: »Die weilen aber die bißherige leidige Erfahrung bey der Sache so viel ergeben, daß die Juden an theils Orten, wie schon gedacht ziemlich ingress finden, und von manchem in dem Werk gar nicht informirten auf eine praeoccupirte und passionierte Art, wie der Blinde von der Farbe raisonieret wird, auch wegen der in der Judengaß sich der malen findenden zweyerleey Partheyen, welche sich auch außer der Gaße biß in die Stadt extendiret haben, die Sachen von Niemandem mit ohnpartheyischen Augen recht und auf den Grund eingesehen werden will, wordurch aber gar leichtlich geschehen kann, daß in solchem Fall die Unschuld nicht an den Tag komme, herentgegen aber auch das Böse zuletzt nicht gestraft werde.«34
Der Schreiber des Berichts warnte mit diesen Worten vor der Unübersichtlichkeit des Konfliktes, in den er geraten war. Da war zunächst die Auseinandersetzung innerhalb der jüdischen Gemeinde. Die sogenannten Kulp-Kannschen Wirren hielten die Judengasse seit 1749 in Atem.35 Die Familie Kann hatte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Schlüsselposition innerhalb der Gemeinde erlangt. Neben dem Renommee der Gelehrsamkeit waren es die geschäftlichen Beziehungen zu den Kurfürsten von der Pfalz und Mainz und vor allem zum Landgrafen von Hessen-Darmstadt, als deren Hoffaktor Isaak Kann fungierte, die die Macht der Familie zementierten. Gleichwohl war es ihr nicht gelungen, potentielle Rivalen hinreichend in die eigenen Netzwerke zu integrieren. Die Familien Kulp und Beyfus begannen innerhalb des Leitungsgremiums der Judengasse, der Gruppe der Baumeister, zu opponieren. Sie warben zudem innerhalb der Gasse um Unterstützung in ihrem Kampf gegen die »Tyrannei« des Isaak Kann. Da sie einen durch Gemeindekörperschaften – wie die Baumeister oder das Oberrabbinat – ausgehandelten Vergleich ablehnten, gelangte der Streit vor den reichsstädtischen Rat. Zudem schaltete Kulp als Hoffaktor des Kaisers die Hofburg in den Fall ein. Auch innerhalb der Stadt hatte, wie der Brief des Ratsschreibers zeigt, der Konflikt Wellen geschlagen. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde hatten nach Bündnispartnern innerhalb des Rates ge34 HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 200r. 35 Kracauer, 1927, S. 166-216. 435
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sucht, und die jeweilige Gegenseite argwöhnte Parteinahme und Korruption bei jeder Entscheidung des Senats, die nicht zu ihren Gunsten ausfiel. Verkompliziert wurde die Lage zusätzlich durch den seit 1749 intensivierten Kampf des Kaisers gegen Münzmanipulationen in Frankfurt. Schon im 17. Jahrhundert hatten die Habsburger mit Kommissionen und Prozessen gegen die sogenannten Kipper und Wipper in Frankfurt ihre Machtposition gegenüber dem Oberrheinischen Reichskreis, der ebenfalls für Münzangelegenheiten zuständig war, zu stärken versucht.36 Zuletzt hatte sich Karl VI. 1737 in diesem Sinne engagiert. Franz I. Stephan hatte mit Hinweis auf die negativen Folgen von Münzmanipulationen auf die Heeresfinanzierung und unter Berufung auf Anzeigen aus der Stadt die Strafverfolgung neu aufgenommen.37 Gegengezeichnet vom Reichsvizekanzler Colloredo, wurde am 22. Januar 1749 General-Feldmarschall-Leutnant Johann Franz von Pretlack damit beauftragt, die »Praktiquen« zu untersuchen. Der Rat der Stadt hatte gegen die Ernennung zunächst protestiert, nachdem der Kaiser jedoch im April 1749 mit einer Exekution gedroht hatte, schließlich eingelenkt. Die Untersuchungen begannen im Mai 1749 und konzentrierten sich auf das Wechselgeschäft in der Judengasse. Früh schon war dabei das Kontor Schuster-Lechnich in den Fokus der Kommission geraten. Diese war im August 1749 auf den Titularreichshofrat Heinrich von Barckhaus38 und den kaiserlichen Residenten in Frankfurt von Mennerstorf übertragen worden und sollte bis zur Herbstmesse fortgeführt werden.39 Abschließend wurde eine Strafzahlung verhängt, die auf Initiative von Kann offenbar auf die gesamte Gemeinde umgelegt werden sollte – eine Maßnahme, die zu den erwähnten Unruhen führte.40 Die Ermittlungstätigkeiten Johann Adolph Seeligs fanden damit vor dem Hintergrund einer überaus schwierigen Gemengelage von Interessen statt. Der Rat als Ganzer musste gegenüber dem Kaiser und dem Reichskreis Handlungsfähigkeit zeigen, um die Ernennung einer weiteren Kommission zu verhindern. Abgesehen davon, dass sie als Eingriff in die Privilegien der Stadt abgewiesen wurde, drohten – wie sich in den folgenden Jahren zeigen sollte – dergleichen Untersuchungen, die enge Verflechtung der Ratseliten mit den Protagonisten der Münzmanipulation aufzudecken. Jene, die Seelig beauftragt hatten, waren 36 Dotzauer, 1998, S. 254-256; Kasper-Holtkotte, 2010, S. 290-292. 37 HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 207r sowie fol. 210r-212r. 38 Gschliesser, 1942, S. 523. 39 HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 27r-172r. 40 Gotzmann, 2008, S. 596. 436
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zwar daran interessiert als starke Obrigkeit aufzutreten, eine effiziente Ermittlertätigkeit wurde demgegenüber nur von einem Teil der Räte gefördert. Der Ratsschreiber hatte dies mit feiner Beobachtungsgabe wahrgenommen. Der Rat war zu gemeinsamen Beschlüssen und zum gemeinsamen Handeln nur solange fähig, wie er tagte. Sobald die Ratssitzung endete, wurden die in der Theorie verbindlichen Beschlüsse von einzelnen Ratsmitgliedern konterkariert. Weder die jüdischen Gemeindevorsteher noch der Rat, noch Bürgerausschüsse, die die Ratstätigkeit kontrollieren sollten, bildeten Leitungsgremien, die verbindliche Normen formulieren und durchsetzen konnten. Geprägt wurde die städtische Konfliktlandschaft vielmehr durch das Infragestellen von Grenzlinien und der sie konstituierenden Normen. Auch Verfahrenswege wurden immer wieder zur Disposition gestellt. Dies galt etwa für die Frage, ob der Reichshofrat grundsätzlich die Kompetenz hatte, in Münzangelegenheiten in der Stadt tätig zu werden – dies sahen die verschiedenen Fraktionen innerhalb der jüdischen Gemeinde, aber auch innerhalb des Rates durchaus unterschiedlich.41 Zu definieren, wer Innen- und Außenakteur in diesem Spiel der widerstreitenden Allianzen war, fiele schwer. Die Stadt bildete damit keinen kollektiven Akteur, auch keine Interaktionsgemeinschaft, die auf äußere Anforderungen reagierte, als vielmehr eine offene Bühne, auf der weit über die Stadtmauern hinausreichende Allianzen und Netzwerke aufeinandertrafen. Von städtischer Außenpolitik zu sprechen erscheint in diesem Zusammenhang einmal mehr als problematisch, setzt es doch die Möglichkeit der Abgrenzung zwischen Innen und Außen und die Fähigkeit, gegenüber Dritten als Handlungskollektiv glaubhaft aufzutreten, voraus. Beides lässt sich im Kontext der vorgestellten Konflikte nicht feststellen.42 Der Kaiser spielte als Stadtherr und Haupt des Reichshofrates eine vielschichtige Rolle auf der städtischen Konfliktbühne. Mindestens eine der rivalisierenden Interessengruppen innerhalb der Stadt pflegte mit einer Klage beim Reichshofrat oder einem direkten Appell an das Reichsoberhaupt zu drohen. Dies fiel umso leichter, als Franz I. wie seine Vorgänger in vielfacher Weise Anteil am städtischen Geschehen hatte – symbolisch (durch Wappen, Porträts oder Statuen), durch direkte Kommunikation (über Briefe, Druckschriften oder mündlich übermittelte Botschaften) und durch Stellvertreter wie den kaiserlichen Residenten in Frankfurt, kaiserliche Befehlshaber im Umfeld der Stadt, in Frankfurt ansässige Titularreichshofräte, Postmeister oder Hoffaktoren. Er wirkte durch tatsächliches Eingreifen, aber auch durch die bloße Möglichkeit 41 Jung, 1896, S. 238f. 42 Zum Konzept der Außenverflechtung als Alternative Thiessen, 2010. 437
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seiner Intervention. Städtische Akteure hatten stets die Reaktion des Kaisers auf ihr Handeln in ihren Entscheidungen mit zu berücksichtigen, wenn sie ein gewünschtes Ergebnis erzielen wollten.43 Selbstverständlich war der Kaiser keine konkurrenzlose Ordnungsmacht. Er hatte mit dem Kreis, mit einzelnen Reichsständen, mit dem Reichskammergericht und zeitweise auch mit dem König von Frankreich, dessen Militär die Stadt im Siebenjährigen Krieg besetzt hielt, in Wettbewerb zu treten.44 Der ausgesprochen starke Widerstand, auf den Franz I. Stephan 1749 traf, war in diesem Kontext nichts revolutionär Neues. Er wies gleichwohl darauf hin, dass Teile des Rates die Fähigkeit des Reichsoberhauptes, Normen zu setzen und durchzusetzen, auszutesten gedachten. Der Kaiser selbst reagierte darauf bemerkenswert flexibel. Der angekündigte Kampf gegen Kipper und Wipper folgte den Verhaltenserwartungen des Reiches an sein neues Oberhaupt. Franz Stephan trat als ordnende Hand gegen Normverletzungen durch Mitglieder der jüdischen Gemeinde auf. Die Art und Weise, wie er dies tat, war beachtenswert. Der Kaiser ernannte keine Münzkommissare, und er ließ kein Fiskalverfahren eröffnen. Stattdessen wurden die Reichshofkanzlei sowie ein in habsburgischen Diensten stehender hoher Militär eingeschaltet; erst in einem zweiten Schritt wurde der Reichshofrat in die Angelegenheit involviert. Stärker noch als Karl VI. verwischte Franz I. damit die Grenzen zwischen Reichshofkanzlei und Reichshofrat, zwischen diplomatischer Vertretung im Reich und Rechtsprechung. Die starke Berufung auf die Tradition bei der Außendarstellung seiner Amtstätigkeit hinderte ihn nicht daran, bisherige Verfahrenswege zu variieren und zu verändern.
2. Voltaires Verhaftung – die Stadt als abgrenzbare Konfliktbühne Die Reichsstadt um 1750 erscheint nach den bisherigen Ausführungen als eine unübersichtliche Bühne, auf der Interessengruppen Allianzen formten, diese kurzfristig wieder durchbrachen, Bündnispartner auf Reichs- oder regionaler Ebene suchten, welche die städtische Machtverteilung mit beeinflussten. Die Grenze zwischen der Stadt und ihrer Umwelt erscheint instabil, Beschlüsse des Rates schienen das Papier nicht wert zu sein, auf dem sie geschrieben waren. 43 Kriegk, 1871, S. 495-522. 44 Vgl. etwa den Fall Hoerner, der die komplizierte wechselseitige Durchdringung zwischen dem Erzbistum Mainz und der Reichsstadt Frankfurt illustriert: HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 3r-4v. 438
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War diese Stadt zu gemeinsamem Handeln fähig? Zumindest als Gemeinschaft der Bürger war sie es, wenn es galt, ihre kollektive Ehrbarkeit auf der Ebene des Reichs zu demonstrieren. Dies betraf insbesondere das Feld des Zeremoniells. Wenn etwa die Möglichkeit bestand, als Taufpate eines fürstlichen Prinzen aufzutreten oder bei der Kaiserwahl in die Rolle des Gastgebers zu schlüpfen, so konnten Rat und Bürgerschaft in bemerkenswerter Eintracht auftreten.45 Dies hatte sicher mit der fragilen Position eines kleinen Reichsstandes in einem für Fürsten geprägten Kommunikationsrahmen zu tun. Nicht weniger bedeutsam war indes die innenpolitische Funktion dieser Auftritte. Sie eröffnete Senatoren und Bürgern die Möglichkeit, die Stadt als Einheit zu konstruieren und erlebbar zu machen. Für einen Moment gab es eine klare Grenze zwischen innen und außen, zwischen jenen, die teilhatten an der Bürgergemeinschaft und denen dementsprechend eine Rolle zugewiesen wurde, und jenen, die davon ausgeschlossen waren. Gab es eine solche Trennung auch außerhalb des Feldes der symbolischen Kommunikation? Gab es Felder des intraurbanen Wettbewerbs, die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionierten und auf die Akteure außerhalb der Stadtmauern nur begrenzt Einfluss hatten? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen bietet der wohl bekannteste diplomatische Zwischenfall in Frankfurt während der Regierungszeit Kaiser Franz’ I. Stephan. François-Marie Arouet, genannt Voltaire, traf am 31. Mai 1753 in Frankfurt ein.46 Im Gepäck hatte er den preußischen Kammerherrnschlüssel und den Schwarzen Adlerorden. Einige sensible Schriftstücke aus königlicher Hand, unter denen sich auch die Gedichtbände Friedrichs II. befanden, hatte er in einer Kiste in Leipzig verstaut, die ihm nach Frankfurt nachgesandt werden sollte. Kaum im Gasthof zum Löwen angelangt, erhielt er schon am nächsten Tag Besuch. Der preußische Resident Freytag, Hofrat Schmidt und der Frankfurter Senator Rücker forderten ihn auf, das Eigentum des Königs unverzüglich auszuliefern. Bis dies geschehen sei, stehe er, Voltaire, unter Hausarrest. Der Dichter lieferte daraufhin die besagten Gegenstände aus, verwies aber darauf, dass er die Manuskripte momentan nicht besitze.47 Voltaire hatte daher in der Stadt zu verweilen und erwies sich in den nun folgenden Tagen als ein schwieriger Gast. Als international bekannter Schriftsteller zog er Besucher an und ließ es sich nicht nehmen, diesen von seinem Ungemach zu berichten. Bereits um den 5. Juni herum hatte sich eine Unterstüt45 Krischer, 2006. 46 Zum Folgenden Haupt, 1904; Ders., 1906; Ders., 1909. 47 Zur juristischen Begründung des Rates gegenüber der Reichskanzlei HHStA Wien, Reichskanzlei, Ministerialkorrespondenz 27-1-12. 439
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zergruppe um ihn geschart, zu der Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen, der Mainzer Resident Reibelt, der Frankfurter Senator Johann Erasmus von Senckenberg und der Buchhändler Franz Varrentrapp gehörten. Voltaire suchte die Nähe kaiserlicher Klienten und ließ ihnen mitteilen, dass er Franz I. gern preußische Staatsgeheimnisse verrate, wenn dieser ihn im Gegenzug aus Frankfurt befreie und ihn zum kaiserlichen Kammerherrn ernenne. Die Reichshofkanzlei beobachtete – die entsprechenden Bestände im Haus-, Hof- und Staatsarchiv belegen dies – die Situation und ließ sich genauestens über die Lage in Frankfurt informieren. Zum Zeitpunkt des Eklats um Voltaire bestand zwischen Maria Theresia und Friedrich II. allerdings kein Kriegszustand – im Gegenteil, die Habsburgerin zeigte sich bemüht, als friedliche Monarchin aufzutreten und Preußen nicht zu provozieren. So schwieg die Hofburg und der Dichter wurde unruhig.48 Am 17. Juni traf die Kiste mit den Schriftstücken ein. Voltaire wollte sie übergeben und abreisen, was Freytag zurückwies – er brauche weitere Instruktionen. Voltaire versuchte nunmehr zu fliehen, wurde entdeckt und nun unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen inhaftiert. Briefe des Königs, der von einer Reise nach Königsberg zurückgekehrt war, trafen ein. Ihre Deutung ließ ebenso wie ein früheres Schreiben von Fredersdorf vom 16. Juni Interpretationsräume zu – sie eröffneten Freytag aber durchaus die Möglichkeit, den Dichter und dessen Nichte, die mittlerweile Voltaire in Frankfurt beistand, aus der Haft zu entlassen. Stattdessen zögerte er die Haftentlassung hinaus, verhandelte über die nähere Modalitäten und stellte weitere Forderungen. Erst am 6. Juli 1753 konnte der wutschnaubende Voltaire die Stadt schließlich verlassen. Voltaires unfreiwilliger Aufenthalt am Main dokumentiert eindrucksvoll die neue Macht Berlins. Noch zu Zeiten Friedrich Wilhelms I. hatte Preußen sich des habsburgischen Residentennetzes bedienen müssen, um Spannungen mit anderen Reichsständen auszugleichen.49 Unter Friedrich II. war dies deutlich anders. Preußen besaß selbstverständlich in der Reichsstadt Frankfurt einen eigenen einflussreichen Residenten, der die Wünsche seines Königs durchzusetzen wusste. Voltaires Festnahme bot ihm die Möglichkeit, diese seine Bedeutung nachdrücklich zu demonstrieren. Mit dem Auftreten Preußens in der Reichsstadt ergab sich für den Gefangenen indes auch eine Chance. Er gab sich nunmehr als Anhänger Habsburgs und lud die Anhänger des Kaisers zum Gespräch ein. Wer in der Stadt borussisch und wer kaiserlich gesinnt war, das zeigte sich darin, wer Voltaire besuchte und wer eben nicht. Die Trennlinie verlief, wie bei 48 HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 114-3. 49 Lau, 2008. 440
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den illustren Gebrüdern Senckenberg,50 teilweise mitten durch die Familien. Es waren kurzfristige Orientierungen, die hier deutlich wurden. Frankfurts Bürger suchten nach neuen Möglichkeiten, auswärtige Unterstützung für ihre Position zu gewinnen, oder nach der Chance zur Selbstprofilierung. Alte Treueverhältnisse konnten rasch gekappt und neue angeknüpft werden – die Bürger zeigten sich in dieser Hinsicht bemerkenswert wendig. Voltaires aggressives Werben um Unterstützung und seine nie enden wollenden Versuche, den Residenten lächerlich zu machen, offenbarten noch eine andere Seite dieses neuen Ringens um Einfluss. Freytag war von Voltaire in eine Position gedrängt worden, in der er Stärke zeigen musste – auch dann, wenn Berlin dies nicht mehr wünschte. Das Ringen um Reputation und die Sorge um Reputationsverlust verschoben die Zielhorizonte der Akteure. Des Königs Wünsche und seine Huld mochten wichtig sein, nicht weniger wichtig war aber der Ruf des Residenten in der Stadt, in der er wohnte. Innerstädtische Konflikte wiesen, wie der Fall zeigte, nicht nur, aber eben auch, Ebenen des Gegeneinanders auf, deren Spielregeln im direkten Zusammentreffen ausgehandelt wurden. Sie und die Folgen ihres Bruches Dritten verständlich zu machen, war offenbar kaum oder nur schwer möglich. Gerieten die Anforderungen der aus der Distanz kommunizierenden Akteure und jene der anwesenden, direkt kommunizierenden Akteure in einen unüberbrückbaren Gegensatz, so konnte es zum Abschließungsprozess der städtischen Konfliktbühne gegenüber nichtstädtischen Verhaltenserwartungen kommen.51 In diesem Falle war in der Tat eine Grenzlinie zwischen Binnenraum und Außenraum festzustellen – allerdings nur bezogen auf den betreffenden Konflikt und auch nur für dessen Dauer.
3. Neue Spielräume – der Streit um einen reformierten Kirchenbau Senator Rücker, der Freytag in seinem Streit mit Voltaire unterstützte, wurde von diesem als Freund Preußens bezeichnet – eine Freundschaft, die sich aus dessen Haltung gegenüber dem reformierten Kirchenbau in der Stadt speiste.52 50 Kriegk, 1869. Zur borussophilen Haltung Johann Christian Senckenbergs De Bary, 1947/2004, S. 227. 51 Die Folgen eines solchen Abschließungsprozesses waren in Mühlhausen in Thüringen zu beobachten: Lau, 2016b. 52 Varnhagen von Ense, 1846, S. 16. 441
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Mit dem Streit um den Kirchenbau, der eng mit dem preußisch-habsburgischen Gegensatz verflochten war, rückte ein dritter Aspekt der politischen Kultur des Konfliktaustrags, der Normensetzung und der Normendurchsetzung in den Vordergrund. Er betrifft den Handlungsrahmen der städtischen Akteure: Veränderte er sich durch ein größeres Angebot an durchsetzungsfähigen Bündnispartnern? 1732 hatten sich die deutsche und die französische reformierte Gemeinde der Reichsstadt an den Reichhofrat gewandt, mit der Bitte, die Ablehnung des Frankfurter Rates, ihnen die Errichtung eines Gotteshauses innerhalb der Stadtmauern zu gestatten, zu korrigieren.53 Der Rat hatte im Gegenzug beim Reichshofrat beantragt, die Angelegenheit an den Reichstag zu verweisen – es geschah zunächst nichts. Unter Karl VII. wurde der Prozess erneut von den Reformierten aufgenommen. Am 7. Januar 1745, knapp zwei Wochen vor dem Tod des Kaisers aus dem Hause Wittelsbach, ging ein Gutachten ein, in dem die Kläger darauf verwiesen, dass diese Entscheidung zu den Reservatrechten des Stadtherrn und damit des Kaisers zähle. Franz I., der den Prozess erbte, sah die Brisanz des Verfahrens. Da es sich um eine Konfessionsfrage handelte, konnte eine Zuständigkeit des in diesem Falle in zwei konfessionelle Corpora auseinandertretenden Reichstages durchaus befürwortet werden. Dieser sollte sich mit der Angelegenheit aber auf keinen Fall befassen. Zu groß war die Gefahr, dass der König von Preußen die Debatte nutzte, um sich als protestantische Schutzmacht zu profilieren.54 Franz Stephan entschied daher, dass eine an die Reichshofkanzlei angebundene Vergleichskommission – in den Akten ist von einer »Reichskanzleikommission« die Rede55 –, bestehend aus dem Grafen Cobenzl und dem Freiherrn Palm, die Angelegenheit außergerichtlich aus der Welt schaffen sollte. Der Ratssyndikus und ein Vertreter der reformierten Gemeinde reisten daraufhin nach Wien und begannen mit unergiebigen Verhandlungen. Bis 1754 hatte sich nichts getan, die Gespräche waren festgefahren, und die Vertreter der Konfliktparteien drängten darauf, nach Frankfurt zurückkehren zu dürfen: Der Aufenthalt in Wien sei zu teuer.56 Der Antrag führte zu interessanten Debatten im Reichshofrat, der – wenngleich er offiziell weiterhin nicht in Erscheinung trat – das Verfahren de facto an sich gezogen hatte. Man möge, so der Vorschlag, die Gesandten entlassen, die Kommission jedoch keinesfalls aufheben, wenn dies nämlich geschehe, so 53 54 55 56 442
HHStA Wien, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 115, fol. 103r. Vgl. Aretin, 1997, S. 131. Ebd., fol. 51r. Ebd., fol. 11r-27r.
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gehe die Angelegenheit an den Reichstag, und dort werde sich Preußen der Angelegenheit annehmen.57 Der Kaiser drohe damit ins Abseits zu geraten. Mehr noch, wenn Preußen sich für die Kirche in Frankfurt einsetze und den Kaiser unter Druck setze, dann könnten Hannover und Sachsen nicht schweigen. Man habe in Regensburg schon einen Vorgeschmack davon bekommen, was dies bedeute. Nicht weniger als 54 Mal sei der Kirchenstreit unter lebhafter Beteiligung der genannten Mächte vor dem Reichstag verhandelt worden.58 Die Mediation musste auf jeden Fall weitergehen. Nachdem die Vermittlungsbemühungen der kaiserlichen Kommission im Sande verlaufen waren, wurde daher ein weiterer Anlauf zu einem Kompromiss gemacht.59 Franz Stephan beauftragte den aus Frankfurt stammenden Reichshofrat Heinrich Christian von Senckenberg,60 einen weiteren Versuch zu unternehmen – diesmal in Frankfurt selbst. Die Berichte, die er dem Kaiser nach dem Scheitern auch dieses Unternehmens vorlegte, waren ernüchternd. Er habe zunächst mit den Reformierten gesprochen, die zahlreiche Kompromissvorschläge hinsichtlich der Lage und der Gestaltung der Kirche akzeptiert hätten, von Seiten des Rates sei kein ähnliches Entgegenkommen zu vermelden. Im Gegenteil, Schultheiß Textor habe ihm deutlich gemacht, dass die Reformierten in Frankfurt niemals eine Kirche erhielten – alles andere wäre ein Sicherheitsrisiko, das eine befestigte Reichsstadt nicht akzeptieren könne. Auch hätten die Bürgerausschüsse ihn in dieser Hinsicht voll und ganz unterstützt.61 Tatsächlich hatte die konfessionelle Frage den Antagonismus zwischen Rat und Bürgerschaft zum Ruhen gebracht. Sämtliche Bürgervertreter, die Senckenberg befragte, stellten sich auf die Seite Textors. Die veränderte Ressourcenverteilung auf Reichsebene hatte in der Stadt Frankfurt offenbar Spuren hinterlassen. Dass eine Reichsstadt auch vor 1740 bzw. 1745 alles andere als eine quasi mediatisierte, auf Wien hin ausgerichtete urbane Entität war, versteht sich von selbst. Reichsstädte, oder vielmehr die in ihnen wirkenden Akteure, besaßen eine Vielzahl von Optionen, ihre Stadt in einem Supraraum zu positionieren – ihn mit, in und durch die Stadt zu möblieren und mit Bedeutung zu versehen. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rückte Wien allerdings, aufgrund der Konfliktdichte in den Reichsstädten und 57 58 59 60
Ebd., fol. 63r-64r. Ebd., fol. 172r. Ebd., fol. 71r-76r. Zur Rolle Senckenbergs bei den Debatten innerhalb des Reichshofrates fol. 29r-v. 61 Ebd., fol. 49r-58r.
ebd.,
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des Angebots des Reichshofrates diese auszugleichen, in das Zentrum der politischen Entscheidungsfindung. Wien wurde zu einem mittelbar präsenten Teilhaber der sozialen Kommunikation in der Stadt. Die nahezu dauernd anwesenden Kommissare, aber auch die Residenten und andere Klienten Wiens hatten diese Situierung Frankfurts in einem auf den Kaiser ausgerichteten imperialen Raum stabilisiert. Jeder weitere Prozess, der Folgeprozesse, Exekutionskommissionen etc. mit sich brachte, hatte diesen Prozess noch intensiviert. Mit der Unterbrechung habsburgischer Kaiserherrschaft zwischen 1740 und 1745 war dieses Raumkonzept nicht mehr hegemonial – es hatte sich einem Konkurrenten zu stellen. Der Kaiser war eben nicht mehr in der Lage, den städtischen Raum durch ein Zeichen der Sichtbarkeit der Reformierten neu zu strukturieren. Für die Akteure in Frankfurt ergab dies den Vorteil, dass sie eine Ordnungsmacht gegen eine andere ausspielen – wie Textor, der sich kaisertreu gab, aber keine Hemmungen zeigte, den preußischen Druck zu nutzen, um eine reformierte Kirche in Frankfurt zu verhindern. Diese neue Entwicklung erhöhte damit zwar nicht die Autonomie des städtischen Handlungsfeldes als Ganzes, wohl aber den Handlungsspielraum der Einzelakteure.
4. Fazit Als Garant der alten Kommunikationsstrukturen und Entscheidungswege war Kaiser Franz I. Stephan 1745 aufgetreten – als ein lebendes Versprechen, die vorgeblich stabile Vergangenheit des Reiches wiederaufleben zu lassen. Tatsächlich aber hatte der neue Kaiser in einen Wettbewerb mit einer konkurrierenden Macht zu treten, der eine solche Position unmöglich machte. In den Reichsstädten war die zwischen 1740 und 1745 stattfindende Machtverschiebung im Reich aufmerksam wahrgenommen und genutzt worden. Sie erleichterte es, Bündnispartner gegen kaiserliche Interventionen zu finden, sie stärkte Reichsinstitutionen (wie das Reichskammergericht und den Reichstag), in denen der kaiserliche Einfluss vergleichsweise gering war, sie förderte die Bildung von Fraktionen, die die Antagonismen auf der Reichsebene abbildeten. Möglich war dieser rasche Anpassungsprozess durch die Fragilität klientelärer Netzwerke in den Städten selbst. Interessengruppen, Religionsgemeinschaften und Familienverbände fanden sich zu kurzfristigen Allianzen zusammen und wählten aus einem Angebot von Begründungsmustern und Verfahren, die ihnen zur Durchsetzung ihrer Vorhaben adäquat erschienen, das für sie passende aus. Die politische Kultur Frankfurts war also durch die Pluralität politischer Argumentationsmuster und die Vieldeutigkeit der urbanen Zeichensysteme ge444
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kennzeichnet. Sie oszillierten zwischen souveränitätszentriert und genossenschaftlich, religiös aufgeladen und transkonfessionell juristisch, zwischen der Betonung urbaner Autonomie und der Einordnung in einen Supraraum. Zugleich wurden die performativ generierten Gemeinschaften und ihre Kommunikationsregeln durch inoffizielle Kommunikationskanäle unterlaufen. Dies ermöglichte Reichsstädten eine flexible Anpassung an Ressourcenverschiebungen innerhalb und außerhalb der Stadt. Es erleichterte die Integration von Reichsakteuren in das städtische Mächtespiel, es erschwerte aber auch die Prognosefähigkeiten hinsichtlich der Entwicklung städtischer Entscheidungsmuster, und es erhöhte die Wahrscheinlichkeit der wechselseitigen Blockade. Verlorenes Terrain konnte unter diesen Bedingungen für den Kaiser zurückgewonnen werden, sofern vorhandene Ressourcen effizient genutzt wurden. Eben darum mühte sich Franz Stephan. Der Lothringer demonstrierte symbolische Kontinuität, während er zugleich bisher getrennte Aktionsfelder zusammenführte. Besonders bezeichnend war dies etwa im Verhältnis zwischen Reichshofrat und Reichshofkanzlei, die – man denke an die Rolle der reichsstädtischen Residenten – schon in der Zeit Karls VI. beim Umgang mit reichsstädtischen Konflikten kooperierten, nun aber in ihren Verfahrensgängen auf ganz neue Art und Weise miteinander verzahnt wurden. Der Gemahl Maria Theresias symbolisierte damit, wie kaum ein Kaiser vor ihm, das starre Festhalten an der tradierten Theatralik des Amtes und die innovative, auf Veränderungen rasch reagierende Nutzung seiner Ressourcen. Veränderungen am Kaiserhof und auf der Reichsbühne, die Möglichkeit, neben den von den Habsburgern eingeforderten Regeln des Rollenspiels alternative Verhaltensmuster anzunehmen, hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten der Akteure in Frankfurt – gerade weil die Stadt und ihre Einwohner so eng mit den regionalen und überregionalen Handlungsräumen des Reiches verzahnt waren. Zugleich zwangen Veränderungen auf der Frankfurter Handlungsebene den Kaiser, seine Reichshofkanzlei, seinen Reichshofrat und seine Berater zu weiteren Reaktionen. Frankfurts Bürger nahmen als Briefeschreiber und durch ihre Rechtsvertreter direkten Einfluss auf die Veränderungsprozesse am Kaiserhof. Indirekt waren sie in der Imagination der kaiserlichen Räte präsent, die stets die Reaktionen auf ihre Handlungen durch die Frankfurter zu antizipieren hatten. Umgekehrt traten auch Reichshofkanzlei und Reichshofrat direkt und indirekt als Akteure auf der städtischen Handlungsebene auf. Die einander beeinflussenden und durchdringenden Handlungsebenen gehorchten weiterhin eigenen Verhaltenserwartungen und waren geprägt von tradierten Rollenmustern. Deren Interpretation bot indes, wie die Regierungs445
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zeit von Franz Stephan zeigte, erheblichen Spielraum, zumal den Akteuren auf Stadt- wie auf Reichsebene rivalisierende Imaginationen des Raumes und der sie konstituierenden Rollenbilder zur Verfügung standen. Auf Reichsebene hatte Friedrich II. die Tradition eines Reiches der Bünde wieder ins Spiel gebracht, das mit dem Bild eines auf den Kaiser als Garanten des Rechts zentrierten Reiches rivalisierte. Auf städtischer Ebene konkurrierten diverse patrizische, bürgerliche, konfessionelle Wahrnehmungs- und Handlungsraster miteinander, die den Stadtraum höchst unterschiedlich definierten. Reichsstadt und Reich ließen sich also gleichermaßen nicht als stabile Entitäten beschreiben. Sie wurden immer wieder neu aus einem begrenzten, aber gleichwohl reichhaltigen Angebot an Rollenbildern und damit verbundenen Raumimaginationen konstituiert. Aus diesem Grunde laufen Versuche, das Reich und seine Städte mit Begrifflichkeiten wie »System« oder »Staat« fassen zu wollen, gleichermaßen ins Leere.62 Sie knüpfen an durchaus vorhandene, von den Akteuren reproduzierte und variierte Rollenmuster an, können jedoch den situativ bedingten Wechsel der Akteure von einer Handlungsebene zu einer anderen, von einem Rollenangebot zum nächsten nicht Rechnung tragen. Der dem Cultural Turn zugrundeliegende Performative Turn birgt in diesem Sinne ein weiterhin noch zu nutzendes Potential, um diese fluide Reichsverfassung und die sie mitgestaltenden Reichsstädte näher zu analysieren.
Abstract With the coronation of Franz I. Stephan in 1745 the House of Habsburg retook the imperial throne it had lost five years before. During the short but eventful reign of its rival, the Holy Roman Empire experienced a considerable change. Even in imperial cities such as Frankfurt, Prussia succeeded in establishing its own networks and diminished Vienna’s influence permanently. An analysis of the mark which the imperial power game’s changing rules left on Frankfurt thus offers a fascinating insight into the fluid character of the imperial cities’ social and legal constitution. It will be argued that these cities were anything but static political systems. In fact, the cities’ borders, their location in the imperial territory, the cultural code providing the cities and their inhabitants with a sense of meaning were permanently under dispute – not only by their citizens but also by allies, rulers and rivals. They were established, transformed and reestablished 62 Schmidt, 1999. Anknüpfend an Volker Press: Roeck, 1984. Ein weiterer Versuch mit anderer Stoßrichtung: Marquardt, 1999 446
Habsburgs Rückkehr
with considerable ease. The study of early modern imperial cities thus should focus on reconstructing patterns of social performances, on possible scenarios that could be installed by the urban actors and on changes on the urban stage.
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Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger
»Um diese Zeit war es eigentlich, daß ich meine Vaterstadt zuerst gewahr wurde«1 – mit diesen Worten leitet Goethe in Dichtung und Wahrheit eine längere Passage über das Frankfurt seiner Jugend ein, in der er den Leser am kindlichen Gewahrwerden teilhaben lässt: »Um den Eindruck, den diese ernsten und würdigen Umgebungen auf mich machten, einigermaßen mitzuteilen, muß ich hier mit der Schilderung meines Geburtsortes vorgreifen, wie er sich in seinen verschiedenen Teilen allmählich vor mir entwickelte.«2 So entfaltet sich ein Panorama des reichsstädtischen Frankfurt mit seinen Plätzen und Häusern, seinen Geräuschen und Gerüchen, seinen Traditionen und Konflikten, mit seinen Menschen, ihren Ansichten und Wahrheiten. Goethes Text ist damit nicht nur eine besonders schöne und besonders suggestive Schilderung des alten Frankfurt, sondern weist zugleich den Weg zu einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Stadtgeschichte, denn es sind die Räume und Dinge, die Denk- und Handlungsweisen, die Wahrnehmungen und Handhabungen, die im Sinne der verschiedenen Turns – sei es des Spatial, Linguistic, Performative, Material oder Acoustic Turn – interessieren.3 Das Anliegen der von uns im Jahr 2015 veranstalteten Tagung und des nun vorliegenden Sammelbands war bzw. ist es, nach der Relevanz dieser neuen – in einigen Fällen auch nicht mehr ganz so neuen – kulturgeschichtlichen Forschungsansätze für die stadtgeschichtliche Forschung zu fragen. Erprobt werden sollten sie am konkreten Beispiel der Stadt Frankfurt am Main. Der Fokus richtete sich damit auf eine der größeren Reichsstädte, die als Messe-, Wahl- und Krönungsort, aber auch aufgrund ihrer komplexen religiös-konfessionellen Ge1 2 3
Goethe, 1811, S. 19. Ebd., S. 19f. Bachmann-Medick, 52014. 451
Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger
mengelage und ihrer zum Teil spektakulär verlaufenden inneren Konflikte immer wieder das Interesse nicht nur der lokalgeschichtlich orientierten Forschung gefunden hat. Frankfurt kann daher sicher als stadtgeschichtlich vergleichsweise gut erschlossen gelten: Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten ist eine Reihe von Monographien und Sammelbänden erschienen, die zumindest teilweise durch die oben angesprochenen Turns geprägt sind, und einige ihrer Autorinnen und Autoren konnten wir für dieses Buch gewinnen.4 Dennoch bietet die Frankfurter Stadtgeschichte noch reichlich Raum für weitere Forschungen, die an das bereits Geleistete anknüpfen können. Gleichzeitig wirft unser Band, nicht nur durch die Einleitung von Gerd Schwerhoff, sondern auch durch die Beiträge von Joachim Eibach, Jean-Dominique Delle Luche, Philip Hahn und Philip Hoffmann-Rehnitz, die sich nicht oder nicht vorrangig mit Frankfurt beschäftigen, einen vergleichenden Blick auf die Städtelandschaft des Alten Reiches einschließlich der Eidgenossenschaft. Mit diesen Beiträgen werden zudem Forschungsansätze einbezogen, die bislang kaum oder gar nicht für die Frankfurter Geschichte genutzt worden sind. So wird das Blickfeld in doppelter Hinsicht erweitert.
1. Themen und Thesen In vier Sektionen umreißen die Autorinnen und Autoren zentrale Arbeitsfelder aktueller stadtgeschichtlicher Forschung, formulieren neue Erkenntnisse und eröffnen Perspektiven für die weitere Forschungsarbeit. Dass dabei eine Sektion, die in besonderem Maß dem Spatial Turn verpflichtet ist, an erster Stelle steht, ist kein Zufall, denn dieser Forschungsansatz markiert nicht nur einen der älteren Turns. Er hat sich in der stadtgeschichtlichen Forschung auch als besonders fruchtbar erwiesen, um die soziale Produktion von Raum aufzuzeigen und kulturelle Praktiken zu verorten.5 Während zunächst vor allem einzelne, physisch zumeist klar fassbare Räume wie etwa Kirchen, Rathäuser, Marktplätze, Wirtshäuser und Wohnhäuser in den Blick genommen wurden,6 liegt mittlerweile die raumhistorische Analyse einer gesamten frühneuzeitlichen Stadt vor.7 4
5 6 7 452
Vgl. u.a. Amend, 2008; Brockhoff/Matthäus, 2006; Krischer, 2006; Lau, 2012; Monnet, 1997; Rudolph, 2011; Schmidt, 2009; Schmidt-Funke, 2016; Seidel/Toepfer, 2010; Stalljohann-Schemme, 2016. Vgl. u.a. Bachmann-Medick, 2014, S. 290f.; Rau, 2013, S. 153-157; Rogge, 2008. Vgl. Rau/Schwerhoff, 22008. Vgl. Rau, 2014.
Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort
Städte lassen sich als Konglomerate ineinander verschachtelter räumlicher Konfigurationen denken, d.h. als Orte, an denen sich verschiedene, sozial produzierte und an bestimmte Praktiken gebundenen Räume überlagern. Daran anknüpfend loten die Beiträge der ersten Sektion »Grenzen und Räume intra muros« die sozialhistorische Ergiebigkeit des Spatial Turns aus, indem sie die soziale Differenzierung des innerstädtischen Raums thematisieren. Joachim Eibach fragt in seinem Beitrag nach den unterschiedlichen Graden von Sichtbarkeit und Zugänglichkeit, die den verschiedenen sozialen Gruppen in einer Stadt zugestanden bzw. von ihnen in Anspruch genommen wurden. Ausgehend von der Überlegung, dass die durch Devianz und Distinktion innerhalb der städtischen Gesellschaft entstehende Heterogenität in einem Spannungsverhältnis zu dem städtischen Grundwert der Homogenität stehe, zeigt Eibach, dass eine Kultur der Sichtbarkeit es ermöglichte, Heterogenität zu regulieren. Dabei spielte gerade auch die Vermeidung von Sichtbarkeit eine wichtige Rolle: Gesellschaftliche Gruppen konnten räumlich segregiert werden – ein weithin bekanntes Beispiel dafür ist die Frankfurter Judengasse –, aber Delinquenz konnte auch im öffentlichen Raum ausgestellt werden. Eibachs Befund, dass man von dieser Praxis gegen Ende des 18. Jahrhunderts abrückte, fügt sich ein in übergeordnete Diskussionen zum Wesen und Wandel frühneuzeitlicher Sozialordnungen bzw. zum Charakter der Epoche an sich.8 Gerade in einer mehrkonfessionellen Stadt wie Frankfurt kann der raumhistorische Zugang helfen, die Position der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften bzw. ihrer Angehörigen genauer zu erfassen, wie Matthias Schnettger in seinem Beitrag demonstriert. In der Frankfurter Sakraltopographie setzte erst im späten 17. Jahrhundert der repräsentative Neubau der Katharinenkirche einen lutherischen Gegenakzent zum katholischen »Kaiserdom«, während die in der Stadt ansässigen Reformierten lange über kein Gotteshaus verfügten. Im Kampf um die Präsenz in öffentlichen Frankfurter Räumen strebte das Sakralmanagement der lutherischen Stadtregierung im Zuge einer intendierten Purifikation dieser Räume eine möglichst weitgehende Marginalisierung der konfessionellen Minderheiten an. Grenzziehungen konnten aber nicht nur eine Marginalisierung bewirken, sondern auch distinkte Räume schaffen, in denen Minderheiten eine weitgehende Gestaltungsfreiheit besaßen, wie in den katholischen Kirchen und Klöstern oder in der Judengasse. Eine spezifische Deutung etablierter Raumkonzepte unternimmt Andreas Hansert in seiner Studie zum Frankfurter Patriziat. Er thematisiert einerseits städtische Räume, die schon mehrfach durch die historische Forschung unter8
Vgl. Schlögl, 2011. 453
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sucht worden sind, wie Trinkstube und Ratsstube, und zeigt, wie unterschiedlich sich dieselben patrizischen Akteure in verschiedenen Räumen verhielten, deren spezifischen Normen, schon hinsichtlich der Zugänglichkeit, sie Rechnung zu tragen hatten. Andererseits jedoch führt Hansert als neue Kategorie den »Verwandtschaftsraum« ein, mit dem er die generationenübergreifenden Bezüge und Kohäsionskräfte, die durch Konstruktionen wie Ganerbschaften und Fideikommisse, aber auch durch das schlichte Bewusstsein einer uralten, gemeinsamen Herkunft wirkten, zu fassen sucht. Der Raumsoziologin Martina Löw zufolge werden Räume generiert, wo Orte, Dinge und Menschen mittels »Erinnerung, Wahrnehmung und Vorstellung«9 aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Bezogen auf die Stadt, entspricht diese »Syntheseleistung«10 jenen Praktiken und Diskursen, die von der Stadt- und Metropolenforschung als Urbanität gefasst werden.11 Wie Stadt entsteht, wenn sich »Materialität und Imagination«12 zusammenfügen, zeigen die drei Beiträge der Sektion »Wahrnehmungen (in) der Stadt« auf unterschiedliche Weise. Philip Hahn beschreitet mit seinen programmatischen Ausführungen zu einer urbanen Sinnesgeschichte Neuland bzw. ordnet sich in eine noch junge Forschungsrichtung ein.13 Hahn plädiert dabei für eine umfassende Analyse von »sensescapes«, die sie nicht auf einzelne Sinne beschränkt. Sein Text verdeutlicht das beachtliche Erkenntnispotential, das eine Sensual History gerade für die frühneuzeitliche Präsenzgesellschaft besitzt, aber er führt auch die spezifischen Erfordernisse und quellenbedingten Grenzen sinnesgeschichtlicher Ansätze vor Augen. Wie Hahn in einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der »Eigenlogik«14 zeigen kann, ist in geschichtswissenschaftlicher Perspektive eine konsequente Historisierung der Quellenaussagen erforderlich, um nicht zweifelhaften Narrativen, wie dem einer Entsinnlichung, aufzusitzen. Während die sinnliche Wahrnehmung der Stadt erst in jüngster Zeit in den Fokus gerückt worden ist, haben literarische, bildkünstlerische und kartographische Darstellungen von Städten bereits früher das Interesse der Forschung gefunden.15 Marina Stalljohann-Schemme knüpft an solche Untersuchungen an, 9 10 11 12 13 14 15 454
Löw, 2004, S. 464. Vgl. auch Rau, 2013, S. 172. Löw, 2004, S. 464. Vgl. zuletzt Stercken/Schneider, 2016. Kaschuba, 2015, Klappentext. Vgl. Beck, 2013; Missfelder 2012; Morat 2012. Löw/Terizakis, 2011. Vgl. u.a. Behringer /Roeck, 1999.
Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort
indem sie in ihrem Beitrag die Herausbildung und Entwicklung des Frankfurtbildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verfolgt. Sie zeigt, welche Bedeutung die Vorstellung von Frankfurt als einem kulturellen Zentrum eben für die Positionierung der Stadt als Zentralort besaß und dass dieser Diskurs kompensierende Wirkungen entfalten konnte, wenn Bild und Realitäten zu divergieren begannen. Prägend für das Stadtbild Frankfurts waren die geographisch zentrale Lage, die auch seine politische Zentralortfunktion begründete, und die Lage am Fluss, die die Reichsstadt zu einem Verkehrsknotenpunkt machte und den Handel begünstigte. Hinzu kam die fruchtbare Umgebung, die eine Versorgung sicherstellte. Gerade hier wird ein Wandel besonders deutlich, wenn die umgebende Landschaft seit Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt auch unter ästhetischen Gesichtspunkten gewürdigt wurde. Diese Verschiebung ging mit einer Regionalisierung des Frankfurt-Diskurses einher. Vera Faßhauer stellt dem von Stalljohann-Schemme rekonstruierten Frankfurtbild eine subjektive Nahsicht auf die Stadt und ihre führenden Familien gegenüber, die sie aus den Tagebüchern des berühmten Stadtphysikus Johann Christian Senckenberg extrahiert. Faßhauer zeigt auf, wie und für welche Fragestellungen dieses einzigartige Selbstzeugnis für die kulturgeschichtlich orientierte Forschung nutzbar gemacht werden kann. So führte Senckenbergs radikalpietistisch inspiriertes Anliegen, die menschliche Physis und Psyche empirisch zu ergründen, wobei er von einem Zusammenhang von körperlichen Gebrechen und sündhaftem Leben ausging, dazu, dass er nicht nur beidem einen hohen Stellenwert in seinen Aufzeichnungen einräumte, sondern infolgedessen auch seine Zeitgenossen in einem äußerst negativen Licht erscheinen ließ. Letztlich sagen die Aufzeichnungen Senckenbergs mehr über den Verfasser selbst aus als über seine Mitbürgerinnen und Mitbürger, weshalb sie Faßhauer zufolge weniger als Quellen für die politische und Sittengeschichte Frankfurts, als vielmehr für die Kultur-, Kirchen- und Wissenschaftsgeschichte dienen können. Die dritte Sektion »Stadt und Markt« beleuchtet ein zentrales Element von Stadt, das aus kulturgeschichtlicher Perspektive bislang wenig betrachtet worden ist. Während die Diskussion um eine Kulturgeschichte des Politischen seit den späten 1990er Jahren intensiv geführt worden ist,16 kann erst in jüngster Zeit ein verstärktes Interesse an einer Kulturgeschichte des Ökonomischen beobachtet werden.17 In der Einladung zu der diesem Band zugrundeliegenden Tagung 16 Vgl. grundlegend Mergel 2002; Mergel 2012; Stollberg-Rilinger 2005. 17 Dies gilt vor allem für die deutsche Forschung. Die Forderung, Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte zu verbinden (bzw. der Vorwurf, dass dies nicht geschehe), ist zwar nicht neu; dies fällt aber erst seit einigen Jahren auf fruchtbaren Bo455
Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger
hatten wir deshalb postuliert, dass das Programm einer auf die frühneuzeitliche Stadt bezogenen Neuvermessung des Ökonomischen unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen erst noch entwickelt werden muss. Philip Hoffmann-Rehnitz denkt in seinem Beitrag darüber nach, wie ein solches Programm aussehen könnte und greift dazu auf Anregungen aus der französischen und angelsächsischen Forschung zurück. Neue Fragestellungen, Perspektiven und Methoden könnten den Weg zu einer »alternativen Wirtschaftsgeschichte« der frühneuzeitlichen Stadt weisen, die es erlauben würde, über etablierte, aber zunehmend fragwürdige Narrative, etwa von einem Niedergang des Handwerks und einer zunehmenden, erfolgreichen Regulierung von Wirtschaftsbeziehungen durch die Obrigkeiten, hinauszugelangen und die frühneuzeitliche Stadt als eine komplexe »Marktgesellschaft« zu begreifen. Indem Robert Brandt das Frankfurter Handwerk im Kontext der neueren Handwerksgeschichte verortet, zeigt auch er sich dem Anliegen einer neuen, alternativen Wirtschaftsgeschichte verpflichtet. Entschieden widerspricht er älteren Vorstellungen von einer grundlegenden Innovationsfeindlichkeit und Erstarrung (nicht nur) der Frankfurter Handwerkerschaft. Um vielmehr das Nebeneinander von Marktfeindlichkeit und Marktorientierung innerhalb des städtischen Handwerks terminologisch zu fassen, schlägt Brandt vor, von einer handwerklichen Marktwirtschaft zu sprechen und diese in ihrem übergeordneten, politischen Kontext zu betrachten. Dann werde es auch möglich, die Interaktion des Handwerks mit der Obrigkeit nicht allein mit wirtschaftlichen Motiven erklären zu wollen, sondern sie auch als Kampf um politische Anerkennung innerhalb der Bürgerschaft zu begreifen. Auch Julia A. Schmidt-Funke schließt in ihrem Beitrag an die Bemühungen um eine kulturhistorisch erneuerte Wirtschaftsgeschichte an und plädiert für eine konsequente Erforschung städtischen Konsums. Ausgehend von der Annahme, dass Versorgungssicherheit, Angebotsvielfalt und differenzierter Konsum konstituierende Elemente von Urbanität darstellen, beleuchtet sie anhand des Frankfurter Beispiels die sozialstrukturierende und bedeutungserzeugende Wirkung konsumtiver Praktiken. In der frühneuzeitlichen Stadt stellten sowohl das Kaufen und Verkaufen als auch das Ge- und Verbrauchen von Gütern Konfliktfelder dar, auf denen ausgehandelt wurde, wie das städtische Gefüge geordnet sein sollte. Am Beispiel der Kleidung zeigt Schmidt-Funke auf, dass dabei auch beträchtlicher Spielraum für eigensinnige Entwürfe bestand. den. Vgl. dazu neben Berghoff/Vogel, 2004 auch die in den Beiträgen von Robert Brandt und Philip Hoffmann-Rehnitz zitierte Literatur. Für ein Umdenken stehen beispielhaft die Beiträge von Freitag, 2013, Neu, 2013 und Teuscher, 2013. 456
Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort
Die Beiträge der letzten Sektion »Extra muros – städtische Außenbeziehungen« lenken den Blick aus der Stadt heraus und über die Stadt hinaus. Sie bewegen sich damit auf einem Forschungsfeld, das in der deutschen stadtgeschichtlichen Forschung lange eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat.18 Wie für die städtischen Außenbeziehungen kulturgeschichtliche Ansätze und namentlich das Konzept symbolischer Kommunikation19 fruchtbar gemacht werden können, demonstrieren die beiden Beiträge von Jean-Dominique Delle Luche und André Krischer. Delle Luche untersucht in einer vergleichenden Studie die oberdeutschen Schützenfeste des 15. und 16. Jahrhunderts. Diese bislang von der historischen Forschung weitgehend vernachlässigten Großereignisse begreift er als Foren, in denen Konkurrenzen zwischen den Städten des Reichs, auch durch Überbietungsstrategien der städtischen Obrigkeiten, zum Austrag kamen. Die Teilnahme an und die Ausrichtung von Schützenfesten dienten so – neben vielen anderen Faktoren – auch dazu, die Position einer Stadt gegenüber Rivalen abzusichern und auszubauen. André Krischer zeigt am Frankfurter Beispiel ebenfalls auf, wie ein kulturgeschichtlicher Blick die älteren Urteile über die vermeintliche Belanglosigkeit städtischer Außenbeziehungen korrigieren kann. Gerade für Mindermächtige wie die (Reichs-)Städte, deren Beziehungen zu Kaisern und Territorialfürsten kaum anders denn als asymmetrisch zu bezeichnen und zu erfassen sind, besitzen solche Fragestellungen einen hohen Erkenntniswert. Krischer führt aus, wie die Stadt Frankfurt ihren eigenen Machtraum innerhalb der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft mit symbolischen Mitteln wie der Gabe von Geschenken oder der Präsentation von Kunstwerken markierte. Thomas Lau beleuchtet in seinem Beitrag die Situation Frankfurts als Reichsstadt vor dem Hintergrund des österreichisch-preußischen Dualismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Anhand dreier Fallbeispiele zeigt er, wie in der Stadt verschiedene Interessenlagen aufeinandertrafen und zu – teils erstaunlichen – Koalitionen führten, wenn ausgerechnet der katholische Kaiser gegen Preußen Partei für die Frankfurter Reformierten ergriff und deren Wunsch nach Religionsausübung in der Reichsstadt unterstützte. Auf diese Weise legt der Beitrag dar, in welch komplexen und überraschenden Wechselbeziehungen städtische Innen- und Außenräume zueinander stehen konnten.
18 Vgl. aber bspw. Krischer, 2006; Rudolph, 2011. 19 Zur symbolischen Kommunikation innerhalb der Stadt vgl. zusammenfassend Stollberg-Rilinger, 2013, S. 114-123. 457
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2. Anregungen und Perspektiven Die in diesem Buch versammelten Beiträge können in vielfältiger Weise Anregungen für weitere Forschung geben. Zum einen ist zu hoffen, dass einige der hier vorgestellten Forschungsansätze, wie etwa jener der Sensual History oder der Emotional History, in der deutschsprachigen Forschung zur frühneuzeitlichen Stadt zukünftig stärkere Beachtung finden werden. Der Austausch mit außerdeutschen Historiographien ist nicht nur ausgesprochen fruchtbar, wie dies am Beispiel der raumsoziologisch inspirierten Arbeiten deutlich wird. Er ist, wie im Fall der Kulturgeschichte des Ökonomischen, auch dringend erforderlich, um einer lange vernachlässigten Perspektive die ihr gebührende Bedeutung zukommen zu lassen. Zum anderen wäre zu wünschen, dass konkrete Fragestellungen, die in diesem Band am Frankfurter Beispiel durchgespielt worden sind, auch anhand anderer (Reichs-)Städte erprobt werden. Der Zusammenhang von Urbanität und Konsum beispielsweise ließe sich besser ergründen, wenn konsumgeschichtliche Forschung auf breiterer Basis und unter Einbezug von Klein- und Minderstädten betrieben würde. Ebenso könnten Überlegungen, die in diesem Sammelband mehr als Sondierungen angelegt sind, größer dimensionierte Forschungsprojekte inspirieren, wie eine Geschichte des Frankfurter Handwerks in der Frühen Neuzeit, um eine Anregung von Robert Brandt aufzugreifen. Dabei dürfte es sich lohnen, neue Fragestellungen an wohlbekannte Quellen heranzutragen, aber auch bislang vernachlässigte Quellen stärker zu würdigen. Erhebliches Potential besteht zudem in der weiteren Erforschung städtischer Außenbeziehungen. Hier können Ansätze, die die ältere Diplomatiegeschichte kulturgeschichtlich modifizieren und ergänzen, hilfreich sein, gerade auch für Frankfurt mit seinen phasenweise ausgesprochen engen Kontakten zu den Reichsinstitutionen. Erst wenn man die Korrespondenzen zwischen dem städtischen Rat und seinen Gesandten am Kaiserhof oder Reichstag nicht nur auf die »Sachpolitik« hin untersucht, sondern etwa auch nach Netzwerken, Zeremoniell und Kommunikationstechniken fragt und zugleich nach Möglichkeit »private« Quellen heranzieht, wird man klarere Vorstellungen von den auswärtigen Angelegenheiten frühneuzeitlicher Städte gewinnen können. Mit dem vorliegenden Sammelband verbindet sich überdies die Hoffnung, dass er über die einzelnen Forschungsansätze und Themenfelder hinaus dazu anregt, über die frühneuzeitliche Stadtgeschichte als Ganzes nachzudenken. Gerd Schwerhoffs Forschungsresümee gibt entsprechende Impulse. Bedenkenswert erscheinen uns zunächst seine Gedanken zu Periodisierungsfragen: Ohne einer Zementierung etablierter Epochengrenzen das Wort zu reden oder die Be458
Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort
deutung von epochenübergreifenden Untersuchungen negieren zu wollen, muss sich die Frühneuzeitforschung auch im Hinblick auf die Städte die Frage stellen, ob und wie sich Spezifika des 16., 17. und 18. Jahrhunderts erfassen lassen. Die Verfalls- und Erstarrungsgeschichten der älteren Forschung vermögen hier ebenso wenig zu befriedigen wie das Narrativ von der Stadt als Laboratorium der Moderne. So betont auch Schwerhoff, dass die kulturgeschichtlichen Forschungen die Stadt sozusagen mitten in die ständische Gesellschaft zurückgeholt haben, anstatt ihr eine Sonderrolle als »moderne Insel in einer vormodern-archaisch geprägten Umgebung« zuzusprechen.20 Das bedeutet, dass es gilt, die städtischen Gesellschaften stärker in ihrer spezifisch frühneuzeitlichen Komplexität zu erfassen und sich konsequent von allzu modernen Ideen eines durchregierenden Rats oder einer kapitalistisch agierenden Kaufmannschaft zu verabschieden. Selbst dort, wo die Obrigkeiten, wie die Forschungen zu den Policeyordnungen gezeigt haben, klare ordnungspolitische Vorstellungen besaßen, waren in aller Regel langwierige Aushandlungsprozesse (mit ungewissem Ausgang) erforderlich, wenn überhaupt ernsthaft die Implementierung der formulierten Normen angestrebt wurde. Denn wie fürstliche Obrigkeiten begnügten sich auch städtische Räte nicht selten damit, in einer Art Symbolpolitik ihren Willen zu »guter Policey« lediglich zu deklarieren. Derartige Aushandlungsprozesse und symbolische Kommunikationen waren insgesamt prägend für frühneuzeitliche Gesellschaften, auch in Städten. Die Frage, ob, wann und auf welcher Ebene sich dies änderte, wird auch in Zukunft immer wieder zu stellen und differenziert zu beantworten sein. Die in diesem Band vorgetragenen Überlegungen von Joachim Eibach zu einem veränderten Sichtbarkeitsregime oder von Philip Hoffmann-Rehnitz zum Aufkommen der »Marktgesellschaft« liefern dazu wichtige Denkanstöße. Die vielleicht größte Herausforderung für die Zukunft besteht wohl darin, die vielfältigen Erträge einer kulturgeschichtlich inspirierten Stadtgeschichtsforschung stärker zusammenzuführen und so, um das Monitum Gerd Schwerhoffs aufzugreifen, von einer Kulturgeschichte in der Stadt zu einer echten Kulturgeschichte der Stadt bzw. einer Stadt voranzuschreiten. Denn auch wenn eine vergleichende Synthese kaum zu leisten sein wird, sollte kulturgeschichtliche Forschung Eingang in monographische, einem breiteren, wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Publikum zugängliche Gesamtdarstellungen finden, die dann in der Tat das Potential zu neuen Stadtgeschichten hätten. 20 Siehe den Beitrag von Schwerhoff in diesem Band, S. 25. 459
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Abstract This edited volume asked about the relevance of current cultural historical approaches to urban history. In particular, these approaches were tested on the case study of Frankfurt on the Main. At the same time, various chapters looked at towns in the German Empire and the Old Swiss Confederacy. In four sections on »Borders and Spaces intra muros«, »Perception of and in the City«, »Town and Market«, and »Extra muros – Urban Relations«, authors discussed central research fields of current urban historiography. The chapters of this volume, on the one hand, are intended to encourage further research into these fields. We hope that some of these research trends are continued in German speaking urban history research, e.g. on Sensual History or Emotional History. On the other hand, we also hope that concrete key questions which were used regarding Frankfurt on the Main in this volume will also be asked in regard to other cities (of the Empire). After all, it would be preferable that cultural historical research approaches are also used in monographic overviews aimed at a broader, academic and non-academic, audience which then indeed could make up a new urban history.
Literatur Gedruckte Quellen Goethe, Johann Wolfgang von, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, Tübingen 1811. Forschungsliteratur Amend, Anja u.a. (Hg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich (Bibliothek Altes Reich 3), München 2008. Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Rororo 55675), Reinbek bei Hamburg 52014. Beck, Robert/Krampl, Ulrike/Retaillaud-Bajac, Emmanuelle (Hg.), Les cinq sens de la ville: Du Moyen Age à nos jours, Tours 2013. Behringer, Wolfgang/Roeck, Bernd (Hg.), Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400-1800, München 1999. 460
Neue Stadtgeschichte(n) – ein Nachwort
Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004. Brockhoff, Evelyn/ Matthäus, Michael (Hg.), Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356-1806. Aufsätze, Frankfurt a.M. 2006. Freitag, Werner, Städtischer Markt und symbolische Kommunikation, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), hg. von Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Köln u.a. 2013, S. 380-399. Kaschuba, Wolfgang u.a. (Hg.), Urbane Aushandlungen. Die Stadt als Aktionsraum, Berlin 2016. Krischer, André, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2006. Lau, Thomas, Unruhige Städte. Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (16481806) (Bibliothek Altes Reich 10), München 2012. Mergel, Thomas, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606. Missfelder, Jan-Frieder, Akustische Reformation: Lübeck 1529, in: Historische Anthropologie 20 (2012), S. 108-121. Morat, Daniel, Die Stadt und die Sinne. Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf Urbanisierung und Großstadterfahrung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 43 (2012), S. 23-28. Monnet, Pierre, Les Rohrbach de Francfort. Pouvoirs, affaires et parenté à l’aube de la Renaissance allemande (Travaux d’humanisme et renaissance 317), Wien 1997. Neu, Tim, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), hg. von Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Köln u.a. 2013, S. 401-418. Rau, Susanne, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt a.M. 2013. Dies., Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300-1800, Frankfurt a.M. 2014. Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 21), Köln 22008. Rogge, Jörg, Politische Räume und Wissen. Überlegungen zu Raumkonzepten und deren heuristischen Nutzen für die Stadtgeschichtsforschung (mit Bei461
Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger
spielen aus Mainz und Erfurt im späten Mittelalter), in: Tradieren – Vermitteln – Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 6), hg. von Dems., Berlin 2008, S. 115-154. Rudolph, Harriet, Das Reich als Ereignis. Formen und Funktionen der Herrschaftsinszenierung bei Kaisereinzügen (1558-1618) (Norm und Struktur 38), Köln 2011. Seidel, Robert/Toepfer, Regina (Hg.), Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2010. Schlögl, Rudolf, Vergesellschaftung unter Anwesenden in der frühneuzeitlichen Stadt und ihre (politische) Öffentlichkeit, in: Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit (Städteforschung A 83), hg. von Gerd Schwerhoff, Köln 2011, S. 29-38. Schmidt, Patrick, Wandelbare Traditionen, tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit (Norm und Struktur 36), Köln u. a. 2009. Schmidt-Funke, Julia A., Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Habilitationsschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2016. Stalljohann-Schemme, Marina, Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs (Bibliothek Altes Reich 21), Berlin 2016. Stercken, Martina/Schneider, Ute, Urbanität. Formen der Inszenierung, in: Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern (Städteforschung A 90), hg. von Dens., Köln u.a. 2016, S. 11-20. Stollberg-Rilinger, Barbara, Rituale. (Historische Einführungen 16), Frankfurt a.M. 2013. Teuscher, Simon, Zuerst die Herrschaft und dann der Markt? Kommentar zur Sektion »Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln«, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), hg. von Barbara Stollberg-Rilinger u.a., Köln u.a. 2013, S. 419-425.
Internetressourcen Mergel, Thomas, Kulturgeschichte der Politik, Version 2.0, 22.10.2012, URL: http://docupedia.de/zg/ 05.01.2015. 462
Autorinnen und Autoren
Robert Brandt studierte Geschichts- und Politikwissenschaften an der FU Berlin und an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Derzeit ist er Doktorand an der Goethe-Universität. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte der Reichsstädte, vornehmlich Frankfurts. Kontakt: [email protected] Jean-Dominique Delle Luche ist Postdoktorand. 2015 wurde er an der École des Hautes Études en Sciences Sociales mit einer Arbeit zum Thema Schützengesellschaften und Schützenfeste im Heiligen Römischen Reich (15.-16. Jahrhundert) promoviert. Er beschäftigt sich mit der vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte der süddeutschen Reichsstädte und forscht derzeit über die Entwicklung des Büchsenmacherhandwerks im frühneuzeitlichen Reich. Kontakt: [email protected] Joachim Eibach ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bern. Er ist Principal Investigator des SNF-Sinergia-Forschungsprojekts »Doing House and Family«. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Stadt, Kriminalität und Gewalt, die Politische Kulturgeschichte der Sattelzeit und das Werk Alexander von Humboldts. Kontakt: [email protected] Vera Faßhauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Frühe Neuzeit und Rhetorik des Instituts für Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Nachdem sie 2014 an der FSU Jena mit einer Arbeit zur Ästhetik und Poetik des 18. Jahrhunderts promoviert wurde, forschte sie u.a. zu frühzeitlichen Fürstinnenkorrespondenzen und Ego-Dokumenten des 463
Neue Stadtgeschichte(n)
radikalen Pietismus. Derzeit arbeitet sie an einer digitalen Auswahledition der Tagebücher Johann Christian Senckenbergs. Kontakt: [email protected] Philip Hahn ist seit 2011 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Tübingen und bearbeitet dort sein Habilitationsprojekt zum Thema »Sensory Communities: Perception, Order, and Community Building in the Premodern Town, ca. 1470-1880«. Er hat eine Reihe von Veröffentlichungen zur Geschichte der Sinne, zur historischen Semantik und zur Buch- und Lesergeschichte vorgelegt. Kontakt: [email protected] Andreas Hansert ist seit einem Studium der Soziologie und einer Promotion über die Geschichte des bürgerlichen Mäzenatentums der Stadt Frankfurt am Main (1990) freiberuflich als wissenschaftlicher Geschichtsforscher und Autor sowie gelegentlicher Ausstellungsmacher tätig. Ein Schwerpunkt seither ist die Frankfurter Stadtgeschichte, hier in den frühneuzeitlichen Abschnitten speziell die Geschichte des Patriziats sowie verschiedene Themen der NS-Zeit. Kontakt: [email protected] Philip Hoffmann-Rehnitz ist wissenschaftlicher Koordinator und Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs 1150 »Kulturen des Entscheidens« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben der frühneuzeitlichen Stadt-, Politik-, Handwerks- und Zunftgeschichte die Geschichte der (Wirtschafts-)Krisen und des Entscheidens zwischen Mittelalter und Neuzeit. Kontakt: [email protected] André Krischer studierte Geschichte, Philosophie und Anglistik. Er wurde 2005 promoviert und habilitierte sich 2015. Er ist Leiter der Arbeitsstelle Geschichte Großbritanniens und des Commonwealth an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die britische Rechts- und Verfassungsgeschichte, die Stadt- und die Kriminalitätsgeschichte. Kontakt: [email protected] Thomas Lau studierte Geschichte und öffentliches Recht. Er wurde 1997 promoviert und habilitierte sich 2005 mit der Studie »Stiefbrüder. Nation und Konfession in der Schweiz und Europa 1646-1712«. Er ist Titularprofessor an der Universität Fribourg. In seinen Forschungen beschäftigt er sich unter anderem 464
Autorinnen und Autoren
mit der Geschichte des Nationalismus und der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs. Kontakt: [email protected] Julia A. Schmidt-Funke ist wissenschaftliche Koordinatorin des Sammlungsund Forschungsverbunds Gotha und leitet dort ein Forschungsprojekt zur Naturforschung um 1800. 2017 habilitierte sie sich an der Universität Jena mit einer Arbeit über materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main. Neben Studien zum Buch- und Pressewesen, zum Bürgertum um 1800 und zur Revolution von 1830 forschte sie zuletzt zum Verhältnis von Religion und Geschlecht im frühneuzeitlichen Protestantismus. Kontakt: [email protected] Matthias Schnettger ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte des Alten Reichs und Italiens. Außerdem beschäftigt er sich mit internationalen Beziehungen sowie Transferund Austauschprozessen im frühneuzeitlichen Europa. Kontakt: [email protected] Gerd Schwerhoff ist seit 2000 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der öffentlichen Räume in der Frühen Neuzeit, die Religionsgeschichte und die Geschichte des Glaubens, hier insbesondere die Themenfelder Blasphemie und Inquisition. Außerdem hat er zahlreiche Publikationen zur Kriminalitätsgeschichte und zur Geschichte der Hexerei bzw. der Hexenverfolgungen vorgelegt. Kontakt: [email protected] Marina Stalljohann-Schemme studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politik und Romanistik. Von 2008 bis 2013 arbeitete sie am Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück zum Schwerpunkt »Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit«. Dort entstand auch ihre Dissertation »Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit – Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs«. Neben ihrer wissenschaftlichen Laufbahn ist sie Journalistin und arbeitet als Pressereferentin für einen Landtagsabgeordneten. Kontakt: [email protected] 465
Personenregister 1
Abelshauser, Werner 262* Adam 229 Adlerflycht, Johann Christoph von 412 Albrecht von Brandenburg, Kurfürst von Mainz 115 Alexandra Pawlowna Romanowa, Erzherzogin von Österreich 411 Algesheimer, Johann Bernhard, gen. 83 Alten-Limpurg (Ganerbschaft) 103, 106-112, 118, 121-123, 126, 332, 350f. Amos, Johann 90 Anton Ulrich, Herzog von SachsenMeiningen 341f., 440 Arlinghaus, Franz-Josef 264* Arnpeck, Veit 375* Arouet, François-Marie, s. Voltaire Assmann, Aleida 143 August III., der Starke, König von Polen 414 August, Kurfürst von Sachsen 380* Autenriet, Heinrich Friedrich (von) 411 Bacchus 200 Barckhaus, Franz von 236 1
-, Heinrich von 436 Bary, August de 226 Battonn, Johann Georg 128 Baur von Eysseneck, Johann Vinzenz 121 -, Maria Juliana 121f. Behaghel, Isaac 225* Behrends, Johann Adolph 205* Bentzel, Anselm Franz von 411 Bergerhausen, Hans-Wolfgang 400 Berghoff, Hartmut 260* Bergholz, Friedrich Wilhelm von 414 Berlichingen, Götz von 381, 382* Bernhard (Familie) 224 -, Johann Nikolaus 225* -, Johanna (geb. Geit) 224* Besserer (Familie) 157 Beutler, Ernst 226 Beyfus (Familie) 435 Binder, Friedrich von 414 Blainville, J. de 201 Blickle, Peter 19 Blockmans, Wim 31 Blondé, Bruno 263* Blumenthal (Resident) 432 Bock, Hartmut 351 Bödecker, Hans-Erich 154
Nennungen nur in den Fußnoten sind mit einem Asteriskus (*) gekennzeichnet. 467
Neue Stadtgeschichte(n)
Böhme, Gernot 164 Bogucka, Maria 194 Bolongaro (Familie) 90* Boone, Marc 267* Bosch, Aida 346 Bothe, Friedrich 55, 400 Bourdieu, Pierre 51*, 142, 145, 346 Boyer, Christoph 262* Brakensiek, Stefan 19 Brandt, Robert 456, 458 Braudel, Fernand 16, 316* Breitenbach, Georg Andreas 224 Brockhoff, Evelyn 10 Bromm, Hans 352 -, Jeremias 351f. Browne, Edward 198 Brunner, Otto 16 Buchholzer-Rémy, Laurence 370* Bührlen, Friedrich Ludwig 160, 167 Büttner, David Sigismund 189 Burgk, Johann Ludwig 408 Burke, Peter 144 Burnet, Gilbert 78, 79* Busek, Johann von 113 Buttlar, Johann Anton Franz von 414 Calvino, Italo 139, 147, 164 Campe, Johann Heinrich 208 Capitani, François de 53 Carl, Horst 52 Ceres 200 Chandon, Christian 369* Christoph, Herzog von Württemberg 383 Chytraeus, David 194 Clark, Peter 263* Classen, Constance 148 Clemens August von Bayern, Kurfürst von Köln 410 468
Cobenzl, Johann Karl Philipp Graf 442 Colerus, Christoph 190 Colloredo, Rudolph Joseph von 414, 432, 436 Corbin, Alain 147 Coryate, Thomas 191 Cranz, Karl 204 Damme, Ilja van 263* Daun, Leopold Joseph von 428 Dechent, Hermann 231* Deichsler, Heinrich 377* Delle Luche, Jean-Dominique 9, 452, 457 Denzel, Markus A. 339* Dickens, Arthur 19 Diesterweg, Albert Adolf 240* Dietz, Alexander 226 Dillerheim, Schlomme 433f. Dippel, Johann Konrad 233 Drach (Familie) 92* Dreytwein, Dionysius 372, 381*, 389* Duchhardt, Heinz 400 Dülmen, Richard van 167 Dürer, Albrecht 120 Durkheim, Emile 49 Ebel, Wilhelm 29 Edelmann, August 374* Ehbrecht, Wilfried 24* Ehrenpreis, Stefan 14* Eibach, Joachim 337*, 342*, 452f., 459 Eisenberger, Philipp 351 Elias, Norbert 45 Ennen, Edith 13 Ens, Gaspar 194 Ernst Ludwig, Landgraf von HessenDarmstadt 408
Personenregister
Esch, Arnold 305 Eugen, Prinz von Savoyen-Carignan 414 Eulner, Hans-Heinz 227 Faber, Johann Heinrich 192 Fabri, Felix 162, 164, 168 Fahnenberg, Egid Joseph Karl von 411f., 416 Farge, Arlette 58 Faßhauer, Vera 352*, 455 Fende, Christian 228 Fenske, Michaela 354 Ferdinand I., römisch-deutscher Kaiser 116 Ferdinand II., Erzherzog von Österreich(-Tirol) 380* Fettmilch, Vinzenz 60, 91, 301, 306*, 315* Fichard, Johann Karl von 107*, 224 Fleischbein von Kleeberg (Familie) 108 Fontaine, Laurence 256, 277f., 279*, 284* Foucault, Michel 187, 188* François, Etienne 22, 73 Franz I., römisch-deutscher Kaiser 128, 235, 427f., 431, 433, 435440, 442-446, 457 Franz III. Stephan, Herzog von Lothringen, s. Franz I. Frauenstein (Ganerbschaft) 106, 108, 110, 112, 121, 123, 410 Fredersdorf, Michael Gabriel 440 Frenzel, Sebastian 11* Freytag, Franz von 439-441 Friederike Charlotte, Prinzessin von Hessen-Darmstadt 408 Friedrich III., Kaiser 59
Friedrich V., Markgraf von Brandenburg-Ansbach und -Kulmbach 377* Friedrich II., d.Gr., König von Preußen 246, 439-442, 446 Friedrich August von Hannover, Fürstbischof von Osnabrück 412f. Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen, s. August III. Friedrich Karl von Schönborn, Fürstbischof von Bamberg und Würzburg 415 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 440 Friedrichs, Christopher 15 Fries, Johann Georg 153 Frohnapfel-Leis, Monika 88* Frosch (Familie) 119 -, Siegfried 119 -, Wicker 118f. -, Wigel 117 Fugger (Familie) 350 Fuhrmann, Bernd 13, 267* Furttenbach, Joseph 153, 160, 164 Gall, Lothar 20, 192 Gaum, Johann Ferdinand 159, 161, 164 Georg III., König von Großbritannien 412 Georg I., Landgraf von Hessen-Darmstadt 407 Gerhard, Dietrich 16 Gerning, Johann Isaak Freiherr von 198 Gerteis, Klaus 11, 14, 20 Giddens, Anthony 48, 51* Giel, Robert 301* Gieryn, Thomas F. 51 Glauburg, Friedrich Adolph von 412 469
Neue Stadtgeschichte(n)
-, Johann Adolf von 79* Gmelin, Georg Adam 411 Gobel, Niklas 118 Goethe, Catharina Elisabeth, geb. Textor 104, 225*, 237 -, Johann Caspar 104, 225*, 413 -, Johann Wolfgang (von) 101, 104f., 226, 451 Goffman, Erving 430 Goppold, Uwe 53 Gottfried, Johann Ludwig 196 Grambs (Familie) 108 -, Johann Jakob 232 Gramsci, Antonio 279* Groß, Andreas 231 Groten, Manfred 13 Grünewald, Matthias 120 Gualdo-Priorato, Galeazzo 203 Günderrode (Familie) 102, 124 -, Friedrich Justinian von 204 Günther von Schwarzburg, deutscher Gegenkönig 119 Habermas, Jürgen 48 Habsburger (Dynastie) 116, 118, 380*, 427f., 431-433, 436, 440, 442, 444f. Habsburg-Lothringen, s. Habsburger Häberlein, Mark 276* Häberlin, Karl Friedrich 412 Hänle (Hann), Rafael Beer 453 Hahn, Eva 187 Hahn, Hans Henning 187 Hahn, Philip 452, 454 Hambel, Abraham 348 Hamel, Anna de (geb. Litt) 348 Hansert, Andreas 57*, 453f. Hecht, Michael 24 Heitzenröder, Wolfram 75* Heller, Jakob 120 470
-, Katharina (geb. Melem) 120 Henriette Amalie, Prinzessin von Anhalt-Dessau 341f. Herder, Johann Gottfried 18 Hirschmann, Frank 13 Hochmuth, Christian 283* Hoerner, Johann Ignatius 438* Hoffman, Philip T. 276* Hoffmann-Rehnitz, Philip 369*, 452, 456, 459 Hofmann, Caspar Friedrich 416f. Hohenberg, Paul M. 21 Hohenhaus (Familie) 118 Holzhausen (Familie) 119, 123f., 126, 331f. -, Achilles von 113 -, Adolph von 126 -, Anton Ulrich von 412 -, Georg von 126 -, Guda von (geb. Goldstein) 120 -, Hamman von 82, 115 -, Hieronymus Augustus von 113f. -, Johann von 120 -, Johann Hector von 113f. -, Julius von 113f. -, Justinian von (d.Ä.) 103, 113 -, Justinian von (d.J.) 113 -, Justinian von (18. Jh.) 331-333, 342 -, Trajan von 113 Howes, David 148 Hufton, Owen 277* Humbracht (Familie) 123 -, Adolph Carl von 411 -, Katharina von 348 Hupka, Nikolaus Konrad 223f., 434 Ibach, Hartmann lauten: 77*, 115 Irsigler, Franz 185 Isenmann, Eberhard 13, 18, 46
Personenregister
Jeggle, Christof 278* Jesus Christus 85, 231, 236, 239, 244 Johanek, Peter 13, 18, 184f. Johann Reinhard III., Graf von Hanau 414 Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz 414 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 56, 128 Jütte, Daniel 141 Jung, Rudolf 26, 401 Kann (Familie) 92*, 435 -, Isaak 435f. Karl IV., Kaiser 118 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 89, 115, 159, 400 Karl VI., römisch-deutscher Kaiser 56, 90, 431f., 436, 438, 445 Karl VII., römisch-deutscher Kaiser 93, 207, 410, 427, 442 Karl Albrecht, Kurfürst von Bayern, s. Karl VII. Karl Emanuel III., König von Sardinien 409 Karl Theodor von Dalberg, Großherzog von Frankfurt 126, 303f. Kaschuba, Wolfgang 333 Katharina II., d.Gr., Kaiserin von Russland 246, 410f. Katzer, Carolin 10 Katzmann, Philipp 351 Kellner (Familie) 123f. Kerpen, Franz Georg von 411 Khevenhüller-Metsch, Johann Josef 431 Kiechel, Anton 163 -, Samuel 161, 163 Kirchner, Anton 203
Kißner, Anna Elisabeth 352 Kleinen, Dominik 333 Kleiner, Salomon 410 Klötzer, Wolfgang 317* Knittler, Herbert 14 Knoblauch (Familie) 123f. -, Jakob 119 Koch, Veit 382* Kocka, Jürgen 19 Königstein, Wolfgang 82, 83*, 84*, 85*, 88* Koselleck, Reinhart 272 Kracauer, Isidor 60 Kriegk, Georg Ludwig 225, 228* Krischer, André 30, 457 Kronberg (Grafenhaus) 204 Kublai Khan 139 Kühn, Cornelia 333 Kühschelm, Oliver 278* Kugler, Hartmut 200 Kule (Familie) 123 Kulp (Familie 92*, 435 -, David Mayer 435 Laclau, Ernesto 279* Laderam (Ganerbschaft) 106, 112 Landwehr, Achim 187, 260f., 319* Latomus, s. Steinmetz Latour, Bruno 50, 142, 148 Lau, Thomas 413, 457 Lauterbach, Johann Christoph von 412 Lechenich, Herz 433f., 436 Lee, Martyn 142 Lees, Lynn Hollen 21 Le Grand, Augustin 80* Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 108f. Leopold II., römisch-deutscher Kaiser 56, 128 471
Neue Stadtgeschichte(n)
Lersner (Familie) 124 -, Achilles August von 351* -, Euphrosyne Margaretha von (geb. Cronstetten) 123 -, Friedrich Maximilian von 223, 235f., 408 -, Heinrich Ludwig von 124 Lindner, Rolf 142 Loetz, Francisca 63 Löw, Martina 26, 49f., 74, 99, 104f., 141-145, 150, 454 Löwenstein (Ganerbschaft) 106, 112 Lottes, Günther 14 Ludwig IV., der Bayer, Kaiser 119 Ludwig VIII., Landgraf von HessenDarmstadt 408 Luhmann, Niklas 99* Luther, Martin 115, 120, 244* Mandeville, Bernard 224 Mandrou, Robert 147 Mannheim, Karl 105 Manskopf, Wilhelm Heinrich 225*, 244 Maria Theresia, Königin von Ungarn und Böhmen, römisch-deutsche Kaiserin 246, 427f., 431f., 440, 445 Marsay, Charles Hector de 233 Maschke, Erich 21* Mathieu, Anton 90 Matthias, römisch-deutscher Kaiser 302 Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser 350 Maximilian III. Joseph, Kurfürst von Bayern 427 McLuhan, Marshall 147 Meier, Ulrich 19 Melander, Dionysius 83 472
Melber, Johanna Maria (geb. Textor) 225* Mennerstorf, Erasmus Johann von 436 Mercier, Louis-Sébastian 279* Merian, Matthäus 196*, 197 Merlau, Johanna Eleonora von 122 Meyer, Andreas 202 Mignot, Marie Louise 440 Moeller, Bernd 19 Moeller, Georg Christoph 232 Mohr von Mohrenhelm, Christian Bonaventura 224 Monnet, Pierre 184* Montenach, Anne 256*, 266*, 277*, 280*, 281 Moors, Johann Isaak 223 Moser, Johann Jacob 402, 409, 432 Mouffe, Chantal 279* Müller, Johann Bernhard 205, 413 Müller, Johann Christian 90* Müller, Peter 85 Münden, Christian 90 Muldrew, Craig 256, 276, 277* Musner, Lutz 141f. Napoleon I. Bonaparte, frz. Kaiser 101,
126, 303f. Neurath, Constantin (von) 41 Nicolai, Friedrich 144, 149-152, 154156, 158-160, 162 Nikolaus von Kues 75 Noe, Alfred 189 Nolte, Paul 20*
Ochs, Heidrun 104* Ochs von Ochsenstein, Johann Christoph 408 Oestreich, Gerhard 29 Oldenburger, Philipp Andreas 181
Personenregister
Olenschlager, Johann Daniel von 223f. Ong, Walter J. 147 Opll, Ferdinand 13* Ostermann, Marc 376* Ovenbach (Familie) 123 Paintner, Ursula 206 Pairis, Gunther de 190 Palm, Karl Josef von 442 Pamuk, Orhan 281* Paulus (Apostel) 121, 236, 238* Pergen, Johann Anton von 432 Perret (Familie) 224 -, Johann Jakob 225* -, Susanna (geb. Behaghel) 225*, 236 Petersen, Johanna Eleonora 352 Petri, Franz 15 Petschke, Christoph 196, 199 Piccolomini, Enea Silvio 162 Piltz, Eric 11* Pius II., s. Piccolomini Planitz, Hans 13 Platter, Thomas 340 Poeck, Dietrich 25 Pöllnitz, Carl Ludwig von 192 Polanyi, Karl 297 Polo, Marco 139 Polyxena von Hessen-Rotenburg, Königin von Sardinien 409 Press, Volker 446* Pretlack, Johann Franz von 436 Pyrander, Laurentius 306* Ratold, Erhard 385 Rau, Susanne 99, 105, 117, 187, 267* Rauch, Günter 89* Rauw, Johann 191 Reckwitz, Andreas 148, 258*, 265*
Reibelt, Johann Adam 440 Reinartz, Stefan 49* Reineck, Friedrich Ludwig 231 Reintges, Theodor 374 Rem, Wilhelm 373 Riehl, Wilhelm Heinrich 141 Riesbeck, Johann Kaspar 193 Roeck, Bernd 14 Rösch, Ulrich 373 Rohrbach (Familie) 120 -, Bernhard 350-352 -, Job 111* Roodenburg, Herman 143-145 Rosenberger, Anna 75* Rosenwein, Barbara 31f. Rosseaux, Ulrich 14 Roth, Ralf 299*, 310* Rublack, Hans-Christoph 46 Rücker, Johann Nikolaus 439, 441 Rütiner, Johannes 373, 389, 390* Ruland (Familie) 80*, 108 Rumjanzew, Nikolai Petrowitsch 410f. Sacheverell, Stevens 192 Sarasin, Philipp 187 Satan 87* Schad (Familie) 125, 127 Schad von Mittelbiberach, Anna Sibylla 124f. Schafer, R. Murray 146 Schatz, Hans 381*, 382* Scheiwiller, Ulrich 390* Schermar, Anton 152, 161 Scheutz, Martin 354 Schiffauer, Werner 146, 164 Schilling, Hans 352 Schilling, Heinz 14, 19, 21, 404 Schilling, Ruth 25 473
Neue Stadtgeschichte(n)
Schlögl, Rudolf 30, 46, 48f., 99*, 264, 399 Schlosser, Erasmus Karl 223 Schlumbohm, Jürgen 319* Schmidt, Georg 415* Schmidt, Johann Georg 90 Schmidt, Johann Heinrich 224, 439 Schmidt, Patrick 52 Schmidt, Paul Gerhard 203 Schmidt-Funke, Julia A. 151*, 194*, 255, 456 Schmieder, Felicitas 13 Schmölz-Häberlin, Michaela 23 Schneider, Ute 186, 333 Schnettger, Matthias 59*, 255, 453 Schnurrer, Ludwig 370* Schobser, Johannes 373* Schönborn (Dynastie) 118, 415 Schönemann (Familie) 224 -, Anna Elisabeth (Lili) 224* -, Johann Wolfgang 224* -, Susanne Elisabeth (geb. d’Orville) 224* Schreiner, Klaus 18f. Schütz, Christian Georg 127 Schütz, Johann Jakob 122, 228, 230 Schulz, Knut 301* Schulze, Winfried 11 Schuster, Joseph Moses 433f., 436 Schuster, Peter 61* Schwarz, Matthäus 350 -, Ulrich 389, 390* Schwerhoff, Gerd 9, 48, 63, 263, 452, 458f. Seeger, Karl Friedrich 411 Seelig, Johann Adolph 433-437 Seiffart von Klettenberg, Remigius 223, 236 Seltzlin, David 159f. 474
Senckenberg (Familie) -, Anna Margaretha (geb. Raumburger) 226, 231, 233-235, 241 -, Heinrich Christian (von) 235, 432, 441, 443 -, Johann Christian 223-246, 352*, 441, 455 -, Johann Erasmus (von) 234f., 238, 440f. -, Johann Hartmann 231*, 235 -, Otto Rudolph 232 Simmel, Georg 49, 51*, 164 Sindelfinger, Hans 382*, 389* Smith, Mark M. 146-148 Sombart, Werner 258*, 346 Spener, Philipp Jakob 121, 228, 352 Stalburg, Claus (d.Ä.) 115 -, Claus (der Reiche) 114f. -, Georg 114f. -, Philipp Jakob von 223 Stalljohann-Schemme, Marina 9, 332*, 454f. Starck, Anna Maria (geb. Textor) 225*, 237 -, Johann Jakob 225*, 237 Stauffer (Dynastie) 100f., 109 Steffan von Cronstetten (Familie) 124, 127 -, Johann Adolph 123f. -, Justina Catharina 124f. -, Justina Margretha (geb. Völcker) 123f. Steinmetz, Johannes (Latomus) 89* Steinwert von Soest, Johann 194, 339 Stercken, Martina 186, 333 Stock, Johann Adolf 198, 202 Stollberg-Rilinger, Barbara 17 Stoob, Heinz 12, 17, 21 Stralenberg (Familie) 123
Personenregister
Sturm, Beate 276* Sulzer, Johann Georg 204 Syvertes (Familie) 124 Szende, Katalin 185* Textor (Familie) 225, 237 -, Anna Christine 225 -, Anna Margaretha (geb. Lindheimer) 225*, 237 -, Johann Wolfgang 104, 223f., 225*, 226, 237, 430*, 443f. -, Maria Katharina (geb. Appel) 237 Thiessen, Hillard von 404, 406 Trémouille, Emilie de la 80 Turinski, Jan 10 Valckenborch, Lucas van 348 Varrentrapp, Franz 440 Veblen, Thorstein 346 Virmont, Ambrosius Franz von 416 Vischer, August 191 Vocelka, Klaus 12 Völcker (Familie) 124 -, Maria Margretha (geb. Knoblauch) 123, 125 Vogel, Jakob 260* Voigt, Samuel Gottlieb 204 Voltaire 433, 438-441 Vom Rhein, Bechtold 82 Vries, Jan de 21 Wackerbarth, August Joseph Ludwig 204 Waldschmidt, Johann Martin 201 Walker, Mack 12 Walle, Jakob von de 244 Walperge (Familie) 348* -, Margaretha de 348 Walther, Friedrich Andreas 203
Wanebach (Familie) 117, 119 -, Katharina von 117 -, Wigel von (geb. Hohenhaus) 117f. Watt, Joachim von (Vadianus) 373 Weber, Max 116, 258*, 334 Wehler, Hans-Ulrich 12 Wehrstatt, Ulrich von 120 Weigel, Sigrid 104 Weinsberg, Hermann von 31f., 58 Weizsäcker, Paul 376* Welch, Evelyn 336 Weller, Thomas 24, 399 Wendt, Georg Moritz 354 Wettiner (Dynastie) 380* Widing, Zacharias van 200 Wierichs, Gero 10 Wiesenhütten (Familie) 124 Wilhelm IV., Landgraf von HessenKassel 407* Wilhelm, Prinz von Nassau-Dillenburg 201 Windler, Christian 404 Wittelsbacher (Dynastie) 118, 207, 386, 427, 442 Wolf, Peter 184 Wurmbrand, Johann Wilhelm, Graf von 416, 432 Zedler, Johann Heinrich 298 Zeller, Olivier 15 Zimmer, Oliver 144 Zum Jungen (Familie) 338 Zwingli, Ulrich 373*
475
Ortsregister 1
Aare 57 Alpen 100 Altdorf 235 Amerika 102 Amsterdam 22, 45, 144, 276 Antwerpen 196, 348 Athen 208 Augsburg 62, 73, 108, 163*, 349f., 369, 372f., 379f., 381*, 383*, 385f., 389, 403 Außereuropa 147, 341 Babylon 223 Baden (Schweiz) 402 Baden, Markgrafschaft 387 Baden-Baden 377* Baden-Württemberg 386 Balkan 428 Bamberg 144, 197f., 369*, 379, 386 Bamberg, Hochstift 414f. Basel 57, 61, 340, 384*, 385*, 388* Bayern 85*, 154, 377, 386 Belgien 31 Benelux-Staaten 260* Bergbieten 384* Bergstraße 204 Berleburg 233 1
Berlin 22, 144, 152, 162, 376*, 440f. Bern 45, 53f., 57, 388* Bielefeld 19f. Blaubeuren 159, 161 Bockenheim 79, 86, 341 Bodensee 390 Böhmen 428 Bordeaux 153 Brabant 389* Brandenburg-Ansbach 377*, 378 Brandenburg-Preußen 402*, 405*, 411f., s. auch Preußen Braunschweig 418 Breisach 384* Bremen 402*, 403, 415 Breslau 384*, 402* Brügge 80 Brüssel 376* Chicago 44 China 262* Colmar 372, 381, 382* Danzig 193-196 Darmstadt 408 Deutschland 12*, 15, 18*, 19 , 22f., 27, 44*, 45, 49*, 105, 141, 145, 181,
Nennungen nur in den Fußnoten sind mit einem Asteriskus (*) gekennzeichnet. 477
Neue Stadtgeschichte(n)
187, 191-194, 203*, 257, 259, 263, 267, 275*, 276*, 281*, 282*, 283*, 296, 339, 349, 369f., 381, 399, 411, 442, 457f., s. auch Reich Donau 151 Dresden 30, 32, 141, 283*, 380*, 390 Düsseldorf 32 Eidgenossenschaft, s. Schweiz Elbe 32, 196 Elsass 381 Emmendingen 23 England 15, 49*, 78, 191f., 198, 256, 276f., 405 Erfurt 379 Erlangen 144 Esslingen 372, 380, 382*, 389 Europa 16-18, 21f., 25, 27*, 44, 47, 49*, 50, 105, 149, 153, 161, 186, 192*, 193, 195f., 198, 202, 205f., 208, 246, 258, 262*, 263*, 264*, 275*, 279*, 403, 412, 415, 428 Falkenstein (Königstein) 204 Feldberg (Taunus) 204 Fillide 139f., 164 Flandern 348, 389* Flensburg 200 Flensburger Förde 200 Fränkischer Reichskreis 191 Franken 144, 192*, 201, 203*, 377, 391* Frankfurt a.M. 9, 19f., 30*, 45, 51, 5460, 62, 65, 73-94, 99-129, 141, 151, 166, 181f., 184, 186-208, 223, 225228, 230, 232-238, 240, 243, 245f., 259*, 295, 298-301, 303-320, 331f., 335-345, 347-353, 377, 380, 478
383, 385*, 388*, 389f., 400f., 403418, 427-446, 451-453, 455-458 -, Allerheiligenkapelle 77* -, Altstadt 75f., 79, 91, 101, 119, 336, 340 - Antoniterkloster 75, 82 -, Bankenviertel 102 -, Barfüßerkloster und -kirche 75-77, 79, 121 -, Bernhardskapelle 77* -, Bertramshof 123 -, Bockenheimer Tor 409 -, Bornheimer Pforte 82* -, Cronstetten-Palais/Cronstetten’sches Damenstift, s. Kranichhof -, Deutschordenskommende 75f., 90* -, Deutsch-reformierte Kirche 80 -, Dom (Stifts- und Pfarrkirche St. Bartholomäus) 59, 75-79, 82-86, 8890, 110, 115, 118, 120, 336, 429, 453 -, Dominikanerkloster und -kirche 75, 120 -, Dreikönigskirche 75f., 77* -, Eschenheimer Gasse 80 -, Eschenheimer Turm 101 -, Franziskanerkloster, s. Barfüßerkloster -, Französisch-reformierte Kirche 80 -, Friedberger Warte 409f. -, Galgenberg 243* -, Galgentor 82* -, Gasthof Zum Löwen 439 -, Ghetto, s. Judengasse -, Glauburger Hof, s. Nürnberger Hof -, Große Stalburg 114f., 123 -, Hainer Hof 77* -, Hauptfriedhof 102 -, Hauptsynagoge (Judengasse) 80
Ortsregister
-, Hauptwache 236 -, Haus (Alten-)Limpurg 106, 109f., 115, 126 -, Haus Braunfels 80, 110, 123, 410 -, Haus Frauenstein 106 -, Haus Fürsteneck 123 -, Haus Grimmvogel (und Paradies) 102, 123, 125, 127 -, Haus Laderam 106, 110 -, Haus Löwenstein 106, 110 -, Heiliggeistkirche 76, 77* -, Heiligkreuzkapelle 77 -, Historisches Museum 100, 109, 120 -, Holzhausen-Öd 123 -, Holzhausenschlösschen 101f., 129 -, Hospital 76 -, Hospital (Judengasse) 80, 92 -, Institut für Stadtgeschichte 10, 128, 306*, 308*, 310, 404, 414, 417 -, Johanniterkommende 75f. -, Judenbrückchen 91 -, Judenfriedhof 91 -, Judengasse 51, 59f., 80, 86f., 9092, 101, 105, 151, 337, 338*, 345, 430, 433-436, 453 -, Kaiserstraße 127 -, Karmeliterkloster und -kirche 75, 82 -, Katharinenkirche, -stift und -spital 75-78, 115, 117f., 225*, 453 -, Knoblauchshof, s. Bertramshof -, Konstabler Wache 410 -, Kornmarkt 80, 82, 114 -, Kranichhof 123-125, 127f. -, Kühornshof, s. Bertramshof -, Landwehr 100, 409 -, Leinwandhaus 80, 336 -, Leonhardskirche und -stift 75f., 82, 89, 119 -, Liebfrauenberg 102, 110, 125, 336
- Liebfrauenkirche und -stift 75f., 82, 88*, 89, 117-119 -, Main/Mainufer 57, 59, 75, 110, 338, 340 -, Mainbrücke 82, 87*, 189, 195 -, Mainhafen 100, 194 -, Mainzer Pforte 82* -, Maternkapelle 77*, 82* -, Michaelskapelle 120 -, Neustadt 75f., 81 -, Nikolaikapelle 77, 82, 119 -, Nordend 100 -, Nürnberger Hof 108, 123 -, Paulskirche 79 -, Peterskirche 75f., 77*, 86 -, Römer 55, 101, 105, 110, 114f., 119, 126, 223, 239, 336, 338, 410 -, Römerberg 54f., 58f., 77, 101, 109f., 141, 166, 336 -, Rosenberger Einung 75 -, Rossmarkt 77*, 82*, 125, 127f. -, Ruländisches Haus 80 -, Saalhof 108-110, 122 -, Sachsenhausen 57f., 75f., 81f., 429 -, Schirn 58 -, Stadtallee 80 -, Stadtbibliothek 120 -, Stadtmauer (14. Jh.) 101 -, Stadtwaage 336 -, Staufermauer 75, 78, 100, 338, 442 -, Stralenberger Hof 123 -, Synagoge (vor 1462) 86 -, Universitätsbibliothek 120 -, Wallanlagen 101 -, Weißfrauenkirche und -kloster 75f., 79, 82 -, Westend 128 -, Zeil 82* Frankfurt, Großherzogtum 126, 303f. 479
Neue Stadtgeschichte(n)
Frankreich 15, 49*, 51, 58, 79, 127, 152f., 196, 223f., 227, 256, 260*, 275*, 277, 284*, 405, 412, 427, 438, 442, 456 Freiburg i.Br. 375*, 386 Freising 380 Friedberg 204, 232 Füssen 427 Genua 402, 405 Gerau 201 Gießen 235* Göggingen 372* Görlitz 29 Göttingen 235, 239, 276*, 296, 369* Gomorrha 223 Griechenland 197 Großbritannien 260*, 412 Günzburg 379 Halle a.d.S. 25, 231, 240, 244 Hamburg 163*, 196, 402*, 403, 404* Hanau 79, 192*, 429 Hanau, Grafschaft 404*, 409f. Hanau-Münzenberg, Grafschaft 414 Hannover 276* Heidelberg 78*, 374*, 377*, 380, 389 Heidenheim 376* Heilbronn 377*, 380 Herrenberg 379 Herrnhut 245 Hessen 77, 203*, 204, 404*, 407-409, 411 Hessen-Darmstadt 430*, 435 Hessen-Kassel 80, 407 Hildesheim 354 Hochheim 204 Höchst (Frankfurt-Höchst) 193 Höchst an der Nidder 102 480
Holland 161 Homburg (Hessen) 204 Ingolstadt 380 Innsbruck 390 Isenburg, Grafschaft 404* Istanbul 281* Italien 60, 152f., 164, 196f., 203, 260*, 403* Japan 262* Joachimsthal 373*, 389 Kassel 408 Kaufbeuren 383* Kempten 383* Kiel 369* King’s Lynn 276 Kirchheim unter Teck 354 Kitzingen 374*, 375 Kleinbasel 57 Köln 12, 16, 29, 31f., 58, 116, 118, 185, 193, 197, 202, 379-381, 382*, 389, 400, 403 Königsberg 440 Königstein 204 Kohlenberg (Basel) 61 Konstanz 373, 380 Korinth 236 Kurhannover 443 Kurköln 192, 405 Kurmainz 55, 192, 204, 404*, 411, 414, 435, 438* Kurrheinischer Reichskreis 411 Kurpfalz 192, 435 Kurtrier 192 Landshut 375*, 379f., 381*, 386, 389 Lauingen 384*
Ortsregister
Leipzig 24, 32, 234, 380, 383*, 386, 399, 439 Lenzkirch 386 Lindau 373*, 379 Lissabon 22 Löwenstein-Wertheim, Grafschaft 413 London 22, 45, 161, 196, 276, 279*, 283* Lübeck 161, 193, 256, 268-271, 273f., 280, 402 Lüneburg 25 Lyon 196, 256*, 277*, 280* Magdeburg 32 Main 44, 100, 123, 190f., 193f., 196205, 408, 455 Maingau 201 Mainz 9f., 11*, 23*, 104*, 118, 192*, 204, 380, 432 Mannheim 27*, 225* Matte (Bern) 57 Meiningen 376* Memmingen 372*, 383* Mitteldeutschland 353, 386 Mitteleuropa 100, 256, 259, 275, 276*, 282* Mittelfranken 391* Mittelrhein 377 Mogul-Reich 403* Montreal 148 Moskau 22 Mühlhausen (Thüringen) 441* München 102, 104, 373*, 374*, 376*, 379-381, 383*, 386, 389*, 427 Münster 15, 24*, 163*, 405*, 418 Naher Osten 280* Nassau-Dillenburg, Grafschaft 232 Neapel 22
Neckar 156 Neuburg an der Kammel 384* New York 44 Niederdeutschland 349 Nieder-Erlenbach 124 Niederlande 31, 79, 152, 161*, 162, 166, 267*, 344, 348f. Niederösterreich 354 Nimwegen 402 Nördlingen 163*, 375, 377, 379f., 383*, 384*, 385, 387 Nordafrika 403* Nordamerika 44 Norddeutschland 59, 156, 353 Nürnberg 163*, 193, 348f., 369, 370*, 375, 379-381, 383*, 384*, 385, 387, 388*, 389*, 400 Oberdeutschland 84, 349, 457 Oberfranken 154 Oberrad 123 Oberrhein 377 Oberrheinischer Reichskreis 192*, 436 Ochsenfurt 373* Odenwald 204 Österreich 12, 93*, 164, 405*, 427, 431f., 457 Öttingen 376* Offenburg 383*, 386 Orient 161 Orléans 152 Osmanisches Reich 403* Osnabrück 181*, 405* Owen 354 Palästina 162 Paris 22, 45, 58, 161, 192, 276, 278*, 279*, 281, 282*, 371* 481
Neue Stadtgeschichte(n)
Passau 379, 390* Pfalz 201 Pforzheim 377*, 387 Polen 194, 196 Prag 390* Preußen 204, 412, 427, 432f., 439444, 457 Rastatt 402 Regensburg 379f., 387*, 388*, 389*, 405, 443 Reich (Heiliges Römisches Reich deutscher Nation) 9, 15, 21f., 30, 99, 119*, 126, 181, 186f., 189-191, 193, 196, 200, 202-207, 209, 226, 246, 267*, 309, 339, 353, 369, 375f., 391, 401-404, 409, 413-415, 428f., 431433, 437f., 443-446, 452, 455, 457 Rhein 57, 190, 194, 199f., 388* Rheingau 201 Rijswijk 402* Römisches Reich (Imperium Romanum) 21* Rorschach 373 Rostock 194 Rothenburg ob der Tauber 370* Rottweil 379f. Ruhrgebiet 143 Russland 403*, 412 Sachsen 388, 443 Salzburg, Erzstift 409 Sayn-Wittgenstein, Grafschaft 233 Scheibbs 354 Schelde 196 Schlangenbad 205 Schlesien 427 Schmalkalden 400 Schwaben 159, 377, 385 482
Schwäbisch Gmünd 198, 379f. Schwalbach 205 Schwarzenau 352* Schwaz 380 Schweden 268, 414 Schweinfurt 198 Schweiz 53, 55, 62, 64, 84, 144, 372*, 373, 452 Seckenheim 387 Sevilla 196 Småland 163 Solms, Grafschaft 404* Solothurn 379 Spanien 196, 405 Spessart 204 Speyer 78*, 193, 197, 379, 383*, 385* St. Gallen 373, 379, 389 Stockholm 163 Straßburg 60, 197, 373, 374*, 375, 379f., 381*, 383*, 388*, 389f. Stuttgart 160, 372, 377*, 380, 381*, 382*, 387, 389f. Süddeutschland 144, 156, 353, 376f., 381, 382*, 385f., 389f. Südosteuropa 280* Südwestdeutschland 15 Tajo 200 Taunus 100 Themse 196 Thüringen 341 Tirol 156 Toskana 428 Trier 101, 191, 377* Tübingen 387 Tyrus 203 Ulm 150-168, 372f., 376*, 379f., 382, 383*, 384*, 388*, 389*, 390*
Ortsregister
Unterfranken 373* USA 262* Utrecht 402 Venedig 25, 144, 151, 162, 196, 402 Vereinigte Niederlande 403*, 405, s. auch Niederlande Warschau 196 Weichsel 196 Weimar 126 Weißenburg (Franken) 391* Werl 25 Wertheim 198 Westafrika 403* Westeuropa 256, 258, 276, 339, 402f., 405, 411 Westfalen 25 Wetterau 102, 192*, 201, 203* Wetzlar 232, 416f. Wien 22, 154, 235, 304, 309, 389, 428, 432, 434, 442-444 Wiesbaden 205 Windsheim 377 Wittenberg 77 Worms 78*, 380 Württemberg 240, 354, 377*, 387 Würzburg 197f., 379, 386 Würzburg, Hochstift 378, 388, 414f. Zeil am Main 386 Zemrude 139 Zürich 45, 53, 62-64, 373, 380, 381*, 382, 385*, 388*, 389 Zwickau 380, 386
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Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
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Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
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