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German Pages 315 [316] Year 2013
Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts von
Prof. Dr. Mark Spoerer Universität Regensburg
Prof. Dr. Jochen Streb Universität Mannheim
Oldenbourg Verlag München
Lektorat: Dr. Stefan Giesen Herstellung: Tina Bonertz Titelbild: VW AG Einbandgestaltung: hauser lacour Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, 81671 München, Deutschland www.degruyter.com/oldenbourg Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
ISBN 978-3-486-58392-2 eISBN 978-3-486-76656-1
Vorwort Dieses Buch wurde durch unsere Erfahrungen in der Lehre motiviert. Studierende der Wirtschaftswissenschaften suchen nach anschaulichen Fallbeispielen, um daran den vermeintlich (oder tatsächlich) „trockenen“ Stoff ökonomischer Theorie besser verstehen zu können. Allerdings sind die meisten gängigen wirtschaftshistorischen Darstellungen stärker narrativ als analytisch angelegt und daher für Studierende an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten weniger geeignet. Das Analytische fehlt oft auch kritisch denkenden Studierenden der Geschichtswissenschaft, die jedoch im Rahmen ihres Studiums normalerweise keine ökonomischen Kenntnisse erwerben und sich daher einen verständlichen Zugang zu den komplexen ökonomischen Theorien und Methoden wünschen. Diese „Quadratur des Kreises“ zwischen Ökonomik und Historie versuchen wir mit diesem Buch zu leisten. Zu danken haben wir einigen Generationen von Studierenden, die in vielen Lehrveranstaltungen unseren Sinn für das, was ein gutes Lehrbuch zur Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts aufweisen sollte, geschärft haben. Dank gebührt auch unseren Lehrstuhlmitarbeitern, die in der Schlussphase das Manuskript kritisch kommentiert und noch so manchen Fehler entdeckt haben. Schließlich möchten wir uns bei Sabine und Ute bedanken, die (meistens) wohlwollend zur Verfügung standen, um mit uns bestimmte Inhalte und Konzepte dieses Buches ausführlich zu diskutieren – oder einfach mal sagten: „Für heute reicht’s“.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
A
Einleitung
1
1
Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
1
1.1 1.1.1 1.1.2
Wirtschaftsgeschichte zwischen Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften ......................................................................................... 3 Eine kurze Geschichte der Wirtschaftsgeschichte ...................................................... 3 Methodenstreit ........................................................................................................... 9
1.2
Chancen, Risiken und Grenzen quantitativer Methoden .......................................... 14
1.3
Die Bedeutung kontrafaktischer Analysen für die (Wirtschafts-) Geschichte.......... 20
2
Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
2.1
Wohlstandskonzepte und -messung ......................................................................... 26
2.2
Der Wohlstand im 20. Jahrhundert im Überblick..................................................... 29
B
Mangelnde Masse: Die Weimarer Wirtschaft zwischen politischen Ansprüchen und ökonomischen Realitäten
25
33
3
Das Vermächtnis des Krieges: wirtschaftlicher Neuaufbau im Schatten von Inflation und Reparationsforderungen 33
3.1
Eigentumsordnung und Arbeitsbeziehungen............................................................ 35
3.2
Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung ................................... 36
4
Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
4.1
Die Weimarer Konjunktur zwischen Inflation und Krise ......................................... 49
4.2
Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung ...................................... 51
4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Deutschland in der Weltwirtschaft ........................................................................... 68 Der Gold(devisen)standard ...................................................................................... 68 Außenhandel und Protektionismus .......................................................................... 71 Reparationen ............................................................................................................ 74
49
VIII
Inhaltsverzeichnis
5
Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang: die Weltwirtschaftskrise und das Ende der Republik 83
5.1
Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland .......................................................84
5.2
Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Krise...............................................................93
5.3
Wirtschaftskrise und Demokratie .............................................................................97
C
Völkischer Interventionismus: Die Wirtschaft des Dritten Reichs zwischen nationalsozialistischer Utopie und ökonomischem Pragmatismus 101
6
Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
6.1 6.1.1 6.1.2
Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs ......................................................104 Die nationalsozialistische Antikrisenpolitik ...........................................................104 Die Beurteilung der nationalsozialistischen Antikrisenpolitik................................ 114
6.2 6.2.1 6.2.2
Die Landwirtschaft zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Erzeugungsschlacht ................................................................................................123 Institutionelle Reformen in der Landwirtschaft ......................................................123 Analyse der landwirtschaftlichen Produktivität ......................................................128
6.3 6.3.1 6.3.2
Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“ ......................................................134 Wohlstandskonzepte ...............................................................................................135 Biologischer, materieller und virtueller Lebensstandard ........................................143
7
Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
7.1
Der Vierjahresplan ..................................................................................................157
7.2
Prinzipal-Agenten-Probleme ..................................................................................161
7.3
Der Aufbau der Rüstungskapazitäten .....................................................................171
7.4
Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg .......................................................179
7.5
Geschäft und Moral im Nationalsozialismus ..........................................................192
7.6
Wer bezahlte den Krieg? .........................................................................................202
D
Kein Wunder: Die Rückkehr der Bundesrepublik auf den langfristigen Wachstumspfad
209
8
Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
209
8.1
Nachkriegssituation ................................................................................................212
8.2 8.2.1 8.2.2
Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ...............................................................215 Empirie ...................................................................................................................218 Ursachenforschung .................................................................................................225
9
Rückkehr zur Normalität
9.1
Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft ..............................................................235
103
157
235
Inhaltsverzeichnis
IX
9.1.1 9.1.2
Währung und Wechselkursregimes ........................................................................ 235 Außenhandel und Europäische Integration ............................................................ 244
9.2
Die Wettbewerbsordnung ....................................................................................... 250
9.3
Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“ ............................. 254
E
Ausblick
267
10
Perspektiven der Neuen Deutschen Wirtschaftsgeschichte
267
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
273
Literaturverzeichnis
277
Stichwortverzeichnis
295
A
Einleitung
1
Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
Überblicksdarstellungen zur Wirtschaftsgeschichte Deutschlands gibt es genug.1 Warum also dieses Buch? Was ist neu an einer „Neuen Wirtschaftsgeschichte“ Deutschlands? Dieses Buch folgt einem grundlegend anderen Konzept als die bisher erschienenen Darstellungen zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. Der Schwerpunkt wird nicht auf eine möglichst vollständige und intelligent verknüpfte Darstellung (wirtschafts-)historischer Fakten gesetzt. Vielmehr wird, in Anlehnung an eine Reihe amerikanischer Lehrbücher, besonderer Wert auf das Verstehen komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge in historischer Dimension gelegt.2 Unsere Leser sollen davon überzeugt werden, dass schon durch die Anwendung verhältnismäßig einfacher mikro- und makroökonomischer Konzepte und Theorien auf historische Sachverhalte neue (wirtschafts-) historische Erkenntnisse erzielt werden können. Dieser Ansatz folgt unserer Überzeugung, dass eine Historiographie, die beansprucht, wissenschaftlich zu sein („Geschichtswissenschaft“), nicht ohne Bezug zu den systematischen Wissenschaften sein kann. Wer sich fundiert mit Rechtsgeschichte auseinandersetzen möchte, muss zuvor zumindest Grundkenntnisse der Rechtswissenschaft erwerben. Wer Sozialgeschichte betreibt, muss willens sein, sich soziologische Konzepte – und seien es „nur“ Begrifflichkeiten – anzueignen. Und wer Wirtschaftsgeschichte betreiben will, sollte wirtschaftswissenschaftliche Konzepte beherrschen, also etwa bei Aussagen über den materiellen Le1
2
Wir empfehlen als allgemeine Einführungen Christoph Buchheim (1997): Einführung in die Wirtschaftsgeschichte, München. Für das 19. Jahrhundert siehe zum Beispiel Christoph Buchheim (1994): Industrielle Revolutionen, München; Carsten Burhop (2011): Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918, Stuttgart; und Toni Pierenkemper (2005): Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung – oder: Wie wir reich wurden, München/Wien. Das 20. Jahrhundert wird durch die folgenden Monographien abgedeckt: Heike Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten Deutschen Republik, Stuttgart; Adam Tooze (2008): Ökonomie der Zerstörung: Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München; Werner Abelshauser (2010): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München; sowie aus Sicht von Ökonomen Herbert Giersch, Karl-Heinz Paqué und Holger Schmieding (1992): The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge. Vgl. insb. Jeremy Atack und Peter Passell (1994): A New Economic View of American History from Colonial Times to 1940, 2. Aufl., New York u.a.
2
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
bensstandard die Zusammensetzung des dafür herangezogenen Bruttoinlandsprodukts kennen und bei Aussagen über die Lohnentwicklung Nominal- von Reallöhnen unterscheiden können. Unserer Auffassung nach bieten die Wirtschaftswissenschaften jedoch über reine Begrifflichkeiten hinaus mit ihren Theorien (Wenn-dann-Aussagen) differenzierte Analysekonzepte, die für eine (wirtschafts-) historische Fragestellung zu einer tieferen und damit letztlich erst befriedigenden Antwort führen können. In diesem Sinne ist für uns ein Lehrbuch der (deutschen) Wirtschaftsgeschichte nicht einfach eine Geschichte der (deutschen) Wirtschaft. Es ist vor allem auch eine Darstellung der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ökonomischer Theorien, die vielleicht gerade erst durch die Übertragung auf die historische Fragestellung ihr Image eines scheinbar trockenen und realitätsfernen Stoffs verlieren. In der konkreten Anwendung auf die historische Fragestellung sehen wir somit auch eine Möglichkeit, abstrakte Theorie an interessanter Materie zu veranschaulichen. Das Anderssein dieses Buchs hat damit auch seinen Preis. Ein gewisses Vorverständnis oder zumindest Interesse an angewandter ökonomischer Theorie wird für die Lektüre vonnöten sein. Wir haben versucht, die ökonomischen Zusammenhänge so verständlich wie möglich darzustellen, um gerade auch interessierte Leser ohne wirtschaftswissenschaftliche Vorkenntnisse zum Weiterlesen zu ermutigen. Idealerweise, so hoffen wir, wird somit nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften heimischen Lesern die deutsche Wirtschaftsgeschichte näher gebracht und die Möglichkeit geboten, theoretische Kenntnisse am historischen Beispiel zu vertiefen, sondern werden umgekehrt auch Historiker/innen in die Lage versetzt, sich quasi „spielend“ an der historischen Materie wirtschaftswissenschaftliches Basiswissen anzueignen. Die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen in diesem Buch orientieren sich an den vergleichsweise wenigen Vorarbeiten – etwa in Form von Fachaufsätzen – die im hier postulierten Sinne einer „Neuen deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ entsprechen und noch so einfach gehalten sind, dass man sie allgemeinverständlich in einem Lehrbuch aufbereiten kann. Dies hat zum einen zur Folge, dass wir relativ viele eigene Aufsätze in das Manuskript eingearbeitet haben. Zum anderen haben wir uns nach langen Diskussionen und entgegen des vielfachen Rats wohlmeinender Freunde und Kollegen dagegen entschieden, die Wirtschaftsgeschichte der DDR in diesen Band aufzunehmen. Die Ordnungspolitik der DDR schuf – anders als etwa die des nationalsozialistischen Deutschlands – vollkommen neue Institutionen, die von der längerfristigen pfadabhängigen Entwicklung des (west)deutschen Ordnungsrahmens fundamental abwichen.3 Einen entscheidenden Bruch stellte dabei sicherlich das Außerkraftsetzen des freien Preismechanismus dar: Den Preisen in der DDR kam kaum noch Lenkungsfunktion zu; sie reflektierten eben nicht und häufig auch nicht einmal mehr annäherungsweise relative Knappheiten der Güter oder Produktionsfaktoren. Auch im Westen und insbesondere im Dritten Reich waren (und sind) die Preise durch politische Einflussnahmen verzerrt – aber eben nicht auf Dauer und nicht fundamental, wie das in 3
Vgl. dazu kritisch Albrecht Ritschl (2005): Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6, S. 151–170, sowie Mark Spoerer (2013): Das kurze Dritte Reich: Zur Frage der Kontinuität sozioökonomischer Strukturen zwischen der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der Bundesrepublik, erscheint in: Frank Schorkopf u.a. (Hg.): Gestaltung der Freiheit: Regulierung von Wirtschaft zwischen historischer Prägung und Normierung, Tübingen.
1.1 Wirtschaftsgeschichte
3
der DDR durchgängig der Fall war. Die von diesen fundamentalen Preisverzerrungen hervorgerufenen Anreiz- und Lenkungswirkungen, insbesondere aber die Rücktransformation der neuen Bundesländer in ein marktwirtschaftliches System, sind wichtige Untersuchungsfelder, die noch einer ausführlichen wirtschaftshistorischen Analyse bedürfen.4 Die Anwendung moderner sozialwissenschaftlicher Konzepte5 auf historische Sachverhalte stößt speziell unter Historikern nach wie vor – und seit der „kulturalistischen Wende“ der Geschichtswissenschaft sogar in zunehmendem Maße – auf grundsätzliche Vorbehalte. Um unsere Leser zu überzeugen, weshalb wir dies gleichwohl für legitim und sogar notwendig halten, möchten wir zunächst etwas weiter ausholen und auf die Geschichte der Wirtschaftsgeschichte eingehen.6
1.1
Wirtschaftsgeschichte zwischen Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften
1.1.1
Eine kurze Geschichte der Wirtschaftsgeschichte
Die Geschichtsschreibung hat sich zwar bis ins späte 19. Jahrhundert fast nur mit „großer“, d.h. vor allem politischer Geschichte beschäftigt, doch konnte auch diese nicht immer auf die Darstellung wirtschaftlicher Sachverhalte verzichten. In seinem im Jahr 1881 letztmalig vollständig überarbeiteten Manuskript der seit Sommersemester 1857 zunächst in Jena und dann in Berlin gehaltenen Vorlesung „Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ widmete der Historiker Johann Gustav Droysen auch einen kurzen Abschnitt der Wirtschaftsgeschichte, die bei ihm noch unter dem Titel „Sphäre der Wohlfahrt“ firmierte. In diesem Abschnitt forderte Droysen seine Fachkollegen auf, sich nicht nur auf die politische Geschichte zu konzentrieren, sondern sich auch der Wirtschaftsgeschichte zuzuwenden, denn die Geschichtswissenschaft habe „hier Aufgaben zu lösen, welche nur die hartnäckige Verblendung, dass nur der Staat die Geschichte angehe, hat übersehen und versäumen können.“7 Spezifisch wirtschaftshistorische Fragen sind jedoch zunächst vor allem von den ökonomischen Klassikern in der Frühzeit der Nationalökonomik8 aufgeworfen worden. Für Adam Smith, den Urvater der liberalen Ökonomik als wissenschaftlicher Disziplin, war es noch 4
5
6 7 8
Eine empfehlenswerte Darstellung der DDR-Wirtschaftsgeschichte ist: André Steiner (2007): Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, 2. Aufl., Berlin. Vgl. auch André Steiner (Hg.) (2006): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?, Berlin. Interessant zur Rücktransformation ist Karl-Heinz Paqué (2009): Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München. Wir verstehen unter Sozialwissenschaften den Oberbegriff für Wissenschaften, die sich mit der sozialen Interaktion von Menschen auseinandersetzen, also insbesondere die Wirtschaftswissenschaften, die Soziologie und die Politikwissenschaft. Präziser müssten wir hier und im Folgenden statt von „Wirtschaftsgeschichte“ von „Wirtschaftsgeschichtsschreibung“ oder „Wirtschaftshistoriographie“ sprechen. Johann Gustav Droysen (1974 [1875]): Historik, unveränderter Nachdruck der siebten Auflage von 1937, Darmstadt, S. 247. Wir folgen der Konvention, unter Ökonomik die Wissenschaft zu verstehen, die sich mit der Ökonomie befasst.
4
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
selbstverständlich, (wirtschafts-) historische Beispiele als empirische Fundierung seiner Thesen heranzuziehen.9 Die Ausdifferenzierung der Nationalökonomik im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts bewirkte jedoch eine Zweiteilung des Faches, die sich bis heute auf die akademische Verortung der Wirtschaftsgeschichte auswirkt. David Ricardo und andere Klassiker begannen zunehmend Hypothesen über wirtschaftliche Zusammenhänge aufzustellen, die den Anspruch hatten, beim Vorliegen bestimmter Ausgangsbedingungen zwingend in eine bestimmte Schlussfolgerung zu münden, und dies zeitinvariant. Ein Beispiel etwa wäre Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile.10 Ricardo ging von einem abstrakten Fall aus, in dem zwei verschiedene Länder bei zunächst vollständiger Autarkie jeweils zwei Produkte herstellen, dafür aber in unterschiedlichem Maße Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) aufwenden müssen. Nehmen wir beispielsweise an, dass England sowohl Maschinen als auch Tuch absolut günstiger herstellen kann als Portugal, Englands komparativer Vorteil im Maschinenbau jedoch größer ist als im Textilgewerbe. Sobald diese beiden Länder miteinander zu handeln beginnen, wird sich England deshalb auf die Produktion von Maschinen konzentrieren.11 Obwohl Portugal auch in der Tuchproduktion einen absoluten Kostennachteil gegenüber England aufweist, also mehr an Arbeit und Kapital für die Erzeugung einer Mengeneinheit Tuch aufwenden muss, lohnt es sich für beide Länder trotzdem, wenn Portugal im Rahmen dieser internationalen Arbeitsteilung Tuch produziert und dieses im Austausch gegen Maschinenimporte nach England exportiert. Beide Länder produzieren (und konsumieren) nun zusammen sowohl mehr Maschinen als auch mehr Tuch. Dies ist keine Zauberei, sondern die Folge von Arbeitsteilung. Die große wissenschaftliche Leistung Ricardos bestand darin zu zeigen, dass sowohl fortschrittliche als auch rückständige Länder von einer durch freien Außenhandel ermöglichten internationalen Spezialisierung profitieren können. Derartige Wenn-dann-Beziehungen werden nach Überzeugung der Klassiker immer dann gültig sein, wenn die im Modell durch Annahmen konkretisierten Ausgangsbedingungen gegeben sind. Damit ist für die Aussagen der Klassik die Zeitdimension uninteressant; der von Ricardo konstruierte Zusammenhang ist zeitinvariant, das heißt er gilt im Prinzip für das antike Rom ebenso wie für das industrialisierte England des 19. Jahrhunderts und die (zweite) Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts. Zu überprüfen ist natürlich stets, ob die Ausgangsbedingungen auch tatsächlich im konkreten historischen Kontext erfüllt sind. In ihrer Weiterentwicklung durchlief dieser Zweig der Nationalökonomik eine immer weitere Formalisierung und Abstraktion. Ob keynesianisch, monetaristisch oder neoklassisch, alle führenden Zweige der modernen Ökonomik beanspruchen bei aller Gegensätzlichkeit im Detail, dass ihre Kausalaussagen zeitinvariant sind. Im Gegensatz zu dieser Denkrichtung stand die – heute praktisch ausgestorbene – Historische Schule der Nationalökonomik, die vor allem in Deutschland entwickelt wurde und dort besonders lange einflussreich war. Für die Historische Schule war die Nationalökonomik vor allem ein Verfahren, historische Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung zu identifizieren. Ein früher, wenn auch wenig typischer Vertreter dieser Richtung war Karl 9 10 11
Vgl. Adam Smith (1776): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London. Vgl. David Ricardo (1817): Principles of Political Economy and Taxation, London. Diese eindeutige Schlussfolgerung gilt unter der Annahme, dass weder Arbeit noch Kapital von einem Land in das andere wandern können.
1.1 Wirtschaftsgeschichte
5
Marx. Im Unterschied zu späteren Protagonisten der Historischen Schule versuchte er, die Aussagen der klassischen Ökonomik in sein Gedankengebäude zu integrieren. Die explizite Opposition der Historischen Schule gegen den Allgemeingültigkeitsanspruch der Klassiker verdeutlichte ihr wohl bekanntester Vertreter Gustav Schmoller in seiner Antrittsvorlesung als Rektor der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1897, in der er die Realitätsferne sowohl der liberalen als auch der sozialistischen Nationalökonomik kritisierte: „Beide Richtungen glauben aus einer abstracten Menschennatur heraus ein vollendetes objectives System der heutigen Volkswirthschaft construieren zu können. [...] Beide wollen mit einem Sprung, ohne gehörige Detailforschung, ohne rechte psychologische Grundlage, ohne umfassende rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Vorstudien, die letzte endgültige volkswirthschaftliche Wahrheit erhaschen und nach ihr die Welt, die Menschen, die Staaten meistern.“12 In dezidierter Abkehr von dieser Vorgehensweise rückte Schmoller die deskriptive Statistik und die Wirtschaftsgeschichte in das Zentrum wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung: „Die Statistik hat mit der Bevölkerungslehre und der statistischen Unterbauung der wichtigsten volkswirthschaftlichen Lehren ein Heer von voreiligen Generalisationen und verschwommenen Vorstellungen beseitigt. Sie wurde das Haupthülfsmittel einer streng wissenschaftlichen descriptiven Volkswirthschaftslehre. Die Fortschritte der Philologie und der Geschichte, die Ausbildung der kritischen Methoden in diesen Wissenschaften mussten die Wirtschaftsgeschichte erzeugen und gaben den theoretischen Erwägungen der einzelnen Lehren erst einen reichen, vielseitigen, gut gesicherten Erfahrungsstoff als Grundlage.“13 In ihrer Geburtsstunde als eigenständige Wissenschaftsdisziplin in Deutschland war die Wirtschaftsgeschichte kein mehr oder minder weit entfernter Verwandter oder Nachbar der Ökonomik, sondern galt stattdessen als wesentlicher Bestandteil und unverzichtbare Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Unbeschadet der Tatsache, dass die Historische Schule, zumindest in ihrer extremen Ausprägung, ein vor allem deutsches Phänomen war, besaß ihr Leitmotiv, historisch-empirische Fakten stärker als zuvor als Ausgangsbasis und als Maßstab ökonomischer Theorien zu verwenden, internationale Strahlkraft. In Harvard wurde im Jahr 1892 der vermutlich weltweit erste Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte eingerichtet.14 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die formale Wirtschaftstheorie mit der Ausarbeitung der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie von Léon Walras durch Maurice Allais, Kenneth Arrow und Gérard Debreu und des durch John Maynard Keynes begründeten Keynesianismus durch John Hicks und Paul A. Samuelson einen fulminanten Aufschwung. Dabei 12
13 14
Gustav Schmoller (1897): Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Socialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirthschaftslehre. Rede bei Antritt des Rectorats gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 15. October 1897, Berlin, S. 6. Ebda., S. 10. Vgl. Richard Tilly (1996): Wirtschaftsgeschichte als Disziplin, in: Gerold Ambrosius, Dietmar Petzina und Werner Plumpe (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte: Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, 1. Aufl., München, S. 11–26, hier S. 12.
6
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
ergab sich gerade im Fall der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie die unbestreitbare Ästhetik und Eleganz des Modells aus dem hohen Grad der Abstraktion. Wirtschaftende Menschen wurden auf gesichtslose Nutzen- und Gewinnmaximierer reduziert und die Vielfalt denkbarer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen einer Volkswirtschaft durch einige wenige ahistorische Annahmen ersetzt. In der Folgezeit übten diese neuen mathematisch-abstrakten Modelle eine große Anziehungskraft auf junge Wirtschaftswissenschaftler aus und rückten damit unweigerlich die Wirtschaftshistoriker, die unbeirrt darauf beharrten, wirtschaftliche Akteure als Menschen mit komplexen Motiven in spezifischen historischen Situationen zu analysieren, immer weiter an den Rand der ökonomischen Wissenschaft. Ende der 1950er Jahre reagierte ein Teil der Wirtschaftshistoriker in den Vereinigten Staaten auf die zunehmende Auseinanderentwicklung von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte mit einer methodischen Umgestaltung des Fachs – es entstand, was man bald New Economic History oder auch Historical Economics nennen sollte. Der methodische Ansatz dieser „Neuen Wirtschaftsgeschichte“ besteht darin, moderne wirtschaftstheoretische Modelle auf historische Fragestellungen anzuwenden. Dabei setzte man schon früh auf den Einsatz induktiver statistischer Methoden – die Cliometrie war geboren (nach Clio, der Muse der Geschichte, und Metrik, der Kunst des Messens). Die erste „cliometrische“ Arbeit setzte hier bereits Maßstäbe: Im Jahr 1957 veröffentlichten Alfred H. Conrad und John R. Meyer in der renommierten ökonomischen Fachzeitschrift Journal of Political Economy einen Aufsatz, in dem sie die Entscheidung von Plantagenbesitzern über den Kauf und die Aufzucht von Sklaven als betriebswirtschaftliches Investitionsproblem modellierten.15 Sie unterstellten, dass auf funktionierenden Sklavenmärkten der Preis eines Sklaven dem Gegenwartswert der zukünftigen Einnahmeüberschüsse entsprach, die seine Tätigkeit dem Sklavenhalter einbringen würde, und kamen aufbauend auf dieser Annahme zu dem Ergebnis, dass die Sklaverei in den Südstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig von moralischen Erwägungen profitabel war. Dies widersprach der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Auffassung der amerikanischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung, dass Sklavenarbeit weniger einträglich als Lohnarbeit war und deshalb im Zeitablauf zwangsläufig und auch ohne den Amerikanischen Bürgerkrieg verschwunden wäre. Über die wirtschaftshistorische Erkenntnis der Profitabilität von Sklaverei hinaus trug diese Studie also mit einem neuen Argument dazu bei, die Legitimität des Bürgerkriegs neu zu gewichten. In Deutschland vollzogen sich die gerade beschriebenen Entwicklungen von formaler Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte mit teilweise großer Verzögerung. Zunächst verhinderte die Herrschaft der Nationalsozialisten die Rezeption der formalen Wirtschaftstheorie. In einer Pervertierung der Konzeption der Historischen Schule forderten die Machthaber, dass sich auch die deutsche Volkswirtschaftslehre in ihren Erkenntniszielen fortan primär von den Bedürfnissen des nationalsozialistischen Staats leiten lassen sollte. In den 1936 veröffentlichten „Zwölf Thesen zu einer neuen Wirtschaftswissenschaft“ von Ottokar Lorenz heißt es unter anderem: „Wirtschaft ist nicht zu verstehen als eigengesetzliches Geschehen zwischen Einzelnen. Es gibt keine Gesetze der Wirtschaft, sondern nur naturgesetzliche Voraussetzungen allen Wirtschaftens [...]. Darüber hinaus gibt es in bestimmten Gemeinschaften 15
Vgl. Alfred H. Conrad und John R. Meyer (1958): The Economics of Slavery in the Antebellum South, in: Journal of Political Economy 66, S. 95–130.
1.1 Wirtschaftsgeschichte
7
jeweils eine gewisse Gleichmäßigkeit wirtschaftlichen Verhaltens, deren innere Voraussetzung im Charakter der betreffenden Gemeinschaft, in gleicher Veranlagung und Erziehung der in ihr wirtschaftenden Menschen liegt, während gleiche wirtschaftliche Bedingungen nur die äußere Voraussetzung bilden. [...] Demnach sind der nationale und der sozialistische Gedanke der Volkswirtschaft immanent. Volkswirtschaftslehre kann nur national und sozialistisch werten.“16 Viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler reagierten auf diesen Versuch der methodischen Gleichschaltung der Volkswirtschaftslehre durch äußere oder zumindest innere Emigration.17 Derart in ihrer Weiterentwicklung für mehr als ein Jahrzehnt behindert, durchlief die deutsche Volkswirtschaftslehre in den Nachkriegsjahren einen Aufholprozess, der insbesondere durch mit Geldern der Rockefeller Foundation finanzierten Studienaufenthalten deutscher Nachwuchsökonomen an amerikanischen Universitäten voran getrieben wurde.18 Dieser „Amerikanisierung“ der deutschen Volkswirtschaftslehre folgte die deutsche Wirtschaftsgeschichte durch eine entsprechende Übernahme der Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte jedoch nicht. Cliometrische Forschungsprojekte und Veröffentlichungen blieben in der Bundesrepublik für mehrere Jahrzehnte die seltene Ausnahme von der Regel.19 In einem 1986 erschienenen Aufsatz versuchte Rolf Dumke, die Berührungsängste der deutschen Wirtschaftsgeschichte gegenüber der Cliometrie zu erklären.20 Seiner Auffassung nach entschieden sich die deutschen Wirtschaftshistoriker, vor die Wahl zwischen einer Annäherung an die Wirtschaftswissenschaft oder an die Geschichtswissenschaft gestellt, in ihrer überwiegenden Mehrheit für die zweite Alternative. Der Preis für den Eintritt in die Historikerzunft war der Verzicht auf die Verwendung moderner ökonomischer Theorien und statistischer Methoden und damit die zunehmende Entfremdung von den ökonomischen Kollegen, die Wirtschaftshistoriker in Forschungsdiskursen immer weniger als gleichberechtigte Partner akzeptierten. Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die Geschichtswissenschaft den Wirtschaftshistorikern ihr Entgegenkommen nicht dankte. Denn spätestens seit der „kulturalistischen Wende“ der Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren gesellte sich zur Skepsis der Historiker gegenüber der Anwendbarkeit wirtschaftswissenschaftlicher Methoden nun sogar auch weitgehendes Desinteresse an wirtschaftshistorischen Fragen überhaupt, obwohl Wirtschaftskrisen seit dem ersten Ölpreisschock 1973 und dem etwa zeitgleich stattfindenden dauerhaften Rückgang des Wirtschaftswachstums auf ein niedrigeres Durchschnittsniveau fast permanent ein zentrales Thema im öffentliche Diskurs waren.
16 17 18 19
20
Ottokar Lorenz (1936): Um eine neue Wirtschaftswissenschaft, Berlin, S. 40, 42. Vgl. Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn (Hg.) (1999): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, 2 Bde., München. Vgl. Jan-Otmar Hesse (2010): Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a.M. Der Pionier in Deutschland war der Amerikaner Richard H. Tilly, der 1966 den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Münster übernahm und bis 1997 innehatte. Aus seiner „Schule“ gingen Wirtschaftshistoriker wie Rolf Dumke, Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich und Toni Pierenkemper hervor. Vgl. Rolf H. Dumke (1986): Clio’s Climacteric? Betrachtungen über Stand und Entwicklungstendenzen der Cliometrischen Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73, S. 457–487.
8
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
Erst in den 1980er Jahren begannen sich an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ausgebildete Nachwuchswirtschaftshistoriker verstärkt an den Arbeiten der New Economic History zu orientieren und Ökonometrie sowie moderne makro- und mikroökonomische Theorie als Werkzeuge für ihre Forschung regelmäßig zu nutzen. Diese verspätete „Amerikanisierung“ eines Teils der deutschen Wirtschaftsgeschichte vertiefte seither aber den methodischen Graben innerhalb des Fachs. Auf der einen Seite verschrieben sich primär ökonomisch ausgebildete Wirtschaftshistoriker zunehmend der Verwendung wirtschaftstheoretischer Konzepte und ökonometrischer Methoden, auf der anderen Seite verharrten vorrangig historisch geschulte Wirtschaftshistoriker in großer Skepsis gegenüber einer aus ihrer Sicht simplifizierenden, auf quantitative Untersuchungen eingeschränkten und mit Theorie überfrachteten Wirtschaftsgeschichtsschreibung.
Historiker
klassisch-historisch orientierte Wirtschaftsgeschichte
kulturwissenschaftlich orientierte Wirtschaftsgeschichte
neoklassisch orientierte Wirtschaftsgeschichte institutionenökonomisch orientierte Wirtschaftsgeschichte
Trend zu kommuniziert mit
Abbildung 1.1:
Methodische Ansätze der Wirtschaftsgeschichtsschreibung
Anm.:
Eigene Darstellung.
Ökonomen
cliometrisch orientierte Wirtschaftsgeschichte
Diese Kluft ist seit den 1990er Jahren nur vordergründig durch das Aufkommen der „Neuen Institutionenökonomik“ gemindert worden, die durch ihre explizite Berücksichtigung der spezifischen formellen und informellen Regeln von historischen und aktuellen Gesellschaften den Historikern insoweit entgegenkommt, als sie explizit anerkennt, dass Wirtschaftsprozesse von den konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen maßgeblich beeinflusst
1.1 Wirtschaftsgeschichte
9
werden.21 Hinter der Oberfläche der scheinbar leicht zugänglichen Kernaussagen der „Neuen Institutionenökonomik“ verbergen sich jedoch erneut, wie zum Beispiel in der PrinzipalAgenten-Theorie, komplexe und abstrakte Modelle, die ohne grundlegendes ökonomisches Fachwissen nur schwer nachzuvollziehen und für die eigene Arbeit zu operationalisieren sind. Einen zusammenfassenden Überblick über die verschiedenen Schulen der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung vermittelt Abbildung 1.1. Die ursprüngliche Zweiteilung des Faches in eine klassisch-historisch orientierte und eine neoklassisch orientierte Wirtschaftsgeschichte hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem Gegensatz zwischen der kulturwissenschaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte und der cliometrisch orientierten Wirtschaftsgeschichte verschärft. Eine Brückenfunktion zwischen diesen beiden Positionen nimmt die institutionenökonomisch orientierte Wirtschaftsgeschichte ein. Wir wollen unseren Lesern nicht vorenthalten, dass wir uns eher der ökonomischen Seite der Wirtschaftsgeschichtsschreibung zuordnen würden oder doch zumindest Sympathien für ihren stärker analytischen Ansatz hegen. Gleichwohl liegt uns sehr daran, durch eine ausführliche Erläuterung der in diesem Buch verwendeten ökonomischen Konzepte auch (Kultur-) Historiker anzusprechen. Darüber hinaus ist dieses Buch mit der Absicht geschrieben, für eine Wiederannäherung der Wirtschaftsgeschichte an die Wirtschaftswissenschaften zu werben. Eine solche Wiederannäherung wird auch von theoretischen Ökonomen durchaus gewünscht. Paul A. Samuelson, einer der einflussreichsten keynesianischen und stets formalabstrakt argumentierenden Ökonomen antwortete im Juni 2009 auf die Frage, was er jungen Nachwuchsökonomen empfehlen könne: “Well, I’d say, and this is probably a change from what I would have said when I was younger: Have a very healthy respect for the study of economic history, because that’s the raw material out of which any of your conjectures or testings will come. And I think the recent period has illustrated that.”22 Unser Plädoyer für die Wiederannäherung an die Wirtschaftswissenschaften sollte dabei nicht missverstanden werden. Die kurze Geschichte der Wirtschaftsgeschichte hat gezeigt, dass die Wirtschaftsgeschichte im Spannungsfeld der doch so unterschiedlichen Disziplinen Wirtschaftswissenschaft und Geschichtswissenschaft kein dauerhaftes und behagliches Gleichgewicht finden kann, sondern seinen Standort immer wieder neu hinterfragen und bestimmen muss. Das ist kein Unglück, sondern eher einer der wichtigsten Gründe, warum wir mit Begeisterung Wirtschaftsgeschichte betreiben. 1.1.2
Methodenstreit
Unsere kurze Geschichte der Wirtschaftsgeschichte sollte auch den übergeordneten methodischen Grundkonflikt zwischen den Wirtschaftswissenschaften und dem heutigen Mainstream 21
22
Vgl. Grundlegend Douglass C. North (1981): Structure and Change in Economic History, New York; ders. (1990): Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge (Mass.). Die meisten Bücher von North sind ins Deutsche übersetzt worden. The Atlantic, 18. Juni 2009 (http://www.theatlantic.com/politics/archive/2009/06/an-interviewwith-paul-samuelson-part-two/19627/). Paul A. Samuelson (1915–2009) erhielt im Jahr 1970 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seinen Beitrag zur Erhöhung des theoretischen und methodologischen Niveaus der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse.
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1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
der Geschichtswissenschaft verdeutlicht haben. Wirtschaftswissenschaftler versuchen durch die Formulierung abstrakter Theorien, zeit- und gesellschaftsunabhängige ökonomische Strukturen sichtbar zu machen. Sie interessiert, wie Menschen in ökonomischen Situationen auf Dauer und im Durchschnitt handeln. Der Ökonom John Hicks formulierte in seiner im Jahr 1969 erschienenen Theorie (!) der Wirtschaftsgeschichte: “Every historical event has some aspect in which it is unique; but nearly always there are other aspects in which it is a member of a group, often a quite large group. If it is one of the latter aspects in which we are interested, it will be the group, not the individual, on which we shall fix our attention; it will be the average, or norm, of the group which is what we shall be trying to explain. We shall be able to allow that the individual may diverge from the norm without being deterred from the recognition of a statistical uniformity.”23 Diese Sichtweise ist weitgehend konform mit einer Ausprägung der Sozialgeschichtsschreibung, wie sie vor allem in den 1960er und 1970er Jahren Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka unter dem Label „Historische Sozialwissenschaft“ vertreten haben.24 Doch mit dem Paradigmenwechsel von der Sozialgeschichte zur Kulturgeschichte ist dieses Band gerissen. Heute begreifen viele kulturwissenschaftlich inspirierte Historiker den einzelnen Menschen wieder als zeitgebunden und einzigartig und trachten danach, seine Absichten und sein Handeln durch Einfühlen in seine komplexen historischen Lebensbedingungen zu verstehen. War die Historische Sozialwissenschaft ganz wie die New Economic History an Durchschnittswerten und generalisierbaren Aussagen interessiert, so zählen für Kulturhistoriker ganz andere Kategorien: Mentalitäten, Sinnkonstruktionen, Symbole, Rituale.25 Dieser methodische Gegensatz kann anhand eines einfachen Beispiels verdeutlicht werden. Unternehmenshistorische Untersuchungen widmen sich häufig ausführlich der Analyse der komplexen Handlungsmotive einer historischen Unternehmerpersönlichkeit. Sie weisen nach, dass Unternehmer bei Weitem nicht nur von rationalem Gewinnstreben, sondern mindestens ebenso sehr von politischen, religiösen oder moralischen Überzeugungen getrieben werden. Die aus diesem durchaus richtigen Befund abgeleitete Kritik an der Wirtschaftstheorie, mit ihrem Festhalten an dem einen Motiv Gewinnmaximierung Unternehmerverhalten grundsätzlich misszuverstehen, läuft gleichwohl ins Leere. Schon 1950 erläutert der Ökonom Armen Alchian in einem Aufsatz, warum es sinnvoll ist, in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien von Gewinnmaximierung auszugehen, obwohl jedermann weiß, dass Unternehmer unabhängig von ihrer Motivation aufgrund unzureichender Information eigentlich gar nicht erst in der Lage sind, sich optimal gewinnmaximierend zu verhalten. Alchian argumentiert in einer für evolutionstheoretische Ansätze durchaus typi23
24
25
John Hicks (1969): A Theory of Economic History, London u.a., S. 3. John R. Hicks (1904–1989) wurde im Jahr 1972 für seine Arbeiten zur allgemeinen Gleichgewichtstheorie und zur Wohlfahrtsökonomie mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt. Vgl. etwa die von Hans-Ulrich Wehler herausgegebenen Sammelbände Moderne deutsche Sozialgeschichte, 1. Aufl., Köln 1966, und Geschichte und Ökonomie, Köln 1973, in denen auch Vertreter der New Economic History zu Wort kamen. Vgl. z.B. Ute Daniel (2001): Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. Nur am Rande sei vermerkt, dass auch die Fokussierung auf solche Kategorien keineswegs einen generalisierenden und quantifizierenden Zugang ausschließt, wie die moderne Soziologie eindringlich zeigt.
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schen quasi-tautologischen Logik, dass im längerfristigen Wettbewerbsprozess nur diejenigen Unternehmen überleben und prosperieren werden, deren Entscheidungsträger unabhängig von ihren tatsächlichen Absichten sich de facto so verhalten haben, dass ihr jeweiliges Unternehmen einen positiven und vergleichsweise hohen Gewinn erwirtschaftete. Aus diesem Grund könnten Modelle, die das Verhalten von Unternehmern auf Dauer und im Durchschnitt erklären wollen, erfolgreich mit der im Einzelfall durchaus unrealistischen Annahme der Gewinnmaximierung operieren.26 Wo positioniert sich dieses Lehrbuch in diesem Methodenstreit? Wir sind der Auffassung, dass das wirtschaftliche Verhalten von Menschen, sei es in ihrer Rolle als Unternehmer, Arbeiter, Haushaltsmitglieder oder auch Politiker, und die ökonomischen Konsequenzen dieses Verhaltens auch in der historischen Realität „auf Dauer und im Durchschnitt“ mit Hilfe von wirtschaftswissenschaftlichen Theorien erklärt werden können. Insbesondere werden die gesellschaftlichen und politischen Handlungsspielräume der Menschen, welche konkreten und persönlichen Absichten sie auch immer verfolgen, durch ökonomische Sachzwänge erheblich eingeschränkt. Allerdings sind wir auch der Meinung, dass in bestimmten historischen Schlüsselsituationen das einzelne Individuum den Gang der zukünftigen Wirtschaftsgeschichte entscheidend beeinflussen kann. Ähnlich wie in der Chaostheorie der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings die Ursache für einen späteren Wirbelsturm sein kann, mag an Verzweigungen potentieller wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungslinien der Einzelne oder eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe die Macht besitzen, dem Gang der Ereignisse gemäß seiner oder ihrer eigenen, auch außerökonomischen Motive auf Dauer eine bestimmte, irreversible Richtung zu geben. Natürlich spielten Bismarck, Hitler und Erhard eine entscheidende Rolle in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Erklärungsanteile von sozioökonomischen Strukturen und historischer Kontingenz in derartigen Schlüsselsituationen auszuloten, ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben der (Neuen) Wirtschaftsgeschichte. Kontingenz Unter Kontingenz versteht man die grundsätzliche Vereinbarkeit von Kausalität und Offenheit in der Geschichte. Viele historische Ereignisse lassen sich auf strukturelle Ursachen zurückführen, doch sind dies keine naturwissenschaftlich exakten Wenn-dannBeziehungen, sondern eher unscharfe Kausalbeziehungen. Auch wenn das Ansteigen von Lebensmittelpreisen einen Aufstand der hungernden Bevölkerung wahrscheinlicher macht, so muss häufig ein kontingentes (im Sinne von: zufällig) Ereignis hinzutreten, das dann den Funken tatsächlich überspringen lässt.27 In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Pfadabhängigkeit eine wichtige Rolle. Er verbindet die ökonomische Idee von der Existenz zeitunabhängiger wirtschaftlicher Zusammenhänge und die geschichtswissenschaftliche Vorstellung von der Einzigartigkeit bestimmter historischer Konstellationen zu einem wichtigen interdisziplinären Konzept der Neuen Wirtschaftsgeschichte. Das von dem amerikanischen Wirtschaftshistoriker Paul David einge26 27
Vgl. Armen A. Alchian (1950): Uncertainty, Evolution, and Economic Theory, in: Journal of Political Economy 58, S. 211–221. Vgl. Chris Lorenz (1997): Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln u.a., S. 93f.
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1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
führte Musterbeispiel für die Pfadabhängigkeit ökonomischer Entwicklungsprozesse ist die bis heute gebräuchliche Schreibmaschinentastatur QWERTY in den Vereinigten Staaten (beziehungsweise QWERTZ in Deutschland).28 Ein erheblicher technischer Mangel der ersten Schreibmaschinen war, dass sich ihre Typenhebel oftmals verhakten und dadurch zu einem ungewollten Mehrfachanschlag eines Buchstabens führten. Der amerikanische Erfinder Christopher Latham Sholes versuchte deshalb in den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts diejenige Anordnung der Typenhebel herauszufinden, welche die Häufigkeit dieser Funktionsstörung minimierte. Das Ergebnis dieses „Trial- and Error“-Prozesses findet sich noch heute auf jeder amerikanischen Computertastatur und wird anhand der ersten sechs Buchstaben der obersten Reihe als QWERTY bezeichnet. QWERTY mochte in diesen Anfangsjahren das Problem der sich verhakenden Typenhebel tatsächlich gut gelöst haben, war und ist aber in keiner Weise auf die ergonomischen Bedürfnisse der Maschinenschreiber ausgerichtet. Spätestens nach Einführung des Typenrades hätte es daher nahe gelegen, zu einer Typenanordnung überzugehen, die eine effizientere Bedienung der Tastatur erlaubt hätte. Trotz durchaus vorhandener Alternativen hält gleichwohl die überwältigende Mehrheit der Nutzer von Schreibmaschinen- und Computertastaturen bis heute an QWERTY fest. Warum? Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Mehrzahl der Unternehmen bereits in die Anschaffung von Schreibmaschinen mit der damals optimalen QWERTY-Tastatur investiert. Dementsprechend suchten sie auch nach Schreibkräften, die mit dieser Typenanordnung vertraut waren. Für einen Arbeitnehmer, der seine Chancen auf eine Einstellung als Maschinenschreiber optimieren wollte, lag deshalb die Entscheidung nahe, seine Fähigkeiten auf einer QWERTY-Tastatur zu trainieren. Hierdurch verringerte sich wiederum das Angebot an auf alternativen Tastaturen ausgebildeten Personen, so dass es für die Unternehmen nun auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sinnvoll war, sich auf die Beschaffung von QWERTY-Schreibmaschinen zu konzentrieren. Als Konsequenz dieser sich gegenseitig verstärkenden Rückkopplungseffekte setzte sich QWERTY schrittweise als Standard des Marktes durch. Das seitherige Beharrungsvermögen von QWERTY lässt sich nur dadurch erklären, dass bis heute Unternehmen die kurzfristig anfallenden Kosten des Systemwechsels, welche die Anschaffung teurer, nicht in großen Serien gefertigter Tastaturen und die Umschulung des Personals umfassen, höher bewerten als die sich erst mittelfristig und nur eventuell ergebenden zusätzlichen Gewinne aufgrund höherer Schreibgeschwindigkeiten. Somit bestimmt bis heute ein längst überwundenes technologisches Problem des 19. Jahrhunderts die anhaltende Dominanz eines aus Effizienzgesichtspunkten unterlegenen technischen Systems. Das Konzept der Pfadabhängigkeit kann mit Hilfe des Modells der sogenannten Polya-Urne in allgemeiner Form verdeutlicht werden.29 Man stelle sich ein Gefäß vor, in dem sich eine rote und eine weiße Kugel befinden. Man zieht nun blind eine Kugel und legt dann zwei Kugeln der gezogenen Farbe zurück. Hat man eine rote Kugel gezogen, sind nunmehr zwei rote und eine weiße Kugel im Gefäß. Man zieht erneut. Die Wahrscheinlichkeit, eine rote 28
29
Vgl. Paul A. David (1985): Clio and the Economics of Qwerty, in: American Economic Review. Papers and Proceedings 75, S. 332–337. Zur Kritik an Davids Argumenten vgl. Stan J. Liebowitz und Stephen E. Margolis (1990): The Fable of the Keys, in: Journal of Law and Economics 33, S. 1–25. Vgl. W. Brian Arthur (1989): Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-in by Historical Events, in: Economic Journal 99, S. 116–131.
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Kugel zu ziehen beträgt jetzt nicht mehr 50 Prozent wie beim ersten Zug, sondern fast 67 Prozent. Zieht man nun erneut eine rote Kugel, werden sich im nächsten Losverfahren bereits drei rote und eine weiße Kugel im Gefäß befinden. Wenn man auch in einigen weiteren Wiederholungen eine rote Kugel zieht und nicht durch das nunmehr sehr unwahrscheinliche mehrmalige Herausgreifen der weißen Kugel den Prozess doch noch umkehrt, wird die Wahrscheinlichkeit, eine weiße Kugel zu ziehen, bald nahezu null betragen. Die letztendliche Dominanz der roten Kugeln hängt aber nur von den Zufällen der ersten Runden ab. Genauso gut hätte es zu einer Vorherrschaft der weißen Kugeln kommen können. Die Analogie zur Pfadabhängigkeit ist offensichtlich. In bestimmten historischen Situationen – den ersten Runden des Urnen-Modells – besitzen wirtschaftliche Entscheidungsträger einen erheblichen Entscheidungsspielraum, so dass ihr Verhalten alleine durch die Wirtschaftstheorie nicht erklärt oder vorausgesagt werden kann. Wenn das wirtschaftliche System jedoch erst einmal einen bestimmten Entwicklungspfad eingeschlagen hat – in den späteren Runden des Urnen-Modells – unterliegt es wieder den allgemeinen Strukturen ökonomischer Theorien. Diese Beispiele und Überlegungen zeigen, dass auch eine auf ökonomischen Theorien aufbauende Wirtschaftsgeschichtsschreibung nicht umhin kann, akteursgesteuerte Prozesse zu berücksichtigen und somit die Komplexität und Kontingenz historischer Entwicklungen im Sinne der Geschichtswissenschaft angemessen zu berücksichtigen. Gleichwohl werden immer wieder die folgenden drei Argumente gegen die Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte angeführt: 1. Die Vorliebe der Neuen Wirtschaftsgeschichte, ihre Hypothesen durch die ökonometrische Analyse von Massendaten zu stützen, verengt die Forschungsperspektive auf Probleme mit ausreichender Datengrundlage und vernachlässigt dadurch diejenigen wirtschaftshistorischen Fragestellungen, die sich einer einfachen Quantifizierung entziehen. 2. Viele Arbeiten zur Neuen Wirtschaftsgeschichte greifen explizit auf die sogenannte kontrafaktische Analyse zurück. Um den Einfluss eines bestimmten Faktors auf einen wirtschaftlichen Prozess zu quantifizieren, wird in der Neuen Wirtschaftsgeschichte oft versucht, die Frage zu beantworten, wie der wirtschaftliche Prozess in einer Welt abgelaufen wäre, in der es diesen Faktor nicht oder in einer anderen Ausprägung gegeben hätte. Viele (Wirtschafts-) Historiker lehnen diese Vorgehensweise ab, da diese fiktive Modellwelt, die es niemals tatsächlich gegeben hat, nur auf ihre innere Logik überprüft werden kann, sich aber vollständig der Falsifikation durch historische Methoden entzieht. 3. Nach Auffassung vieler (Wirtschafts-) Historiker ist es ahistorisch, wirtschaftswissenschaftliche Konzepte, die aus der Zeit des späten 19. und des 20. Jahrhunderts stammen, auf die Erklärung der ökonomischen Entwicklung in vorindustriellen Ökonomien anzuwenden. Auf die beiden ersten Kritikpunkte wird in den beiden nachfolgenden Abschnitten im Detail eingegangen. Diesen Abschnitt abschließend möchten wir hier noch kurz zum dritten Kritikpunkt Stellung nehmen. Wirtschaftstheoretiker und Wirtschaftshistoriker eint sicherlich die Vorstellung, dass in allen historischen Epochen die gleichen grundlegenden wirtschaftlichen Probleme der Menschheit zu lösen waren. Angesichts von allumfassender Knappheit ging es insbesondere immer um die beiden großen ökonomischen Fragen, welche Güter mit welchen Produktionsfaktoren (also Arbeit, Kapital und Boden) produziert werden sollten – das soge-
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1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
nannte Allokationsproblem der Wirtschaft – und wie die produzierten Güter auf die Gesellschaftsmitglieder verteilt werden sollten – das Distributionsproblem. In verschiedenen historischen Epochen waren die Antworten, welche die Menschen auf diese Fragen gaben unterschiedlich, und unterschiedlich waren auch die Begrifflichkeiten, mit denen Menschen die zeitinvarianten ökonomischen Probleme zu beschreiben suchten. Dabei ist zu trennen zwischen den realen Konsequenzen des ökonomischen Verhaltens der Menschen und wie sie über ihre Motive dachten und sprachen. Für die Analyse der Konsequenzen des Verhaltens ist es völlig unerheblich, aus welcher Zeit die verwendeten Analysekonzepte stammen. Auch heute richtet praktisch kein (ökonomischer) Akteur sein (wirtschaftliches) Verhalten an irgendwelchen, ihm normalerweise unbekannten Theorien aus. Entscheidend ist, ob die Verhaltensannahmen, die die Theorie zur Herleitung der wirtschaftlichen Folgen verwendet, auch im konkreten historischen Fall als relevant angenommen werden können. Dass sich etwa mittelalterliche Handwerker im Wirtschaftsprozess eigennützig und (beschränkt) rational verhielten, dürfte keine besonders heroische Annahme sein. Man kann den Unterschied zwischen der Analyse der Funktionsweise eines Wirtschaftssystems und seiner zeitgenössischen Deutung anhand eines Beispiels aus der Astrophysik verdeutlichen: Die Bewegung der Planeten des Sonnensystems hätte sich auch dann schon von den Newtonschen Gesetzen der Gravitation beschreiben lassen, als die Menschen noch glaubten, die Sonne würde von einem Pferdewagen auf einer Bogenbahn über die scheibenförmige Erde gezogen. Selbstverständlich kann es auch wichtig sein, zu analysieren wie die Menschen über wirtschaftliches Verhalten dachten und sprachen. Es bleibt in jedem Falle unabdingbar, sich als Wirtschaftshistoriker in den Wissensstand und das kulturelle Umfeld historischer Akteure einzufühlen. Überdies gilt es bei der Auswahl der zu verwendenden ökonomischen Theorie das historisch gewachsene institutionelle Umfeld ernst zu nehmen. So ist es beispielsweise wenig sinnvoll, das Wirtschaftssystem des durch Monopole und Privilegien gekennzeichneten Merkantilismus mit Hilfe eines Modells zu analysieren, das vollständige Konkurrenz einer Vielzahl von Unternehmen unterstellt.
1.2
Chancen, Risiken und Grenzen quantitativer Methoden
Die Kritik vieler skeptischer (Wirtschafts-) Historiker ist vollkommen zutreffend: Cliometrisch orientierte Wirtschaftshistoriker haben in der Tat eine Vorliebe, wirtschaftshistorische Probleme mit Hilfe von Massendaten zu analysieren. So weist der typische cliometrische Artikel eine fast schon klassische Dreiteilung auf. Im ersten Hauptabschnitt „Das Modell“ wird zur Analyse eines bestimmten wirtschaftshistorischen Problems ein wirtschaftswissenschaftliches Modell formuliert, auf dessen Grundlage empirisch testbare Hypothesen über die ökonomischen Strukturen des historischen Untersuchungsgegenstands abgeleitet werden. Im zweiten Hauptabschnitt „Die Daten“ werden die Quellen, die Erhebungsmethoden und die Eigenschaften der verwendeten Massendaten erläutert. Der dritte Hauptabschnitt „Ökonometrische Analyse“ widmet sich dann der Verknüpfung der beiden vorangegangenen Abschnitte: Die im ersten Abschnitt entwickelten Hypothesen werden mit Hilfe der im zweiten Abschnitt gesammelten Daten durch statistische Verfahren getestet, gegebenenfalls falsifiziert oder vorläufig akzeptiert.
1.2 Chancen, Risiken und Grenzen quantitativer Methoden
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Die dieser Vorgehensweise zugrunde liegende Präferenz für die Analyse quantitativer Massendaten wird im Wesentlichen durch zwei Argumente gerechtfertigt. Erstens zeigen die „nackten Zahlen“ eher das, was wirklich gewesen ist, und nicht, wie die überlieferten Einschätzungen der Zeitgenossen primär das, was man glaubte oder was hätte sein sollen – wobei die Perzeption für das Verständnis zeitgenössischer Handlungen wichtiger sein kann als die Tatsache selbst. Ob die Tatsachen oder deren zeitgenössische Perzeption interessieren, hängt ganz von der Fragestellung ab. Zweitens erlaubt nur die Verwendung von Massendaten, bei der statistischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen den Einfluss weiterer Faktoren zu kontrollieren. Beide Aussagen werden auch in den folgenden Kapiteln dieses Lehrbuchs diskutiert und belegt, sollen aber bereits hier jeweils anhand eines Beispiels aus der Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten verdeutlicht werden. Im Jahr 1974 veröffentlichten Robert W. Fogel und Stanley L. Engerman das Buch „Time on the Cross: The Economics of American Negro Slavery“, das die traditionellen Vorstellungen über die wirtschaftliche Funktionsweise der Sklaverei in den Südstaaten grundsätzlich in Frage stellte und als eines der wichtigsten cliometrischen Werke in die Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte.30 Fogel und Engerman waren nicht nur wie die bereits erwähnten Conrad und Meyer der Auffassung, dass die Sklaverei auf den südlichen Plantagen der USA ökonomisch profitabel war, sie behaupteten darüber hinaus, dass sie leistungsstärker war als die freie und bäuerliche Landwirtschaft in Amerikas Norden. Diese These stand (und steht) im völligen Gegensatz zur auch in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden Grundüberzeugung, dass freie Arbeiter produktiver als Zwangsarbeiter seien, weil letztere zumindest passiven Widerstand gegen die ökonomische Unterdrückung leisten würden. Fogel und Engerman akzeptierten diese auch durch zeitgenössische Bewertungen bestätige Auffassung nicht, sondern betrachteten stattdessen die „nackten Zahlen“. Auf Grundlage von Daten aus der Volkszählung von 1860 stellten sie fest, dass die Landwirtschaft des Südens, verglichen mit der des Nordens (jeweils 100 Prozent), 7 Prozent weniger Arbeit – korrigiert um die Unterschiede in Alters- und Geschlechterverteilung –, 49 Prozent weniger Land – korrigiert nach Qualität – und 47 Prozent weniger Kapital einsetzte, aber 3 Prozent mehr Ertrag erwirtschaftete. Hieraus folgte unter Verwendung eines bestimmten ökonomischen Modells (das wir in Kap. 6.2.2 erklären), dass die Landwirtschaft des Südens um 41 Prozent produktiver war als die des Nordens. Mit anderen Worten: Der Süden hätte im Jahr 1860 41 Prozent mehr Output erzeugt als der Norden, wenn er über dessen Ausstattung mit den Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital verfügt hätte. Dieses Ergebnis war vor allem deshalb überraschend, weil sich diese höhere Effizienz nur für die Sklavenplantagen, besonders die großen, errechnete. Die freien südlichen Farmer waren kaum produktiver als ihre nördlichen Standesgenossen. Die Berechnungen von Fogel und Engerman wurden heftig kritisiert. Insbesondere wurde den beiden Autoren vorgeworfen, dass ihre Art und Weise des Produktivitätsvergleichs, der auf Erlösen und nicht auf physischen Produktionsmengen beruhte, nicht zulässig sei. Letztendlich ist aber davon auszugehen, dass die großen Sklavenplantagen tatsächlich vergleichsweise effizient produzierten, was Fogel und Engerman auf deren besondere „industrielle“ Arbeitsorganisation zurückführten. Auf von Familien betriebenen Farmen musste jeder 30
Robert William Fogel (1926-2013) erhielt im Jahr 1993 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für die Erneuerung wirtschaftshistorischer Forschung durch die Verwendung ökonomischer Theorie und quantitativer Methoden.
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1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
Landwirt eine Vielzahl verschiedener Tätigkeiten verrichten und konnte dabei sein Arbeitstempo unabhängig von anderen Arbeitskräften gestalten. Auf den Sklavenplantagen wurde hingegen jeder Arbeitskraft eine bestimmte (saisonabhängige) Tätigkeit zugeteilt. Bereits die daraus resultierende Spezialisierung führte zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Hinzu kam die Intensivierung der Arbeit im Rahmen von Arbeitsgruppen („Gangs“), innerhalb derer die jeweiligen Tätigkeiten der spezialisierten Sklaven wie an einem Fließband eng miteinander verknüpft waren. Die Arbeitsgeschwindigkeit etwa der Pflanzergruppe wurde durch zwei Maßnahmen hochgehalten: Erstens wurden die kräftigsten und fähigsten Sklaven als Pflüger eingeteilt, da diese als Spitze der Prozession das allgemeine Tempo vorgaben und die nachfolgenden Arbeiter zwangen mitzuhalten. Zweitens wurden Aufseher eingeteilt, die die langsamen Arbeiter zu höherer Geschwindigkeit antrieben. Der eigentliche Vorteil der Sklaverei bestand nach diesen Überlegungen nicht darin, dass man Sklaven zur unentgeltlichen Arbeit zwingen konnte – im Gegenzug musste man sie ja mit Lebensmitteln, Kleidung und Unterkunft versorgen – sondern dass man sie ohne hinreichende Kompensation in Form erhöhter Geld- oder Naturallöhne zur unattraktiven, aber effizienten Gruppenarbeit zwingen konnte. Fogel und Engerman lieferten somit unter Rückgriff auf relativ einfache ökonomische Konzepte den Beleg für die Produktivität der großen Sklavenplantagen und ihre Ursache. Damit rechtfertigten sie mitnichten das Sklavenarbeitssystem, sondern arbeiteten vielmehr im Detail heraus, weshalb es im Sinne der großen Plantagenbesitzer funktionierte und weshalb diese gegen alle moralische Kritik solange daran festhielten – und weshalb es eines Bürgerkriegs bedurfte, um dieses unmenschliche System zu beenden. Von alleine wäre es nicht verschwunden. Fogel und Engermans große wissenschaftliche Leistung ist bei aller nachfolgenden Kritik an den Details ihrer Untersuchung in erster Linie in dem Umstand zu sehen, dass sie die dominierende wissenschaftliche Einschätzung über die ökonomischen Strukturen der Sklaverei in den Südstaaten nicht akzeptierten, sondern stattdessen die Frage stellten, die dank ihres Vorbilds zu einer zentralen Leitlinie der Neuen Wirtschaftsgeschichte werden sollte: „Lässt sich die vorherrschende (wirtschafts-) historische Lehrmeinung empirisch bestätigen oder nicht?“ Auch mehr als 140 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA schneidet die schwarze Bevölkerung in Bildungstests signifikant schlechter ab als die Gruppe der Weißen. Dieser Befund lässt sich einerseits als Beleg des schlechteren Zugangs der Schwarzen zu Bildung interpretieren. Andererseits deuten Anhänger von Rassenlehren die einfache Formel „Schwarze Hautfarbe gleich relativ schlechter durchschnittlicher Bildungserfolg“ als wissenschaftlichen Beleg für die angeblich unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten von Schwarzen. Der an der Universität von Chicago lehrende Ökonom Steven D. Levitt, der durch sein vehementes (und öffentlichkeitswirksames) Eintreten für eine auf Fakten basierende empirische Wirtschaftsforschung einen ganz ähnlichen wissenschaftstheoretischen Ansatz wie die Neuen Wirtschaftshistoriker vertritt, erläutert in seinem Buch „Freakonomics“ wie durch eine einfache multivariate Analyse von Massendaten diese beiden Thesen getestet werden können.31 Der Bildungserfolg eines Schülers dürfte von einer ganzen Reihe sozio-ökonomischer Einflussgrößen wie zum Beispiel Einkommen und Bildungsstand der Eltern oder das Alter der Mutter bei der Geburt mitbestimmt werden – vielleicht aber auch durch die Gene. Das forschungspraktische Problem besteht in der Quantifizierung des Ein31
Vgl. Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner (2006): Freakonomics, London u.a., S. 163–165.
1.2 Chancen, Risiken und Grenzen quantitativer Methoden
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flusses dieser verschiedenen Faktoren. Wenn man einen einzelnen schlechten schwarzen Schüler mit alleinerziehender Teenagermutter und einen einzelnen guten weißen Schüler mit Eltern, die als Professoren in Harvard ihren Unterhalt verdienen, vergleicht, kann man zwar einige plausible Einschätzungen zu den Ursachen dieses Leistungsunterschieds formulieren, aber man ist nicht dazu in der Lage, die jeweilige relative Bedeutung der verschiedenen denkbaren Ursachen zu ermitteln. Hingegen erlaubt die multivariate ökonometrische Analyse von sozio-ökonomischen Daten vieler schwarzer und vieler weißer Schüler „für“ die einzelnen Einflussgrößen zu kontrollieren (wie man in der induktiven Statistik formuliert). Man kann sich nun fragen, wie ein schwarzer und ein weißer Schüler im Vergleich abschneiden würden, wenn ihre sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen genau gleich wären, beide also entweder Kinder von Harvard-Professoren oder aber der alleinerziehenden Mutter wären. Die tatsächlich durchgeführten ökonometrischen Untersuchungen zeigen, dass schwarze und weiße Kinder bei gleichen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen auch ungefähr das gleiche Bildungsniveau besitzen – für angebliche genetische Unterschiede in Hinsicht auf die Intelligenz oder Leistungsfähigkeit von Schwarzen und Weißen bleibt kein Raum mehr. Schwarze Kinder haben also im Durchschnitt schlechtere Noten, nicht weil sie schwarz sind, sondern weil sie weitaus öfter als ihre weißen Altersgenossen aus armen Familien mit niedrigem Bildungshintergrund kommen. Dieses Beispiel verweist auf eine zentrale Problematik wirtschaftshistorischer Forschung, die sich ja oft mit sehr ähnlich gelagerten Fragen nach den Ursachen des Erfolgs einer Volkswirtschaft, eines Unternehmens oder eines einzelnen wirtschaftenden Menschen auseinandersetzt. Warum hat sich England als erstes Land industrialisiert? Warum dominieren europäische Staaten und ihre „Ableger“ in Nordamerika und Australien die Weltwirtschaft? Warum überholten die deutschen Chemieunternehmen ihre britische Konkurrenz im späten 19. Jahrhundert? Was erklärt den unternehmerischen Erfolg der Familie Krupp? Alle diese Fragen können durch die isolierte Betrachtung eines einzelnen Fallbeispiels prinzipiell nicht beantwortet werden. Zur Beantwortung solcher Fragen sind Vergleiche unabdingbar. Der Übergang von der vergleichenden Betrachtung mehrerer Volkswirtschaften, mehrerer Unternehmen und mehrerer Einzelpersonen hin zur multivariaten (statistischen) Analyse vieler Volkswirtschaften, vieler Unternehmen und vieler Individuen ist kein Wechsel zu einem vollständig neuen Forschungsansatz, sondern letztendlich nur eine Verfeinerung der vergleichenden Methode. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Erstens bedarf es zur Durchführung der multivariaten Analyse einiger Statistikkenntnisse, die im wirtschafts-, nicht aber im geisteswissenschaftlichen Studium vermittelt werden und nicht im Handumdrehen nachgeholt werden können. Das didaktisch sehr gut aufgemachte Statistiklehrbuch für Historiker von Charles H. Feinstein und Mark Thomas vermittelt anhand ausführlich beschriebener wirtschafts- und sozialhistorischer Beispiele einen Eindruck vom Potential und den Anforderungen der multivariaten Analyse auf Grundlage von Massendaten.32 Zweitens sollten Massendaten, wenn möglich, als Ergänzung und nicht als vollständiger Ersatz für andere historische Quellen verwendet und ihrerseits einer kritischen Quellenanalyse unterzogen werden. Wirtschaftshistoriker sollten ihren Massendaten nicht blindlings vertrauen; Quellenkritik ist auch hier unabdingbar. Wie wir in späteren Kapiteln ausführlich zeigen werden, können verfügbare Massendaten mit 32
Vgl. Charles H. Feinstein und Mark Thomas (2002): Making History Count: A Primer in Quantitative Methods for Historians, Cambridge.
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1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
unzulänglichen Mess- und Schätzmethoden ermittelt oder bereits von den Zeitgenossen bewusst manipuliert worden sein. Drittens kann nicht jedes wirtschaftshistorische Problem mit Hilfe von Massendaten beantwortet werden – entweder, weil diese nicht vorliegen, oder, weil sich die Komplexität des Problems einer einfachen quantitativen Analyse entzieht. Tatsächlich beruht die Neigung vieler cliometrisch orientierter Wirtschaftshistoriker, sich mit wirtschaftshistorischen Problemen von Kapitalmärkten und Außenhandelsbeziehungen zu beschäftigen wohl nicht zuletzt auf der Tatsache, dass für diese Wirtschaftsbereiche vergleichsweise frühe und ausführliche Datenmengen zur Verfügung stehen. Die Standardquelle für quantitative Massendaten zur deutschen Wirtschaftsgeschichte ist dabei häufig immer noch das 1965 von Walther G. Hoffmann und seinen Mitarbeitern herausgegebene Kompendium „Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts“.33 Ziel dieses Werks war eine Schätzung des deutschen Wirtschaftswachstums seit 1850, für die Hoffmann sich der drei Wege der Sozialproduktsberechnung bediente, der Entstehungs-, Verteilungs- und Verwendungsrechnung. Dafür benötigte er eine Vielzahl von Hilfsdaten, so etwa Bevölkerung, Beschäftigung, Arbeitszeit, Kapitalstock usw. Auch wenn ein Teil seiner Zeitreihen heute überholt ist,34 so sind „Hoffmanns Erzählungen“, wie sie spöttisch-anerkennend genannt werden, doch für viele Fragestellungen der erste Anlaufpunkt. Weitere, zum Teil auch schon recht betagte Quellen sind Datensammlungen des Statistischen Bundesamts und der Deutschen Bundesbank.35 Doch auch für das 19. Jahrhundert und zuweilen noch für das späte 18. Jahrhundert liegen erstaunlich viele und vielfältige Daten in publizierter Form vor. Spätestens der Beitritt zum 1833 gegründeten Zollverein zwang die angeschlossenen Staaten zur regelmäßigen Durchführung von Volkszählungen (da die Zolleinnahmen auf Pro-Kopf-Basis an die Mitgliedsländer verteilt wurden), zu denen sich bald Vieh- und Gewerbezählungen gesellten.36 Für weiter zurück liegende Zeiträume ist man meist auf archivalische Unterlagen angewiesen.37 Viele mit Massendaten arbeitende Historiker haben die von ihnen erhobenen und aufbereiteten 33 34
35
36 37
Walther G. Hoffmann u.a. (1965): Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a. Vgl. Rainer Fremdling (1995): German National Accounts for the 19th and Early 20th Century, in: Scandinavian Economic History Review 43, S. 77–100; Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 27–54; Albrecht Ritschl (2004): Spurious Growth in German Output Data 1913–1938, in: European Review of Economic History 8, S. 201–223; Carsten Burhop und Guntram Wolff (2005): A Compromise Estimate of the Net National Product and its Implications for Growth and the Business Cycle in Germany, 1851–1913, in: Journal of Economic History 65, S. 613–657; Jean-Pierre Dormois (2008): Revoir „Les comptes d’Hoffmann“: La question de l’ampleur de l’essor industriel dans l’Allemagne Wilhelmienne, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 40, S. 43–73. Vgl. Statistisches Bundesamt (1972): Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, Stuttgart u.a.; Deutsche Bundesbank (1976): Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975, Frankfurt a.M.; dies. (1997): 50 Jahre Deutsche Mark. Monetäre Statistiken 1948–1997, München. Ein sehr nützlicher Überblick findet sich in Toni Pierenkemper (1994): Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München, S. 114–120. Zuweilen sind diese ediert, vgl. als Klassiker: Moritz J. Elsas (1936, 1940, 1949): Umriß einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland, 3 Bände, Leiden; und ferner Hans-Jürgen Gerhard und Karl Heinrich Kaufhold (Hg.) (1990): Preise im vor- und frühindustriellen Deutschland. Grundnahrungsmittel, Göttingen.
1.2 Chancen, Risiken und Grenzen quantitativer Methoden
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Daten mittlerweile dem bei der GESIS in Köln ansässigen Histat-Projekt zur Verfügung gestellt.38 Bei der GESIS werden systematisch historische Zeitreihen gesammelt, aufbereitet und veröffentlicht. Wie die in den genannten Publikationen vorgefundenen oder selbst erschlossenen Daten aufbereitet und statistisch analysiert werden, hängt naturgemäß von der Fragestellung ab. Oft bewirkt schon die Gegenüberstellung von Mittelwerten und Streuungsmaßen einen erheblichen Erkenntnisfortschritt. Vielfach bedarf es jedoch ausgefeilter statistischer Methoden. Von einem Querschnittsdatensatz spricht man, wenn die Beobachtungen für mehrere Beobachtungseinheiten zu einem gegebenen Zeitpunkt vorliegen, also etwa die jahresdurchschnittlichen Weizenmehlpreise in 120 preußischen Städten im Jahre 1874 betrachtet werden. Eine Zeitreihe wären die jährlichen Weizenmehlpreise in Königsberg von 1815 bis 1914 und ein Panel die Kombination von Querschnitts- und Zeitreihendaten, also etwa die Weizenmehlpreise von 1815 bis 1914 in 120 preußischen Städten, immerhin schon ein Datensatz mit (120 · 100 =) 12.000 Beobachtungen. Für regressionsanalytische Ansätze ist es wichtig, erklärende und zu erklärende Variable zu unterscheiden. In einer Untersuchung des demographischen Verhaltens etwa könnte die Anzahl der Kinder pro Familie zu einem bestimmten Zeitpunkt die zu erklärende (abhängige) Variable und könnten Alter des Vaters und der Mutter, Religionszugehörigkeit, Haushaltseinkommen usw. erklärende (unabhängige) Variablen sein. Im Idealfall sind alle erklärenden Variablen exogen, d.h. sie werden nicht von der zu erklärenden Variable beeinflusst. Gleichwohl könnte es im Beispiel denkbar sein, dass die Kausalrichtung auch den umgekehrten Weg gehen kann: das Haushaltseinkommen kann seinerseits von der Anzahl der Kinder beeinflusst sein, wenn sich unter diesen schon einige befinden, die bereits selbst ein kleines Einkommen erarbeiten. In diesem Fall spricht man von einem Endogenitätsproblem (dem man mit entsprechenden Methoden beikommen kann). Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich die Vorliebe der Neuen Wirtschaftshistoriker für „nackte Zahlen“ nicht nur in der Nutzung bereits vorhandener Datensätze äußert, sondern auch eine zumindest uns faszinierende Kreativität in der Suche nach neuen, bisher unerschlossenen Datenquellen entfacht, von der die Geschichtswissenschaft als Ganzes zu profitieren vermag. Dies sei kurz an drei Beispielen verdeutlicht. Ann Kussmaul benötigte für ihre Studie über die Entwicklung der englischen Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit Informationen darüber, ob in den betrachteten ländlichen Pfarrbezirken die Getreideproduktion oder die Viehwirtschaft vorherrschte. Da unmittelbare Daten hierzu nicht vorlagen, nutzte Kussmaul stattdessen die vorhandenen demographischen Informationen über das Heiratsverhalten zu einem indirekten Schluss auf die vorherrschende Form der Landbewirtschaftung. Unter der Annahme, dass in der betrachteten historischen Periode die fürs Heiraten bevorzugte Jahreszeit durch den Schwerpunkt der landwirtschaftlichen Aktivitäten bestimmt wurde, klassifizierte sie Pfarrbezirke, in denen vorwiegend im Herbst, also nach der eingebrachten Ernte geheiratet wurde, als von der Getreideproduktion
38
http://www.gesis.org/histat/, Zugriff am 18.2.2013. Bei der GESIS ist ein historisch-statistisches Kompendium für die deutsche Geschichte seit dem 19. Jahrhundert in Vorbereitung, das 2014 erscheinen soll.
20
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
dominiert, und Pfarrbezirke, in denen häufig im Frühjahr, also nach der Geburt der Lämmer und Kälber, geheiratet wurde, als primär die Viehwirtschaft verfolgend.39 Hans-Joachim Voth schätzte die nicht dokumentierte individuelle Arbeitszeit der englischen Erwerbstätigen im 18. Jahrhundert auf Grundlage von Prozessakten, in denen in Verhörprotokollen für die Zeugen von Verbrechen explizit angegeben ist, welchen Beruf sie ausübten und welcher konkreten Aktivität sie zum Tatzeitpunkt nachgingen. Auf Grundlage der Informationen darüber, ob sich die Tatzeugen zum Tatzeitpunkt bei der Arbeit oder auf dem Weg von oder zur Arbeitsstätte befanden oder aber sich einer Freizeitaktivität widmeten, war es Voth möglich, den Beginn und das Ende der Arbeitszeit verschiedener Berufsgruppen zu rekonstruieren.40 Brian A’Hearn, Jörg Baten und Dorothee Crayen gingen der Frage nach, wann sich die Bildung der breiten Massen zu verbessern begann. Erhebungen über den Alphabetisierungsgrad gehen jedoch selten vor das Jahr 1800 zurück. Eine denkbare Alternative zur Erhebung der Schreibfähigkeit in vorindustrieller Zeit sind Unterschriftenlisten, bei denen die Unterschreibenden entweder mit ihrem Namen oder nur einem X unterschrieben. Doch vielleicht unterschrieb für einen Analphabeten auch einfach nur sein schreibkundiger Nachbar? A’Hearn, Baten und Crayen nutzten daher einen anderen Ansatz zur Messung von elementarer Bildung. Fragt man Menschen in einfachen Gesellschaften mit geringer Rechenfähigkeit nach ihrem Alter, so nennen sie in Unkenntnis der genauen Größe häufig eine durch 5 oder 10 teilbare Zahl. Entsprechende Listen weisen daher statt der zu erwartenden annähernden Gleichverteilung der Endziffern 0 bis 9 auffällige Sprünge bei den Endziffern 0 und 5 auf (Age-heaping). Je höher diese Ungleichverteilung der Endziffern, so deshalb die Hypothese, desto geringer der allgemeine Bildungsstand einer Population. Für Populationen und Zeiträume, in denen sowohl Daten zum Age-heaping als auch Alphabetisierungsraten vorhanden sind, lässt sich eine hohe Korrelation beider Größen feststellen. A’Hearn, Baten und Crayen zeigen anhand von Age-heaping-Daten, dass in bestimmten Regionen Europas (Niederlande, Norditalien, Deutschland) die Rechenfähigkeiten (oder allgemeiner: der Bildungsstand) breiter Bevölkerungsschichten bereits im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit und damit viel früher zu steigen begann als etwa in verhältnismäßig rückständigen Regionen, insbesondere im Osten Europas.41
1.3
Die Bedeutung kontrafaktischer Analysen für die (Wirtschafts-) Geschichte
Immer dann, wenn (Wirtschafts-) Historiker sich nicht vollständig auf die reine Beschreibung der vorgefundenen historischen Artefakte beschränken, sondern den Einfluss einer bestimmten historischen Person, Gruppe oder Rahmenbedingung zu bewerten suchen, unternehmen sie insoweit eine kontrafaktische Analyse, als sie sich zumindest implizit fragen müssen, welchen Gang die Geschichte ohne diese historische Person, Gruppe oder Rahmen39 40 41
Vgl. Ann Kussmaul (1990): A General View of the Rural Economy in England 1538–1840, Cambridge. Vgl. Hans-Joachim Voth (2000): Time and Work in England 1750–1830, Oxford. Vgl. Brian A’Hearn, Jörg Baten und Dorothee Crayen (2009): Quantifying Quantitative Literacy: Age Heaping and the History of Human Capital, in: Journal of Economic History 69, S. 783–808.
1.3 Die Bedeutung kontrafaktischer Analysen für die (Wirtschafts-) Geschichte
21
bedingung genommen hätte. Wirtschaftshistoriker sind daher bestrebt, den Vergleich zwischen der tatsächlichen historischen Situation und einer fiktiven Referenzsituation explizit darzulegen und dadurch ihre eigenen Aussagen einfacher widerlegbar zu machen. Die Vorgehensweise der kontrafaktischen Analyse kann wiederum anhand eines berühmten Buchs von Robert W. Fogel verdeutlicht werden. In seiner im Jahr 1964 erschienenen Studie „Railroads and American Economic Growth: Essays in Econometric History“ stellte Fogel – ähnlich wie in seinen späteren Arbeiten über die Sklaverei – eine bis dahin vorherrschende wirtschaftshistorische Auffassung in Frage und versuchte den Nachweis zu führen, dass die Innovation der Eisenbahn keine unverzichtbare Voraussetzung für das amerikanische Wirtschaftswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Zur Analyse der Wachstumswirkungen der Eisenbahn entwickelte Fogel das Modell eines alternativen und hypothetischen Amerikas, in dem es keine Eisenbahn, dafür aber ein besser ausgebautes Kanalsystem und mehr befestigte Straßen gegeben hätte, und ging damit weit über das hinaus, was viele Historiker für wissenschaftlich zulässig hielten. Fogel argumentierte, dass allein aus der Tatsache, dass die Eisenbahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den amerikanischen Transportmarkt dominierten, keineswegs geschlossen werden dürfe, dass diese wesentlich effizienter als die anderen potentiell verfügbaren Transportmittel waren, da bereits ein geringfügiger Unterschied in den Frachtkosten einen Verdrängungsprozess weg von der Wasser- und Landstraße hin zur Schiene ausgelöst hätte, was aber in diesem Fall nicht mit einer wesentlichen volkswirtschaftlichen Ersparnis von Transportkosten verbunden gewesen wäre. Mit anderen Worten: Fogel hielt es für möglich, dass die von der Eisenbahn geleisteten Transporte zu vergleichbaren Kosten gegebenenfalls auch von Schiffen auf Flüssen, Seen und Kanälen oder gar von einer vorgezogenen Expansion des auf dem Verbrennungsmotor beruhenden Straßenverkehrs hätte geleistet werden können, so dass das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft durch den Wegfall der angeblich unverzichtbaren Innovation Eisenbahn nicht wesentlich beeinträchtigt worden wäre. Ausgangspunkt seiner zur Überprüfung dieser Vermutung konstruierten kontrafaktischen Modellwelt ohne Eisenbahn war die Beobachtung, dass die Staaten des mittleren Westens zu einer Zeit besiedelt wurden, als die Eisenbahn bereits ihre technische Überlegenheit gegenüber Kanälen unter Beweise gestellt hatte, so dass anders als weiter östlich in diesem amerikanischen Landesteil keine Kanäle mehr gebaut wurden. Das heißt nach Fogels Auffassung aber nicht, dass der Kanalbau in dieser Gegend nicht technologisch möglich und ökonomisch sinnvoll gewesen wäre, wenn es keine Eisenbahn gegeben hätte. Vielmehr wäre es, so Fogel, mit einer nur geringfügigen Erweiterung des Kanalnetzes möglich gewesen, einen Großteil des produktiven Ackerlandes in dieser Region auch ohne Eisenbahn an die Märkte an der Ostküste und damit in Übersee anzubinden. Zum Beweis dieser These präsentierte Fogel in seinem Buch einen bis ins Detail ausgearbeiteten Plan für 37 Kanäle mit einer Gesamtlänge von 5.022 Meilen und geschätzten Baukosten von 161 Millionen Dollar, die niemals gebaut wurden. Zur Darlegung der technologischen Zulässigkeit dieser Kanalprojekte untersuchte Fogel sogar ausführlich deren Höhenprofil und die Wasserverfügbarkeit, mit dem Ergebnis, dass die relativ flachen Präriestaaten ein weniger schwieriges Terrain als die östlichen Staaten, in denen tatsächlich Kanäle gebaut wurden, und ausreichend Wasser für seine Kanalprojekte besaßen. Durch den Vergleich seiner Modellwelt und der wirtschaftlichen Entwicklung im historischen Amerika kam Fogel schließlich zu dem Ergebnis, dass die sozialen Ersparnisse der Eisenbahn im gesamten inneramerikanischen Handel nicht mehr als etwa 5 Prozent des Bruttonationaleinkommens betragen haben können. Dies rechtfertige, so Fogel, nicht die
22
1 Fragestellungen und Methoden der Neuen Wirtschaftsgeschichte
Vorstellung, dass die Eisenbahn unverzichtbar gewesen wäre. Trotz aller nachfolgenden Detailkritik an der Untersuchungsmethode, ähnlich vehement wie später im Falle seiner Arbeit über die Sklaverei, erreichte es Fogel tatsächlich, dass die Bedeutung der Eisenbahn für die amerikanische Industrialisierung in der allgemeinen Wirtschaftsgeschichtsschreibung erheblich relativiert wurde. Das grundsätzliche Problem der kontrafaktischen Analyse liegt auf der Hand. Eine von einem Wissenschaftler konstruierte Modellwelt kann zwar auf ihre innere Konsistenz überprüft werden, entzieht sich aber jeglicher Falsifikation durch historische Methoden. Dieser Einwand wiegt umso schwerer, als natürlich nicht nur eine einzige Modellwelt, sondern unendlich viele Alternativen zur historischen Realität konstruiert werden können. Fogel hätte den Verlauf seiner hypothetischen Kanäle ändern, die Ausbreitung des Lkw-Transports zeitlich vorziehen oder die Wirtschaftsstruktur des mittleren Westens grundlegend ändern können. Der einzige Maßstab für eine kontrafaktische Modellwelt bleibt daher ihre historische Plausibilität in den Augen des Betrachters. Dabei sind die einfache Negation eines bestimmten historischen Ereignisses wie der Erfindung der Eisenbahn sowie die gedankliche Fortentwicklung bereits vorhandener Strukturen wie die Ausbreitung der Kanäle vom amerikanischen Osten in den Mittleren Westen sicherlich plausiblere Alternativen zur historischen Realität als der Rückgriff auf etwas historisch Ungeschehenes wie die verfrühte Entwicklung des Straßentransports mit Hilfe von Lastkraftwagen.42 Um dem Betrachter die Beurteilung der Plausibilität aber überhaupt erst zu ermöglichen, ist es notwendig, wie Fogel es auf vorbildliche Weise tat, die Annahmen über die gewählte Modellwelt explizit offen zu legen. Vorläufigkeit von Theorien In den Sozialwissenschaften und auch in der Geschichtswissenschaft lassen sich Theorien, also begründbare Kausalaussagen, nicht endgültig bestätigen. Insbesondere der Erkenntnisund Wissenschaftsphilosoph Karl R. Popper hat argumentiert, dass sich eine Theorie allenfalls vorläufig bewähren kann, niemals aber beweisen lässt. Eine theoretische Aussage muss in sich widerspruchsfrei und so formuliert sein, dass sie grundsätzlich widerlegbar (falsifizierbar) ist, zum Beispiel durch ihr entgegen stehende empirische Beobachtungen. Alle Verfahren der induktiven Statistik, etwa die Regressionsanalyse, basieren auf diesem Prinzip.43 Es kann nicht stark genug betont werden, dass dieses Vorgehen lediglich die explizite Variante eines Vergleichs ist, den Historiker bei der Bewertung eines historischen Vorgangs immer ziehen.44 Jede historische Kausalaussage beruht zwingend auf der Unterstellung eines Kontrafaktums. Die Aussage „Ohne Versailles kein Hitler“ etwa unterstellt einen denkbaren Verlauf der europäischen Geschichte, in dem es keine nationalsozialistische Machtübernahme gegeben hätte, wenn nicht vorher Deutschland der Versailler Vertrag aufgezwungen worden wäre. Jede Interpretation, jede Bewertung eines historischen Vorgangs, beruht letztendlich immer auf einem Vergleich mit einer hypothetischen Referenzsituation. Wir plädieren daher 42 43 44
Vgl. hierzu Alexander Demandt (2005): Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre gewesen, wenn ...? 4. Aufl., Göttingen, S. 62f. Vgl. Karl R. Popper (1989): Logik der Forschung, 9. Aufl., Tübingen, S. 18; vgl. auch Lorenz (1997), S. 141. Ebda., S. 231–284.
1.3 Die Bedeutung kontrafaktischer Analysen für die (Wirtschafts-) Geschichte
23
dafür, in (wirtschafts-) historischen Analysen die jeweils herangezogene Vergleichssituation offen darzulegen, um den Lesern zu ermöglichen, die Maßstäbe der Bewertung nachzuvollziehen. Zusammenfassend zeichnet sich die Neue Wirtschaftsgeschichte durch folgende Merkmale aus: 1. Die Neue Wirtschaftsgeschichte greift als interdisziplinäres Fach sowohl auf die formaldeduktiven Methoden der Wirtschaftswissenschaften als auch auf die empirisch-induktiven Methoden der Geschichtswissenschaft zurück. 2. Die Neue Wirtschaftsgeschichte geht davon aus, dass das längerfristige Verhalten von historischen wirtschaftlichen Systemen mit Hilfe problemadäquater moderner wirtschaftswissenschaftlicher Theorien analysiert werden kann. 3. Die Neue Wirtschaftsgeschichte ist bestrebt, Massendaten zur Überprüfung wirtschaftshistorischer Hypothesen zu erheben und zu analysieren. 4. Die Neue Wirtschaftsgeschichte sieht in der multivariaten Regressionsanalyse von Massendaten ein wichtiges Instrument wirtschaftshistorischer Untersuchungen. 5. Die Neue Wirtschaftsgeschichte bekennt sich zur Verwendung von kontrafaktischen Analysen, deren Annahmen explizit offen zu legen sind.
2
Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
Das Ende der Napoleonischen Kriege einerseits und der Erste Weltkrieg andererseits sind die klassischen politikhistorischen Ereignisse, die als Zäsuren dienen, wenn man aus europäischer Sicht vom „langen 19. Jahrhundert“ spricht. Analog lässt sich das 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch des sowjetischen Machtblocks abgrenzen. Es wäre dann ein „kurzes“ Jahrhundert, das von 1914 oder 1918 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 oder der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 reicht. Auch aus wirtschaftshistorischer Sicht lassen sich für eine solche Periodisierung gute Gründe finden. Der Erste Weltkrieg bewirkte bereits vor dem Zusammenbruch des Kaiserreichs Umwälzungen im wirtschaftlichen Bereich, die von den Zeitgenossen – teils zustimmend, teils ablehnend – als fundamentale Neuerungen begriffen wurden. Zu nennen sind hier vor allem der im Kriegsverlauf immer weiter zunehmende Staatsinterventionismus sowie die Anfänge der Mitbestimmung und Anerkennung der Gewerkschaften durch das Hilfsdienstgesetz von Dezember 1916. Seit dem Ersten Weltkrieg waren und blieben bis heute Staat und Wirtschaft viel enger miteinander verwoben als dies jemals vor 1914 der Fall gewesen war. Die frühen 1990er Jahre bieten sich nicht nur wegen der am 3. Oktober 1990 vollzogenen deutschen Wiedervereinigung und des Zerfalls des sowjetischen Machtblocks als Zäsur an. In den 1990er Jahren wurde die „Globalisierung“ zum politischen Schlagwort. Man kann darüber streiten, ob sich die internationale wirtschaftliche Verflechtung in den 1990er Jahren wirklich beschleunigte. Es ist gut möglich, dass dieser Prozess schon früher an Geschwindigkeit gewann, doch durch die Systemkonkurrenz der Supermächte überdeckt wurde und erst nach der Auflösung der Sowjetunion ins öffentliche Bewusstsein kam. Kaum bestreitbar dürfte dagegen sein, dass der Prozess zunehmender weltwirtschaftlicher Integration erst in den 1990er Jahren von den Medien als „Globalisierung“ aufgegriffen und seine Folgen problematisiert wurden. Dies hatte erheblichen Einfluss auf die Erwartungen an die nationale politische Steuerungsfähigkeit wirtschaftlicher und sozialer Prozesse. Die Anfang der 1990er Jahre vielfach erhoffte Friedensdividende blieb allerdings aus. Das Wachstum der Weltwirtschaft veränderte sich insgesamt nur wenig, wenn auch mit Indien und China sehr bevölkerungsreiche Staaten ein beschleunigtes Wachstum des Wohlstands erlebten, das bis heute anhält. In diesem Kapitel wird eine Synopse über die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert gegeben. Dazu bedienen wir uns mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) einer klassischen Größe aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Das BIP ist als Konzept zur Darstellung des Wohlstands auch unter Ökonomen nicht unumstritten, doch ist es mangels einer allgemein akzeptierten Alternative nach wie vor Standard. Im nachfolgenden Abschnitt erklären wir kurz die Vor- und Nachteile dieses Konzepts, insbesondere auch in Hin-
26
2 Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
blick auf seine Anwendung für länger zurück liegende Zeiträume, ehe wir anschließend das BIP Deutschlands im 20. Jahrhundert diskutieren.45 Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationaleinkommen Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unterscheidet das Bruttonationaleinkommen und das Bruttoinlandsprodukt. Das Bruttonationaleinkommen (BNE, bis 1999 auch Bruttosozialprodukt (BSP), englisch Gross national product (GNP) genannt) umfasst alle Endprodukte (Güter und Dienstleistungen), die innerhalb einer bestimmten Periode mit Produktionsfaktoren hergestellt wurden, die sich im Eigentum der Inländer befinden. In Abgrenzung hierzu beziffert das Bruttoinlandsprodukt (BIP), englisch Gross domestic product (GDP), den Wert aller Endprodukte, die innerhalb einer bestimmten Periode im Inland hergestellt wurden. Das BIP erfasst im Gegensatz zum BNE die Leistungen von Ausländern im Inland und ignoriert die Leistungen von Inländern im Ausland. In älteren Untersuchungen wird häufig das BNE herangezogen. Heute dominiert das BIP als Wohlstandsmaß. Im Deutschen Reich und der Bundesrepublik haben bislang BIP und BNE immer sehr nah beieinander gelegen. Zum Beispiel in der Schweiz treten hingegen größere Unterschiede auf; meist liegt dort das BNE über dem BIP.
2.1
Wohlstandskonzepte und -messung
Ausgangspunkt der Wirtschaftswissenschaften ist das fundamentale Problem knapper Güter. Lebte die Menschheit im Überfluss, so bräuchte sie sich keine Gedanken über Wirtschaftlichkeit, Effizienz usw. zu machen. Tatsächlich sind Güter jedoch knapp: Den Apfel, den A verspeist, kann B nicht mehr essen. Das, was Menschen an Gütern und Dienstleistungen schaffen, bildet den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft. Diesen für einen gewissen Zeitraum und einen meist durch politische Grenzen vorgegebenen Raum zu messen, ist schon in den frühesten Gesellschaften versucht worden, meist für Zwecke der Steuererhebung. Doch erst in den 1920er Jahren entwickelten Ökonomen an statistischen Behörden wirtschaftlich hoch entwickelter Staaten Konzepte zur Messung des Volkseinkommens. Einigermaßen verlässliche Daten für Deutschland wurden erstmals 1932 publiziert, also auf dem Tiefpunkt der Wirtschaftskrise.46 Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen Impulse zur Standardisierung und Vereinheitlichung der Sozialproduktsberechnung vor allem von den Vereinigten Staaten und internationalen Organisationen wie der OECD aus. Wirtschaftshistorikern ist es ein wichtiges Anliegen, diese Reihen, die – von der Gegenwart ausgehend – meist nur bis in die 1960er oder 1950er Jahren zurück reichen, weiter in die Vergangenheit fortzuführen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit moderne Messkonzepte auf vergangene Zeiten anwendbar sind. Die nachfolgenden Punkte gelten im Übrigen auch für die Anwendung auf wirtschaftlich unterentwickelte Staaten heute.
45 46
Eine ausführlichere Diskussion verschiedener Wohlstandsmaße einschließlich des Bruttoinlandsprodukts findet sich in Kapitel 6.3.1. Statistisches Reichsamt (1932): Das deutsche Volkseinkommen vor und nach dem Kriege, Berlin; vgl. auch Adam Tooze (2001): Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge u.a., S. 103–148.
2.1 Wohlstandskonzepte und -messung
27
Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf entspricht der Menge der während eines Jahres neu geschaffenen Konsumgütern wie Nahrungsmittel oder Kleidung und Investitionsgütern wie Maschinen oder Wohnungen, die einem Einwohner eines Landes durchschnittlich zur Verfügung stehen. Um diese vielfältigen Güter überhaupt zu einer einzelnen Zahl aufsummieren zu können, müssen sie alle anhand ihrer jeweiligen Preise bewertet und hierdurch auf die einheitliche Dimension Geldeinheiten gebracht werden. Diese zur Bewertung herangezogenen Preise sollten sich auf freien Märkten aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage gebildet haben, da sie nur dann die gesellschaftliche Wertschätzung beziehungsweise Knappheit eines Gutes korrekt widerspiegeln. Von diesem wesentlichen Grundsatz der Verwendung von Marktpreisen wird bei der Bewertung der Leistungen des Staats abgewichen, sofern dieser seine Güter nicht über Märkte bereitstellt. Stattdessen werden die Leistungen des Staats dann zu ihren Erzeugungskosten bewertet. Der Wert einer Vorlesung an einer staatlich finanzierten Universität berechnet sich nicht nach der Zahlungsbereitschaft der Studierenden, sondern nur auf Grundlage der Kosten, das sind insbesondere, jeweils anteilig zugerechnet, die Gehälter der Lehrenden, des Hausmeisters und des Reinigungspersonals sowie die Kapitalkosten des Vorlesungsgebäudes und der eingesetzten Computer und Beamer. Die Statistiker der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind sich natürlich bewusst, dass sie durch diese Vorgehensweise einen konzeptionellen Fehler begehen, da ohne weitere Informationen nicht einzuschätzen ist, ob die Kosten staatlicher Leistungen kleiner oder gleich der tatsächlichen gesellschaftlichen Wertschätzung sind oder ob sie diese übersteigen (was viele zahlungsunwillige Steuerzahler oftmals unterstellen). Hätten die Steuerzahler im Grundsatz recht, würde man bei hoch entwickelten Volkswirtschaften mit relativ großem Staatssektor das Bruttoinlandsprodukt systematisch überschätzen. Ein zweites Problem besteht darin, dass die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die innerhalb eines Haushalts produzierten Güter nicht erfasst. Die private Zubereitung des Abendessens bleibt außen vor, während der Restaurantbesuch zu einer Markttransaktion führt und deshalb in der Erzeugungsrechnung Berücksichtigung findet. Diese Vorgehensweise führt zu dem unangenehmen Resultat, dass der Übergang von der Haushaltsproduktion zur Marktproduktion oder umgekehrt das Bruttoinlandsprodukt verändert, obwohl die erzeugte Gütermenge konstant geblieben ist. Wenn eine Professorin ihre männliche Haushaltshilfe heiratet und dieser seine Dienstleistungen Putzen, Waschen und Kochen nunmehr unentgeltlich bereitstellt, sinkt das Bruttoinlandsprodukt. Diese Problematik ist keineswegs auf solch konstruierte Beispiele beschränkt und deshalb quantitativ nicht vernachlässigbar. Vielmehr unterschätzt die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die Gütererstellung von unterentwickelten Ländern mit einem hohen Anteil an Haushaltsproduktion erheblich. In der Zusammenfassung dieser beiden Argumente zeigt sich, dass der internationale Ländervergleich mit Hilfe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung das wirtschaftliche Gefälle zwischen den armen und reichen Staaten dieser Erde möglicherweise übertreibt, da das Bruttoinlandsprodukt der reichen Länder aufgrund des großen Staatssektors zu hoch, das Bruttoinlandsprodukt der armen Länder wegen der ausgedehnten Haushaltsproduktion faktisch zu niedrig ausgewiesen wird. Diese Problematik müssen Wirtschaftshistoriker nicht nur im Ländervergleich zu einem Zeitpunkt, sondern auch bei der Analyse der Wirtschaftsentwicklung eines Landes über die Zeit angemessen berücksichtigen. Die Kritik an der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zur Wohlstandsmessung beschränkt sich allerdings nicht auf diesen Aspekt. Weitaus grundsätzlicher wird kritisiert,
28
2 Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
dass dieses Konzept erstens zu kurz greift und wesentliche Aspekte des ökonomischen Lebensstandards eines Menschen vernachlässigt und zweitens durch die Durchschnittsbetrachtung das Ausmaß der Ungleichverteilung der Güter über die Gesellschaft völlig ignoriert. Der erste Teil dieser Kritik beruht auf dem insbesondere vom indischen Ökonom und Philosoph Amartya Sen propagierten Gedanken, dass es in liberalen Marktwirtschaften in erster Linie darauf ankommen würde, unterschiedlichen Menschen die gleichen Handlungsspielräume zur Verwirklichung ihrer wirtschaftlichen Ziele zu ermöglichen. In die Wohlstandsmessung sei deshalb nicht nur die Menge an verfügbaren Gütern, sondern etwa auch das Bildungsniveau, die Gesundheit und die Lebenserwartung oder das Ausmaß an Freiheitsrechten aufzunehmen.47 Der zweite Teil der Kritik trägt dem Umstand Rechnung, dass die Maßzahl Bruttoinlandsprodukt pro Kopf offen lässt, ob das Volkseinkommen gleichmäßig über alle Gesellschaftsmitglieder verteilt ist oder ob eine superreiche kleine Oberschicht zulasten der armen Bevölkerungsmehrheit dem Luxus frönt. Ohne uns verteilungspolitisch zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, unterstellen wir, dass die meisten Menschen (mit uns) der Auffassung sind, dass bei gleichem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf eine eher gleichmäßige Verteilung einer sehr ungleichen Verteilung eindeutig vorzuziehen ist.48 Man kann dies normativethisch begründen oder auch funktional-politisch: Je größer die Einkommensungleichverteilung, desto höher das Risiko krimineller Eigentumsdelikte und politischer Unruhen.49 Für das hier zu diskutierende 20. Jahrhundert sind diese Probleme nicht so gravierend, dass sie die Aussagekraft des Indikators BIP grundlegend in Frage stellen. Allerdings gilt es ein zusätzliches Grundproblem langer BIP-Reihen zumindest im Hinterkopf zu behalten, das auf Änderungen der relativen Preise zurückzuführen ist. Die im nächsten Abschnitt vorgestellte Graphik des deutschen BIP von 1901 bis 2012 ist in Preisen des Basisjahres 2000 ausgedrückt. Für dieses Basisjahr ist von den Statistikern ein Warenkorb zugrunde gelegt worden, der in etwa der gesamtwirtschaftlichen Produktion entspricht. Für die Güter, die in diesem Warenkorb zusammengefasst sind, wird nun die Preisentwicklung nachverfolgt. Für die Produktion des nächsten Jahres werden die Mengen dieses Jahres erfasst, aber mit den Preisen des Basisjahres bewertet. Damit rechnet man die Inflation heraus – die „echte“ Wohlstandsmehrung liegt in der Zunahme der produzierten und konsumierten Mengen. Dieser (hier stark vereinfacht wiedergegebene) Vorgang, der von der nominalen zur realen Betrachtung des BIP führt, heißt deflationieren. Was man auf diese Weise jedoch nicht berücksichtigt ist, dass Güter, deren Preise im Zeitablauf überproportional ansteigen, weniger stark nachgefragt werden, z.B. weil man sie durch andere ersetzt, deren Preise weniger stark gestiegen sind. Dieser sogenannte Substitutions47
48
49
Vgl. Amartya K. Sen (1992): Inequality Re-examined, Oxford u.a. Für seine Arbeiten zur Wohlfahrts- und Entwicklungsökonomik erhielt Sen (* 1933) 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Eine Übersicht über unterschiedliche Verteilungsnormen bietet Jochen Streb (1996): Eine Analyse der Ziele, Instrumente und Verteilungswirkungen der Agrareinkommenspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1950 bis 1989, Holm, S. 8–56. Vgl. etwa zu den materiellen Ursachen von Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert: Paul L. Sharp und Jacob R. Weisdorf (2012): French Revolution or Industrial Revolution? A Note on the Contrasting Experiences of England and France up to 1800, in: Cliometrica 6, S. 79–88; Helge Berger und Mark Spoerer (2001): Economic Crises and the European Revolutions of 1848, in: Journal of Economic History 61, S. 293–326.
2.2 Der Wohlstand im 20. Jahrhundert im Überblick
29
effekt wird kurzfristig vernachlässigt; die Gewichte, mit denen die einzelnen Produkte in den Warenkorb eingehen, bleiben somit kurzfristig unverändert. Durch dieses Vorgehen wird die Inflation leicht überschätzt und entsprechend fällt die Korrektur der nominalen BIPEntwicklung beim Deflationieren etwas zu stark aus. Zudem bleiben Verbesserungen der Produktqualität bei diesem Vorgehen unberücksichtigt. Neue Güter werden zunächst gar nicht erfasst. In der Summe führt dies dazu, dass die nachfolgend interpretierte Graphik die echte Wachstumsdynamik Deutschlands im 20. Jahrhundert unterschätzen dürfte.
2.2
Der Wohlstand im 20. Jahrhundert im Überblick
Der durchgezogene Graph in Abbildung 2.1 veranschaulicht die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland – von 1949 bis 1990 beschränkt auf Westdeutschland, da es für die ostdeutsche Planwirtschaft keine verlässlichen BIP-Schätzungen gibt.50 Abgebildet ist das BIP pro Kopf, damit territoriale Änderungen das Bild nicht verzerren. Außerdem ist wie oben beschrieben die Preisentwicklung heraus gerechnet worden. Als Basisjahr dient dafür das Jahr 2000, Währung ist der Euro. 100.000
1973
1913
1928
1943
1991
2009
10.000
1919
1932
1946
1.000 1905
1910
1915
1920
1925
1930
1935
1940
1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
Abbildung 2.1:
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland 1901 bis 2012 (€ in Preisen von 2000)
Anm.:
Logarithmische Darstellung; 1945–1990 Westdeutschland.
Quellen:
Berechnet nach: Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 53f.; Statistisches Bundesamt (www.destatis.de).
50
Vgl. für die DDR Gerhard Heske (2009): Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950–1989: Daten, Methoden, Vergleiche, Köln.
30
2 Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
Lineare und logarithmische Darstellung Im Gegensatz zur üblicheren linearen Darstellung einer Größe veranschaulicht die logarithmische Darstellung unmittelbar die Wachstumsraten. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Wenn man 100 Euro zu einem konstanten Zinssatz von 10 Prozent anlegt, so hat man nach dem ersten Jahr 110 Euro, nach dem zweiten 121 Euro usw. Die Wachstumsrate bleibt mit 10 Prozent konstant, doch die angelegte Summe wächst exponentiell. Dieses exponentielle Wachstum führt in der linearen Darstellung zu einer nach oben gebogenen (konvexen) Krümmung des Graphen. In der logarithmischen Darstellung ist der Graph dagegen linear, weil die Wachstumsrate konstant bleibt. Die lineare Darstellung bietet sich also an, wenn man etwas über das Niveau (Wie hoch war – zum Preisniveau des Jahres 2000 – das BIP pro Kopf in den 1960er Jahren?) und die logarithmische, wenn man etwas über die langfristige Dynamik des Wachstums (Wie veränderte sich das Wachstum des realen BIP pro-Kopf nach 1945?) wissen möchte. Wird der logarithmische Graph konvex, so veranschaulicht er eine Zunahme des Wachstums, wird er konkav (nach unten gebogene Krümmung, wie z.B. oben nach 1948), so ist das Wachstumstempo zurückgegangen (vgl. auch unten Abb. 8.2). Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die deutsche Wirtschaft vergleichsweise konstant um knapp 2 Prozent pro Jahr und Kopf. Die Generalmobilmachung Ende Juli 1914 sowie die vielen Freiwilligenmeldungen in den ersten Augustwochen entzogen der Wirtschaft Arbeitskräfte; viele Werke mussten ganz schließen, so dass arbeitswillige ältere Arbeitnehmer arbeitslos wurden. Dies schlug sich in einem Einbruch der Produktion nieder, der durch die britische Seeblockade verschärft wurde. Trotz aller Anstrengungen die Kriegswirtschaft zu rationalisieren, fiel die Erzeugung bis Kriegsende 1918 weiter. Erst im Jahre 1920 zog die Produktion wieder an. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, die nach dem Krieg eine Anpassungskrise zu bewältigen hatten, „schmierte“ die Inflation die Wirtschaft in Deutschland. Die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 brachte die Wirtschaftstätigkeit im industriellen Kern Deutschlands praktisch zum Erliegen und heizte die mittlerweile galoppierende Hyperinflation weiter an. Erst die Währungsreform von Oktober/November 1923 brachte die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs, der mit kurzen Rückschlägen 1924/25 und 1925/26 bis 1928 anhielt. Die mit Auslandskrediten finanzierte Konjunktur der sogenannten „Goldenen Zwanziger“ Jahre lief schon gegen Ende des Jahres 1928 aus, als die Arbeitslosigkeit kräftig anstieg. Der Börsencrash in den Vereinigten Staaten sandte ab Oktober 1929 Schockwellen nach Europa und auch nach Deutschland. Die im Jahr 1932 einsetzende wirtschaftliche Erholung kam zu spät, um die Machtübertragung an die Nationalsozialisten Ende Januar 1933 zu verhindern. Die von viel Propaganda begleitete nationalsozialistische Arbeitsbeschaffungs- und Rüstungspolitik fiel mit dem bereits in der zweiten Jahreshälfte 1932 begonnenen wirtschaftlichen Wiederaufschwung zusammen. Ausgehend von dem sehr tiefen Krisenniveau erlebte die deutsche Wirtschaft einen Aufschwung, der nach Erreichen der Vollbeschäftigung 1936 wider alle wirtschaftliche Vernunft über das seriös finanzierbare hinaus weitergetrieben wurde. Schon zu diesem Zeitpunkt stand hinter dem hohen Wachstum des BIP nicht etwa eine proportionale Zunahme des privaten Konsums, sondern vielmehr das enorme Wachstum der staatlichen Nachfrage nach Waffen und militärischer Infrastruktur. Die Überfälle auf die östlichen, später auch westlichen Nachbarstaaten brachte zunächst reiche Kriegsbeute. Trotz
2.2 Der Wohlstand im 20. Jahrhundert im Überblick
31
der zunehmenden Luftkriegsschäden durch westalliierte Luftangriffe erreichten die Kriegsproduktion und damit auch das BIP pro Kopf 1943 ihren absoluten Höhepunkt. Im Jahre 1945 kam ein großer Teil der industriellen Produktion in Deutschland zum Erliegen. Nur langsam erholte sich die Wirtschaft von den kriegsbedingten Zerstörungen des Anlagevermögens und den Lieferunterbrechungen, von denen viele wegen der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen fortdauerten. Neben der Marshallplanhilfe war es vor allem im Juni 1948 die kombinierte Wirkung von Währungsreform und Preisfreigabe, die die deutsche Wirtschaft auf einen rasanten Wachstumskurs brachte, der schon bald als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde. Im Laufe der späten 1950er und 1960er Jahre flachten die Wachstumsraten zwar etwas ab, blieben aber auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Zu dieser Zeit erreichte der Fortschrittsoptimismus seinen Höhepunkt und führte zu Prognosen, die heute völlig utopisch erscheinen. Nachdem sich Deutschland wie auch seine westeuropäischen Nachbarn von den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs erholt hatten, gingen die Wachstumsraten stark zurück. Dies wurde 1974/75 und 1980–82 durch die Auswirkungen zweier Ölpreisschocks überdeckt, die die Abhängigkeit des westlichen Wohlstands vom Erdöl aufzeigten, aber auch ganz allgemein das vorherrschende Wachstumsparadigma nachhaltig in Frage stellten. In den 1980er und 1990er Jahren wuchs die Wirtschaft dann nur noch um jahresdurchschnittlich 1,5 Prozent. In diesen Zeitraum fällt auch die Wiedervereinigung, die 1991 einen Sprung des Graphen nach unten bewirkt: Zu den 64 Millionen relativ wohlhabenden Westdeutschen kamen etwa 16 Millionen weniger wohlhabende Ostdeutsche, was sich in der Durchschnittsbetrachtung entsprechend auswirkt. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts setzte sich das Wachstum in ähnlichem Umfang fort und wurde dann 2008 und vor allem 2009 (–4,5 Prozent) von der 2007 einsetzenden Finanzkrise kurzfristig nach unten gerissen. In Abbildung 2.1 haben wir neben der tatsächlichen Entwicklung des BIP pro Kopf mit der gestrichelten Linie auch eine hypothetische Entwicklung eingezeichnet, die einfach das durchschnittliche Wachstum der Jahre 1901 bis 1913 fortschreibt. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es keine theoretische Begründung für dieses Vorgehen gibt. Doch interessanterweise findet sich Deutschland nach der Wiedervereinigung exakt auf dieser Linie wieder. Zufall oder nicht, seit Beginn des 20. Jahrhunderts wächst der materielle (und mit dem BIPKonzept messbare) Wohlstand um jahresdurchschnittlich 1,8 bis 1,9 Prozent pro Kopf. Mit den hohen Wachstumsraten der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte im Hinterkopf hat man sich in der Bundesrepublik angewöhnt, ein solches Wachstum als mager zu bezeichnen – der wirtschaftshistorische Blick ins letzte Jahrhundert gebietet Bescheidenheit: Ein Wachstum von knapp 2 Prozent pro Kopf ist in hoch entwickelten europäischen Volkswirtschaften ganz normal.51 Abbildung 2.1 veranschaulicht im Übrigen, weshalb wir uns in diesem Buch vorwiegend auf die Jahre von 1918 bis 1990 konzentrieren. Dies ist genau diejenige Periode, in der die Wirtschaftsentwicklung (West-) Deutschlands vom langfristigen Wachstumstrend nach unten (und teilweise auch nach oben) abwich. Diesen Verwerfungen werden wir in den folgenden Kapiteln detailliert nachgehen. Nacheinander werden wir die Wirtschaftsentwicklung in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland bis zur 51
Vgl. für andere Staaten v.a. die folgenden international vergleichenden historischen BIP-Übersichten: Angus Maddison (2003): The World Economy. Historical Statistics, Paris; Brian R. Mitchell (2007): International Historical Statistics: Europe 1750–2005, 6. Aufl., Basingstoke.
32
2 Das kurze 20. Jahrhundert im Überblick
Wiedervereinigung betrachten. Das Dritte Reich nimmt dabei einen verhältnismäßig großen Raum ein, was daran liegt, dass zu diesem Abschnitt deutscher Geschichte in den letzten beiden Jahrzehnten besonders viele der Neuen Wirtschaftsgeschichte zuzuordnende Studien erschienen sind, während zur Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik aus dieser Perspektive noch vergleichsweise wenig geforscht und veröffentlicht wurde.
B
Mangelnde Masse: Die Weimarer Wirtschaft zwischen politischen Ansprüchen und ökonomischen Realitäten
Es gehört zum Schicksal der Weimarer Republik, dass sie stets von ihrem unrühmlichen Ende her gesehen wird: die legale Übergabe der Regierungsgeschäfte an eine sich offen antidemokratisch gebende Parteienkoalition. Da Wirtschaftshistoriker in besonderem Maße davon überzeugt sind, dass sozioökonomische Gründe entscheidend zum Untergang der Republik beitrugen, nehmen sie diese Perspektive besonders gerne ein. Doch die sozioökonomische Entwicklung der Weimarer Republik ist auch ohne das Wissen um ihr Ende faszinierend – und zugleich besonders lehrreich, denn die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der ersten deutschen Demokratie bietet sich als Vergleich für heutige Probleme viel besser an als die des Nationalsozialismus oder gar der DDR, die sich unter totalitären bzw. autoritären Prämissen stellten. Der entscheidende Unterschied ist, dass sich die Politiker der Weimarer Republik genau wie die der Bundesrepublik vor den Wählern zu verantworten hatten. Grundlegende Eingriffe in das Eigentums- und Vertragsrecht, die nationalsozialistische oder realsozialistische Regimes vornehmen konnten, blieben Politikern unter demokratischen Vorzeichen verwehrt.
3
Das Vermächtnis des Krieges: wirtschaftlicher Neuaufbau im Schatten von Inflation und Reparationsforderungen
Von den teils verheerenden Zerstörungen des Ersten Weltkriegs war Deutschland sowohl in den alten als auch insbesondere in den neuen Grenzen kaum betroffen. Der Stellungskrieg hatte sich in Nordfrankreich und Belgien, in den Alpen, an der Save und in den Karpaten abgespielt, nicht jedoch auf deutschem Territorium. Das größte Problem stellte in Deutschland nicht Zerstörung, sondern vielmehr Hunger dar. Seitdem Großbritannien im August und November 1914 eine Seeblockade gegen Deutschland errichtet bzw. diese noch verschärft hatte, war das Land von lebensnotwendigen Nah-
34
3 Das Vermächtnis des Krieges
rungsmittelimporten von außerhalb seines militärischen und politischen Einflussbereichs abgeschnitten. Linderung brachten nach dem Waffenstillstand Hilfspakete, v.a. aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Schweiz. Erst zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages durch deutsche Vertreter hoben die Alliierten die Blockade im Juli 1919 auf. Aus wirtschafts- und sozialpolitischer Sicht standen neben der Bekämpfung des Hungers, der Reintegration der zurückdrängenden Soldaten in die Arbeitswelt und der Umstellung der Produktion auf die Friedenswirtschaft weitere drängende langfristigere Fragen an. Drei von ihnen erscheinen uns aus wirtschaftshistorischer Sicht besonders bedeutend. Ordnungspolitik: Der Kaiser hatte abgedankt, die alten Eliten waren in der Defensive. Zudem hatten in Russland Revolutionäre die Macht übernommen, die dabei waren, Boden und Kapital ganz neu zu verteilen bzw. zu sozialisieren. Wie sollte in Zukunft die Eigentumsordnung in Deutschland aussehen? Sollten die Produktionsmittel verstaatlicht werden? Selbst im Falle der Beibehaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems stand eine Neuregelung der Arbeitsbeziehungen, des Verhältnisses von „Arbeit“ und „Kapital“ an. Dass die Unternehmer nicht mehr nach Gutdünken in ihren Betrieben schalten und walten können sollten, war angesichts der neuen Machtverhältnisse abzusehen. Konkret standen dabei vor allem der Achtstundentag, das Koalitionsrecht und die betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite zur Diskussion. Finanz- und Währungspolitik: Neben dieser ordnungspolitischen stand eine finanzpolitische Frage zur Diskussion. Im Krieg hatte sich der deutsche Staat massiv bei seinen Bürgern verschuldet, teils direkt in Form von Kriegsanleihen, teils indirekt über die Akkumulation einer gewaltigen ungedeckten Staatsschuld, die in Form eines riesigen Geldmengenbestands zirkulierte. Die Preise lagen Ende 1918 über dem Dreifachen des Vorkriegsniveaus und stiegen weiter an; der Außenwert der deutschen Währung fiel entsprechend. Für eine Rückkehr zu wirtschaftlicher Normalität war eine Reform der Währung und der Staatsfinanzen unabdingbar. Letztlich wollte man zu den stabilen Währungsverhältnissen zurück, wie sie bis Juli 1914 zur Zeit des Goldstandards geherrscht hatten. Reparationen: Zur Frage der inländischen Verschuldung kam zudem die der in Zukunft zu zahlenden Reparationen an die Siegermächte. Die deutschen Vertreter hatten die Alleinschuldklausel des Versailler Vertrags zähneknirschend unterzeichnet und hofften auf ein Einsehen der Alliierten, insbesondere den mäßigenden Einfluss der Vereinigten Staaten, zumal die Höhe der Reparationslast zunächst offen geblieben war. Die junge deutsche Demokratie sah sich somit mit Ansprüchen von ganz unterschiedlichen Seiten konfrontiert. Von unten drängten die Gewerkschaften und die politische Linke auf stärkere Teilhabe der Arbeiterschaft an der Wirtschaft. Aus dem Bürgertum kam die Erwartung, dass der Staat seinen Schuldverpflichtungen nachkommen und die Währung reformieren solle. Und von außen forderten die Regierungen der Siegermächte, gedrängt von einer wie in Deutschland immer noch nationalistisch gesinnten Öffentlichkeit, auf die Zahlung hoher Reparationen. Nach einem langen und zermürbenden, letztlich verlorenen Krieg durfte die verarmte Republik die Zeche des Kaiserreichs bezahlen.
3.1 Eigentumsordnung und Arbeitsbeziehungen
3.1
35
Eigentumsordnung und Arbeitsbeziehungen
Die Frage der Eigentumsordnung klärte sich binnen weniger Monate. Schon nach den ersten unruhigen Tagen des Novembers 1918 einigten sich der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands (Vorläufer des im Juli 1919 gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, ADGB), Carl Legien, und der Großindustrielle Hugo Stinnes als Vertreter der Arbeitgeberseite auf eine grundlegende Übereinkunft. Demnach verzichteten die Gewerkschaften auf Sozialisierungsforderungen; im Gegenzug bestätigten die Arbeitgeber die Koalitionsfreiheit und richteten den Achtstundentag ein. Zudem räumten sie den Gewerkschaften Mitbestimmungsrechte auf der unteren betrieblichen Ebene ein. Dieses als „Stinnes-Legien-Pakt“ bezeichnete Abkommen vom 15. November 1918 war im Folgenden Ausgangspunkt aller Revisionsbestrebungen von der einen oder anderen Seite.52 Zugleich grenzten sich mit ihm ADGB und MSPD von weitergehenden Forderungen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) ab, die sich im April 1917 von der SPD (deren Mitglieder von da ab die Mehrheits-Sozialdemokraten genannt wurden) abgespalten hatte. Diese weitergehenden Forderungen, insbesondere nach Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, wurden beim Spartakus-Aufstand im Januar 1919 und weiteren kommunistischen Aufständen und Umsturzversuchen immer wieder erhoben, blieben jedoch unerfüllt. Das Privateigentum an Produktionsmitteln blieb somit bestehen und sollte für die Dauer der Weimarer Republik nicht mehr angetastet werden. Der Achtstundentag, die wichtigste Errungenschaft der Arbeiterbewegung im November 1918, blieb jedoch nicht lange uneingeschränkt bestehen. Im Dezember 1923 erreichte das Arbeitgeberlager eine Ausnahmeregelung, insbesondere für Branchen, in denen aus technisch-wirtschaftlichen Gründen ein längerer Schichtbetrieb sinnvoll war. Auch in den Folgejahren gelang es den Gewerkschaften nicht, den Achtstundentag wieder als generelle Richtlinie zur Norm zu machen. Tabelle 3.1 gibt Aufschluss über die Länge der Arbeitswoche (der Samstag war Arbeitstag). Tabelle 3.1:
Die Entwicklung der Wochenarbeitszeit in der Industrie 1913 bis 1944 (in Stunden) 1913 1919 1923 1924 1927 1929 1930 1931 1932 1933 1935 1938 1944
(a) alle Beschäftigte
56,0
(b) Männer
48,0
48,0
50,4
49,9
46,0
44,2
42,5
41,5
43,0
44,5
47,9
48,3
49,1
51,5
Anm.:
März 1944.
Quellen:
(a) Ruth Meinert (1958): Die Entwicklung der Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1820–1956, Münster, S. 23, 44f.; Michael Schneider (1984): Streit um Arbeitszeit. Geschichte des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung in Deutschland, Köln, S. 192f.; (b) berechnet nach Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944 (1949). Hg. v. Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München, S. 469.
Noch stärker umstritten als die Arbeitszeit waren die Löhne. Arbeitgeber und Arbeitnehmer standen sich nun gleichberechtigt gegenüber. Eine Besonderheit der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik war die staatliche Zwangsschlichtung. Sie ging auf den Ersten Weltkrieg zurück, als das Kriegsministerium bei Lohnkonflikten zur Abwendung von Streiks einen verbindlichen Schlichterspruch oktroyiert hatte. Diese Praxis wurde 1918/19 von den 52
Vgl. Gerald D. Feldman (1998): Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München, S. 522–530.
36
3 Das Vermächtnis des Krieges
Demobilmachungskommissaren fortgesetzt und fand schließlich in der qua Notverordnung erlassenen Verordnung über das Schlichtungswesen im Oktober 1923 ihre rechtliche Fixierung. Diese Verordnung ermächtigte den Reichsarbeitsminister und zwanzig von ihm ernannte Schlichter bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses von Amts wegen in Tarifverhandlungen einzugreifen. Die Schlichter waren in ihrer Tätigkeit zwar nicht an Weisungen gebunden, doch der Reichsarbeitsminister durfte allgemeine Richtlinien für die Tätigkeit der Schlichtungsausschüsse erlassen. Die Verbindlichkeitserklärung eines Schiedsspruchs konnte ohne Antrag der betroffenen Partei erfolgen. Somit konnten die Schlichter gegen den Willen von Arbeitgebern und Gewerkschaften bindende kollektive Lohnvereinbarungen durchsetzen. Wenn ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt wurde, bedeutete dies zudem, dass er auch für diejenigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer maßgeblich war, die keiner der am Reichstarifvertrag beteiligten Organisationen angehörten. Auf diese Weise konnte das Reichsarbeitsministerium die Lohnabschlüsse nach eigenem Belieben steuern. Kritik an Lohnabschlüssen richtete sich daher oft nicht nur an die Gegenseite, sondern auch an den Weimarer Staat – man sprach von „politischen Löhnen“.53 Auch in der Frage der angestrebten Mitbestimmung hatten die Gewerkschaften bereits im Krieg erste Erfolge erzielt. Zur Sicherung des Arbeitsfriedens konzedierte der Staat im Dezember 1916 im Hilfsdienstgesetz Arbeiterausschüsse für alle kriegs- und versorgungswichtigen Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten. Diese Arbeiter- und Angestelltenausschüsse hatten ein Anhörungsrecht in sozialen Angelegenheiten. Im Februar 1920 verabschiedete der Reichstag das Betriebsrätegesetz. Für Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten war zwingend ein Betriebsrat vorgesehen, der die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer vertrat. Das Gesetz sah aber keine Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten vor, sondern beschränkte die Kompetenzen des Betriebsrats auf soziale und beratende Funktionen. Im Februar 1922 folgte das Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat, das die Entsendung von ein oder zwei Betriebsräten in den Aufsichtsrat von Kapitalgesellschaften vorsah. Viele Unternehmen reagierten darauf mit der Bildung von Ausschüssen innerhalb des Aufsichtsrats, in denen die sensibelsten Fragen ohne die Arbeitnehmervertreter beraten werden konnten.54
3.2
Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
Im Alltag der meisten Menschen spielten die Debatten um die Arbeitsbeziehungen meistens nur eine untergeordnete Rolle. Viel stärker wurde der Alltag in den ersten fünf Jahren nach Ende des Krieges von der scheinbar unaufhaltsamen Inflation geprägt. Tabelle 3.2 gibt die
53
54
Vgl. Martin Becker (2005): Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., S. 111; ferner Jürgen v. Kruedener (1985): Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat, in: Geschichte und Gesellschaft 11, S. 358–376. Vgl. Werner Plumpe (1999): Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur chemischen Industrie, München, S. 45–58.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
37
Entwicklung des Indexes der Lebenshaltungskosten seit dem Durchschnitt der letzten Vorkriegsjahre 1913/14 wieder. Tabelle 3.2:
Die Inflation vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg im Überblick 1880
Devisenkurs des $
1890
1900
1910
1913
1914
1915
1916
1917
1918
[4,20]
4,18
4,20
4,20
4,20
4,50
5,16
5,72
5,67
8,28
LHK-Index
0,76
0,75
0,77
0,92
1,00
1,00
1,35
1,80
2,25
3,10
Großhandelspreisindex
0,94
0,89
0,87
0,91
1,00
1,25
1,48
1,51
2,03
2,45
Nominalwochenlohn
23,70
23,70
24,78
29,70
44,45
74,06
Realwochenlohn
23,70
23,03
19,15
17,50
17,58
23,65 1928
1919
1920
1923
1924
1925
1926
1927
Devisenkurs des $
46,77
73,00 191,93 7.589,27
1921
1922
4,2 Bn.
4,20
4,20
4,20
4,21
4,19
LHK-Index
4,90
11,58
19,28
685,06
1,25 Bn.
1,31
1,42
1,42
1,48
1,52
Großhandelspreisindex
8,03
14,40
34,87
1.475
1,26 Bn.
1,37
1,42
1,34
1,38
1,40
Nominalwochenlohn
124,83
240
446
13.128
18,72
24,96
32,00
34,29
36,31
39,28
Realwochenlohn
28,39
20,73
22,72
18,06
15,64
19,05
23,70
24,15
24,53
25,84
Anm.:
$-Kurs und Preisindizes Jahresdurchschnitte, 1914–1923 abweichend Dezember; Lebenshaltungskostenindex (LHK) auf Durchschnitt der Jahre 1913/14 normiert (Werte vor 1910 wahrscheinlich etwas zu tief); Großhandelspreisindex auf 1913 normiert; Nominalwochenlohn in Mark/Reichsmark für Ungelernte; ab 1920 Dezember, ab 1926 Durchschnittswert der Tariflöhne im April und Oktober in der Produktionsmittelindustrie; Realwochenlohn in Preisen von 1913; weitere Details der Berechnungen in Quellen.
Quellen:
1880–1913, 1924–28, Devisenkurs und Preisindizes: Deutsche Bundesbank (1976): Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 5, 7; Devisenkurs und Preisindizes 1914–1923, Löhne: Statistisches Reichsamt (1925): Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914 bis 1923, Berlin, S. 6, 16, 19, 33, 40; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1929, Berlin, S. 371, dass. 1930, S. 266.
Inflation Eine Inflation entsteht, wenn die monetäre gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die sich beispielsweise in der Geldmenge M0 (umlaufendes Bargeld außerhalb des Bankensystems plus Zentralbankgeldbestand der Banken) ausdrückt,55 das gesamtwirtschaftliche Güterangebot, bewertet zu gegebenen Preisen, übersteigt. In einer Volkswirtschaft mit freier Preisbildung führt dieser Nachfrageüberhang zu allgemeinen Preissteigerungen: Eine offene Inflation wird durch einen anhaltenden Anstieg der Lebenshaltungskosten angezeigt. Wird dieser Preisniveauanstieg durch staatliche Preiskontrollen, das heißt durch Verordnung von Höchstpreisen für Konsum- und Investitionsgüter verhindert, bewirkt der Nachfrageüberhang eine zurückgestaute Inflation. Indikatoren einer zurückgestauten Inflation sind die Rationierung von Gütern etwa durch Lebensmittelkarten, die Herausbildung von Schlangen vor Geschäften und von illegalen Schwarzmärkten mit Preisen deutlich über den offiziell vorgegebenen und ein starker Anstieg der Spareinlagen der privaten Haushalte.
55
Präzise ergibt sich die monetäre gesamtwirtschaftliche Nachfrage als Produkt der Geldmenge und der Umlaufgeschwindigkeit, vgl. unten die Diskussion von Tabelle 3.3.
38
3 Das Vermächtnis des Krieges
Ausgangspunkt der deutschen Inflation im und nach dem Ersten Weltkrieg war eine weitreichende Modifikation der traditionellen Reichsbankverfassung von 1875.56 Diese hatte vorgesehen, dass ein Drittel des Banknotenumlaufs durch Gold und zwei Drittel durch gute Handelswechsel der privaten Wirtschaft gedeckt werden sollten. Diese Bestimmung folgte den Leitlinien der unter anderem von dem deutschen Volkswirt Adolph Wagner vertretenen „Banking-Theorie“57: Das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Banknoten ohne eigenen Warenwert sollte dadurch gewährleistet werden, dass die emittierende Reichsbank versprach, zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf Verlangen ihre Banknoten zum vorgegebenen Austauschverhältnis gegen Gold einzutauschen. Zehn Mark entsprachen etwa 3,6 Gramm Feingold. Die Golddeckung der Banknoten gewährleistete somit, dass die Reichsbank zumindest im normalen Geschäftsbetrieb ihrer Einlöseverpflichtung nachkommen konnte. Gleichzeitig verhinderte die Golddeckung als Stabilitätsanker eine ungebremste und damit inflationsfördernde Ausdehnung des Banknotenumlaufs. Die Wechseldeckung verminderte die Gefahr einer Deflation. Immer dann, wenn ein erhöhter Wechselumlauf einen erhöhten Zahlungsmittelbedarf der privaten Unternehmen signalisierte, konnte die Reichsbank, insoweit der Spielraum der Zweidritteldeckung noch nicht ausgeschöpft war, vermehrt Handelswechsel rediskontieren und hierdurch den Banknotenumlauf flexibel erhöhen. Ging umgekehrt die Wirtschaftstätigkeit zurück, so wurden weniger Handelswechsel ausgestellt und zum Diskont eingereicht, und der Banknotenumlauf sank. Dem Staat war der Zugang zur Notenpresse verwehrt. Wechsel und Geldschöpfung Ein Handelswechsel ist ein Zahlungsversprechen, das auch heute noch im geschäftlichen Verkehr genutzt wird. Wenn etwa Siemens Ende Juni bei Krupp Edelstahl für 1.000 M kaufte, so konnte Krupp einen Wechsel ausstellen, den Siemens akzeptierte und somit versprach, an einem vereinbarten Termin, typischerweise in drei Monaten, 1.000 Mark zu zahlen. Wenn Krupp sofort Bargeld brauchte, so konnte das Unternehmen seinerseits mit diesem Zahlungsversprechen zu seiner Geschäftsbank, der Deutschen Bank gehen, und dafür 990 Mark in bar oder als Giralgeldgutschrift auf seinem Geschäftskonto erhalten (Diskontierung, die 10 Mark Differenz sind von der Bank einbehaltene Zinsen; der sogenannte „Diskontsatz“ beträgt hier also 1 Prozent für drei Monate bzw. 4 Prozent p.a.). Wenn die Deutsche Bank ihrerseits Bargeld benötigte, so reichte sie den Wechsel bei der Reichsbank ein (Rediskontierung) und erhielt 995 Mark in Form frisch gedruckter Banknoten. Wenn der Wechsel am 30. September fällig wurde, präsentierte die Reichsbank Siemens den Wechsel und Siemens zahlte die ursprünglich Krupp versprochenen 1.000 Mark. In diesem stark vereinfachten Beispiel wurde also für drei Monate Bargeld in Höhe von 995 Mark (gerechnet ab Juli) „geschöpft“. In der Praxis konnte Krupp den Wechsel, statt ihn bei der Deutschen Bank zu diskontieren, auch seinerseits als Zahlungsmittel verwenden, also etwa an eine Kohlenzeche zur Zahlung von geliefertem Koks weiterreichen.
56 57
Vgl. Bankgesetz vom 14. März 1875, in: Reichsgesetzblatt I (1875), S. 177–198. Vgl. Adolph Wagner (1873): System der Zettelbankpolitik mit besonderer Rücksicht auf das geltende Recht und auf deutsche Verhältnisse, Freiburg. Eine umfassende Darstellung der Inflation bietet Carl-Ludwig Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Sicht, Berlin u.a.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
39
Dies änderte sich im August 1914, als mit der Darlehenskasse neben der Reichsbank eine zweite reichsweit operierende Ausgabestelle für Papiernoten eingerichtet wurde. Die Darlehenskasse war berechtigt, gegen die Verpfändung von Edelmetallen, Schmuck oder Wertpapieren auf Mark lautende Darlehenskassenscheine herauszugeben. Diese galten zwar nicht als gesetzliches Zahlungsmittel, konnten aber ohne Schwierigkeiten in ein solches, nämlich Reichsbanknoten, umgetauscht werden, da die Reichsbank ermächtigt wurde, diese mit in die Golddeckung aufzunehmen. Das Gesamtvolumen der Darlehenskassenscheine wurde zunächst auf 1,5 Milliarden Mark beschränkt, konnte aber bei Bedarf von der Reichsregierung beliebig aufgestockt werden. So stieg der Umlauf der Darlehenskassenscheine über 6 Milliarden im Oktober 1916, 30 Milliarden im November 1918, 100 Milliarden im November 1922 auf schließlich 10 Trillionen Mark im November 1923 an.58 Durch die Aufnahme der Darlehenskassenscheine in die Golddeckung konnte diese und somit auch der Umlauf der Reichsbanknoten fortan beliebig ausgedehnt werden. Die Mark hatte ihren Stabilitätsanker verloren. Zwei Drittel der Kriegsausgaben deckte das Kaiserreich durch die Ausgabe von langfristigen Kriegsanleihen. Von dieser Form der Verschuldung bei den eigenen Bürgern geht normalerweise keine unmittelbare Inflationsgefahr aus, da bereits vorhandene Kaufkraft lediglich von den privaten Haushalten zum Staat transferiert wird. Allerdings verpfändete die Darlehenskasse auch langfristige Kriegsanleihen. Somit konnte ein Berliner Patriot, der morgens eine Kriegsanleihe für 100 Mark erworben hatte, diese mittags gegen Gebühr bei der Darlehenskasse gegen Darlehenskassenscheine lombardieren und diese wiederum nachmittags bei der Reichsbank eins zu eins gegen Banknoten eintauschen. Damit waren aus ursprünglich 100 Mark fast 200 Mark Geldumlauf geworden. Im August 1914 wurde der Reichsbank überdies erlaubt, kurzfristige Schatzanweisungen und Schatzwechsel – also Wechsel, die die öffentliche Hand ausstellte – in die Wechseldeckung des Notenumlaufs aufzunehmen. Die umlaufende Geldmenge wurde nun nicht mehr – wie zuvor – mit Gold und guten Handelswechseln „gedeckt“, sondern nun, und zunehmend, auch durch Papiere, die der Staat selbst emittierte. Somit konnte sich das Reich nunmehr auch direkt bei der Reichsbank verschulden und Kriegsfinanzierung mit der Notenpresse betreiben. Um der hierdurch hervorgerufenen Inflationsgefahr zu begegnen, ermächtigte das Gesetz, betreffend Höchstpreise vom 4. August59 die Regierung zum Erlass von Höchstpreisvorschriften. Noch im gleichen Jahr setzte man Höchstpreise für Getreide, Kartoffeln, Futtermittel und Zucker fest. Im Jahr 1915 wurden die Preise für Petroleum, Butter, Milch, Fisch, Wild und Gemüse reguliert, im Jahr 1916 für Eier, Kaffee und Tee. Da in der Kriegswirtschaft viele, aber nicht alle Preise nach oben begrenzt wurden, äußerte sich der inflationäre Prozess während des Ersten Weltkriegs teilweise als zurückgestaute, teilweise als offene Inflation. Zu Beginn der Weimarer Republik hob die Regierung die Höchstpreise und Rationierungsmaßnahmen auf. Daher kann der sich beschleunigende Preisauftrieb dieser Phase auch als nachholende Entwicklung gedeutet werden. Doch der Eindruck, dass nach Kriegsende die Preise immer nach oben gegangen seien, trügt. Aus Tabelle 3.3 wird ersichtlich, dass sowohl der Binnenwert der Mark, der sich in den 58
59
Vgl. Heinz Haller (1976): Die Rolle der Staatsfinanzen für den Inflationsprozess, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 115– 155, hier S. 122, 127. Reichsgesetzblatt I (1914), S. 516.
40
3 Das Vermächtnis des Krieges
Großhandelspreisen und den Lebenshaltungskosten widerspiegelt, als auch ihr Außenwert (Dollarkurs) Phasen mit gegenläufiger Entwicklung durchmachte. Die meisten Wendepunkte der Ab- und kurzfristigen Aufwertung des Werts der Mark fallen mit markanten politischen Ereignissen zusammen. Das Scheitern des Kapp-Putsches Mitte März 1920 stärkte die noch junge Weimarer Republik. Zwar stieg die Geldmenge (Stückgeldumlauf) weiter an, doch der Verfall des Binnenund des Außenwerts der Mark wurde gestoppt. Ein gutes Jahr lang war nicht abzusehen, ob die Geldentwertung endgültig vorüber war oder nicht. Das gewachsene Vertrauen in die politische Zukunft Deutschlands und damit auch in die Stabilität seiner Währung erhielt jedoch im Mai 1921 einen erheblichen Dämpfer, als die Alliierten im Londoner Ultimatum die Reparationssumme auf 132 Milliarden Goldmark (d.h. Mark in der alten Goldparität von vor August 1914) festlegten. Weil sie mit der vollständigen militärischen Besetzung des Ruhrgebiets drohten, stimmte die Reichsregierung dem Auszahlungsplan zu. Tabelle 3.3:
Schwankungen der Geldentwertung 1920 und 1923 (1913=1)
Zeitpunkt
Stückgeldumlauf (ME)
Dollarkurs (MD)
Großhandelspreise (MD)
Lebenshaltungskosten (MD)
1920 Feb. Juni Sep. Dez.
9,0 11,3 12,5 13,5
23,6 9,3 13,8 17,4
16,9 13,8 15,0 14,4
8,5 10,8 10,2 11,6
1921 Mai Nov.
13,5 18,0
14,8 62,6
13,1 34,9
11,3 17,8
1922 Jan. Juni Dez.
20,5 29,8 213,4
45,7 75,6 1.807,8
36,7 70,3 1.475,0
20,4 41,5 685,1
1923 März Juni Sep. Nov. Dez.
913 2.865 4,65 Mio. 65,9 Mrd. 81,8 Mrd.
5.048 26.202 23,5 Mio. 522 Mrd. 1.000 Mrd.
4.888 19.385 23,9 Mio. 726 Mrd. 1.262 Mrd.
2.854 7.650 15 Mio. 657 Mrd. 1.247 Mrd.
Anm.:
1913/14 = 1. MD – Monatsdurchschnitt, ME – Monatsende.
Quelle:
Statistisches Reichsamt (1925): Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914 bis 1923, Berlin, S. 6, 17, 46f.
Wie kann es sein, dass die Preise 1920/21 zurückgingen, obwohl die Geldmenge weiter anstieg? Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Inflationserwartungen. Ein sehr einfaches Modell zum Verhältnis von Preisniveau und Geldmenge ist die sogenannte Fisher’sche Verkehrsoder Quantitätsgleichung, die besagt, dass in jeder Periode das Volumen der mit ihren jeweiligen Preisen (P) bewerteten Güterproduktion (Y) einer Volkswirtschaft der Geldmenge (M) multipliziert mit der Geldumlaufgeschwindigkeit (V) entsprechen muss: P · Y = M · V. Durch Umformung ergibt sich dann P = M · V / Y.60 Diese tautologische Beziehung wird erst dann zur Theorie, wenn man Annahmen über die Entwicklung einzelner Variablen dieser Glei60
Vgl. Holtfrerich (1980), S. 94.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
41
chung trifft. Beispielsweise führt unter den Annahmen eines gleichbleibenden Güterangebots und unveränderter Umlaufgeschwindigkeit eine Erhöhung der Geldmenge zu einem proportionalen Anstieg der Preise. Konkret kann man sich das etwa so vorstellen, dass eine lockere Geldpolitik Unternehmen erlaubt, Forderungen nach höheren Löhnen eher nachzugeben. Die kurzfristig gestiegenen Nominallöhne erlauben dann den Haushalten, mehr Geld auszugeben, woraufhin die Ladenbesitzer wiederum mehr Spielraum für Preiserhöhungen sehen.
10.000.000.000.000,00
1.000.000.000.000,00
100.000.000.000,00
10.000.000.000,00
Logarithmische Skala (1913=1)
1.000.000.000,00
100.000.000,00
10.000.000,00
1.000.000,00
100.000,00
10.000,00
1.000,00
100,00
10,00
1,00
Großhandelspreisindex
Wechselkursindex
Geldumlaufindex (jeweils 1913=1)
Abbildung 3.1:
Binnen- und Außenwert der Mark, Geldumlaufmenge
Quelle:
Statistisches Reichsamt (1925): Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914 bis 1923, Berlin, S. 6, 17, 46f.
In Zeiten lang anhaltender Preissteigerung ist es jedoch nicht sehr realistisch, von einer unveränderten Umlaufgeschwindigkeit auszugehen. Wer Bargeld hält und erwartet, dass die Preise weiter steigen werden, wird es tunlichst schnell ausgeben, um dafür reale Güter zu erhalten – dies ist die vielzitierte „Flucht in die Sachwerte“. Das Geld wird immer schneller
42
3 Das Vermächtnis des Krieges
umgeschlagen, d.h. die Geldumlaufgeschwindigkeit erhöht sich. Somit ist sie nicht unabhängig von der erwarteten politischen Stabilität. Ereignisse wie das Londoner Ultimatum im Mai 1921, die Ermordung des Zentrumpolitikers Matthias Erzberger im August 1921 und des Außenministers Walther Rathenau im Juni 1922 und vor allem die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 ließen die Zukunft der Weimarer Republik düster erscheinen. Der Außenwert der Mark fiel sofort, die Preise stiegen leicht verzögert an. Fatal ist, dass negative Zukunftserwartungen im Zuge einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung eine erhebliche Beschleunigung des inflationären Prozesses hervorrufen können. Wenn die Bürger angesichts politischer Instabilität erwarten, dass sich die Preissteigerung auch in der Zukunft fortsetzen wird, werden sie ihr Bargeld möglichst schnell zum Kauf von wertbeständigen Gütern verwenden. Diese Verhaltensänderung führt über einen Anstieg der Umlaufgeschwindigkeit nun aber gerade zu den befürchteten weiteren Preissteigerungen, welche die pessimistischen Bürger in ihrer negativen Erwartung bestätigen und somit die Flucht in die Sachwerte weiter vorantreibt. Tatsächlich wurde die Hyperinflation in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 nicht mehr durch den Geldmengenanstieg, sondern durch die enorme Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit vorangetrieben. Was es für die Menschen 1922/23 bedeutet haben muss, mit einer derart schnellen Geldentwertung zu leben, lässt sich heute schwer vorstellen. Zunächst ist zu bedenken, dass man im Kaiserreich natürlich auch Preisänderungen kannte, doch waren diese gering und gingen in beide Richtungen. Wie Tabelle 3.2 zeigt, war das Preisniveau zwischen 1880 und 1913 kaum gestiegen. Wer seine Ersparnisse auf Sparguthaben angelegt hatte, konnte im und vor allem nach dem Krieg geradezu zusehen, wie deren Wert dahin schmolz. Das Konto einfach aufzulösen und sich an der allgemeinen Flucht in Sachwerte zu beteiligen, war nicht ohne Risiko: Wer konnte garantieren, dass die Preise weiter steigen und nicht vielleicht fallen würden, wie das 1920 und 1921 tatsächlich für jeweils einige Monate der Fall war? Auch wer sich mangels Ersparnissen über die langfristige Geldentwertung keine Gedanken machen musste, war doch gezwungen, den Lohn sofort auszugeben. Auf dem Höhepunkt der Geldentwertung wurden die Löhne statt einmal wöchentlich zweimal täglich ausgezahlt. Die Angehörigen warteten am Werkstor und gaben das Geld sofort wieder aus, da sein Wert stündlich fiel.61 Die materielle Unsicherheit des täglichen Lebens lassen die letzten beiden Zeilen in Tabelle 3.2 erahnen. Zwar erhöhten die Arbeitgeber die ausgezahlten Löhne (Nominallohn), doch hielt dies in der Regel nicht mit der Geldentwertung schritt: Die Reallöhne (Nominallohn/Lebenshaltungskosten) sanken. Ende 1918 erhielt ein Ungelernter real etwa so viel wie vor dem Krieg. Ende 1919 stand er real sogar deutlich besser da, zumal ja auch die Wochenarbeitszeit reduziert worden war. Doch in den folgenden Jahren der Hyperinflation vernichtete die Geldentwertung nicht nur den Zuwachs des Jahres 1919, sondern ließen ihn und seine Familie am Ende real sogar deutlich schlechter dastehen als 1913. Der Lebensstandard ungelernter Arbeiter und ihrer Familien lag 1913 nur knapp über dem Subsistenzniveau, man kann sich also ungefähr vorstellen, wie verzweifelt die Lage 1923 ausgesehen haben muss.
61
Den Alltag unter der Inflation hat sehr anschaulich beschrieben: Gerald D. Feldman (1993): The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, New York.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
43
Die Ursachen der Inflation waren im In- und Ausland umstritten. Die meisten Erklärungsansätze lassen sich in zwei Lager einteilen, die Zahlungsbilanztheorie (Currency theory) und die Quantitätstheorie. In ihren offiziellen Äußerungen vertraten Reichsregierung und Reichsbank die Zahlungsbilanztheorie, die als Hauptgrund für die hohe Inflation letztlich die hohen Reparationsforderungen des Auslands verantwortlich machten. Ihre Argumentation lautete wie folgt: Deutschland durfte die Reparationen natürlich nicht in der sich ständig entwertenden Mark bezahlen, sondern musste dafür Gold bzw. entsprechend bewertete Güter hergeben. Dieses Gold hätte es mit Handels- oder Dienstleistungsbilanzüberschüssen (Wert der Exporte größer als Wert der Importe) verdienen oder in Form von Nettokapitalimporten erhalten müssen. Auch weil die Alliierten Deutschland bis Januar 1925 die einseitige Meistbegünstigung aufgezwungen hatten (vgl. unten Kap. 4.3.2), so dass deutsche Exporte in die Märkte der Siegermächte mit höheren Zöllen belastet waren als umgekehrt deren Exporte nach Deutschland, war es Deutschland nicht möglich, einen Handelsbilanzüberschuss zu erzielen. Kapitalimporte fanden zwar statt, doch nicht im erwünschten Ausmaß. Dementsprechend kam es in der Inflationszeit zu keiner für die Reparationszahlungen hinreichenden Zunahme der deutschen Goldbestände. Die Reichsregierung musste daher, so ihr Argument, das für die Zahlung der Reparationen nötige Gold (in Form von Golddevisen wie den Dollar oder das britische Pfund) an den Devisenmärkten kaufen. Diese konstante Nachfrage drücke den Kurs der Mark, dies verteuere die Importe und erfordere einen höheren Kreditbedarf, der sich in vermehrtem Volumen der Handelswechsel niederschlage. Diese würden von der Reichsbank rediskontiert und somit neues Geld geschöpft. Letztlich seien also die Reparationsforderungen des Auslands schuld am desaströsen Zustand der deutschen Währung – eine politisch sehr opportune Erklärung. Zahlungsbilanz In der Zahlungsbilanz werden für einen bestimmten Zeitraum wertmäßig alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen Inländern und Ausländern erfasst. Sie gibt somit Auskunft über die ökonomische Verflechtung einer Volkswirtschaft mit dem Ausland. Die Struktur der Zahlungsbilanz: Handelsbilanz (Saldo aus Güterexporten und -importen) + Dienstleistungsbilanz (Saldo der Dienstleistungstransaktionen mit dem Ausland) = Außenbeitrag + Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen (z.B. Zinseinkommen aus dem Ausland) + Transferbilanz (z.B. Überweisungen von Gastarbeitern in ihre Heimat) = Leistungsbilanz + Kapitalbilanz (Saldo der Kapitalimporte und –exporte) = Zu-/Abnahme der Devisenbilanz (Währungsreserven der Zentralbank) Wenn alle grenzüberschreitenden Transaktionen korrekt erfasst würden (was nie der Fall ist), ist die Zahlungsbilanz qua Definition ausgeglichen. Ein einfaches Beispiel soll dies veranschaulichen: Wenn in einem Jahr deutsche Exporteure für 5 Milliarden RM ins Ausland liefern, deutsche Importeure aber für 10 Milliarden von dort Waren beziehen, weist die Leistungsbilanz ein Defizit von 5 Milliarden aus. Übersteigen im selben Jahr die Kapitalimporte die Kapitalexporte um 6 Milliarden RM, so nehmen die Devisenreserven der Reichsbank um den Gegenwert von 1 Milliarden RM zu.
44
3 Das Vermächtnis des Krieges
Tatsächlich zeigt Abbildung 3.1, dass der Außenwert der Mark (Devisenkurs des Dollar) zeitlich meist dem Binnenwert (Großhandelspreise) voranlief. Gleichwohl überzeugt das zahlungsbilanztheoretische Argument wenig, denn es erklärt nicht die rapide Geldentwertung vor dem Bekanntwerden der hohen alliierten Reparationsforderungen im Juni 1919. Außerdem wurde vor Inkrafttreten des Dawes-Plans im August 1924 ein immer höherer Anteil der Reparationen in Form von Sachlieferungen gezahlt, d.h. das Reich benötigte immer weniger Gold(devisen).62 Heute wird daher überwiegend die oben bereits mit der Fisher’schen Verkehrgleichung skizzierte Quantitätstheorie zur Erklärung der Hyperinflation herangezogen. Bereits im Krieg finanzierte die Reichsleitung die Rüstung in immer stärkerem Umfang über die Notenpresse, insbesondere nachdem die Kriegsanleihen seit 1917 nicht mehr auf das erhoffte Publikumsinteresse gestoßen waren. Nach dem Krieg führte die Erfahrung stetig steigender Preise, wie oben beschrieben, zu einem Anstieg der Umlaufgeschwindigkeit, was die Inflation wiederum weiter anheizte. Zunächst war keine Reichsregierung stark genug, den Preisauftrieb zu stoppen, wenn er sich durch die oben beschriebenen politischen Ereignisse beschleunigte bzw. nach einer kurzen gegenläufigen Periode wieder einsetzte. Eine Rückkehr zu stabilen Währungsverhältnissen, insbesondere eine Wiederankopplung der Mark an den Goldstandard, hätte eine strikt am Geldwert orientierte Politik erfordert, die die reale Wirtschaft zumindest kurzfristig abgewürgt, zu Arbeitslosigkeit geführt und somit massiven politischen Widerstand hervorgerufen hätte. Das Weiterlaufenlassen der Inflation hingegen führte zu einer vergleichsweise friktionsarmen Entschuldung des Reichs, dessen Schulden nominell waren („Mark gleich Mark“). Die Weimarer Demokratie stand auf zu schwachen Füßen, um ihren Wählern eine offene Diskussion um die Begleichung der Kriegs- und Kriegsfolgeschulden zuzumuten.
Abbildung 3.2:
62
Notgeld der Reichsbahndirektion Erfurt vom 12. August 1923
Vgl. Steven B. Webb (1986): Government Revenue and Spending in Germany, 1919 to 1923, in: Gerald D. Feldman, Gerold Ambrosius und Carl-Ludwig Holtfrerich (Hg.): Die Anpassung an die Inflation, Berlin, S. 46–82, hier S. 68f.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
45
Erst als die Inflation infolge der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 und die anschließende Ausrufung des passiven Widerstands völlig aus dem Ruder lief, war die Schmerzgrenze erreicht. Die Mark war nun ihrer klassischen Geldfunktionen weitestgehend beraubt. Renten-, später Reichsmark 1924
Währung
Mark 1923
Zahlungsmittel
sehr eingeschränkt, da vielfach nicht mehr akzeptiert
uneingeschränkt
Recheneinheit
eingeschränkt wegen ständiger Preisanpassungen
uneingeschränkt
Wertaufbewahrung
nicht mehr vorhanden
uneingeschränkt
Abbildung 3.3:
Die klassischen Funktionen des Geldes
Die Wertaufbewahrungsfunktion hatte sie komplett verloren, als Recheneinheit fungierte sie nur noch mit großen Einschränkungen. Spätestens dann, als sich Landwirte weigerten, ihre Ernte gegen die wertlos gewordenen Banknoten einzutauschen, wurde die Mark auch ihrer Aufgabe als Zahlungsmittel nicht mehr gerecht. Im Zuge der durch die beschleunigte Umlaufgeschwindigkeit hervorgerufenen Hyperinflation wurde der reale Geldumlauf (M/P) paradoxerweise immer geringer, was bedeutete, dass den Marktteilnehmern in zunehmendem Maße die Banknoten fehlten, um die explodierenden Güterpreise zu bezahlen. Da die für die Reichsbank arbeitenden Druckereien mit der Produktion immer neuer Banknoten mit immer höheren Nominalwerten dem Tempo der Geldentwertung nicht mehr nachkamen, entschlossen sich immer mehr Kommunen und Firmen, eigenes Notgeld zu emittieren. Abbildung 3.2 zeigt einen von der Reichsbahndirektion Erfurt herausgegebenen Fünf-Millionen-Mark Schein. Der Blick auf das Kleingedruckte lohnt. Es handelt sich hier nicht um gesetzliches Zahlungsmittel, sondern um einen „Gutschein“, der an den Kassen der Reichsbahn in Zahlung genommen wurde und dessen Einlösung in „echtes“ Geld, nämlich Reichsbanknoten, für einen zukünftigen Zeitpunkt in Aussicht gestellt wurde. Die täglichen Löhne wurden mit Notgeld ausgezahlt, und auch die lokalen Geschäfte mussten das Notgeld notgedrungen akzeptieren, wollten sie ihre Kunden nicht verlieren. Den vollständigen Zusammenbruch des Geldsystems konnte die Ausgabe von Notgeld allerdings nur verzögern. Im Frühherbst 1923 erschütterten politische Unruhen die Republik, die längst schuldenfrei war. Eine neue Währung musste geschaffen werden, die das Vertrauen der Bürger und des Auslands genoss. In dieser Situation gründete die Reichsregierung mit Unterstützung des designierten Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht am 15. Oktober 1923 die Deutsche Rentenbank, die zum 20. November 1923 eine neue Währung einführte, die Rentenmark, die einer Billion Papiermark entsprach. Obwohl auch die Rentenmark kein gesetzliches Zahlungsmittel war und es keinen Annahmezwang gab, setzte sie sich sofort durch, so dass man vom „Wunder der Rentenmark“ sprach. De jure wurde die Rentenbank als ein Institut der privaten Wirtschaft gegründet, dessen Anteilseigner sich aus der deutschen Landwirtschaft und der deutschen Industrie einschließlich
46
3 Das Vermächtnis des Krieges
Handel und Banken rekrutieren sollten. Die Beteiligung an der Rentenbank erfolgte jedoch nicht freiwillig, sondern wurde vom Staat erzwungen: Landwirtschaft und Industrie hatten zu gleichen Teilen das Geschäftskapital der Rentenbank in Höhe von 3,2 Milliarden Goldmark aufzubringen. Es musste aber keine tatsächliche Einzahlung des Kapitals erfolgen. Vielmehr wurden die Landwirtschaft mit einer Grundschuld und die Industrie mit Schuldverschreibungen von jeweils 1,6 Milliarden Goldmark belastet. Diese Schuldpapiere bildeten die Aktiva der Rentenbank und waren von den Schuldnern mit 6 Prozent jährlich zu verzinsen. Da die Teilnahme an der Rentenbank obligatorisch war, hatten diese Zinszahlungen den Charakter einer Steuer. In Höhe ihrer Aktiva stellte die Rentenbank Rentenbriefe aus, die auf Goldmark lauteten und jährlich mit 5 Prozent verzinst wurden. Diese Rentenbriefe dienten als Deckung der Rentenmarkemission und begrenzten den Rentenmarkumlauf, da das Austauschverhältnis auf 1 Goldmark gleich eine Rentenmark festgelegt wurde, auf 3,2 Milliarden Rentenmark. Nach der Einführung der Rentenmark, die die bereits umlaufenden Reichsbanknoten und das Notgeld nicht ersetzte, sondern ergänzte, verringerte sich die Umlaufgeschwindigkeit erheblich. Wie war das möglich? Hatte man nicht einfach nur zwölf Nullen gestrichen? Die Rentenbank war verpflichtet, Rentenmarkguthaben ab 500 Rentenmark gegen verzinsliche Rentenbriefe einzutauschen, deren Wertbeständigkeit letztendlich durch das Realvermögen (Grund und Boden, Industrieanlagen) der deutschen Wirtschaft garantiert wurde. Diese vermeintliche Deckung war vor allem psychologisch wichtig: So lange der Besitzer eines Rentenmarkscheins darauf vertrauen konnte, dass er diesen jederzeit gegen ein Wertpapier eintauschen konnte, dass die Wirtschaftskraft Deutschlands repräsentierte, bestand gerade keine Notwendigkeit, dies tatsächlich zu tun. Die Flucht in die Sachwerte stoppte und die Umlaufgeschwindigkeit der Rentenmark sank. Da die Reichsbank Mark gegen Rentenmark im Verhältnis 1 Billion Mark gleich 1 Rentenmark umtauschte, übertrug sich das neu gewonnene Vertrauen auch auf die Mark. Die Inflation kam zum Stillstand. Entscheidend für die Stabilität der neuen Währung war aber die restriktive Kreditpolitik der Reichsbank, die der Regierung bereits im Dezember 1923 einen Kredit verweigerte und die Zinsen hoch setzte. Dies schuf weiteres Vertrauen in die neue Währung, die dann im August 1924 in Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Dawes-Plans durch die Reichsmark im Verhältnis 1:1 ersetzt wurde. Die Reichsmark war zur Vorkriegsparität an Gold gekoppelt und stand damit wieder im Verhältnis 4,20 RM zu einem Dollar.63 Seit Ende 1923, spätestens seit August 1924 hatte Deutschland also wieder eine stabile, an Gold gekoppelte Währung. In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung der Weimarer Republik wird dies als wichtige Zäsur angesehen. Viele wirtschaftsstatistische Zeitreihen, die 1913 aufhören, setzen 1924 wieder ein oder beginnen erst zu diesem Zeitpunkt. Trotz der schlechten Datenlage lässt sich zumindest im Allgemeinen recht gut sagen, wer als Gewinner und wer als Verlierer durch die Zeit der Inflation kam. Wer nominell denominierte Vermögensbestandteile besaß (Bargeld, Sparguthaben, Staatsanleihen, andere festverzinsliche Wertpapiere etc.) und diese hielt, musste deren Entwertung miterleben. Wer hingegen reales Vermögen oder Anteile daran (Grund und Boden, Gebäude, Aktien, Kunstwerke, Schmuck etc.) besaß und hielt oder rechtzeitig erwarb, kam vergleichsweise gut durch die
63
Vgl. Otto Pfleiderer (1976): Die Reichsbank in der Zeit der großen Inflation, die Stabilisierung der Mark und die Aufwertung von Kapitalforderungen, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 157–201, hier S. 189–192.
3.2 Die Zeit der Inflation: Verlauf, Ursachen und Überwindung
47
Inflationsjahre. Es war lohnenswert, sich zu verschulden – ein krasser Bruch mit dem tradierten bürgerlichen Wertekanon, der „Schuldenmachen“ verurteilte. Man wird insgesamt annehmen können – genaue Untersuchungen gibt es nicht – dass Kleinsparer eher zu den relativen Verlierern, wohlhabende Schichten eher zu den relativen Gewinnern gezählt haben dürften. Geschwächt waren allerdings auch viele Angehörige des Bürgertums, deren Gehälter und Pensionen real stärker heruntergesetzt wurden, als die einfacher Angestellten und kleiner Beamten.64 Eine sozioökonomische Schicht wurde sogar bis fast zum Verschwinden dezimiert, die der Rentiers, also von Menschen, die von erspartem oder vererbtem Kapital lebten. Wenn dieses vor dem Krieg typischerweise in als wertbeständig angesehenen nominell denominierten Vermögensanlagen gebunden gewesen war und sie nicht rechtzeitig die Flucht in die Sachwerte angetreten hatten, verloren sie ihre Ersparnisse komplett. Faktisch erlebte Deutschland 1923 einen Staatsbankrott. Die Währungsreform der Jahre 1923/24 leitete einen Neuanfang ein, sie war aber auch ein staatlicher Enteignungsakt, der es dem Staat erlaubte, seine inländischen Schulden ganz zu streichen. Die Kosten des Krieges waren damit bewältigt – was das Inland anging. Die finanziellen Kriegsfolgen im Ausland ließen sich nicht durch eine Reform streichen und sollten vielmehr in den Folgejahren zu einer wirtschaftlichen und politischen Hypothek werden, die mit entscheidend für den Untergang der Weimarer Republik werden sollte.
64
Vgl. Rainer Fattmann (2001): Bildungsbürger in der Defensive. Die akademische Beamtenschaft und der „Reichsbund der höheren Beamten“ in der Weimarer Republik, Göttingen, S. 113–119.
4
Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Zwischen der Überwindung der Inflation 1923/24 und der einsetzenden Wirtschaftskrise um 1929 erlebte die Weimarer Republik etwa fünf Jahre scheinbarer wirtschaftlicher Blüte. Von 1924 bis 1928 stieg das reale Pro-Kopf-Einkommen um jahresdurchschnittlich sechs Prozent – die Weimarer Republik schien dort weiterzumachen, wo das Kaiserreich aufgehört hatte. Wie wir heute wissen, überstieg 1927 der Wohlstand in Deutschland den von 1913. Tabelle 4.1:
Wirtschaftliche Indikatoren 1924 bis 1929 1913
1924
1925
1926
1927
1928
1929
a) BIP pro Kopf (M, in Preisen von 1913)
845
759
810
815
892
916
897
b) Arbeitslose (Mio.)
n.v.
0,91
0,65
2,01
1,35
1,35
1,89
ca. 15,0
n.v.
14,5
14,5
15,7
15,5
14,4
ca. 9,0
n.v.
0,2
2,2
4,2
3,3
3,3
c) Bruttoinvestitionsquote (in % des BIP) d) Rentabilität (Gewinn in % des Eigenkapitals) Quellen:
a) Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 51 (1913 Bruttonationaleinkommen pro Kopf); b) Institut für Konjunkturforschung (Hg.) (1933): Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, Berlin, S. 15; c) Mark Spoerer (1997): Weimar’s Investment and Growth Record in Intertemporal and International Perspective, in: European Review of Economic History 1, S. 283; d) Mark Spoerer (1996): Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart, S. 147.
4.1
Die Weimarer Konjunktur zwischen Inflation und Krise
Auch die Zeitgenossen spürten die wirtschaftliche Wiederbelebung, die allerdings von konjunkturellen Einbrüchen durchsetzt war. Der nach der Währungsreform einsetzende Aufschwung machte sich nach der Jahreswende 1923/24 in steigenden Preisen bemerkbar, so dass sich die Reichsbank zu einer restriktiven Geldpolitik veranlasst sah. Dies führte zu einer Reihe von Unternehmenszusammenbrüchen. Als mit dem Inkrafttreten des DawesPlans ab Spätsommer 1924 wieder Auslandskapital ins Land kam, belebte sich die Konjunktur spürbar – und auch die Lohnforderungen. Doch die strikte Kreditpolitik der Reichsbank erlaubte den Unternehmen wenig Spielraum. Der spektakulärste Zusammenbruch war Ende Mai 1925 die Zahlungsunfähigkeit des Stinnes-Konzerns, eines vor allem in der Inflationszeit angewachsenen Imperiums mit über 1.500 Unternehmen.65
65
Vgl. Feldman (1998), S. 935–950.
50
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Die Reaktion der Reichsregierung auf die Krise von 1925/26 gilt als Beginn der staatlichen Konjunkturpolitik in Deutschland. Natürlich hatte es schon vorher wirtschaftspolitische Reaktionen des Staates auf konjunkturelle Einbrüche gegeben, doch die im Frühjahr 1926 beschlossenen Maßnahmen waren bemerkenswert. Auf der Angebotsseite senkte die Regierung die Steuern, auf der Nachfrageseite legte sie Investitionsprogramme für die Reichsbahn, die Reichspost, sowie für den Straßen-, Wasserstraßen- und Wohnungsbau auf. Inwieweit diese Maßnahmen Wirkung zeigten oder gezeigt hätten, ist unklar, denn der Bergarbeiterstreik in Großbritannien bescherte deutschen Unternehmen ab Mai 1926 viele Aufträge. Wie Tabelle 4.1 zeigt, war 1927 das dynamischste Jahr der Weimarer Konjunktur. Das reale BIP pro Kopf stieg gegenüber dem Vorjahr um fast zehn Prozent, und die Zahl der Arbeitslosen ging um ein Drittel zurück. Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote war ähnlich hoch wie im Durchschnitt der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Allerdings lagen nun die staatlichen Investitionen etwa auf gleicher Höhe wie die der privatwirtschaftlichen Unternehmen, deren Profitabilität selbst auf dem Höhepunkt der Weimarer Konjunktur nicht die Werte von vor 1914, nach 1933 oder nach 1948 erreichen konnte.66 Die gestiegene wirtschaftliche Bedeutung des Staates hatte mehrere Ursachen. Zum einen setzte sich der Ausbau des Wohlfahrtsstaats, den (auf Reichsebene) Bismarck in den 1880er Jahren geschaffen hatte, verstärkt fort. Von nachhaltiger Bedeutung war 1927 die Schaffung der vierten Säule der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung. Bis dahin hatten Erwerbslose keinen automatischen Rechtsanspruch auf öffentliche Unterstützung; vielmehr mussten sie Bedürftigkeit nachweisen, um Erwerbslosenfürsorge erhalten zu können. Die am 1. Januar 1928 in Kraft tretende Arbeitslosenversicherung verankerte nun einen Rechtsanspruch, den erwarb, wer in den der Arbeitslosigkeit vorangegangenen zwölf Monaten mindestens 26 Wochen einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen war. Die Beiträge waren je hälftig von Arbeitgeber und –nehmer zu tragen und gingen an die neugegründete Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.67 Der Ausbau des Wohlfahrtsstaats, insbesondere auch die starke Ausweitung des staatlichen Wohnungsbaus, und die enormen inneren und äußeren Kriegslasten führten zu einer starken Ausweitung der Staatsausgaben, die auch nicht durch die erzwungenen Einsparungen beim Militär kompensiert werden konnten – im Versailler Vertrag waren Reichswehr und Marine auf maximal 115.000 Mann begrenzt worden (vgl. auch unten Kapitel 4.3.3). Insgesamt stieg die Staatsquote in der Weimarer Republik von 14 auf 22 Prozent des Bruttonationaleinkommens an, wie Tabelle 4.2 zeigt, in der die Ausgaben aller Gebietskörperschaften (Reich, Länder, Gemeindeverbände und Gemeinden) zusammengefasst sind.
66 67
Vgl. Mark Spoerer (1996): Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart, S. 159f. Vgl. Karl C. Führer (1990): Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902–1927, Berlin; Peter Lewek (1992): Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918–1927, Stuttgart.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung Tabelle 4.2:
51
Gesamtstaatliche öffentliche Ausgaben 1913/14 und 1927/28 (in Prozent) 1913/14
1927/28
Allgemeine Verwaltung
5,7
4,8
Finanz- und Steuerverwaltung
3,5
3,8
33,2
11,9
Äußere und innere Sicherheit davon Militär
25,4
4,1
Bildungswesen
19,4
15,4
Wohlfahrtswesen
9,6
16,7
Wohnungswesen
0,4
8,7
14,2
11,4
Innere Kriegslasten
0,9
10,2
Äußere Kriegslasten
0,0
9,5
Wirtschaft und Verkehr
Sonstiges Gesamtausgaben (Mio. M/RM) Staatsquote (Gesamtausgaben/Bruttonationaleinkommen in Prozent)
13,1
7,6
8.063
18.771
14,2
22,3
Anm.:
jeweiliger Gebietsstand, 1927/28 ohne Saargebiet.
Quellen:
Statistisches Reichsamt (1930): Die deutsche Finanzwirtschaft vor und nach dem Kriege nach den Hauptergebnissen der Reichsfinanzstatistik, Berlin, S. 5, 16, 100f. Staatsquote berechnet nach ebda. und Angaben in Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 51.
Schon im Kaiserreich war die Finanzverfassung wegen der schwachen Stellung des Reiches als sehr reformbedürftig angesehen worden. Die nach dem Krieg anstehende Notwendigkeit, die Reparationen aufzubringen, erlaubte dem energischen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, 1919/20 in einer grundlegenden Reform die fiskalische Stellung des Reichs zu stärken. Institutioneller Anker der Zentralisierung der Reichsfinanzen wurde das Reichsschatzamt, aus dem Erzberger 1919 das Reichsfinanzministerium machte und dem er die bestehenden Finanzämter unterstellte. Vor allem die Übernahme und Vereinheitlichung der aufkommensstarken Einkommensteuer durch das Reich war von großer fiskalischer Bedeutung. Insgesamt bewirkte Erzberger eine Zentralisierung der Reichsfinanzen zu Lasten der Länder und Gemeinden.68
4.2
Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
Die 1920er Jahre waren in Deutschland durch eine ausgeprägte Fortschritts- und Rationalisierungseuphorie geprägt. Im Ersten Weltkrieg war eine Vielzahl von Technologien und Verfahren weiter oder neu entwickelt worden, die nun auch im zivilen Bereich Anwendung finden sollten. In den zeitgenössischen Medien besonders präsent war die Luftfahrt, doch die
68
Vgl. Hans-Peter Ullmann (2005): Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, München, S. 101–103.
52
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
ökonomisch bedeutsamsten Innovationen sind anderen Branchen zuzuordnen, insbesondere den Wachstumsindustrien Chemie und Elektrotechnik. Die meisten Wirtschaftshistoriker vertreten die Auffassung, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur durch die Entwicklung immer neuer Innovationen gewährleistet werden kann. Gregory Clark schätzt beispielsweise, dass etwa drei Viertel der seit 1800 in der industrialisierten Welt beobachtbaren Wohlstandssteigerungen auf die beständige Verbesserung der verwendeten Produktionstechnologien zurückzuführen sind.69 Eine empirische Überprüfung solcher Thesen setzt allerdings voraus, dass man dazu in der Lage ist, Umfang und wirtschaftlichen Wert von Innovationen möglichst genau zu messen. In der Literatur werden verschiedene Maßzahlen vorgeschlagen, die das eigentliche Untersuchungsobjekt, die Innovationen einer Volkswirtschaft, alle nur annährungsweise erfassen und jeweils spezifische Vor- und Nachteile aufweisen.70 Forschungs- und Entwicklungsausgaben messen den Aufwand, der in Form von privaten und öffentlichen Ausgaben für wissenschaftliches Personal, Gebäude, Versuchsanlagen und Instrumente zur Erstellung von Innovationen erbracht wird. Da nicht jeder Aufwand auch tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führt und sich gerade Innovationsprozesse unter großer Unsicherheit vollziehen, ist dieses Maß allerdings wenig geeignet, den erzielten Output der Innovationsanstrengungen hinreichend genau zu messen. Zudem liegen solche Inputdaten meistens erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Manche Autoren ziehen es deshalb vor, auf Grundlage zeitgenössischer Fachliteratur Listen wichtiger Innovationen zusammenzustellen.71 Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass alle Innovationen erfasst werden, die den Zeitgenossen als bedeutend erschienen, unabhängig davon, ob sie patentiert wurden oder nicht. Von Nachteil ist, dass diese Zusammenstellungen sich in der Regel auf wichtige und anschaulich darstellbare Basisinnovationen konzentrieren und damit den Einfluss vieler kleiner und technologisch komplexer Verbesserungen, die in ihrem Zusammenwirken ungleich bedeutendere Wirkung hatten, vernachlässigen. Ein bevorzugtes Innovationsmaß sind daher Patentstatistiken, da diese meist für lange Zeiträume vorliegen und mit vergleichsweise geringen Mühen zu erschließen sind. Aber auch Patentdaten haben ihre Schwächen. Zum einen werden diejenigen Innovationen vollständig übersehen, die niemals zum Patent angemeldet wurden. Diese Gruppe ist nicht unerheblich, da es manche Erfinder vorziehen, ihre Innovationsgewinne durch Geheimhaltung der technischen Spezifikationen ihrer Neuerung zu realisieren. Vielleicht noch problematischer ist der Sachverhalt, dass reine Patentstatistiken nicht zwischen den vergleichsweise wenigen Patenten mit hohem wirtschaftlichen Wert und den vielen, letztendlich folgelosen Erfindungen unterscheiden. Viel Aufwand wird daher betrieben, die wertvollen Patente von den wertlosen zu unterscheiden. Die für aktuelle Patentdaten gängigste Methode besteht heute darin, den Wert eines Patents daran zu bemessen, wie oft es in nachfolgenden Patentschriften zitiert
69 70
71
Vgl. Gregory Clark (2007): A Farewell to Alms: A Brief History of the World, Princeton, S. 199f. Vgl. Mark Spoerer, Jörg Baten und Jochen Streb (2007): Wissenschaftlicher Standort, Quellen und Potentiale der Innovationsgeschichte, in: Rolf Walter (Hg.): Innovationsgeschichte, Stuttgart, S. 39–59. Vgl. Rainer Metz und Oliver Watteler (2002): Historische Innovationsindikatoren. Ergebnisse einer Pilotstudie, in: Historical Social Research 27, S. 4–129.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
53
wurde. Solche Patentzitationen waren vor dem Zweiten Weltkrieg selten.72 Deshalb konzentrieren sich Wirtschaftshistoriker auf zwei andere Methoden, wertvolle Patente zu identifizieren. Erstens deuten sie im Ausland angemeldete Patente im Vergleich zu Patenten, die nur für den Heimatmarkt erworben werden, als vergleichsweise wertvoll, weil der Patentnehmer die nicht unerheblichen Kosten für die zusätzlichen Auslandspatente nur dann aufwenden wird, wenn sich die betreffenden Erfindungen bereits auf dem Heimatmarkt als besonders profitabel erwiesen haben. Heute interpretiert man Innovationen, die in den Vereinigten Staaten bzw. in der NAFTA-Zone (North American Free Trade Agreement), in der Europäischen Union und in Japan patentiert wurden, die sogenannten Triade-Patente, als besonders wertvoll. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stehen in der Forschung diejenigen europäischen Patente im Fokus des Interesses, die auch in den USA angemeldet wurden, da auf dem großen Binnenmarkt des globalen Produktivitätsführers nur technisch ausgereifte Neuerungen bestehen konnten. Wenn ein nationales Patentsystem eine jährlich anfallende Verlängerungsgebühr vorsieht, kann, zweitens, auch aus der Laufzeit eines Patents auf seinen ökonomischen Nutzen geschlossen werden, da ein rationaler Patenthalter sein Patent nur dann verlängern wird, wenn die erwarteten zukünftigen Erträge die Kosten der Verlängerung überschreiten. In Deutschland funktionierte dieser Mechanismus: Die meisten Patente wurden bereits nach einer Laufzeit von drei bis fünf Jahren aufgegeben; nur ein geringer Prozentsatz erreichte die damals maximal mögliche Lebensdauer von fünfzehn Jahren. Mitte der 2000er Jahre bauten Jörg Baten und Jochen Streb eine Patentdatenbank auf, die mit etwa 66.500 Patenten alle in Deutschland an In- und Ausländer gewährten Patente umfasst, die zwischen 1877, dem Inkrafttreten des reichsweiten Patentgesetzes und 1932, dem Ende der Weimarer Republik, ausgegeben und mindestens zehn Jahre gehalten wurden. Dieser Datensatz erlaubt es, die Verteilung der wertvollen Patente über geographische Räume und technologische Felder im Detail zu untersuchen.73 Eine bisher auch in den Wirtschaftswissenschaften weitgehend vernachlässigte Tatsache ist, dass das (mit Hilfe von Patentstatistiken) gemessene Innovationspotential sehr ungleichmäßig über den geographischen Raum verteilt ist. Wenige Volkswirtschaften dominieren die globalen Patentaktivitäten; und zoomt man in diese innovativen Volkswirtschaften, sind es wiederum vergleichsweise wenige Regionen, seien es Regierungsbezirke oder Stadt- und Landkreise, die den Löwenanteil der nationalen Patente hervorbringen. Innerhalb dieser kleinen Räume ist es schließlich nur eine kleine Gruppe von wenigen Unternehmen und privaten Erfindern, die für die Patentaktivitäten verantwortlich sind, die oftmals zu leichtfertig den Besonderheiten eines nationalen Innovationssystems zugeschrieben werden. Tabelle 4.3 zeigt die wichtigsten Herkunftsländer der von Ausländern gehaltenen Patente in Deutschland für drei verschiedene Zeitabschnitte. Dabei genügen die für die Jahre 1877– 72
73
Nuvolari und Tartari unternehmen den methodisch sehr interessanten Versuch, den Wert der zwischen 1617 und 1841 gewährten englischen Patente anhand ihrer Nennung in technischen und juristischen Fachzeitschriften zu bestimmen. Vgl. Alessandro Nuvolari und Valentina Tartari (2011): Bennet Woodcroft and the Value of English Patents, 1617–1841, in: Explorations in Economic History 48, S. 97–115. Vgl. Jochen Streb, Jörg Baten und Shuxi Yin (2006): Technological and Geographical Knowledge Spillover in the German Empire, in: Economic History Review 59, S. 347–373.
54
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
1914 und 1918–1932 ausgewiesenen und der Baten/Streb-Datenbank entnommenen Patente beiden gebräuchlichen Kriterien zur Überprüfung ihres hohen privaten Werts. Sie stellen aus Sicht der Patentnehmer ein Auslandspatent dar und sie wurden trotz jährlich anfallender und sukzessive ansteigender Verlängerungsgebühren mindestens zehn Jahre gehalten. Die einer Veröffentlichung von Kurt Hafner entnommenen Daten für das Jahr 2001 wurden nicht nach dem Kriterium Lebensdauer selektiert. Tabelle 4.3:
Die wichtigsten Herkunftsländer ausländischer Patentnehmer in Deutschland (Zahl der Patente)
Wertvolle Patente 1877–1914
Wertvolle Patente 1918–1932
Alle Patente 2001
Vereinigte Staaten (2.673)
Vereinigte Staaten (2.193)
Vereinigte Staaten (85.615)
Großbritannien (1.658)
Schweiz (996)
Japan (32.150)
Frankreich (1.394)
Großbritannien (668)
Großbritannien (13.479)
Österreich-Ungarn (895)
Frankreich (586)
Frankreich (11.744)
Schweiz (891)
Schweden (361)
Niederlande (7.738)
Belgien (364)
Österreich (268)
Schweden (7.292)
Schweden (316)
Niederlande (244)
Italien (5.055)
Tschechoslowakei (201)
Tschechoslowakei (231)
Kanada (4.055)
Italien (172)
Italien (173)
Finnland (3.508)
Dänemark (163)
Belgien (149)
Australien (3.478)
Quellen:
Harald Degner und Jochen Streb (2010): Foreign Patenting in Germany, 1877–1932 (FZID Discussion Paper 21), Stuttgart-Hohenheim; Kurt Hafner (2008): The Pattern of International Patenting and Technology Diffusion, in: Applied Economics 40, S. 2819–2837. Für 2001 gibt Hafner keine Daten für die Schweiz an.
Der auffälligste Befund ist die persistente technologische Führerschaft weniger Volkswirtschaften. Die USA, Großbritannien und Frankreich haben die ausländische Patentaktivitäten in Deutschland (und anderswo) während der letzten 120 Jahren dominiert, was sich nicht nur in ihren durchgängig vorderen Rangziffern, sondern vor allem auch in ihrer vergleichsweise hohen Zahl von (wertvollen) Patenten zeigt.74 Schaut man zum Vergleich auf den amerikanischen Patentmarkt ist diese Gruppe noch durch Deutschland zu ergänzen, dessen einheimische Patente in Tabelle 4.3 definitionsgemäß nicht ausgewiesen sind. Die einzige Volkswirtschaft, der es gelungen ist, während des 20. Jahrhunderts zum Innovationspotential der ursprünglichen vier großen Innovatoren aufzuschließen, ist Japan. Wenn es einerseits richtig ist, dass das nachhaltige Wachstum entwickelter Volkswirtschaften nur durch die beständige Verbesserung von Technologien ermöglicht wird, und andererseits der hierfür notwendige, niemals abreißende Strom von Innovationen nur von einer kleinen Gruppe von Volkswirtschaften hervorgebracht wird, ist der Schluss zwingend, dass die meisten anderen Industriestaaten nur durch anhaltende Imitation ausländischer Technologien ihr Wachstumstempo
74
Die extreme Ungleichverteilung des Innovationspotentials lässt sich auch auf den untergeordneten Ebenen nachweisen. Beispielsweise war der Großteil der britischen Besitzer deutscher Patente im Großraum London ansässig, darunter unter anderem dominierend die Westinghouse Brake Company oder Marconi’s Wireless Telegraph Co Ltd.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
55
aufrecht erhalten können.75 Folgerichtig ist dann zu fragen, über welche Strategien diese Imitation erfolgt. Ralf Richter und Jochen Streb untersuchen die Imitationsstrategien deutscher Werkzeugmaschinenbauer, die nach dem Ersten Weltkrieg angesichts verringerter internationaler Wettbewerbsfähigkeit ihre im 19. Jahrhundert eingeübte Gewohnheit wieder aufnahmen, innovative amerikanische Werkzeugmaschinen nachzubauen und auf dem deutschen Markt zu vergleichsweise niedrigen Preisen zu verkaufen.76 Die genutzten Imitationsstrategien waren vielfältig: Amerikanische Werkzeugmaschinen wurden in geringen Stückzahlen importiert, zerlegt und auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse dieses Reverse engineering nachgebaut. Informationen beschaffte man sich auch durch den Besuch ausländischer Messen und kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse in den innovativen ausländischen Unternehmen, durch die Lektüre von Patentschriften und durch das Anheuern ausländischer Facharbeiter und Ingenieure. Den amerikanischen Unternehmen waren diese Aktivitäten ihrer deutschen Konkurrenten durchaus bewusst und sie versuchten, sich gegen die Imitation durch den Erwerb deutscher Patente zu schützen. Augenscheinlich unterstützte jedoch das deutsche Patentamt die Imitationsbemühungen der deutschen Unternehmen durch das Verschleppen ausländischer Patentanträge. Zwischen 1919 und 1925 lagen im Falle eines Patentantrags durch einen deutschen Werkzeugmaschinenbauer zwischen der Einreichung und der Gewährung eines Patents durchschnittlich 1,7 Jahre, während ein amerikanisches Unternehmen eine Wartezeit von 3,7 Jahren hinnehmen musste. Nachdem der deutschen Werkzeugmaschinenindustrie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre der technologische Anschluss wieder gelungen war, verkürzten sich diese Wartezeiten für amerikanische Unternehmen beträchtlich. Im Inland erstmalig eingesetzte Innovationen, seien sie selbst entwickelt oder von den jeweiligen Technologieführern imitiert, beziehen sich nicht nur auf neue Produkte, sondern oftmals auch auf neue Produktionsmethoden zur Herstellung schon bekannter Erzeugnisse. Letztere sind in aller Regel kurzfristig kostspielig, sparen jedoch langfristig Arbeitskosten ein. Angesichts einer Lohnentwicklung in der Weimarer Republik, die aus Sicht des Arbeitgeberlagers weit über der Entwicklung der Produktivität lag, bekam die Einführung arbeitssparender Technologien für sie besondere Bedeutung. Die Substitution von Arbeit durch Kapital (arbeitssparende Maschinen) rückte für die Unternehmen einen Punkt besonders in ihr Augenmerk, die Chancen und Gefahren der Fixkostendegression: Je stärker man eine neue Anlage auslasten kann, desto mehr verteilen sich die hohen Anschaffungskosten auf die produzierte Stückzahl, und desto eher kann man die Konkurrenz unterbieten. Geht die Auslastung der Anlage jedoch zurück, so bleibt man auf hohen Fixkosten sitzen, die man nicht auf die Kunden abwälzen kann, da sonst der Produktpreis zu hoch würde.
75
76
Diese Auffassung wird beispielsweise vertreten von Jonathan Eaton und Samuel Kortum (1996): Trade in Ideas: Patenting and Productivity in the OECD, in: Journal of International Economics 40, S. 251–278. Vgl. Ralf Richter und Jochen Streb (2011): Catching-Up and Falling Behind: Knowledge Spillover from American to German Machine Tool Makers, in: Journal of Economic History 71, S. 1006– 1031.
56
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Fixkostendegression Das in einer arbeitsintensiven Branche hergestellte Produkt wird in vielen kleinen Betrieben manuell hergestellt. Hat ein Unternehmen viele Aufträge, so stellt es viele Arbeiter ein, hat es wenige, so entlässt es Arbeiter. Die Stückkosten pro Produkt betragen immer 100 RM (je 50 RM Lohn und Material). Liegt der Preis darüber, so lohnt die Produktion. Aktuell beträgt der Jahresabsatz der Branche 10.000 Einheiten. Nun führt ein besonders innovatives Unternehmen eine arbeitssparende Technologie ein. Die Fabrik kostet 1 Mio. RM (Fixkosten) und hat eine Kapazität von 10.000 Einheiten pro Jahr. Die Technologie ersetzt 80 Prozent der Arbeitskräfte, der Materialverbrauch ist derselbe. Die variablen Stückkosten betragen nun nur noch 60 RM (10 RM Lohn und 50 RM Material). Wenn die Fabrik über zehn Jahre abgeschrieben wird, so müssen 100.000 RM pro Jahr zur Deckung der Fixkosten verdient werden. Somit kann das Unternehmen im ersten Jahr den kompletten Branchenabsatz auf sich ziehen, weil es dann selbst bei 70 RM (variable Stückkosten 60 RM plus fixe Stückkosten 100.000 RM/10.000 Einheiten = 10 RM) noch Kosten deckend arbeitet und alle anderen unterbietet. Alle anderen Unternehmen werden vom Markt verdrängt; im folgenden Jahr ist das innovative Unternehmen Monopolist und wird dies in diesem stark vereinfachten Beispiel wahrscheinlich zu einer Preiserhöhung nutzen. Tatsächlich erlebte die Weimarer Republik in Folge der Rationalisierung in vielen Branchen eine starke Konzentration. Besonders spektakuläre Zusammenschlüsse waren im Winter 1925/26 die Bildung der I.G. Farben und der Vereinigten Stahlwerke. Die Stahlbranche hatte nach dem Ersten Weltkrieg europaweit mit großen Überkapazitäten zu kämpfen. Zugleich veranschaulichten riesige neue Hüttenwerke in den Vereinigten Staaten die Rationalisierungspotentiale von Großanlagen. Eine Reihe deutscher Montanunternehmen – die Thyssen-Gruppe, die Phoenix-Gruppe, die Rheinischen Stahlwerke, DeutschLuxemburg, der Bochumer Verein und die Gelsenkirchener Bergwerke – schloss sich daher im Januar 1926 zur Vereinigten Stahlwerke AG (VSt, genannt Vestag) zusammen. Die Vestag war ein vertikal integrierter Riesenkonzern, dessen Herzstücke der Bergbau und die Eisenund Stahlherstellung sowie –verarbeitung, insbesondere im Maschinenbau, waren. Dem Konzern traten folgende große Wettbewerber nicht bei: Gutehoffnungshütte, Hoesch, Klöckner, Krupp und Mannesmann. Zunächst war die Vestag mit fast 200.000 Beschäftigten (Oktober 1927) das mit Abstand größte deutsche Industrieunternehmen. Sie musste diese Spitzenposition aber Ende der 1930er Jahre an die I.G. Farben abgeben.77 Nur einige Wochen vor der Vestag war im Dezember 1925 die I.G. Farbenindustrie AG gegründet worden. Sie nahm eine Reihe bis dahin selbständiger Großunternehmen der chemischen Industrie auf, die schon seit Anfang des Jahrhunderts in verschiedenen Bereichen kooperiert hatten: BASF, Bayer, Hoechst, Agfa, Cassella und Kalle. Mit einem Grundkapital von 1,1 Milliarden RM und 80.000 Beschäftigten war die I.G. Farben 1926 kapitalmäßig Deutschlands zweitgrößtes Industrieunternehmen und weltweit eines der größten Chemieunternehmen.
77
Vgl. Alfred Reckendrees (2000): Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigten Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München, S. 377.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
57
Horizontale und vertikale Integration Unter dem Begriff horizontale Integration wird der Zusammenschluss mehrerer, vormals selbständiger Unternehmen der gleichen Produktionsstufe unter eine einheitliche Unternehmensführung verstanden. Beispiele hierfür sind die Gründung der I.G. Farben und die letztendlich gescheiterte Fusion zwischen der deutschen Daimler-Benz AG und der amerikanischen Chrysler Corporation zur DaimlerChrysler AG (1998–2007). Die beteiligten Unternehmen versprechen sich von der horizontalen Integration eine Erhöhung ihrer Marktmacht, die beispielsweise auf den Beschaffungsmärkten zur Durchsetzung günstigerer Einkaufskonditionen und auf den eigenen Absatzmärkten zu Preiserhöhungen genutzt werden kann. Von vertikaler Integration spricht man, wenn sich Unternehmen verschiedener Produktionsstufen zusammenschließen. Dabei dient die Rückwärtsintegration wie zum Beispiel der Kauf von Kohlebergwerken durch Eisen- und Stahlerzeuger der Sicherung der Vorleistungsbezüge, die Vorwärtsintegration wie zum Beispiel der Kauf von Maschinenbauunternehmen durch die Eisen- und Stahlerzeuger der Etablierung exklusiver Absatzkanäle. Durch beide Formen der vertikalen Integration werden die Markttransaktionen zwischen Lieferant und Kunden durch hierarchische Anordnungen im Rahmen eines Konzerns ersetzt. Als ein wichtiger Vorteil der vertikalen Integration gilt, dass sie den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Produktionsstufen erleichtert. Im Dritten Reich war das Unternehmen von besonderer strategischer Bedeutung für das Regime, was in der engen Verflechtung seiner Führungskräfte mit der 1936 geschaffenen Vierjahresplanbehörde seinen Ausdruck fand. Von großer militärstrategischer Bedeutung war die Fähigkeit des Unternehmens, synthetischen Treibstoff und synthetischen Kautschuk („Buna“) zu produzieren, was Deutschlands Abhängigkeit von Rohstoffimporten verringerte. Beim Bau des I.G.-Werks Buna IV kamen etwa 20–25.000 Häftlinge des benachbarten KZ Auschwitz ums Leben. Daher wird die I.G. heute geradezu als Symbol der Kooperation von NS-Staat und Großindustrie gesehen. Nach dem Krieg wurde die I.G. Farben von den Alliierten dauerhaft zerschlagen.78 Die Gründungen der I.G. Farben und der Vereinigten Stahlwerke waren nur besonders medienwirksame Fälle einer ganzen Welle von Unternehmenszusammenschlüssen. Ein weitaus weniger spektakuläres Beispiel ist die Fensterglasindustrie. Noch Mitte der 1920er Jahre beschäftigten die gut 50 Unternehmen der Branche etwa 7.500 Menschen, darunter viele Glasbläser. Glasbläser waren gut bezahlte Fachkräfte, die eine jahrelange Ausbildung hinter sich hatten. Eine Reihe technologischer Innovationen, die in Belgien bzw. den Vereinigten Staaten gemacht wurden, revolutionierten die Branche binnen weniger Jahre. Nach nur fünf Jahren waren die traditionellen Mundblashütten komplett vom Markt verschwunden. In den neun Maschinenhütten, die nun den Markt in einem neu gegründeten Kartell (eine Vereinbarung zur wirtschaftlichen Kooperation zwischen rechtlich selbständigen Unternehmen) unter sich aufteilten, arbeiteten statt tausender hoch qualifizierter Glasbläser nur noch einige hundert Maschinenführer. Ganz ähnlich verlief zur selben Zeit der Rationalisierungsprozess in 78
Vgl. Gottfried Plumpe (1990): Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin; Peter Hayes (2001): Industry and Ideology: IG Farben in the Nazi Era, 2. Aufl., Cambridge.
58
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
der Flaschenglasindustrie.79 Beispiele wie diese lassen erahnen, weshalb viele Zeitgenossen und auch heute noch viele Menschen vermute(te)n, der technische Fortschritt mache die Menschen arbeitslos. Das kann bei schnellem Strukturwandel aufgrund des Nichtübereinstimmens von beruflicher Qualifikation und Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes kurzfristig stimmen, ist aber in der langen Frist komplett falsch – sonst gäbe es heute angesichts des noch vor hundert Jahren unvorstellbaren Automatisierungsgrades längst keine Arbeitsplätze mehr (vgl. unten Kap. 8.2.1). Die schwindende Zahl der Anbieter machte es auch in anderen Branchen leichter, sich in Kartellen zusammenzufinden. Ähnlich wie im Kaiserreich standen in der Weimarer Republik nicht nur die Unternehmen, sondern auch der Gesetzgeber und breite Teile der Öffentlichkeit Kartellen positiv gegenüber. Häufig sah man Kartelle als „Kinder der Not“, die „ruinösen Wettbewerb“ verhindern sollten. Zwar erließ der Reichstag 1923 eine erste Kartellverordnung, doch diese gestattete Kartelle im Grundsatz und sah eine Aufhebung erst bei einer Gefährdung des Gemeinwohls vor. Tabelle 4.4 veranschaulicht das Ausmaß der Kartellierung. Ein genauerer Blick auf die Tabelle zeigt, dass es Faktoren gibt, die die unternehmerische Kooperation und damit die Kartellbildung begünstigen. Erstens ist ganz offensichtlich die Anzahl der Unternehmen wichtig. Je weniger Unternehmen am Markt sind, umso einfacher können sie sich koordinieren und dies auch kontrollieren – eine Abweichung von der vereinbarten Kartellstrategie (etwa verdeckte Preisrabatte) wird schnell aufgedeckt. Zweitens steigt die Wahrscheinlichkeit von Kartellen mit der Homogenität (Gleichartigkeit) des Produkts. Während ein Brikett einfach normiert werden kann, ist dies bei differenzierten Produkten, etwa Textilien oder Maschinen, kaum möglich. Drittens sind die Produkte in technologisch fortschrittlichen Branchen wie etwa der elektrotechnischen Industrie immer wieder starkem Wandel unterworfen – was die Kartellbildung schwierig macht –, während in reifen Branchen wie etwa Metallhütten das Produkt jahrelang unverändert bleibt. Viertens schließlich nimmt die Wettbewerbsintensität mit steigendem Verhältnis von Transportkosten zu reinem Produktpreis ab. Die Zementindustrie ist daher notorisch anfällig für Kartellbildung, ebenso die Glasindustrie und die Eisen und Stahl erzeugende Industrie.
79
Vgl. Mark Spoerer (1993): Der Konzentrationsprozeß in der deutschen Tafelglasindustrie 1925 bis 1932. Eine Fallstudie über den Einfluß des technischen Fortschritts auf Marktstruktur und Marktergebnis, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 38, S. 73–113; Frank Lippert (1994): Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik: die Flaschenglasindustrie, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 39, S. 166–192, hier S. 189f.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung Tabelle 4.4:
59
Anteil der kartellierten Unternehmen an der Branchenproduktion (in Prozent) 1907
1925/28
Bergbau
74
83
1935/37 95
Großeisenindustrie
49
92
100
Metallhütten und -halbzeug
10
31
80
Eisen- und Stahlwaren
20
30
75
Metallwaren
0
15
20
Maschinen- und Apparatebau
2
15
25
Fahrzeugbau
7
11
15
Elektroindustrie
9
14
20
Feinmechanische und optische Industrie Chemische Industrie
5
12
15
n.v.
70
75
Glasindustrie
36
66
100
Zementindustrie
48
90
100
Papierindustrie
89
70
85
5
5
10
Leder- und Linoleumindustrie Textilindustrie Musikinstrumente und Spielwaren Quelle:
n.v.
10
15
9
18
15
Heinz König (1960): Kartelle und Konzentration (unter besonderer Berücksichtigung der Preisund Mengenabsprachen), in: Helmut Arndt (Hg.): Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft, Bd. I: Der Stand der Konzentration, Berlin, S. 311.
Das genaue Ausmaß der Branchenkonzentration ist sehr schwer zu messen. Sinnvolle Konzentrationsmaße benötigen Angaben für alle Unternehmen einer Branche, die jedoch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Regel nicht vorliegen. Zudem stellt sich insbesondere bei vertikal integrierten Unternehmen die Frage, welcher Branche sie zuzurechnen sind. Tabelle 4.5 stellt stattdessen die jeweils 15 größten Unternehmen für 1924, 1929 und 1938 vor, die aus mehreren unterschiedlichen Untersuchungen übernommen worden sind. Grössenkriterium ist die Bilanzsumme; die letzte Spalte gibt zusätzlich die Belegschaft 1938 wieder. Die Tabelle veranschaulicht, wie stark die Fusionen Mitte der 1920er Jahre die Unternehmenslandschaft durcheinander brachten. Sie zeigt auch, dass sich Deutschlands Großunternehmen vor allem im Bereich der Montanindustrie konzentrierten. Aber auch in den „neuen“ Industrien des späten Kaiserreichs, Chemie und Elektrotechnik, entwickelten sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts etliche Großkonzerne.
60 Tabelle 4.5:
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“ Die größten deutschen Unternehmen 1924, 1929 und 1938 nach Bilanzsumme
Unternehmen
Branche
Deutsche Reichsbahn
Verkehr
1
1
1
703.546
Deutsche Reichspost
Kommunikation
2
2
2
397.890
Siemens-Konzern
Elektrotechnik
3
5
5
165.975
Phoenix AG f. Bergbau u. Hüttenbetrieb
Montan
4
VSt
-
-
Fried. Krupp AG
Montan
5
7
6
123.408
Rang 1924 Rang 1929 Rang 1938
Besch.1938
Gelsenkirchener Bergwerks-AG
Montan
6
VSt
-
-
BASF AG
Chemie
7
IG
-
-
AEG
Elektrotechnik
8
6
8
65.000
Rheinische Stahlwerke
Montan
9
VSt
-
-
Bayer AG
Chemie
10
IG
-
-
Gewerkschaft Thyssen
Montan
11
VSt
-
-
Deutsch-Luxemb. Bergw. u. Hütten AG
Montan
12
VSt
-
-
Hoechst AG
Chemie
13
IG
-
-
Mannesmannröhrenwerke AG
Montan
14
10
12
Klöckner-Werke AG
Montan, Masch.
15
13
17
43.409
Vereinigte Stahlwerke AG (VSt)
Montan
-
3
3
197.000
-
4
4
218.090
>50
8
10
14.683 8.000
I.G. Farbenindustrie AG (IG)
Chemie
Wintershall
Bergbau, Erdöl
43.000
Rhenania-Ossag Mineralölwerke AG
Erdöl
-
9
13
Norddt. Wollkämm. u. Kammgarnsp.
Textil
28
11
bankrott
Burbach-Kaliwerke AG
Bergbau
>50
12
Wintersh.
Vereinigte Glanzstoff-Fabriken
Textil
-
14
62
Metallgesellschaft AG
NE-Metalle
-
15
27
41.000
Hoesch AG
Montan
23
16
15
30.993
Bergwerksgesellschaft Hibernia AG
Bergbau
30
ca. 30
11
n.v.
Rheinmetall AG
Montan
>50
82
14
n.v.
Friedrich Flick KG
Montan
-
-
7
71.408
Braunkohle-Benzin AG
Erdöl
-
-
9
n.v.
12.200
Anm.:
Besch. – Beschäftigte, n.v. – nicht verfügbar.
Quellen:
Neu berechnet nach Angaben in Wilfried Feldenkirchen (1988): Concentration in German Industry 1870–1939, in: Hans Pohl (Hg.): The Concentration Process in the Entrepreneurial Economy since the late 19th Century, Stuttgart, S. 145f.; Alfred D. Chandler jr. (1990): Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge (Mass.), Appendix C.2; Martin Fiedler (1999): Die 100 größten Unternehmen in Deutschland – nach der Zahl der Beschäftigten – 1907, 1938, 1973 und 1995, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 44, S. 236f.; Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, Berlin: Hoppenstedt 1929–1943.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
61
In der ökonomischen Theorie geht man davon aus, dass starke Konzentration in der Regel zu Effizienzverlusten führt. Vereinfacht gesagt, kann ein Unternehmen, dem eine monopolartige Marktstellung zukommt, ein ruhiges Leben führen, weil es nicht dem Wettbewerbsdruck der Konkurrenz ausgesetzt ist. Es kann seine Marktstellung ausbeuten, um Preise durchzusetzen, die weit über den Kosten liegen. Gesamtwirtschaftlich noch problematischer, insbesondere in langfristiger Perspektive, ist, dass es sich infolge fehlender Konkurrenz tendenziell auch erlauben kann, weniger innovativ zu sein. Auf der anderen Seite wird allerdings angeführt, dass nur große und marktmächtige Unternehmen über die finanziellen Rücklagen verfügen, teure Forschungs- und Entwicklungsabteilungen aufzubauen und, noch wichtiger, die Verluste fehlgeschlagener Innovationsprozesse verdauen zu können. Beispielsweise war einer der wesentlichen Gründe für die Gründung der I.G. Farben die Vorbereitung sehr riskanter und höchst kostspieliger Forschungsprojekte wie der Benzinhydrierung aus der einheimischen Braunkohle. Die Frage stellt sich daher, ob große Unternehmen innovativer oder weniger innovativ als kleine Unternehmen sind. Zur Beantwortung dieser Frage untersucht Harald Degner das Innovationsverhalten von mehr als 1.000 deutschen Unternehmen im Zeitraum zwischen 1877 und 1932.80 Die Ergebnisse seiner multivariaten Analyse sind in Tabelle 4.7 dargestellt. Anhand dieses Beispiels möchten wir Aufbau und Interpretation einer solchen Regressionstabelle ausführlich erläutern. Grundidee der Regressionsanalyse ist es, wie schon in Kapitel 1.2 anhand der Bildungserfolge schwarzer Schüler in den Vereinigten Staaten erläutert, mit Hilfe von statistischen Methoden den Einfluss von mehreren Determinanten auf eine bestimmte Zielgröße simultan zu überprüfen, um hierdurch herauszufinden, welche der theoretisch plausiblen Determinanten eine tatsächliche, statistisch belegbare Wirkung ausüben. Am Anfang jeder Regressionsanalyse steht daher die Hypothesenbildung: alle wichtigen Einflussgrößen sind zu identifizieren und die Richtung ihrer Wirkung zu prognostizieren. In unserem Beispiel ist die Zielgröße die Zahl der wertvollen Patente, die ein Unternehmen in einem bestimmten Untersuchungsjahr erwarb. Zentrale erklärende Variable ist die Größe des Unternehmens, hier gemessen an der Eigenkapitalausstattung. Ihr Einfluss ist aber theoretisch umstritten. Wie dargelegt, könnten große Unternehmen aufgrund fehlenden Wettbewerbsdrucks oder ihrer bürokratischen Strukturen weniger innovativ als kleine und mittelgroße Unternehmen sein. Umgekehrt ist auch denkbar, dass große Unternehmen ihren größeren finanziellen Spielraum zu erhöhten Patentaktivitäten nutzen. Schließlich ist es auch möglich, dass überhaupt kein nennenswerter Zusammenhang vorliegt. In jedem Falle ist es wichtig, andere denkbare Faktoren, die auf die Zahl der wertvollen Patente eines Unternehmens Einfluss haben könnten, in der Regressionsanalyse mit zu berücksichtigen. Die folgende lineare Regressionsgleichung enthält daher auf der rechten Seite, auf der sich die erklärenden (unabhängigen) Variablen befinden, nicht nur die Unternehmensgröße, sondern neben einer Konstanten auch Informationen zur Innovationserfahrung des Unternehmens, zur regionalen Verfügbarkeit von hoch qualifiziertem Humankapital, zur Unternehmensform und zur sektoralen Konzentration im jeweiligen Beobachtungsjahr t.
80
Vgl. Harald Degner (2012): Sind große Unternehmen innovativ oder werden innovative Unternehmen groß?, Ostfildern.
62
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Wertvolle Patentet = Konstante + ß1 Größet + ß2 Grösse quadriertt + ß3 Innovationserfahrungt + ß4 Humankapital Unit + ß5 Humankapital THt + ß6 AG-Dummyt + ß7 Konzentrations-Dummyt Tabelle 4.6:
Vereinfachte Darstellung des Datensatzes
Unternehmen Siemens & Halske Siemens & Halske Siemens & Halske usw. I.G. Farben AG I.G. Farben AG usw. Anm.:
Jahr 1877 1878 1879
Branche Elektrotechnik Elektrotechnik Elektrotechnik
1925 1926
Chemie Chemie
Patente 56 44 72
Größe (M/RM) 4.000.000 4.000.000 4.500.000
244 345
200.000.000 200.000.000
AG ? (0/1) 0 0 0
usw.
1 1
Fiktive Werte.
Man kann sich den der Regressionsgleichung zugrundeliegenden Datensatz als große Tabelle vorstellen. In der ersten Zeile stehen für Unternehmen A (hier: Siemens & Halske) zuerst die wertvollen Patente des Jahres 1877, dann in den Spalten rechts daneben die Werte für die Unternehmensgröße und dann alle anderen erklärenden Variablen in der Ausprägung des Jahres 1877. In der zweiten Zeile stehen die entsprechenden Werte für dasselbe Unternehmen im Jahre 1878. Nach den Zeilen für Unternehmen A 1932 kommt Unternehmen B (hier: I.G. Farben AG). Das ist vielleicht erst 1925 gegründet, so dass in der ersten Zeile des Unternehmens B die Werte für 1925 stehen usw. Die Tabelle hat so viele Zeilen wie Beobachtungen für Unternehmen und Jahre. In der linearen Regressionsanalyse wird nun untersucht, ob es einen systematischen linearen Zusammenhang zwischen den wertvollen Patenten und den erklärenden Variablen gibt. Jeder erklärenden Variablen wird dabei durch das verwendete statistische Verfahren ein Koeffizient zugewiesen. Dies kann man anhand eines sehr einfachen Falls mit nur einer erklärenden Variablen verdeutlichen. Unsere Regressionsgleichung verkürzt sich zu: Wertvolle Patentet = ß1 Größet. Wenn z.B. wie in Abbildung 4.1 zehn Beobachtungen vorliegen und die zu erklärende Variable „Wertvolle Patente“ die Werte 100, 200, ..., 1.000 und die einzige erklärende Variable Unternehmensgröße die Werte 100.000, 200.000, ..., 1.000.000 aufwiese, so ergäbe sich als Koeffizient für die Unternehmensgröße ß1=0,001. In diesem Fall könnte man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass ein (weiteres) Unternehmen mit einem Eigenkapital von 2.000.000 Mark 2.000 wertvolle Patente angemeldet hätte.
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
63
1200 1000
Patente
800 600 400 200 0 0
5000000
10000000
15000000
Größe Abbildung 4.1:
Punktwolke: Linearer Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und wertvollen Patenten
Anm.:
Fiktive Werte.
800
Patente
700 600
AG
500
keine AG
400 300 200 100 0 0
5000000
10000000
15000000
Größe Abbildung 4.2:
Punktwolke: Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und wertvollen Patenten unter Berücksichtigung der Rechtsform
Anm.:
Fiktive Werte.
64
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
In der realen Welt der Sozialwissenschaften werden die Zielgrößen jedoch von einer Vielzahl von Determinanten beeinflusst, so dass derart ausgeprägte Korrelationen nicht vorkommen und die Werte viel stärker streuen. In der in Abbildung 4.2 dargestellten Punktwolke ergibt sich beispielsweise kein so eindeutiger Zusammenhang zwischen den Patenten und der Grösse wie noch in Abbildung 4.1. Das liegt unter anderem daran, dass Aktiengesellschaften in diesem fiktiven Beispiel offensichtlich vergleichsweise hohe Patentaktivitäten aufweisen. Betrachtet man die Gruppe der Aktiengesellschaften und die der Unternehmen mit anderer Rechtsform getrennt voneinander, zeigt sich ein stärkerer statistischer Zusammenhang zwischen Patenten und Größe als für alle Unternehmen zusammengenommen. Das ist der entscheidende Vorteil der multivariaten statistischen Analyse: Sie kann den Einfluss verschiedener Variablen gleichzeitig überprüfen und damit Zusammenhänge sichtbar machen, die durch eine reine Betrachtung der Punktwolke nicht erkennbar sind. Tabelle 4.7:
Die Bestimmungsgrößen wertvoller Patente deutscher Unternehmen 1877 bis 1932
Variablen
Größe
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
Modell 5
Gesamt
Chemie
Elektrotechnik
Metall
Maschinenbau
–48,3*
–114,7***
–19,5**
4,6
3,3*
7,9***
1,4**
–0,4
0,1
0,2***
0,2***
0,2***
0,1***
0,1***
Humankapital Uni
0,03
–0,04
0,1
0,04
–0,01
Humankapital TH
0,2*
0,1
0,4
–0,02
0,02
–1,3**
–0,4
–0,7
–1,1**
–1,2*
Größe quadriert Innovationserfahrung
AG Dummy
–1,2
Konzentrat.-Dummy
–0,1
–3,1**
–
0,8***
–
Konstante
232,4
549,3***
91,3**
–18,6
7,1
R-Quadrat
0,75
0,71
0,88
0,65
0,48
Beobachtungen
8.871
1.383
644
1.586
3.355
Quelle:
Harald Degner (2012): Sind große Unternehmen innovativ oder werden innovative Unternehmen groß?, Ostfildern, S. 181f. Degner untersucht den Einfluss weiterer Kontrollvariablen, die hier zur Verbesserung der Übersichtlichkeit nicht gezeigt werden.
In Tabelle 4.7 sind die Ergebnisse von fünf verschiedenen Untersuchungen Degners spaltenweise zusammengefasst, zunächst für alle Unternehmen und dann getrennt für vier besonders wichtige Industriebranchen. Der Zusammenhang zwischen Größe und Patentaktivitäten muss nicht über alle Größenklassen konstant sein. Vielmehr ist es vorstellbar, dass ein Unternehmen zunächst eine bestimmte Mindestgröße erreichen muss, bevor es sein Innovationspotential voll entfalten kann. Um solch einen nicht-linearen statistischen Zusammenhang zu erlauben, ist oben in der Regressionsgleichung und damit auch in der -tabelle die Variable Größe auch in quadrierter Form aufgenommen. Ist beispielsweise der Koeffizient der Variable „Größe“ negativ und der Koeffizient der Variable „Größe quadriert“ positiv, so beschreibt dies einen u-förmigen Zusammenhang: Die Zahl der wertvollen Patente wird mit steigender Unternehmensgröße zunächst abnehmen und nach Erreichen einer optimalen Mindestgröße dann zunehmen. Weiterhin haben unsere Überlegungen zur zunehmenden Unternehmenskonzentration in der Weimarer Republik zu der Hypothese geführt, dass es vielleicht weniger von der absoluten Größe, als vielmehr von der Marktstruktur abhängt, ob Wettbewerbsdruck existiert oder nicht. Deshalb versucht Degner in seiner Regressionsanalyse auch die Konzentration in der Branche des
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
65
jeweils betrachteten Unternehmens zu berücksichtigen. Da ihm zur Berechnung von Konzentrationsmaßen wie beispielsweise dem Gini-Index (vgl. unten Kap. 9.3) die Daten fehlen, nutzt er stattdessen eine sogenannte Dummy-Variable, die den Wert eins annimmt, wenn die Zahl der Unternehmen der jeweils relevanten Branche in der Vorperiode zunahm, und auf null gesetzt wird, wenn die Zahl konstant blieb oder abnahm. Der prognostizierte Einfluss dieses einfachen Konzentrationsmaßes ist positiv, d.h. wir erwarten, dass die Patentaktivitäten zunehmen, wenn sich der Wettbewerbsdruck infolge einer zunehmenden Zahl von Konkurrenzunternehmen erhöht. Die Dummy-Variable „AG“, die den Wert eins annimmt, wenn ein Unternehmen im Betrachtungsjahr als Aktiengesellschaft organisiert war, trägt der Vermutung Rechnung, dass Aktiengesellschaften einen erleichterten Zugang zum für die Finanzierung von Innovationsprojekten notwendigem Kapital besaßen. Angesichts der Tatsache, dass unternehmerische Forschung und Entwicklung auf der Tätigkeit gut ausgebildeter Wissenschaftler und Ingenieure beruht, ist zudem die Hypothese naheliegend, dass innovative Unternehmen von der hohen Verfügbarkeit von Humankapital in ihrer Region profitierten. Zur Überprüfung dieser Hypothese führt Degner zwei weitere Variablen in seine Regression ein. „Humankapital Uni“ misst den Anteil der Universitätsstudierenden an der Gesamtbevölkerung der Region, in dem das betreffende Unternehmen angesiedelt ist; „Humankapital TH“ entsprechend den Anteil der Studierenden an den Technischen Hochschulen an der Gesamtbevölkerung. Von beiden Variablen ist ein positiver Einfluss auf die Patentaktivitäten zu erwarten. Humankapital Im Jahr 2005 wurde der Begriff Humankapital zum Unwort des Jahres gewählt, weil er Menschen zu nur noch ökonomisch interessanten Größen degradiere. Dieses negative Urteil verkennt völlig, dass erst durch die Verwendung dieses Konzepts die große gesellschaftliche Bedeutung der Ausbildung und Weiterbildung der Menschen in den Fokus des wirtschaftswissenschaftlichen Interesses gerückt ist. Unter dem Begriff „Humankapital“ werden alle Fähigkeiten und Kenntnisse eines Menschen zusammengefasst, die er sich durch Lernen erworben hat und die die Produktivität seiner wirtschaftlichen Aktivitäten erhöht. Der Erwerb von Humankapital kann dabei sowohl durch formale Bildung als auch durch die Erlangung von Erfahrungswissen während der Ausübung der Berufstätigkeit erfolgen. Die Analogie zum Anlagekapital von Unternehmen ist eine zweifache. Erstens muss ein Mensch insoweit in sein Humankapital investieren als er beispielsweise während seines Universitätsstudiums auf aktuelles Einkommen und damit Konsum verzichtet, mit der Hoffnung, dass dieser Konsumverzicht längerfristig mit einem vergleichsweise hohen Einkommen und Wohlstand belohnt wird. Zweitens kann auch Humankapital veralten und damit wertlos werden. Dies geschieht auf besonders dramatische Weise durch technologische Umwälzungen. Im 18. Jahrhundert wurden z.B. die handwerklichen Fähigkeiten der Handweber durch die Verbreitung der mechanischen Webstühle, im 20. Jahrhundert die speziellen Fertigkeiten der Setzer durch Einführung des Fotosatzes radikal entwertet. Um dem Veralten von Humankapital entgegenzuwirken, wird heute unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ eine Forcierung von Fort- und Weiterbildung propagiert. Um schließlich zu erklären, warum sehr wenige Unternehmen und zwar immer dieselben die meisten wertvollen Patente erlangten, entwickelte Degner ein neue Hypothese, mit der er die
66
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
bisher vernachlässigte Innovationserfahrung von Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Entstehung einer neuen Technologie wie zum Beispiel die der Synthesefarbstoffe Mitte des 19. Jahrhunderts. In einer ersten „Forschungs- und Entwicklungsrunde“ werden sich eine Vielzahl von Unternehmen mit durchaus gleichen Startchancen um die Entdeckung von Innovationen in diesem neuen technologischen Feld bemühen. Angesichts der mit Innovationsaktivitäten generell einhergehenden großen Unsicherheit wird es aber nur wenigen Unternehmen tatsächlich gelingen, eine erfolgreiche Innovation hervorzubringen. Diese verfügen nunmehr in der zweiten „Forschungs- und Entwicklungsrunde“ über einen doppelten Vorteil gegenüber den in der ersten Runde gescheiterten Unternehmen. Erstens können die Innovatoren die wissenschaftlichen, technischen, organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Erfahrungen, die ihre Mitarbeiter während des ersten erfolgreichen Projekts erworben haben, in die zukünftigen Projekte einbringen. Zweitens mag aus der ersten erfolgreichen Innovation ein finanzielles Polster erwachsen sein, das zum Ausbau der eigenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, mithin zur gleichzeitigen Durchführung von zwei oder mehr Projekten genutzt werden kann. Beide Vorteile zusammengenommen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Sieger der ersten Runde auch in der zweiten Runde erfolgreiche Innovationen entwickeln werden, die dann wiederum positive Auswirkungen auf die Projekte der dritten Runde haben. Unternehmen, die in den ersten „Forschungs- und Entwicklungsrunden“ scheitern, werden bald keine Chance mehr haben, den Erfahrungsvorsprung der frühen Innovatoren aufzuholen. Somit entstehen in einem pfadabhängigen Prozess aus zunächst gleichen Unternehmen wenige sehr innovative und viele weniger innovative Unternehmen. Degner misst die unternehmensindividuelle „Innovationserfahrung“ durch die Summe aller bis zum Vorjahr erworbenen wertvollen Patente, die, um dem Veralten von Wissen Rechnung zu tragen, jährlich mit fünf Prozent abgeschrieben werden. Zusammenfassend wird in der in Tabelle 4.7 dokumentierten Regressionsanalyse also untersucht, wie viele wertvolle Patente ein Unternehmen in simultaner Abhängigkeit von individuellen Charakteristika wie seiner Größe, seiner Unternehmensform und seiner Innovationserfahrung sowie von unternehmensübergreifenden Merkmalen wie der Humankapitalausstattung der Region und der Branchenkonzentration jährlich erworben hat. Zur Interpretation der Regressionsergebnisse wenden wir uns zunächst ausschließlich der zweiten Spalte (Modell 1) zu. In der Zeile „Beobachtungen“ lässt sich ablesen, dass der statistischen Analyse insgesamt 8.871 unterschiedliche Kombinationen von spezifischen Unternehmen und bestimmten Kalenderjahren vorliegen. Eine solche Beobachtung misst beispielsweise, wie viele wertvolle Patente das Unternehmen BASF im Jahr 1922 erworben hat. Wenn man mit statistischen Daten arbeitet, kann es passieren, dass man einen Zusammenhang beobachtet, der nur auf reinem Zufall und der Wahl der Stichprobe beruht. Das Signifikanzniveau gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der wir uns irren, wenn wir „glauben“, einen statistischen Zusammenhang zwischen zwei Größen gefunden zu haben, obwohl dieser in Wirklichkeit nicht existiert. Je kleiner das erreichte Signifikanzniveau (* 10 Prozent, ** 5 Prozent, *** 1 Prozent), umso verlässlicher ist unsere Schätzung. In Modell 1 beobachten wir einen belastbaren statistischen Zusammenhang insbesondere zwischen der Innovationserfahrung und den Patentaktivitäten. Je mehr wertvolle Patente ein Unternehmen in der Vergangenheit bereits hervorgebracht hat, desto höher wird unter sonst gleichen Bedingungen die Zahl seiner neuen wertvollen Patente im aktuellen Beobachtungsjahr sein. Die signifikante Variable „Größe“ hat einen negativen Einfluss. In der Tat scheinen also große Unternehmen prinzipiell weniger innovativ zu sein als kleine. Da die „Größe quadriert“ aber positiv
4.2 Innovationen, Rationalisierung und Wettbewerbsordnung
67
ist, ergibt sich insgesamt ein u-förmiger Zusammenhang. Ab einer bestimmten Mindestgröße nehmen die Patentaktivitäten eines Unternehmens wieder zu. Überraschenderweise erweisen sich Aktiengesellschaften nicht als innovativer als andere Unternehmensformen – ganz im Gegenteil. Modell 1 entkräftet somit eine theoretisch durchaus plausible Erklärung. Die beiden Indikatoren für Humankapital und der KonzentrationsDummy sind nicht signifikant. Das Modell unterstützt somit die mit diesen Größen verbundenen Erklärungsansätze nicht (jedenfalls nicht in dieser Spezifikation). Das „R-Quadrat“ gibt an, wie viel Prozent der historischen Patentaktivitäten der betrachteten Unternehmen durch die verwendeten Variablen erklärt werden können. In unserem Fall ist die Erklärungskraft von Modell 1 mit 75 Prozent hoch. Die zu den verschiedenen erklärenden Variablen aufgeführten Koeffizienten beziffern den statistischen Einfluss der jeweiligen Größe. Durch die beigefügten Sternchen wird angezeigt, welches Signifikanzniveau der Koeffizient einer Variablen erreicht. Koeffizienten ohne Sternchen sind statistisch nicht signifikant, d.h. man kann nicht mit hinreichender Sicherheit sagen, dass der Koeffizient von Null verschieden ist, dass also überhaupt ein statistischer Zusammenhang existiert. In den Modellen 2 bis 5 werden die hier vorgestellten Hypothesen nur für die Unternehmen bestimmter Branchen und nicht wie in Modell 1 für die Unternehmen aller Branchen getestet. Diese Vorgehensweise soll sicherstellen, dass Zusammenhänge aufgedeckt werden, die nur für eine einzelne Branche, nicht aber im Durchschnitt über alle Branchen gelten. Beispielsweise ging eine zunehmende Konzentration mit einer Erhöhung der Innovationsleistung in der Chemieindustrie einher,81 was man sich dadurch erklären kann, dass sich der Innovationswettbewerb im Oligopol der überlebenden „Chemieriesen“ Bayer oder BASF zumindest bis zur Gründung der IG Farben verschärfte. Hingegen führte im Metall erzeugenden Sektor die Verringerung der Wettbewerber zu einer Erlahmung der Patenttätigkeit. Die Variable „Innovationserfahrung“ ist über alle Modellspezifikationen hinweg signifikant positiv. Dieses robuste Ergebnis deutet darauf hin, dass die in diesem Kapitel bereits angesprochene extreme Ungleichverteilung von Innovationen über Länder, Regionen und Unternehmen hinweg als Ergebnis eines langfristigen pfadabhängigen Prozesses gedeutet werden muss, in dem die über längere Zeiträume hinweg erworbene Innovationskraft weniger Unternehmen von den vielen anderen nicht mehr eingeholt werden kann. Zur aktiven eigenständigen Durchführung von multivariaten Regressionsanalysen sind fortgeschrittene Kenntnisse in Statistik bzw. Ökonometrie von Nöten, die nicht leicht zu erwerben sind und über die deshalb sicherlich nicht jeder wirtschaftshistorisch Interessierte auch verfügt. Ein passives Grundverständnis für die Vorgehensweise sollte man aber schon entwickeln, da sonst viele interessante wirtschaftshistorische Arbeiten nicht verstanden und kritisch hinterfragt werden können. Sowohl für die Bewertung der Qualität der verwendeten Daten als auch für die historische Einordnung der durch die Regressionsergebnisse vorgeschlagenen Interpretationen sind diese Kenntnisse für Historiker eigentlich unumgänglich.82
81
82
Vorsicht bei der Interpretation: Der Konzentrations-Dummy beträgt eins, wenn die Zahl der Unternehmen in einer Branche zunimmt. Ein negativer Koeffizient zeigt deshalb an, dass die Zahl der wertvollen Patente eines Unternehmens abnimmt, wenn die Zahl der Wettbewerber steigt. An dieser Stelle sei nochmals das speziell für Historiker konzipierte Lehrbuch von Feinstein/ Thomas (2002) empfohlen.
68
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
4.3
Deutschland in der Weltwirtschaft
Der weltweite Außenhandel hatte vor dem Ersten Weltkrieg einen gewaltigen Aufschwung genommen. Dafür lassen sich vor allem drei Gründe aufführen. Erstens hatte sich die Transporttechnologie durch die Entwicklung des Dampfschiffs und der Eisenbahn erheblich verbessert. Dies bewirkte eine Senkung der Transportkosten und zog eine überproportionale Ausweitung des Außenhandels nach sich. Erleichtert wurde dies durch eine Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen insbesondere in den 1860er Jahren, die zwar in ihrer Dynamik seit den 1880er Jahren zunehmend durch Einführung und Erhöhung von Zöllen gebremst, aber doch im Grundsatz nicht wirklich behindert wurde. Drittens schließlich wirkte sich die internationale Währungsordnung positiv auf den Welthandel aus: der Goldstandard.
4.3.1
Der Gold(devisen)standard83
Ein Staat, der sich dem Goldstandard anschloss, koppelte seine Währung an das Edelmetall Gold – ein völkerrechtlicher Vertrag o.ä. war nicht nötig. Wie oben bereits dargestellt, bedeutete dies im Kern, dass die Zentralbank, also etwa die Reichsbank in Berlin, garantierte, dass sie gegen Vorlage einer papiernen Banknote eine festgelegte Menge Gold auszahlte. So entsprach etwa eine Mark 0,36 Gramm Feingold und ein Dollar 1,51 Gramm Feingold. Damit war auch der Wechselkurs der Mark zum Dollar fixiert: 1 Dollar kostete 4,20 Mark. Wäre beispielsweise der auf dem Devisenmarkt geltende Kurs höher gewesen, z.B. 5 Mark, so hätte es sich gelohnt, 1 Dollar in 5 Mark und diese bei der Reichsbank in 1,8 g Gramm Feingold einzutauschen, diese in die USA zu verschiffen (oder eine entsprechende Finanztransaktion vorzunehmen, mit der man den Transport von physischem Gold vermeiden konnte) und damit 1,19 Dollar zu erwerben – eine stattlicher Gewinn von 19 Prozent. Wegen dieser Arbitrage genannten Möglichkeit blieben die Wechselkurse zwischen zwei am Goldstandard angeschlossenen Währungen im Regelfall innerhalb enger Bandbreiten über viele Jahre stabil. Wichtig war, dass sich die Zentralbank eines Landes, das seine Währung an das Gold gekoppelt hatte, an gewisse Spielregeln hielt. Zunächst war es unabdingbar, dass Privatleuten der Ex- und Import von Gold erlaubt war. Außerdem musste der umlaufenden Menge der inländischen Währung, also etwa der Mark, ein physischer Mindestgoldbestand gegenüberstehen. Die Diskussion der Reichsbankverfassung von 1875 hat gezeigt, dass beispielsweise im deutschen Kaiserreich die umlaufende Banknotenmenge das Dreifache des Goldbestandes nicht überschreiten durfte. Drittens musste die Zentralbank jederzeit in der Lage sein, ihrem Goldeinlöseversprechen nachzukommen, d.h. genügend Gold in ihren Kellern vorhalten. Die Einhaltung dieser Regeln bewirkte eine Selbstbindung der Zentralbank: Um die Glaubwürdigkeit ihres Goldeinlöseversprechens zu gewährleisten, durfte sie die Geldmenge nicht unkontrolliert ausweiten, musste sie die Goldeinlösepflicht aufrecht erhalten und durfte sie niemanden hindern, mit dem eingetauschten Gold das Land zu verlassen. War das Goldeinlöseversprechen aber glaubhaft gemacht, bestand aus Sicht der Marktteilnehmer erst gar keine Notwendigkeit, die Banknote gegen Gold einzutauschen. Die Währungen der großen Welthandelsnationen waren vor dem Ersten Weltkrieg in der Tat stabil. 83
Eine souveräne, gut lesbare Darstellung findet sich bei: Barry Eichengreen (2000): Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin, S. 69–131.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft
69
Die fixen Wechselkurse der am Goldstandard teilnehmenden Länder erleichterte die Kalkulation für Im- und Exporteure erheblich. Für weite Bereiche der Wirtschaftspolitik bedeutete der Goldstandard allerdings eine erhebliche Einschränkung der Handlungsoptionen. Das Einhalten der Spielregeln garantierte externe Stabilität (den Außenwert der Währung), jedoch zu Lasten der internen Stabilität (insbesondere Beschäftigung). Ein plötzlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit etwa konnte nicht einfach dadurch abgemildert werden, dass die Zentralbank den Zins verringerte, was Investitionen angereizt, die Geldnachfrage (der investierenden Unternehmen) erhöht und die Beschäftigung kurzfristig angehoben hätte. Tatsächlich hätte die Geldmenge nur bis zum Erreichen der Deckungsgrenze erhöht werden können, überdies hätten jedoch wegen der Zinssenkung ausländische Investoren ihr Geld in Deutschland abgezogen, was die Deckungsmasse zusätzlich verringert hätte. Bestimmte Anpassungsmechanismen liefen automatisch ab. Wurde etwa die Leistungsbilanz eines Landes negativ, weil die Importe die Exporte überstiegen, so floss Gold ins Ausland ab und „finanzierte“ somit das Defizit. Das verringerte die Golddeckung, so dass die Geldmenge und damit letztlich auch Preise und Löhne zurückgingen. Diese Verbesserung der Kostenstruktur erlaubte den Unternehmen, preiswerter im Ausland anzubieten, was den Export erhöhte und den Goldabfluss stoppte oder sogar ins Gegenteil drehte. Man muss sich klarmachen, dass dieser Zahlungsbilanzautomatismus den beteiligten Menschen Opfer abverlangte: Händler sahen sich gezwungen, ihre Preise zu senken, Arbeiter mussten niedrigere (Nominal-!) Löhne akzeptieren. Wer sieht schon ein, dass er oder sie weniger Geld für die gleich gebliebene Arbeit erhalten soll? Dieses Laufenlassen des Goldautomatismus, der Verzicht auf Maßnahmen, die die interne Stabilität aufrechterhalten hätten, war schon in vordemokratisch verfassten Gemeinwesen wie dem Kaiserreich, in denen der Staat in viel geringerem Umfang für den Wohlstand seiner Bürger verantwortlich gemacht wurde, zunehmend umstritten.84 Im Ersten Weltkrieg gingen alle kriegführenden Mächte außer den Vereinigten Staaten, die nur den Goldexport stoppten, vom Goldstandard ab, da die Finanzierung der Rüstung mittels Drucken von frischem Geld am wenigsten Friktionen mit sich brachte, vor allem, wenn die beiden Alternativen, Steuererhöhungen oder Kreditaufnahme (Kriegsanleihen), politisch inopportun waren. In Deutschland suspendierte die Reichsbank schon am 31. Juli 1914 ihr Goldeinlöseversprechen. Von da ab unterschied man Papiermark (dieselben Banknoten wie vorher, nur nicht mehr in Gold einlösbar) und Goldmark, eine fiktive Recheneinheit, die sich aus Division der Papiermark mit dem aktuellen Dollarkurs ergab und damit an der ursprünglichen Goldparität orientierte. Für fast alle vom Goldstandard abgegangenen Staaten war die Frage, zu welcher Parität man nach dem Krieg die Währung wieder an das Gold koppeln solle, von eminenter politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Kehrte ein Staat zur Vorkriegsparität zurück, so signalisierte er politische Stärke. Wer Schuldtitel dieses Staates gekauft hatte (oder andere nominal denominierte Wertpapiere), erhielt bei Rückzahlung den vollen Wert zurück. Setzte der Staat die Goldparität niedriger an (d.h., man erhielt weniger Gold für eine Währungseinheit), so bedeutete dies nicht nur einen Prestigeverlust. Wenn es keine Kompensation gab, so war dies eine Teilenteignung der Gläubiger, in der Regel also der eigenen Bürger. Wenn diese beispielsweise Kriegsanleihen für 1.000 Francs gekauft hatten, so erhielten sie zwar auch 1.000 Francs 84
Vgl. Matthias Wühle (2011): Geld- und Währungspolitik der Reichsbank 1875–1914. Der Transformationsprozess der deutschen Geldverfassung, München, S. 72–74.
70
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
(plus Zinsen) zurück, in Gold war der Franc wegen der drastischen Herabsetzung der Goldparität um etwa 80 Prozent aber nur noch ein Fünftel wert.85 Erschwerend kam hinzu, dass sich die Preise in den einzelnen Staaten unterschiedlich entwickelt hatten. Wertete ein Staat seine Währung überproportional ab, so war sie unterbewertet, was sich positiv für den Export und somit auf die Handelsbilanz auswirkte (s. Beispiel im Kasten). Goldstandard: Rückkehr zur alten Parität? (Ein fiktives Beispiel) Vorkriegszeit US UK F Goldparität: Währungseinheiten (1 g Feingold = …) 5$ 1 £ 25 FFR Preis Tonne Weizen in Gramm Feingold 10 g 10 g 10 g Preis Tonne Weizen in Währungseinheiten 50 $ 10 £ 250 FFR Krieg Parität aufgehoben, Preissteigerung des Weizens 0% 100 % 200 % Nachkriegszeit Entweder: Rückkehr zur Vorkriegsparität (1 g Feingold = …) 5$ 1£ Oder: Abwertung (in Frankreich um 80%) 125 FFR Preis Tonne Weizen in Währungseinheiten 50 $ 20 £ 750 FFR Preis Tonne Weizen in Gramm Feingold 10 g 20 g 6g Währung also über- oder unterbewertet über unter Wirkung auf Exporte hemmend oder fördernd? h f Wirkung auf Importe hemmend oder fördernd? f h In diesem fiktiven Beispiel mit vereinfachten Goldparitäten kostet die Tonne Weizen, ein international viel gehandeltes Gut, vor dem Krieg einheitlich umgerechnet 10 g Gold. Während des Kriegs verdoppelt sich das Preisniveau in Großbritannien, das in Frankreich verdreifacht sich. Wie die Vereinigten Staaten entschließt sich Großbritannien 1925 für die Rückkehr zur alten Parität, wogegen Frankreich 1926 sogar überproportional abwertet. Umgerechnet in Gold ergeben sich nun unterschiedliche Preise. Französische Getreidebauern profitieren von der Unterbewertung, britische leiden an der Überbewertung ihrer Währung. Letztere werden bald Zollschutz vor französischen Billigimporten einfordern. Würden die Staaten allerdings nicht regulierend in den Marktprozess eingreifen, würde der Goldzufluss in Frankreich zu Preiserhöhungen, der Goldabfluss in England zu Preissenkungen führen, so dass sich längerfristig wieder ein weltweit einheitliches Preisniveau und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht einstellen würden. Diese langwierigen Anpassungsprozesse wollten die beteiligten Staaten allerdings nicht mehr akzeptieren, weil nach dem Ersten Weltkrieg binnenwirtschaftliche Ziele dominierten. Ein weiteres Problem war, dass durch den Zusammenbruch des Habsburger- und des Osmanischen Reichs eine Reihe neuer Staaten entstanden war. Auch sie würden über kurz oder lang versuchen, ihre Währung an den Goldstandard zu koppeln, so dass die Goldnachfrage steigen würde. Um eine weltweite Deflation zu verhindern, nahmen daher die meisten Staaten neben Gold und guten Handelswechseln nun auch Golddevisen in ihre Währungsdeckung auf, also Währungen, die am Goldstandard hingen wie der US-Dollar oder (seit 1925) das britische Pfund. 85
Vgl. Pierre-Cyrile Hautcœur (2009): La crise de 1929, Paris, S. 14f.; Michael D. Bordo und PierreCyrile Hautcœur (2007): Why didn’t France Follow the British Stabilisation after World War I?, in: European Review of Economic History 11, S. 3–37.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft
71
Auch die Deckung der im August 1924 eingeführten Reichsmark sollte zu 40 Prozent durch Gold und Golddevisen und zu 60 Prozent durch gute Handelswechsel erfolgen. Die Miteinbeziehung von Golddevisen erhöhte die potentielle Deckungssumme theoretisch um ein Vielfaches des vorhandenen Golds. Ein durch Gold gedeckter Dollar konnte jetzt zur Deckung von Pfundbanknoten, diese wiederum zur Deckung von Reichsmarknoten usw. verwendet werden. Da in jedem dieser Geldschöpfungsprozesse die Golddevisendeckung der neu emittierten Banknoten jeweils kleiner als 100 Prozent war, ermöglichte diese Vorgehensweise eine gegenüber dem klassischen Goldstandard Vervielfachung des Banknotenumlaufs. Praktisch war der Golddevisenstandard damit riskanter als der Goldstandard: Verringerte ein Land seine Goldparität oder ließ seine Währung gar frei schwanken („Floaten“) (und das war zumindest kurzfristig in der Regel gleichbedeutend mit einer Abwertung), so reduzierte dies die Gelddeckung in all denjenigen Zentralbanken, die die betreffende Währung zur Deckung der Währung ihres Landes nutzten. Genau dies sollte im September 1931 passieren, als das britische Pfund den Goldstandard verließ.
4.3.2
Außenhandel und Protektionismus
Neben den Störsignalen, die von der Währungsseite ausgingen, beeinträchtigten auch protektionistische Maßnahmen den Außenhandel nach dem Ersten Weltkrieg. Auch sie hatten ihre Ursache im Krieg und seinen Folgen. Durch die Kriegshandlungen waren viele traditionelle Lieferbeziehungen unterbrochen worden, die durch andere Handelsströme ersetzt wurden. Dabei entstanden Industrien, die unter normalen Friedensbedingungen nicht konkurrenzfähig gewesen wären. Zudem versuchten neu gegründete Staaten, eigene Unternehmen aufzubauen, um nicht länger von solchen abhängig zu sein, die nun im Ausland lagen. Dieser Trend verschärfte ein tiefergehendes strukturelles Problem, das seinen Ursprung in dem Globalisierungsprozess hatte, der die Volkswirtschaften des „alten“ Europas seit etwa den 1860er Jahren einem verstärkten Strukturwandel ausgesetzt hatte. Insbesondere in den „Western offshoots“, also den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Argentinien, fanden die europäischen Auswanderer bessere Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft vor als in der Heimat. Das Land, das die europäischen Siedler ohne Rücksicht auf etwaige bestehende Eigentums- oder Nutzungsrechte der eingeborenen Bevölkerung unter Bewirtschaftung nahmen, konnte mit den neuesten agrarwirtschaftlichen Methoden bewirtschaftet werden und brachte hohe Erträge. Technischer Fortschritt im Schiff- und Eisenbahnbau führten zu einer Senkung der Transportkosten, die die Exportmöglichkeiten verbesserten. Die preiswerten Überseeimporte setzten die europäischen Landwirte unter Druck. Sie kritisierten in den 1860er und 1870er Jahren das vorherrschende Freihandelsparadigma und forderten staatlichen Schutz gegen die Überseeimporte – also protektionistische Maßnahmen. Der Übergang zur Schutzzollpolitik im Deutschen Reich 1879/80 ist beispielsweise eine Reaktion der Politik auf diesen Trend. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten die meisten europäischen Staaten ähnliche Maßnahmen ergriffen; die große Ausnahme war Großbritannien. Gleichwohl waren die Zollerhöhungen allenfalls Sand im Getriebe des Globalisierungsprozesses; die internationale Integration der Märkte setzte sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaum vermindert fort.86 86
Grundlegend: Kevin H. O’Rourke und Jeffrey G. Williamson (1999): Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy, Cambridge (Mass.), insb. S. 93–117.
72
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Hatten sich protektionistische Maßnahmen vor dem Krieg vor allem auf Einführung oder Erhöhung von Zöllen beschränkt, so kamen nun mit Importkontingenten und absoluten Importverboten radikalere hinzu. Deutschland litt zusätzlich unter der einseitigen Meistbegünstigung, der es im Vertrag von Versailles hatte zustimmen müssen. Das vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts angewendete Meistbegünstigungsprinzip besagt, dass ein Staat A einem anderen Staat B für ein bestimmtes Produkt zusichert, keinen höheren Einfuhrzoll zu erheben als den niedrigsten, den er irgendeinem dritten Land C auferlegt hat oder in Zukunft auferlegen wird. Bei der einseitigen Meistbegünstigung musste Deutschland dies den ehemaligen Kriegsgegnern einräumen, ohne umgekehrt selbst in den Genuss der Meistbegünstigung kommen zu dürfen. Da der Außenwert der Mark in der Inflation schneller verfiel als der Binnenwert, befürchtete die Reichsregierung einen Ausverkauf deutscher Werte ins Ausland. Die Außenwirtschaftspolitik setzte daher viele im Krieg begonnene Maßnahmen fort. Neben 1919 und 1920 erlassenen Exportkontrollen trat im März 1920 eine Einfuhrverordnung, die alle Importe einer Genehmigungspflicht unterwarf. Erst nach der Währungsstabilisierung verringerte die Reichsregierung die Außenwirtschaftskontrollen und hob sie 1925 ganz auf. Im Januar 1925 durfte Deutschland seine Außenzölle wieder autonom festlegen – und setzte sie zunächst hoch an, um viel handelspolitischen Spielraum für Konzessionen in den anstehenden Zollverhandlungen zu haben.87 Dies wirkte sich negativ auf die deutsche Handelsbilanz aus (Tab. 4.8). Sie war nur 1926 im Plus, da in der Krise von 1925/26 die Importe deutlich zurückgingen. Bei der Interpretation der Werte nach 1929 ist zu beachten, dass auch die Preise für Industrieprodukte weltweit fielen. Bis dahin hatte Deutschland davon profitiert, dass die Rohstoff- und Agrarpreise kräftig gefallen waren, die Preise für Industrieprodukte jedoch nicht. Da Deutschland in starkem Umfang Rohstoffe importierte und Industriegüter exportierte, verbesserten sich aus deutscher Sicht die Terms of trade. Terms of trade Die Terms of trade sind das reale Austauschverhältnis von Importen und Exporten. Sie werden durch das Verhältnis von Exportgüterpreisniveau und Importgüterpreisniveau gemessen. Ein einfaches Beispiel, das auf lediglich je einem Export- und Importvorgang beruht, soll dies veranschaulichen: Wenn ein deutscher Exporteur eine Tonne Spezialchemikalien zu einem Preis von 500 RM/t an einen Importeur in den Vereinigten Staaten liefert und ein deutscher Importeur von dort eine Büromaschine für 100 Dollar kauft, so berechnen sich die Terms of trade aus deutscher Sicht bei einem Wechselkurs von 4,20 RM/Dollar wie folgt: 500 RM / 420 RM = 1,19. Deutschland muss also (1 / 1,19 =) 0,84 Tonnen Chemikalien aufwenden, um eine Büromaschine aus den USA zu kaufen. Steigt nun der Preis für die Chemikalie auf 600 RM, so muss Deutschland nur noch 0,7 Tonnen Chemikalien für eine Büromaschine aufwenden. Die Terms of trade haben sich für Deutschland verbessert und für die Vereinigten Staaten verschlechtert. Derselbe Effekt träte ein, wenn die RM aufwertete und der Wechselkurs z.B. auf 3,50 RM/Dollar fiele.
87
Vgl. Wilfried Feldenkirchen (1987): Deutsche Zoll- und Handelspolitik 1914–1933, in: Hans Pohl (Hg.): Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart, S. 328–357, hier v.a. S. 335–346.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft Tabelle 4.8:
73
Die Zahlungsbilanz des Deutschen Reichs 1924 bis 1932 (Mrd. RM)
Mio. RM
1924
1925
1926
1927
1928
Exporte
7.810
9.546
10.677
11.118
12.627
– Importe
9.626
11.990
9.884
14.078
13.938
–1.816
–2.444
+793
–2.960
–1.311
+ Dienstleistungsbilanz-Saldo
+433
+456
+359
+300
+109
+ Reparationen
–281
–1.057
–1.191
–1.584
–1.990
= Leistungsbilanz-Saldo
–1.664
–3.045
–39
–4.244
–3.192
+ Kapitalbilanz-Saldo
+2.919
+3.135
+607
+3.792
+4.123
= Währungsreserven
+1.255
+90
+568
–452
+931
Exportquote (in %)
n.v.
13,4
14,5
13,4
14,2
Importquote (in %)
n.v.
16,8
13,4
16,9
15,7
1929
1930
1931
1932
Exporte
13.632
12.175
9.733
5.834
– Importe
13.676
10.617
6.955
4.782
= Handelsbilanz-Saldo
–44
+1.558
+2.778
+1.052
+ Dienstleistungsbilanz-Saldo
–88
–462
–750
–635
+ Reparationen
–2.337
–1.706
–988
–160
= Leistungsbilanz-Saldo
–2.469
–610
+1.040
+257
+ Kapitalbilanz-Saldo
+2.304
+490
–2.693
–513
= Währungsreserven
–165
–120
–1.653
–256
Exportquote (in %)
15,3
14,7
14,3
10,3
Importquote (in %)
15,3
12,8
10,2
8,5
= Handelsbilanz-Saldo
Mio. RM
Quelle:
Statistisches Reichsamt (1934): Die deutsche Zahlungsbilanz der Jahre 1924–1933, Berlin, S. 10f.; Außenhandelsquoten berechnet mit BIP-Werten aus Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 51.
74
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Die Zahlungsbilanzen veranschaulichen die kritische Lage des Deutschen Reichs. Eigentlich hätte es den Transfer der Reparationen mit einem Überschuss der Handels- und Dienstleistungsbilanz finanzieren sollen. Tatsächlich war diese jedoch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre außer 1926 immer negativ. Stattdessen erfolgte die Finanzierung durch Kapitalimporte. Reichten diese nicht mehr aus, um das Leistungsbilanzdefizit zu decken, wie etwa seit 1929, so trat ein Verlust an Währungsreserven ein.
4.3.3
Reparationen
Die weltweiten Störungen im Außenhandel, im Falle Deutschlands verschärft durch die handelspolitische Benachteiligung bis Anfang 1925, trafen das Land besonders empfindlich, denn es benötigte Leistungsbilanzüberschüsse, um die Reparationen zu bezahlen. Im Juni 1919 hatten Vertreter der Reichsregierung den Vertrag von Versailles unterschrieben. Deutschland beugte sich damit der alliierten Forderung, die alleinige Kriegsschuld anzuerkennen. In Folge des Vertrags verlor Deutschland 13 Prozent seines Staatsgebiets. Die wichtigsten abgetretenen Gebiete waren die preußischen Provinzen Posen und Westpreußen, die agrarisch geprägt waren, Teile Schlesiens, das hoch industrialisiert war, und ElsassLothringen, das zum einen über eine leistungsfähige Textilindustrie und zum anderen über wertvolle Eisenerzvorkommen verfügte. Das ebenfalls hoch industrialisierte Saargebiet und der wichtige Seehafen Danzig waren fortan dem Völkerbund unterstellt, ersteres kam unter französische Zoll- und Währungshoheit. Deutschland verlor durch die Gebietsabtretungen außerdem 10 Prozent seiner Bevölkerung, die Hälfte der Eisenerzförderung (v.a. in Lothringen), ein Viertel der Steinkohleförderung (v.a. Ostoberschlesien) und 15 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion. Das Auslandsvermögen einschließlich der Patente, die Ansprüche an mit Deutschland verbündete Staaten und alle Kolonien (allesamt wirtschaftlich unbedeutende, chronisch defizitäre Zuschussgebiete) mussten ersatzlos abgetreten werden. Der größte Teil der Handelsflotte und viel rollendes Material der Eisenbahn musste ausgeliefert und auf dem sogenannten Reparationskonto verrechnet werden.88 Politisch war dies eine Schwächung Deutschlands, da es verkleinert wurde. Die Verkleinerung des Staatsgebietes dagegen bedeutete nicht per se, dass die Deutschen im Durchschnitt ärmer geworden wären. Im Gegenteil, Posen und Westpreußen waren strukturschwache Gebiete, die allenfalls als Kornkammer von Bedeutung waren. Wenn etwas den Wohlstand der Deutschen mittel- und langfristig tangierte, so waren es die Reparationen, deren Höhe im Versailler Vertrag noch nicht festgelegt worden war. Von deutscher Seite hoffte man Mitte 1919 noch auf den mäßigenden Einfluss der Vereinigten Staaten auf Großbritannien und vor allem Frankreich. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Vereinigten Staaten Gläubiger der anderen Alliierten waren. Auf die Begleichung der interalliierten Schulden zu verzichten, erwies sich nach dem Krieg als politisch nicht durchsetzbar: Warum sollte der amerikanische Steuerzahler den Krieg in Europa bezahlen? Dadurch, dass die Vereinigten Staaten auf der Rückzahlung beharrten, bestärkten sie die europäischen Siegermächte, sich an Deutschland schadlos zu halten. Vor allem Frankreich, das ja zudem gewaltige Kriegsschäden auf seinem Territori88
Vgl. Eberhard Kolb (2005): Der Friede von Versailles, München, S. 63f.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft
75
um beheben musste, war daher an hohen Reparationszahlungen aus Deutschland interessiert. Abgesehen davon hatte Deutschland im Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 der sowjetrussischen Gegenseite ebenfalls harte Bedingungen diktiert, darunter Reparationszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Goldmark, und hatte nun, da es selbst auf der Verliererseite stand, ein Glaubwürdigkeitsproblem.89 Tabelle 4.9:
Die interalliierte Verschuldung: reparationsberechtigte Staaten und die Vereinigten Staaten
Vereinigte Staaten
Forderungen (brutto)
Verbindlichkeiten (brutto)
Forderungen (netto)
26,2
0,0
26,2
Großbritannien
7,7
14,5
–6,8
Frankreich
0,2
13,5
–13,3
Italien
0,2
4,0
–3,8
Sonstige
0,0
2,3
–2,3
Anm.:
Barwert der Forderungen in Mrd. RM zu 5 Prozent am 31. März 1930.
Quelle:
Statistisches Reichsamt (1930): Die interalliierten Schulden. Ihre Entstehung und ihre Behandlung im Youngplan, Berlin, S. 110f.
Die deutschen Hoffnungen auf gemäßigte Reparationsforderungen zerschlugen sich mit dem Londoner Ultimatum von Mai 1921. Die Alliierten forderten von Deutschland 132 Milliarden Goldmark und drohten andernfalls, das Ruhrgebiet zu besetzen. Die fatale Auswirkung dieser von der deutschen Öffentlichkeit nicht erwarteten Härte auf die deutsche Währung wurde weiter oben bereits beschrieben (vgl. oben Kap. 3.2). In der Inflationszeit lieferte das Reich teilweise Gold und Devisen, zunehmend jedoch auch Sachgüter an die ausländischen Reparationsgläubiger. Die erbrachten Leistungen wurden auf dem Reparationskonto verrechnet, wobei die Bewertung der gelieferten Güter von deutscher Seite oft höher angesetzt wurde als von alliierter Seite. In den Empfängerstaaten stießen die deutschen Sachlieferungen nicht nur auf Zustimmung, schließlich verdrängten sie Nachfrage nach inländischen Produkten. Nach Überwindung der deutschen Hyperinflation schien der Zeitpunkt gekommen, die Reparationsfrage abschließend zu regeln. Der im August 1924 verabschiedete Dawes-Plan (benannt nach dem US-amerikanischen Finanzexperten Charles Dawes) war ein wichtiger Meilenstein. Auch in ihm wurde zwar die Gesamthöhe der Reparationen nicht bestimmt, doch stellte er die Zahlungen auf eine Grundlage, die den Beteiligten solide erschien. Ein entscheidender Punkt war, dass die Alliierten Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit Deutschlands nahmen. Die neue Reichsmark war ja an den Goldstandard gekoppelt. Würden die künftig nur noch monetär zu erbringenden Reparationszahlungen die externe Stabilität der Reichsmark gefährden, so konnte der neu einzusetzende Reparationsagent (der US-Amerikaner Parker Gilbert) einen Transferstopp erlassen, also die Reparationszahlungen sistieren („Transferschutz“). Zahlungen aus anderen Schuldverhältnissen waren davon unberührt. Dies bedeutete faktisch, dass die Tilgungs- und Zinszahlungen an ausländische private Gläubiger Priorität (Seniorität) gegenüber den Reparationsforderungen hatte. Ausländische Kapital-
89
Vgl. Klaus Hildebrand (2008): Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, München, S. 370.
76
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
geber mussten also nicht befürchten, dass die Reparationslast die deutsche Währung unter Druck bringen würde.90 Vor dem Transfer der Reparationen ins Ausland stand die Aufbringung der Mittel im Inland. Der Dawes-Plan sah vor, dass ein Teil der Reparationen direkt aus Steuermitteln aufgebracht werden sollte. Der zweite wichtige Träger der Reparationslast war zudem das 1920/24 gegründete staatliche Monopolunternehmen Deutsche Reichsbahn, in das die Länder ihre Staatsbahnen hatten einbringen müssen. Die Reichsbahn musste ihren Anteil an der Aufbringung der Reparationen durch Erhebung einer Beförderungssteuer und Bedienung einer ihr auferlegten Zwangsanleihe beitragen.91 Die Aufbringung der Reparationen belastete Deutschland finanziell und psychologisch erheblich. Aber im Vertrag von Versailles wurde auch eine Reduktion des deutschen Militärs auf 115.000 Mann beschlossen. Max Hantke und Mark Spoerer sind der Frage nachgegangen, inwieweit die Reparationslasten durch die (erzwungenen) Einsparungen am Militärhaushalt kompensiert wurden. Dafür mussten sie kontrafaktisch vorgehen: Was hätte ein Deutschland, das keine Reparationen hätte zahlen müssen und frei über sein Militär hätte entscheiden können, dafür ausgegeben? Sie konstruieren zwei kontrafaktische Szenarien. Im vergleichsweise friedlichen „Stresemann-Szenario“ gehen sie davon aus, dass Deutschland so viel Prozent seines BIP für das Militär ausgegeben hätte, wie die beiden großen Demokratien Großbritannien und Frankreich (2,7 Prozent). Im aggressiven „Hugenberg-Szenario“ dagegen rechnen sie mit einem Prozentsatz wie im Aufrüstungsjahr 1912 (3,3 Prozent). Anschließend berechnen sie die Differenz der Militärausgaben aus diesen beiden kontrafaktischen Szenarien und den tatsächlichen Kosten des Weimarer Militärs. Diese beiden Beträge, also die kontrafaktischen Mehrausgaben für das Militär, vergleichen sie mit den Reparationslasten. Das Ergebnis ist verblüffend: Den knapp 9 Milliarden RM, die Deutschland zwischen 1924 und 1929 an Reparationen zahlte, stehen eingesparte Militärausgaben von knapp 8 Milliarden RM im Stresemann-Fall und über 10 Milliarden im Hugenberg-Fall gegenüber. Man kann über die konkreten Summen streiten und auch darüber, welchen Unterschied es macht, die Summen im Inland in die Rüstung zu stecken oder ohne Gegenleistung ans Ausland abzuführen, aber eines wird durch diese kontrafaktische Analyse sehr deutlich: Der Reichshaushalt wurde durch die erzwungene Reduktion des Militärs in ganz erheblichem Maße entlastet. Der Verweis der Weimarer Haushaltspolitiker auf die hohen Reparationslasten war daher nicht ehrlich.92
90
91
92
Grundlegend zur Reparationsproblematik und den Auswirkungen auf die internationalen Kapitalmärkte: Albrecht Ritschl (2002): Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin. Vgl. Eberhard Kolb (1999): Die Reichsbahn vom Dawes-Plan bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Lothar Gall und Manfred Pohl (Hg.): Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München, S. 109–163, hier S. 116f.; Christopher Kopper (2002): Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert, München, S. 1, 6f. Vgl. Max Hantke und Mark Spoerer (2010): The Imposed Gift of Versailles. The Fiscal Effects of Restricting the Size of Germany’s Armed Forces, 1924–9, in: Economic History Review 63, S. 849–864. Im englischsprachigen Originalartikel heißen die Szenarien statt „Stresemann“ und „Hugenberg“ etwas profaner A und B. Dort werden auch die hier nicht diskutierten Multiplikatorwirkungen der Rüstungsausgaben berücksichtigt.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft Tabelle 4.10:
77
Strategien der Rüstung
Frankreich
Rüstung begrenzen
Rüstung forcieren
Rüstung begrenzen
3,3
0,10
Rüstung forcieren
10,0
1,1
Deutschland
Hantke und Spoerer standen vor der Aufgabe, ein plausibles Rüstungsszenario für ihre kontrafaktische Welt ohne Versailler Vertrag zu konstruieren. Sie hatten die Frage zu beantworten, wie hoch die deutschen Rüstungsausgaben gewesen wären, wenn man frei und unbeschränkt darüber hätte entscheiden dürfen. Wie oben dargelegt, schlagen Hantke und Spoerer als plausible Obergrenze das relative Volumen der Rüstungsausgaben vor dem Ersten Weltkrieg vor. Diese Schätzung ist jedoch noch recht konservativ. Erstens hatten die kriegstechnischen Innovationen des Ersten Weltkriegs bis hin zum Kampfflugzeug den Kapitalbedarf von Aufrüstungsprogrammen gegenüber der Vorkriegszeit erheblich gesteigert. Zweitens hatte sich im Zuge des Ersten Weltkrieges der Antagonismus zwischen den beiden „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland weiter verschärft, so dass gut vorstellbar ist, dass sich in einer Welt ohne Rüstungsbeschränkungen für Deutschland beide Länder in einen Rüstungswettlauf ähnlich jenem zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Kalten Krieg begeben hätten, der zu Ausgaben weit höher als jenen im ‚HugenbergSzenario‘ geführt hätte. Die Logik dieses Rüstungswettlaufs kann mit Hilfe der Spieltheorie analysiert werden. Die Spieltheorie untersucht solche (wirtschaftliche) Entscheidungssituationen, in denen das eigene Verhalten in Reaktion auf das erwartete Verhalten des Antagonisten optimiert wird.93 Die hypothetische Situation eines deutsch-französischen Rüstungswettlaufs nach dem Ersten Weltkrieg ist in Tabelle 4.10 dargestellt. Beiden Ländern stehen grundsätzlich zwei Handlungsalternativen zur Verfügung, nämlich die Rüstung zu begrenzen und Staatsfinanzen für andere Aufgaben freizusetzen oder aber die Rüstung zu forcieren. In den inneren Zellen der Entscheidungsmatrix sind für jede Kombination von Entscheidungen die sogenannten Auszahlungen für beide Länder dargestellt, die erste Zahl gilt für Deutschland, die zweite für Frankreich. Größere Zahlen sind besser als kleine.94 Versetzen wir uns nun in die Lage einer deutschen Regierung ohne Rüstungsbeschränkungen. Was soll man tun? Wenn man erwartet, dass in Frankreich eine pazifistische Regierung die Rüstung begrenzen wird, ist es für Deutschland besser, seine Rüstung zu forcieren, da man dann Frankreich erpressen oder sogar überfallen kann und (in Form von Kriegsbeute) die Auszahlung 10 und nicht nur 3 erhält. Erscheint es wahrscheinlicher, dass Frankreich verstärkt aufrüsten wird, ist es wiederum vorteilhaft, selbst die Rüstung zu forcieren, da sich hierdurch die eigene Auszahlung von 0 auf 1 erhöht. In diesem Spiel ist die Strategie „Rüstung forcieren“ dominant, denn sie ist auf jedes denkbare Verhalten Frankreichs die optimale Antwort. Da in Frankreich symmetrische Überlegungen durchgeführt werden, ist das 93 94
Vgl. Morton D. Davis (2005): Spieltheorie für Nichtmathematiker, 4. Aufl., München u.a. Die Auszahlungsbeträge sind hier frei und fiktiv gewählt. Sie entsprechen dem Wert der militärischen Erfolgsaussichten abzüglich der Rüstungsausgaben und müssten in einer realen Entscheidungssituation natürlich sorgfältig abgeschätzt werden.
78
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“
Ergebnis, dass beide Länder verstärkt aufrüsten und jeweils die Auszahlung 1 erhalten. Nach John Nash wird diese Kombination von dominanten Strategien als Nash-Gleichgewicht bezeichnet.95 Einmal erreicht, gibt es für keinen Spieler einen Anreiz, seine Strategie zu verändern. Das Nash-Gleichgewicht, so zwingend es sich aus der spieltheoretischen Logik ergibt, stellt allerdings keine optimale Lösung dar. Besser wäre es für Frankreich und Deutschland, jeweils die Rüstung zu begrenzen und damit mit (3,3) Auszahlungen zu verwirklichen, die deutlich oberhalb jener des Nash-Gleichgewichts (1,1) liegen. Dies ist ein Beispiel für das berühmte „Gefangenendilemma“ der (nicht-kooperativen) Spieltheorie: Solange beide Seiten keine bindenden Verträge treffen können, führt die dominante Strategie zu einem suboptimalen Ergebnis. Politikern wie Gustav Stresemann und Aristide Briand ging es daher gerade darum, eine vertragliche Basis herzustellen, die ein Wettrüsten verhinderte. Der Versailler Vertrag ist in diesem Sinn als eine zusätzliche (allerdings oktroyierte) „Spielregel“ zu interpretieren, die es beiden Ländern ermöglichte, eine Friedensdividende zu realisieren. Diese mag noch deutlich höher ausgefallen sein als es bereits die Überlegungen von Hantke und Spoerer nahelegen. Obwohl die Spieltheorie die analytische Grundlage bietet, strategisches Verhalten von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen präzise zu untersuchen, wird sie in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung bisher kaum verwendet.96 In den Wirtschaftswissenschaften hat sich dieses Konzept vor allem bei der Untersuchung des Verhaltens marktmächtiger Unternehmen in Oligopolen oder Kartellen bewährt. Zurück zum eigentlichen Reparationsproblem. Nach der Aufbringung der Reparationen im Inland war der Transfer an das Ausland das zweite reparationspolitische Problem der Reichsregierung (vgl. Abb. 4.3). Ein nachhaltiger Transfer der Reparationen hätte nur funktionieren können, wenn Deutschland im Außenhandel einen Überschuss erzielt hätte. Die Exporteure hätten die verdienten Devisen bei den Geschäftsbanken in Reichsmark eingetauscht, so dass die Golddevisen über die Geschäftsbanken zur Reichsbank geflossen wären. Die Reichsregierung hätte damit die Reparationen in Golddevisen transferiert und die Empfängerländer hätten ihre Schulden in den Vereinigten Staaten beglichen. Dieser Plan hätte also realwirtschaftlich bedeutet, dass Deutschland anhaltend mehr produziert als konsumiert und die Vereinigten Staaten spiegelbildlich mehr konsumiert als produziert – eine Konstellation, wie sie dann seit den frühen 1950er Jahren in der Bundesrepublik und kurz darauf auch in den Vereinigten Staaten tatsächlich eintrat, wenn auch unter vollständig geänderten Umständen. Tatsächlich füllten jedoch nicht Außenhandelsüberschüsse, sondern Kapitalimporte den Reparationskreislauf. Nach der Hyperinflation war man im In- und Ausland verständlicherweise misstrauisch, was die Stabilität der neuen Renten- bzw. Reichsmark anging. Um ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, verfolgte die Reichsbank eine Politik des knappen 95 96
Der Mathematiker John F. Nash jr. (* 1928) erhielt 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten zur Spieltheorie. Vgl. grundsätzlich Avner Greif (2000): The Fundamental Problem of Exchange. A Research Agenda in Historical Institutional Analysis, in: European Review of Economic History 4, S. 251– 284, und als Anwendung auf die Frage der Reparationen: Albrecht Ritschl (1999): Les réparations allemandes, 1920–1933. Une controverse revue par la théorie des jeux, in: Economie internationale 78, S. 129–154.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft
79
Geldes, indem sie die Zinsen hoch ansetzte. Dies führte im Inland dazu, dass Kredite teurer wurden, sich viele potentielle Investitionen für die Unternehmen nicht rechneten und die Arbeitslosigkeit zeitweilig anstieg. Die Preise stiegen zwar an, jedoch kontrolliert. Im Ausland sah man, dass die Reichsbank tatsächlich eine stabilitätsorientierte Politik verfolgte und die Bindung der Reichsmark an das Gold glaubwürdig war. Die hohen Zinsen, mit denen die Reichsbank ihre Politik durchsetzte, waren für ausländische Anleger ausgesprochen attraktiv. Das hohe Zinsgefälle zwischen Deutschland und anderen als stabil eingeschätzten Volkswirtschaften brachte somit ab 1924 deutsche Unternehmen, Kommunen, ja selbst kirchliche Einrichtungen mit ausländischen Investoren zusammen.97 Für die deutsche Seite war der Auslandskredit preiswerter als der inländische, und für die ausländische war es ein attraktives Geschäft. Die Folge war somit, dass sich Deutschland als Ganzes im Ausland verschuldete und die Golddevisen – bildlich gesprochen – auf diese Weise in die Keller der Reichsbank kamen. Deutschland konnte seine politischen (Reparations-) Schulden zahlen, ohne den Konsum einschränken zu müssen, indem es sie durch andere, privatwirtschaftliche Schulden ersetzte. Man nannte dies die „Kommerzialisierung“ der Reparationen. Von verschiedener Seite drängte man auf eine Revision der Reparationsregelung. Insbesondere nachdem Deutschland 1928/29 erstmals die volle Annuität von 2,5 Milliarden Reichsmark zahlen musste, verlangte die Reichsregierung eine Reduktion der Reparationslast. Auf alliierter Seite bedauerte man, sich auf den Transferschutz eingelassen zu haben. Zwar sah das wirtschaftliche Wachstum in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sehr ordentlich aus, doch die Kommerzialisierung der Reparationen blieb den Zeitgenossen natürlich nicht verborgen, zumal Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht gerne auf die darin liegenden Risiken hinwies. Insbesondere Frankreich drängte auf eine auch formale Kommerzialisierung der Reparationen, z.B. durch eine Reichsbankanleihe. Da Frankreich damit privatwirtschaftlicher Gläubiger geworden wäre, hätte es den Transferschutz ausgehebelt. Von Februar bis Juni 1929 liefen daher neue Verhandlungen, die auf amerikanischer Seite der Industrielle Owen D. Young führte. Im bald sogenannten Young-Plan kam es tatsächlich zu einer deutlichen Reduktion der Gesamtreparationslast, die nun auf einen Gegenwartswert von 36 Milliarden RM, zahlbar in Annuitäten von bis zu 2,1 Milliarden RM, reduziert wurde. Die letzte Rate wäre 1987/88 fällig gewesen. Einige demütigende Bestimmungen entfielen, so insbesondere die alliierte Kontrolle der Reichsbank und der Reichsbahn. Die Aufgaben des Reparationsagenten wurden der neu zu gründenden Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel übertragen, an die das Reich nun die Reparationszahlungen überwies. Eine wesentliche Bestimmung entfiel allerdings: der Transferschutz. Deutschland, das eine Anleihe in Höhe von 1,2 Milliarden RM erhielt, war nun wieder selbst für seine externe Währungsstabilität verantwortlich. Damit war die Seniorität umgedreht: Privatwirtschaftliche Investoren konnten sich ausrechnen, dass die Reichsregierung im Zweifelsfall der Bedienung der Reparationsschuld Vorrang einräumen würde, so dass ihre Forderungen nun nachrangig gestellt wurden und sie ein deutlich höheres Risiko eines deutschen Zahlungsausfalls liefen.
97
Vgl. Robert R. Kuczynski (1929): Deutsche Anleihen im Ausland 1924–1928, 2. Aufl., Berlin.
80
4 Wohlstand auf Pump: Die „Goldenen Zwanziger“ $
Vereinigte Staaten
Frankreich Großbritannien
Rückzahlung der interalliierten Schulden $, £ Transfer der Reparaonen in Devisen
Deutsche Regierung (Reichshaushalt)
$
Geplant: Exportüberschüsse Faksch: Anleihen
Geplant: Exportüberschüsse M
$, £
M Auringung der Reparaonen durch zusätzliche Steuern und Reichsbahngewinne
Reichsbank
Verkauf von Devisen gegen M
M
$, £
£
Deutsche Unternehmen und Haushalte Abbildung 4.3:
Der Kreislauf von Reparationen und Auslandsschulden
Anm.: eigene Darstellung.
Tabelle 4.11:
Die Veränderung der Auslandsverschuldung des Deutschen Reichs 1924 bis 1932 (Mrd. RM)
Nettokapitalimport
1924
1925
1926
1927
1928
1929
1930
1931
1932
langfristig
1,0
1,1
–1,4
1,8
1,7
0,4
–0,8
–0,1
–0,0
kurzfristig
1,5
0,3
–0,1
1,8
1,5
1,0
–0,4
–0,5
–0,8
nicht spezifiziert
0,4
1,7
–0,9
0,3
1,0
0,9
–0,7
–3,4
–0,2
Summe
2,9
3,1
–0,6
3,8
4,1
2,3
–0,4
–3,0
–0,6
Quelle:
Statistisches Reichsamt (1934): Die deutsche Zahlungsbilanz der Jahre 1924–1933, Berlin, S. 10f.
4.3 Deutschland in der Weltwirtschaft
81
Mit dem Young-Plan, der nach heftigen innenpolitischen Debatten und einem gescheiterten Volksbegehren der Rechten (Dezember 1929) im Mai 1930 rückwirkend zum 1.9.1929 in Kraft trat, schien nunmehr eine endgültige Reparationsregelung gefunden. Doch schon ein Jahre später, im Juni 1931, verkündete der US-Präsident Hoover ein einjähriges Moratorium. Ein knappes weiteres Jahr später, im Juli 1932, wurden auf einer Schuldenkonferenz in Lausanne die Reparationen bis auf einen symbolischen Restbetrag gestrichen. Der katastrophale wirtschaftliche Einbruch der deutschen Wirtschaft in der Weltwirtschaftskrise ließ eine Weiterzahlung der Reparationen illusionär erscheinen.
5
Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang: die Weltwirtschaftskrise und das Ende der Republik
Häufig wird geglaubt, dass der schlagartige Absturz der New Yorker Börsenkurse am 23. Oktober 1929 am nächsten Tag eine bis dahin florierende deutsche Wirtschaft getroffen und diese binnen weniger Wochen in die Krise gestürzt habe. Beides ist falsch. Die deutsche Wirtschaft florierte im Herbst 1929 keineswegs mehr, und der wirtschaftliche Verfall erfolgte nicht schlagartig, sondern in einer – allerdings recht zügigen – Abwärtsbewegung. Was genau die Weltwirtschaftskrise verursacht hatte, ist bis heute umstritten. Der Ökonom und spätere Präsident der US-Zentralbank, Ben Bernanke, schrieb 1995: „To understand the Great Depression is the Holy Grail of macroeconomics.“98 Wesentliche Ursachen sind mittlerweile identifiziert; strittig ist vor allem ihre Gewichtung als Erklärung für die Krise. Zu unterscheiden sind weltweite, amerikanische und – in unserem Kontext – spezifisch deutsche Krisenursachen. Weltweit führte in den 1920er Jahren ein Verfall der Agrar- und Rohstoffpreise zu Störungen der internationalen Handelsbeziehungen. Schon die Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg hatte den wirtschaftlichen Strukturwandel verstärkt, indem sie die Agrarwirtschaften der meisten europäischen Staaten unter Importdruck setzte. Die Unterbrechung langjähriger Lieferbeziehungen durch den Ersten Weltkrieg hatte weitere Verwerfungen mit sich gebracht, die sich nach dem Krieg als Überkapazitäten bemerkbar machten. Der daraus resultierende Verfall der Agrar- und Rohstoffpreise brachte die Handelsbilanzen der agrar- und rohstoffexportierenden Staaten ins Defizit, das nur eine Zeit lang durch Kapitalimporte gedeckt werden konnte. Es kam zu Zahlungsbilanzkrisen, die ab Ende 1929 einige Länder v.a. in Mittel- und Südamerika, aber auch im Commonwealth (Kanada, Australien und Neuseeland) dazu zwangen, ihre Währungen abzuwerten oder ganz vom Goldstandard abzugehen. Zudem ergriffen sie protektionistische Maßnahmen. Die Industriestaaten profitierten zwar vom Verfall der Agrar- und Rohstoffpreise – ihre Terms of trade (vgl. oben Kapitel 4.3.2) verbesserten sich. Doch ihre Exportchancen verringerten sich, so dass sie letztlich ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden. Zudem verlangten die europäischen Landwirte Schutz vor den immer billiger werdenden Agrarimporten aus Übersee. Somit zeichnete sich schon vor dem Oktober 1929 ein zunehmender Protektionismus ab, der letztlich in eine weitgehende Desintegration der Weltwirtschaft münden sollte. Zu den besonders protektionistischen Staaten zählten die Vereinigten Staaten. Dort hatte nach Überwindung einer Stabilisierungskrise 1920/21 ein Boom eingesetzt, der auch auf den Aktienmarkt übergriff. Die Spekulation mit Aktien war dort nicht, wie in Europa, auf eine ver98
Ben Bernanke (1995): The Macroeconomics of the Great Depression. A Comparative Approach, in: Journal of Money, Credit, and Banking 27, S. 1–28, hier S. 1.
84
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
gleichsweise kleine großbürgerliche oder adlige Schicht beschränkt. Auch die Mittelschicht beteiligte sich am Börsenboom. Häufig dienten Aktien als Sicherheit, um bei Banken Kredit zu bekommen, der dann wiederum in Aktien angelegt wurde. Solange die Aktienkurse stiegen, war dies ein gutes Geschäft. Doch die Entwicklung an der Börse kann sich nicht auf Dauer von der realwirtschaftlichen Entwicklung abkoppeln. Und diese verlor in den Vereinigten Staaten im Laufe der 1920er Jahre an Dynamik. Seit 1927 waren die Investitionen rückläufig, insbesondere im Wohnungsbau. Dies lag zum einen am Rückgang des natürlichen Bevölkerungswachstums, und zum anderen am Rückgang der Immigration infolge einer immer restriktiveren Einwanderungspolitik. Die Anzeichen einer drohenden Krise wurden jedoch vom Aktienboom überdeckt. Aus Sicht der amerikanischen Mittelschicht schien sich das Land in einem goldenen Zeitalter steigenden Wohlstands zu befinden. Kühlschrank, Waschmaschine, Auto wurden in diesen Jahren Standard in bürgerlichen Haushalten – drei Jahrzehnte, bevor die Kultur des Massenkonsums auch Westeuropa erfasste. Zur Finanzierung dieser langlebigen Konsumgüter wurde es üblich, Ratenzahlungen zu vereinbaren, so dass sich viele Haushalte verschuldeten. Als dann die Börsenkurse fielen, verloren die als Sicherheit dienenden Aktien an Wert, und die Banken kündigten die Kredite sowohl bei ihren unternehmerischen als auch bei den privaten Kunden. Unternehmen brachen zusammen und die schnell zunehmende Arbeitslosigkeit verringerte sowohl den Konsum als auch die Fähigkeit, die Kredite zu bedienen oder gar zurückzuzahlen. Der Run auf Bargeld ruinierte hunderte amerikanischer Banken.
5.1
Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland
In Deutschland waren es weniger die privaten Haushalte als vielmehr die Unternehmen, speziell Banken, und öffentliche Körperschaften, die ein zunehmend riskantes Finanzierungsgebaren zeigten. Verhältnismäßig viele kurzfristige Kredite wurden zur Finanzierung langfristiger Investitionen herangezogen. Neben dieses Risiko der Fristentransformation trat noch das des Wechselkurses, denn der größte Teil der Auslandskredite erfolgte in fremder Währung. Abbildung 5.1 veranschaulicht die zunehmenden Risiken in den Bankbilanzen Ende der 1920er Jahre verglichen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Aktiva
Passiva
langfristige Kredite kurzfristige Kredite
Eigene Mittel Fremde Mittel langfristige fremde Mittel kurzfristige fremde Mittel von Inländern von Ausländern
Abbildung 5.1:
Veränderungen in den Bilanzen der deutschen Geschäftsbanken
Anm.:
relative Zunahme, relative Abnahme.
Die wichtigsten Ursachen dieser Veränderungen sind größtenteils bereits genannt worden: die Vernichtung der finanziellen Reserven in der Inflation und die zunehmende Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von ausländischen Krediten aufgrund der restriktiven Geldpolitik
5.1 Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland
85
der Reichsbank. Dazu kam ein scharfer Wettbewerbsdruck unter den deutschen Geschäftsbanken, die ihre Geschäftsabläufe rationalisierten und durch Fusionen Größenvorteile realisieren wollten. Die ohnehin rückläufige deutsche Wirtschaft wurde somit über verschiedene Übertragungswege von der internationalen Krise erfasst. Die stark exportorientierte deutsche Industrie litt unter der Nachfrageschwäche der agrar- und rohstoffexportierenden Länder, vor allem aber unter dem weltweit zunehmenden Protektionismus, dessen vorläufiger Höhepunkt im Juni 1930 eine scharfe Zollerhöhung der Vereinigten Staaten im Rahmen des Smoot-Hawley Tariff Act war. Der US-Börsencrash führte dann ab dem Herbst 1929 dazu, dass deutsche Institutionen, v.a. Banken, die sich kurzfristig in den Vereinigten Staaten verschuldet hatten, den Abzug eines Teils der Gelder hinnehmen mussten – schließlich benötigten die amerikanischen Investoren Bargeld. Dieser Abzug machte sich ab Mitte 1930 in den Bilanzen der deutschen Banken bemerkbar. Zu diesem Zeitpunkt war die Krise in der Realwirtschaft schon längst angekommen. 7.000.000 6.000.000 5.000.000 4.000.000 3.000.000 2.000.000 1.000.000 0 Jul 35 Apr 35 Jan 35 Okt 34 Jul 34 Apr 34 Jan 34 Okt 33 Jul 33 Apr 33 Jan 33 Okt 32 Jul 32 Apr 32 Jan 32 Okt 31 Jul 31 Apr 31 Jan 31 Okt 30 Jul 30 Apr 30 Jan 30 Okt 29 Jul 29 Apr 29 Jan 29 Okt 28 Jul 28 Apr 28 Jan 28 Okt 27 Jul 27 Apr 27 Jan 27 Okt 26 Jul 26 Apr 26 Jan 26 Okt 25 Jul 25 Apr 25 Jan 25
Abbildung 5.2:
Bei den Arbeitsämtern gemeldete Arbeitslose
Quelle:
Ernst Wagemann (1935): Konjunkturstatistisches Handbuch 1936, Berlin, S. 16.
Die Zahl der Arbeitslosen erreichte bereits im Winter 1928/29 bis zu 3 Millionen, und sie lag damit deutlich höher als auf dem Höhepunkt der Zwischenkrise 1925/26, als sie ein Maximum von 2,3 Millionen erreicht hatte. Zwar sank die Arbeitslosenzahl im Verlauf des Jahres 1929 noch einmal beträchtlich, jedoch lag sie am Jahresende ebenso hoch wie am Anfang, nämlich bei gut 2,8 Millionen. Bis Ende 1930 stieg sie dann auf 4,4 Millionen an. Das Erschreckende in den Jahren 1930 und 1931 war, dass die im Sommer sonst übliche jahreszeitliche Entspannung des Arbeitsmarktes sehr gering ausfiel. Im Winter 1931/32 belief sich die Arbeitslosigkeit auf über 6 Millionen. Diese Zahl wurde noch einmal im folgenden Winter erreicht, dann verringerte sie sich im Zuge der nationalsozialistischen Antikrisenpolitik schnell (vgl. Kapitel 6.1.1).
86
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
120
100
80
60
40
20
0 Jul 35
Ernst Wagemann (1935): Konjunkturstatistisches Handbuch 1936, Berlin, S. 52.
Apr 35
Quelle:
Jan 35
Index der Industrieproduktion ohne Nahrungs- und Genussmittel (1928 = 100)
Okt 34
Jul 34
Apr 34
Jan 34
Okt 33
Jul 33
Apr 33
Jan 33
Okt 32
Jul 32
Apr 32
Jan 32
Okt 31
Jul 31
Apr 31
Jan 31
Okt 30
Jul 30
Apr 30
Jan 30
Okt 29
Jul 29
Apr 29
Jan 29
Abbildung 5.3:
Die Industrieproduktion lag im Februar 1930 noch höher als im gleichen Monat des Vorjahrs. Trotzdem war die Stimmung in der deutschen Wirtschaft bereits zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht, was am stark gesunkenen Auftragseingang lag, der als Frühindikator den künftigen konjunkturellen Niedergang bereits erahnen ließ. Und die Industrieproduktion erlebte im Verlauf des Jahres 1930 keine saisonale Belebung, sondern verminderte sich rasch um 12 Prozent. Im Frühjahr 1931 zeichnete sich anders als im Vorjahr eine deutliche Erhöhung der Produktion ab. Auch andere Wirtschaftsindikatoren, wie zum Beispiel die Aktienkurse, zeigten nach oben. Von zeitgenössischen Kommentatoren der Wirtschaftslage wurde daran die Hoffnung geknüpft, dass der Tiefpunkt der Krise überwunden sein könnte. Spätestens mit der Bankenkrise im Juli 1931 wurden diese Erwartungen jedoch zerstört. Die damit einhergehende Liquiditätskrise der Unternehmen ließ die Zahl der Wechselproteste und Konkursverfahren sprunghaft ansteigen. Die Produktion schrumpfte weiter und belief sich im Januar 1932 auf nur noch die Hälfte ihres Niveaus von 30 Monate zuvor. Im Sommer 1932 war dann der tatsächliche Tiefpunkt erreicht. Im Herbst 1932, also noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, begann der Wiederaufschwung. Die Bedeutung der Krise war für die Zeitgenossen schwer abzuschätzen. Man ging zunächst von einer Konjunkturkrise wie 1925/26 aus. Nach herrschender Meinung der zeitgenössischen deutschen Ökonomen erforderte eine Konjunkturkrise keine außergewöhnlichen Maßnahmen der Regierung. In der Krise verschwänden die schlecht geführten Unternehmen, und die gut geführten würden gestärkt aus ihr hervorgehen, insofern würde auch die rasch steigende Arbeitslosigkeit bald wieder zurückgehen. Tatsächlich gab es ja im Frühjahr 1931 einige Hinweise darauf, dass die Talsohle durchschritten sein könnte. Doch dann sandte im Mai 1931 die Zahlungsunfähigkeit der Creditanstalt, der größten österreichischen Bank, neue Schockwellen in die internationale Finanzwelt. Viele ausländische Investoren zogen ihre Gelder aus Österreich und Deutschland, wo sie eine ähnliche Entwicklung befürchteten, ab. Unabhängig davon gaben noch im Mai der Warenhauskonzern Karstadt und die Versicherung Nordstern hohe Verluste bekannt.
5.1 Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland
87
Die Kapitalabzüge aus Deutschland erhöhten sich Mitte Juni 1931, als bekannt wurde, dass die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei (Nordwolle, vgl. oben Tab. 4.5), Europas größter Wollkonzern, jahrelang die Bilanzen gefälscht hatte und zahlungsunfähig zu werden drohte. Mit der Nordwolle kam auch ihre Hausbank, die Darmstädter und Nationalbank (Danat) in Gefahr, da diese einen ungewöhnlich hohen Anteil ihrer Kredite an die Nordwolle gegeben hatte. Der Reichsbank und der Reichsregierung war nach den Erfahrungen in Österreich klar, dass ein Zusammenbruch der Danat einen Run auf alle anderen deutschen Banken nach sich ziehen würde. Hinter den Kulissen liefen daher bald hektische Rettungsversuche. Ein gemeinsames Vorgehen der deutschen Großbanken scheiterte jedoch an dem notorisch schlechten Verhältnis des in Bankkreisen umstrittenen Vorstandsvorsitzenden der Danat, Jacob Goldschmidt, zu seinen Kollegen. Im Hintergrund stand dabei die Vermutung, dass die Reichsbank als expliziter Garant der Währungsstabilität implizit eine Garantie als Lender of last resort abgebe. Anders ausgedrückt, die Banken hofften darauf, zu groß und zu wichtig zu sein, als dass die Reichsbank sie fallen lassen könnte (heute mit Too big to fail umschrieben). Sie hatten daher kaum Anreize, dem ungeliebten Goldschmidt entgegen zu kommen. Mittlerweile trat zur Bankenkrise eine Währungskrise. Die anhaltenden Kapitalabzüge führten dazu, dass die Währungsreserven der Reichsbank dahin schmolzen und unter die im Young-Plan vorgeschriebene 40 prozentige Deckungsgrenze zu schwinden drohten. In dieser Situation war nicht hilfreich, dass Ende Mai in Frankreich Pläne von Reichskanzler Heinrich Brüning einer deutsch-österreichischen Zollunion bekannt wurden und dieser überdies im Juni die Reparationslast als untragbar bezeichnete. Dies rief im Ausland Angst vor einem deutschen Staatsbankrott hervor. Die Reichsbank stand somit vor einem Dilemma. Agierte sie als Lender of last resort, indem sie die Danat mit frischem Geld stützte, so würde sie die Zweifel an ihrer Stabilitätspolitik verstärken, was die Goldbindung der Reichsmark in Gefahr brachte. Ließ sie die Danat zahlungsunfähig werden, so drohte eine Kettenreaktion im deutschen Banksystem, die letztlich auch die Stabilität der Währung gefährdet hätte.99 Um aus diesem Dilemma einer gleichzeitigen Bank- und Währungskrise zu kommen, hätte die Reichsbank im Rahmen einer international koordinierten Rettungsaktion einen Goldkredit erhalten müssen. Tatsächlich wurden entsprechende Pläne diskutiert, doch erhielt Deutschland lediglich einen Kredit in Höhe von 100 Millionen Dollar. Frankreich, das seit Jahren wegen der Unterbewertung seiner Währung Goldzuflüsse verbuchte und diese sterilisierte, d.h. in der Zentralbank ansammelte, ohne die Geldmenge entsprechend zu erhöhen, hätte durchaus einen Kredit geben können und war dazu im Prinzip bereit. Doch das jeweilige innenpolitische Klima bewirkte in Frankreich, dass die Regierung einen Kredit an außenpolitische Forderungen knüpfen musste, und in Deutschland, dass die Regierung sich auf ebensolche Forderungen nicht einlassen durfte. Die nationalistische Stimmung in beiden Staaten verhinderte somit den Kredit. Um nicht unter die Deckungsgrenze zu fallen, verschärfte die Reichsbank Anfang Juli ihre Kreditbestimmungen, so dass die Danat-Bank dem Reichskanzler am 11. Juli mitteilte, dass sie ihre Schalter am kommenden Montag, dem 13. Juli, nicht öffnen würde.
99
Vgl. grundlegend zur Bankenkrise: Isabel Schnabel (2004): The German Twin Crisis of 1931, in: Journal of Economic History 64, S. 822–871.
88
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
Hatten Regierung und Banken gehofft, dass sich die Krise auf die Danat begrenzen lassen würde, so sahen sie sich getäuscht. Da die Kunden am 13. Juli auch bei anderen Banken ihr Geld abheben wollten, musste die Reichsbank zu einem Trick greifen. Sie erklärte kurzerhand den 14. und 15. Juli zu Bankfeiertagen, um Zeit für Rettungsmaßnahmen zu haben. Tabelle 5.1 verdeutlicht die Dramatik der Situation. Bereits Ende März 1931 hatten die deutschen Großbanken verglichen mit Ende Juni 1930 etwa 7 Prozent der inländischen und 19 Prozent der ausländischen Einlagen verloren. Besonders stark betroffen war die Deutsche Bank. Im Zuge der Bankenkrise verloren die Großbanken weitere 17 Prozent der inländischen und 29 Prozent der ausländischen Einlagen. Während sich nun die Deutsche Bank als vergleichsweise stabil erwies, waren die Verluste bei der Dresdner Bank und vor allem bei der Danat fatal. Positiv heben sich demgegenüber die Sparkassen ab. Sie verbuchten zwischen Mitte 1930 und März 1931 sogar zunehmende Einlagen, die im Zuge der Krise so wenig abschmolzen, dass sie Ende Juli 1931 immer noch höher waren als dreizehn Monate zuvor. Hier zeigten sich die Vorteile einer konservativen Geschäftspolitik, die ohne ausländische Einlagen auskam. Tabelle 5.1:
Entwicklung der in- und ausländischen Einlagen ausgewählter Banken und Bankgruppen 30.6. 1930
31.3. 1931
30.4. 1931
31.5. 1931
30.6. 1931
10.7. 1931
31.7 1931
I A G
107,9 122,8 -
100,0 100,0 100,0
99,0
98,8 95,4 -
98,7 74,5 -
72,1 -
82,6 70,9 -
Deutsche Bank
I A G
110,6 133,6 -
100,0 100,0 100,0
98,1
100,0 94,6 -
90,7
73,9 -
88,4 69,2 -
Dresdner Bank
I A G
104,3 123,8 -
100,0 100,0 100,0
98,9
91,7 99,8 -
93,9 80,2 -
68,8 -
73,9 76,8 -
Danat-Bank
I A G
106,9 123,7 -
100,0 100,0 100,0
99,8
101,1 88,5 -
80,0
67,2 -
67,5 66,0 -
G
94,0
100,0
100,8
101,2
99,5
-
96,7
Großbanken
Sparkassen Anm.:
I – inländische Einlagen, A – ausländische Einlagen, G – gesamte Einlagen.
Quelle:
Isabel Schnabel (2004): The German Twin Crisis of 1931, in: Journal of Economic History 64, S. 856.
Mit den am 15. Juli 1931 von der Reichsregierung beschlossenen Maßnahmen wurde der Währungskrise damit begegnet, dass Deutschland zwar die Goldparität formal unverändert beibehielt, faktisch aber vom Goldstandard abging. Die Regierung setzte die Konvertibilität der Währung aus und führte eine Devisenbewirtschaftung ein, die in der Bundesrepublik endgültig erst 1961 mit dem Außenwirtschaftsgesetz beendet werden sollte. Im Rahmen der Bewirtschaftung mussten alle Devisen an die Reichsbank abgeführt werden. Der Kauf von Devisen war genehmigungspflichtig. Zur Eindämmung der Kapitalflucht unterlagen Gold und Devisen einem Ausfuhrverbot. Mit den ausländischen Geldgebern wurde ein Stillhalteabkommen vereinbart.
5.1 Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland
89
Die Bankenkrise wurde dadurch beendet, dass faktisch alle deutschen Großbanken mit Ausnahme der Deutschen Bank und der Berliner Handelsgesellschaft durch Kapitalschnitte und staatliche Mehrheitsbeteiligungen verstaatlicht wurden. Die Danat-Bank wurde mit der Dresdner Bank verschmolzen. Am 5. August konnte der normale Kapitalverkehr – nun allerdings im Korsett der Devisenbewirtschaftung – wieder aufgenommen werden. Die Bewältigung der Banken- und der Währungskrise im Sommer 1931 konnte den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Tätigkeit nicht stoppen. Die Arbeitslosenzahlen stiegen weiter an (vgl. oben Abb. 5.2). Für den deutschen Export war es katastrophal, dass Großbritannien am 19. September 1931 vom Goldstandard abging und mit den im Commonwealth verbundenen Staaten eine Präferenzzollzone errichtete. Dies erschwerte deutschen Unternehmen nicht nur den Export nach Großbritannien, sondern verschlechterte vor allem in Drittstaaten ihre Position, da britische Firmen (und solche aus dem Commonwealth) sie nun leicht unterbieten konnten. Dass umgekehrt Importe aus dem Commonwealth billiger wurden, milderte ihre Probleme nur wenig. Milton Friedman und Anna Schwartz sehen in der Deflation die eigentliche Ursache für die Schwere und Dauer der Depression in Amerika.100 Im Folgenden übertragen wir ihren Erklärungsansatz auf Deutschland. Hierzu werden wir zunächst einen genaueren Blick auf die Investitionsentscheidungen der Unternehmer werfen und erläutern, warum ein Anstieg des Realzinses im Zuge der Deflation zu einem Einbruch der Investitionen führte. Danach werden wir untersuchen, inwieweit Verhaltensänderungen der Reichsbank, der Geschäftsbanken und der Bankkunden für den von Brüning eingeleiteten, aber über seine Amtszeit anhaltenden deflationären Prozess verantwortlich zu machen sind. Unternehmen basieren ihre Investitionsentscheidungen auf einem Vergleich der erwarteten internen Verzinsung der projektierten Investitionen und dem Realzins ir, der sich als Differenz aus dem nominalen Zins in und der erwarteten Inflationsrate π ergibt: ir = in – π. In diesem Kalkül stellt der Realzins die Opportunitätskosten der Investitionen dar, entweder in Form entgangener Zinseinnahmen bei Finanzierung der Investitionen aus eigenen Mitteln oder als Fremdkapitalkosten bei Finanzierung der Investitionen durch Kreditaufnahme. Eine Investition ist nur dann sinnvoll, wenn die interne Verzinsung (Rendite) größer als der Realzins ist. Im ersten Diagramm von Abbildung 5.4 ist dieser Zusammenhang für ein einfaches Beispiel dargestellt. Zur Debatte stehen in einem Unternehmen vier mögliche Investitionsprojekte jeweils gleichen Volumens, die sich jedoch durch die erwartete interne Verzinsung unterscheiden, die jeweils durch die obere horizontale Begrenzungslinie der Projekte I (das rentabelste) bis IV (das am wenigsten rentable) angezeigt wird. Der in der Ausgangslage gültige Realzins ir wird durch die durchgezogene schwarze Linie angezeigt. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen – stellen wir uns vor, wir befinden uns im Jahr 1928 – wird sich das Unternehmen entscheiden, die Projekte I bis III durchzuführen und Projekt IV zu unterlassen, weil dessen Verzinsung unter dem Realzins liegt. Statt das Projekt durchzuführen, legt man das Geld besser an. Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise brach der Absatz der deutschen Unternehmen ein. Investitionsprojekte, die unter den eher optimistischen Zukunftserwartungen des Boomjahres 1928 noch als sehr rentabel erschienen, mussten nun einer Neubewertung unter100
Vgl. Milton Friedman und Anna J. Schwartz (1963): A Monetary History of the United States, 1867–1960, Princeton.
90
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
zogen werden. Im mittleren Diagramm von Abbildung 5.4 wird dieser Übergang von optimistischen zu pessimistischen Erwartungen durch eine Verringerung der erwarteten internen Verzinsung aller vier Projekte veranschaulicht. Selbst bei zunächst noch konstantem realem Zinssatz erscheinen nunmehr nur noch die beiden Investitionsprojekte I und II profitabel. Da sich dieses Problem für viele Unternehmen stellt, bricht die gesamtwirtschaftliche Investitionsnachfrage ein. Allerdings war der Realzins während der Weltwirtschaftskrise nicht konstant. Die Nominalzinsen, hier beispielsweise bemessen am Diskontsatz, stiegen von 7 Prozent im Jahr 1928 auf bis zu 15 Prozent im Jahr 1931 an, um dann schrittweise auf bis zu 4 Prozent Ende 1932 zu fallen. Gleichzeitig fiel der Verbraucherpreisindex, der im Jahr 1928 noch um 1,5 Prozent gestiegen war, von 154 im Jahr 1929 (1913/14=100) auf 120,6 im Jahr 1932, was einer durchschnittlichen jährlichen Deflationsrate (und mithin einer negativen Inflationsrate) von etwa 7 Prozent entspricht.101 Somit stieg der Realzinssatz von 5,5 Prozent (7 Prozent – 1,5 Prozent) im Jahr 1928 auf bis zu 22 Prozent (15 Prozent – (–7 Prozent)) im Jahr 1931 an. Diese Entwicklung ist im dritten Diagramm von Abbildung 5.4 durch die Verschiebung der Realzinsgeraden nach oben dargestellt. Angesichts negativer Zukunftserwartungen und steigender Realzinsen ist jetzt nur noch Projekt I eine sinnvolle Investition. Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Deflation die Krise wohl auch in Deutschland erheblich verschärft hat. Nicht umsonst bemühen sich heutzutage die Zentralbanken, in Rezessionsphasen das Zinsniveau niedrig zu halten, um Investoren nicht weiter zu entmutigen. Nun gilt es abschließend noch zu klären, durch welche wirtschaftlichen Entwicklungen die Deflation am Ende der Weimarer Republik hervorgerufen wurde. Wie in Kapitel 3.2 gezeigt, besteht aus quantitätstheoretischer Perspektive ein proportionaler Zusammenhang zwischen der Geldmenge und dem Preisniveau einer Volkswirtschaft. Unter sonst gleichen Bedingungen werden die Preise dann sinken, wenn sich die umlaufende Geldmenge verringert. Bevor man diesen einfachen Zusammenhang auch als Erklärung für die Deflation der Weltwirtschaftskrise akzeptieren kann, muss man sich zunächst einige zusätzliche Gedanken über den verwendeten Geldmengenbegriff machen. Im Rahmen der Diskussion der Ursachen für die Inflation von 1914 bis 1923 standen die umlaufenden Edelmetallmünzen und Banknoten im Mittelpunkt, die in moderner wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie als M0 oder auch Geldbasis bezeichnet werden. In der Zwischenkriegszeit gewann aber in zunehmendem Maße ein weiteres Zahlungsmittel an Bedeutung, nämlich die bei den Geschäftsbanken gehaltenen Giroguthaben (Sichteinlagen), über die ohne Einsatz von Bargeld durch Überweisungen oder Scheckverkehr verfügt werden konnte. Das Geldmengenkonzept M1 trägt diesem Umstand Rechnung und zählt die Sichteinlagen neben der Geldbasis zur preisniveaurelevanten Geldmenge.
101
Vgl. Deutsche Bundesbank (1976), S. 7, 276.
5.1 Verlauf und Ursachen der Krise in Deutschland
Zins
ir
I
II
III
IV
Invesonsvolumen
Zins
ir
I
II
III
IV
Invesonsvolumen
Zins
i r'
ir
I
II
III
IV
Invesonsvolumen
Abbildung 5.4:
Die Investitionsentscheidung der Unternehmen
Anm.:
Eigene Darstellung.
91
92
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
Für das hier diskutierte Problem ist das Giralgeld deshalb so interessant, weil dessen Umfang nicht von der Reichsbank, sondern vom Verhalten der Geschäftsbanken und der Bankkunden bestimmt wurde. Den Prozess der Giralgeldschöpfung kann man sich folgendermaßen vorstellen. Ein Bankkunde eröffnet bei einer Geschäftsbank ein Girokonto und zahlt dort 100 Reichsmark in Form von Banknoten ein. In der Folgezeit kann er über dieses Guthaben im bargeldlosen Zahlungsverkehr verfügen. Die Geschäftsbank geht davon aus, dass der Bankkunde auf absehbare Zeit sein Konto nicht komplett auflösen und Bargeld einfordern wird. Sie behält deshalb nur einen Teil der eingezahlten Banknoten, sagen wir 20 Reichsmark, als Liquiditätsreserve zurück, sei es freiwillig oder aufgrund gesetzlicher Mindestreservevorschriften. Den Rest, also 80 Reichsmark, kann die Bank als Grundlage für die Kreditvergabe nutzen. Werden wiederum nur 20 Prozent der in Form von Giralgeld vergebenen Kredite mit Banknoten hinterlegt, kann die Bank aus 80 Reichsmark „freier“ Liquiditätsreserve weitere 400 Reichsmark Giralgeld schaffen. Das Verhältnis zwischen zusätzlich geschaffenem Giralgeld (400 Reichsmark) und zugrundeliegender Bargeldmenge (100 Reichsmark), also 4, wird als Geldschöpfungsmultiplikator m bezeichnet. Es gilt: M1 = m · M0. Wie hoch der Geldschöpfungsmultiplikator einer Volkswirtschaft tatsächlich ist, hängt maßgeblich vom Vertrauen der Marktteilnehmer in das Geschäftsbankensystem ab. Da dieses am Ende der Weimarer Republik durch die Bankenkrise erheblich erschüttert wurde, erscheinen zwei Verhaltensänderungen plausibel. Erstens ist zu erwarten, dass viele ehemalige Bankkunden misstrauisch blieben, ihre Barguthaben nicht wieder bei den Geschäftsbanken einzahlten, sondern diese zuhause „im Sparstrumpf“ horteten. Der Teil der Geldbasis, der den Geschäftsbanken nicht zur Verfügung gestellt wird, kann nicht zur Giralgeldschöpfung genutzt werden. Zweitens ist anzunehmen, dass auch die Geschäftsbanken nach der Bankenkrise vorsichtiger wurden und einen nunmehr größeren Anteil der ihnen verbliebenen Barmittel als Liquiditätsreserve hielten. Wenn diese beiden Verhaltensannahmen richtig sind, müsste der Geldschöpfungsmultiplikator im Verlauf der Bankenkrise erheblich gesunken sein. Tabelle 5.2: Jahr 1928 1929 1930 1931 1932 1933 Quelle:
Das Geldangebot und seine Determinanten Geldmenge M1 (in Mio. RM) 21.891 22.158 20.898 17.577 15.933 16.253
Geldschöpfungsmultiplikator 3,22 3,25 3,22 2,60 2,78 2,77
Geldmenge M0 (in Mio. RM) 6.806 6.809 6.494 6.772 5.732 5.873
Philipp Baudy (2010): Die Entwicklung der Geldmenge in Deutschland 1924–1945, Diplomarbeit Hohenheim, S. 64.
Tabelle 5.2 verdeutlicht, dass sich der Geldschöpfungsmultiplikator im Jahr 1931 in der Tat um fast 20 Prozent verringert hat und sich auch in den Folgejahren kaum erholte. Dies war der krisenverschärfende Effekt der Bankenkrise. In der Gesamtschau ermöglicht Tabelle 5.2 eine umfassende Erklärung für den Geldmengenrückgang (M1). Zwischen 1929 und 1930 war der Rückgang der Geldbasis (M0) im Zuge der sich verschärfenden Währungskrise Hauptursache des Geldmengenrückgangs und damit auch der Deflation. Der dramatische Einbruch von M1 im Jahr 1931 wurde durch den Rückgang des Geldschöpfungsmultiplikators bewirkt, dem die leicht expansive Geldpolitik der Reichsbank nicht spürbar entgegen-
5.2 Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Krise
93
wirken konnte. Im Jahr 1932 war es dann wiederum die stark sinkende Geldbasis (M0), welche die Geldmenge (M1) auf ihren absoluten Tiefpunkt trieb. Die damit einhergehende fortgesetzte Deflation führte über den Anstieg der Realzinsen zu dem unten in Tabelle 5.3 dokumentierten Verfall der Investitionen und damit maßgeblich zur hohen Arbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik.
5.2
Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Krise
Im Herbst 1931 konnte sich kaum ein Wirtschaftsexperte noch der Einsicht verschließen, dass sich die deutsche Wirtschaft in einer tiefen Krise befand, die längst auf die Politik übergegriffen hatte. Die letzte auf eine parlamentarische Mehrheit gestützte Koalition war Ende März 1930 an der Frage zerbrochen, wie die Beiträge und Leistungen der gerade erst eingeführten Arbeitslosenversicherung neu justiert werden sollten. Der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning wurde neuer Reichskanzler. Sein Versuch, die Arbeitslosenversicherung zu reformieren, scheiterte jedoch im Juli 1930 im Reichstag. Fortan regierte er, gestützt vom greisen Reichspräsidenten Hindenburg, mit Notverordnungen. Auf wirtschaftlichem Gebiet besonders wichtig waren die vier Notverordnungen „zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ vom 1. Dezember 1930, 5. Juli 1931, 6. Oktober 1931 und 8. Dezember 1931. Die sich in diesen Notverordnungen manifestierende Wirtschaftspolitik Brünings und die seiner Nachfolger sowie zeitgenössisch oder ex post von Historikern diskutierte Alternativen lassen sich anschaulich anhand der keynesianischen Verwendungsgleichung diskutieren: Y = C + I + G + (X – M) Die Gleichung besagt, dass sich das Bruttoinlandsprodukt Y (von englisch yield = Ertrag) aus dem privaten Konsum (C), Investitionen (I) und staatlichen Ausgaben (G) zusammensetzt. Außerdem kann es zur Produktion von Gütern verwendet werden, die nicht im Inland konsumiert (oder investiert), sondern exportiert (X) werden. Davon sind die Ausgaben für Importe (M) abzuziehen. Die Faktoren, die in den 1930er Jahren zum Schrumpfen der Wirtschaft beitrugen, lassen sich in dieses Schema einordnen. Die steigende Arbeitslosigkeit verringerte die Einkommen und damit den Konsum (C), die schlechte Nachfrage im In- und Ausland verringerte den Anreiz zu investieren (I), und der Staat sparte (G), vor allem unter Brüning. Sinken C, I, G (oder der Außenbeitrag (X – M)), so sinkt auch Y. Tabelle 5.3 zeigt, dass ganz im Sinne der monetaristischen Erklärung von Friedman und Schwartz auch in Deutschland insbesondere der starke Einbruch der Investitionen hauptverantwortlich für Dauer und Schärfe der Krise war. Für den konservativen Brüning war es unabdingbar, dass das schon seit Mitte 1929 immer wieder kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehende Reich einen ausgeglichenen Haushalt erreichte.102 Er senkte also die Staatsausgaben (G), v.a. bei der Beamtenbesoldung, im öffentlichen Wohnungsbau und bei den Sozialleistungen, und er erhöhte die Steuern, was sich durch eine Verringerung der verfügbaren Einkommen negativ auf den Konsum auswirkte (C). Dieser Teil der Brüning’schen Maßnahmen wirkte für sich genommen unstrittig krisen102
Vgl. zu Brünings Antikrisenpolitik Harold James (1988): Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936, Stuttgart.
94
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
verschärfend. Daher forderten immer mehr Wirtschaftsexperten, vor allem aus dem Lager der Gewerkschaften, das Ziel des ausgeglichenen Haushalts aufzugeben und durch eine Erhöhung der Staatsausgaben (G), notfalls unter Inkaufnahme von Schulden, das Wachstum anzukurbeln. Tabelle 5.3: Jahr 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 Quelle:
Die Verwendung des Bruttonationaleinkommens in Preisen von 1913 (1928=100, ohne Außenbeitrag) BNE 87 88 97 100 98 91 80 75 80
Konsum 87 89 96 100 98 97 93 89 87
Investitionen 77 82 100 100 93 76 51 38 48
Staatsausgaben 99 94 107 100 114 112 99 91 115
Albrecht Ritschl (2002): Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin, Anhang, Tab. B.7 und B.9.
Brüning ging einen anderen Weg, der letztlich auf eine Steigerung der Auslandsnachfrage nach deutschen Exporten (X) hinauslaufen sollte. Per Notverordnung senkte er im Dezember 1931 die Löhne und die Preise von Produkten, die von Kartellen bestimmt waren. Letzteres war nötig, da die Kartelle zuvor recht erfolgreich waren, das Preisniveau hochzuhalten. Insoweit ihre Produkte von nachgelagerten Branchen weiterverarbeitet wurden, belastete das deren Kostenstruktur erheblich. Die staatlich angeordneten Preissenkungen sollten deutsche Waren im Ausland attraktiver machen und so über verstärkten Export die Konjunktur wiederbeleben. Tatsächlich verringerte es aber wohl eher die inländische Investitionsnachfrage. Außerdem subventionierte das Reich Ausfallbürgschaften für Unternehmen, die Aufträge aus der Sowjetunion annahmen. Die Wirtschaft der Sowjetunion hatte sich weitgehend aus dem internationalen Konjunkturzusammenhang ausgekoppelt. Während in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion 1932/33 mehrere Millionen Menschen an Hunger starben, trieb Stalin ein ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm voran, für das er deutsche Investitionsgüter kaufte. Die sogenannten Russenaufträge dürften 1931/32 so manchem deutschen Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie das wirtschaftliche Überleben gesichert haben. Ein Bereich blieb von der Sparpolitik Brünings weitgehend verschont: die Landwirtschaft. Ihre Vertreter, v.a. die ostelbischen Gutsbesitzer, hatten direkten Zugang zum Reichspräsidenten, der ihrer Schicht entstammte. Neben einer Erhöhung der Importzölle auf Agrargüter und der Einführung von Importkontingenten hatte vor allem das Ende März 1931 erlassene Osthilfegesetz den Anspruch, der Landwirtschaft zu helfen. Es unterstützte ostelbische Landwirte durch die Gewährung von Darlehen und Umschuldungsmaßnahmen. Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Regierung Brüning waren unter den Zeitgenossen, in den 1980er Jahren aber auch unter westdeutschen Historikern stark umstritten. Die Hauptfragen waren, ob Brüning realistische Alternativen zu seiner prozyklischen Wirtschaftspolitik hatte, und wenn ja, ob er diese bewusst nicht wählte. Das letztere Argument bettet Brünings
5.2 Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Krise
95
umstrittene Wirtschafts- und Sozialpolitik in einen größeren politischen Zusammenhang ein. Demnach habe Brüning die Krise instrumentalisiert, um dem Ausland durch demonstrative Zahlungswilligkeit – einschließlich harter austeritätspolitischer Maßnahmen, um dies weiter zu gewährleisten – zu demonstrieren, dass Deutschland faktisch zahlungsunfähig, die Erfüllung der Reparationspflichten also „objektiv“ unmöglich sei. Diese Interpretation unterstellt Brüning somit ein riskantes politisches Spiel, mit dem er letztlich gescheitert sei – „hundert Meter vor dem Ziel“, wie er es in seiner letzten Rede als Kanzler am 11. Mai 1932 vor dem Reichstag selbst formulierte. Wenige Wochen nach Brünings Entlassung wurde dem Deutschen Reich auf der Reparationskonferenz von Lausanne Anfang Juli 1932 gegen Zahlung einer Ablösesumme von 3 Milliarden Reichsmark die Reparationsschuld tatsächlich erlassen. Die Frage ob Brüning überhaupt realistische Handlungsalternativen hatte, wird immer umstritten bleiben. Unbestritten dürfte mittlerweile sein, dass seine Handlungsspielräume klein waren, worauf der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt Ende der 1970er Jahre hinwies.103 Eine Abwertung der Reichsmark wäre ein Bruch des Young-Abkommens gewesen. Eine Lockerung der Geldpolitik hätte die Erinnerung an die Jahre 1914 bis 1923 und damit massive Inflationsängste geweckt. Nach heutiger Einschätzung hätte eine expansive Geldpolitik keine inflationäre Wirkung gehabt – vielmehr fielen die Preise ja in der Krise um ein Viertel bis ein Drittel. Sie hätte aber die Einhaltung der vorgeschriebenen Deckungsgrenze und somit die externe Stabilität der Währung gefährdet. Eine expansive Fiskalpolitik hätte den Reichshaushalt ins Defizit gestürzt – was die herrschende wirtschaftswissenschaftliche und -politische Orthodoxie als Zeichen unseriösen Haushaltsgebarens interpretiert hätte. Dass Deutschland im Inland keine finanziellen Reserven mobilisieren konnte und im Ausland keinen Kredit mehr besaß, interpretierte Borchardt als Folge der „Krise vor der Krise“, womit er sich auf die sogenannten „Goldenen Jahre“ von 1924 bis 1929 bezog. Er machte dafür innenpolitische Verteilungskämpfe infolge „politischer“, d.h. zu hoher Löhne verantwortlich. Ob Löhne „zu hoch“ sind, beantworten Ökonomen mit der Frage, in welchem Verhältnis sie zur Arbeitsproduktivität stehen. Hierfür ist die Datenlage aber widersprüchlich, so dass die Frage (un)angemessener Löhne ungelöst bleibt. Heute wird die „Krise vor der Krise“, die als Tatbestand kaum noch bestritten wird, vor allem durch die Verwerfungen der internationalen Handels- und Finanzbeziehungen erklärt, an denen die Reparationen keinen geringen Anteil hatten.
103
Vgl. Knut Borchardt (1979): Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, S. 85–132; wiederabgedruckt in: ders. (1982): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen, S. 165–182.
96
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
Die Borchardt-Kontroverse(n) Probleme der Gegenwart inspirieren die historische Forschung, und deren Ergebnisse können auf die Gegenwart zurückwirken. Dies erlebten die Protagonisten der BorchardtKontroverse in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Um 1980 erschütterte die zweite Ölpreiskrise Wirtschaft und Politik. In der Diskussion um die richtige Wirtschaftspolitik standen sich zwei Lager gegenüber. Die meisten Experten der regierenden SPD/FDPKoalition hielten an einer nachfrageorientierten Politik fest, für die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Priorität hatte, und für die man bereit war, eine noch höhere Verschuldung und Inflation in Kauf zu nehmen. Diese Politik war jedoch in der Defensive, da sie die deutsche Wirtschaft in den 1970er Jahren nicht auf den dynamischen Wachstumspfad der 1960er Jahre zurückgeführt hatte. Die Deutsche Bundesbank und Experten der von der CDU/CSU gestellten Opposition favorisierten daher eine angebotsorientierte Politik. Diese sollte über Steuerentlastungen (und entsprechende Einsparungen, insbesondere im Wohlfahrtswesen) die Unternehmen stärken, damit diese mehr Mitarbeiter einstellten. Ein in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Gutachten des Sachverständigenrats sprach sich ebenfalls für diese Option aus. In dieser Situation ging Knut Borchardt mit der These an die Öffentlichkeit, dass Reichskanzler Brüning, dessen prozyklische Wirtschaftspolitik damals unisono als falsch und borniert angesehen wurde, erstens keine realistischen Handlungsalternativen gehabt habe (Borchardt-These I), und dass dies zweitens darauf zurückzuführen sei, dass er auf keinerlei Rücklagen aus den 1920er Jahren zurückgreifen konnte, da die Weimarer Republik über ihre Verhältnisse gelebt habe (Borchardt-These II). Für diese zweite These nutzte Borchardt das Konzept der „kumulierten Reallohnposition“, auf das sich auch der Sachverständigenrat gestützt hatte. Borchardts Versuch, Brüning zu rehabilitieren, wurde sofort auch in Hinblick auf die aktuelle Debatte interpretiert. Einerseits gab dies der fachwissenschaftlichen Diskussion, die bald weit über das kleine Lager der Wirtschaftshistoriker hinaus geführt wurde, eine rhetorische Schärfe, die heute verwundert. Andererseits warf Borchardts Argumentationsführung empirische Fragen (z.B. Höhe und Angemessenheit der Löhne und Gewinne) auf, die zu einer intensiven und letztlich sehr produktiven Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik führte. 30 Jahre nach der Kontroverse kann man sagen, dass er sich mit der These II insofern durchgesetzt hat, als die Labilität der Weimarer Wirtschaft heute viel stärker gesehen wird als vorher. Die „Goldenen Jahre“ werden nur noch mit Anführungs- und Fragezeichen versehen. These I wird sicherlich immer umstritten bleiben, doch herrscht heute viel mehr Verständnis für die gewaltigen Probleme, vor denen Brüning stand. Und seit Borchardts Intervention sind „Zwangslagen“ und „Handlungsspielräume“ zu festen Begriffen für Historiker geworden.104
104
Wesentliche Beiträge sind zusammengefasst in: Jürgen v. Kruedener (Hg.) (1990): Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924–33, New York u.a. Die Diskussion referiert Albrecht Ritschl (2003): Knut Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse, in: Jürgen Elvert und Susanne Krauß (Hg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, S. 234–244.
5.3 Wirtschaftskrise und Demokratie
97
Die Nachfolger Brünings als Reichskanzler, Franz von Papen (1.6.–3.12.1932) und Kurt von Schleicher (3.12.1932–28.1.1933) setzten in der Wirtschaftspolitik im Gegensatz zu Brüning auf Maßnahmen zur Förderung des inländischen Konsums (C) und der Investitionen (I). Sie führte innovative Finanzierungsinstrumente ein, die später in großem Umfang von der nationalsozialistischen Regierung weiter genutzt und verfeinert wurden: Arbeitsbeschaffungswechsel und Steuergutscheine. Mit den noch unter Brüning beschlossenen und dann von Schleicher im Umfang stark ausgebauten Arbeitsbeschaffungswechseln schuf die Reichsregierung Geldsurrogate. Die im August 1930 gegründete Deutsche Gesellschaft für öffentliche Arbeiten (meist Öffa abgekürzt) führte im Auftrag des Reichs staatliche Bauvorhaben durch und bezahlte diese ab Juli 1932 mit den bald sogenannten Öffa-Wechseln. Für diese Wechsel gab das Reich eine Deckungsgarantie und die (nur zögerlich mitziehende) Reichsbank eine Rediskontzusage. Die mit diesen Wechseln bezahlten Unternehmen konnten sich die Öffa-Wechsel also bei ihren Geschäftsbanken diskontieren lassen, da diese wussten, dass sie wiederum die Wechsel bei der Reichsbank rediskontieren lassen konnten. Da die Wechsel bis zu fünf Jahre prolongierbar waren, erhöhten sie faktisch die umlaufende Geldmenge. Bis zu ihrer Ablösung durch die fast identisch konzipierten Mefo-Wechsel 1934 wurden Öffa-Wechsel in Höhe von insgesamt 1,26 Milliarden RM ausgegeben. Da viele dieser Wechsel von Geschäftsbanken (und Unternehmen) als Liquiditätsreserve gehalten wurden, konnten auf diese Weise beschäftigungswirksame Bauvorhaben finanziert werden, ohne dass sich die Geldbasis M0 in entsprechendem Umfang erhöht hätte. Ein noch raffinierteres Geldsurrogat waren die Steuergutscheine. In der Krise zahlten die Unternehmen oft nur mit großer Verzögerung ihre Steuern, da ihre Liquiditätsdecke sehr dünn war. Ab Anfang Oktober 1932 erhielt ein Unternehmen, das pünktlich seine Umsatz-, Grund- und Gewerbesteuern bezahlte, einen Steuergutschein in Höhe von 40 Prozent der beglichenen Steuerschuld. Diesen Gutschein konnte es in einem der folgenden Jahre einlösen, um damit seine Steuern zu bezahlen. Dieses Verfahren belohnte also pünktlich ihre Steuerschuld begleichende Unternehmen mit Steuernachlass in einem der Folgejahre. Oder um es auf den Punkt zu bringen: Die aktuelle Regierung griff durch Verwendung der Steuergutscheine auf die Steuereinnahmen einer zukünftigen Regierung zurück, die diesem Vorgehen naturgemäß nicht widersprechen konnte. Da die Steuergutscheine handelbar waren, handelte es sich hierbei wie im Falle der Öffa-Wechsel um verdeckte Geldschöpfung mittels Geldsurrogat.
5.3
Wirtschaftskrise und Demokratie
Nach der Währungsstabilisierung 1923/24 beruhigte sich das innenpolitische Klima in Deutschland etwas. Die Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre trieb die Wähler jedoch wieder in die Arme extremer Parteien. Tabelle 5.4 illustriert die schnelle Radikalisierung der Wählerschaft.
98
5 Wirtschaftlicher Niedergang, politischer Untergang
Tabelle 5.4:
Ergebnisse der Reichstagswahlen 1924 bis 1933 (in Prozent der gültigen Stimmen) 5/1924
12/1924
5/1928
9/1930
7/1932
11/1932
3/1933
29.282
30.290
30.753
34.971
36.882
35.472
39.343
NSDAP
6,6
3,0
2,6
18,3
37,3
33,1
43,9
DNVP
19,5
20,5
14,2
7,0
5,9
8,3
8,0
DVP
9,2
10,1
8,7
4,5
1,2
1,9
1,1
BVP
3,2
3,7
3,1
3,0
3,2
3,1
2,7
13,4
13,6
12,1
11,8
12,4
11,9
11,2
5,7
6,3
4,9
3,8
1,0
1,0
0,8
SPD
20,5
26,0
29,8
24,5
21,6
20,4
18,3
KPD
12,6
8,9
10,6
13,1
14,3
16,9
12,3
9,4
7,8
14,0
13,9
3,1
3,4
1,6
Stimmen*
Zentrum DDP/DSP
Andere Anm.:
* Gültige Stimmen in 1.000.
Quelle:
Berechnet nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich (1934), S. 539.
Das Aufkommen der quantitativen Wahlforschung in den 1970er Jahren hat auch Historiker, Politologen und Ökonomen inspiriert, die Ergebnisse der Reichstagswahlen in der Weimarer Republik den neuen Analyseverfahren zu unterziehen. Dabei kam man zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Die Zürcher Ökonomen Bruno Frey und Hannelore Weck glaubten Anfang der 1980er Jahre einen klaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und den Stimmen für die NSDAP belegen zu können.105 Ihnen widersprach der Wahlforscher Jürgen Falter, der in einem umfangreichen Projekt die Einflussfaktoren der NSDAP-Wahlerfolge herausarbeitete. Er kam Anfang der 1990er Jahre zum Ergebnis, dass die NSDAP „von der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler her am ehesten eine Volkspartei des Protestes“ war. Zwar wählten viele Arbeiter und Angestellten die NSDAP, letztlich aber unterdurchschnittlich. Überdurchschnittlich viele Wähler fand sie hingegen in der alten Mittelschicht, also unter den selbständigen Geschäftsleuten, Handwerkern und Bauern. Die Konfession spielte eine große Rolle: Nichtkatholiken wiesen bei den Wahlen im Juli 1932 eine fast dreimal und im März 1933 immer noch eine doppelt so hohe Affinität zur NSDAP auf wie katholische Wähler, die dem Zentrum bzw. der Bayerischen Volkspartei weitgehend treu blieben.106 Kurz darauf integrierten zwei niederländische Ökonomen diese Ansätze, gingen aber insofern darüber hinaus, als sie grundsätzlich untersuchten, wie sich die jeweils regierenden Weimarer Koalitionen bei den Wahlen schlugen. Sie gingen wie Frey und Weck der Frage 105 106
Vgl. Bruno Frey und Hannelore Weck (1981): Hat Arbeitslosigkeit den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkt?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 196, S. 1–31. Vgl. Jürgen Falter u.a. (1985): Hat Arbeitslosigkeit tatsächlich den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkt? Eine Überprüfung der Analyse von Frey und Weck, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 200, S. 121–136; Jürgen W. Falter (1991): Hitlers Wähler, München, insb. S. 370–374, Zitat S. 371.
5.3 Wirtschaftskrise und Demokratie
99
nach, welchen Einfluss wichtige sozioökonomische Größen wie die Arbeitslosigkeit und der Reallohn, aber auch andere Faktoren wie etwa die Wahlbeteiligung und die Konfession, auf die Zustimmung zur jeweils regierenden Koalition hatten. Dafür untersuchten sie in einem Regressionsmodell die Ergebnisse aller Reichstagswahlen seit 1924 jeweils auf der Ebene von 76 Regionen. Die Untersuchung kam zum Ergebnis, dass Arbeitslosigkeit und Reallohnentwicklung einen erheblichen und in der Weltwirtschaftskrise sogar einen besonders wichtigen Einfluss auf die Wahlergebnisse hatten. Im Durchschnitt über alle sechs untersuchten Wahlen und Regionen ließ sich feststellen, dass ein Anstieg der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt zu einem Stimmenverlust der amtierenden Parteien der jeweiligen Regierungskoalition von gut einem Prozentpunkt führte. Analog fiel die Zustimmung um ein Drittel Prozent, wenn der Reallohn um ein Prozent sank.107 Im zweiten Schritt ihrer Analyse führen Arthur van Riel und Arthur Schram eine interessante kontrafaktische Analyse durch. Im Dritten Reich gab es bekanntlich keine freien Wahlen. Die Höhe der Arbeitslosigkeit und die Veränderung des Reallohns sind hingegen bekannt. Unter der Annahme, dass das Verhalten der wahlberechtigten Deutschen im Dritten Reich nicht anders als in der Weimarer Republik gewesen wäre, lässt sich nun mit Hilfe der empirischen sozioökonomischen Daten für das Dritte Reich und der geschätzten Parameter des Regressionsmodells für das Wahlverhalten in der Weimarer Republik schätzen, wie hoch die Zustimmung zum NS-Regime gewesen wäre, hätte es freie Wahlen durchführen lassen. Demnach hätten die Nationalsozialisten Ende 1933 mit 53 Prozent, Ende 1934 und Ende 1935 mit jeweils 57 Prozent der Stimmen rechnen können. Auch hier muss man kritisch bleiben: Wäre das Wahlverhalten wirklich dasselbe gewesen? Sicherlich hätte der eine oder andere Wähler die Abschaffung individueller Freiheitsrechte und insbesondere die Verdrängung der Juden aus Wirtschaft und Gesellschaft bei freien Wahlen an der Urne abgestraft. Über die Frage der Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum nationalsozialistischen Regime werden wir in Kapitel 6.3 ausführlich diskutieren. Gleichwohl verweisen die Ergebnisse von van Riel und Schram auf die enorme Bedeutung der Arbeitslosigkeit für die Zustimmung zur jeweiligen Regierung. Betrieben die Nationalsozialisten also eine „ordentliche Beschäftigungspolitik“, wie man noch in den 1990er Jahren vom österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider hören konnte? Das folgende Kapitel wird sich u.a. auch mit dieser These kritisch auseinandersetzen.
107
Vgl. Arthur van Riel und Arthur Schram (1993): Weimar Economic Decline, Nazi Economic Recovery, and the Stabilization of Political Dictatorship, in: Journal of Economic History 53, S. 71–105, hier S. 93, Tab. 4, Spalte c.
C
Völkischer Interventionismus: Die Wirtschaft des Dritten Reichs zwischen nationalsozialistischer Utopie und ökonomischem Pragmatismus
Deutschland erlebte im unruhigen 20. Jahrhundert zwei Phasen, in denen die Wirtschaftspolitik durch massive ordnungs- und prozesspolitische Eingriffe gekennzeichnet war – das Dritte Reich und die SBZ/DDR. Während sich die DDR unmissverständlich vom kapitalistischen Deutschen Reich (und der kapitalistischen BRD) abgrenzte und ihren Wirtschaftsplanungsapparat einschließlich der Statistik vollständig umgestaltete, blieb das Verhältnis des Dritten Reichs zur kapitalistischen „Systemzeit“ (also der Weimarer Wirtschaft) ambivalent. Einerseits war die staatliche Propaganda eifrig bemüht, den staatlichen Lenkungswillen und die entsprechende Lenkungsfähigkeit herauszustellen. Andererseits ließ sie das Privateigentum, einschließlich des Privateigentums an Produktionsmitteln, weitgehend unangetastet. Nur in Bereichen, in denen bedeutende ideologische Forderungen im Raum standen, kam es zu weitgehenden ordnungs- oder eigentumspolitischen Eingriffen. Dies war zum einen in der Landwirtschaft der Fall, wo die Nationalsozialisten sehr schnell weitreichende Reformen einleiteten (vgl. Kap. 6.2). Zum anderen führte eine aggressive Verdrängungs- und Enteignungspolitik („Arisierung“) zur Vernichtung der materiellen Lebensgrundlagen zehntausender Deutscher jüdischer Abstammung. Doch im Unterschied zur DDR, in der man die Wirtschaft etwas vereinfachend ausgedrückt auf dem Reißbrett neu plante, knüpfte die NSWirtschaftspolitik nahtlos an bestehenden Institutionen und Praktiken an. Für die wirtschaftshistorische Forschung ist dabei von Bedeutung, dass sich die statistische Berichterstattung des Statistischen Reichsamts und anderer Ministerien im Dritten Reich fortsetzte. Im Gegensatz zur DDR kam es nicht zur Einführung gänzlich neuer Konzepte. Zuweilen wurde die Erfassung oder das Aggregationsprinzip geändert, in seltenen Fällen sogar mit Täuschungsabsicht verschleiert, doch insgesamt blieb die Statistik recht zuverlässig.108 Die statistische Berichterstattung wurde sogar ausgeweitet, da der immer stärker auswuchernde Rüstungsapparat mehr Informationen benötigte.
108
Vgl. dazu grundsätzlich Tooze (2001); und für Beispiele: Jonas Scherner und Jochen Streb (2006): Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93, S. 172–196; Rainer Fremdling und Reiner Stäglin (2012): Verschleierung mit Statistik: Kriegswirtschaftliche Desinformation im Nationalsozialismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 99, S. 323–335.
102
C Völkischer Interventionismus
Obwohl Mengenangaben (etwa der Importbedarf an seltenen Erden oder die Menge des produzierten Stahls) nun in der statistischen Berichterstattung eine größere Bedeutung zukam als zuvor – Wirtschaftsplaner sind ja vor allem an realwirtschaftlichen Erfolgen interessiert – spielten Preise und Löhne nach wie vor eine wichtige Rolle. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ist allerdings zu bemerken, dass sie insbesondere seit dem Preisstopp von 1936 (ein Lohnstopp war schon 1933 erlassen worden) nicht mehr zuverlässig über relative Knappheiten Auskunft geben, wie man an typischen Ausweichreaktionen (Rationierung und Kontingentierung, Schlangenbildung vor Geschäften, Schwarzmärkte) eindeutig ablesen kann. Konkret bedeutet das insbesondere, dass alle Aussagen über Preise und Löhne sowie die darauf basierenden und weiter unten mehrfach diskutierten Größen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (BIP, verfügbares Einkommen) mit gewissen Unsicherheiten behaftet sind. Dennoch kann man bei quantitativen Angaben aus der Zeit des Dritten Reichs von einem viel höheren Zuverlässigkeitsgrad ausgehen als bei der DDR.109 In den folgenden beiden Kapiteln untersuchen wir die Ausgestaltung sowie die kurz- und längerfristigen Konsequenzen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Wirtschafts-, Prozess- und Ordnungspolitik Unter dem Begriff der Wirtschaftspolitik werden diejenigen Maßnahmen der öffentlichen Hand zusammengefasst, die primär den Wirtschaftsprozess zu gestalten suchen, etwa in Abgrenzung zur Sozialpolitik, die natürlich sekundär ebenfalls wirtschaftliche Folgen nach sich zieht. Prozesspolitische Maßnahmen greifen dabei direkt in die Wirtschaftsprozesse ein (z.B. durch das Festsetzen von Mindestlöhnen oder Höchstmieten), um die Marktergebnisse im Sinne der Regierung zu verändern. Ordnungspolitik dient hingegen der Einführung und Durchsetzung verbindlicher Verhaltensregeln (Institutionen), die zum Beispiel in Form von Eigentumsrechten und Wettbewerbsregeln die Transaktionskosten für Marktaktivitäten senken und Anreize für Investitionen und technischen Fortschritt setzen sollen.110
109
110
Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass es natürlich keine „objektive“ Statistik gibt. Was gemessen werden soll und wie dies geschieht, ist stets von Menschen gemacht, die damit bestimmte Erkenntnis-, Legitimations- oder sonstige Interessen verfolgen. Zur Bedeutung von Institutionen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum siehe z.B. Daron Acemoglu und James A. Robinson (2013): Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt a.M.
6
Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Ausgehend vom sehr geringen Niveau des Krisenjahrs 1932 wies das Dritte Reich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ein starkes Wirtschaftswachstum auf, das sich insbesondere in einem schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit zeigt. Kein anderer Staat in Europa konnte ein so rasantes Wachstum vorweisen. Zeitgenössische Beobachter, selbst deutsche Intellektuelle im Exil, kamen daher nicht umhin, von einem „Wirtschaftswunder“ zu sprechen – wohlgemerkt bereits in den 1930er Jahren, nicht erst in den 1950ern.111 Noch nach dem Krieg, als der aufkommende Keynesianismus Wirtschaftsplanung (unter demokratischen Vorzeichen) hoffähig machte, interessierten sich diverse Autoren für die Funktionsweise der deutschen Wirtschaft zwischen 1933 und 1939.112 Schon bald stellte sich heraus, dass die NS-Wirtschaftspolitik demokratischen Politikern nichts zu bieten hatte. Der Schweizer Ökonom René Erbe urteilte 1958 nach einer eingehenden Analyse, dass der nationalsozialistische Wirtschaftsaufschwung kaum etwas mit keynesianischer Wirtschaftspolitik zu tun hatte.113 Wir werden uns weiter unten (Kap. 6.1.2) mit der Bewertung der NS-Wirtschaftspolitik auseinandersetzen. Schon hier sei vorausgeschickt, dass wir uns Erbes Bewertung des NS-Wirtschaftsaufschwungs im Wesentlichen anschließen und in Anlehnung an eine Formulierung Christoph Buchheims dessen Attribut „deformiert“ für zutreffend halten.114 Weshalb wir das tun, sollen dieses und das folgende Kapitel veranschaulichen.
111
112
113 114
Vgl. Hans E. Priester (1936): Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam; Wilhelm Prion (1938): Das deutsche Finanzwunder. Geldbeschaffung für den deutschen Wirtschaftsaufschwung, Berlin-Willmersdorf; Claude W. Guillebaud (1939): The Economic Recovery of Germany from 1933 to the Incorporation of Austria in March 1938, London. Vgl. z.B. Guillebaud (1939), S. 232–233, 265; Otto Nathan und Milton Fried (1944): The Nazi Economic System. Germany’s Mobilization for War, Durham, S. vi, 368; Samuel Lurié (1947): Private Investment in a Controlled Economy. Germany, 1933–1939, New York, S. vii; ferner Wesley C. Haraldson und Edward F. Denison (1946): The Gross National Product of Germany 1936–1944, Washington, DC; Burton Klein (1958): Germany’s Economic Preparations for War, Cambridge (Mass.), S. v. Vgl. René Erbe (1958): Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik im Lichte der modernen Theorie, Zürich. Vgl. Christoph Buchheim (2001): Die Wirtschaftsentwicklung im Dritten Reich – mehr Desaster als Wunder. Eine Erwiderung auf W. Abelshauser, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, S. 653–664.
104
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
6.1
Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
Auch ohne Kenntnis der in Kapitel 5.3 referierten historischen Wahlforschung war jedem politischen Beobachter Ende Januar 1933 klar, dass die Legitimität der neuen Regierung vor allem daran gemessen würde, wie schnell sie die fast acht Millionen Erwerbslosen (vgl. unten Tab. 6.2) wieder in „Arbeit und Brot“ bringen würde. Auch die Nationalsozialisten teilten diese Einsicht. Sie verfolgten jedoch von Beginn an noch ein weiteres, ihnen viel wichtigeres Ziel: die Aufrüstung Deutschlands. Dabei ging es ihnen nicht nur um die in ihrer Propaganda geforderte Rückgängigmachung des Versailler Vertrags. Ganz grundsätzlich vertraten sie eine Ideologie, in der sich drei Grundannahmen zu einer höchst aggressiven Mischung verbanden. Erstens hingen die Nationalsozialisten, wie viele Menschen auf der extremen politischen Rechten, einer Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit der Rassen an. Die germanische Rasse stand ihrer Meinung nach ganz oben auf dieser Skala; ganz unten fanden sich die slawischen Völker wieder. Juden und „Zigeuner“ (in Deutschland: fast ausschließlich Sinti) wurden als parasitär bezeichnet, lebten also angeblich von den „Wirtsvölkern“, unter die sie sich gemischt hatten. Dieser Rassismus verband sich mit einem wirtschaftlichen Nullsummendenken, wie es auch heute noch weit verbreitet ist. Demzufolge kann ein Volk (oder ein Einzelner) nur reicher werden, wenn es einem anderen Volk oder Individuum etwas wegnimmt. Dass man durch (internationale) Arbeitsteilung und technischen oder organisatorischen Fortschritt gemeinsam wohlhabender werden kann, wird in dieser Sichtweise negiert. Seine besondere Brisanz erhielt diese Mischung aus Rassismus und Nullsummendenken durch einen ausgeprägten Malthusianismus. Der englische Geistliche Thomas Malthus hatte 1798 in einem berühmten Essay argumentiert, dass die Bevölkerung schneller wachse als die Nahrungsmittelproduktion und somit Hungerkrisen unvermeidlich seien, wenn man nicht das Bevölkerungswachstum mit restriktiven Maßnahmen zurückdränge – oder durch (kriegerische) Expansion neues Ackerland erschließe.115 Ohne dass sich bedeutende Vertreter des Nationalsozialismus (nach unserem Wissen) jemals auf Malthus berufen hätten, argumentierten sie genauso. Aufgrund dieser drei Prämissen gingen sie davon aus, dass ein Volk zur langfristigen Existenzsicherung zwangsläufig gegen andere Völker kämpfen müsse. Nimmt man die Erfahrung der britischen Seeblockade im Ersten Weltkrieg hinzu, so erhält ihre Forderung nach „Lebensraum im Osten“ eine perverse Folgerichtigkeit.116
6.1.1
Die nationalsozialistische Antikrisenpolitik
Für die Lösung ihrer vorrangigsten kurzfristigen Aufgabe, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, standen den Nationalsozialisten wie schon zuvor den Weimarer Präsidialregierungen die vier Nachfragekomponenten der keynesianischen Verwendungsgleichung – Konsum (C), Investitionen (I), Staatsnachfrage (G) und Nettoexporte (X-M) – als makroökonomische 115
116
Malthus lehnte im Gegensatz zu den Nationalsozialisten militärische Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen ab und propagierte stattdessen eine vorbeugende Begrenzung des Bevölkerungswachstums. Vgl. Thomas Malthus (1798): An Essay on the Principles of Population, London. Ähnlich Albrecht Ritschl (1994): Die NS-Wirtschaftsideologie: Modernisierungsprogramm oder reaktionäre Utopie?, in: Michael Prinz und Rainer Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, 2. Aufl., Darmstadt, S. 48–70; und Tooze (2007), S. 26–32.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
105
Ansatzpunkte zur Verfügung. Anders als seine Vorgänger konzentrierte sich Hitler allerdings auf die Erhöhung der Staatsnachfrage. Der Förderung der privaten Investitionen und insbesondere des privaten Konsums kam allenfalls eine funktionale, in jedem Falle aber untergeordnete Bedeutung zu. Das mittelfristige Ziel der Autarkie setzte allen Maßnahmen der Exportförderung sehr enge Grenzen. Eine der ersten und wichtigsten Maßnahmen zur Förderung des privaten Konsums (C) war die Befreiung aller Neuwagen von der Kraftfahrzeugsteuer ab April 1933, wodurch ein erheblicher Aufschwung in der im internationalen Vergleich noch eher unterentwickelten deutschen Automobilindustrie ausgelöst wurde. Bereits im Jahr 1933 stieg die Zahl der in dieser Branche beschäftigten Personen gegenüber dem Vorjahr um fast 17.000 auf über 51.000, nicht gerechnet den Beschäftigungszuwachs in der Zulieferindustrie. Schon im Jahr 1934 lag die Pkw-Produktion um 45 Prozent höher als im letzten Vorkrisenjahr 1928.117 Die Steuerbefreiung war Teil eines vielfältigen Maßnahmenpakets zugunsten der Verbreitung von Kraftfahrzeugen. Zu nennen sind hier der umfangreiche Straßenbau, die Durchführung des schon in der Weimarer Zeit von privaten Kreisen konzipierten Autobahnbaus oder die Entwicklung eines für die breite Masse des Volkes erschwinglichen KdF-Wagens, auf dem unter dem neuen Namen VW-Käfer dann tatsächlich die große Motorisierungswelle beruhte – allerdings erst in der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Besonders der Reichsautobahnbau wurde von der nationalsozialistischen Propaganda als gigantische Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung herausgestellt. Verschwiegen wurde, dass bis Ende 1933 erst knapp 4.000 Arbeiter beim Bau der Autobahn eingesetzt wurden, die Arbeitsbedingungen lange sehr schlecht und die Löhne niedrig waren. Wirklich beschäftigungswirksam wurde der Autobahnbau, der ja zunächst aufwendig projektiert werden musste, erst 1935/36, als sich die deutsche Wirtschaft ohnehin in großen Schritten der Vollbeschäftigung näherte.118 Eine zweite nationalsozialistische Maßnahme zur Steigerung des privaten Konsums waren die Ehestandsdarlehen. Neu verheiratete Paare konnten Darlehen in Höhe von bis zu 1.000 RM erhalten, die in Form von Bedarfsdeckungsscheinen ausgegeben wurden, welche in Möbel und Haushaltsgeräte einlösbar waren. Ziel dieser Maßnahme war es, die Beschäftigung in der Industrie langlebiger Konsumgüter zu erhöhen, die unter der Konsumzurückhaltung infolge des kriseninduzierten Pessimismus besonders gelitten hatte. Die Darlehensvergabe war allerdings an die Vorbedingung gebunden, dass die Ehefrau bisher mindestens sechs Monate in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hatte und in Zukunft auf eine weitere Beschäftigung so lange verzichtete, bis das Darlehen abbezahlt war. Insoweit stellten die Ehestandsdarlehen also gar kein Mittel zur Arbeitsbeschaffung, sondern eher im Gegenteil eine Maßnahme zur Entlastung des Arbeitsmarkts durch eine Verminderung der Zahl der Erwerbstätigen dar.119 Überdies besaß das Ehestandsdarlehen auch eine deutliche ideologische Komponente: Es entsprach der nationalsozialistischen Vorstellung von der Rolle der Frau als Mutter und Hüterin des Heims. Daher war es auch nur konsequent, dass bei jeder Geburt eines Kindes jeweils ein Viertel des Ehestandsdarlehens erlassen wurde – mit dem vierten Kind war es komplett „abgekindert“. 117 118 119
Vgl. Richard J. Overy (1994): War and the Economy in the Third Reich, Oxford, insb. S. 88. Vgl. Albrecht Ritschl (2003): Hat das Dritte Reich wirklich eine ordentliche Beschäftigungspolitik betrieben?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 125–140, hier v.a. S. 128. Nach Erreichen der Vollbeschäftigung wurde dieses Beschäftigungsverbot im Oktober 1937 aufgehoben.
106
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Auch die neu eingeführten Steuerbegünstigungen bei der Einstellung weiblicher Haushaltshilfen können als eine Maßnahme gedeutet werden, die vorrangig darauf ausgerichtet war, Frauen vom Arbeitsmarkt für industrielle Arbeitskräfte fernzuhalten.120 Insgesamt dürfen die wenigen nationalsozialistischen Maßnahmen zur Steuersenkung121 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nationalsozialistische Steuerpolitik im Grunde restriktiv war, da sie die von Brüning veranlassten Steuererhöhungen weitgehend beibehielt. Als erstes Instrument zur Erhöhung der privaten Investitionen (I) sind die bereits unter Reichskanzler von Papen eingeführten Steuergutscheine zu nennen, deren Umlauf im März 1934 mit knapp 1,4 Milliarden RM seinen Höhepunkt erreichte. Hinzu kamen mit dem sogenannten zweiten Reinhardt-Programm 500 Millionen RM in Form von Zuschüssen für Instandsetzungs- und Umbauarbeiten an privaten Wohngebäuden.122 Diese Subventionen wurden nur dann gewährt, wenn die privaten Bauherren bei Umbauarbeiten einen gleich großen, bei Instandsetzungsarbeiten den vierfachen Betrag des staatlichen Zuschusses in das Bauprojekt einbrachten. Wenn die Bauherren ihren Eigenbeitrag durch Kreditaufnahme finanzierten, verringerte das Reich die Zinsbelastung fünf Jahre lang durch Bereitstellung sogenannter Zinsvergütungsscheine in Höhe von 4 Prozent der Kreditsumme. Hierfür wurden weitere 360 Millionen RM eingesetzt. Schließlich ist noch die zum 1. Januar 1935 wirksame Möglichkeit zur Sofortabschreibung kurzlebiger Kapitalgüter zu nennen. Die wirksamste Maßnahme der nationalsozialistischen Antikrisenpolitik war sicherlich die Erhöhung der Staatsnachfrage (G) in Form direkter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Schon vor dem Machtantritt Hitlers waren etwa eine Milliarde RM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitgestellt worden, darunter 165 Millionen RM im Brüning-Programm vom Juni 1932, das von Papen im September 1932 um mehr als 150 Millionen RM aufstockte, sowie das Programm von Reichskanzler von Schleicher im Januar 1933, das 500 Millionen RM umfasste. Wegen der unvermeidbaren zeitlichen Lücke zwischen politischem Beschluss und effektiver arbeitsmarktpolitischer Wirkung dieser Mittel profitierte allerdings erst Hitler von dem hierdurch ausgelösten Beschäftigungsanstieg. Die erste eigenständige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, welche von den Nationalsozialisten in Nachahmung der vorausgegangenen Programme verabschiedet wurde, war das (erste) Reinhardt-Programm vom Juni 1933 mit einem Volumen von einer Milliarde Reichsmark. Hinzu kamen, teilweise auch schon vor 1933, Sonderaufträge von Reichsbahn und Reichspost, Notstandsarbeiten und, nach dem Gesetz vom 27. Juni 1933, Aufträge des Unternehmens Reichsautobahn.123
120
121 122 123
Vgl. Willi Albers (1976): Finanzpolitik in der Depression und in der Vollbeschäftigung, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 331–365, hier insbesondere S. 356. Ebda., S. 357. Vgl. Erbe (1958), S. 29. Vgl. Albers (1976), hier insb. S. 350.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs Tabelle 6.1:
Verwendungsbereiche der bis zum 31. Dezember 1934 bewilligten Mittel zur Arbeitsbeschaffung
Verwendungsbereich Öffentliche Bauten Wohnungsbau Verkehrsinvestitionen a) Reich b) Reichsbahn c) Reichspost d) Reichsautobahnen Landwirtschaft Konsumförderung Förderungsbeträge der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, soweit nicht aufteilbar Insgesamt Quelle:
107
Mrd. RM 1,0 1,3 0,2 1,0 0,1 0,4 0,4 0,1 0,6 5,1
Willi Albers (1976): Finanzpolitik in der Depression und in der Vollbeschäftigung, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 351.
Die öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen konzentrierten sich auf die Bauwirtschaft, die von der Weltwirtschaftskrise besonders hart getroffen worden war. Allerdings hatte Hitler bereits am 8. Februar 1933 im Kreise seines Kabinetts erklärt, dass „die nächsten fünf Jahre in Deutschland [...] der Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes gewidmet sein [müssten]. Jede öffentlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme müsste unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob sie notwendig sei vom Gesichtspunkt der Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes.“124 Das ließ sich so in den Jahren 1933 und 1934 in der Kürze der Planungszeit und auch aus Gründen der Geheimhaltung nicht umsetzen. Allerdings diente manche scheinbar zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bereits der Aufrüstung, wie zum Beispiel der Bau von Straßen oder Sportanlagen, die auch für die militärische Ausbildung genutzt werden konnten. Hinsichtlich der Krisenbekämpfung finden sich zahlreiche Kontinuitäten zwischen der Zeit der Weimarer Präsidialregierungen und dem Dritten Reich. Die Nationalsozialisten erfanden kaum eigene wirtschaftspolitische Maßnahmen, sondern nutzten verstärkt das bereits Vorhandene. Dies gilt auch für die als „Öffa-Wechsel“ bezeichneten Arbeitsbeschaffungswechsel, die später in Form des „Mefo-Wechsels“ auch zur Finanzierung der Aufrüstung genutzt wurden. Die grundlegende Idee des Öffa-Wechsels bestand darin, das bestehende Reichsbankgesetz, das Notenbankkrediten an die Reichsregierung sehr enge Grenzen setzte, zu umgehen und einen Weg zur Arbeitsbeschaffung mittels Geldschöpfung zu eröffnen. Die praktische Umsetzung dieser Idee ist in Abbildung 6.1 skizziert.
124
Zitiert nach James (1988), S. 362f.
108
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Reich 1. Auftragserteilung 7. Steuermittel 2‘. Garantiedeckungspapier
2. Wechselausstellung Öffa 1932-1935 Mefo 1936-1938
Unternehmen A 3. Akzept 4. Indossament
Reichsbank
6. Rediskontieren des Wechsels (Zentralbankgeldschöpfung)
8. Einlösen und Vernichten des Wechsels
Geschäftsbank
Unternehmen B
5. Diskontieren des Wechsels (Giralgeldschöpfung)
Abbildung 6.1:
Die Finanzierung öffentlicher Aufträge mit Öffa- und Mefo-Wechseln
Anm.:
Eigene Darstellung.
Stellen wir uns vor, dass das Reich ein lokales Bauunternehmen (Unternehmen A) im Jahr 1933 damit beauftragte, einen bestimmten Abschnitt einer Kreisstraße neu zu asphaltieren. Die Bezahlung dieser Bauleistung erfolgte allerdings nicht aus dem offiziellen Reichshaushalt heraus, sondern über die „Briefkastenfirma“ Deutsche Gesellschaft für öffentliche Arbeiten (Öffa), die einen von Unternehmen A ausgestellten Wechsel akzeptierte, der aufgrund der Unterschrift der Öffa nicht als Staatswechsel, sondern als „privater Handelswechsel“ galt und somit auch von der Reichsbank diskontiert werden durfte. Dieser Öffa-Wechsel besaß wie bei anderen Wechseln auch üblich eine Laufzeit von drei Monaten, konnte aber auf insgesamt fünf Jahre prolongiert werden und wurde dies auch. Unternehmen A wird in der Regel nicht fünf Jahre auf die Einlösung dieser Schuldverschreibung gewartet haben. Stattdessen hatte es die Möglichkeit, den Wechsel durch Indossament (Übertragungserklärung auf der Rückseite) zur Bezahlung eigener Lieferanten (Unternehmen B) zu nutzen. Auch Unternehmen B hätte den Öffa-Wechsel, dessen Sicherheit und damit Attraktivität im Zahlungsverkehr durch jeden zusätzlichen Indossanten anstieg, an ein Unternehmen C übertragen können. Allerdings konnte es (wie auch schon Unternehmen A) den Öffa-Wechsel stattdessen bei seiner Geschäftsbank diskontieren. Die Differenz zwischen der auf dem Wechsel genannten Summe und dem Auszahlungsbetrag, der sogenannte Diskont, schuf den wirtschaftlichen Anreiz für die Geschäftsbank. Für Unternehmen B ergab sich durch dieses Bankgeschäft der Vorteil, dass es bereits vor Fälligkeit des Wechsels über gesetzliches Zahlungsmittel verfügen konnte. Wenn die Geschäftsbank den Wechsel nicht mit Bargeld, sondern durch eine Gutschrift auf dem Girokonto von Unternehmen B diskontierte, kam es im Rahmen des Wechseldiskonts zur Giralgeldschöpfung.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
109
Viele Geschäftsbanken hielten die Öffa- (und späteren Mefo-)125 Wechsel als Liquiditätsreserve. Ende 1934 befanden sich von den insgesamt umlaufenden Arbeitsbeschaffungswechseln in Höhe von 2,6 Milliarden RM 65 Prozent im Bestand der Reichsbank, ein knappes Viertel bei den Geschäftsbanken und der Rest bei den Unternehmen.126 Benötigten die Geschäftsbanken dann tatsächlich kurzfristig Zentralbankgeld, konnten sie ihre Öffa-Wechsel bei der Reichsbank zum Rediskont einreichen. Diese akzeptierte den getarnten Staatswechsel, weil er formal alle Eigenschaften eines privaten Handelswechsels aufwies, und weil das Reich im Falle der Öffa-Wechsel außerdem durch Übergabe zusätzlicher Garantiedeckungspapiere deren zukünftige Einlösung gegenüber der Reichsbank versprochen hatte. Die Reichsbank wurde also keineswegs getäuscht, sondern war in das fiskalische Kunststück eingeweiht. Auf lange Sicht stellte man sich vor, dass nach Wiedererreichen der Vollbeschäftigung das Reich über genügend Steuereinnahmen verfügen würde, um der Öffa die Mittel bereitzustellen, die zur Einlösung der nach fünf Jahren fälligen Wechsel notwendig waren. Kurzfristig führte der Rediskont der Arbeitsbeschaffungswechsel durch die Reichsbank zur Schöpfung von Zentralbankgeld, mithin zu einem eigentlich untersagten Notenbankkredit an das Reich. Von den in den Jahren 1933 und 1934 vorgesehenen staatlichen Ausgaben zur Arbeitsbeschaffung in Höhe von insgesamt 6,2 Milliarden RM wurden über die Hälfte, nämlich 3,2 Milliarden RM, am Reichshaushalt vorbei durch die Ausgabe von Arbeitsbeschaffungswechseln finanziert.127 Durch die bis hierher beschriebenen konjunkturpolitischen Maßnahmen sank unzweifelhaft die Zahl der Arbeitslosen. Zusätzlich unternahmen die Nationalsozialisten auch einige kosmetische Veränderungen in der Arbeitslosenstatistik, die vor allem zu Beginn ihrer Herrschaft den Eindruck eines rascheren Abbaus der Arbeitslosigkeit vermittelten als es tatsächlich der Fall war. So waren seit Mai 1933 Haushaltsgehilfinnen und seit Oktober des gleichen Jahres auch Landarbeiter von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung befreit, wodurch sich die Lohnnebenkosten ihrer Beschäftigung verringerten und somit ihre Beschäftigungschancen anstiegen. Gleichzeitig bewirkte diese Maßnahme aber auch, dass diese Erwerbspersonen einen deutlich niedrigeren Anreiz verspürten, sich offiziell beim Arbeitsamt als arbeitslos registrieren zu lassen, weil sie ihren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verloren hatten. Sie verschwanden daher aus den offiziellen Arbeitslosenstatistiken und erhöhten stattdessen die stille Reserve des Arbeitsmarktes.
125 126 127
Mefo steht für Metallurgische Forschungsanstalt, die von den Rüstungskonzernen Krupp, Siemens, Gutehoffnungshütte und Rheinmetall gegründet wurde. Vgl. Albers (1976), S. 352. Ebda., S. 350.
110
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Stille Reserve des Arbeitsmarkts Unter der stillen Reserve des Arbeitsmarktes versteht man erwerbslose Personen, die bei den Arbeitsämtern nicht als arbeitslos gemeldet sind, unter günstigen Bedingungen aber durchaus bereit wären, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Zur stillen Reserve zählen Hausfrauen (und die wenigen Hausmänner), Langzeitarbeitslose, aber auch Studenten und Rentner. Auch die im Rahmen der staatlichen Beschaffungsmaßnahmen eingesetzten Arbeiter wurden im Gegensatz etwa zur heutigen Praxis von den Nationalsozialisten nicht als arbeitslos gezählt, obwohl sie weiterhin beim Arbeitsamt mit einem Gesuch nach Arbeit gemeldet waren, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur temporär Beschäftigung boten und die Bezahlung sehr niedrig war. Christoph Buchheim bezeichnet die in Arbeitsbeschaffungsprogrammen, Arbeits- oder Landdienst beschäftigten Personen als Quasi-Arbeitslose.128 Tabelle 6.2:
Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 1933 (in Millionen, ausgewählte Monate)
Jahr Monat Registrierte Arbeitslose Stille Reserve Quasi-Arbeitslose Summe Anteil der nicht registrierten Arbeitslosen Quelle:
Jan 6,3 1,5 0,1 7,9
Apr 5,5 1,5 0,2 7,2
1933 Jul 4,6 1,4 0,6 6,6
Okt 3,9 1,3 0,8 6,0
Jan 3,9 1,4 0,8 6,0
Apr 2,7 1,3 1,0 5,0
1934 Jul 2,5 1,3 0,7 4,5
Okt 2,4 1,0 0,7 4,1
1935 Jan 3,1 0,7 0,6 4,4
20%
24%
30%
35%
36%
46%
44%
41%
30%
Christoph Buchheim (1994): Zur Natur des Wirtschaftsaufschwungs in der NS-Zeit, in: ders., Michael Hutter und Harold James (Hg.): Zerrissene Zwischenkriegszeit: Wirtschaftshistorische Beiträge Knut Borchardt zum 65. Geburtstag, Baden-Baden, S. 106, und die dort angegebene Quelle: Willi Hemmer (1935): Die „unsichtbaren“ Arbeitslosen. Statistische Methoden – Soziale Tatsachen, Zeulenroda.
Die Zahl der registrierten Arbeitslosen verringerte sich nach dem Machtantritt Hitlers im Januar 1933 rasch und kontinuierlich. Bis Oktober des gleichen Jahres war sie bereits um 40 Prozent zurückgegangen und im April 1934 war sie gar um fast 60 Prozent gesunken. Diese Entwicklung wurde vom Regime propagandistisch genutzt und trug erheblich zur frühen Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft bei. Die stille Reserve baute sich jedoch keineswegs so schnell ab. Die Zahl der in staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogrammen Beschäftigten, also die der Quasi-Arbeitslosen, nahm sogar stark zu. Der Anteil der nicht registrierten Arbeitslosen stieg im gleichen Zeitraum auf 46 Prozent an. Deshalb verringerte sich die Summe aller Arbeitslosen zwischen Januar 1933 und Frühjahr 1934 auch nur um 37 Prozent. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Nationalsozialisten Daten nicht unbedingt fälschen mussten, um mit statistischen Darstellungen ein irreführendes Bild zu vermitteln.
128
Vgl. Christoph Buchheim (1994): Zur Natur des Wirtschaftsaufschwungs in der NS-Zeit, in: ders., Michael Hutter und Harold James (Hg.): Zerrissene Zwischenkriegszeit: Wirtschaftshistorische Beiträge Knut Borchardt zum 65. Geburtstag, Baden-Baden, S. 97–119, hier insb. S. 102–107.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
111
Manchmal genügt(e) es bereits, Definitionen und Kriterien zu verändern, um die bereitgestellten Informationen im eigenen Interesse zu schönen.129 Der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland war mit keiner vergleichbaren Erholung der deutschen Exportaktivitäten verbunden. Hier wirkten sich natürlich weiterhin die Ursachen aus, die schon zu dem scharfen Rückgang der Exporte im Jahr 1932 geführt hatten, nämlich die Zunahme des weltweiten Protektionismus und das Festhalten Deutschlands an der Goldparität der RM, obwohl verschiedene Konkurrenten ihre Währungen abgewertet hatten. Im Frühjahr 1934 führten die im Zuge der Belebung der Binnenwirtschaft wieder ansteigenden Importe bei stagnierenden Exporten zu einem Handelsbilanzdefizit und einem hierdurch verursachten Abfluss von Gold und Devisen.130 Angesichts der seit der Bankenkrise dramatisch geschrumpften Gold- und Devisenreserven der Reichsbank ließ diese Entwicklung die Machthaber durchaus zu Recht befürchten, dass bald keine international akzeptierten Zahlungsmittel zur Finanzierung von Nahrungsmittel- und Rohstoffeinfuhren mehr zur Verfügung stehen würden. Hitlers längerfristiges Aufrüstungsprogramm war somit schon gut ein Jahr nach der Machtübernahme akut gefährdet. Der im September 1934 von Reichsbankpräsident und (seit Ende Juli) Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht entwickelte „Neue Plan“ sollte diese außenwirtschaftlichen Probleme im Rahmen einer umfassenden Regulierung der Außenwirtschaftsbeziehungen beheben. Wirtschaftspolitische Ansatzpunkte waren die Bilateralisierung der Handelsbeziehungen, die Ausfuhrförderung unter anderem durch „gespaltene Wechselkurse“ und die zentrale Steuerung von Struktur und Herkunft der Einfuhren.131 Ziel der Bilateralisierung der Handelsbeziehungen war es, mit jedem einzelnen Außenhandelspartner eine zumindest nicht negative bilaterale Leistungsbilanz zu realisieren, um somit den Abfluss der knappen Gold- und Devisenreserven zu stoppen. Ein vergleichsweise eleganter Weg zu diesem Ziel war der Abschluss eines Verrechnungsabkommens, das in Abbildung 6.2 beispielhaft für die Außenhandelsbeziehung zwischen Deutschland und Österreich dargestellt ist. Die grundsätzliche Idee eines solchen Verrechnungsabkommens war es, internationale Zahlungsströme nach Möglichkeit vollständig zu vermeiden. Zu diesem Zweck bezahlte der deutsche Käufer österreichischer Waren diese nicht wie bisher üblich durch die Übergabe von Schilling oder gar Gold an den österreichischen Verkäufer, sondern durch die Abgabe eines äquivalenten Betrags in Reichsmark an die neu geschaffene deutsche Verrechnungsstelle. Der österreichische Verkäufer erhielt den monetären Gegenwert für seine Exporte in Schilling von der österreichischen Verrechnungsstelle, welche die hierzu notwendigen Schillingguthaben aus den Einzahlungen österreichischer Käufer deutscher Waren bildete. Analog verwendete die deutsche Verrechnungsstelle ihre Reichsmarkguthaben, um deutsche Verkäufer von Waren an Österreich auszuzahlen. Im Idealfall glichen sich diese Zahlungsströme aus. Bei bilateralen Handelsbilanzungleichgewichten musste der Spitzenausgleich jedoch durch die Überweisung von Gold oder Devisen erfolgen. Um solch einen Spitzenausgleich 129 130 131
Solche Manipulationen beschränken sich natürlich nicht auf die Zeit des Dritten Reichs; vgl. etwa Walter Krämer (2011): So lügt man mit Statistik, München. Vgl. Tooze (2007), S. 98–101. Vgl. Erbe (1958), S. 71–82; Michael Ebi (2008): The Overvaluation of the Reichsmark: Effects on Manufactured Exports and German Foreign Trade Policy, in: Christoph Buchheim (Hg.): German Industry in the Nazi Period, Stuttgart, S. 27–38.
112
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
gänzlich auszuschließen, bemühten sich die Nationalsozialisten oftmals um sogenannte Kompensationsgeschäfte mit ihren ausländischen Handelspartnern. Im Rahmen eines Kompensationsgeschäfts wurden in einem aufwendigen bürokratischen Verfahren Preise und Mengen der auszutauschenden Waren und Dienste vor ab so festgelegt, dass der Wert der Exporte gerade dem Wert der Importe entsprach.
Deutscher Käufer
Österr. Verkäufer Ware
RM
Verrechnungsstelle in Deutschland
Schilling
Spitzenausgleich (Goldfluss)
RM
Verrechnungsstelle in Österreich Schilling
Ware
Deutscher Verkäufer
Abbildung 6.2:
Das Deutsch-Österreichische Verrechnungsabkommen
Anm.:
Eigene Darstellung.
Österreichischer Käufer
Durch das Festhalten an der traditionellen Goldparität erlitten die deutschen Exporteure in solchen Ländern, die ihre Währungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise abgewertet hatten, einen Wettbewerbsnachteil, denn gemessen in ausländischer Währung stiegen die Preise der deutschen Güter im Vergleich zu den Preisen konkurrierender ausländischer Waren deutlich an. Durch die Einführung von „Sperrguthaben“ für ausländische Forderungen wurde es jedoch möglich, den Wechselkurs der Reichsmark gegenüber bestimmten Handelspartnern und bezüglich bestimmter Erzeugnisse de facto abzuwerten, und so diesen Wettbewerbsnachteil zumindest teilweise auszugleichen. Den auf den „Sperrguthaben“ gelagerten Geldbeträgen, unabhängig davon, ob sie die Namen ASKI-Mark, Registermark, Scrips oder Sperrmark trugen, war gemeinsam, dass sie nicht in Gold oder Devisen konvertiert und ins Ausland transferiert werden konnten. Überdies durften diese Beträge auch innerhalb Deutschlands oftmals nur eingeschränkt für den Kauf bestimmter Waren und Dienste eingesetzt werden. Aufgrund dieser Verwendungsbeschränkungen besaß die „gesperrte“ Mark einen geringeren Marktwert als die zumindest theoretisch frei verwendbare Reichsmark und wurde deshalb gegenüber letzterer mit einem Abschlag gehandelt. Wie dieser Abschlag als Exportförderung funktionierte, zeigt folgendes (fiktives) Beispiel.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
113
Im Jahr 1934 soll ein amerikanischer Kreditgläubiger, Mr. Smith, von deutscher Seite eine Annuität von 400 Dollar erhalten. Stattdessen wird ihm jedoch nur ein „gesperrtes“ Guthaben gutgeschrieben, das gemäß des offiziellen Wechselkurses von 2,5 RM = 1 Dollar genau 1.000 Sperrmark beträgt.132 Mr. Smith besitzt nun mehrere Möglichkeiten. Erstens kann er ausharren und darauf hoffen, dass irgendwann in noch unbestimmter Zukunft sein Guthaben freigegeben und in Gold oder Dollar umgetauscht werden wird. Zweitens kann er die Sperrmark zum Kauf von dafür vorgesehenen deutschen Gütern und Diensten verwenden, wobei im innerdeutschen Zahlungsverkehr 1 Sperrmark = 1 Reichsmark gilt. Hat er aber kein Interesse an deutschen Erzeugnissen, bleibt Mr. Smith die dritte Möglichkeit, sein Sperrmarkguthaben an einen anderen Amerikaner, Mr. Miller, zu verkaufen, der Waren aus Deutschland importieren möchte. Mr. Miller wird die Sperrmark angesichts ihrer eingeschränkten Verwendbarkeit aber nur zu einem im Vergleich zur offiziellen Reichsmark deutlich abgewerteten Wechselkurs akzeptieren, sagen wir zu 4 Sperrmark = 1 Dollar, und deshalb an Mr. Smith nur 250 Dollar bezahlen. Nach dieser Transaktion besitzt Mr. Miller die Möglichkeit, in Deutschland Waren für umgerechnet 250 Dollar einzukaufen, die ihn zum offiziellen Kurs 400 Dollar gekostet hätten. Diese Exportförderung in Höhe von 150 Dollar, die sowohl Mr. Miller als auch die deutsche Exportindustrie begünstigt, wird durch die Verluste von Mr. Smith finanziert. Dieser ist zu diesem Verlustgeschäft wahrscheinlich bereit, weil er damit zufrieden sein muss, wenigstens noch einen Teil seiner Forderung realisieren zu können – es sei denn, er glaubt an eine spätere Aufwertung seiner Forderung. Trotz dieser und anderer Fördermaßnahmen133 beabsichtigten die Nationalsozialisten nie, die deutsche Exportwirtschaft als eigenständigen Konjunkturmotor aufzubauen. Stattdessen sollte im Rahmen der nationalen Autarkiebestrebungen gerade so viel exportiert werden, wie zur Finanzierung der „volkswirtschaftlich notwendigen“ Einfuhren benötigt wurde, schließlich geht exportierte Ware der inländischen Verwendung verloren. Insgesamt blieb das deutsche Außenhandelsvolumen daher auch nach erfolgter wirtschaftlicher Erholung im Dritten Reich gering. Selbst im Jahr 1938 erreichten weder die Importe noch die Exporte auch nur die Hälfte der entsprechenden Werte des Jahres 1928, wobei man allerdings berücksichtigen muss, dass die Preise 1938 immer noch deutlich unter dem Niveau von 1928 lagen.134 Deutschland war in der Zwischenkriegszeit alles andere als ein Exportweltmeister. Die zentrale Steuerung des deutschen Außenhandels hatte beträchtliche Umschichtungen in der Struktur und Herkunft der Einfuhrgüter zur Folge. Tabelle 6.3 zeigt, dass im Dritten Reich im Vergleich zum Vorkrisenjahr 1928 der Import von für die Aufrüstung notwendigen Erzen schließlich beträchtlich gesteigert wurde (zumal ja die Preise im Durchschnitt niedriger lagen), während man die für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einfuhren von Getreide und Textilrohstoffen wie vor allem Baumwolle stark reduzierte.
132
133 134
Zwischen 1932 und 1934 hatte die Reichsmark durch das Festhalten an der Goldparität gegenüber dem Dollar, der 1933/34 abgewertet worden war, in Preisnotierung von 4,20 RM auf 2,50 RM aufgewertet. Vgl. Michael Ebi (2004): Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung 1932–1938, Stuttgart. Vgl. Erbe (1958), S. 72.
114 Tabelle 6.3:
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich Entwicklung des Importwerts ausgewählter deutscher Einfuhrgüter
Einfuhrgut Getreide Textilrohstoffe Kohle Eisenerz Sonstige Erze Quelle:
1928 100 100 100 100 100
1932 22 32 43 22 58
1936 2 31 39 68 70
1938 30 33 45 115 110
René Erbe (1958): Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933–1939 im Lichte der modernen Theorie, Zürich, S. 78.
Das Ziel, Außenhandel vor allem mit denjenigen Ländern zu betreiben, die nicht auf einer Bezahlung in Dollar oder Pfund bestanden, sondern zum Abschluss der bürokratischen Verrechnungs- und Kompensationsabkommen bereit waren, führte dazu, dass sich insbesondere der Anteil südosteuropäischer und lateinamerikanischer Länder am deutschen Außenhandel erhöhte, während die Anteile der traditionellen (und auch heute wichtigsten) Handelspartner aus den USA und Westeuropa schrumpfte. Tabelle 6.4:
Die Verlagerung des deutschen Außenhandels 1929 bis 1938
Region
Anteil an der Gesamtausfuhr in % 1929 1932 1935 1938 4,3 3,5 5,9 10,3 1,4 1,3 3,4 5,4
Anteil an der Gesamteinfuhr in % 1929 1932 1935 1938 3,8 5,0 7,7 9,8 1,4 2,5 3,8 3,8
7,3 10,2 23,2 26,2 9,7 7,4 33,5 76,8
11,7 7,3 23,9 15,7 6,4 13,3 40,7 76,1
Südosteuropa Ägypten, Türkei und Vorderasien Lateinamerika Nordeuropa Total Westeuropa Großbritannien USA Übrige Total Quelle:
4,1 9,4 18,3 31,9 7,8 4,9 37,1 81,7
9,1 11,4 29,8 26,1 8,8 4,0 31,3 70,2
11,7 12,9 40,3 20,8 6,7 2,8 29,4 59,7
9,6 6,4 23,5 15,1 5,5 12,7 43,2 76,5
13,1 9,9 34,5 14,1 6,2 5,8 39,4 65,5
14,9 11,4 39,9 11,9 5,2 7,4 35,6 60,1
Wolfram Fischer (1968): Deutsche Wirtschaftspolitik 1918–1945, Opladen, S. 110.
Angesichts der unbestreitbaren Erfolge insbesondere auf dem Arbeitsmarkt stellt sich nun die Frage, wie dieses Konjunktur- (und Aufrüstungs-) Programm insgesamt zu beurteilen ist.
6.1.2
Die Beurteilung der nationalsozialistischen Antikrisenpolitik
Auf den ersten Blick erscheint die Interpretation naheliegend, die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik bis Mitte der 1930er Jahre als ein Musterbeispiel für eine erfolgreiche Umsetzung keynesianischer Handlungsanweisungen zur Wiedererlangung eines Vollbeschäftigungsgleichgewichts zu deuten. Dieser Eindruck mag nicht zuletzt John Maynard Keynes selbst dazu bewogen haben, in seinem Vorwort zur 1936 erschienenen deutschen Ausgabe seiner „General Theory of Employment, Interest, and Money“ darauf hinzuweisen, dass „die Theorie der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet, viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden [kann] als die [klassische] Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingun-
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
115
gen des freien Wettbewerbs und eines großen Maßes von laissez-faire erstellten Produktion.“135 Tatsächlich erscheinen viele der hier bereits beschriebenen konjunkturpolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik direkt einem keynesianischen Lehrbuch entnommen. Die Entscheidung der nationalsozialistischen Führung, sich primär auf die Erhöhung der Staatsausgaben zu konzentrieren und die denkbare Alternative weitreichender Steuersenkungen für Haushalte und Unternehmen zu vernachlässigen, war aus keynesianischer Perspektive durchaus zielführend. Angesichts des krisenbedingten Pessimismus der Wirtschaftssubjekte wären Steuersenkungen wahrscheinlich weitestgehend verpufft, da die privaten Haushalte einen nicht kleinen Teil der zusätzlich verfügbaren Einkommen ohne Beschäftigungswirkungen gespart und die Unternehmen auf eine Erhöhung der Gewinne nach Steuern kaum mit vermehrten Investitionen reagiert hätten. Auch war es vermutlich effektiv, die zusätzlichen Staatsausgaben durch die Ausgabe von Arbeitsbeschaffungswechseln, mithin durch Deficit spending zu finanzieren, da im Falle einer Finanzierung durch Steuererhöhungen die private Nachfrage möglicherweise noch weiter zurückgedrängt worden wäre (Crowding-out). Die strikte Limitierung der Importnachfrage mittels Devisenbewirtschaftung bewirkte, dass ein Teil der zusätzlichen Nachfrage der Haushalte zu positiven Beschäftigungseffekten im Inland führte, und nicht im Ausland wirksam wurde.136 Schließlich mochten die „gespaltenen Wechselkurse“ der Schacht’schen Außenwirtschaftspolitik einen Anstieg des Exportvolumens bewirkt haben, der mit weiteren Multiplikatorwirkungen verbunden war. Zusammenfassend mag es daher nicht verwundern, dass die Arbeitslosigkeit im „Dritten Reich“ sehr schnell abgebaut wurde. Eine Charakterisierung der nationalsozialistischen Antikrisenpolitik als keynesianisch setzt aber voraus, dass die Machthaber – bewusst oder unbewusst – gerade diejenigen konjunkturpolitischen Maßnahmen ergriffen, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen die stärksten Multiplikatoreffekte hervorriefen. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Nach Berechnungen von René Erbe belief sich der Staatsausgabenmultiplikator zwischen Ende 1932 und Ende 1936 nur auf den Wert 1,6. Erbe selbst meinte hierzu: „Wenn daran etwas erstaunlich ist, dann eher die Tatsache, dass mit einem derart beträchtlichen Aufwand eine so geringe Wirkung erzielt wurde, oder mit anderen Worten die Tatsache, dass es gelang, die Sekundärwirkungen der öffentlichen Investitionen so tief zu halten.“137
135 136 137
John Maynard Keynes (1936 [2009]): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 11. Aufl., Berlin u.a., S. XIII. In einer offenen Volkswirtschaft ist der Staatsausgabenmultiplikator kleiner als in einer geschlossenen. Erbe (1958), S. 163.
116
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Multiplikatoreffekte138 Mit dem Begriff Multiplikatoreffekt bezeichnen Makroökonomen die Beobachtung, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen eines konjunkturpolitischen Eingriffs deutlich über den ursprünglichen Impuls hinausgehen können. Der Staatsausgabenmultiplikator einer geschlossenen Volkswirtschaft gibt beispielsweise an, um welches Vielfache das Bruttoinlandsprodukt (Y) ansteigt, wenn die Staatsnachfrage (G) erhöht wird. Seine Herleitung erfolgt auf Grundlage der gesamtwirtschaftlichen Nachfragegleichung und einer Konkretisierung der Konsumfunktion, die eine autonome, d.h. einkommensunabhängige Komponente (Ca) und eine einkommensabhängige Komponente (cY) umfasst.
(1) Y C I G (2) C C a cY (2) (1)
Y C a cY I G
(1 c)Y C a I G 1 Y für I 0, C a 0 G (1 c) Der Multiplikatoreffekt ist größer als Eins (da c > 0), weil die ursprüngliche Erhöhung der Staatsnachfrage zu einem zusätzlichen Einkommen der Haushalte führt, das wiederum zusätzliche Konsumnachfrage und über Rückkopplungsschleifen weitere Einkommenssteigerungen induziert. Wenn wir annehmen, dass die Haushalte 80 Prozent ihres Einkommens konsumieren (und somit die marginale Konsumquote c = 0,8 beträgt), beläuft sich der Staatsausgabenmultiplikator auf Fünf. Eine Erhöhung der Staatsnachfrage um beispielsweise 10 Millionen RM führt schließlich zu einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 50 Millionen RM. Mit anderen Worten, es ging den Wirtschaftsplanern im „Dritten Reich“ gar nicht darum, den privaten Konsum anzukurbeln. Dies hätte aus ihrer Sicht Ressourcen in unnötiger Verwendung gebunden, die damit der Rüstung verloren gegangen wären. Erreicht wurde dies unter anderem durch eine Verringerung der marginalen Konsumquote (c) mittels der qualitativen und quantitativen Beschränkung von Konsummöglichkeiten und zahlreicher „Sparfeldzüge“. Hierauf ist später noch einzugehen (vgl. unten Kap. 6.3.2 und 7.6). Ferner wurde ein starker Anstieg der verfügbaren Einkommen der Haushalte dadurch verhindert, dass bereits 1933 durch einen Lohnstopp die Löhne auf dem niedrigen Krisenniveau eingefroren und die hohen Steuersätze der Ära Brüning beibehalten wurden. Es ist unstrittig, dass durch staatlich finanzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme die Arbeitslosigkeit verringert werden kann, gleichgültig, welche Tätigkeit die Beschäftigten ausführen. So schrieb Keynes:
138
Vgl. z.B. Gregory M. Mankiv (2004): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Stuttgart, S. 828–831. Angesichts von Devisenbewirtschaftung und Bilateralisierung des Außenhandels bei insgesamt niedrigem Außenhandelsvolumen erscheint es uns sinnvoll, den Staatsausgabenmultiplikator für eine geschlossene Volkswirtschaft (ohne Außenbeitrag) herzuleiten.
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
117
„Das Graben von Löchern im Erdboden, bezahlt aus Ersparnissen, wird nicht nur die Beschäftigung, sondern auch das reale Nationaleinkommen in Form von nützlichen Gütern und Dienstleistungen vermehren.“139 Längerfristig ist es jedoch keineswegs egal, zu welchem Zweck die Staatsausgaben getätigt werden. Natürlich war auch Keynes der Auffassung, dass es wünschenswert ist, die Beschäftigungsprogramme zur Verbesserung der Infrastruktur zu nutzen, wodurch über ihre kurzfristige konjunkturpolitische Wirkung hinaus längerfristig das Wachstumspotential der von der Krise betroffenen Volkswirtschaft erhöht wird. Hitler stellte die Arbeitsbeschaffung jedoch von Anfang an in den Dienst der Aufrüstung. Truppenübungsplätze, Kasernen und Waffen waren insgesamt wenig geeignet, das langfristige Wachstumspotential Deutschlands zu steigern – dafür wären Sportfelder, Wohnungen und Traktoren sinnvoller gewesen. Außerdem beschränkt sich das Konzept der keynesianischen Nachfragesteuerung nicht auf die Abschwungphase des Konjunkturzyklus. Vielmehr soll der Staat auch während der Aufschwungphase regulierend eingreifen, dann allerdings mit eher kontraktiven Maßnahmen. Hierzu gehört, nach dem Erreichen der Vollbeschäftigung das Deficit spending einzustellen und die aufgehäuften Staatsschulden wieder abzubauen. Die Nationalsozialisten taten das trotz der Einwände von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht nicht, sondern setzten auch in der Vollbeschäftigungsphase ihr durch Kreditaufnahme finanziertes Aufrüstungsprogramm ungebremst fort.140 Der hierdurch ausgelösten Überhitzung der Wirtschaft begegnete man im November 1936 mit einem allgemeinen Preisstopp. Nach dem Zweiten Weltkrieg zahlte die deutsche Bevölkerung in Form einer erneuten Inflation und Währungsreform den Preis für diese alles andere als keynesianischen Staatsausgabenpolitik seit 1936. Auch wenn heute weitestgehend Einigung darüber herrscht, dass die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik aus den genannten Gründen nicht als keynesianisch charakterisiert werden kann, finden bestimmte wirtschaftspolitische Leistungen des Regimes doch weiterhin wissenschaftliche Anerkennung.141 Werner Abelshauser attestiert den Nationalsozialisten, sie hätten Deutschland aus der tiefen Krise des Jahres 1932 geführt und in den folgenden Jahren ein erstaunliches Wirtschaftswachstum erzielt, das auch den privaten Haushalten zu Gute gekommen sei. Darüber hinaus hätten die Rüstungspolitik und später die Kriegswirtschaft durch ihre Modernisierungseffekte den Grundstein für den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung nach 1945 gelegt.142 Diese pointierten Ansichten riefen schnell Widerspruch hervor. Christoph Buchheim hat Abelshauser entgegengehalten, das Wachstum im Dritten Reich sei „deformiert“ gewesen und zwar bereits vor 1936, und habe auch später keineswegs Grund139 140
141
142
Keynes (1936 [2009]), S. 185. Ein kritischer Brief des Reichsbankdirektoriums vom 7. Januar 1939, in dem Schacht die „hemmungslose Ausgabenpolitik“ beklagte und die „Staatsfinanzen an den Rand des Zusammenbruchs“ gebracht sah, führte umgehend zu seiner Entlassung als Reichsbankpräsident. Vgl. Karl-Heinrich Hansmeyer und Rolf Caesar (1976): Kriegswirtschaft und Inflation (1936–1948), in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a.M., S. 367– 429, hier insb. S. 381–383. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Mark Spoerer (2005): Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft 31, S. 418–438. Vgl. Werner Abelshauser (1999): Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder: Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 47, S. 1–36.
118
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
lagen für das sozusagen echte, mit Massenkonsum verbundene „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik legen können. Zudem habe sich der Wiederaufschwung der deutschen Wirtschaft bereits im dritten Quartal 1932 abgezeichnet und dürfe daher nicht den nationalsozialistischen Machthabern als Erfolg angerechnet werden.143 Buchheim erkennt in den schwachen privaten Investitionen, der gesunkenen Produktivität und dem stagnierenden Lebensstandard der Bevölkerung die Deformation des wirtschaftlichen Wachstums nach 1933. Zur Überprüfung dieser Auffassung ist ein genauer Blick auf die makroökonomischen Daten unumgänglich. Tabelle 6.5: Jahr 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938
Bruttoanlageinvestitionen in Deutschland 1925 bis 1938 BAI in Mio. RM (in Preisen von 1913) 6.956 7.377 8.972 8.976 8.371 6.781 4.592 3.449 4.322 6.849 9.655 11.435 13.117 15.380
BAI/BNE
öBAI/BAI
14,5 14,5 15,7 15,5 14,5 12,7 9,5 7,6 8,9 12,8 16,3 17,4 18,1 19,2
50,4 55,8 53,4 50,8 53,1 51,7 50,3 48,8 50,4 55,1 61,2 57,3 57,9 58,8
Anm.:
(ö)BAI – (öffentliche) Bruttoanlageinvestitionen, BNE – Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen. Den Quotienten in den beiden rechten Spalten liegen Angaben in laufenden Preisen zugrunde.
Quelle:
Mark Spoerer (2005): Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft 31, S. 422.
Die in Tabelle 6.5 zusammengetragenen Daten erlauben zunächst festzuhalten, dass die gesamtwirtschaftliche Investitionstätigkeit im Dritten Reich hoch war. Die durchschnittliche Investitionsquote (BAI/BNE)144 betrug 1902–1913 15,4 Prozent und 1925–1929 14,9 Prozent. Im Dritten Reich dagegen lag die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote bereits 1935 mit 16,3 Prozent über dem höchsten Wert, den sie jemals zu Weimarer Zeiten annahm. Die höchste Investitionsquote im späten Kaiserreich belief sich 1906 auf 18,2 Prozent, ein Wert, der 1937 erreicht und 1938 überschritten wurde.
143
144
Vgl. Buchheim (2001), S. 653–664. Albrecht Ritschl versucht auf Grundlage von nachträglichen Konjunkturprognosen nachzuweisen, dass sich in einer kontrafaktischen Weimarer Republik auch ohne die nationalsozialistischen Interventionen ein starker selbsttragender Wirtschaftsaufschwung entwickelt hätte. Vgl. Ritschl (2003), S. 133–138. Im Nenner der Investitionsquote steht normalerweise das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das jedoch für 1925–1938 in laufenden Preisen nicht vorliegt. Für diesen Zeitraum ist der Unterschied zwischen dem BNE und dem BIP sehr gering, vgl. Ritschl/Spoerer (1997), S. 51, Tab. A.1, Sp. IV und V (BSP=BNE).
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
119
Der Anteil des Staates an der gesamtwirtschaftlichen Investitionstätigkeit (öBAI/BAI) stieg im Dritten Reich gegenüber der Weimarer Zeit nur um wenige Prozentpunkte an. Selbst 1938, ein Jahr vor Kriegsbeginn, lag der Anteil des Staates an den Investitionen mit knapp 59 Prozent nur drei Prozentpunkte über dem höchsten Weimarer Wert von 1926, als öffentliche Investitionen mithelfen sollten, die Stabilisierungskrise von 1925/26 zu überwinden. Der Grund für den überraschend niedrigen und seit 1936 wieder sinkenden Anteil der öffentlichen Bruttoanlageinvestitionen war die starke Ausweitung der privatwirtschaftlichen Investitionstätigkeit, deren Wert bereits vor dem Anlaufen des Vierjahresplans, im Jahr 1936, real über dem höchsten Wert der Weimarer Republik lag. Dieses Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als die Unternehmen beim Wiederanlaufen der Konjunktur zunächst einmal die bestehenden Kapazitäten auslasteten, ehe sie an Erweiterungsinvestitionen denken konnten – und wohl nie zuvor hatten in Deutschland zu Friedenszeiten so viele industrielle Anlagen brach gelegen wie 1932. Deshalb ist die geringe privatwirtschaftliche Investitionstätigkeit der Jahre 1933 und 1934 auch kein Beleg für die von Buchheim vermutete Deformierung der deutschen Wirtschaft. Der Arbeitsproduktivität der deutschen Industrie – das zweite Argument Buchheims – scheint die seit 1936 massive staatliche Investitionslenkung keinen Abbruch getan zu haben. Nach den Berechnungen von Stephen Broadberry verringerte sich der Abstand der deutschen Arbeitsproduktivität zu jener der Vereinigten Staaten während der Weltwirtschaftskrise deutlich, wohingegen er gegenüber Großbritannien in etwa gleich blieb, wenn man die Zahlen bis 1937 zugrunde legt. Für 1938 ergibt sich sogar ein Produktivitätssprung zu Gunsten der deutschen Industrie, der allerdings vermutlich nur den konjunkturellen Einbruch der Weltwirtschaft widerspiegelt, von dem sich das Dritte Reich durch seine Autarkiepolitik und die Bilateralisierung der Außenhandelsbeziehungen ein großes Stück abgekoppelt hatte. Tabelle 6.6: Jahr 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 Quelle:
Arbeitsproduktivitäten im Vergleich: Deutschland, Großbritannien und die USA D/GB 95 97 103 102 105 100 98
D/US 41 40 43 41 42 43 42
Jahr 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938
D/GB 101 101 100 102 101 100 107
D/US 49 47 51 49 47 48 56
Stephen Broadberry (1997): The Productivity Race: British Manufacturing in International Perspective, 1850–1990, Cambridge, S. 49.
Für ein deformiertes Wachstum lassen sich also bei näherer Betrachtung in der industriellen Investitionstätigkeit und Arbeitsproduktivität kaum Anhaltspunkte finden. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, und, wenn man so will, ihre Deformation, lassen sich viel anschaulicher an der Zusammensetzung der Verwendungs- und der Verteilungsseite des Nationaleinkommens nachweisen. In Abbildung 6.3 sind die von Albrecht Ritschl vorgelegten Zahlen zur Verwendungsrechnung auf Pro-Kopf-Basis umgerechnet. Die durchgezogene Linie veranschaulicht einmal mehr den starken Anstieg des realen Bruttonationaleinkommens in den 1930er Jahren. Mit Hilfe der beiden gestrichelten Linien wird das Bruttonationaleinkommen in seine drei Hauptkomponenten privater Konsum, Investitionen und Staatsverbrauch aufgeteilt. Es ist
120
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
deutlich zu erkennen, dass der Staat vor allem seit dem Anlaufen des Vierjahresplans ab 1937 immer mehr Ressourcen an sich zog. Der Anstieg der Investitionen ist bereits oben diskutiert worden. Der Konsum pro Kopf der Bevölkerung hingegen erreichte in den 1930er Jahren zu keinem Zeitpunkt mehr das Maximum der Weimarer Republik (1928), obwohl doch das Nationaleinkommen als Ganzes deutlich höher lag. Von einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, die ihre multiplikative Wirkung in erster Linie über den privaten Verbrauch entfaltet, kann man im Falle des Dritten Reichs wirklich nicht sprechen. 2000
Reichsmark pro Kopf in Preisen von 1928
1800 1600 BNE
Staat
1400 1200
Investitionen
1000 Konsum
800 600 400 200 0 1925
1926
1927
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
1938
Abbildung 6.3:
Die Verwendung des Bruttonationaleinkommens 1925 bis 1938
Anm.:
Werte kumuliert, ohne Außenbeitrag; Investitionen inkl. Lagerveränderungen
Quelle:
Mark Spoerer, (2005): Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft 31, S. 425.
Wie wenig die ökonomische Realität des Dritten Reiches mit dem propagandistisch herausgestellten Ziel der Aufhebung aller Klassenschranken in der „Volksgemeinschaft“ zu tun hatte, zeigt auch ein Blick in die Verteilungsrechnung. Der Staat konnte zwischen 1927/28 und 1937/38 seinen Anteil an dem insgesamt deutlich gewachsenen verfügbaren Einkommen der Gesamtwirtschaft von 14 Prozent auf 19 Prozent stark ausweiten, was angesichts der zunehmenden Aufrüstungsanstrengungen wenig verwundert. Auch die Selbständigen konnten ihren Anteil von 23 Prozent auf 24 Prozent leicht ausbauen. Die klaren Verlierer waren die abhängig Beschäftigten, deren Anteil sich in nur zehn Jahren von 63 Prozent auf 58 Prozent reduzierte. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Rüdiger Hachtmann, der herausgearbeitet hat, dass Arbeiterhaushalte Ende der 1930er Jahre selbst bei Zugrundelegung des amtlichen Index der Lebenshaltungskosten zu keinem Zeitpunkt die realen Nettowochenverdienste von 1929 erreichten, obwohl die durchschnittliche wöchentliche Ar-
6.1 Verlauf und Ursachen des Wiederaufschwungs
121
beitszeit angestiegen war. Die Lohnempfänger arbeiteten also mehr und verdienten dennoch real weniger, und zwar nicht nur pro Stunde, sondern auch in der wöchentlichen Summe.145 Die Steigerung des Anteils der Einkommen der Selbständigen deckt sich auch mit dem Befund, dass die Industrieunternehmen im Dritten Reich eine überdurchschnittliche Profitabilität erzielten und dies vom Regime – trotz aller verbalen antikapitalistischen Ausfälle – gewollt war oder zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Für die Umgestaltung des Wirtschaftssystems benötigte der nationalsozialistische Staat die Kreativität und Innovationsfähigkeit der Unternehmer und köderte daher diejenigen unter ihnen, die vom Regime gewünschte Produkte herstellten, mit mehr als auskömmlichen Preisen. Entsprechend standen seit 1933 die Konkurszahlen auf sehr niedrigem Niveau, und die Gewinne zogen stark an. Allerdings erschwerte die Kapitalmarktpolitik des Dritten Reiches die Ausschüttung eines Teils der in den Aktiengesellschaften erwirtschafteten Gewinne. Insofern standen Teile der Gewinneinkommen gewissermaßen unter Sozialisierungsvorbehalt. In der Zurückdrängung des Konsums und der ebenfalls auf die Priorität der Rüstung zurückzuführenden Spreizung der Einkommensverteilung liegt neben der Verschiebung der Industriestruktur hin zur Produktionsgüterindustrie (vgl. Tab. 7.1) die zweite und dritte große Deformation des Wirtschaftswachstums in den 1930er Jahren. Entgegen der Propaganda erreichte die Masse der Bevölkerung nicht mehr das Realeinkommens- und Konsumniveau, das sie Ende der 1920er Jahre in der Weimarer Republik genossen hatte. Die bisherigen Ergebnisse basieren auf amtlichen Zahlen, die das NS-Regime aus nahe liegenden Gründen nicht vollständig publizierte. Bislang haben sich keine Indizien für die Vermutung finden lassen, dass die hier verwendeten amtlichen Zahlen, wie etwa später in der DDR, direkt und grob vom Regime gefälscht worden sein könnten. Gleichwohl gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der amtliche Lebenshaltungskostenindex, der für die Umrechnung der nominellen in die interessanteren realen (preisentwicklungsbereinigten) Zahlen erforderlich ist, die tatsächliche Preissteigerung zunehmend unterschätzte. Setzt man den amtlichen Index der Lebenshaltungskosten für das Jahr 1932 auf 100, so lag er 1938 bei nur 104. Hachtmann dagegen kommt auf Indexwerte von 109 bis 115, Steiner sogar auf Werte von 107 bis 125.146 Um die Bedeutung des Indexes der Lebenshaltungskosten für die Nationaleinkommensberechnung darzulegen, ist eine kurze Erläuterung des Konstruktionsprinzips vonnöten. Ritschl nimmt aus der Steuerstatistik berechnete Volkseinkommenszahlen des Statistischen Reichsamts als Grundlage und korrigiert diese, um sie dem heute gängigen Standard der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung anzupassen. Zum Volkseinkommen, also dem Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten, addiert er die Abschreibungen und den Saldo aus indirekten Steuern und Subventionen und erhält so das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen. Bis hierhin sind alle Daten noch in laufenden Preisen ausgedrückt. Um nun die Nationaleinkommenszahlen deflationieren zu können, muss er zur Verwendungsseite kommen. Den Staatsverbrauch kann er aus den archivalisch erhaltenen Reichshaushaltsstatistiken rekonstruieren, die Investitionen sind teils veröffentlicht und teils archivalischen Quellen
145 146
Vgl. Rüdiger Hachtmann (1988): Lebenshaltungskosten und Realeinkommen während des „Dritten Reiches“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75, S. 32–72. Vgl. André Steiner (2005): Zur Neuschätzung des Lebenshaltungskostenindex für die Vorkriegszeit des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 129–152, hier S. 148.
122
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
entnommen, ebenso der Außenbeitrag. Es verbleibt als Residuum der private Konsum: C = Y – G – I – (X – M). Man hat nun also den privaten Konsum, die Investitionen, den Staatsverbrauch und den Aussenbeitrag in laufenden Preisen. Diese vier Komponenten der Verwendungsrechnung werden mit entsprechenden Preisindices deflationiert, und es entsteht das Bruttonationaleinkommen in konstanten Preisen. Hier kommen nun die Lebenshaltungskosten ins Spiel, die als Preisindex für den (privaten) Konsum fungieren. Ihr Effekt ist keineswegs marginal, da der Anteil des Konsums am Bruttonationaleinkommen selbst 1938 immer noch 57 Prozent betrug. Im Folgenden wird unterstellt, dass das von Hachtmann berechnete mittlere Szenario (Indexwert 1938: 114) der Unterschätzung der Lebenshaltungskosten zutrifft – ein Szenario, das Hachtmann selbst noch für recht konservativ hält und auch im unteren Bereich der Steiner’schen Schätzung liegt, also die vermutete echte Preissteigerung eher unter- als überschätzt. Demnach war der Anstieg der Lebenshaltungskosten vor allen Dingen in den Jahren 1934 und 1935 höher als offiziell ausgewiesen. Abbildung 6.4 veranschaulicht, wie sich diese Korrektur auf die Berechnung des realen Bruttonationaleinkommens auswirkt. 2000
Reichsmark pro Kopf in Preisen von 1928
1800 1600 BNE
amtlicher Index
1400
korrigierter Index
1200 amtlicher Index
1000
Konsum korrigierter Index
800 600 400 200 0 1925
1926
1927
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
1938
Abbildung 6.4:
Reales Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen und Konsum, berechnet zu alternativen Lebenshaltungskosten 1925 bis 1938
Quelle:
Mark Spoerer (2005): Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“, in: Geschichte und Gesellschaft 31, S. 433.
Schon nach den offiziellen Zahlen erreichte der Pro-Kopf-Konsum auch Ende der 1930er Jahre nicht mehr das Weimarer Maximum von 1928; gemäß der Korrektur lag er vielmehr gut 15 Prozent darunter. Auch das gesamtwirtschaftliche Wachstum sähe nun nicht mehr so beeindruckend aus. Nach Einsetzen des mittleren Hachtmann’schen Lebenshaltungskostenindexes für den Konsum erreichte das reale Pro-Kopf-Einkommen das Weimarer Maximum erst 1937 – einem Jahr, in dem die deutsche Arbeitsmarktpolitik bereits einem kleinen Teil der Bevölkerung zwangsarbeitsähnliche Beschäftigungsverhältnisse zumutete; es sei nur verwiesen auf den Reichsarbeitsdienst und die Arbeitsdienstpflicht 1935, den Westwallbau ab 1938 und bald darauf das erste Arbeitserziehungslager 1939. Für ein Nationaleinkommen
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
123
dieser Größe, mit dieser Verteilung und dieser Verwendung musste das Regime bereits einen Teil der Bevölkerung zur Arbeit zwingen. Dieser Befund lässt zwei wesentliche Fragen offen, die wir in den nächsten beiden Kapiteln behandeln werden: Mit welchen Mitteln schaffte es das Regime, den privaten Konsum zurückzudrängen? Und warum erinner(te)n sich Zeitgenossen trotzdem an eine Verbesserung ihrer ökonomischen Situation im Dritten Reich? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zu berücksichtigen, dass selbst noch in den 1930er Jahren Lebensmittel den größten Ausgabenposten in den Budgets von Unterschichtenhaushalten ausmachten. Wir wenden uns daher im nächsten Kapitel der Landwirtschaft zu, die in den 1930er Jahren immer noch ein knappes Fünftel der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung stellte.
6.2
Die Landwirtschaft zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Erzeugungsschlacht
6.2.1
Institutionelle Reformen in der Landwirtschaft
Nach der Machtergreifung im Januar 1933 überraschte das nationalsozialistische Regime viele seiner Wähler mit einer eher pragmatischen Wirtschaftspolitik, die wider Erwarten nicht auf die versprochene Entmachtung oder Zerschlagung der Großindustrie ausgerichtet war, sondern stattdessen versuchte, die Industriellen durch das Setzen wirtschaftlicher Anreize zur freiwilligen Kooperation zu motivieren. Die Ausgestaltung dieser wirtschaftspolitischen Strategie werden wir ausführlich in Kapitel 7 diskutieren. In diesem Kapitel wenden wir uns der Landwirtschaft zu, die insoweit eine Sonderrolle einnimmt, als in diesem Wirtschaftssektor die Nationalsozialisten ihren ideologischen Zielvorgaben auch umfangreiche politische Weichenstellungen folgen ließen.147 Die beiden wichtigsten institutionellen Veränderungen waren das Reichserbhofgesetz und der Reichsnährstand. Die ökonomischen Wirkungen dieser beiden neuen Institutionen sind vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Zielsetzung, die einheimische Agrarproduktion entscheidend zu steigern, zu beurteilen. Überdies ist zu fragen, ob Reichserbhofgesetz und Reichsnährstand dazu beitrugen, die traditionelle Forderung der deutschen Landwirte nach Einkommensparität zu befriedigen. In Industriestaaten mit stagnierender Bevölkerung, geringer Einkommenselastizität der Nachfrage nach Agrargütern148, aber hoher Fortschrittsrate im landwirtschaftlichen Sektor wird das Agrargüterangebot in langer Frist stärker wachsen als die Nachfrage nach densel-
147
148
Vgl. Jochen Streb und Wolfram Pyta (2005): Von der Bodenproduktivität zur Arbeitsproduktivität. Der agrarökonomische Paradigmenwechsel im „Dritten Reich“, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53, S. 56–81, hier S. 57–64. Der deutsche Statistiker Ernst Engel beobachtete schon Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Nachfrage nach Agrargütern bei steigendem Einkommen der Konsumenten nur unterproportional wächst. Vgl. Ernst Engel (1857): Die vorherrschenden Gewerbezweige in den Gerichtsämtern mit Beziehung auf die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen, in: Zeitschrift des statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministerium des Inneren, S. 153–182. Dies ist als „Engelsches Gesetz“ in die Mikroökonomik eingegangen.
124
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
ben.149 Unvermeidbare Folge dieser ungleichmäßigen Entwicklung sind zumindest im Vergleich zu den Gewerbegüterpreisen sinkende Agrargüterpreise, so dass die Landwirtschaft immer mehr Agrargüter produzieren muss, um eine gegebene Menge an Gewerbegütern eintauschen zu können.150 Ausgehend von dieser Preisschere vergrößerte sich auch die Disparität der Einkommen von Landwirten und Gewerbetreibenden. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fordern Landwirtschaftsverbände deshalb vom Staat konkrete Maßnahmen zur Wiederherstellung einer sektoralen Einkommensparität ein.151 Dieses Verteilungsziel wurde auch im Dritten Reich explizit thematisiert. Der kleinbäuerlichen Verhältnissen entstammende Ludwig Herrmann vertrat im Jahr 1938 die Auffassung, „dass das Landvolk ein Recht auf denjenigen Anteil am Gesamtvolkseinkommen hat, der seiner Erwerbspersonenzahl im Vergleich zur Erwerbspersonenzahl des übrigen Volkes entspricht.“152 Die Forderung nach Einkommensparität war nach dieser Auffassung erfüllt, wenn das durch die Zahl der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen dividierte Sektoreinkommen der Landwirtschaft gerade so groß war wie das durch die Zahl der außerlandwirtschaftlichen Erwerbstätigen geteilte Sektoreinkommen aller anderen Wirtschaftsbereiche der deutschen Volkswirtschaft. Wilhelm Bauer und Peter Dehen berechneten auf Grundlage dieser anzustrebenden Referenzsituation die jeweilige Höhe der in den Wirtschaftsjahren 1924/25 bis 1937/38 angefallenen jährlichen Einkommensdisparität der deutschen Landwirtschaft. In einem 1938/39 veröffentlichten Aufsatz kamen sie zu dem Ergebnis, dass der landwirtschaftliche Sektor Deutschlands im Betrachtungszeitraum jährlich nur zwischen 59 und 73 Prozent des paritätischen Sektoreinkommens erwirtschaftete, das ihm gemäß seiner Erwerbstätigenzahl eigentlich zustehen sollte.153 Von einem rein ökonomischen Standpunkt aus betrachtet, hätte diese von Bauer und Dehen beobachtete Einkommensdisparität als Signal für die Notwendigkeit eines radikalen Schrumpfungs- und Konzentrationsprozesses im deutschen Agrarsektor gedeutet werden müssen, der sich durch einen Rückgang der Zahl der landwirtschaftlichen Unternehmen bei gleichzeitigem Anwachsen der durchschnittlichen Betriebsgröße ausgezeichnet und hierdurch als Nebeneffekt die dringend benötigten Arbeitskräfte für die expandierende Rüstungsindustrie bereitgestellt hätte. Ein solcher Strukturwandel hätte so lange angedauert, bis der Anstieg der Agrargüterpreise aufgrund einer Verringerung des Angebots und die höhere individuelle Absatzmenge der im Durchschnitt angewachsenen Unternehmen zusammengenom149 150
151
152 153
Die grundlegenden ökonomischen Zusammenhänge erläutert Willard W. Cochrane (1958): Farm Prices: Myth and Reality, 3. Aufl., Minneapolis, S. 85–107. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist diese langfristige Entwicklungstendenz zunächst einmal positiv zu beurteilen, da sie es den sich entwickelnden Staaten in den letzten 150 Jahren erlaubte, sich aus der Malthusianischen Falle eines zu engen Nahrungsspielraums zu befreien und die Gefahr einer akuten Hungerkrise auf Dauer zu überwinden. Vgl. zum Beispiel Wolfram Pyta (1991): Landwirtschaftliche Interessenpolitik im deutschen Kaiserreich: Der Einfluss agrarischer Interessen auf die Neuordnung der Finanz- und Wirtschaftspolitik am Ende der 1870er Jahre am Beispiel von Rheinland und Westfalen, Stuttgart. Vgl. zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Interessenpolitik Mancur Olson (1968): Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen. Ludwig Herrmann (1938): So steht es um die Landwirtschaft!, Stuttgart, S. 106f. Vgl. Wilhelm Bauer und Peter Dehen (1938/39): Landwirtschaft und Volkseinkommen, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung N.F. 13, S. 430.
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
125
men eine so starke Erhöhung der von den Betrieben erzielten Gewinne bewirkt hätten, dass die angestrebte Einkommensparität hergestellt worden wäre. Aufgrund der ideologischen Überhöhung des Bauernstandes, insbesondere aber wegen der noch im Detail zu diskutierenden landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht war ein den Marktkräften überlassener Schrumpfungsprozess des deutschen Agrarsektors allerdings keine zulässige Option der nationalsozialistischen Agrarpolitik. Stattdessen verfolgte man den mit der Einführung der Bismarck’schen Agrarschutzzölle eingeschlagenen deutschen Weg konsequent weiter, der Einkommensdisparität durch eine Intensivierung der staatlichen Eingriffe in die Agrarmärkte entgegenzuwirken. Angesichts der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise bestanden die vorrangigen Aufgaben zunächst darin, auf der Erlösseite die Agrargüterpreise zu stabilisieren und auf der Kostenseite die Überschuldung der Höfe zu verringern. Tabelle 6.7:
Verkaufserlöse, Steuern und Fremdkapitalzinsen der deutschen Landwirtschaft
Jahr 1928/29 1929/30 1930/31 1931/32 1932/33 1933/34 1934/35 1935/36 1936/37 Verkaufserlöse 10.228 9.808 8.646 7.350 6.405 7.409 8.302 8.698 8.861 (Mio. RM) Steuern (Mio. RM) 720 740 640 570 560 510 440 450 480 Steuern (% der 7% 8% 7% 8% 9% 7% 5% 5% 5% Verkaufserlöse) Fremdkapitalzinsen 920 950 950 1.005 850 730 650 630 630 (Mio. RM) Fremdkapitalzinsen 9% 10% 11% 14% 13% 10% 8% 7% 7% (% d.Verkaufserlöse) Quelle:
Harold James (1988): Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936, Stuttgart, S. 341.
Die deutsche Landwirtschaft war schon in der Zeit der Weimarer Präsidialregierungen ein bevorzugtes Objekt von Subventionen und wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen gewesen. Diese Politik wurde nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zunächst unter dem deutschnationalen Landwirtschaftsminister Alfred Hugenberg kontinuierlich fortgesetzt.154 Am 14. Februar 1933 wurde ein befristeter Vollstreckungsschutz für landwirtschaftliche Betriebe eingeführt, der diese vor dem Zugriff der Gläubiger schützte, bis dauerhafte Umschuldungsregelungen in Kraft waren. Gleichzeitig wurde der Zollschutz fast verdoppelt und Einfuhrkontingente wurden verkleinert. Der sogenannte Fettplan vom März 1933 verringerte die auf ausländischen Rohstoffen basierende Margarineproduktion um 40 Prozent und zwang die Produzenten zur Beimischung der teureren inländischen Butter. Die erzwungene Erhöhung der Nachfrage nach inländischen Fetten ließ die Großhandelspreise für Butter, Schmalz und Schweine von März bis September 1933 um 40–50 Prozent ansteigen. Der Preisindex der landwirtschaftlichen Erzeugnisse erhöhte sich im Verlauf des Jahres 1933 um 16 Prozent. Wie Tabelle 6.7 dokumentiert, wurde hierdurch der Niedergang der landwirtschaftlichen Erlöse gestoppt und sogar ein Wiederanstieg eingeleitet. Auf der Kostenseite profitierte die Landwirtschaft von Steuersenkungen bei der landwirtschaftlichen Grundsteuer und der Umsatzsteuer sowie von den schon unter Reichskanzler Brüning eingeleiteten Zinsverbilligungen für Agrarkredite, die in Form einer allgemeinen Umschuldung weitergeführt wurden. So bestimmte das Gesetz zur Regelung der landwirt154
Vgl. John E. Farquharson (1976): The Plough and the Swastika: The NSDAP and Agriculture in Germany 1928–45, London, S. 50–53; James (1988), S. 339–342.
126
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
schaftlichen Schuldverhältnisse vom 1. Juni 1933, dass die Verzinsung der von Landwirten aufgenommenen Kredite im Rahmen von Entschuldungsplänen auf 4,5 Prozent oder weniger gesenkt werden sollte. Die hierdurch entgangenen Zinseinnahmen wurden den Gläubigern unter bestimmten Umständen drei Jahre lang ersetzt. Ferner wurden die Tilgungssätze reduziert und damit der Rückzahlungszeitraum gestreckt. Hierdurch verringerte sich der Anteil der Fremdkapitalzinsen an den Verkaufserlösen von 14 Prozent im Jahr 1931/32 auf nur noch 7 Prozent im Jahr 1935/36. Der entsprechende Anteil der Steuern sank von seinem Höchststand von 9 Prozent im Jahr 1932/33 auf 5 Prozent im Jahr 1934/35 ab. Das unter dem neuen Landwirtschaftsminister Walther Darré eingeführte Reichserbhofgesetz vom 29. September 1933155 diente gleichermaßen agrarpolitischen wie ideologischen Zielen der Nationalsozialisten. So hieß es in der Präambel: „Die Reichsregierung will unter Sicherung alter deutscher Erbsitte das Bauerntum als Blutquelle des deutschen Volkes erhalten. Die Bauernhöfe sollen vor Überschuldung und Zersplitterung im Erbgang geschützt werden, damit sie dauernd als Erbe der Sippe in der Hand freier Bauern verbleiben.“ Jeder Bauernhof, der zumindest die Ernährung einer landwirtschaftlichen Familie ermöglichte, was im Durchschnitt einer minimalen Hofgröße von ungefähr 7,5 Hektar entsprach, und andererseits höchstens 125 Hektar umfasste, konnte zum Reichserbhof werden, sofern der ihn besitzende Landwirt deutscher Staatsangehörigkeit und „deutschen Blutes“ war. Nur der Besitzer eines Reichserbhofes war in der Folgezeit berechtigt, den „Ehrentitel“ Bauer zu tragen. Der aus dieser gesellschaftlichen Aufwertung des Berufsstandes vielleicht resultierende immaterielle Vorteil des Eigentümers wurde mit einer Reihe von Verfügungsbeschränkungen erkauft:
Der Reichserbhof durfte im Erbfall nicht geteilt werden. Die Erbfolge begünstigte durch die Reihung „Söhne, deren Söhne, Vater des Erblassers, Bruder, Töchter, deren Söhne usw.“ eindeutig die männlichen Familienmitglieder und diskriminierte insbesondere die Ehefrau. Die Nichterben wurden nicht ausbezahlt. Der Reichserbhof durfte grundsätzlich weder verkauft noch durch Schulden belastet werden. Das staatliche Anerbengericht hatte das Recht, bei „Unfähigkeit“ des Bauern den Reichserbhof auf den Erben oder eine andere Person zu übertragen. Diese Bestimmungen bedeuteten offensichtlich eine sehr weitgehende Aushöhlung des formal weiter bestehenden Privateigentums des Reichserbhofbauern, dem in letzter Konsequenz eigentlich nur das Recht verblieb, seinen Hof im Sinne der Machthaber zu bewirtschaften. Das erinnert sehr an die Eigentumsverhältnisse im Feudalismus und wurde so auch von kritischen Zeitgenossen verstanden. Während einer interministeriellen Diskussion über den Entwurf des Reichserbhofgesetzes am 26. September 1933 führte der Reichsminister der Justiz Franz Gürtner aus, „daß das Bauerngut zur res extra commercium gemacht werde. Es werde gewissermassen ein Lehnsbesitz des Bauern. Der Lehnsherr sei etwa das Volk.“156 Welche ökonomischen Auswirkungen hatte die Einführung des Reichserbhofgesetzes? Zur Verringerung der Einkommensdisparität mochte das Reichserbhofgesetz insoweit tatsächlich 155 156
Reichsgesetzblatt 1933, Teil I, S. 685–692. Zitiert nach Gustavo Corni und Horst Gies (1997): Brot – Butter – Kanonen: Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin, S. 103.
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
127
beitragen, als es die Verschuldung und die damit einhergehende Belastung mit Zins- und Tilgungszahlungen insbesondere im Erbfall verhinderte. Außerdem wurde in den traditionellen Realteilungsgebieten die säkulare Verkleinerung der durchschnittlichen Hofgröße gebremst, was vom Grundsatz her mit den obigen ökonomischen Überlegungen übereinstimmt, dass der Einkommensdisparität der Landwirtschaft wohl nur durch eine Erhöhung der durchschnittlichen Hofgröße entgegenzuwirken war. Allerdings führte die Durchsetzung des Reichserbhofgesetzes tendenziell auch zu einer Verringerung der zur Verfügung stehenden landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Zum einen bedeutete das Verbot, seinen Grund und Boden mit einer Hypothek zu belasten, für den Reichserbhofbauern nämlich faktisch den Ausschluss vom Kreditmarkt, da die Banken meistens nicht bereit waren, einen Personalkredit ohne materielle Sicherheiten zu vergeben. Als Alternative zur Finanzierung von neuen Maschinen und Anlagen verblieb dann nur der Rückgriff auf das eigene Vermögen, das unter anderem aus Gewinnen der Vorperiode gebildet werden konnte. Viele Landwirte verzichteten jedoch auf die Wiederanlage ihrer Betriebsüberschüsse und sparten diese stattdessen, um ihren vom landwirtschaftlichen Erbe ausgeschlossenen Kindern wenigstens einen nicht unter die Erbregeln des Reichserbhofgesetzes fallenden Geldbetrag vermachen zu können. Zum anderen beschleunigte das strikte Anerbenrecht die Landflucht der mithelfenden Familienangehörigen. Mithelfende Töchter und Söhne erhielten traditionell, wenn überhaupt, nur einen geringen monetären Lohn für ihren Arbeitseinsatz im elterlichen Betrieb, und waren deshalb oftmals nur darum zum Bleiben bereit, weil sie auf eine zukünftige Entschädigung in Form ihres Erbteils vertrauen konnten. Bei den vom Anerbenrecht diskriminierten Kindern eines Reichserbhofbauern entfiel diese Kompensation und sie waren deshalb unter sonst gleichen Bedingungen eher dazu geneigt, die Landwirtschaft zu verlassen und eine Ausbildung und Anstellung in der Industrie anzustreben. Der Arbeitskräftemangel auf dem Land wurde hierdurch verschärft, ohne dass Kapital zur Verfügung gestanden hätte, um den schwindenden Produktionsfaktor Arbeit durch neue Maschinen zu substituieren. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass die Durchsetzung des Reichserbhofgesetzes das Wachstum der landwirtschaftlichen Erzeugung durch eine Verringerung der Menge an verfügbaren Produktionsfaktoren und durch eine Verlangsamung des technischen Fortschritts abbremste. Der Mengeneffekt resultierte aus der beschleunigten Landflucht und dem Mangel an Kapital für Investitionen in mehr Maschinen. Der Produktivitätseffekt entstand, weil der Kapitalmangel nicht nur Investitionen in traditionelle Technologien, sondern auch in verbesserte und innovative Maschinen und Anlagen erschwerte. Außerdem verhinderte das Verkaufsverbot der Reichserbhöfe, dass effizienter wirtschaftende Landwirte auf dem Bodenmarkt Flächen von weniger befähigten Reichserbhofbauern zukaufen konnten. Mengen- und Produktivitätseffekt sind gesamtwirtschaftlich nicht zu vernachlässigen. Immerhin waren bis zum Jahr 1939 knapp 690.000 landwirtschaftliche Betriebe in Erbhöfe umgewandelt worden, die 38 Prozent der gesamten land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche des Altreichs bewirtschafteten.157 Eine Quantifizierung des induzierten Produktionsrückgangs ist allerdings schwierig, denn dazu müsste man in einer kontrafaktischen Analyse die Frage beantworten, wie viel Arbeit und Kapital diesen 690.000 Betrieben zur Verfügung 157
Vgl. Jürgen Weitzel (2005): Nationalsozialistische Agrarideologie und Landwirtschaftsrecht, in: Dieter Gosewinkel (Hg.): Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M., S. 157–180, hier insb. S. 179.
128
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
gestanden hätten, wenn sie nicht zu Reichserbhöfen geworden wären. Das hat bisher noch keine wirtschaftshistorische Analyse geleistet. Im nächsten Unterkapitel werden wir alternativ hierzu die Möglichkeit aufzeigen, durch einen Vergleich mit den historisch beobachtbaren Entwicklungen in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland das Produktions- und Produktivitätswachstum in der nationalsozialistischen Landwirtschaft zu bewerten. Der Reichsnährstand, gesetzlich eingeführt am 13. September 1933,158 entsprach einem Zwangskartell, das neben den Landwirten auch die Verarbeiter, Großhändler und Einzelhändler landwirtschaftlicher Erzeugnisse umfasste. Der Reichsnährstand regulierte den deutschen Agrarmarkt erschöpfend. Er legte Mindest- und Festpreise fest und bestimmte die zulässigen Verdienstspannen bei jedem Verarbeitungsvorgang, zum Beispiel wie viel Reichsmark der Müller für die Getreidevermahlung, der Bäcker für das Backen oder der Einzelhändler für das Verkaufen des Brotes berechnen durfte. Hierbei galt, dass die Agrargüterpreise auf Kosten der Gewinnspannen der Verarbeiter und des Handels angehoben wurden. Dadurch wurden die Erlöse der Landwirte zunächst tatsächlich erhöht, spätestens nach Erreichen der Vollbeschäftigung im Jahr 1936 verhinderten die nunmehr faktisch als Höchstpreise fungierenden Festpreise jedoch weitere Einkommenssteigerungen der Agrarproduzenten. Hinsichtlich der Beurteilung der ökonomischen Auswirkungen dieser institutionellen Reform ist vor allem von Bedeutung, dass auch die Aktivitäten des Reichsnährstands den ökonomischen Handlungsspielraum der deutschen Landwirte, ob Reichserbhofbauer oder auch nicht, erheblich einschränkte und durch staatliche Zielvorstellungen hinsichtlich Preissetzung und Flächennutzung ersetzte. Ist man der Auffassung, dass der einzelne Landwirt im Regelfall besser als eine staatliche Behörde beurteilen konnte, auf welche Weise sein Hof am besten zu bewirtschaften war, gingen auch mit dieser staatlichen Gängelung Produktivitätsverluste einher. Ist man im Gegensatz hierzu der Meinung, dass der Reichsnährstand durch Schulungen, Beratungen und Vorgaben die Wirtschaftsweise vieler bisher ineffizienter wirtschaftender Landwirte verbesserte, könnte diese neue Institution die Durchschnittsproduktivität in der deutschen Landwirtschaft aber auch erhöht haben. Im folgenden Abschnitt werden wir den Versuch unternehmen, die wirtschaftlichen Auswirkungen der beiden genannten agrarpolitischen institutionellen Reformen – Schaffung von Reichserbhöfen und des Reichsnährstands – anhand einer systemübergreifenden Produktivitätsanalyse zu beurteilen.
6.2.2
Analyse der landwirtschaftlichen Produktivität159
Angesichts der unterdurchschnittlichen Getreideernte des Jahres 1934 verkündete der nationalsozialistische Landwirtschaftsminister Walther Darré im November des gleichen Jahres auf dem zweiten Reichsbauerntag in Goslar den Beginn einer landwirtschaftlichen „Erzeugungsschlacht“: „Aus dieser Sachlage heraus muss ich an das deutsche Bauerntum und besonders an Euch, deutsche Bauernführer, den Appell richten, sich einzureihen in die kommende Erzeugungsschlacht.“160 158 159
Reichsgesetzblatt 1933, Teil I, S. 626 f. Dieses Unterkapitel fußt auf Stephanie Degler und Jochen Streb (2008): Die verlorene Erzeugungsschlacht: Die nationalsozialistische Landwirtschaft im Systemvergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 161–181.
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
129
Mit dieser bewusst mit militärischen Begriffen operierenden Kampagne waren ein kurzfristiges und ein längerfristiges Ziel verbunden. Kurzfristig sollten durch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion innerhalb der Grenzen Deutschlands bisher für Nahrungsmittelimporte benötigte Devisen eingespart und für die zur Aufrüstung erforderlichen Rohstoffeinfuhren freigemacht werden. Längerfristig sollte die Erzeugungsschlacht die deutsche Nahrungsmittelautarkie im Kriegsfall gewährleisten. Letzteres Ziel ergab sich unmittelbar aus den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, in dem die Nahrungsmittelversorgung der deutschen Zivilbevölkerung aufgrund der alliierten Blockade im Hungerwinter 1917/18 auf weniger als 1.000 Kilokalorien pro Tag herabgesunken war; ein Umstand, der nicht nur nach Auffassung der Nationalsozialisten als wesentliche Ursache für die Schwächung des deutschen Durchhaltewillens und damit der Niederlage im Ersten Weltkrieg gedeutet werden musste.161 Zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion setzten die agrarpolitischen Entscheidungsträger der Erzeugungsschlacht in erster Linie auf eine Vermehrung der eingesetzten landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren. Im Hinblick auf den Produktionsfaktor Kapital und die Nutzung von Vorleistungsgütern bedeutete dies insbesondere die Förderung der Nutzung von landwirtschaftlichen Nutzmaschinen und von Mineraldünger mittels Preissubventionen. Den Produktionsfaktor Boden versuchte man durch Urbarmachung von Ödland und Neulandgewinnung an den Küsten zu vermehren; die Landflucht des Produktionsfaktors Arbeit sollte unter anderem durch sozialpolitische Maßnahmen wie den Landarbeiterwohnungsbau gestoppt werden. Schließlich bemühten sich die nationalsozialistischen Agrarpolitiker durch Propagierung der am 15. Dezember 1934 vom Reichsnährstand veröffentlichten „Zehn Gebote der Erzeugungsschlacht“162 und nachfolgende Beratungen, Schulungen und Hofbegehungen auch um eine effizientere Nutzung der bereits vorhandenen Faktorausstattung. Hinsichtlich der Frage, ob diese Maßnahmen der landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht in den Friedensjahren des Dritten Reichs erfolgreich waren, gelangten weder die nationalsozialistische Führung noch die zurückblickenden Historiker zu einer eindeutigen Antwort. Landwirtschaftsminister Darré selbst wurde verständlicherweise nicht müde, die erzielten Fortschritte hervorzuheben. Im Jahr 1939 bilanzierte er: „Im Rahmen der Erzeugungsschlacht ist es seit Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmalig wieder gelungen, die landwirtschaftliche Erzeugung in Deutschland stärker zu steigern, als der Verbrauch zunahm. Wir versorgten uns im Jahr 1937 zu 82 Prozent aus eigener Erzeugung gegenüber 81 Prozent im Jahre 1936 und 75 Prozent im Jahre 1932.“163
160 161
162 163
Walther R. Darré (1934): Kongressrede auf dem Reichsbauernthing, in: Der 2. Reichsbauerntag in Goslar, Berlin, S. 43. Vgl. Martin Kutz (1984): Kriegserfahrung und Kriegsvorbereitung: Die agrarwirtschaftliche Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs in Deutschland vor dem Hintergrund der Weltkrieg I-Erfahrung, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 32, S. 59–82. Abgedruckt in Clifford R. Lovin (1974): Die Erzeugungsschlacht 1934–1936, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 22, S. 209–220, hier S. 214f. Walther R. Darré (1939): Die ernährungspolitische Lage, in: Der Vierjahresplan: Zeitschrift für nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 3, S. 110.
130
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Was Darré hierbei wohlweislich verschwieg, war, dass diese scheinbare Leistungssteigerung in erster Linie aus dem Umstand resultierte, dass er seinem Vergleich mit dem Krisenjahr 1932 das Jahr mit der geringsten landwirtschaftlichen Produktionsleistung seit 1925 zugrunde gelegt hatte.164 Historiker eint die retrospektive Einschätzung, dass die deutsche Landwirtschaft angesichts der beschränkten Bodenausstattung und der fortgesetzten Landflucht der Arbeitskräfte in der kurzen Friedensphase des Dritten Reichs nicht dazu in der Lage sein konnte, das ambitionierte Ziel der Nahrungsmittelautarkie tatsächlich zu verwirklichen. Über diese grundsätzliche Übereinstimmung hinaus unterscheiden sich die verschiedenen wissenschaftlichen Beurteilungen der nationalsozialistischen Erzeugungsschlacht jedoch erheblich. Am einen Ende des Meinungsspektrums steht sicherlich Clifford R. Lovin, der die Erzeugungsschlacht als einen eindeutigen Erfolg nationalsozialistischer Agrarpolitik wertet: „Die Steigerung der Produktion ist unzweifelhaft eingetreten, und die wirkliche Frage ist, ob die Nationalsozialisten korrekterweise das Verdienst für die Bewegung in der Richtung auf Unabhängigkeit in der Ernährung für sich in Anspruch nehmen können oder nicht. Die Antwort darauf muss im großen Ganzen ein ‚Ja‘ sein.“165 Ganz im Gegensatz hierzu gehen Gustavo Corni und Horst Gies mit der nationalsozialistischen Agrarpolitik hart ins Gericht: „Rückblickend ist also festzustellen, dass es die ‚Erzeugungsschlachten‘ in den sieben Friedensjahren nationalsozialistischer Agrarpolitik nicht einmal annähernd schafften, das deutsche Defizit an landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln zu beseitigen und damit eine rationellere Verteilung der verfügbaren Ressourcen zu ermöglichen. [...] Der Modernisierungsprozess und die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft nahmen zwar weiterhin zu, waren aber langsamer als früher und nicht frei von Schwankungen und Schwachpunkten.“166 Mit dem zuletzt zitierten Satz weisen Corni und Gies auf die drei grundlegenden Mängel der zuvor genannten wirtschaftshistorischen Analysen der nationalsozialistischen Erzeugungsschlacht hin. Erstens beschränkten sich die Untersuchungen der wirtschaftlichen Konsequenzen der Erzeugungsschlacht bisher fast durchgängig nur auf den Zeitraum des Dritten Reichs. Eine umfassende Beurteilung der nationalsozialistischen Agrarpolitik kann aber nur im Rahmen eines längerfristigen Vergleichs mit der Vorperiode und der Nachperiode gelingen, da erst eine systemübergreifende Analyse die hierzu notwendige Unterscheidung von langfristigen, über das Dritte Reich hinausreichenden Trends und kurzfristigen, durch die Nationalsozialisten hervorgerufenen Trendabweichungen möglich macht. Dieser längerfristige Vergleich darf dabei allerdings nicht auf einer teilweise in der Literatur anzutreffenden Gegenüberstellung einzelner Wirtschaftsjahre verschiedener Epochen beruhen, weil die jährlichen Produktionsergebnisse in der Landwirtschaft maßgeblich von den jeweiligen klimatischen Bedingungen 164 165
166
Vgl. Hoffmann u.a. (1965), S. 318. Lovin (1974), S. 218. Vgl. auch Farquharson (1976), S. 176 f. Kritischere Einschätzungen finden sich bei Dietmar Petzina (1968): Autarkiepolitik im Dritten Reich: Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart, S. 94; und Jürgen v. Kruedener (1974): Zielkonflikt in der nationalsozialistischen Agrarpolitik, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 94, S. 351. Corni/Gies (1997), S. 315.
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
131
bestimmt werden und daher im Zeitverlauf starken Schwankungen unterworfen sind. Wie die schon oben geäußerte Kritik an den Ausführungen von Darré aus dem Jahre 1939 belegt, ist die Gefahr groß, dass eine Politikanalyse auf Grundlage einzelner Stichjahre in die Irre führt. Zweitens übersieht die bisher weitgehend auf die eigentliche Produktionsleistung eingeengte Analyse zwangsläufig wesentliche Veränderungen in den Faktoreinsatzverhältnissen der deutschen Landwirtschaft. Wie oben bereits angedeutet, beabsichtigten die Nationalsozialisten, die angestrebten Produktionssteigerungen in erster Linie durch eine Beschleunigung der Mechanisierung und durch eine arbeitsintensivere Bodenbewirtschaftung herbeizuführen. Ungeklärt ist, ob diese Zielsetzung tatsächlich verwirklicht, das Wachstum der Kapitalintensität (Kapital/Arbeit) über den langfristigen Trend hinaus gesteigert und das Wachstum der Bodenintensität (Boden/Arbeit) gegen den langfristigen Trend verringert wurde. Drittens blieb bisher die zentrale Frage unbeantwortet, ob es den Nationalsozialisten gelungen ist, im Rahmen der landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht die Produktivität im Agrarsektor zu erhöhen, oder ob jene, wie es Corni und Gies vermuten, den Modernisierungsprozess gegenüber der Weimarer Republik eher verlangsamten. Grundsätzlich waren die Möglichkeiten der nationalsozialistischen Führung, die Ziele der landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht durch extensives Wachstum zu verwirklichen, sehr beschränkt. Zum einen konnte man sich im landwirtschaftlich erschlossenen Deutschen Reich von der Urbarmachung von Ödland oder Neulandgewinnung keine signifikante Erhöhung des Produktionsfaktors Boden mehr erhoffen. Zum anderen wurden die verfügbaren Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital dringend auch von der expandierenden Rüstungsindustrie benötigt. Jede zusätzliche landwirtschaftliche Nutzmaschine bedeutete auch bei wachsenden Kapazitäten der deutschen Maschinenbauindustrie einen Verlust an Werkzeugmaschinen, jeder zusätzliche Landarbeiter fehlte an einem industriellen Arbeitsplatz. Die gewünschte nachhaltige Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion konnte deshalb nur durch intensives Wachstum, das heißt durch eine Erhöhung der Produktivität der bereits vorhandenen landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren erreicht werden. Der Erfolg der nationalsozialistischen Agrarpolitik ist daher auch weniger am Grad der Verwirklichung eines kurzfristig ohnehin utopischen Autarkieziels, sondern an den realisierten Produktivitätssteigerungen zu messen, die, wie die Überschussproduktion innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts belegt, auch bei begrenzter Faktorausstattung nachhaltige Produktionssteigerungen erlaubt hätten. Grundprinzip der Produktivitätsmessung ist die mengenmäßige Gegenüberstellung von Produktionsergebnis und Faktoreinsatz. Dies kann zum einen in Form der partiellen Faktorproduktivitäten Arbeits-, Boden- und Kapitalproduktivität erfolgen, bei denen die erzielte Produktionsmenge jeweils in Beziehung zu einem einzelnen Produktionsfaktor gesetzt wird, und zum anderen durch das Konzept der sogenannten Gesamtfaktorproduktivität, das den Produktivitätseffekt als eigenständigen Fortschrittsfaktor einer (landwirtschaftlichen) Produktionsfunktion isoliert. Der große Vorteil der Verwendung partieller Faktorproduktivitäten ist die einfache Handhabung. Weder müssen einschränkende Annahmen getroffen werden, noch ist die Berechnung aufwendig. Von Nachteil ist jedoch, dass mit Hilfe von partiellen Faktorproduktivitäten die Fortschrittskomponente nicht hinreichend von der Mengenkomponente getrennt werden kann. Eine Erhöhung der partiellen Faktorproduktivität kann nämlich auch bei unveränderter Qualität der Inputfaktoren aus unterschiedlichen Wachstumsraten der Inputfaktoren resultieren. Werden beispielsweise Landarbeiter im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft durch Maschinen unveränderter Qualität ersetzt, steigt die Arbeitsproduk-
132
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
tivität, obwohl kein Fortschritt stattgefunden hat, sondern nur die Kapitalintensität erhöht wurde. Dieser Nachteil wird bei Verwendung des Konzepts der Gesamtfaktorproduktivität vermieden. Zur Messung der Gesamtfaktorproduktivität wird hier auf das von Robert Solow entwickelte Verfahren des Growth accounting zurückgegriffen.167 Ausgangspunkt dieser Methode ist eine Produktionsfunktion vom Cobb-Douglas-Typ, die den Zusammenhang zwischen der landwirtschaftlichen Wertschöpfung (Y) und den drei materiellen Produktionsfaktoren Arbeit (A), Boden (B), Kapital (K) sowie der Fortschrittskomponente (F) in folgender funktionaler Form beschreibt:168
Y f ( F, A, B, K ) F A B K In Wachstumsraten gilt: wY w F w A w B w K
Durch Umformung ergibt sich die Gesamtfaktorproduktivität als Residualgröße aus der Differenz zwischen der Wachstumsrate der Wertschöpfung und den mit ihren Verteilungsquoten gewichteten Wachstumsraten der materiellen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital: w F wY w A w B w K
Alle Größen der rechten Seiten dieser Gleichung sind zumindest vom Grundsatz her messbar und empirisch beobachtbar. Die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität auf der linken Seite der Gleichung wird in aller Regel als eigenständige Fortschrittskomponente interpretiert, die in unserem Fall beispielsweise die Zunahme des Wissens über Tier- und Pflanzenzucht, Düngemittel und Schädlingsbekämpfung (biologisch-chemischer Fortschritt), über 167
168
Vgl. Robert M. Solow (1957): Technical Change and the Aggregate Production Function, in: Review of Economics and Statistics 37, S. 312–320. Für eine aktuelle Anwendung dieses Konzepts auf dem Gebiet der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte vgl. Alexander J. Field (2006): Technological Change and U.S. Productivity Growth in the Interwar Years, in: Journal of Economic History 66, S. 203–236. Der Homogenitätsgrad einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion entspricht im Allgemeinen der Summe der Exponenten α, β und γ der materiellen Produktionsfaktoren. Dies bedeutet, dass eine Vervielfachung der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital um den Faktor λ zu einer Vervielfachung des Outputs um den Faktor λα+β+γ führt. Bei der von Solow entwickelten Methode der Messung der Gesamtfaktorproduktivität werden konstante Skalenerträge unterstellt. Folglich gilt die Restriktion α+β+γ=1 und damit ein Homogenitätsgrad von 1 in A, B und K. Überdies wird von vollkommener Konkurrenz auf den Faktor- und Gütermärkten ausgegangen, was impliziert, dass der realisierte Marktpreis die Grenzkosten der Erzeugung widerspiegelt und die Produktionsfaktoren gemäß ihres Wertgrenzprodukts entlohnt werden. In diesem Fall entsprechen die Produktionselastizitäten α, β und γ dem jeweiligen relativen Faktoreinkommen (Verteilungsquoten) und können somit empirisch beobachtet werden. Der immaterielle Produktionsfaktor Fortschritt hat keinen Einfluss auf das Verhältnis der Grenzproduktivitäten von Arbeit, Boden und Kapital, heißt Hicksneutral, und ist deshalb als eigenständige Einflussgröße des Produktionsergebnisses isolierbar. Ob die Landwirtschaft im Dritten Reich durch eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion zutreffend beschrieben werden kann, ist schwierig zu beurteilen. Diese Funktion hat sich jedoch in vielen wirtschaftshistorischen Anwendungen bewährt.
6.2 Die Landwirtschaft zwischen NS-Ideologie und Erzeugungsschlacht
133
landwirtschaftliche Nutzmaschinen und Lagerungseinrichtungen (mechanisch-technischer Fortschritt) sowie über Managementtechniken und Anbauverfahren (organisatorischer Fortschritt) quantifiziert. Darüber hinaus beinhaltet diese Residualgröße aber auch alle anderen Einflussfaktoren des Produktionsergebnisses, die nicht durch eine mengenmäßige Zunahme der materiellen Produktionsfaktoren beziffert werden können.169 Hierzu gehören neben dem Humankapital und dem Geschlechterverhältnis der in der Landwirtschaft Beschäftigten insbesondere auch die klimatischen Einflüsse und alle Messfehler, die bei der Ermittlung der materiellen Produktionsfaktoren und des Produktionsergebnisses entstehen können. Tabelle 6.8:
Wertschöpfung, Faktoreinsatz und Produktivität im Systemvergleich
Kennziffer
Weimarer Republik 1925–1932
Wertschöpfung (Y) Arbeit (A) Boden (B) Kapital (K) Bodenintensität (B/A) Kapitalintensität (K/A) Gesamtfaktorproduktivität (F) Quelle:
3,2% –1,0% 0,4% 1,2% 1,4% 2,2% 3,7%
Weimarer Drittes Bundesrepublik Republik Reich Deutschland 1925–1929 1933–1939 1950–1959 Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate 4,6% 2,1% 2,2% –1,0% –0,2% –3,5% 0,8% –0,5% 0,1% 1,8% 1,3% 1,7% 1,7% –0,3% 3,6% 2,7% 1,5% 5,2% 4,9% 2,1% 4,3%
Stephanie Degler und Jochen Streb (2008): Die verlorene Erzeugungsschlacht: Die nationalsozialistische Landwirtschaft im Systemvergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 177.
In Tabelle 6.8 sind die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der landwirtschaftlichen Wertschöpfung, der drei materiellen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital, der beiden Faktoreinsatzverhältnisse Boden- und Kapitalintensität sowie der Gesamtfaktorproduktivität im Systemvergleich dargestellt. Für den Zeitraum der Weimarer Republik werden hierbei sowohl die Werte einschließlich der Weltwirtschaftskrise (1925–1932) als auch ausschließlich der Weltwirtschaftskrise (1925–1929) angegeben. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass die in der Weimarer Republik erzielten Produktions- und Produktivitätsfortschritte in erster Linie in den Vorkrisenjahren erreicht wurden. Den nationalsozialistischen Agrarpolitikern gelang es nicht, die reale landwirtschaftliche Wertschöpfung gegenüber der Weimarer Republik zu steigern, vielmehr bleibt die entsprechende durchschnittliche Wachstumsrate von 2,1 Prozent deutlich um ein Drittel gegenüber dem Vergleichswert der Vorperiode einschließlich der Weltwirtschaftskrise in Höhe von 3,2% zurück. Dieses Ergebnis ist aus Sicht der Nationalsozialisten umso enttäuschender, als durchaus gewisse Erfolge bei der Bereitstellung der materiellen Produktionsfaktoren beobachtet werden können. Zum einen wurde der jährliche Rückgang des Produktionsfaktors Arbeit im Zuge von Landflucht von –1,0 Prozent auf –0,2 Prozent erheblich verlangsamt, bei vermutlich gleichzeitiger, in dieser Kennziffer nicht berücksichtigter Erhöhung der durchschnittlichen Arbeitszeit je Erwerbstätigem. Zum anderen konnte das durchschnittliche Wachstum des Produktionsfaktors Kapital gegenüber der Weimarer Republik geringfügig von jährlich 1,2 Prozent auf 1,3 Prozent beschleunigt werden, wenn auch die eigentliche Mechanisierung 169
Vgl. Edward F. Denison (1967): Why Growth Rates Differ: Postwar Experience in Nine Western Countries, Washington D. C., S. 279–289.
134
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
der deutschen Landwirtschaft mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,7 Prozent erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte. Die durch diese beiden Sachverhalte gesteigerten Möglichkeiten zu einem extensiven Wachstum der Landwirtschaft im Dritten Reich wurden jedoch durch ein in langfristiger Perspektive überraschendes Zusammenschrumpfen der landwirtschaftlichen Nutzfläche um jährlich –0,5 Prozent teilweise wieder zunichte gemacht. Die eigentliche Ursache der Wachstumsschwäche der deutschen Landwirtschaft im Dritten Reich ist allerdings das vergleichsweise äußerst niedrige Wachstum der Gesamtfaktorproduktivität. Der entsprechende jährliche Wert von durchschnittlich 2,1 Prozent liegt im Dritten Reich nicht nur um über die Hälfte unter der für die Bundesrepublik ermittelten Zahl von 4,3 Prozent, sondern bleibt auch weit hinter der Rate der Weimarer Republik einschließlich Weltwirtschaftskrise in Höhe von 3,7 Prozent zurück. Da das Reichserbhofgesetz und der Reichsnährstand die beiden wichtigsten Maßnahmen der nationalsozialistischen Agrarpolitik waren, liegt es nahe davon auszugehen, dass die mit ihnen einhergehenden Beschränkungen des individuellen Handlungsspielraums der deutschen Landwirte den Einsatz von allen Formen des landwirtschaftlichen Fortschritts verlangsamten. Schließlich veranschaulicht der Vergleich der jeweiligen Wachstumsraten der Faktoreinsatzverhältnisse Boden- und Kapitalintensität in den drei betrachteten politischen Systemen, dass die nationalsozialistische Agrarpolitik den längerfristigen Strukturwandel in der landwirtschaftlichen Produktion Deutschlands abschwächte oder gar in sein Gegenteil verkehrte. Erstens verringerte sich das Wachstum der Kapitalintensität gegenüber der Weimarer Republik einschließlich Weltwirtschaftskrise von 2,2 Prozent auf 1,5 Prozent. Angesichts dieses deutlichen Rückgangs kann die hohe Wachstumsrate dieses Faktoreinsatzverhältnisses in der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von 5,2 Prozent teilweise auch als nachholende Mechanisierung der im Dritten Reich verzögerten Entwicklung gedeutet werden. Zweitens wies im Dritten Reich die durchschnittliche Wachstumsrate der Bodenintensität gegen den langfristigen positiven Trend ein negatives Vorzeichen auf. Die hierdurch gekennzeichnete Verminderung der durchschnittlichen Landausstattung eines Erwerbstätigen in der Landwirtschaft senkte seine Arbeitsproduktivität und vergrößerte das Lohngefälle zwischen Industrieund Landarbeitern und somit wiederum die Anreize zur nicht zuletzt von den nationalsozialistischen Agrarpolitikern beklagten Landflucht. Insbesondere die vergleichsweise niedrigen Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität und der Kapitalintensität bestätigen auf ganzer Linie die von Corni und Gies formulierte Vermutung eines verlangsamten landwirtschaftlichen Modernisierungsprozesses im Dritten Reich. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der längerfristige Vergleich der landwirtschaftlichen Entwicklung in der Weimarer Republik (1925–1932), dem Dritten Reich (1933– 1938) und der frühen Bundesrepublik Deutschland (1950–1959) belegt, dass die nationalsozialistische Erzeugungsschlacht in den Friedensjahren des Dritten Reichs verloren wurde.
6.3
Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
Wie wirkte sich das Scheitern der Agrarpolitik auf den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung aus? War dies überhaupt im Alltag erfahrbar, und wenn ja, wurden die Einschränkungen möglicherweise durch andere Leistungen des Regimes kompensiert? Dieses Kapitel geht zwei zentralen Bestimmungsfaktoren des Wohlbefindens nach, der Gesundheit und dem Konsum.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
6.3.1
135
Wohlstandskonzepte
Wie in Kapitel 2 erläutert, messen Ökonomen den Wohlstand einer Nation in aller Regel anhand des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf (=Pro-Kopf-Einkommen). Einige Grenzen dieses Konzepts seien noch einmal kurz rekapituliert (vgl. Kap. 2.1): 1. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung berücksichtigt nur wirtschaftliche Transaktionen, die über Märkte laufen (z.B. Verkaufsumsätze) oder anderweitig erfasst werden können (z.B. im Staatshaushalt). In unterentwickelten Gesellschaften leben die meisten Menschen von der Landwirtschaft und produzieren so wenig, dass der Großteil für den Eigenbedarf verwendet wird und nur ein etwaiger Überschuss auf den Markt wandert. Eigenproduktion und -konsum jedoch werden nirgends (zuverlässig) erfasst und müssen geschätzt werden. 2. Viele wirtschaftliche Tätigkeiten im eigenen Haushalt bleiben in der klassischen Sozialproduktsberechnung grundsätzlich außen vor, werden also auch nicht in diesem Zusammenhang geschätzt. Gerade in weniger wohlhabenden Gesellschaften spielen die Produktion von Waren und Dienstleistungen im und für den eigenen Haushalt jedoch eine relativ starke Rolle. 3. Je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, desto spärlicher werden verlässliche statistische Informationen. Produktions- oder Verkaufsmengen sind selten; häufig finden sich nur verstreute Angaben über Preise oder Steuerbeträge. 4. Die klassischen Größen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen, verfügbares Einkommen) sind auch in der Pro-KopfBetrachtung nur Durchschnittswerte, die nichts über die Verteilung aussagen. So lagen etwa die jährlichen Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten 2008 jeweils um 47.000 Dollar, doch die Verteilung war in der Schweiz weniger ungleich. Der im Jahr 1990 von den Vereinten Nationen eingeführte Human Development Index greift die unter Punkt 4 genannte Kritik insoweit auf, als er bei der Ermittlung eines international vergleichbaren Wohlstandsmaßes neben dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zusätzlich die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt und die Partizipationsraten der Bevölkerung an der primären, sekundären und tertiären Bildung eines Landes berücksichtigt. Diese beiden zusätzlichen Indikatoren tragen nicht nur dem erweiterten Lebensstandardkonzept von Amartya Sen Rechnung, sondern messen indirekt auch das Ausmaß der Ungleichheit. Unter sonst gleichen Bedingungen ist nämlich zu erwarten, dass sowohl die durchschnittliche Lebenserwartung als auch der durchschnittliche Bildungsstand mit zunehmender Gleichheit in einer Gesellschaft anwächst. Andrea Wagner hat den Versuch unternommen, mit Hilfe eines modifizierten Human Development Index die Entwicklung des Lebensstandards in Deutschland zwischen 1920 und 1960 zu ermitteln. Ihre Ergebnisse sind gerade für die Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reichs besonders interessant.170
170
Vgl. für das Folgende Andrea Wagner (2003): Ein Human Development Index für Deutschland: Die Entwicklung des Lebensstandards von 1920 bis 1960, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 171–199. Vgl. auch Nicholas Crafts (1997): The Human Development Index and Changes in Standards of Living: Some Historical Comparisons, in: European Review of Economic History
136
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Da es Wagner in ihrer Untersuchung nicht um einen internationalen Vergleich auf Grundlage global verfügbarer Daten, sondern um eine detaillierte Analyse der Wohlstandsentwicklung Deutschlands über die Zeit geht, verfeinert sie den international üblichen Human Development Index (HDI) durch die Berücksichtigung zusätzlicher, für Deutschland vorhandene Wohlstandsindikatoren. Diese Modifikation bezeichnet sie dann als „deutschlandspezifischen Development Index“, im Folgenden kurz DDI genannt. Dieser DDI beruht auf insgesamt sieben Indikatoren, nämlich den vier die Lebenserwartung erfassenden Komponenten Säuglingssterblichkeit, Müttersterblichkeit, Kindersterblichkeit und Lebenserwartung ab dem fünften Lebensjahr, den zwei den Zugang zu ökonomischen Ressourcen beziffernden Komponenten reales Bruttonationaleinkommen pro Kopf171 und Arbeitslosenquote sowie der Bildungskomponente Studierende an Hochschulen pro 1.000 der Altersgruppe 20–25 Jahre. Analog zur Vorgehensweise beim traditionellen HDI werden diese sieben Indikatoren von Wagner standardisiert, indem jeweils die im historischen Kontext denkbar beste Merkmalsausprägung gleich 1 und die schlechteste Merkmalsausprägung gleich 0 gesetzt wird. Beispielsweise wählte Wagner im Falle der Lebenserwartung ab dem fünften Lebensjahr als Maximalwert 75 Jahre (= 1) und als Minimalwert 25 Jahre (= 0). Für die Standardisierung bedeutet dies, dass zum Beispiel einer Lebenserwartung ab dem fünften Lebensjahr von 50 Jahren der Wert 0,5 zugeordnet wird. Eine Besonderheit ergibt sich bei der Komponente reales Bruttonationaleinkommen pro Kopf. Diese Größe wird nämlich vor der eigentlichen Standardisierung logarithmiert, so dass absolut gleich hohe Einkommenszuwächse bei niedrigem Ausgangseinkommen zu einem höheren Anstieg des DDI führen als bei hohem Ausgangseinkommen. Ökonomisch kann diese Vorgehensweise durch den abnehmenden Grenznutzen des Einkommens begründet werden: Ausgehend von 1.000 Euro Monatseinkommen eines Hilfsarbeiters mag eine Einkommenssteigerung von 1.000 Euro das wirtschaftliche Wohlbefinden des Betroffenen deutlich stärker steigern als die gleiche Einkommenssteigerung bei einem ursprünglichen Monatseinkommen eines Top-Managers von 100.000 Euro. Diese auch beim HDI gewählte Methode hat für internationale Vergleiche aber weitreichende Folgen, da die hohen Einkommensunterschiede zwischen Ländern wie der USA und Kuba hierdurch teilweise eingeebnet werden, so dass das internationale Wohlstandsgefälle auf Grundlage des HDI in der Regel kleiner ist als auf Basis des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf. Durch die Standardisierung auf das Intervall von 0 bis 1 sind die sieben verschiedenen Wohlstandsindikatoren von Wagners DDI nunmehr unmittelbar miteinander vergleichbar. Der DDI ergibt sich schließlich als arithmetisches Mittel der sieben standardisierten Werte, d.h. alle Komponenten werden gleich stark gewichtet. In Abbildung 6.5 ist die Entwicklung des von Wagner berechneten DDI für den Zeitraum von 1920 bis 1960 wiedergegeben. Zum Vergleich wurde zusätzlich die Entwicklung des standardisierten Bruttonationaleinkommens pro Kopf abgetragen. Auf den ersten Blick fällt auf, dass der DDI in der Weimarer Republik und den Friedensjahren des Dritten Reichs deutlich
171
1, S. 299–322; ders. (2002): The Human Development Index, 1870–1999: Some Revised Estimates, in: European Review of Economic History 6, S. 395–405. Wagner verwendet in ihrer Analyse nicht das an für sich geeignetere Bruttoinlandsprodukt (BIP), sondern aus Gründen der Datenverfügbarkeit das Bruttonationaleinkommen (BNE, früher Bruttosozialprodukt genannt).
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
137
niedriger war als das standardisierte reale Bruttonationaleinkommen pro Kopf, während in der frühen Bundesrepublik die beiden Werte weitestgehend übereinstimmen. 0,8
0,75
DDI BSP/Kopf
DDI und BSP/Kopf
0,7
0,65
0,6
0,55
0,5
0,45
0,4
Die Entwicklung des „deutschlandspezifischen“ Development Index und des standardisierten realen Bruttonationaleinkommens pro Kopf 1920 bis 1960
Quelle:
Andrea Wagner (2003): Ein Human Development Index für Deutschland: Die Entwicklung des Lebensstandards von 1920 bis 1960, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 193f.
1960
1958
1956
1954
1952
1950
1948
1946
1944
1942
1940
1938
1936
1934
1932
1930
1928
1926
1924
1922
1920
Abbildung 6.5:
Auffallend ist auch, dass der DDI während der Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren einen vergleichsweise mäßigen Einbruch erlebte. Das ist darauf zurückzuführen, dass zwar in dieser Phase das reale Bruttonationaleinkommen pro Kopf stark fiel und die Arbeitslosigkeit enorm zunahm, sich gleichzeitig aber die meisten Gesundheitskomponenten gegen den ökonomischen Trend verbesserten und zudem die Einschreiberaten an den Hochschulen, nicht zuletzt aufgrund der geringen Beschäftigungschancen während der Krise, zunahmen. Umgekehrt wurde dann in den Friedensjahren des Dritten Reichs der positive Einfluss des Wirtschaftsaufschwungs und des damit einhergehenden Rückgangs der Arbeitslosigkeit durch den Anstieg der Kindersterblichkeit und die geringere Studierendenzahl gedämpft. Insgesamt aber führt die Verwendung von Wagners DDI zu einer gegenüber der traditionellen Sichtweise (siehe unsere Vorgehensweise in Kapitel 6.1.2) positiveren Beurteilung des Wohlstandsniveaus im Dritten Reich. Während das standardisierte reale Bruttonationaleinkommen pro Kopf im Dritten Reich das Weimarer Maximum der Jahre 1928 und 1929 erst wieder im Jahr 1936 erreichte, lag der DDI bereits 1934 über dem Weimarer Spitzenniveau von 1930. Insoweit attestiert der von Wagner entwickelte „deutschlandspezifische“ Development Index den Nationalsozialisten, den Wohlstand der deutschen Bevölkerung gegenüber Weimar merklich gesteigert zu haben. Wir werden diese Schlussfolgerung im Folgenden anhand einiger anderer Wohlstandsindikatoren in Zweifel ziehen. An dieser Stelle soll aber zunächst auf das grundsätzliche methodische Problem der Auswahl und Gewichtung der Wohlstandsindikatoren eingegangen werden.
138
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Ausgangspunkt des HDI war die Feststellung, dass durch das Pro-Kopf-Einkommen allein der Lebensstandard eines Menschen nicht hinreichend genau charakterisiert werden kann. Aber wie viele verschiedene Kriterien reichen aus? Genügt es tatsächlich wie im Falle des HDI das Bruttonationaleinkommen pro Kopf durch die Lebenserwartung und das Bildungsniveau zu ergänzen, oder müssen stattdessen weitere Indikatoren wie die Verwirklichung von Menschenrechten (man denke nur an die sofort einsetzende Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Dritten Reich), das Ausmaß an Umweltschäden, die jährliche Arbeitsbelastung oder ein explizites Maß für die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen hinzugefügt werden? Manchmal kann ein Wissenschaftler bei der Auswahl der relevanten Faktoren auf eine seinem Untersuchungsgebiet zugrunde liegende Theorie zurückgreifen, oftmals bleibt diese Auswahl jedoch eine in letzter Konsequenz willkürliche und subjektive Entscheidung. Im vorliegenden Fall fragt man sich beispielsweise, welche Beweggründe die Autorin zur Auswahl von insgesamt vier verschiedenen Maßzahlen für die Lebenserwartung, aber nur von einem Bildungsindikator geführt haben. Sind die Wohlstandsindikatoren einmal ausgewählt, stellt sich das Problem ihrer Gewichtung. Sowohl der HDI als auch der DDI werden als arithmetisches Mittel berechnet und gewichten daher alle Indikatoren gleich. Diese Gleichgewichtung fußt auf keiner ausgewiesenen theoretischen Konzeption, sondern ist in erster Linie Ausdruck fehlender Information. Wagner selbst deutet an, dass man die Gewichtung der Kriterien eigentlich anhand der Präferenzen der Bevölkerung vornehmen sollte.172 Dazu wäre beispielsweise die Frage zu beantworten, ob die Menschen eine Erhöhung ihrer Lebenserwartung um eine Standardeinheit geringer, gleich oder höher schätzen als eine Erhöhung ihres Pro-Kopf-Einkommens um eine Standardeinheit. Im ersten Fall wäre die Lebenserwartung niedriger, im zweiten Fall gleich und im dritten Fall stärker zu gewichten als das Pro-Kopf-Einkommen. Da es aber auf derartige Fragen bisher keine befriedigende Antwort gibt, wählen die Verfechter der hier besprochenen Wohlstandsmaße die relativ unproblematisch erscheinende Gleichgewichtung, die aber eben gar nicht so unproblematisch ist, da sie implizit unterstellt, dass die Steigerung jedes verwendeten Indikators um eine Standardeinheit jeweils zur gleichen Steigerung des Development Index führt. Die Bevorzugung der Gleichgewichtung aller Indikatoren gegenüber jeder Form der Ungleichgewichtung ist daher methodisch nicht gerechtfertigt. Das gilt übrigens nicht nur für die Berechnung verschiedener Variationen des Development Index, sondern für alle multikausalen (wirtschafts-) historischen Erklärungen. Die Bedeutung des Auswahl- und Gewichtungsproblems kann abschließend anhand der unterschiedlichen Entwicklung des jeweils von Wagner berechneten HDI und DDI in den 1930er Jahren veranschaulicht werden.173 Wir haben gesehen, dass der DDI auf eine deutliche Wohlstandssteigerung in den Friedenjahren des Dritten Reichs hinweist. Der traditionelle HDI zeigt jedoch für den gleichen Zeitraum deutlich geringere Wohlstandssteigerungen an, da er im Gegensatz zum DDI weder den Rückgang der Arbeitslosenquote noch die Verringerung der Müttersterblichkeit berücksichtigt. Wagner betont selbst, dass das Ergebnis der Wohlstandsanalyse mit Hilfe von Development Indices maßgeblich von den ausgewählten
172 173
Vgl. Wagner (2003), S. 181. Ebda., S. 186.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
139
Indikatoren und deren Gewichtung abhängt.174 Wir möchten diese richtige Erkenntnis hier schärfer formulieren: Solange es keine theoretische und empirische Fundierung einer bestimmten Variante des HDI gibt, kann jedermann durch geschickte Auswahl von Indikatoren und ihrer Gewichtung den Wert des Wohlstandsmaßes gemäß seiner eigenen Zielsetzungen manipulieren. Gilt diese methodische Kritik nicht auch für das Wohlstandsmaß Bruttoinlandsprodukt pro Kopf? Nein, im Allgemeinen nicht. Das Auswahlproblem wird dadurch gelöst, dass man von vorneherein darauf verzichtet, ein erweitertes, aber unscharfes Wohlstandskonzept im Sinne von Amartya Sen zu verfolgen, sondern sich ausdrücklich darauf beschränkt, nicht mehr und nicht weniger als die marktmäßige Gütererzeugung einer Volkswirtschaft zu messen. Das Gewichtungsproblem wird dann durch den Marktmechanismus gelöst. Die auf freien Märkten gebildeten Preise zeigen ja gerade an, welche gesellschaftliche Wertschätzung ein bestimmtes Gut bei gegebenen Technologien der Unternehmen und gegebenen Präferenzen der Konsumenten besitzt. Ein Gut mit dem Preis 100 Euro ist in den Augen der Konsumenten zehnmal so viel wert wie ein Gut mit dem Preis 10 Euro und geht deshalb auch mit entsprechend höherer Gewichtung in das Bruttoinlandsprodukt ein. In diesem Sinne ist die Bewertung des Markts konsequent – ob man dem Markt darin immer folgen möchte, ist eine ganz andere Frage. Diese Ausführungen verdeutlichen aber auch, dass die Methoden und Kennziffern der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für freie Marktwirtschaften konzipiert und eigentlich auch nur auf freie Marktwirtschaften anwendbar sind. Wenn die freie Preisbildung auf den Märkten durch staatliche Eingriffe erheblich beschränkt oder wie in sozialistischen Planwirtschaften gänzlich außer Kraft gesetzt ist, spiegeln die Preise nicht mehr die gesellschaftliche Wertschätzung der Güter wider und sind dann auch nicht mehr als Gewichte zur Berechnung des Bruttoinlandsprodukts geeignet. Auch im Dritten Reich wurde die freie Preisbildung im Agrar- und Nahrungsmittelsektor bereits ab 1933 und in der gesamten Volkswirtschaft spätestens im Zuge des allgemeinen Preisstopps des Jahres 1936 weitgehend aufgehoben. Stattdessen fixierten und veränderten verschiedene nationalsozialistische Behörden wie etwa der Reichsnährstand oder der Kommissar für Preisbildung die Güterpreise gemäß eigener Zielsetzungen.175 Die Preise reflektierten nun nicht mehr die Wünsche der deutschen Konsumenten, sondern bildeten vor allem das (wirtschafts-)politische Kalkül der nationalsozialistischen Machthaber ab. Nimmt man die marktwirtschaftliche Fundierung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wirklich ernst, darf man das mit Hilfe politischer Preise errechnete deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zumindest nicht mehr als Indikator für die Wohlstandsentwicklung der deutschen Bevölkerung zwischen 1933 und 1939 deuten, und die auf diesem Indikator partiell ebenfalls basierenden Development Indices von Andrea Wagner verlieren weitere Überzeugungskraft.
174
175
Vgl. zu diesem Punkt auch Andrea Wagner (2007): Ein Human Development Index für Deutschland und die Entwicklung des Lebensstandards im „Dritten Reich“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, S. 309–332, hier S. 327. Vgl. André Steiner (2006): Von der Preisüberwachung zur staatlichen Preisbildung. Verbraucherpolitik und ihre Konsequenzen für den Lebensstandard unter dem Nationalsozialismus in der Vorkriegszeit, in: ders. (Hg.): Preispolitik und Lebensstandard. Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln, S. 23–85.
140
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Viele Wirtschaftshistoriker akzeptieren die Radikalität dieser Schlussfolgerung nicht und berechnen weiterhin das Bruttoinlandsprodukt oder den gesamtwirtschaftlichen Konsum auch für Planwirtschaften wie die DDR oder stark deformierte Marktwirtschaften wie das Dritte Reich. Andere Wirtschaftshistoriker bemühen sich hingegen für diese Fälle um die Entwicklung von Wohlstandsmaßen, die unabhängig von der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ermittelt werden können. Besondere Bedeutung kommt hier dem Konzept des biologischen Lebensstandards zu, das auf der Idee beruht, aus der Entwicklung bestimmter biologischer Daten wie der durchschnittlichen Körpergröße, der Lebenserwartung oder der Infektionsanfälligkeit einer Bevölkerung auf ihre Ernährungs-, Arbeits- und Wohnsituation und damit auf zentrale Komponenten ihres Wohlstands zurück zu schließen. Wir werden das Wohlstandsmaß biologischer Lebensstandard im nächsten Kapitel ausführlich diskutieren. An dieser Stelle möchten wir uns abschließend einem sehr indirekten Wohlstandsmaß zuwenden, nämlich dem Grad der Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum nationalsozialistischen Regime. In einer demokratischen Gesellschaft besitzen die Bürger die Möglichkeit, eine Regierung abzuwählen, durch deren Tätigkeit sie keine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung ihrer eigenen Lebenssituation erleben mussten. Wahlniederlagen des Regierungslagers können daher als ein Indikator für die Unzufriedenheit der Wähler und damit vielleicht auch für einen stagnierenden oder sich gar verschlechternden Wohlstand der Mehrheit der Bevölkerung gedeutet werden. Wie Kapitel 5.3 gezeigt hat, spielten wirtschaftliche Faktoren bei Wahlen in der Weimarer Republik eine sehr wichtige Rolle. Während der nationalsozialistischen Diktatur war den Deutschen allerdings die Möglichkeit genommen, ihre politische Zustimmung oder Ablehnung in freien und geheimen Wahlen zum Ausdruck zu bringen. Götz Aly hat daher zusammen mit mehreren Mitarbeitern versucht, andere geeignete Indikatoren für die Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum nationalsozialistischen Regime zu finden und dann anhand deren zeitlichen Entwicklung Wendepunkte in der Stimmungslage der Deutschen bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein zu identifizieren.176 Einer der von dieser Forschergruppe aufgegriffenen Indikatoren wurde ursprünglich von den Historikern Thomas Brechenmacher und Michael Wolffsohn vorgestellt.177 Diese beiden Autoren entdeckten, dass Vornamen wie Horst oder Uta vor 1933 nur sehr selten von deutschen Eltern für ihre neugeborenen Kinder ausgewählt wurden, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aber einen regelrecht Boom erlebten, da Horst A. Wessel von der nationalsozialistischen Propaganda als Märtyrer gefeiert wurde und die Sagengestalt Uta als Inbegriff germanischer Weiblichkeit galt. Aufbauend auf dieser Beobachtung untersuchen Götz Aly und sein Mitarbeiter Oliver Lorenz den Anteil der Vor- und Beinamen Adolf, Hermann (nach Hermann Göring) und Horst an allen männlichen Vor- und Beinamen von Personen der Geburtsjahrgänge 1932 bis 1944, die im Juli 2005 in Frankfurt am Main gemeldet waren. In Abbildung 6.6 ist zur Illustrierung der Entwicklung eines solchen Stimmungsindikators die „Adolf-Kurve“ wiedergegeben.
176 177
Vgl. für das Folgende: Götz Aly (Hg.) (2006): Volkes Stimme: Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. Vgl. Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher (1999): Die Deutschen und ihre Vornamen. 200 Jahre Politik und öffentliche Meinung, München, S. 208–237.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
141
1,40%
1,20%
1,00%
0,80%
0,60%
0,40%
0,20%
0,00% IV-44
II-44
IV-43
II-43
IV-42
II-42
IV-41
II-41
IV-40
II-40
IV-39
II-39
IV-38
II-38
IV-37
II-37
IV-36
II-36
IV-35
II-35
IV-34
II-34
IV-33
II-33
IV-32
II-32
Quartal
Abbildung 6.6:
Anteil des Vornamens Adolf an allen männlichen Vornamen der Geburtsjahrgänge 1932 bis 1944 der im Jahr 2005 in Frankfurt am Main Gemeldeten (in Quartalen)
Quelle:
Götz Aly (Hg.) (2006): Volkes Stimme: Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., S. 200f.
Adolf war auch im Dritten Reich, insbesondere im Vergleich zu Hermann und Horst, kein sehr beliebter Vorname für Neugeborene und erreichte selten mehr als ein Prozent an allen männlichen Vornamen der Neugeborenen eines Quartals. Trotzdem sind deutlich drei unterschiedliche Phasen der „Adolf-Kurve“ zu erkennen. Offensichtlich fanden Eltern vor allem kurz vor der Machtergreifung und dann von 1933 bis 1935 Gefallen daran, ihre Sprösslinge nach dem Führer zu benennen. Ab 1936 hatte die Begeisterung für den Vornamen Adolf ihren Höhepunkt überschritten und die „Adolf-Kurve“ verlief bis Sommer 1941 auf mittlerem Niveau. Nachdem der Angriff auf die Sowjetunion im Herbst 1941 stecken geblieben war, fiel die Bereitschaft dramatisch, den eigenen Nachkommen den Vornamen Adolf zu geben. Wie ist dieser Verlauf zu interpretieren? Sicherlich spielte bei der Entscheidung darüber, ob man der Politik Adolf Hitlers zustimmte oder nicht, nicht nur der eigene wirtschaftliche Lebensstandard eine Rolle. Der starke Abfall der „Adolf-Kurve“ ab dem Herbst 1941, also bereits über ein Jahr vor der Niederlage in Stalingrad, lässt wohl eher vermuten, dass die deutsche Bevölkerung mit dem riskanten Feldzug gegen die Sowjetunion wenig einverstanden war. Das Abflachen der „Adolf-Kurve“ nach 1935 verwundert hingegen. Trotz der augenscheinlichen wirtschaftlichen und außenpolitischen Erfolge der Nationalsozialisten stieg die Vorliebe für den Vornamen Adolf nicht an, sondern verringerte sich sogar. Wir wollen die Aussagekraft dieses Indikators nicht überstrapazieren, doch könnte dieses Verhalten der Eltern darauf hinweisen, dass man mit der eigenen Lebenssituation Mitte der 1930er Jahre nicht ganz so zufrieden war, wie es die makroökonomischen Kennziffern oder auch die verschiedenen Development Indices nahe legen. Vielleicht war der Vertrauensvorschuss verpufft, und man vermisste Taten, die den großen Worten nicht so recht folgen wollten. Die durch die „Adolf-Kurve“ aufgezeigte Tendenz wird auch durch andere Stimmungsindikatoren bestätigt. Ian Kershaw hat Todesanzeigen für gefallene Soldaten daraufhin untersucht, ob im Wortlaut der „Führer“ vorkommt. Der Text „Gefallen für Führer und Vaterland“ wird als Zustimmung zu Hitlers Politik, die Kurzform „Gefallen für das Vaterland“ als zuge-
142
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
gebenermaßen sehr subtile Kritik am militärischen Größenwahn Hitlers gedeutet. Schon 1941, so Kershaw, nahm der prozentuale Anteil der Führer-Nennungen deutlich ab. Dies wertet er als zunehmende Distanzierung der Deutschen vom Regime.178 Aly und Mitarbeiter betrachten neben der Namensgebung (1932–1944) und der Wortwahl in Todesanzeigen (1937–1941) als weitere Stimmungsindikatoren Kirchenaustritte (1937– 1941), das Sparverhalten (1938–1944) und Todesurteile des Volksgerichtshofs gegen Deutsche (1934–1944). Um all diese Indikatoren zu einem umfassenden Index zusammenfassen zu können, müssen diese natürlich standardisiert werden. Der Projektmitarbeiter Albert Müller kodierte jeden Teilindex mit dem Wert „+1“, wenn er von einem Beobachtungszeitpunkt zum nächsten um mehr als 5 Prozent anstieg, und mit „–1“, wenn er um mehr als 5 Prozent fiel.179 Alle anderen Fälle wurden mit dem Wert „0“ kodiert. Diese Werte der Teilindices wurden dann für jeden Beobachtungszeitpunkt addiert. Die Entwicklung des resultierenden Gesamtindex zeigt, dass sich die Zustimmung der deutschen Bevölkerung schlagartig bereits nach dem Überfall auf Polen verringerte.180 Ein Zwischenhoch im Sommer 1940 verlangsamte den Stimmungsverlust, der sich dann mit dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion rapide fortsetzte. Die Niederlage von Stalingrad beschleunigte den Niedergang des Zustimmungsgrades nur noch, der sich längst im freien Fall befand. Ähnlich wie bei den Development Indices stellt sich hier wiederum das Auswahl- und Gewichtungsproblem. Zu der auch von Aly und Mitarbeitern verfolgten Vorgehensweise, bei der Berechnung des Gesamtindex die verschiedenen Teilindices gleich zu gewichten, wurde oben bereits alles gesagt. Betrachten wir hier nur die Auswahl der einzelnen Indikatoren. Einen Fremdkörper stellen sicherlich die Todesurteile des Volksgerichtshofs gegen Deutsche dar. Ging dieser zunehmende Repressionsgrad gegen Deutsche wirklich mit einer zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung einher oder misst dieser Indikator vielleicht nicht eher die zunehmende „Untergangsstimmung“ der sich radikalisierenden Machthaber? Bei anderen Indikatoren haben Aly und Mitarbeiter nicht berücksichtigt, dass Sättigungseffekte auftreten können. Beispielsweise verringert sich das Potential an austrittswilligen Christen mit jedem Kirchenaustritt, so dass es keineswegs ein Anzeichen für zunehmende Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie sein muss, wenn sich nach einigen Jahren mit überdurchschnittlich vielen Austritten die Austrittsrate verringert. Zusammenfassend liegt hier eine ähnliche Problematik vor wie bei den Development Indices. Weder Aly und Mitarbeiter noch die Autoren dieses Buches verfügen über die theoretischen oder empirischen Grundlagen um entscheiden zu können, welche Auswahl von Indikatoren für die aufgeworfene Fragestellung die Beste ist. Viele Stimmungsindikatoren sind denkbar und je nachdem, welche Stimmungsindikatoren in die Analyse tatsächlich miteinbezogen oder vernachlässigt werden, mögen sich unterschiedliche Zeitpunkte für die entscheidenden Stimmungsumschwünge ergeben. Grundsätzlich ist dieses Verfahren der Zustimmungsanalyse jedoch ein sehr viel versprechender Ansatz und wurde von Aly und Mitarbeitern in ihrer Veröffentlichung auf vorbildliche Weise transparent gemacht.
178 179 180
Vgl. Ian Kershaw (1999): Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart, S. 230f. Der Teilindex Todesurteile geht natürlich mit entsprechend umgekehrten Vorzeichen in den Gesamtindex ein. Vgl. Albert Müller (2006): Gesamtstatistik – ein Experiment, in: Götz Aly (Hg.): Volkes Stimme: Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., S. 116–129, hier S. 128.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
143
Leider wurden die meisten der hier vorgestellten Zustimmungsindikatoren nur für die Phase kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs erhoben, so dass wir nun zwar mehr über die zunehmende Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung im Kriege wissen, aber weiterhin im Dunklen tappen, wenn es um die Frage geht, wie sich der Wohlstand der Deutschen in den Friedensjahren des Dritten Reichs entwickelte. Zur Beantwortung dieser Frage werden wir im nächsten Abschnitt zunächst auf das Konzept des biologischen Lebensstandards zurückgreifen.
6.3.2
Biologischer, materieller und virtueller Lebensstandard
Das Konzept des biologischen Lebensstandards beruht auf dem anthropometrischen Forschungsansatz, auf Grundlage der durchschnittlichen Körpergröße einer repräsentativen Stichprobe der erwachsenen Population das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft zu einem früheren Zeitpunkt abzuschätzen. Ausgangspunkt ist hierbei die medizinisch-biologische Beobachtung, dass die Körpergröße eines Erwachsenen nicht nur von seiner genetischen Veranlagung, sondern auch von seiner Ernährung und den Lebensumständen in seiner pränatalen und Kindheitsphase bestimmt werden. Insbesondere führen eine anhaltende Fehl- oder Mangelernährung sowie lange und schwere Krankheiten während der individuellen Wachstumsphase bis etwa 23 Jahre unter sonst gleichen Bedingungen dazu, dass die durch die Gene vorgegebene maximale Körpergröße nicht erreicht wird. Aus der durchschnittlichen Körpergröße einer bestimmten Generation in einer Region kann daher im zeitlichen oder überregionalen Vergleich auf die durchschnittliche Ernährungslage, Krankheiten und Arbeitsbelastung während der Kindheit und damit auch auf die ökonomische Situation der Erwachsenen in diesem Zeitraum zurück geschlossen werden. Die Entwicklung des „deutschlandspezifischen“ Development Index (DDI) hat im vorangegangenen Kapitel die Vermutung nahe gelegt, dass es dem nationalsozialistischen Regime in den 1930er Jahren tatsächlich gelungen ist, die Lebenssituation der Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Vergleich zur Weimarer Republik deutlich zu verbessern. Ganz im Gegensatz hierzu zeigt eine Untersuchung von Jörg Baten und Andrea Wagner, dass sich der biologische Lebensstandard der deutschen Bevölkerung während des Nationalsozialismus eher verschlechterte.181 Unter- und Mangelernährung führen bei Heranwachsenden unmittelbar zu einer Verlangsamung der Wachstumsgeschwindigkeit, so dass sich die Entwicklung der durchschnittlichen Körpergröße von Kindern als früher Indikator für eine Verschlechterung des biologischen Lebensstandards einer Gesellschaft besonders gut eignet. Generell ist bei der Interpretation von Zeitreihen durchschnittlicher Körpergrößen von Kindern zu beachten, dass nicht die Entwicklung der Köpergröße eines bestimmten Geburtsjahrgangs über die Zeit untersucht wird, sondern stattdessen in jedem Beobachtungsjahr die durchschnittliche Körpergröße nur derjenigen Kinder gemessen wird, die in diesem Jahr das zugrunde liegende Vergleichsalter erreichten, so zum Beispiel sechs Jahre alt wurden. Baten und Wagner zeigen anhand der zeitlichen Entwicklung der durchschnittlichen Körpergröße von Kindern in Stuttgart (8- und 9-Jährige) und Leipzig (6-Jährige), dass das schnelle Wachstum der durchschnittlichen 181
Vgl. für das Folgende Jörg Baten und Andrea Wagner (2003): Mangelernährung, Krankheit und Sterblichkeit im NS-Wirtschaftsaufschwung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 99–123.
144
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
Körpergrößen dieser Altersgruppen in den 1920er Jahren im Folgejahrzehnt stagnierte oder sich teilweise sogar in einen Schrumpfungsprozess umkehrte, während das Körpergrößenwachstum der jeweils 6-Jährigen im englischen Leeds (für das Daten ähnlicher Qualität erhalten sind) auch in den dreißiger Jahren anhielt. Eine ähnliche deutsche Sonderentwicklung offenbart sich bei der Betrachtung der Sterblichkeit (Todesfälle pro 10.000 Einwohner). Während der für das Jahr 1928 auf 100 gesetzte Index der durchschnittlichen Sterberate Europas von 105 im Jahr 1929 auf schließlich 89 im Jahr 1938 sank, stieg der entsprechende deutsche Index vom Wert 93 im Jahr 1932 wieder auf bis zu 102 in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre an. Ein Blick auf die Entwicklung der altersspezifischen Daten in Tabelle 6.9 verdeutlicht überdies, dass die Sterblichkeit insbesondere in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen zwischen 1 und 15 Jahren anstieg. Ganz im Gegensatz dazu war es gerade diese Altersgruppe, die in anderen europäischen Ländern am stärksten vom allgemeinen Rückgang der Sterblichkeit profitierte. Die Säuglingssterblichkeit konnte hingegen durch eine bessere Beratung von Eltern und durch die Ausweitung der ärztlichen Betreuung in der Geburts- und der Nachgeburtsphase gesenkt werden. Offensichtlich verschlechterte sich in den Friedensjahren des „Dritten Reichs“ also vor allem der biologische Lebensstandard der deutschen Kinder, deren Körpergrößenwachstum stagnierte und deren Sterblichkeit deutlich anstieg. Die Deutschen opferten ihre Kinder dem Führer bereits in Friedenszeiten. Tabelle 6.9: Altersklasse 0–1 1–5 5–15 15–30 30–45 45–60 60+ Quelle:
Veränderung der altersspezifischen Sterblichkeit beider Geschlechter in Deutschland Gestorbene pro 1.000 Einwohner 1932
Gestorbene pro 1.000 Einwohner 1937
79,2 4,4 1,4 2,7 4,0 10,4 53,6
64,4 4,7 1,6 2,6 4,0 10,5 55,3
Veränderung 1932–1937 –18,7% 3,3% 13,6% –1,9% 1,0% 1,4% 3,0%
Jörg Baten und Andrea Wagner (2003): Mangelernährung, Krankheit und Sterblichkeit im NSWirtschaftsaufschwung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 104.
Auf welche Ursachen ist die Verschlechterung des biologischen Lebensstandards der Deutschen zurückzuführen? Rüdiger Hachtmann ist der Auffassung, dass die verlängerten Arbeitszeiten und die erhöhte Arbeitsintensität in der spätestens seit 1936 durch Arbeitskräftemangel gekennzeichneten Rüstungsindustrie zu einer Erhöhung des Krankheits- und Unfallrisikos der deutschen Beschäftigten führten. Belegt wird diese Einschätzung durch die Entwicklung der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. So sank der Anteil der gemeldeten Verletzten und Erkrankten ausgehend von 5,5 Prozent der Versicherten im Jahr 1929 während der Weltwirtschaftskrise zunächst auf bis zu 3,4 Prozent im Jahr 1932 ab, stieg jedoch nach der Machtergreifung auf schließlich 5,7 Prozent im Jahr 1937 und 6,0 Prozent im Jahr 1938 über das Vorkrisenniveau hinaus wieder an.182 Die von Hachtmann beklagte zunehmende Arbeitsüberlastung mag zu dem in Tabelle 6.9 dokumentierten Anstieg der Sterblichkeit der
182
Vgl. Rüdiger Hachtmann (1989): Industriearbeit im „Dritten Reich“, Göttingen, S. 248.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
145
30- bis Über-60-Jährigen beigetragen haben, erklärt aber nicht den hohen Anstieg der Sterblichkeit der 1- bis 15-Jährigen. Tabelle 6.10:
Veränderungsrate der Todesursachen zwischen 1932 und 1937 in England & Wales und Deutschland (in Prozent)
Todesursachen Infektions- und parasitäre Krankheiten darunter Masern darunter Scharlach darunter Keuchhusten darunter Diphtherie darunter Grippe darunter Tuberkulose Krebs und andere Neubildungen Andere Allgemeinerkrankungen Krankheiten des Blutes und der Blut bildenden Organe Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane Krankheiten der Herz- und Kreislauforgane Krankheiten der Atmungsorgane darunter Bronchitis darunter Lungenentzündung Krankheiten des Verdauungssystems Äußere Einwirkungen Quelle:
England & Wales –8,5 –69,4 –30,8 –41,9 24,1 38,8 –17,0 7,2 8,8 –1,7
Deutschland 8,4 –15,8 88,4 –0,3 56,4 65,5 –7,8 10,9 1,1 2,4
–3,3 20,6 –6,6 –13,8 –2,0 –7,9 2,2
1,25 23,6 13,6 7,8 19,4 4,8 13,3
Jörg Baten und Andrea Wagner (2003): Mangelernährung, Krankheit und Sterblichkeit im NSWirtschaftsaufschwung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 116.
Baten und Wagner begründen die hohe Kindersterblichkeit in Deutschland mit der absolut und im internationalen Vergleich zunehmenden Zahl tödlich verlaufender Infektionen. Tabelle 6.10 zeigt, dass zwischen 1932 und 1937 die Zahl tödlicher Infektionskrankheiten in England und Wales um über 8 Prozent sank, aber in Deutschland um über 8 Prozent zunahm. Insbesondere den Infektionskrankheiten Scharlach, Diphtherie und Grippe fielen in Deutschland immer mehr Menschen, vor allem auch Kinder zum Opfer. Auch Erkrankungen der Atmungswege (Bronchitis, Lungenentzündung) endeten im Dritten Reich häufiger als zuvor mit dem Tod. Denkbar ist, dass diese Entwicklung durch eine Verschlechterung des deutschen Gesundheitssystems hervorgerufen wurde. Insbesondere waren bis 1938 alle jüdischen Ärzte gezwungen worden, ihre Tätigkeit aufzugeben, wodurch sich die Gesamtzahl der in Deutschland tätigen Mediziner um etwa 15 Prozent verringerte. Außerdem wurde die Schutzimpfung gegen Diphtherie, der quantitativ bedeutendsten Todesursache von Kindern in den 1930er Jahren, in Deutschland erst während des Zweiten Weltkriegs und somit im internationalen Vergleich recht spät eingeführt. Baten und Wagner führen den Anstieg tödlicher Infektionen und Atemwegserkrankungen jedoch in erster Linie auf die nationalsozialistische Autarkieund Rüstungspolitik zurück, welche mit einem Rückgang der Produktion und Einfuhr von tierischen Proteinen (Fleisch, Milch, Eier) einherging. Dieser Mangel an Proteinen erhöhte nach Auffassung von Baten und Wagner die Krankheitsanfälligkeit und schwächte die Widerstandsfähigkeit insbesondere von Kindern. In den 1930er Jahren war den Deutschen dieser postulierte Zusammenhang zwischen mangelhafter Ernährung und Kindersterblichkeit
146
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
sicherlich noch nicht bewusst. Weder sie noch ihre Kinder litten Hunger und so gab es augenscheinlich keinen Grund, das nationalsozialistische Regime für die erst im historischen Rückblick identifizierbare Übersterblichkeit verantwortlich zu machen. Wir werden im Folgenden im Detail zeigen, wie sich die Ernährung der Deutschen durch die nationalsozialistische Autarkie- und Rüstungspolitik veränderte. Überdies werden wir mit Hilfe von Konzepten der mikroökonomischen Haushaltstheorie Hinweise dafür präsentieren, dass das veränderte Nahrungsmittelangebot nicht nur den biologischen Lebensstandard verschlechterte, sondern unabhängig von medizinischen Zusammenhängen auch von den deutschen Konsumenten weniger geschätzt wurde. Preis
A D p’
B
pc p*
C
xc
x’
Menge
Abbildung 6.7:
Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Verringerung des Konsums der „rationierten“ Güter
Quelle:
Mark Spoerer und Jochen Streb (2013): Butter and Guns – but no Margarine: The Impact of Nazi Economic Policies on German Food Consumption, 1933–38, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 80.
Seit der Machtergreifung waren die strategischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen Adolf Hitlers letztendlich stets von der Zielsetzung geleitet, durch staatliche Umlenkung der gesamtwirtschaftlichen Produktionsfaktoren die Autarkie- und Rüstungsproduktion zu fördern und damit den geplanten Angriffskrieg im Osten vorzubereiten. Bei dieser Forcierung der Autarkie- und Rüstungsproduktion galt es jedoch unbedingt zu beachten, dass die deutsche Bevölkerung, auf deren Zustimmung und Kooperation das Regime nicht verzichten konnte, nach den Jahren der Weltwirtschaftskrise auf eine nachholende Erfüllung ihrer unbefriedigten Konsumwünsche hoffte. Dieser Konflikt zwischen Aufrüstungsziel und Konsumentenwünschen führte zu einem wirtschaftspolitischen Kompromiss, den Werner
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
147
Abelshauser mit „so viel Butter wie nötig, so viel Kanonen wie möglich“183 umschrieb. Die staatlichen Behörden versuchten, durch vielfältige Interventionen in die Konsumgütermärkte den Wohlstand der Bevölkerung auf einem Niveau zu stabilisieren, das die Massen einigermaßen zufrieden stellte und gleichzeitig möglichst wenige volkswirtschaftliche Ressourcen verbrauchte. Preis
A
B
p*
E
Menge Abbildung 6.8:
Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Erhöhung des Konsums der „empfohlenen“ Güter
Quelle:
Mark Spoerer und Jochen Streb (2013): Butter and Guns – but no Margarine: The Impact of Nazi Economic Policies on German Food Consumption, 1933–38, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 80.
Die Abbildungen 6.7 und 6.8 illustrieren die Ausgestaltung dieser nationalsozialistischen Markteingriffe. Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir auf eine explizite Bezeichnung der Angebots- und Nachfragekurven verzichtet. Die von links unten nach rechts oben verlaufenden Geraden stellen wie üblich die Angebotskurven dar: Die Unternehmen werden umso mehr Güter anbieten, je höher der Preis ist. Die Nachfragekurven haben hingegen eine negative Steigung: Die Konsumenten werden umso mehr von dem Gut nachfragen, je geringer sein Preis ist. Das Konsumgut in Abbildung 6.7 heißt „rationiert“, da die Nationalsozialisten zu verhindern suchten, dass dieses Gut in einer Menge auf dem Markt gehandelt wurde, bei der die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten dem Angebotspreis der Unternehmen entsprach. Im Gegensatz dazu wird das Konsumgut in Abbildung 6.8 als „empfohlen“ bezeichnet, weil die Nationalsozialisten die Verbraucher dazu gewinnen wollten, dieses Konsumgut an Stelle des „rationierten“ Konsumgutes zu konsumieren. Typische „rationierte“ Konsumgüter waren Nahrungsmittel wie Südfrüchte oder Margarine, die (oder deren Vorprodukte) aus dem Aus-
183
Abelshauser (1999), S. 525.
148
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
land eingeführt und in knappen Devisen bezahlt werden mussten, während „empfohlene“ Güter wie zum Beispiel Marmelade mit solchen einheimischen Produktionsfaktoren erzeugt werden konnten, die für die Rüstungsproduktion nicht benötigt wurden. Die durchgezogenen Angebots- und Nachfragekurven in beiden Abbildungen gelten für die Situation im Jahr 1933, in der nach drei Jahren Deflation niedrige Gleichgewichtspreise (p*) die Märkte räumten. In den Jahren nach 1933 führte der mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit verbundene Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens zu einer Erhöhung der Nachfrage nach Konsumgütern, die in beiden Abbildungen durch die Rechtsverschiebung der Nachfragekurve um A dargestellt ist und die angestiegenen Konsumwünsche der deutschen Bevölkerung veranschaulicht. Allerdings versuchte das Regime von Anfang an, die Konsumenten durch Propaganda davon zu überzeugen, auf „rationierte“ Konsumgüter wie Weizenbrot, Fleisch, tierische Fette, tropische Früchte oder Baumwolltextilien zu verzichten und durch „empfohlene“ Konsumgüter wie Roggenbrot, Kartoffeln, Fisch, Äpfel, Zucker, Marmelade und Kleidung aus Synthesefasern zu ersetzen.184 Sofern diese propagandistische Überzeugungsarbeit tatsächlich gelang, reduzierte sich die Nachfrage nach dem „rationierten“ Konsumgut um B, die Nachfrage nach dem „empfohlenen“ Konsumgut stieg entsprechend zusätzlich um B an. Meistens ergriffen die Nationalsozialisten aber weniger subtile Methoden zur Beeinflussung der Marktergebnisse. Hierzu gehörte unter anderem die Erhöhung der Produktionskosten der Erzeuger der „rationierten“ Konsumgüter (Linksverschiebung der Angebotskurve um C). Ein Beispiel ist der im vorangegangenen Kapitel bereits angesprochene Fettplan, durch den die Produzenten von Margarine gezwungen wurden, ihrem Erzeugnis die ebenfalls knappe und teurere Butter beizumischen. Diese Beimischungspflicht ließ auch den Preis von Margarine steigen und machte diese damit weniger attraktiv für die ärmeren Bevölkerungsschichten. Die hierdurch verringerte Nachfrage nach Margarine reduzierte ihrerseits die Importnachfrage nach Sonnenblumenkernen, dem wichtigsten Vorprodukt der Margarineerzeugung, und half dadurch Devisen einzusparen. Ein weiteres, eher groteskes Beispiel für eine derartige Import substituierende Maßnahme ist der Aufbau einer deutschen Walfangflotte, durch deren Aktivitäten Walfischtran gewonnen werden sollte, der auch als Substitut für Sonnenblumenöl Verwendung finden konnte.185 Die schärfsten Markteingriffe erfolgten in Form von direkten Beschränkungen der Beschaffung von Vorleistungsgütern, von Importen oder von Investitionen in den Kapazitätsaufbau. Die meisten dieser Mengenrestriktionen wurden bereits von Otto Nathan, Milton Fried und Samuel Lurié in den 1940er Jahren beschrieben.186 Vor einigen Jahren hat Gerd Höschle überdies eine detaillierte Untersuchung zur Regulierung der Textilindustrie geliefert.187 Auf den Konsumgütermärkten führte die Beschränkung der Inputfaktoren zu einer entsprechenden absoluten Begrenzung der Angebotsmenge, die in Abbildung 6.7 durch die Drehung der 184
185
186 187
Vgl. Hartmut Berghoff (2001): Enticement and Deprivation: The Regulation of Consumption in Pre-war Nazi Germany, in: Martin J. Daunton und Matthew Hilton (Hg.): The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford, S. 165–184. Vgl. Brigitte Pelzer und Reinhold Reith (2001): Margarine. Die Karriere der Kunstbutter, Berlin, S. 88f.; Ole Sparenberg (2012): „Segen des Meeres“: Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, Berlin. Vgl. Nathan/Fried (1944); Lurié (1947). Vgl. Gerd Höschle (2004): Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
149
Angebotskurve um D dargestellt ist. Im Gegensatz dazu wurde das Angebot der „empfohlenen“ Konsumgüter manchmal durch staatliche Subventionen gefördert, die in Abbildung 6.8 zu einer Rechtsverschiebung der Angebotskurve um E führten. Insgesamt überwogen die den Konsum einschränkenden Maßnahmen die Subventionen jedoch bei Weitem. Wenn der Interventionismus des nationalsozialistischen Regimes an dieser Stelle sein Ende gefunden hätte, hätte die Kombination aus gestiegener Nachfrage und staatlich beschränktem Angebot auf den Märkten der „rationierten“ Konsumgüter unweigerlich zu einem deutlichen Preisanstieg geführt, der der Bevölkerung die Verschlechterung der Versorgungssituation deutlich vor Augen geführt hätte. Aus diesem Grund verschärfte das Regime zusätzlich auch die bereits existierenden Preiskontrollen, die schon von den Weimarer Präsidialregierungen eingeführt worden waren. Die kontrollierten Preise der „rationierten“ Konsumgüter (pc) wurden auf einem Niveau festgesetzt, das unterhalb der hohen, Markt räumenden Gleichgewichtspreise (p’) lag, die sich theoretisch bei gegebenen Nachfrage- und Angebotsverhältnissen hätten einstellen müssen. Da die Marktpreise hierdurch ihrer Allokationsfunktion beraubt worden waren, musste der resultierende Nachfrageüberschuss (x’ – xc) durch „Schlange Stehen“ und Schwarzmärkte abgebaut werden. Vor einer offiziellen Rationierung der Konsumgüter, welche einem staatlichen Eingeständnis des Versorgungsmangels gleichgekommen wäre, scheuten die Nationalsozialisten lange Zeit zurück. Erst wenige Tage vor dem Überfall auf Polen, Ende August 1939, wurde die offizielle Rationierung von Konsumgütern eingeführt.188 Auf welche Weise wurde der private Konsum von Nahrungsmitteln durch das in Kapitel 6.2 beschriebene Scheitern der landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht, die eingeschränkte Einfuhr von Agrargütern und die direkten Marktinterventionen tatsächlich beeinflusst? Empfanden die deutschen Konsumenten die Veränderung in der Zusammensetzung ihrer Nahrungsmittel in den 1930er Jahren subjektiv als Verbesserung oder als Verschlechterung? Zur Beantwortung dieser Fragen kann man auf einige grundlegende Konzepte der mikroökonomischen Haushaltstheorie zurückgreifen.189 Betrachten wir hier zunächst die Einkommenselastizität eines Gutes. Diese Kennziffer gibt an, um wie viele Prozent die Nachfrage nach einem bestimmten Gut ansteigen wird, wenn sich das Einkommen des Konsumenten um ein Prozent erhöht. Eine hohe Einkommenselastizität bedeutet daher, dass der Konsument seine Nachfrage nach diesem Gut bei Einkommenssteigerungen stark ausdehnen wird. Man spricht dann von superioren Gütern, zu denen unter der Gruppe der Nahrungsmittel beispielsweise Fleischprodukte zählen. Inferior heißen im Gegensatz dazu solche Güter, bei denen die Nachfrage bei steigendem Einkommen sogar zurückgeht. Dies mag in der Gruppe der Nahrungsmittel beispielsweise für Kartoffeln und Roggenbrot gelten, die bei armen Haushalten einen Großteil des Kalorienbedarfs deckten, mit zunehmendem Wohlstand aber durch superiore Nahrungsmittel ersetzt werden. Aufbauend auf diesen Überlegungen sollte man erwarten, dass auch die deutschen Haushalte im nationalsozialistischen Wirtschaftsaufschwung in zunehmendem Maße Nahrungsmittel mit geringer oder gar negativer Einkommenselastizität durch superiore Nahrungsmittel ersetzten. War dies tatsächlich der Fall? 188
189
Vgl. Christoph Buchheim (2010): Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, S. 299–328. Vgl. beispielsweise die entsprechenden Kapitel in Hal R. Varian (1999): Grundzüge der Mikroökonomik, 4. Aufl., München/Wien.
150 Tabelle 6.11:
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich Verfügbares Einkommen und Pro-Kopf-Konsum von Nahrungsmitteln in Deutschland (1927/28=100)
Jahr
Reales verfügbares Einkommen Magermilch Frisches Obst Margarine Tropische Früchte Zucker Weizenprodukte Eier Kartoffeln Fett Vollmilch Gemüse Rindfleisch Butter Fleisch insgesamt Schweinefleisch Roggenprodukte Quelle:
Drittes Reich 1937/38 (i) 112 308 98 85 77 104 90 111 102 96 92 93 107 122 106 104 105
Bundesrepublik 1951 (ii)
(i) in Prozent von (ii) (iii)
113 195 145 139 128 114 108 103 99 97 97 93 77 76 73 72 65
99 158 68 62 61 91 84 108 103 99 95 99 138 161 145 144 161
Mark Spoerer und Jochen Streb (2013): Butter and Guns – but no Margarine: The Impact of Nazi Economic Policies on German Food Consumption, 1933–38, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 83.
In Tabelle 6.11 wird der Pro-Kopf-Konsum von Nahrungsmitteln der Kalenderjahre 1927/28 (gleich 100 gesetzt) und 1937/38 mit dem entsprechenden Durchschnitt der Wirtschaftsjahre 1950/51 und 1951/52 verglichen. Die Jahre 1927/28 und 1937/38 wurden ausgewählt, weil sie die Gipfel der Konjunkturzyklen in der Weimarer Republik und in den Friedensjahren des Dritten Reichs markieren. Im Jahr 1951 entsprach das verfügbare reale Pro-KopfEinkommen der bundesdeutschen Haushalte, das den besten Maßstab für deren Konsummöglichkeiten darstellt, gerade dem Wert von 1937/38. Der entscheidende Unterschied zwischen 1937/38 und 1951 ist, dass die Nachfrage und das Angebot von Nahrungsmitteln im Dritten Reich weitaus umfassender reguliert waren als in der jungen Bundesrepublik. Betrachten wir zunächst das Konsummuster zu Beginn der 1950er Jahre, als das verfügbare reale Pro-Kopf-Einkommen 13 Prozent höher als im Konjunkturhöhepunkt der Weimarer Republik lag. Im Vergleich zur Weimarer Zeit ersetzten die deutschen Haushalte Roggenprodukte und Kartoffeln durch Weizenprodukte sowie Gemüse durch frisches Obst und tropische Früchte. Diese Veränderungen sind in Übereinstimmung mit den oben ausgeführten theoretischen Überlegungen zur Einkommenselastizität verschiedener Nahrungsmittel. Die Einkommenserhöhung um über 10 Prozent ermöglichte es, verstärkt superiore Nahrungsmittel nachzufragen. Überdies substituierten die bundesdeutschen Haushalte Butter durch Margarine, was eine Präferenz für das deutlich billigere pflanzliche Streichfett widerspiegelte, kostete doch Butter 1951 über 6 DM/kg, Margarine hingegen nur gut 2 DM/kg. Unter der Annahme konstanter Präferenzen für Nahrungsmittel wäre zu erwarten, dass die Haushalte in den Jahren 1937/38 eine ganz ähnliche Konsumentscheidung wie 1951 trafen. Tatsächlich aber unterscheidet sich das Konsummuster im Dritten Reich erheblich von dem
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
151
der jungen Bundesrepublik. Im Dritten Reich war der Pro-Kopf-Konsum von inferioren Gütern wie Roggenprodukten und Kartoffeln erheblich höher, während Weizenprodukte, frisches Obst, tropische Früchte, Zucker, Margarine und Vollmilch in geringerem Umfang konsumiert wurden. Einige der in Tabelle 6.11 dargestellten Konsumentscheidungen bedürfen einer detaillierten Diskussion. Wir haben bereits erläutert, dass das nationalsozialistische Regime die Margarineproduktion behinderte und die Buttererzeugung subventionierte. In Ergänzung zur Beimischungspflicht von Butter wurden die Margarineerzeuger auch gezwungen, pflanzliche Öle durch Magermilch zu ersetzen, was zur starken Steigerung des Konsums dieses Produkts im Dritten Reich entscheidend beitrug. Zudem zog der Preis für Margarine dadurch so stark an, dass diese nur noch um die Hälfte billiger war als Butter. Ein anderes eher einkommenselastisches Gut, das in überraschend hohem Umfang im Dritten Reich konsumiert wurde, war Fleisch.190 Dieser Befund scheint der oben diskutierten These von Baten und Wagner zu widersprechen, welche die höhere Infektionsanfälligkeit der deutschen Kinder in den 1930er Jahren auf den Mangel an tierischen Proteinen zurückführten. Aufgelöst werden kann dieser scheinbare Widerspruch dadurch, dass man sich veranschaulicht, dass Durchschnittsgrößen wie das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf oder eben der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch nichts über die Verteilung aussagen. So weisen Baten und Wagner explizit darauf hin, dass der steigende deutsche Durchschnittskonsum von Fleisch mit einem erheblichen Rückgang des Fleischkonsums in den auf Importen angewiesenen Küstenregionen und in den Großstädten einherging, wo der Anstieg der Sterblichkeit daher auch überdurchschnittlich hoch war.191 Unabhängig von diesen Überlegungen zur regionalen Verteilung der Lebensmittel sind Kohl und Kartoffeln eine weitaus frugalere Diät als Obst, Zitrusfrüchte und Weizenbrot. Offenbar wurden die deutschen Konsumenten in den 1930er Jahren durch die Markteingriffe der Nationalsozialisten gezwungen, ihr steigendes Einkommen vorwiegend für Nahrungsmittel auszugeben, die sie vergleichsweise gering schätzten. Unklar ist allerdings weiterhin, ob sich der Wohlstand der Konsumenten hierdurch im Vergleich zur Weimarer Republik verringerte. Schließlich wurde man für den Verzicht auf Weizenbrot durch mehr Fleisch und Butter kompensiert. Im letzten Schritt der Analyse werden diese beiden gegenläufigen Konsumeffekte gegeneinander abgewogen. Auf Grundlage einer umfangreichen Konsumentenbefragung des Statistischen Reichsamts sind die von einem typischen Arbeiterhaushalt in den Jahren 1927/28 konsumierten Nahrungsmittelmengen bekannt. Da das Statistische Reichsamt überdies die Durchschnittspreise dieser Güter festhielt, ist es möglich, durch Multiplikation von Mengen und Preisen die Ausgaben für dieses Nahrungsmittelbündel zu berechnen. In den Jahren 1927/28 beliefen sich diese auf 863 RM pro Jahr. Nach der ökonomischen Talfahrt der Weltwirtschaftskrise erreichten die deutschen Haushalte das reale verfügbare Einkommen der Jahre 1927/28 erstmals wieder in den Jahren 1935/1936. Wenn man das zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt konsumierte Nahrungsmittelbündel mit den Preisen von 1927/28 bewertet, resultiert ein Wert von 859 RM, der geringfügig unterhalb der tatsächlichen Ausgaben von 1927/28 lag. Dies bedeutet nichts anderes, als dass es einem deutschen Arbeiterhaushalt möglich gewesen wä190
191
Für die langfristige Entwicklung des Fleischkonsums in Deutschland vgl. Hans-Jürgen Teuteberg (1998): Der Fleisch- und Wurstverzehr der Deutschen in historischer Betrachtung, in: Ernährungsforschung, S. 1–28. Vgl. Baten/Wagner (2003), S. 117–120.
152
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
re, das Mitte der 1930er Jahre konsumierte Nahrungsmittelbündel bereits 1927/28 zu kaufen. Da er aber stattdessen ein ganz anders zusammengesetztes Nahrungsmittelbündel nachfragte, enthüllt er hierdurch, dass er das Nahrungsmittelbündel von 1927/28 dem von 1935/36 eindeutig vorzog. „Rationiertes“ Gut
Nutzenniveau 1927/28
1927/28
• 1935/36
• Budgetbeschränkung 1927/28 „Empfohlenes Gut“
Abbildung 6.9:
Die Konsumentscheidung 1935/36
Quelle:
Mark Spoerer und Jochen Streb (2013): Butter and Guns – but no Margarine: The Impact of Nazi Economic Policies on German Food Consumption, 1933–38, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 86.
Diese mikroökonomische Schlussfolgerung wird in Abbildung 6.9 für den Zwei-Güter-Fall erläutert. Der Anschaulichkeit halber sei unterstellt, dass der Haushalt sein gesamtes Einkommen für eine Mischung aus dem „rationierten“ (Weizenbrot) und dem „empfohlenen“ Gut (Roggenbrot) ausgibt. Seine Konsummöglichkeiten werden durch seine Budgetbeschränkung vorgegeben, die bei gegebenen Preisen alle Mengenkombinationen der beiden Güter umfasst, die bei vollständiger Verwendung des Einkommens gekauft werden können. Die Konsumwünsche des Haushalts werden durch monotone und konvexe Indifferenzkurven beschrieben. Eine Indifferenzkurve beschreibt die Präferenzen eines Konsumenten und enthält alle Kombinationen der beiden Güter, die dem Haushalt den gleichen Konsumnutzen stiften. Dabei gilt, dass der Haushalt in bestimmten vorgegebenen Grenzen ein Weniger bei einem Gut durch ein Mehr beim anderen kompensieren kann: Weniger Weizenbrot kann durch mehr Roggenbrot ausgeglichen werden. Die Eigenschaft der Monotonie bedeutet, dass der Haushalt eine größere Menge von Nahrungsmitteln immer höher schätzt als eine geringere Menge. Konvexität impliziert, dass sich der Haushalt ein eher ausgewogenes Nahrungsmittelgüterbündel wünscht, das heißt Weizen- und Roggenbrot und nicht nur Roggen- oder nur Weizenbrot. Das Nutzenmaximum erreicht der Haushalt in dem Punkt, in dem die höchst mögliche Indifferenzkurve die vorgegebene Budgetbeschränkung gerade noch berührt.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
153
Das in den Jahren 1927/28 erreichte Nutzenmaximum wird durch den Tangentialpunkt der Budgetbeschränkung 1927/28 und der Indifferenzkurve mit dem Nutzenniveau 1927/28 beschrieben. Das in den Jahren 1935/36 konsumierte Nahrungsmittelbündel enthält ganz im Interesse des nationalsozialistischen Regimes mehr von dem „empfohlenen“ Gut und weniger von dem „rationierten“ Gut. Zudem fällt auf, dass dieses Nahrungsmittelbündel knapp unterhalb der Budgetgerade aus dem Jahre 1927/28 liegt. Der Haushalt hätte sich also das Nahrungsmittelbündel von 1935/36 bereits 1927/28 leisten können. Dass er dies aber trotzdem nicht nachfragte, belegt, dass er das in den Jahren 1927/28 tatsächlich realisierte Güterbündel eindeutig vorzog. Es sollte klar sein, dass man natürlich keine Informationen über den Verlauf der Indifferenzkurven der Arbeiterhaushalte in der Zwischenkriegszeit besitzt. Der Clou dieser Analyse ist, dass man diese Informationen auch gar nicht benötigt. Allein auf Grundlage des Wissens, dass sich der Arbeiterhaushalt in den Jahren 1927/28 beide Nahrungsmittelbündel hätte leisten können, kann man aus seiner beobachtbaren Konsumentscheidung auf seine Präferenzen zurück schließen.
„Rationiertes“ Gut Nutzenniveau 1927/28
1927/28
1937/38
• 1935/36
•
• Budgetbeschränkung 1927/28 „Empfohlenes“Gut
Abbildung 6.10: Die Konsumentscheidung 1937/38 Quelle:
Mark Spoerer und Jochen Streb (2013): Butter and Guns – but no Margarine: The Impact of Nazi Economic Policies on German Food Consumption, 1933–38, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 86.
Diese Vorgehensweise ist allerdings nicht mehr möglich, wenn sich das Vergleichsgüterbündel oberhalb der Budgetbeschränkung von 1927/28 befindet. Dieser Fall trat im Dritten Reich 1937/38 ein, als das realisierte Nahrungsmittelbündel in Preisen von 1927/28 884 RM gekostet hätte und damit oberhalb der zu jenem früheren Zeitpunkt tatsächlich getätigten Nahrungsmittelausgaben von 863 RM lag. In Abbildung 6.10 ist diese Situation exemplarisch erneut für den Zwei-Güter-Fall dargestellt. Man sieht, dass das Nahrungsmittelbündel
154
6 Das deformierte „Wirtschaftswunder“ im Dritten Reich
von 1937/38 noch weniger von dem „rationierten“ Gut enthält als das Bündel von 1935/36, dafür aber viel mehr von dem „empfohlenen“ Gut. Folglich hätte sich der Haushalt dieses Nahrungsmittelbündel bei gegebenen Preisen und Einkommen von 1927/28 nicht leisten können. In Abhängigkeit vom Verlauf der konkreten Indifferenzkurve konnte dieses Güterbündel höher oder geringer als das Nahrungsmittelbündel von 1927/28 geschätzt werden. In Abbildung 6.10 ist zur Verdeutlichung dieser Ambivalenz eine zweite, gestrichelte Indifferenzkurve eingezeichnet, welche die Präferenzen eines Konsumenten charakterisiert, der vergleichsweise weniger Wert auf ein ausgewogenes Güterbündel legt als derjenige Konsument, für den die durchgezogene Indifferenzkurve gilt. Bei Gültigkeit der gestrichelten Indifferenzkurve liegt das Nahrungsmittelbündel oberhalb des Nutzenniveaus von 1927/28. Gemessen an seinem Nahrungsmittelkonsum hat sich der Konsument gegenüber der Weimarer Zeit verbessert, sein Verlust an Weizenbrot wurde durch den Gewinn an Roggenbrot mehr als kompensiert. Anders sieht es bei Vorliegen der durchgezogenen Indifferenzkurve aus. Hier konnte der Verlust an dem „rationierten“ Gut nicht durch mehr vom „empfohlenen“ Gut ausgeglichen werden und der Konsument fühlt sich subjektiv schlechter ernährt als 1927/28, obwohl das Güterbündel teurer ist. Da, wie bereits betont, die historischen Indifferenzkurven nicht bekannt sind, kann man diese Fallunterscheidung nicht treffen. Eine Fortführung dieses Ansatzes könnte darin bestehen, weitere Konsumgüter in die Analyse mit einzubeziehen. Möglicherweise wurden die deutschen Haushalte für ihre frugale Diät der 1930er Jahre durch bessere Wohnbedingungen und mehr Kleidung entschädigt. Hierfür spricht allerdings wenig, da sich viele zeitgenössische Klagen über die sinkende Qualität der Kleidung und Wohnungen finden lassen.192 Somit verfestigt sich in der Zusammenschau der Ergebnisse von Baten und Wagner zur Entwicklung des biologischen Lebensstandards und unserer mikroökonomischen Analyse der materiellen Ernährungslage der deutschen Bevölkerung die Einschätzung, dass der durchschnittliche Wohlstand der deutschen Konsumenten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nicht höher lag als vor der Weltwirtschaftskrise. Obwohl sich das Regime vorgenommen hatte, die Verhältnisse der amerikanischen Massenkonsumgesellschaft auch in Deutschland zu verwirklichen, gelang es ihm nicht, den Lebensstandard gegenüber der Weimarer Republik zu erhöhen. Dieses Scheitern wurde einerseits durch die Forcierung der Autarkie- und Rüstungsproduktion bewusst in Kauf genommen, folgte andererseits jedoch eher ungewollt auch aus den ideologisch motivierten institutionellen Veränderungen im Agrarsektor. Angesichts dieser Zusammenfassung ergibt sich das Problem zu erklären, warum die meisten Zeitgenossen die Friedensjahre des Dritten Reichs gleichwohl als eine Zeit der Wohlstandsverbesserung in Erinnerung behalten haben. Dies mag vielleicht zum Teil der Freizeitorganisation der Deutschen Arbeitsfront, „Kraft durch Freude“ (KdF), zu verdanken sein. Die KdF veranstaltete billige, nicht unattraktive Urlaubsreisen, an denen bis Kriegsausbruch Millionen Deutsche teilnehmen konnten. Viele Arbeiterfamilien dürften dank dieser nationalsozialistischen Organisation zum ersten Mal in ihrem Leben eine Urlaubsreise unternommen haben, zumal die Zahl der Urlaubstage im Dritten Reich von durchschnittlich drei auf sechs bis zwölf Tage angehoben wurde. Aber nicht nur durch Urlaubsreisen, sondern auch durch das Angebot von Tennis- und Reitkursen, Theaterabenden und Tanzveranstaltungen vermittelte die KdF dem durchschnittlichen Deutschen das Gefühl angehobener Konsummöglichkeiten.
192
Vgl. Berghoff (2001), S. 175, 180f.
6.3 Gesundheit und Konsum der „Volksgenossen“
155
Hartmut Berghoff argumentiert darüber hinaus, dass es der nationalsozialistischen Propaganda mit großem Erfolg gelungen sei, die fehlenden realen Konsummöglichkeiten der Gegenwart durch das Erwecken von Hoffnungen auf zukünftigen Konsum zu ersetzen. Der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, verkündete großspurig: „In 10 Jahren wird Deutschland nicht wieder zu erkennen sein. Aus einem Proletariervolk wird dann ein Herrenvolk geworden sein. Der deutsche Arbeiter wird in zehn Jahren besser aussehen als heute ein englischer Lord.“193 Den Menschen ging es zwar noch nicht besser, aber sie träumten sich vor das Steuer des angekündigten „Volkswagens“ und erlebten schon durch diesen Tagtraum eine Steigerung ihres subjektiven Wohlbefindens.194 Zudem ist abschließend zu berücksichtigen, dass die deutsche Bevölkerung die Entwicklung im Dritten Reich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und dem als Demütigung empfundenen Versailler Vertrag beurteilte. Das nationalsozialistische Regime mochte die Deutschen mit Konsumgütern knapp gehalten haben, erneuerte aber durch alltägliche Propaganda und pompöse Großveranstaltungen, durch ökonomischen Aufschwung und militärische Aufrüstung das Selbstbewusstsein des Durchschnittsdeutschen. Hinzu kam das Gefühl der ökonomischen Sicherheit und Stabilität, dass sich nach dem Abbau der Arbeitslosigkeit endlich wieder einstellte. Die „Ostalgie“ mancher ehemaliger DDR-Bürger zeigt auch heute, dass Menschen unter Umständen durchaus dazu bereit sein mögen, für die Verwirklichung von Arbeitsplatzsicherheit eine Verringerung ihres materiellen Lebensstandards und den Verzicht auf Menschenrechte hinzunehmen. Auf die Frage, warum so viele Deutsche das nationalsozialistische Regime zumindest bis Kriegsausbruch unterstützten, könnte deshalb die frustrierende Antwort lauten, dass die Mehrheit der Bevölkerung freiwillig dazu bereit war, Konsumgüter und politische Rechte im Austausch gegen geringere ökonomische Risiken aufzugeben.
193
194
Zitiert nach Hartmut Berghoff (2005): Methoden der Verbrauchslenkung im Nationalsozialismus. Konsumpolitische Normsetzung und ökonomische Folgewirkungen zwischen totalitärem Anspruch und widerspenstiger Praxis, in: Dieter Gosewinkel (Hg.): Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M., S. 281–316, hier S. 287. Vgl. auch Wolfgang König (2004): Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft: „Volksprodukte“ im Dritten Reich: Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn.
7
Die nationalsozialistische Rüstungsund Kriegswirtschaft
Im vorangegangenen Kapitel haben wir die Folgen der Priorisierung von Autarkie- und Rüstungspolitik durch die nationalsozialistischen Wirtschaftsplaner für die Bevölkerung analysiert. Nun wenden wir uns dem aus nationalsozialistischer Sicht wichtigsten Ziel der Wirtschaftspolitik zu, der Aufrüstung der deutschen Wirtschaft in der Zeit bis 1939 und dann im Zweiten Weltkrieg.
7.1
Der Vierjahresplan
Mit einer geheimen Denkschrift, von der zunächst nur Reichsluftfahrtminister Hermann Göring und Reichswehrminister Werner von Blomberg ein schriftliches Exemplar erhielten, leitete Hitler im August 1936 die zweite Phase nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik ein, in der nach dem Erreichen der Vollbeschäftigung nunmehr eindeutige Prioritäten auf die Kriegsvorbereitung und den Aufbau einer Autarkieindustrie gelegt wurden. Wörtlich heißt es in dieser Denkschrift: „Ich [Hitler] halte es für notwendig, daß nunmehr mit eiserner Entschlossenheit auf all den Gebieten eine 100 Prozent Selbstversorgung eintritt, auf denen diese möglich ist, und daß dadurch nicht nur die nationale Versorgung mit diesen wichtigsten Rohstoffen vom Ausland unabhängig wird, sondern daß dadurch auch jene Devisen eingespart werden, die wir im Frieden für die Einfuhr unserer Nahrungsmittel benötigen.“195 Hitler benannte als zukünftige Autarkiebranchen explizit die Erzeugung von Treibstoff aus der heimischen Braunkohle, die Massenproduktion von Synthesekautschuk, die Nutzung der einheimischen relativ eisenarmen Erze, die industrielle Fettversorgung auf Grundlage von Kohle sowie die Leichtmetallerzeugung. Die Denkschrift schloss mit der Forderung: „Ich stelle damit folgende Aufgabe: 1. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. 2. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.“196 Folgerichtig bestimmte Hitler im Oktober 1936 Hermann Göring zum Beauftragten für diesen (zweiten197) Vierjahresplan und stattete ihn mit umfassender Weisungsbefugnis gegenüber allen Behörden einschließlich der Reichsministerien aus. Damit war Göring praktisch zum Diktator auf wirtschaftlichem Gebiet bestellt, und es war nur konsequent, dass Hjalmar Schacht im November 1937 von seinen Ämtern als Wirtschaftsminister und Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft zurücktrat, da er die Autarkiepolitik nicht mittragen woll-
195 196 197
Wilhelm Treue (1955): Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3, S. 184–210, hier S. 209. Ebda., S. 210. Eine Regierungserklärung Hitlers vom 2. Februar 1933, in der er die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als vordringlichstes Ziel bezeichnete, wird häufig als erster Vierjahresplan bezeichnet.
158
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
te.198 Schnell wurde eine umfangreiche Vierjahresplan-Organisation geschaffen, deren wichtigste Aufgabe der Ausbau der deutschen Roh- und Grundstoffindustrie war. Der Löwenanteil des im Vierjahresplan vorgesehenen Investitionsvolumens von fast 30 Prozent sollte dem Aufbau der deutschen Treibstofferzeugung dienen, für die Erzeugung des synthetischen Kautschuks Buna waren 7 Prozent der Mittel vorgesehen, für die Chemieindustrie insgesamt mehr als 43 Prozent.199 Mit einer gewissen Berechtigung kann der Vierjahresplan deshalb auch als ein riesiger Chemieplan angesehen werden, zumal Vertreter des Chemieunternehmens I.G. Farben die Organisation dominierten. So wurde der I.G. Farben Direktor Carl Krauch am 22. August 1938 von Göring zum „Bevollmächtigten für die Erzeugung von Mineralöl, Kautschuk und Leichtmetallen, von Schieß- und Sprengstoffen und deren Vorprodukten und Hilfsstoffen sowie für die Erzeugung von chemischen Kampfmitteln“ ernannt. Im Jahr 1944 entstammten 40 der insgesamt 128 Akademiker der Vierjahresplan-Behörde den I.G. Farben. Im Jahr 1942 waren die Vorgaben des Vierjahresplans nur bei Aluminium, synthetischen Textilfasern (Zellwolle und Kunstseide), der Stromerzeugung, Zinkerz, Hüttenzink und Braunkohle erfüllt oder übererfüllt. Gemessen an den Zielvorgaben war die Treibstofferzeugung mit einer Planerfüllung von nur 45 Prozent hingegen der größte Fehlschlag. Allerdings wies dieser Bereich ähnlich wie die anderen neuen chemischen Syntheseprodukte wie Kunststoffe, Lederaustauschstoffe oder BUNA überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten auf. Auffallend ist der vergleichsweise geringe Zuwachs auf Gebieten des Bergbaus und der Eisen- und Metallindustrie. Dafür war nicht zuletzt die allmähliche Erschöpfung der deutschen Erzgruben verantwortlich. Tabelle 7.1:
Anteile der Industriegruppen an der industriellen Nettoproduktion in Prozent (Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand)
Industriegruppe Grundstoffe Rüstungsgerät Bauten Übrige Investitionsgüter Verbrauchsgüter Industrie insgesamt Quelle:
1938 21 7 25 16 31 100
1939 21 9 23 18 29 100
1940 22 16 15 18 29 100
1941 25 16 13 18 28 100
1942 25 22 9 19 25 100
1943 24 31 6 16 23 100
1944 21 40 6 11 22 100
Dietmar Petzina (1968): Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart, S. 187.
Die aus der Veränderung der deutschen Investitionsstruktur resultierende gleichgerichtete Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Produktionsstruktur verdeutlicht Tabelle 7.1.200 Neben dem kriegsbedingten Boom der unmittelbaren Rüstungsproduktion, die spätestens ab
198 199 200
Zur Geschichte des Vierjahresplans vgl. Petzina (1968). Vgl. auch Christopher Kopper (2007): Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier, Berlin. Vgl. Petzina (1968), S. 83. Petzina entwickelte diese Tabelle auf Grundlage von Angaben von Rolf Wagenführ (1954): Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin, S. 191. Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung hatte Wagenführ keinen Grund, den Umfang der Rüstungsproduktion zu verschleiern. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Index für Rüstungsgerät den Umfang der deutschen Rüstungsproduktion nicht unterschätzt.
7.1 Der Vierjahresplan
159
1942 die deutsche Wirtschaft dominierte, ergaben sich zwischen 1938 und 1942 die größten Zuwächse in dem vom Vierjahresplan geförderten Sektor der Grundstoffe, während sich die relative volkswirtschaftliche Bedeutung der Bauten und Verbrauchsgüter zu Lasten der Konsumenten erheblich verringerte. Diese Verschiebungen gingen natürlich auch mit einer entsprechenden Verlagerung der Arbeitskräfte von den Konsumgüterindustrien in die Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien einher. Um diese zur Umstrukturierung der Wirtschaft notwendige Umlenkung der Arbeitskräfte zu ermöglichen, hoben die Nationalsozialisten die erst in der Weimarer Republik eingeführten Arbeitnehmerrechte schrittweise wieder auf.201 Nur einen Tag, nachdem der 1. Mai erstmals als „Tag der nationalen Arbeit“ mit großem Pomp gefeiert worden war, wurden die freien Gewerkschaften fast widerstandslos zerschlagen und ihre Einrichtungen und ihr Vermögen beschlagnahmt. Noch am selben Tag verkündete Robert Ley die Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) als Zusammenschluss aller bisherigen Gewerkschaften unter seiner eigenen Leitung. Etwaige gewerkschaftliche Ambitionen dieser neuen Großorganisation wurden allerdings schnell unterbunden. Bereits am 19. Mai 1933 wurde ein Gesetz über die Einsetzung staatlicher „Treuhänder der Arbeit“ erlassen, denen die Zuständigkeit zur Regelung der Arbeitsbedingungen übertragen wurde. Damit war von Anfang an klargestellt, dass fortan die Löhne vom Staat diktiert würden. Die Zuständigkeit der DAF, die neben den Arbeitern („Arbeiter der Faust“) und den Angestellten („Arbeiter der Stirn“) auch die Arbeitgeber umfassen sollte, wurde auf die soziale Betreuung und nationalsozialistische Erziehung ihrer Mitglieder beschränkt. Da ein Abwerben von Facharbeitern mittels Lohnanreizen aufgrund der nationalsozialistischen Lohnstopppolitik nicht möglich war, waren mit Erreichen der Vollbeschäftigung in den Jahren 1935/36 insbesondere Unternehmen der Rüstungs- und Bauwirtschaft oftmals nicht mehr dazu in der Lage, ihren steigenden Bedarf an qualifizierten Facharbeitern zu decken. Aufgrund dieser Mangellage sahen sich die Nationalsozialisten gezwungen, schon im Februar 1935 das sogenannte Arbeitsbuch einzuführen, in dem alle wichtigen Angaben über Qualifikation, beruflichen Werdegang und bisherige Arbeitsstellen des einzelnen Arbeitnehmers eingetragen wurden. Ohne Vorlage dieses „Wehrpasses der Arbeit“ durfte ein Arbeitgeber bald keine neuen Arbeitskräfte mehr einstellen. Weil das Arbeitsbuch aber für die Dauer der Beschäftigung vom Unternehmen einbehalten wurde, erschwerte dies auch einen auf der Initiative des Arbeitnehmers beruhenden Arbeitsplatzwechsel erheblich. Andererseits erleichterte das Arbeitsbuch die Lenkung des Produktionsfaktors Arbeit durch die staatlichen Arbeitsämter. Staatliche Einstellungsverbote und Einstellungsgebote traten ergänzend hinzu.
201
Einen Überblick über die nationalsozialistische Arbeitsmarktpolitik gibt Rüdiger Hachtmann (2008): Labour Policy in Industry, in: Christoph Buchheim (Hg.): German Industry in the Nazi Period, Stuttgart, S. 65–83.
160
Abbildung 7.1:
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Das Arbeitsbuch als Quelle
Eine offene Militarisierung des Arbeitsmarktes erfolgte im Juni 1938, als zunächst zur Errichtung der Befestigungsanlagen im deutschen Westen („Westwall“) die Dienstverpflichtung eingeführt wurde. Seit Februar 1939 konnte dann jeder deutsche Arbeitnehmer jederzeit dazu verpflichtet werden, seinen gewohnten Wohnort und Arbeitsplatz aufzugeben und für einen unbeschränkten Zeitraum in einem ihm vom Staat zugeteilten Betrieb zu arbeiten. Schließlich hatten die Arbeitnehmer im „Dritten Reich“ nicht nur ihre gewerkschaftliche Interessenvertretung, sondern auch ihr Recht auf freie Berufswahl verloren. Die überlieferten Arbeitsbücher stellen eine ausgezeichnete Quelle zur historischen Arbeitsmarktforschung dar, enthalten sie doch Informationen über den Namen, Geburtsort, Geburtsdatum, Art und Dauer der abgeschlossenen Lehre, Fachschulbildung, besondere Fähigkeiten und alle Beschäftigungsverhältnisse des Inhabers. Stefanie Werner, Harald Degner und Mark Adamo untersuchten kürzlich auf Grundlage von insgesamt 830 Arbeitsbüchern Richtung und Zeitpunkt der Arbeitsplatzwechsel von Facharbeitern und ungelernten Arbeitern im deutschen Südwesten. Unter anderem können die Autoren zeigen, dass die Mehrzahl der insgesamt 754 in den Arbeitsbüchern dokumentierten Arbeitsplatzwechsel bereits in den Jahren 1936 und 1937 erfolgte. Seit Sommer 1938 nahmen die Arbeitsplatzwechsel beständig ab; während des Zweiten Weltkriegs fanden nur noch sehr wenige statt. Offensichtlich erlahmte
7.2 Prinzipal-Agenten-Probleme
161
die Arbeitskräftemobilität während der Dauer des Vierjahresplans. Hinzu kommt, dass der Anteil der Facharbeiter an allen Arbeitsplatzwechslern von über 70 Prozent im Jahr 1935 auf um die 30 Prozent zu Kriegsbeginn sank.202 Die von Werner, Degner und Adamo erhobene Stichprobe aus dem württembergischen Raum ist allerdings zu klein, um aus diesen Beobachtungen bereits die Hypothese ableiten zu können, dass es Arbeitsgebern und (Fach-) Arbeitern in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gelang, ihre Interessen gegen die staatlichen Lenkungsansprüche durchzusetzen. Neben den Arbeitskräften versuchte das Regime vor allem, die knappen Rohstoffe in die staatlich gewünschten Verwendungen zu lenken. Ralf Banken untersucht die Organisation der Edelmetallbewirtschaftung. Seiner Meinung nach zeigt sich, dass die staatliche Lenkung der Edelmetalle Gold, Silber und Platin ähnlich wie jene in der Stahlindustrie203 auf keiner sorgfältig durchdachten Konzeption beruhte, sondern sich als „ein System, das keiner anstrebte“204 im Zuge von ad-hoc-Maßnahmen schrittweise und für die einzelnen Edelmetalle zeitlich versetzt entwickelte. Die Goldbewirtschaftung begann bereits im Verlauf der Devisenkrise von 1934, da Gold eben nicht nur als Rohstoff, sondern vor allem als internationales Zahlungsmittel benötigt wurde. Die Silberbewirtschaftung setzte im Herbst 1935 nach Auslaufen der Lohnscheideaufträge aus der Sowjetunion ein; die Platinbewirtschaftung wurde im Verlauf der forcierten Aufrüstung ab Mitte 1937 notwendig. Ziel dieser Bewirtschaftungssysteme war es jeweils, angesichts der vorherrschenden Devisenknappheit – Gold, Platin und zu großen Teilen auch Silber mussten importiert werden – die deutsche Rüstungs- und Exportindustrie zu Lasten des einheimischen Verbrauchs von Konsumgütern wie zum Beispiel Schmuckwaren mit hinreichenden Mengen an Edelmetallen zu versorgen. In einer Interventionsspirale mussten dabei die zunächst eingesetzten Kontingentierungsmaßnahmen bald durch Höchstpreisvorschriften und Verwendungsbeschränkungen sowie eine zunehmende Intensivierung und Zentralisierung der staatlichen Überwachung ergänzt werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die vom Vierjahresplan anvisierte Umstrukturierung der deutschen Industrie in weiten Teilen umgesetzt wurde, auch wenn die meisten Autarkieziele nicht verwirklicht werden konnten. Aus wirtschaftshistorischer Perspektive interessiert insbesondere, mit welchen Mitteln die Nationalsozialisten die privaten Unternehmer dazu veranlassten, sich gemäß den staatlichen Planvorgaben zu verhalten.
7.2
Prinzipal-Agenten-Probleme
Nach der Auffassung von Wirtschaftshistorikern wie Peter Temin205 und Unternehmenshistorikern wie Peter Hayes206 markiert die Implementierung des Vierjahresplans im Jahr 1937 202
203 204 205 206
Vgl. Stefanie Werner, Harald Degner und Mark Adamo (2011): Hitlers gläserne Arbeitskräfte. Das Arbeitsbuch als Quelle von Mikrodaten für die historische Arbeitsmarktforschung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 175–191. Vgl. Ulrich Hensler (2008): Die Stahlkontingentierung im Dritten Reich, Stuttgart. Vgl. Ralf Banken (2009): Edelmetallmangel und Großraubwirtschaft. Die Entwicklung des deutschen Edelmetallsektors im „Dritten Reich“ 1933–1945, Berlin, S. 117. Vgl. Peter Temin (1991): Soviet and Nazi Economic Planning in the 1930s, in: Economic History Review 44, S. 573–593. Vgl. Hayes (1987); ders. (2004): Die Degussa im Dritten Reich: Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft, München. Ähnlich: Werner Plumpe (2006): „Steuerungsprobleme“ in der Wirt-
162
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
auch den Beginn der vollständigen Unterordnung der deutschen Unternehmer unter den Planungswillen der nationalsozialistischen Politiker. Mittels einer umfassenden Regulierung der Produkt- und Faktormärkte sowie der zumindest latenten Androhung von Enteignung und Gewalt hätten die Nationalsozialisten den unternehmerischen Handlungsspielraum im Zuge einer kalten Sozialisierung schließlich so sehr eingeengt, dass den Privateigentümern der Produktionsmittel gar keine andere Wahl mehr geblieben wäre, als sich den Ansprüchen der Machthaber zu beugen und ihre Aktivitäten an den staatlich vorgegebenen Rüstungs- und Autarkiezielen auszurichten. Somit zerfiel die Institution des Privateigentums nach Auffassung von Temin ähnlich wie in der Landwirtschaft auch im Industriesektor des Dritten Reichs zu einer nur noch formalen und bedeutungslosen Hülle: „The Nazis viewed private property as conditional on its use – not as a fundamental right. If the property was not being used to further Nazi goals, it could be nationalized.“207 Wie die Beispiele der Enteignung von Hugo Junkers 1933/34, der Gründung der BraunkohleBenzin AG im Jahr 1934 oder der Wegnahme der Erzgruben der deutschen Stahlindustrie im Jahr 1937 zeigen, scheuten sich die Nationalsozialisten tatsächlich nicht, zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Ziele notfalls auch direkten Zwang anzuwenden. Christoph Buchheim und Jonas Scherner versuchen gleichwohl zu zeigen, dass derartige autoritäre Eingriffe im Dritten Reich nicht die Regel, sondern eher die nur sehr zurückhaltend genutzte Ausnahme darstellten.208 Diese Einschätzung beruht auf der Beobachtung, dass ähnlich wie marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen auch nationalsozialistische Wirtschaftspolitiker der Auffassung waren, dass freiwillig kooperierende Privatunternehmer generell effizienter wirtschaften als reine Befehlsempfänger oder gar Staatsbetriebe. Die an einer möglichst hohen Produktionsleistung interessierten Nationalsozialisten konnten und wollten es sich daher gar nicht leisten, die Privatindustrie durch den extensiven Einsatz von Enteignung und Gewalt in den zumindest passiven Widerstand zu treiben. Stattdessen erfolgte nach Ansicht von Buchheim und Scherner die staatliche Lenkung der deutschen Industrie in erster Linie über das Setzen von Anreizen, die an das ökonomische Selbstinteresse der Unternehmer appellierten. Wir beschäftigen uns im Folgenden insbesondere mit der Ausgestaltung und den kurz- und längerfristigen Auswirkungen dieser industriepolitischen Lenkungsinstrumente. Zur Strukturierung unserer Analyse beschreiben wir das Verhältnis zwischen Staat und Unternehmen im Dritten Reich mit Hilfe von mikroökonomischen Prinzipal-Agenten-Modellen.209
207 208
209
schafts- und Unternehmensgeschichte des Nationalsozialismus, in: Gerd Bender, Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon (Hg.): Die andere Seite des Wirtschaftsrechts. Steuerung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., S. 19–30, hier insb. S. 26. Temin (1991), S. 576. Vgl. Christoph Buchheim und Jonas Scherner (2006): The Role of Private Property in the Nazi Economy: The Case of Industry, in: Journal of Economic History 66, S. 390–416, hier S. 395. Vgl. auch Jonas Scherner (2006): Das Verhältnis zwischen NS-Regime und Industrieunternehmen – Zwang oder Kooperation?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51, S. 166–190. Zur Bewertung der Debatte vgl. auch Jochen Streb (2012): Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus und gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft?, in: Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart, S. 61–83. Vgl. zur Prinzipal-Agenten-Theorie Rudolf Richter und Eirik G. Furubotn (1999): Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, 2. Aufl., Tübingen, S. 163–171, 195– 242.
7.2 Prinzipal-Agenten-Probleme
163
Die Prinzipal-Agenten-Theorie beschäftigt sich mit der Frage, auf welche Weise ein Auftraggeber, der Prinzipal, sicherstellen kann, dass sein Auftragnehmer, der Agent, die ihm übertragene Aufgabe entsprechend der Zielsetzung des Auftraggebers erfüllt. Derartige PrinzipalAgenten-Beziehungen sind in Volkswirtschaften allgegenwärtig, finden sich innerhalb von Organisationen, zwischen Organisationen sowie zwischen Individuen und wurden doch in den stark abstrahierenden Modellen der traditionellen Mikroökonomie bestenfalls unzureichend berücksichtigt. Ganz im Gegensatz hierzu basiert die der Neuen Institutionenökonomik zuzurechnende Prinzipal-Agenten-Theorie explizit auf der realitätsnäheren Feststellung, dass soziale Organisationen eine komplexe innere Struktur besitzen, die jedem ihrer Mitglieder bestimmte Aufgabengebiete, Entscheidungs- und Kontrollfunktionen zuweist. Beispielsweise umfasst in unserem heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem die wirtschaftliche Organisationsform „Unternehmen“ nicht nur ein „gewinnmaximierendes Wirtschaftssubjekt“, sondern Eigentümer, Manager und Arbeitnehmer, die politische Organisationsform „Staat“ nicht nur einen „wohlmeinenden Diktator“, sondern Parlamentarier, Regierungsmitglieder, Verwaltungsangestellte, Richter und Bürger. Prinzipal-Agenten-Modelle berücksichtigen, dass die in solchen Organisationen eingebundenen Menschen nicht zwingend in Interessenharmonie handeln, sondern unterschiedliche, sich oftmals widersprechende individuelle Ziele verfolgen. Beispielsweise wünschen sich Gewinn orientierte Unternehmer fleißige Arbeitnehmer mit niedrigen Lohnansprüchen, die Arbeitnehmer hingegen hohe Löhne bei niedriger Arbeitsbelastung. Hinzu kommt, dass die für eine bestimmte Prinzipal-Agenten-Beziehung relevanten Informationen nicht für jeden Beteiligten in vollem Umfang verfügbar, sondern ungleich zwischen den handelnden Personen verteilt sind. So sind die oben genannten Unternehmer kaum dazu in der Lage zu beurteilen, ob sich ihre Arbeiternehmer wie gewünscht mit ihrem gesamten Leistungsvermögen ihren betrieblichen Aufgaben widmen oder aber einen Teil ihrer verfügbaren Arbeitskraft bewusst zurückhalten. Aufgrund des Zusammentreffens von Zielkonflikten und Informationsasymmetrien ist es der in einer Hierarchie übergeordneten Person, dem Prinzipal, in aller Regel nicht möglich, allein durch Anordnung seine Agenten dazu zu veranlassen, ausschließlich in seinem Interesse zu agieren. Agenten haben vielmehr Handlungsspielräume zur Verfolgung eigener, den Wünschen des Prinzipals widersprechender Ziele. Prinzipal-Agenten-Modelle schlagen deshalb vor, diesem Hierarchieversagen durch die Einführung zusätzlicher Institutionen, das heißt von handlungsbeschränkenden Regeln, entgegen zu wirken. Diese Regeln sollen die ökonomische Anreizstruktur eines Agenten in einer Weise verändern, dass dieser nunmehr aus eigenem Antrieb gemäß den Wünschen seines Auftraggebers handelt. Besondere Bedeutung kommt speziell ausgestalteten Verträgen zu, durch die die Entlohnung des Agenten explizit an die Verwirklichung der Ziele des Prinzipals gekoppelt wird. Zu denken ist hierbei beispielsweise an die Akkordentlohnung von Arbeitern, mit der ein Unternehmer trotz unzureichender Informationen sicherstellen kann, dass fleißige Arbeiter höhere Löhne erhalten als faule. Ein anderes Beispiel ist die Gewinnbeteiligung für Manager.210
210
Vgl. z.B. Carsten Burhop (2005): Die Vergütung des Führungspersonals deutscher Großbanken, 1871–1913, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 92, S. 281–300; ders. und Thorsten Lübbers (2009): Cartels, Managerial Incentives, and Productive Efficiency in German Coal Mining, 1881–1913, in: Journal of Economic History 69, S. 501–528.
164
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Aufbauend auf diesen theoretischen Überlegungen kann die Beziehung zwischen Staat und Unternehmen im Dritten Reich in ein dreistufiges Prinzipal-Agenten-Problem zerlegt und als solches auch analysiert werden. In der nationalsozialistischen Wirtschaft entstand eine unmittelbare Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen dem nationalsozialistischen Staat und den privaten Unternehmern durch die Vergabe öffentlicher Aufträge für Rüstungs- und Autarkiegüter sowie Bauleistungen. Aus Sicht des Staates sollte die Produktion dieser Güter effizient erfolgen und mit möglichst geringen staatlichen Ausgaben verbunden sein, was mit anderen Worten bedeutete, mit den Unternehmern einen möglichst niedrigen Preis für die zu erbringende Leistung zu vereinbaren. Vorrangiges Ziel der Unternehmer, für die wir hier vereinfachend unterstellen, dass sie Eigentümer und Geschäftsführer in Personalunion waren,211 war jedoch die Erzielung eines möglichst hohen Preises, der über die Deckung der eigentlichen Produktionskosten hinaus einträgliche Gewinne ermöglichen sollte. In den aus diesem Zielkonflikt resultierenden Auseinandersetzungen um die Höhe des Abnahmepreises besaß der Unternehmer die grundsätzlich bessere Verhandlungsposition, da er im Gegensatz zum staatlichen Auftraggeber die technologische und ökonomische Leistungsfähigkeit seines Unternehmens kannte.212 Vor Produktionsbeginn verschaffte dieser Informationsvorsprung dem Unternehmer die Möglichkeit, das Effizienzniveau seines Unternehmens zu untertreiben bzw. die Kosten bewusst zu hoch anzugeben, um hierdurch bereits bei Annahme des öffentlichen Auftrags einen hohen zukünftigen Abnahmepreis durchzusetzen. Erklärte sich der Staat mit der Handhabung einverstanden, den Preis bereits vor Produktionsbeginn als Festpreis zu fixieren, hatte er diesem unternehmerischen Täuschungsmanöver wenig entgegenzusetzen, da die meisten staatlich nachgefragten Rüstungs- und Autarkiegüter neuartige und nur an den Staat gelieferte Produkte waren, über die deshalb keine Preis- und Kosteninformationen aus vergangenen Produktionsperioden oder von Wettbewerbsmärkten vorlagen. Folglich erzielten bei der Verwendung von Festpreisverträgen gerade diejenigen Unternehmen besonders hohe Gewinne – sogenannte Informationsrenten – die den staatlichen Auftraggeber über ihre erwarteten Produktionskosten erfolgreich täuschten. Unternehmer, die wahrheitsgemäße Angaben über ihre Produktionskosten machten, realisierten hingegen vergleichsweise niedrige Gewinne. Den Umstand, dass durch den Einsatz von Festpreisverträgen Täuschung belohnt und Ehrlichkeit bestraft wird, bezeichnet man in der Institutionenökonomik als Adverse-selection-Problem.213
211 212
213
Hierdurch vernachlässigen wir die Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen den Eigentümern und den Managern eines Unternehmens. Vgl. zur Ausgestaltung von staatlichen Beschaffungsverträgen in der nationalsozialistischen Praxis: Jochen Streb und Sabine Streb (1998): Optimale Beschaffungsverträge bei asymmetrischer Informationsverteilung. Zur Erklärung des nationalsozialistischen „Rüstungswunders“ während des Zweiten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 118, S. 275–294; Jochen Streb (2009): Negotiating Contract Types and Contact Clauses in the German Construction Industry during the Third Reich, in: RAND Journal of Economics 40, S. 65–86. Das Adverse-selection-Problem wurde erstmalig von George A. Akerlof für den Gebrauchtwagenmarkt beschrieben, auf dem als Folge der unzureichenden Information misstrauischer Käufer schließlich nur noch „schlechte“ Gebrauchtwagen, die sogenannten „Zitronen“, aber keine „guten“ Exemplare mehr gehandelt werden. Vgl. George A. Akerlof (1970): The Markets for “Lemons”: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84, S. 488– 500.
7.2 Prinzipal-Agenten-Probleme
165
Zur Vermeidung des Adverse-selection-Problems kann der Staat den Abnahmepreis als sogenannten Selbstkostenpreis erst nach Fertigstellung des nachgefragten Erzeugnisses anhand der in den Buchführungsunterlagen des Unternehmens dokumentierten Produktionskosten zuzüglich eines absoluten oder relativen Gewinnzuschlags festlegen. Aber auch diese Vorgehensweise hatte aufgrund der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen Staat und Unternehmern ihre Nachteile. In der Prinzipal-Agenten-Theorie wird unterstellt, dass jeder Unternehmer eine Nutzenfunktion maximiert, die als Argumente seinen Gewinn und sein persönliches Anstrengungsniveau enthält. Der Nutzen des Unternehmers steigt mit zunehmendem Gewinn und sinkt mit zunehmender persönlicher Anstrengung. Aufbauend auf dieser Verhaltensannahme ist zu folgern, dass auch die Unternehmer im Dritten Reich nach Produktionsbeginn nur dann zu persönlichen Anstrengungen zur Senkung der Produktionskosten bereit waren, wenn sie für die Nutzenverluste aus ihrer erhöhten persönlichen Leistung durch eine Zunahme ihres Gewinns mindestens kompensiert wurden. Im Falle des nachträglich kalkulierten Selbstkostenpreises blieb der Gewinnzuschlag bei Kostensenkungen jedoch bestenfalls konstant, so dass die Unternehmer keinen Anreiz besaßen, sich um eine effizientere Produktionsweise zu bemühen – ganz im Gegenteil, die Unternehmer besaßen sogar Anreize, ihre Kosten durch ineffiziente Produktion aufzublähen und damit die absolute Höhe ihrer Gewinnzuschläge zu steigern. Derartiges Verhalten nennt man in der Institutionenökonomik Moral hazard. Ursprünglich stammt dieser Begriff aus der Versicherungswirtschaft und bezieht sich dort auf die empirische Beobachtung, dass Menschen, nachdem sie sich gegen ein bestimmtes negatives Ereignis wie zum Beispiel einen Wohnungsbrand versichert haben, sich weniger um dessen Verhinderung bemühen als in der Zeit, in der kein Versicherungsschutz vorlag, so dass die Wahrscheinlichkeit des Schadensfalls nach Versicherungsabschluss steigt.214 In unserem Fall hatten Unternehmer keinen Anreiz mehr, ihre Kosten zu senken, wenn der Staat ihnen die Deckung dieser Kosten bereits zugesichert hatte, so dass die durchschnittliche Höhe der Produktionskosten nach Einführung von Selbstkostenverträgen unter sonst gleichen Bedingungen wahrscheinlich sogar anstieg. Es ist hier wichtig zu betonen, dass es hierbei nicht nur um abstrakte monetäre Größen ging, sondern dass dahinter ganz realer, vermeidbarer volkswirtschaftlicher Ressourcenverzehr stand: zu viel Abfall oder Verschnitt, zu viel Energieverbrauch, zu viel Arbeitsaufwand. Auch wenn den Zeitgenossen das moderne Vokabular der Prinzipal-Agenten-Theorie noch nicht zur Verfügung stand, verstanden sie doch sehr wohl die ökonomischen Zusammenhänge. Friedrich Elfert resümierte im Jahr 1942 in seiner Monographie zum nationalsozialistischen Preisrecht: „Reine Selbstkostenverträge [...] waren von jeher misslich, weil sie zur Unsparsamkeit des Unternehmens führen können. [...] Wenn der Gewinn in einem v.H. Satz auf den Lohn oder die Gesamtkosten berechnet wird, kommt es oft zu ungerechtfertigten Gewinnen; denn verantwortungslose Unternehmer sind dann an hohen Kosten interessiert, weil ihr Gewinn mit ihnen steigt.“215 Da der nationalsozialistische Staat aber seinerseits kaum Möglichkeit besaß, das Anstrengungsniveau der privaten Unternehmer direkt und mit vertretbarem Aufwand zu beobachten 214
215
Zu Moral hazard in der Krankenversicherung der Bergleute im 19. Jahrhundert vgl. Timothy W. Guinnane und Jochen Streb (2011): Moral Hazard in a Mutual Health-Insurance System: German Knappschaften, 1867–1914, in: Journal of Economic History 71, S. 70–104. Friedrich W. Elfert (1942): Preisrecht und Preisordnung, Leipzig, S. 98.
166
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
und müßige Auftragnehmer zu erhöhten Anstrengungen aufzufordern, ist zu vermuten, dass der staatliche Auftraggeber auch im Falle der Verwendung von Selbstkostenpreisen erhebliche Schwierigkeiten hatte, sein Ziel der Ausgabenminimierung bei öffentlichen Aufträgen zu verwirklichen. Unabhängig davon, ob die Abnahmepreise schon vor Produktionsbeginn oder erst nach Fertigstellung festgelegt wurden, waren sie infolge der asymmetrischen Informationsverteilung höher als diejenigen Preise, die der nationalsozialistische Staat hätte durchsetzen können, wenn er sowohl die Produktionstechnologie des Unternehmens als auch die persönlichen Anstrengungen des Unternehmers genau hätte beobachten können. Aus diesen Gründen setzte die staatliche Verwaltung zunehmend auf Festpreise. Der grundsätzliche Vorteil von Festpreisen gegenüber Selbstkostenpreisen bestand darin, dass diese die Unternehmer zu permanenten Kosteneinsparungen aufgrund der hiermit verbundenen Gewinnmöglichkeiten motivierten und dadurch, wenn auch nicht die staatlichen Beschaffungskosten, so doch den volkswirtschaftlichen Ressourcenverzehr minimierten. Da hier der echte Engpass lag – Geld konnte man drucken – zog man im Dritten Reich Festpreisverträge zunehmend Selbstkostenpreisverträgen vor. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Nationalsozialisten im Mai 1942 einen auch noch aus heutiger theoretischer Perspektive innovativ anmutenden Mechanismus für die Auftragsvergabe bei standardisierten Massengütern entwickelten, durch den einerseits der Vorteil von Festpreisen, Moral hazard zu verhindern, erhalten, und andererseits ihr Nachteil, Adverse selection zu begünstigen, weitgehend vermieden wurde. Hierzu bot man den Produzenten eines bestimmten Standardguts ein Menü von zwei oder mehr unterschiedlichen Festpreisverträgen (Gruppenpreisverträgen) zur Auswahl an. Um sicherzustellen, dass die effizienten Unternehmen ihre tatsächlichen Kosten der staatlichen Beschaffungsbehörde offenbarten und einen niedrigen Gruppenpreis wählten, versah man im Vertragsmenü die Verträge mit den niedrigen Gruppenpreisen mit besonderen Vorteilen und die Verträge mit den höheren Gruppenpreisen mit besonderen Nachteilen für die Unternehmer. In der Regel wurden zwei bis drei Gruppenpreise für ein Standardgut festgelegt. Bei drei Gruppenpreisen (Gruppenpreis I < Gruppenpreis II < Gruppenpreis III) konnte das angebotene Vertragsmenü beispielsweise die durch Abbildung 7.2 dargestellte Ausgestaltung besitzen. Ein Unternehmer, der zu allen drei Gruppenpreisen kostendeckend produzieren konnte, musste folgende Abwägung durchführen: Der Vorteil des hohen Gruppenpreises III, der unter sonst gleichen Bedingungen den höchsten Gewinn ermöglichte, wurde mit den Nachteilen einer staatlichen Überwachung und einer unsicheren zukünftigen Absatzlage erkauft. Der Rüstungsunternehmer zog daher Gruppenpreis II Gruppenpreis III immer dann vor, wenn seiner Einschätzung nach der Wegfall der Nachteile des Gruppenpreises III die Verringerung des Gewinns zumindest aufwog. Die Auswahl des niedrigen Gruppenpreises I erschien dementsprechend immer dann angezeigt, wenn dessen besondere Vorteile höher geschätzt wurden als der entgangene Gewinn.
7.2 Prinzipal-Agenten-Probleme
167
Gruppenpreis I (niedrigster Preis): Vorteil: Es erfolgt eine Befreiung von der kriegsbedingten Gewinnabführungspflicht. Vorteil: Der Festpreis wird nicht wie die Gruppenpreise II und III schon nach einem halben Jahr, sondern erst nach einem Jahr gesenkt. Vorteil: Die Unternehmen dieser Preisgruppe werden bevorzugt mit Arbeitskräften und Maschinen versorgt. Gruppenpreis II (mittlerer Preis): Es gibt keine besonderen Vor- oder Nachteile. Gruppenpreis III (höchster Preis): Nachteil: Es erfolgt eine regelmäßige Kostenüberwachung durch die staatlichen Kontrollbehörden. Nachteil: Bei einem Rückgang der staatlichen Nachfrage werden den Unternehmen dieser Preisgruppe die staatlichen Aufträge zuerst entzogen. Abbildung 7.2:
Beispiel für das Menü eines Gruppenpreisvertrages im Jahr 1942
Quelle:
Jochen Streb und Sabine Streb (1998): Optimale Beschaffungsverträge bei asymmetrischer Informationsverteilung. Zur Erklärung des nationalsozialistischen „Rüstungswunders“ während des Zweiten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 118, S. 288f.
Diese besondere Ausgestaltung des Menüs von Gruppenpreisen führte zumindest tendenziell dazu, dass die Unternehmer den niedrigsten jeweils kostendeckenden Gruppenpreis wählten und verringerte damit das aus der asymmetrischen Informationsverteilung resultierende Adverse-selection-Problem. Da außerdem im Gegensatz zu den Selbstkostenverträgen die Unternehmer bei den Gruppenpreisverträgen über die durch Kosteneinsparungen herbeigeführten zusätzlichen Gewinne – zumindest nach Steuern – vollständig verfügen konnten, wurden starke Anreize zur Leistungssteigerung der Unternehmer gesetzt und das Moral-hazardProblem weitgehend behoben. Allerdings muss einschränkend festgestellt werden, dass das Verfahren der Gruppenpreismenüs nur bei standardisierten Massengütern wie etwa Munition funktionierte, nicht jedoch bei individuellen Bauprojekten oder neuen und komplexen Rüstungsgütern. Bei der Analyse der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft ist zusätzlich ein zweites Prinzipal-Agenten-Problem zu beachten, das zwischen Unternehmensleitung (Prinzipal) und Arbeitskraft (Agent). Unternehmerische Produktionsvorgaben trafen gegebenenfalls auf den Widerstand der Arbeitskräfte, die als Mitglieder der Organisationsform „Unternehmen“ eigene Ziele verfolgten, die nicht mit den Interessen ihres Prinzipals übereinstimmen mussten. So beobachtete man im Bauwesen, dass Bauarbeiter bei Gewährung eines reinen Zeitlohns nicht an einer Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität, sondern ganz im Gegenteil vorrangig an einer Reduktion ihrer persönlichen Arbeitsleistung interessiert waren. Das Parteimitglied Paul Harpe führte auf einer Arbeitstagung der Fachgruppe Bauwesen im November 1942 hierzu aus: „Beim Zeitlohn, der eine bestimmte Zeiteinheit (die Stunde) entlohnte, wurde lediglich die Anwesenheit am Arbeitsplatz bezahlt. Ob nun der schaffende Mensch fleißig oder faul war, wirkte sich auf die Lohnhöhe überhaupt nicht aus. Oft musste der tüchtige Arbeiter zusehen, dass er im Zeitlohn bei fleißiger Arbeit genau das gleiche verdiente, wie der normal-leistungsfähige Arbeiter. Die Folge war, dass auch bei ihm sehr oft der Arbeitseifer nachließ.“216 216
Zitiert nach Jochen Streb (2003): Das Scheitern der staatlichen Preisregulierung in der nationalsozialistischen Bauwirtschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 27–48, hier S. 33.
168
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Die Unternehmer waren natürlich daran interessiert, für die Auszahlung einer bestimmten Lohnsumme eine möglichst hohe Arbeitsleistung ihrer Mitarbeiter zu erhalten. Diesen Interessenkonflikt konnte ein Unternehmer zu seinen Gunsten entscheiden, wenn er vollständig informiert, das heißt dazu in der Lage war, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer bestimmten Produktionsleistung und dem individuellen Arbeitseinsatz eines bestimmten Arbeitnehmers herzustellen. In diesem Fall war es nämlich möglich, die individuelle Lohnzahlung nicht als Zeitlohn, sondern als Akkordlohn in Abhängigkeit von der persönlichen Produktivität des einzelnen Arbeiters festzusetzen und ihn hierdurch zur optimalen Arbeitsleistung anzuregen. In vielen Wirtschaftszweigen wurden Produktionsleistungen jedoch in Gruppen mehrerer Arbeiter mit unterschiedlichen Funktionen erbracht, so dass es für den Unternehmer sehr schwierig zu beurteilen war, welchen individuellen Beitrag ein Gruppenmitglied zur Erstellung eines bestimmten Produkts geleistet hatte und welcher individuelle Akkordlohn deshalb gerechtfertigt war. Wurde der Akkordlohn wegen der Unmöglichkeit individueller Leistungskontrolle statt dessen auf Basis der kollektiven Leistung berechnet, besaß das einzelne Gruppenmitglied ähnlich wie beim Zeitlohn einen erheblichen Anreiz, seinen individuellen Arbeitseinsatz zu senken, weil die Verringerung der persönlichen Anstrengung nur dem müßigen Individuum zu Gute kam, während der Akkordlohnrückgang der Gruppe gleichmäßig auf die fleißigen und weniger fleißigen Mitglieder verteilt wurde. Die fleißigen Arbeiter standen angesichts der gruppeninternen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft vor der Wahl, entweder durch Ausübung von sozialem Druck die müßigen Gruppenmitglieder zu einer höheren Leistung zu motivieren oder ihre persönlichen Anstrengungen ebenfalls zu reduzieren. Ebenso wenig wie die privaten Unternehmen war der nationalsozialistische Staat ein monolithisches Gebilde mit einheitlicher Zielsetzung, sondern vielmehr eine äußerst komplexe Organisation, innerhalb derer Kompetenzüberschneidungen, Informationsasymmetrien und Zielkonflikte zwischen den Entscheidungsträgern der verschiedenen Ministerien, Behörden und Parteiapparate zu vielfältigen Prinzipal-Agenten-Beziehungen führten.217 Hier von besonderer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen der nationalsozialistischen Regierung,218 welche die Ziele und Instrumente der öffentlichen Auftragsvergabe bestimmte, und den untergeordneten staatlichen Verwaltungsorganen, die für die Verwirklichung dieser politischen Vorgaben verantwortlich waren und deshalb mit entsprechenden Kontroll- und Lenkungsfunktionen ausgestattet wurden. Ähnlich wie im Verhältnis zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern ist auch in der Beziehung zwischen der nationalsozialistischen Regierung und den Mitarbeitern der unter217
218
Zur „Polykratie“ des Dritten Reichs vgl. Peter Hüttenberger (1976): Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft 2, S. 417–442; Ian Kershaw (2000): Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, 2. Aufl., München; Michael v. Prollius (2003): Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933–1939. Steuerung durch emergente Organisation und politische Prozesse, Paderborn; Oliver Volckart (2005): Wirtschaftspolitik und bürokratischer Wettbewerb im „Dritten Reich“, 1933–1939, in: Thomas Eger (Hg.): Erfolg und Versagen von Institutionen, Berlin, S. 93–112. Der Begriff „nationalsozialistische Regierung“ steht stellvertretend für den jeweils relevanten Entscheidungsträger im nationalsozialistischen Führungsapparat. Es wird hierdurch nicht unterstellt, dass innerhalb der Gruppe der regierenden Nationalsozialisten Einigkeit herrschte und konsistente Entscheidungen getroffen wurden.
7.2 Prinzipal-Agenten-Probleme
169
geordneten Verwaltungen davon auszugehen, dass der Prinzipal nicht dazu in der Lage war, genau zu beobachten, ob seine Agenten die von ihm übertragenen Aufgaben in seinem Sinn erfüllten. Diese asymmetrische Informationsverteilung eröffnete den Verwaltungskräften Handlungsspielräume, die sie zur Verwirklichung eigener Ziele nutzen konnten. Dabei ist in Analogie zur Zielfunktion der abhängig beschäftigten Arbeiter auch für die Mitglieder der staatlichen Verwaltung anzunehmen, dass diese bestrebt waren, die unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen optimale Kombination zwischen möglichst hohen monetären Einnahmen und möglichst geringer persönlicher Anstrengung zu realisieren. Die Verwirklichung dieser Zielsetzung konnte gegebenenfalls bedeuten, die aufgetragenen Kontroll- und Lenkungsfunktionen zu vernachlässigen und sich mit den privaten Unternehmern gegen die nationalsozialistische Regierung zu verbünden. Die Möglichkeit zum Entstehen einer Interessenharmonie zwischen privaten Unternehmern und staatlicher Verwaltung zu Lasten der nationalsozialistischen Regierung ergab sich aus dem Umstand, dass die Verwaltungsorgane zwar über die Angemessenheit von Preisen zu urteilen hatten, aber nicht die Kosten ihrer Entscheidung tragen mussten und deshalb keinen unmittelbaren Anreiz besaßen, im Sinne der nationalsozialistischen Regierung möglichst niedrige Preise durchzusetzen. Vielmehr ist eher zu erwarten, dass hohe Preisforderungen und/oder unzureichende Produktqualitäten ohne große behördliche Gegenwehr akzeptiert wurden, da eine genaue Überprüfung der von den Unternehmern angegebenen Produktionskosten erhebliche persönliche Anstrengungen des Kontrolleurs erfordert hätten. Überdies war es für den Unternehmer möglich, durch Bestechung der Verwaltung eine Entscheidung zu seinen Gunsten zu forcieren.219 Der Begriff der Bestechung umfasst dabei nicht nur die ungesetzliche und deshalb für alle Beteiligten mit Risiken verbundene unmittelbare Leistung monetärer Zahlungen zur Erhöhung der aktuellen Einnahmen des Verwaltungsmitglieds, sondern auch die grundsätzlich legale Lösung, dem Verwaltungsangestellten eine zukünftige Beschäftigung im kontrollierten Unternehmen in Aussicht zu stellen. Diese zweite, weitaus elegantere Form der Bestechung besaß für den Kontrolleur insbesondere dann erhebliche Attraktivität, wenn die Entlohnung in der öffentlichen Verwaltung vergleichsweise niedrig und sein derzeitiges Beschäftigungsverhältnis befristet oder unsicher war. Tatsächlich war auch nach der im Jahr 1942 geäußerten Meinung des Polizeipräsidenten von Berlin ein Fehlverhalten insbesondere derjenigen Preisprüfer zu erwarten, „die sich ohnehin nur für die Dauer des Krieges in der Preisüberwachung betätigen wollen oder in Ungewissheit darüber leben, ob sie selbst, wenn sie auch im Frieden hier tätig bleiben wollten, nach Kriegsende aus dem Dienst der Preisüberwachungsstelle entlassen werden. Manche Wirtschaftssachverständige wollen sich daher offensichtlich aus diesen Gründen die Sympathien der freien Wirtschaft nicht zu sehr verderben.“220
219 220
Zur Korruption im Dritten Reich vgl. Frank Bajohr (2001): Parvenüs und Profiteure: Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a.M. Zitiert nach Streb (2003), S. 47.
170
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft PRINZIPAL Staat
PRINZIPAL nationalsozialistische Regierung Ziele: Ausgabenminimierung und Produktivitätssteigerungen Zweites PA-Problem
AGENT staatliche Verwaltung Ziel: Maximierung des Nutzens aus Einnahmen (+) und Leistung (–)
Erstes PA-Problem
AGENT Unternehmen
PRINZIPAL privater Unternehmer Ziel: Maximierung des Nutzens aus Gewinn (+) und Leistung (–)
Drittes PA-Problem
AGENT abhängig beschäftigte Arbeiter Ziel: Maximierung des Nutzens aus Lohn (+) und Leistung (–)
Abbildung 7.3:
Das dreistufige Prinzipal-Agenten-Problem in der nationalsozialistischen Wirtschaft
Anm.:
Eigene Darstellung.
Abbildung 7.3 fasst diese Überlegungen zu den Prinzipal-Agenten-Problemen im Dritten Reich zusammen. Dieses Schema bietet einen strukturierten Einstieg in die Analyse der verschiedenen Facetten der nationalsozialistischen Autarkie- und Rüstungspolitik. Beispielsweise galt die Ausgangshypothese des dritten Prinzipal-Agenten-Problems, dass Arbeiter nicht allein durch hierarchische Anordnung zu einer optimalen Arbeitsleistung angetrieben werden können, grundsätzlich auch für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs. Dies erklärt, warum sich die nationalsozialistische Führung dazu durchringen musste, auch Kriegsgefangene und andere Zwangsarbeiter durch Lohnanreize zu Leistungs-
7.3 Der Aufbau der Rüstungskapazitäten
171
steigerungen zu motivieren. Anlässlich der Einführung von Leistungslöhnen für Kriegsgefangene in der Bauwirtschaft im Juni 1943 führte Rüstungsminister Albert Speer aus: „Der Kriegsgefangene war [bisher] nicht unmittelbar am Ertrag seiner Arbeit beteiligt und entbehrte daher eines Anreizes zur Leistungssteigerung. Nach der Neuregelung wird das Entgelt der Kriegsgefangenen durch die Leistung bestimmt.“221 Wir werden uns in den folgenden Abschnitten des siebten Kapitels insbesondere mit dem ersten und grundlegenden Prinzipal-Agenten-Problem zwischen Staat und Unternehmen im Dritten Reich beschäftigen.
7.3
Der Aufbau der Rüstungskapazitäten
Wir haben bereits in Kapitel 6.1.2 darauf hingewiesen, dass es in der wirtschaftshistorischen Literatur umstritten ist, ob die nationalsozialistische Industriepolitik des Vierjahresplans einen Modernisierungsprozess der deutschen Wirtschaft einleitete, von dem die Bundesrepublik Deutschland dann vor allem im „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre profitierte, oder ob die staatlich induzierten Investitionen eher zum Aufbau unrentabler industrieller Überkapazitäten führten und das Wachstumstempo der westdeutschen Volkswirtschaft daher längerfristig eher bremsten. Beiden Ansichten liegt die Vorstellung von der Pfadabhängigkeit ökonomischer Entwicklung zugrunde. Die Befürworter der Modernisierungsthese vermuten, dass die nationalsozialistische Autarkiepolitik bestimmte unternehmerische Innovationsprozesse in Gang setzte, die die deutsche Industrie auf längere Sicht auf einen höheren technologischen Entwicklungspfad hoben. Die Gegner der Modernisierungsthese sind hingegen der Auffassung, dass sich die deutschen Unternehmen bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf diesem technologisch überlegenen Entwicklungspfad befanden und deshalb in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung durch die nationalsozialistische Autarkiepolitik und die damit verbundene Abkehr vom Welthandel eher gehemmt wurden, so dass sie ihre Innovationen nicht schon in den 1930er und 1940er Jahren, sondern erst ab den 1950er Jahren erfolgreich weltweit vermarkten konnten. So gesehen verzögerte die nationalsozialistische Autarkiepolitik das deutsche „Wirtschaftswunder“ um fünfzehn bis zwanzig Jahre. Eine Parteinahme in dieser wirtschaftshistorischen Debatte ist schwierig, weil man hierzu letztendlich wissen müsste, wie sich die deutschen Unternehmer in der kontrafaktischen Vergleichssituation einer zwischen 1933 und 1949 weiter existierenden Weimarer Republik verhalten hätten, in der sie ihre Investitionen unbeeinflusst von nationalsozialistischen Zielvorgaben und vorwiegend nach eigenem Ermessen hätten planen können. Auf den ersten Blick scheinen Quellen, die die plausible Konstruktion einer solchen hypothetischen Gegenwelt erlauben würden, nicht zu existieren. Jonas Scherner entwickelte die Idee, aus der Ausgestaltung der im Dritten Reich tatsächlich abgeschlossenen Investitionsverträge auf die effektiven Lenkungseffekte der nationalsozialistischen Industriepolitik zurück zu schließen.222 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass die deutschen Privatunternehmen von staatlicher Seite keineswegs mittels hierarchischer Anordnung zur Finanzierung bestimmter Autarkie- und Rüstungsinvestitionen 221 222
Zitiert nach ebda. S. 45. Vgl. Jonas Scherner (2008): Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart.
172
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
gezwungen wurden. Vielmehr konnten sich die Unternehmer staatlichen Investitionsvorgaben sogar gänzlich verweigern oder aber, was eher der Regelfall war, das Risiko der Investition ganz oder teilweise auf den Staat überwälzen. Grundsätzlich standen im Dritten Reich drei verschiedene Formen der Investitionsfinanzierung zur Auswahl. Im Rahmen eines sogenannten Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags übernahm das private Unternehmen die Finanzierung der zusätzlichen Produktionskapazitäten aus eigenen Mitteln und war damit natürlich auch deren Eigentümer. Im Gegenzug gewährte der Staat dem investitionswilligen Unternehmen für eine vorab vereinbarte Zeitspanne Preisund Absatzgarantien für eine bestimmte Menge der in der neuen Fabrik erzeugten Güter. Dabei deckten die Preisgarantien nicht nur alle anfallenden variablen Produktionskosten, sondern beinhalteten auch eine fünfprozentige Verzinsung des vom Unternehmen eingesetzten Anlagekapitals. Diesem Vorteil, das Investitionsrisiko auf den Staat übertragen zu haben, stand aus Sicht der Unternehmen auch ein nicht zu unterschätzender Nachteil gegenüber. Im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags mussten sie nämlich dem nationalsozialistischen Staat umfangreiche Kontroll- und Mitspracherechte einräumen, wodurch sie ihre Informationsvorteile bei der Aushandlung der Produktpreise verloren und ihr unternehmerischer Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt wurde. Erst nach Ablauf der Vertragsfrist konnte das Unternehmen wieder frei über die Produktionsanlagen verfügen und nunmehr vollständig auf eigenes Risiko weiter betreiben. Wollte der Unternehmer den Einfluss des nationalsozialistischen Staats auf die eigene Unternehmensführung verringern, bot sich als Alternative ein Risikoteilungsvertrag an, bei dessen Gültigkeit der Staat nur einen bestimmten Anteil des gesamten Investitionsrisikos übernahm. Beispielsweise wurden beim Aufbau der seit 1935 gegründeten regionalen Zellwollewerke, deren Produktion die Importbaumwolle auf Grundlage einheimischer Rohstoffe ersetzen sollte, zwei Drittel der Investitionssumme von einem Bankenkonsortium in Form eines staatlich garantierten Kredits bereitgestellt.223 Das verbleibende Drittel der Investitionssumme mussten die an den Zellwollewerken beteiligten Unternehmen auf eigenes Risiko finanzieren. Preis- und Absatzgarantien wurden im Rahmen von Risikoteilungsverträgen meistens nicht gewährt; dafür konnte ein Unternehmen die vertraglichen Vereinbarungen, einschließlich der wiederum vorgesehenen staatlichen Mitsprache- und Kontrollrechte, aber auch jederzeit aufkündigen. Somit bot der Risikoteilungsvertrag einem Unternehmer im Vergleich zum Wirtschaftlichkeitsgarantievertrag einen höheren Handlungsspielraum zum Preis eines erhöhten Investitionsrisikos. Beide Vertragsformen hatten gemeinsam, dass das Privateigentum an den neu errichteten Produktionsanlagen beim Unternehmer verblieb. Dies war bei der dritten Möglichkeit zur Finanzierung der staatlich geplanten Investitionsprojekte, den Pachtverträgen, nicht der Fall. Hier finanzierte der Staat den Aufbau der Produktionsanlagen vollständig aus öffentlichen Mitteln, war damit deren Eigentümer und verpachtete diese dann für eine bestimmte Laufzeit an private Betreiberunternehmen. Als Pachtsumme war zwischen der Hälfte und zwei Drittel des Betriebsgewinns an den Staat abzuführen. Der dem Unternehmen verbleibende Gewinn diente als Kompensation für die Bereitstellung von unternehmerischem und technologischem Know-how. Nach Ablauf der Pachtperiode besaß das Betreiberunternehmen keine weiteren Ansprüche auf die bisher genutzten Anlagen.
223
Vgl. Scherner (2008), S. 177.
7.3 Der Aufbau der Rüstungskapazitäten
173
erwarteter Gewinn
Risikoteilungsvertrag
•
•Wirtschaftlichkeitsgarantievertrag • Pachtvertrag
erwartetes Risiko Abbildung 7.4:
Trade-off zwischen erwartetem Gewinn und erwartetem Risiko verschiedener Vertragstypen
Anm.:
Eigene Darstellung.
Angesichts dieser drei grundsätzlichen Vertragsalternativen mit jeweils zahlreichen Untervarianten war die konkrete Ausgestaltung eines Investitionsvertrages zwischen Staat und Unternehmen im Dritten Reich das Ergebnis eines komplexen Abwägungs- und Aushandlungsprozesses, der von den Unternehmen maßgeblich mitbestimmt wurde. Im Vergleich der drei Vertragstypen ergibt sich ein geradezu klassischer Trade-off zwischen erwartetem Gewinn und erwartetem Risiko (Abb. 7.4). Aus Sicht der Unternehmensleitung stellte sich somit ein Entscheidungsproblem, das man mit einem Entscheidungsbaum veranschaulichen kann (Abb. 7.5). Abbildungen 7.4 und 7.5 verdeutlichen, dass die Vertragspräferenzen der Unternehmer der Autarkie- und Rüstungsindustrie insbesondere von ihren kurz- und langfristigen Erwartungen über die Rentabilität und das Risiko eines geplanten Investitionsprojekts bestimmt wurden. Augenscheinlich war die Mehrzahl der deutschen Unternehmer in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre der Auffassung, dass das nationalsozialistische Regime auf längere Sicht die Autarkiephase beenden und zu einem „normalen“ marktwirtschaftlichen System mit freiem Außenhandel zurückkehren würde. Beispielsweise waren die Manager des entstehenden (staatlichen!) Volkswagenwerks kurz vor und sogar noch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorrangig damit beschäftigt, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vermarktung eines zivilen Volkswagens im In- und Ausland zu schaffen.224 224
Vgl. Hans Mommsen und Manfred Grieger (1997): Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, 3. Aufl., Düsseldorf, S. 335, 405. Vgl. auch Jonas Scherner (2008a): Investment Contracts between State Agencies and Industry in the Third Reich, in: Christoph Buchheim (Hg.): German Industry in the Nazi Period, Stuttgart, S. 117–131, hier S. 122f.
174
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Langfristige Rentabilitätserwartung (nach Rückkehr zu „normalen“ marktwirtschaftlichen Verhältnissen)
Positiv
Negativ
Kurzfristige Rentabilitätserwartung
(während der Autarkiephase) Positiv
Negativ
Risikoteilungsvertrag
WirtschaftlichkeitsGarantievertrag
Pachtvertrag
Werk im Privateigentum – Synthesefasern – Synthesekautschuk
Werk im Privateigentum – Synthesebenzin
Werk im Staatseigentum – Kupferminen – Rüstungsfabriken
Abbildung 7.5:
Vertragspräferenzen der Autarkie- und Rüstungsunternehmen bei unterschiedlichen Investitionsprojekten
Anm.:
Eigene Darstellung.
Auf Grundlage solcher Erwartungen erschien ein Investitionsprojekt in einer Autarkiebranche langfristig nur dann rentabel und das Risiko wert, wenn es auch in einem zukünftigen Wettbewerb mit ausländischen Rohstoff- und Endproduktlieferanten positive Renditen erwarten ließ. Auf kurze Sicht gingen die Unternehmer hingegen von der Fortexistenz einer vom Außenhandel weitgehend isolierten deutschen Volkswirtschaft aus. In diesem Zeitraum mochte ein Investitionsprojekt auch ohne staatliche Preis- und Absatzgarantien den Unternehmern rentabel erscheinen, sofern sie im Inland mit einer ausreichend hohen und vor allem auch anhaltenden privaten und staatlichen Nachfrage nach den in den neuen Anlagen erzeugten Produkten rechneten. Aufbauend auf diesen betriebswirtschaftlichen Überlegungen geht Scherner davon aus, dass die deutschen Unternehmer im Falle von sowohl kurz- als auch langfristig positiv beurteilten Investitionsprojekten bestrebt waren, das Eigentum an den neuen Anlagen zu erwerben und den Staat soweit als möglich aus der Unternehmensführung heraus zu halten, und deshalb für
7.3 Der Aufbau der Rüstungskapazitäten
175
einen Risikoteilungsvertrag oder gar für die vollständige Übernahme des Investitionsrisikos optierten. Somit weist diese Vertragswahl nach Auffassung von Scherner darauf hin, dass der betreffende Unternehmer die Investitionen in ähnlichem Umfang auch in der kontrafaktischen Vergleichssituation einer weiter existierenden Weimarer Republik gemäß seiner eigenen positiven Zukunftserwartungen durchgeführt hätte. Als Beleg für diese These führt er unter anderem an, dass der Aufbau der Baumwollimporte substituierenden Chemiefaserkapazitäten weitgehend auf eigenes Risiko der Privatwirtschaft erfolgte und gemessen an der Entwicklung in anderen Industrieländern wohl in fast gleichem Umfang auch ohne Einflussnahme der Nationalsozialisten erfolgt wäre. Tatsächlich steigerten die beiden privatwirtschaftlichen Chemiefaserproduzenten I.G. Farben und Vereinigte Glanzstoff-Fabriken ihre Chemiefaserproduktion von 28.055 Tonnen im Jahr 1929 auf 117.728 Tonnen im Jahr 1937. Im Vergleich hierzu hätte die Produktion im Jahr 1937 gemessen an zeitgenössischen Schätzungen zu den Absatzmöglichkeiten von Chemiefasern unter „Normalbedingungen“ im Jahr 1937 zwischen 94.000 und 123.000 Tonnen, gemessen an der gleichzeitigen Absatzentwicklung in den USA und Großbritannien zwischen 85.800 und 100.320 Tonnen betragen müssen.225 In diesem Fall bauten also die I.G. Farben und die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft ihre Produktion ungefähr in dem Maße aus, wie sie es in normalen Zeiten wahrscheinlich ohnehin getan hätten. 226 Zu einer anderen Entscheidung gelangte der Chemiekonzern I.G. Farben in der Frage der Hydrierung von Treibstoff aus der heimischen Braunkohle. Bereits im Jahr 1924 hatte sich das I.G. Farben-Vorgängerunternehmen BASF unter Führung von Carl Bosch dazu entschlossen, das auf dem technologischen Pfad der Hochdrucksynthesen (Ammoniak 1913, Methanol 1923) angesammelte Wissen auch zur Suche nach einem Verfahren zur Gewinnung von synthetischem Benzin einzusetzen. Ziel war es, Braunkohle in Verbindung mit Wasserstoff in einem Hochdruckreaktor in verschiedene Kohlenwasserstoffe aufzuspalten. Im Jahr 1926 waren die entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten soweit fortgeschritten, dass man immerhin den Aufbau einer industriellen Versuchsanlage in Leuna im heutigen Sachsen-Anhalt beschloss. Aufgrund des niedrigen und ständig weiter fallenden Weltmarktpreises von Erdöl am Ende der Weimarer Republik schien die industrielle Braunkohlehydrierung aber zumindest kurzfristig keine positiven Gewinne abzuwerfen. Deshalb bedurfte es staatlicher Preis- und Absatzgarantien im Rahmen eines Wirtschaftlichkeitsgarantievertrages, um die I.G. Farben bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Dezember 1933 dazu zu überreden, über das Stadium von Pilotanlagen hinaus zu gehen und in Leuna eine große Fabrik zur Treibstoffsynthese zu errichten. Während der Verhandlungen über den Investitionsvertrag achteten die privatwirtschaftlichen Entscheidungsträger sorgfältig darauf, dass das Eigentum an dieser Fabrik bei den I.G. Farben verblieb, da man zu diesem Zeitpunkt damit rechnete, dass die globalen Erdölreserven innerhalb weniger Jahrzehnte erschöpft sein würden und sich die Braunkohlehydrierung daher langfristig als äußerst profitabel erweisen würde.
225
226
Vgl. Jonas Scherner (2002): Zwischen Staat und Markt. Die deutsche halbsynthetische Chemiefaserindustrie in den 1930er Jahren, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89, S. 427–448, hier S. 444. Zu den Investitionsverträgen im Bereich des Synthesekautschuks vgl. Jochen Streb (2002): Technologiepolitik im Zweiten Weltkrieg. Die staatliche Förderung der Synthesekautschukproduktion im deutsch-amerikanischen Vergleich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50, S. 367–397.
176
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Zwar hat sich in der Nachkriegszeit diese Einschätzung nicht bestätigt. Gleichwohl waren die langfristigen Erwartungen der I.G. Farben Manager nicht vollständig unbegründet. Dies zeigte sich spätestens während der ersten Ölpreiskrise im Jahr 1974, als sich amerikanische Wissenschaftler angesichts des explodierenden Erdölpreises wieder ernsthaft mit der über vierzig Jahre alten Methode der Braunkohlehydrierung beschäftigten.227 Hinzu kam, dass aus Sicht der I.G. Farben das im Rahmen des Treibstoffprojekts neu zu erwerbende Verfahrenswissen auch bei einem längerfristigen Scheitern dieses Vorhabens nicht wertlos werden würde, sondern gewinnbringend in technologisch benachbarte Gebiete wie zum Beispiel in das Cracken von Erdöl eingebracht werden konnte. Zusammenfassend finanzierten die I.G. Farben also das Hydrierwerk in Leuna mittels eines Wirtschaftlichkeitsgarantievertrages, weil sie hierdurch das kurzfristige Investitionsrisiko vollständig auf den nationalsozialistischen Staat überwälzen und sich gleichwohl das langfristige Eigentum an dieser Anlage sichern konnten. Ein von Scherner genanntes Beispiel für ein Autarkieprojekt, das aufgrund von kurz- und langfristig negativen Rentabilitätserwartungen der Privatunternehmer nur in Form von Pachtverträgen betrieben werden konnte, war der deutsche Kupferbergbau. Nach einer Normalisierung des Welthandels hätte sich der wenig ergiebige Kupferbergbau in Deutschland nicht mehr gelohnt. Deshalb war kein Unternehmen bereit, in diesem Bereich unternehmerische Risiken einzugehen. Große Bedeutung kam den Pachtverträgen auch beim Aufbau von Rüstungskapazitäten seit Mitte der 1930er Jahre zu. Da sich die privaten Unternehmen in aller Regel weigerten, eigene Mittel in zusätzliche Rüstungskapazitäten für einen zukünftigen Mobilisierungsfall zu investieren, wurden diese Anlagen, die oftmals fern ab der westlichen deutschen Außengrenzen und Bevölkerungszentren errichtet wurden, in das von der Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH (Montan) verwaltete System heereseigener Industriebetriebe (HIB) eingebunden.228 Generell verfügte die Montan als Treuhänderin des Reiches über die Betriebsgrundstücke der HIB und finanzierte überdies aus Heeresmitteln den Anlagenbau, der in aller Regel von den privaten Muttergesellschaften wie zum Beispiel den Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, der Robert Bosch GmbH oder der Dynamit Nobel AG mit entsprechendem Know-how durchgeführt wurde. Eigens gegründete Tochtergesellschaften dieser Privatunternehmen pachteten dann Grundstücke und Fabrikationsanlagen von der Montan gegen Zahlung eines variablen Pachtzins. Diese Konstruktion übertrug das Anlagerisiko vollständig auf das Reich und schuf damit oftmals erst die Bereitschaft der privaten Unternehmen, Produktionsanlagen für Rüstung und Autarkie zu betreiben, die sich aus ihrer eigenen längerfristigen Perspektive nur als Fehlinvestitionen in Überkapazitäten darstellten.229 Der Großteil der nationalsozialistischen Autarkie- und Rüstungsprojekte wurde mittels der drei Alternativen Risikoteilungs-, Wirtschaftlichkeitsgarantie- und Pachtvertrag in überwie227 228 229
Vgl. John Gimbel (1990): Science, Technology and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford, S. 73. Vgl. Barbara Hopmann (1996): Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916– 1951, Stuttgart, S. 71–85. Vgl. das Fallbeispiel der heereseigenen Sprengstoffproduzenten Deutsche Sprengchemie in Jonas Scherner und Jochen Streb (2008): Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53, S. 100–122.
7.3 Der Aufbau der Rüstungskapazitäten
177
gend freiwilliger Kooperation zwischen privaten Unternehmen und Staat abgewickelt. Eine berühmte und oft als Beleg für die nationalsozialistische Kommandowirtschaft angeführte Ausnahme ist die Geschichte der staatlichen Hermann-Göring-Werke.230 Angesichts der Vorgaben des Vierjahresplans forderte Göring im Frühjahr 1937 von den deutschen Eisenund Stahlindustriellen im Ruhrgebiet den Ausbau der Verhüttungskapazitäten sowie eine verstärkte Erschließung der einheimischen, vergleichsweise armen Eisenerze, die im Blockadefall als Substitut für die Eisenerzimporte aus Schweden dienen sollten. Die deutsche Schwerindustrie zögerte jedoch, diese Forderungen zu erfüllen, da sie befürchtete, dass sich die zusätzlichen Produktions- und Förderkapazitäten spätestens nach Beendigung des als nur kurz eingeschätzten Rüstungsbooms als Fehlinvestitionen erweisen würden. Schließlich verlangten die Unternehmer Preiserhöhungen von bis zu 50 Prozent, um die notwendigen Zusatzinvestitionen finanzieren zu können. Göring deutete diese privatwirtschaftliche Forderung als implizite Verweigerung und verkündete deshalb am 23. Juli 1937 die Gründung der staatlichen Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten „Hermann Göring“. Vorgesehen waren Erzförderstätten in Baden, der Oberpfalz und in Salzgitter, wo zudem das größte Hüttenwerk Europas entstehen sollte. Zur Finanzierung dieser Pläne wurde das Aktienkapital der Hermann-Göring-Werke im Frühjahr 1938 auf 400 Millionen RM aufgestockt. Das Reich erhielt davon 270 Millionen RM allein stimmberechtigter Aktien, 130 Millionen RM stimmrechtlose Vorzugsaktien mussten die Privatunternehmen übernehmen, davon gingen 75 Prozent an die „Arbeitsgemeinschaft der Eisen-, Stahl- und Metallverarbeitenden Industrie“. Letztere übernahmen damit einen erheblichen Teil der Investitionskosten, besaßen aber keinerlei unternehmerisches Mitspracherecht und wurden stattdessen mit der Aussicht auf die Beteiligung an zukünftigen Gewinnen vertröstet. Die Gründung der Hermann-Göring-Werke sollte trotzdem nicht als kommandowirtschaftliches Oktroi verstanden werden, sondern als erfolgreiche Weigerung der Schwerindustrie, langfristig unrentable Kapazitäten aufzubauen. Der totalitäre Staat war zwar in der Lage, ihnen über die erzwungene Übernahme der Aktien einen Teil der Finanzierung aufzubürden. Darüber hinaus jedoch verweigerte die Privatwirtschaft erfolgreich, unkalkulierbare Risiken einzugehen. In der Folgezeit mutierten die Hermann-Göring-Werke immer mehr zu einer Dachgesellschaft für konfiszierte Unternehmen aus annektierten und eroberten Ländern. Im Jahr 1940 beschäftigte der Konzern 600.000 Menschen und umfasste nahezu alle Produktionsstufen, ausgehend von Kohlengruben und Erzförderstätten bis hin zu Maschinen- und Munitionsfabriken sowie Schifffahrtsgesellschaften. Die ursprünglich angestrebten Autarkieziele wurden hingegen bis Kriegsbeginn bei Weitem nicht erfüllt: So erfolgte im Jahr 1940 erst zwei Prozent der Eisenproduktion des „Altreiches“ in Salzgitter. Zusammenfassend hätten sich die deutschen Unternehmen in Scherners kontrafaktischer Welt einer weiter existierenden Weimarer Republik unter anderem für den Ausbau der organischen Chemie und gegen Erweiterungsinvestitionen in der Eisen- und Stahlindustrie entschieden. Angesichts des Booms der Kunststofferzeugung und -verarbeitung und der Krise der Montanindustrie in der jungen Bundesrepublik Deutschland wären diese Entscheidungen langfristig richtig gewesen. Insoweit ist den Gegnern der Modernisierungsthese zuzustimmen: Die nationalsozialistische Autarkiepolitik war offensichtlich keine notwendige Voraussetzung für die internationalen Markterfolge der bundesdeutschen Unternehmen in den Wirt230
Vgl. Petzina (1968), S. 102–108.
178
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
schaftswunderjahren – im Gegenteil, sie führte zum Auf- und Ausbau unwirtschaftlicher Anlagen in staatlicher Regie. Die Analyse der Vertragsgestaltung zwischen dem nationalsozialistischen Staat und privatwirtschaftlichen Unternehmen hat aus der ex-ante-Perspektive gezeigt, dass die Unternehmen Wahlmöglichkeiten hatten und diese auch nutzten. Nun kann man sich natürlich fragen, wie dies aus der ex post-Perspektive aussieht. Profitierten die Unternehmen tatsächlich von der komplexen nationalsozialistischen Industrie- und Rüstungspolitik? Zur Beantwortung dieser Frage untersuchte Mark Spoerer die Profitabilität von deutschen Industrieaktiengesellschaften im Zeitraum von 1925 bis 1941.231 Er griff dabei nicht auf die nach Handelsrecht erstellten und für Aktiengesellschaften auch zu veröffentlichenden Bilanzen, sondern auf die unveröffentlichten Steuerbilanzen zurück. Diese entstanden in den Unternehmen im Zuge der Veranlagung zur Körperschaftsteuer, und wurden dann von staatlichen Betriebsprüfern sorgfältig analysiert. Nach oft jahrelangen Verhandlungen zwischen Unternehmen und Finanzamt einigte man sich schließlich auf eine endgültige Steuerbilanz, die dann der Steuerveranlagung zugrunde gelegt wurde. Von zeitgenössischen Betriebswirten wurden diese Steuerbilanzen daher als diejenige Erfolgsrechnung betrachtet, die im Gegensatz zu den veröffentlichten Bilanzen noch am ehesten den „echten“ Gewinn widerspiegelte. Spoerer sammelte deshalb alle Steuerbilanzen, die Anfang der 1990er Jahre in öffentlichen Archiven und Unternehmensarchiven einsehbar waren, insgesamt über 700 Bilanzen von knapp über 100 Unternehmen. Mit Hilfe der Bilanzstatistik des Statistischen Reichsamts konstruierte er dann eine geschichtete Stichprobe, die repräsentativ für die Gesamtheit der deutschen Industrieaktiengesellschaften ist. Durch den Vergleich der Steuerbilanzen mit den veröffentlichten Bilanzen konnte er zeigen, dass die deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925 bis 1929 im Aggregat nur Scheingewinne in ihren öffentlichen Bilanzen auswiesen, was die in Kapitel 5.2 vorgestellte These Knut Borchardts einer strukturell schwachen Weimarer Wirtschaft empirisch stützt. Für das Dritte Reich lässt sich in Abbildung 7.6 hingegen geradezu eine Gewinnexplosion beobachten, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1935 bis 1941 hatte, also bereits kurz vor dem Vierjahresplan begann. In diesem Zeitraum lag die Eigenkapitalrendite nach Steuern bei etwa 14 Prozent und damit bei Werten, die Industrieunternehmen vermutlich auch vor dem Ersten Weltkrieg nur in einzelnen Spitzenjahren erreichten und auch nach 1945 nicht erreichten. Eine genauere Analyse der Gewinne zeigt interessanterweise, dass vor allem Unternehmen in rüstungsnahen Branchen noch besser verdienten, während die Gewinnzunahme im Konsumgüterbereich deutlich gedämpfter verlief. Die Gewinnsteigerung war also nicht etwa nur auf einen Niveaueffekt zurückzuführen232, sondern sie ließ sich vor allem in denjenigen Branchen beobachten, die das produzierten, was der nationalsozialistische Staat besonders dringend benötigte.
231 232
Vgl. Spoerer (1996), insb. S. 146–161. Die Eigenkapitalrentabilität errechnet sich als Quotient von Gewinn und Eigenkapital. Letzteres schrumpft in einer Krise, so dass beim Wiederanziehen der Konjunktur schon relativ normale Gewinne zu rechnerisch hohen Eigenkapitalrenditen führen.
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
179
25
EK-Rendite (in %)
20 15
Bergbau & Produktionsgüter Konsumgüter
10 5
1941
1940
1939
1938
1937
1936
1935
1934
1933
1932
1931
1930
1929
1928
1927
-5
1926
0
-10 -15
Abbildung 7.6
Die Eigenkapitalrendite der Aktiengesellschaften des Bergbaus und der Produktionsgüterindustrie im Vergleich zur Konsumgüterindustrie 1925 bis 1941 (in Prozent)
Quelle:
Mark Spoerer (1996): Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart, S. 154.
Was Scherner aus der ex-ante-Perspektive der Prinzipal-Agenten-Theorie beobachtet, findet bei Spoerer aus der ex-post-Perspektive der Bilanzanalyse Bestätigung. Unternehmen, die im Interesse des nationalsozialistischen Staates produzierten, wurden dafür mit hohen Gewinnen belohnt. Da sich die nationalsozialistischen Behörden dieser Gewinnzunahme bewusst waren und nur halbherzige Gegenmaßnahmen ergriffen, lässt sich daraus folgern, dass sie die gute Gewinnlage der Rüstungsindustrie mindestens billigend in Kauf nahm, höchstwahrscheinlich sogar aktiv förderten, um das Innovations- und Produktivitätspotential der Privatunternehmen so weit wie möglich auszunutzen. Sowohl aus der ex-ante- als auch aus der ex-postPerspektive ergibt sich somit ein Bild, das mit der Temin’schen Vorstellung einer nationalsozialistischen Kommandowirtschaft nicht zu vereinbaren ist. Anstatt die Unternehmen direkt zu zwingen, instrumentalisierten die Nationalsozialisten das unternehmerische Gewinnmotiv. Eine Kommandowirtschaft sieht anders aus.
7.4
Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
Wie Abbildung 2.1 zeigt, ging die Produktion im Ersten Weltkrieg stark zurück, und die Menschen in Deutschland hungerten seit dem „Steckrübenwinter“ von 1916/17 – es gab sozusagen weder genug Butter noch Kanonen, wenn man diese Metapher unbedingt beibehalten möchte. Im Zweiten Weltkrieg war dies anders. Die Produktion stieg vielmehr sogar noch über den Wert von 1938 an, einem Jahr, das durch das Heißlaufen der Rüstungskonjunktur und zwangsarbeitsähnliche Arbeitsverhältnisse für kleine Teile der deutschen Bevölkerung (v.a. junge, unverheiratete und schlecht ausgebildete Männer) gekennzeichnet war. Offenbar war man im Zweiten Weltkrieg erfolgreicher. Warum dem so war, ist Gegenstand dieses Kapitels.
180
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Die Geschichte der deutschen Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs kann in eine frühe erfolgreiche und in eine spätere erfolglose Phase unterteilt werden. Das Dritte Reich begann den Zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, den zu beenden die deutsche Wehrmacht nur knapp einen Monat benötigte. Die ähnlich schnellen Siege über Dänemark, Norwegen, die Beneluxstaaten und Frankreich im Jahr 1940 sowie über Jugoslawien und Griechenland im Frühjahr 1941 führten Hitler und seine militärischen Berater zu der Überzeugung, dass es möglich sein könnte, moderne Bewegungskriege als sogenannte „Blitzkriege“ zu führen, die aufgrund ihrer kurzen Dauer nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Waffen und Munition verbrauchten. Folglich war der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 die erste militärische Kampagne der Nationalsozialisten, die im Voraus auch tatsächlich als Blitzkrieg geplant war und bereits bei Einbruch des russischen Winters beendet sein sollte. Adam Tooze erläutert in seiner Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reichs, dass Hitler plante, den Krieg im Osten schnell zu gewinnen und die sowjetischen Industriekapazitäten unter Kontrolle zu bringen, bevor seine westlichen Gegner Großbritannien und die USA ihre eigene Rüstungsindustrie zu voller Leistungsfähigkeit aufgebaut hatten.233 Jedoch gelang es der Roten Armee im Spätherbst 1941, dieses Vorhaben zu vereiteln und die deutsche Wehrmacht kurz vor Moskau zu stoppen. Zusammen mit dem Kriegseintritt der USA brachte dieser militärische Rückschlag die Phase der erfolgreichen Blitzkriege zu einem plötzlichen Ende und machte Hitlers strategischen Albtraum zur Realität. Das Dritte Reich war nun zu einem andauernden und vor allem materialintensiven Zweifrontenkrieg gezwungen, den es aufgrund seiner vergleichsweise geringen Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen auf längere Sicht nicht gewinnen konnte. So war im Jahr 1944 das kombinierte Bruttoinlandsprodukt der Alliierten mehr als dreimal so hoch wie das der Achsenmächte.234 Tatsächlich eroberten die Alliierten zwischen 1942 und 1945 die von deutschen Truppen besetzten Länder und Gebiete Schritt für Schritt zurück. Am 8. Mai 1945 erfolgte schließlich Deutschlands bedingungslose Kapitulation. Zur Überraschung vieler Beobachter in der unmittelbaren Nachkriegszeit verliefen die militärische und die ökonomische Entwicklung des Dritten Reichs während des Zweiten Weltkriegs keineswegs parallel, sondern augenscheinlich eher entgegengesetzt, d.h. die Produktion schien in den militärisch erfolgreichen Jahren zu stagnieren und boomte, als sich die Wehrmacht in der Defensive befand. Abbildung 7.7 zeigt, dass der ursprünglich auf Anordnung von Rüstungsminister Albert Speer erstellte Index der deutschen Rüstungsproduktion sich in der Phase der militärischen Niederlagen zwischen Anfang 1942 und Mitte 1944 mehr als verdreifachte. Diese diskontinuierliche Entwicklung der deutschen Rüstungsproduktion wurde in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten als Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung der nationalsozialistischen Führung gedeutet. Ökonomen und Wirtschaftshistoriker vertraten die Auffassung, dass Hitler bis 1941 die Expansion der deutschen Rüstungsproduktion planmäßig begrenzt habe, um hierdurch die ökonomischen Ressourcen zur Produktion von Konsumgütern freizusetzen, die er benötigte, um sich die Zustimmung der deutschen Bevölkerung zu seiner Politik zu sichern. Möglich gemacht hätte Hitler diese „Friedenswirtschaft im Krieg“ durch den bewussten Einsatz der Blitzkriegsstrategie, die mit einer vergleichsweise 233 234
Vgl. Tooze (2007), S. 362f. Ebda., S. 734f.
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
181
geringen Menge an Waffen, Kriegsgerät und Munition ausgeführt werden konnte und deshalb entsprechend geringe Rüstungskapazitäten beanspruchte. Erst nach den militärischen Fehlschlägen im Kriegswinter 1941/42 hätten die Nationalsozialisten dann einsehen müssen, dass die Blitzkriegsstrategie gescheitert war und die deutsche Rüstungsproduktion durch den Einsatz aller verfügbaren Ressourcen nunmehr erheblich gesteigert werden musste. Einflussreiche Vertreter dieser „Blitzkriegshypothese“ waren insbesondere Burton H. Klein und Alan S. Milward.235 350
300
250
200
150
100
50
0
Der deutsche Rüstungsindex 1942 bis 1945 (1940/41=Jan./Feb. 1942=100)
Quelle:
Rolf Wagenführ (1954): Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin, S. 178, 180.
Jan 45
Nov 44
Sep 44
Jul 44
Mai 44
Mrz 44
Jan 44
Nov 43
Sep 43
Jul 43
Mai 43
Mrz 43
Jan 43
Nov 42
Sep 42
Jul 42
Mai 42
Mrz 42
Jan 42
Abbildung 7.7:
In den 1980er Jahren wurden die Zweifel an der Blitzkriegshypothese jedoch immer lauter. Zum einen war es den Historikern nicht gelungen nachzuweisen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg bereits mit einer ausgefeilten Blitzkriegsstrategie begonnen hatte. Zum anderen belegen die verfügbaren Daten eindeutig, dass die Nationalsozialisten bereits vor und in der frühen Phase des Zweiten Weltkriegs umfangreiche Investitionen zum Auf- und Ausbau der deutschen Rüstungskapazitäten getätigt hatten, was mit dem Bild einer Rüstungsproduktion „auf Sparflamme“ nicht zu vereinbaren war. Die Zurückweisung der Blitzkriegshypothese bedeutete aber gleichzeitig, eine neue Erklärung für das scheinbare Stagnieren der deutschen Rüstungsproduktion vor 1942 zu finden. Aus diesem Grund führten Richard Overy und RolfDieter Müller eine Art Ineffizienzhypothese in die Wirtschaftshistoriographie des Zweiten Weltkriegs ein.236
235 236
Vgl. Klein (1955); Alan S. Milward (1965): The German Economy at War, London. Vgl. Rolf-Dieter Müller (1988): Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs, Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen: 1939–1941, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/1, Stuttgart, S. 347– 689; Richard Overy (1994).
182
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Richard Overy zufolge führte die zeitliche Inkonsistenz zwischen dem früher als erwarteten Kriegsausbruch und dem ursprünglichen Mobilisierungsplan zu einer temporären Konfusion in der deutschen Kriegswirtschaft. Noch unvollendete Rüstungsfabriken konnten die plötzlich benötigten Rüstungsgüter nicht im gewünschten Umfang produzieren und banden zudem durch ihren fortzusetzenden Aufbau Ressourcen, die anderenfalls bereits in der Rüstungserzeugung hätten eingesetzt werden können. Rolf-Dieter Müller vertrat hingegen die Ansicht, dass die rüstungswirtschaftliche Ineffizienz der ersten Kriegsjahre nicht aus dem exogenen Schock des unerwartet frühen Kriegsbeginns resultierte, sondern in der Polykratie des Dritten Reichs endogen, also systemimmanent und damit unvermeidbar angelegt war. Seiner Meinung nach mündete die unklare Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen mit der Rüstungsplanung befassten zivilen und militärischen Behörden zwingend in bürokratischen Machtkämpfen, Fehlsteuerungen und Effizienzverlusten. Overy und Müller teilen die Auffassung, dass der Anstieg der deutschen Rüstungsproduktion seit 1942 in erster Linie dem neuen Rüstungsminister Albert Speer zu verdanken sei, dem insbesondere das Verdienst zukomme, die wesentlichen institutionellen Hindernisse für ein anhaltendes Produktivitätswachstum beiseite geräumt zu haben. Diese Ansicht stützte sich insbesondere auf die Arbeiten des ostdeutschen Wirtschaftshistorikers Dietrich Eichholtz, der beobachtete, dass die Arbeitsproduktivität in der deutschen Rüstungswirtschaft in einer u-förmigen Entwicklung zunächst zwischen 1939 und 1941 sank und ab 1942 wieder anstieg.237 Der Architekt Albert Speer hatte im Februar 1942 als Nachfolger des tödlich verunglückten Fritz Todt die Leitung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition, dem späteren Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, übernommen. Drei Jahre später war es Speer selbst, der die Verdreifachung der Rüstungsproduktion in seiner Amtsperiode anlässlich einer Rede vor Vertretern der rheinisch-westfälischen Industrie als das „Wunder der Rüstung“ bezeichnete.238 Adam Tooze weist explizit darauf hin, dass Speer diesen Mythos des „Rüstungswunders“ sowohl zur Stärkung des Durchhaltewillens der deutschen Bevölkerung als auch zur Festigung seiner eigenen Position in der Nazihierarchie mit entsprechender Propaganda bewusst schuf.239 Sehr anschaulich verdeutlicht wird dieses „Theater der Rüstung“ mit einer zeitgenössischen Fotografie, die Speer zeigt, wie er anhand einer grafischen Darstellung, ähnlich der oben gezeigten Abbildung 7.7, seinen Zuhörern den ungeheuren Erfolg seiner Rüstungspolitik zu verdeutlichen suchte.240 Daher wurde der Begriff des „Rüstungswunders“ von vielen zurück blickenden Historikern, wenn auch in Anführungszeichen gesetzt, für die Beschreibung der Entwicklung der deutschen Rüstungsproduktion seit Beginn des Jahres 1942 übernommen. Die von Speer verkündete Steigerung der Rüstungsproduktion erscheint nicht nur deshalb bemerkenswert, weil dieses Wachstum in einer Phase geschah, in der sich die deutsche Rüs237 238
239 240
Vgl. Dietrich Eichholtz (1984): Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 2: 1941–1943, Berlin, S. 265f. Zitiert nach Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Ursachen des „Rüstungswunders“ in der Luftrüstungs-, Pulver- und Munitionsindustrie während des Zweiten Weltkriegs, in: Andreas Heusler, Mark Spoerer und Helmuth Trischler (Hg): Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“, München, S. 37–61, hier S. 37 Vgl. Tooze (2007), S. 635–639. Ebda., S. XVI (vor S. 465).
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
183
tungsindustrie in zunehmendem Maße Luftangriffen der Alliierten ausgesetzt sah. Nachträgliche Bewunderung241 rief vor allem hervor, dass die Erhöhung der Rüstungsproduktion offensichtlich in erster Linie durch das von Eichholtz hervorgehobene starke Wachstum der Arbeitsproduktivität erklärt werden musste. Die Ökonomen und Historiker gleichermaßen erstaunende und den Begriff des Wunders deshalb scheinbar rechtfertigende Zunahme der Arbeitsproduktivität um über 100 Prozent in nur zweieinhalb Jahren wird von ihnen auf von Rüstungsminister Speer eingeführte bzw. durchgesetzte Rationalisierungsmaßnahmen zurückgeführt.242 Erstens wird angenommen, dass es unter Speer zu einer Reduktion der Typenvielfalt bei den Rüstungsgütern und ihren Vorprodukten gekommen sei, die es den Unternehmen ermöglichte, Vorteile der Massenproduktion auszunutzen. Zweitens wird unterstellt, dass die Häufigkeit kleinerer Modifikationen der einzelnen Waffentypen verringert wurde, was zu erheblichen Einsparungen von Anpassungskosten führte. Drittens sei auch dadurch eine Verstetigung der Produktion herbeigeführt worden, dass die vor 1942 häufigen Programmwechsel reduziert worden seien, nachdem die entsprechende Anordnungskompetenz von militärischen Stellen auf das Rüstungsministerium übergegangen war. Viertens habe das Rüstungsministerium gegen den Widerstand der Wehrmacht durchsetzen können, dass Fertigungsschritte, die die Kampfkraft einer Waffe nicht erhöhten, wie etwa Polieren und Lackieren, nicht mehr durchgeführt wurden – wodurch Einsparungen, insbesondere hinsichtlich der Fertigungszeit, realisiert wurden. Außerdem habe man die produktivsten Unternehmen gezwungen, ihr Fertigungs-Know-how mit ihren Konkurrenten zu teilen. Dazu wurden Ausschüsse und Ringe gegründet, durch deren Tätigkeit den weniger effizienten Firmen die Verfahren der Bestfirmen zur Verfügung gestellt werden sollten. Speer selbst bezeichnete zudem in seinen Memoiren die zunehmende überbetriebliche Arbeitsteilung als eine der wichtigsten Quellen des Rüstungswunders. All diesen Rationalisierungsmaßnahmen ist gemeinsam, dass ihre Umsetzung in den Betrieben tatsächlich Spielräume zur Senkung der Produktionskosten eröffnet hätte. Richard Overy bezweifelt allerdings, dass die Unternehmen diese Möglichkeiten zur innerbetrieblichen Effizienzsteigerung tatsächlich wahrgenommen hätten, wenn es nicht im Jahr 1942 durch den generellen Übergang von Selbstkosten- zu Festpreisverträgen zu einem fundamentalen Wechsel der Anreizstruktur im staatlichen Beschaffungswesen gekommen wäre.243 Erst diese und damit wichtigste institutionelle Reform hätte die ökonomischen Anreize geschaffen, die Kostensenkungspotentiale, welche die oben aufgeführten Rationalisierungsmaßnahmen schufen, tatsächlich auszunutzen. Mehrere aktuelle Studien legen jedoch die Vermutung nahe, dass die Ineffizienzhypothese und die mit dieser untrennbar verbundene positive Evaluation von Speers Fähigkeiten als Rüstungsminister ebenso wie die ältere Blitzkriegshypothese in die Irre führen. Zunächst ist festzuhalten, dass der beiden Erklärungsansätzen letztendlich zugrunde liegende Index der 241 242
243
Vgl. Nicholas Kaldor (1946): The German War Economy, in: Review of Economic Studies 13, S. 33–52, hier S. 48. Vgl. Hans Joachim Weyres-v. Levetzow (1975): Die deutsche Rüstungswirtschaft von 1942 bis zum Ende des Krieges, München, S. 47–49; Overy (1994), S. 356–363; Werner Abelshauser (1998): Germany: Guns, Butter and Economic Miracles, in: Mark Harrison (Hg.): The Economics of World War II: Six Great Powers in International Comparison, Cambridge, S. 122–176. Vgl. Overy (1994), S. 357.
184
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Rüstungsproduktion erhebliche Mängel aufweist. Speers Ministerium entschied sich bewusst dafür, die ersten beiden Monate des Jahres 1942, in denen die deutsche Rüstungsfertigung besonders niedrig war, als Basis für seinen Index zu wählen, um hierdurch die weitere Entwicklung ab März 1942 besonders positiv erscheinen zu lassen. Außerdem wurde durch diese Vorgehensweise erfolgreich verschleiert, dass die deutsche Rüstungsproduktion bereits zwischen 1938 und 1940 kräftig angestiegen war. Ein besonders schwerwiegendes Problem des Rüstungsindexes ist, dass dieser auch das in den besetzten Gebieten produzierte Kriegsgerät umfasste. Insbesondere der Beitrag der Produktion aus Frankreich für das Reich, die teilweise 1941, überwiegend erst 1942 anlief, war nicht unerheblich.244 Folglich führt es zu einer Überschätzung der Rüstungsproduktion, wenn man den Index, wie üblich, auf Deutschland bezieht. Das Ausmaß der vermeintlichen Diskontinuität zwischen den beiden Phasen 1939 bis 1941 und 1942 bis 1944 wird durch diesen simplen, aber in seiner Wirkung über Jahrzehnte hinweg sehr wirkungsvollen Trick deutlich überzeichnet. Hinzu kommt, dass die meisten der oben gepriesenen Rationalisierungsmaßnahmen gar nicht von Speer im Frühjahr 1942 eingeführt wurden. Viele wurden schon deutlich früher und manche erst so spät eingeführt, dass sie auf den Höchststand der Rüstungsproduktion im Sommer 1944 keinen Einfluss mehr haben konnten. Beispielsweise kam es auch noch nach Speers Amtsantritt zu häufigen Programmwechseln in der Rüstungsindustrie. Zudem erfolgte vor Sommer 1944 nur in sehr begrenztem Umfang eine Typenreduzierung in den verschiedenen Branchen der Rüstung. Insbesondere aber waren Festpreisverträge bereits lange vor Speers Amtsantritt in der deutschen Rüstungsindustrie die Regel.245 Adam Tooze gelangte auf Grundlage einer sorgfältigen Neubewertung der verfügbaren makroökonomischen Daten zur Entwicklung der deutschen Investitionen, der Produktion und der Produktivität zwischen 1939 und 1944 zu der Auffassung, dass die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie in der frühen Phase des Krieges wesentlich höher war als bisher von der Wirtschaftshistoriographie angenommen. Er weist deshalb sowohl die Blitzkriegs- als auch die Ineffizienzthese zurück.246 Jonas Scherner und Jochen Streb stützen die von Tooze neu eingeführte Kontinuitätshypothese mit Hilfe bisher unerschlossener mikroökonomischen Daten, die aus einer im Bundesarchiv in Berlin vorhandenen umfangreichen Sammlung von Wirtschaftsprüfungsberichten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG erschlossen werden können. Dieser Bestand des Bundesarchivs umfasst Prüfberichte für eine große Zahl deutscher Rüstungsunternehmen im Dritten Reich. Viele der verfügbaren Akten decken die Periode von 1939 bis 1943 ab. Daten für das Jahr 1944, in dem die maximale Rüstungsproduktion erreicht wurde, sind leider kaum vorhanden, da die Wirtschaftsprüfer in aller Regel mindestens ein Jahr benötigten, um den jährlich anfallenden Prüfbericht abzuschließen, so dass die Prüfberichte für das Jahr 1944 wahrscheinlich nie fertig gestellt wurden. Gleichwohl ist dieser Aktenbestand eine erstklassige Quelle für wirtschafts- und unternehmenshistorische Forschungen zur deutschen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs. Der typische, mehr als einhundert Seiten 244
245 246
Vgl. Jonas Scherner (2012): Der deutsche Importboom während des Zweiten Weltkriegs. Neue Ergebnisse zur Struktur der Ausbeutung des besetzten Europas auf der Grundlage einer Neuschätzung der deutschen Handelsbilanz, in: Historische Zeitschrift 294, S. 79–113. Vgl. Scherner/Streb (2006), S. 172–196. Vgl. Adam Tooze (2005): No Room for Miracles. German Industrial Output in World War II Reassessed, in: Geschichte und Gesellschaft 31, S. 437–464.
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
185
umfassende jährliche Prüfbericht über ein Rüstungsunternehmen enthält nämlich nicht nur eine ausführliche Diskussion der handelsrechtlichen Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung – deren Quellenwert für ökonomische Aussagen ja durchaus fragwürdig ist247 –, sondern überdies detaillierte Angaben über produzierte Mengen, Umsatz, Produktionskosten, Arbeitskräfteentwicklung und getätigte Investitionen. Gerade die Darstellung der Investitionen ist besonders wertvoll, da sie in den veröffentlichten Bilanzen bei entsprechend guter Gewinnlage viel zu schnell abgeschrieben wurden. Scherner und Streb nutzten die verfügbaren Wirtschaftsprüfungsberichte vorrangig zur Identifizierung der Ursachen der Produktionssteigerungen in der deutschen Rüstungsendfertigung während des Zweiten Weltkriegs. Sie unterschieden hierbei unter anderem zwischen extensivem Wachstum durch Erhöhung der eingesetzten materiellen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und intensivem Wachstum durch Produktivitätssteigerungen infolge von technischem und organisatorischem Fortschritt, Lerneffekten und überbetrieblichen Wissenstransfers. Angesichts der Tatsache, dass der Rüstungsindex mit Flugzeugen, Panzern, Schiffen, Kraftfahrzeugen, Waffen, Munition sowie Pulver und Sprengstoffen Güter unterschiedlichster Qualität und Komplexität umfasst, konnten sie im Rahmen ihrer Wachstumsanalyse nicht davon ausgehen, dass eine übergeordnete ökonomische Erklärung des „Rüstungswunders“ gefunden werden kann, die für alle mit der Rüstungsproduktion befassten deutschen Unternehmen gleichermaßen Gültigkeit besitzt. Es erschien ihnen daher notwendig, Schritt für Schritt die Produktionsbedingungen in den unterschiedlichen Rüstungsbranchen zu untersuchen. Im Folgenden werden die Ergebnisse für Rüstungsunternehmen aus der Luftrüstung diskutiert. Die Luftrüstungsindustrie hatte mit fast 40 Prozent unter allen Rüstungsbranchen den größten Anteil an dem in Abbildung 7.7 dargestellten Rüstungsindex und bestimmte damit auch maßgeblich dessen Entwicklung.248 Eine zentrale Stellung im Produktionsprogramm der Luftrüstungsindustrie nahm wiederum die Erzeugung der von den Junkers Flugzeug- und Motorenwerken entwickelten Modelle Ju 87 und insbesondere Ju 88 ein. Allein von dem meist als Bomber eingesetzten Mehrzweckkampfflugzeug Ju 88 wurden zwischen 1939 und 1944 ca. 14.000 Stück hergestellt. Die Wachstumsfaktoren der mit der Fertigung dieser beiden Flugzeugtypen befassten sieben Unternehmen Junkers, Arado, ATG, HeinkelOranienburg, Mitteldeutsche Motorenwerke, Siebel und Weser werden im Folgenden näher untersucht.
247
248
Vgl. Mark Spoerer (1995): „Wahre Bilanzen!“ Die Steuerbilanz als unternehmenshistorische Quelle, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 40, S. 158–179; ders. (1998): Window-dressing in German Inter-war Balance Sheets, in: Accounting, Business & Financial History 8, S. 351–369. Für die folgenden Ausführungen zur Luftfahrtindustrie vgl. Lutz Budrass, Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Fixed-price Contracts, Learning and Outsourcing: Explaining the Continuous Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review 63, S. 107–136.
186 Tabelle 7.2:
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft Produkte und Wachstumsfaktoren der betrachteten Luftrüstungsfirmen
Unternehmen
Produktionsschwerpunkt
Zeitraum
Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, Dessau
Ju 88, Jumo Motoren
1940–1942
Siebel Flugzeugwerke, Halle
Ju 88 Tragflächen u. Endmontage
1939–1943
74%
53%
7%
22%
Mitteldeutsche Motorenwerke GmbH (Mimo), Leipzig
Jumo Motoren
1938–1943
71%
33%
12%
29%
Weser Flugzeugbau, Bremen
Ju 87
1939–1942
50%
29%
17%
22%
Arado Flugzeugwerke, Potsdam
Ju 88 Tragflächen u. Endmontage
1940–1942
38%
24%
25%
14%
ATG Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft, Leipzig
Ju 88 Endmontage
1940–1942
30%
26%
30%
3%
HeinkelWerke, Oranienburg
Ju 88 Tragflächen u. Endmontage
1941–1943
23%
0%
0%
23%
Quelle:
Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate Reale ArbeitsAnlageArbeitsProduktion produktivität kapital kräfte 87% 70% 18% 17%
Lutz Budrass, Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Fixed-price Contracts, Learning and Outsourcing: Explaining the Continuous Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review 63, S. 117.
Unter realer Produktion ist in Tabelle 7.2 der preisbereinigte Output zu verstehen, also etwa die Anzahl fertiggestellter Ju 88-Flugzeuge oder Flugzeugmotoren. Die Arbeitsproduktivität wird hier gemessen als reale Produktion dividiert durch die Anzahl der Arbeitskräfte. Es zeigt sich, dass das außerordentlich hohe durchschnittliche jährliche Wachstum der Produktionsleistung der betrachteten Luftrüstungsunternehmen zum Teil auch durch einen Anstieg der eingesetzten materiellen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklärt werden muss. Insbesondere jedoch lässt die Zusammenschau der Spalten für das Wachstum der realen Produktion und für das Wachstum der Arbeitsproduktivität einen starken positiven Zusammenhang zwischen diesen beiden ökonomischen Größen vermuten. Unternehmen wie Junkers, Siebel und die Mitteldeutschen Motorenwerke, deren Arbeitsproduktivität besonders stark anstieg, waren deshalb auch in der Lage, ihre reale Produktion deutlich zu erhöhen. Hingegen wiesen Unternehmen wie ATG und insbesondere Heinkel mit vergleichsweise schwachem Wachstum der Arbeitsproduktivität auch nur ein relativ geringes Wachstum ihrer realen Produktion auf. Der Blick auf die zeitliche Entwicklung der benötigten Arbeitszeit pro fertig gestelltem Flugzeug Ju 88 in Schaubild 7.8 verdeutlicht darüber hinaus, dass es – passend zu den Zweifeln
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
187
an der Existenz eines plötzlichen „Rüstungswunders“ ab Februar 1942 – bereits lange vor diesem Termin zu einer erheblichen und vor allem kontinuierlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität bei der Fertigung der Ju 88 gekommen ist. Die deutliche Senkung der durchschnittlichen Arbeitszeit von 100.000 Stunden pro Ju 88 im Oktober 1939 auf nur wenig mehr als 15.000 im August 1941 (und 7.000 im September 1943) war dem Reichsluftfahrtministerium nicht nur bekannt, sondern wurde von diesem im Rahmen seiner Output- und Arbeitskräftebedarfsprojektionen sogar erwartet. Als erstes Zwischenfazit ist somit festzuhalten, dass zumindest im Junkersprogramm das hohe Wachstum der realen Produktion während des Zweiten Weltkriegs in erster Linie durch ein ähnlich starkes Wachstum der Arbeitsproduktivität hervorgerufen wurde – und zwar auch schon, wie oben gezeigt, lange vor dem Amtsantritt Speers. Auf welchen Ursachen beruhte nun dieses Wachstum der Arbeitsproduktivität?
Arbeitsstunden
100000
Aug 41
Jul 41
Jun 41
Apr 41
Mai 41
Mrz 41
Feb 41
Jan 41
Dez 40
Nov 40
Okt 40
Aug 40
Sep 40
Jul 40
Jun 40
Apr 40
Mai 40
Mrz 40
Feb 40
Jan 40
Dez 39
Nov 39
Okt 39
Aug 39
Sep 39
10000
Abbildung 7.8:
Durchschnittliche Arbeitszeit pro Ju 88 (ATG, Junkers, Siebel) in Stunden, August 1939 bis August 1941, log-linear
Quelle:
Lutz Budrass, Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Fixed-price Contracts, Learning and Outsourcing: Explaining the Continuous Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review 63, S. 129.
Zur Identifizierung und späteren Quantifizierung der potentiellen Determinanten des beobachtbaren Anstiegs der Arbeitsproduktivität greifen wir auf die aus Kapitel 6.2.2 bereits bekannte Methode des Growth accounting zurück. An Stelle des Produktionsfaktors Boden berücksichtigen wir hier aber die Vorleistungen (V), die beispielsweise in Form von Kurbelwellen oder Kolben in die Produktion der Flugmotoren oder in Form von Fahrgestellen und Leitwerken in den Zellenbau eingehen. Wird auf beiden Seiten der Bestimmungsgleichung
188
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
der Wachstumsrate der Gesamtfaktorproduktivität die Wachstumsrate des Produktionsfaktors Arbeit subtrahiert, resultiert:249 wY w A w F (w K w A ) (wV w A )
Diese Gleichung verdeutlicht in Wachstumsraten, dass ein Anstieg der Arbeitsproduktivität (Y/A) bzw. ihrer Wachstumsrate (wY-wA) in einem Rüstungsunternehmen durch eine Erhöhung des betrieblichen Effizienzniveaus (F), durch einen Anstieg der Kapitalintensität (K/A) oder durch einen Anstieg der Vorleistungsintensität (V/A) herbeigeführt werden kann. Insbesondere zerlegt die Gleichung die Auswirkungen einer Investition in Maschinen verbesserter Leistungsfähigkeit in einen Mengen- (ß·(wK-wA)) und einen Fortschrittseffekt (wF). Dieser Sachverhalt kann anhand von Abbildung 7.9 verdeutlicht werden. Sie zeigt die in der Mikroökonomik übliche Darstellung von Produktionstechnologien durch zweidimensionale Isoquanten.250 Jede Isoquante verdeutlicht graphisch, durch welche Kombinationen der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital bei vorgegebenem Effizienzniveau (und bei unveränderten Vorleistungen) eine konstante Produktionsleistung Yc erbracht werden kann. In unten stehendem Beispiel sind Isoquanten für ein niedriges und für ein hohes Effizienzniveau (F0 bzw. F1) dargestellt. Die Isoquante für das hohe Effizienzniveau Yc(F1) liegt unterhalb der Isoquante für das niedrige Effizienzniveau Yc(F0), da nach der Effizienzerhöhung vergleichsweise weniger Produktionsfaktoren zur Erzeugung der vorgegebenen konstanten Produktionsmenge Yc benötigt werden. Technischer Fortschritt führt also in Abbildung 7.9 zu einer Verschiebung der Isoquanten nach links unten. In der Ausgangssituation ersetze ein Luftrüstungsunternehmen Arbeitskräfte durch den erhöhten Einsatz von Maschinen der ursprünglichen Leistungsfähigkeit. Dieser Substitutionsprozess von Arbeit durch Kapital entspricht einer Bewegung auf der Isoquante Yc(F0) vom alten Faktoreinsatzverhältnis (a0, k0) zur neuen Faktormengenkombination (a1, k1). Obwohl sich das Effizienzniveau des Unternehmens im Zuge dieser Erhöhung der Kapitalintensität der Produktion nicht verändert hat, erhöht sich die gemessene Arbeitsproduktivität von (Yc/a0) auf (Yc/a1) – und die Kapitalproduktivität geht von (Yc/k0) auf (Yc/k1) zurück. Aus diesem Grund ist es generell nicht ratsam, in wirtschafts- oder unternehmenshistorischen Studien durch eine isolierte Betrachtung der Arbeitsproduktivität auf die Entwicklung des technischen Fortschritts zu schließen – es stehen hier ja einfach nur für weniger Arbeiter mehr Maschinen zur Verfügung. Nehmen wir jetzt an, dass das Luftrüstungsunternehmen Arbeitskräfte durch die Anschaffung technologisch fortschrittlicherer Maschinen freisetzt und sich somit von Punkt (a0, k0) auf der Isoquante für das niedrige Effizienzniveau zu Punkt (a2, k1) auf der Isoquante für das hohe Effizienzniveau bewegt. Der daraus resultierende Anstieg der Arbeitsproduktivität kann in einen Mengeneffekt (von (Yc/a0) auf (Yc/a1)) und einen Fortschrittseffekt (von (Yc/a1) auf (Yc/a2)) zerlegt werden. Eine Steigerung der Arbeitsproduktivität kann gleichzeitig aus mehr und aus besseren Maschinen, das heißt aus Mechanisierung und technischem Fortschritt resultieren.
249 250
Zur Umrechnung nutzen wir den Umstand, dass annahmegemäß α = 1 – β – γ gilt. Vgl. Varian (1999), S. 297–299. Zu Abbildung 7.9 vgl. auch Atack/Passell (1994), S. 204.
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
189
Arbeit
a0 mehr Maschinen
Yc(F0)
a1 bessere Maschinen
Yc(F1)
a2
k0 Abbildung 7.9:
Mehr oder bessere Maschinen?
Anm.:
Eigene Darstellung.
k1
Kapital
Welche der drei potentiellen Einflussgrößen Gesamtfaktorproduktivität (F), Kapitalintensität (K/A) und Vorleistungsintensität (V/A) verursachte die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den betrachteten Luftrüstungsfirmen während des Zweiten Weltkriegs? In den Wirtschaftsprüfungsberichten finden sich fast alle zur Berechnung benötigten Informationen. Ein größeres Problem ergibt sich nur bei der Kalkulation der Entwicklung der realen Vorleistungen, denn ein Preisindex für die Vorleistungen (V), die von den betrachteten Unternehmen verbraucht wurden, kann aufgrund fehlender Angaben in den Wirtschaftsprüfungsberichten nicht berechnet werden. Stattdessen können lediglich Schätzungen für eine Obergrenze (Fall 1) und für eine Untergrenze (Fall 2) der Preisentwicklung der Vorleistungen vorgenommen werden. Bei der Obergrenze (Fall 1) wird unterstellt, dass die Vorleistungspreise im Zeitablauf unverändert blieben und nicht wie die Preise der Produkte der Luftrüstungsunternehmen kontinuierlich sanken. Auf Grundlage dieser Annahme eines konstanten Preisindexes der Vorleistungsgüter errechnen sich vergleichsweise geringe Wachstumsraten des realen Vorleistungsinputs (nominale Vorleistungen dividiert durch Preisindex der Vorleistungen) und damit der Vorleistungsintensität (reale Vorleistungen dividiert durch Arbeitseinsatz). Wenn, wovon auszugehen ist, im Betrachtungszeitraum die nicht dokumentierten Preise der Vorleistungsgüter gleichwohl gesunken sind und hierdurch eigentlich eine Steigerung des tatsächlichen realen Vorleistungseinsatzes und damit der Produktion bewirkten, wird dieser Produktionseffekt unter den Annahmen von Fall 1 indirekt durch eine Erhöhung der Residualgröße Gesamtfaktorproduktivität erfasst, deren Wachstumsrate wegen der Annahme konstanter
190
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Vorleistungspreise überschätzt wird. Die Untergrenze (Fall 2) geht im Gegensatz zu Fall 1 davon aus, dass die Vorleistungspreise eines jeden Unternehmens mit dem gleichen Prozentsatz wie die Preise der von diesem Unternehmen hergestellten Endprodukte sanken. Somit weist Fall 2 in der Wachstumsanalyse den Produktionseffekt von (möglicherweise) erfolgten Preissenkungen bei den Vorleistungsgütern direkt dem Wachstumsfaktor Vorleistungsintensität zu. Hieraus ergeben sich vergleichsweise hohe Wachstumsraten des realen Vorleistungsinputs und der Vorleistungsintensität und folglich eine geringere Steigerung der Gesamtfaktorproduktivität. Da es Hinweise darauf gibt, dass auch die Vorleistungsproduzenten ihre Produktionseffizienz während des Zweiten Weltkriegs steigern konnten, diese Effizienzsteigerungen aufgrund der geringeren Komplexität vieler Vorleistungsgüter aber weniger stark ausfielen als bei den Endprodukten der Flugzeugindustrie, kann wohl davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Preissenkungen bei den Vorleistungsgütern und damit auch die Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität und der Vorleistungsintensität zwischen den hier geschätzten Ober- und Untergrenzen lagen. Die Auswertung dieser von den Prüfungsberichten bereitgestellten Informationen führte zu den in Tabelle 7.3 gezeigten Ergebnissen. Tabelle 7.3:
Ursachen für die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Luftrüstungsindustrie (in jährlichen Wachstumsraten)
Firma
Arbeitsproduktivität
Junkers Siebel Mimo Weser ATG Arado Heinkel
69,9% 52,3% 33,1% 28,7% 26,4% 23,5% 0,3%
Gesamtfaktorproduktivität Minimum Maximum (Fall 2) (Fall 1) 11,9% 43,2% 12,9% 36,4% 7,7% 20,6% 7,9% 12,1% –2,8% 6,4% 7,3% 15,3% –4,9% 4,4%
Kapitalintensität 0,0% –1,8% –2,1% –1,2% 5,8% 1,5% –2,3%
Vorleistungsintensität Minimum Maximum (Fall 1) (Fall 2) 27,2% 58,4% 17,4% 41,4% 15,6% 28,2% 16,6% 22,2% 14,2% 22,7% 6,5% 14,6% –2,3% 6,5%
Anm.:
Die Summe der Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität und der mit ihren Produktionselastizitäten gewichteten Kapital- und Vorleistungsintensitäten (β und γ) ergeben aufgrund von Rundungsfehlern nicht immer exakt den entsprechenden Wert der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität. Zeiträume wie in Tab. 7.2.
Quelle:
Lutz Budrass, Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Fixed-price Contracts, Learning and Outsourcing: Explaining the Continuous Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review 63, S. 124.
Tabelle 7.3 verdeutlicht, dass das Wachstum der Arbeitsproduktivität der untersuchten sieben Luftrüstungsfirmen im Allgemeinen nicht durch eine Erhöhung der Kapitalintensität erklärt werden kann. Außerdem weisen – bis auf ATG und Heinkel-Oranienburg – alle betrachteten Firmen hohe Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität auf. Dieses Produktivitätswachstum ist insbesondere auf Lerneffekte (vgl. Abb. 7.8) zurückzuführen, die als Konzept dem Reichsluftfahrtministerium in den 1930er Jahren bereits bekannt waren, in den Wirtschaftswissenschaften aber erst im Jahr 1963 von Armen Alchian eingeführt wurden.251 Im 251
Vgl. Armen A. Alchian (1963): Reliability of Progress Curves in Airframe Production, in: Econometrica 31, S. 679–693.
7.4 Das „Rüstungswunder“ im Zweiten Weltkrieg
191
Verlauf steigender Stückzahlen sammelten sowohl die Manager als auch die Arbeiter der Luftfahrtunternehmen in den komplexen Produktionsprozessen des Flugzeugbaus beständig neue Erfahrungen und übten deshalb ihre Tätigkeiten umso effizienter aus, je öfter sie diese bereits zuvor durchgeführt hatten. Drittens – und überraschend – spielte für das Wachstum der Arbeitsproduktivität die Steigerung der Vorleistungsintensität durch Outsourcing eine entscheidende Rolle: Standardisierte Komponenten wie Fahrgestelle oder Landeklappen, die zunächst von den Luftfahrtunternehmen selbst hergestellt worden waren, wurden im Verlauf des Krieges in zunehmendem Maße von der Zulieferindustrie produziert und einbaufertig an die Luftfahrtunternehmen geliefert. Dieser Ausbau der überbetrieblichen Arbeitsteilung erlaubte jeweils allen beteiligten Unternehmen die Realisierung von Vorteilen der Massenproduktion durch Spezialisierung – ähnlich wie Albert Speer es in seinen Erinnerungen auch behauptet hat. Wie Tabelle 7.4 zeigt, war allerdings zumindest im Bereich der Luftrüstung der Ausbau der Arbeitsteilung zwischen Flugzeugbauern und Lieferanten zu dem Zeitpunkt, als Speer Rüstungsminister wurde, bereits weitgehend abgeschlossen. Tabelle 7.4: Jahr 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 Quelle:
Outsourcing: Anteil des Vorleistungsaufwands an den Gesamtkosten Junkers
Siebel
56% 63% 71% 79% 88%
47% 53% 66% 63% 69% 72%
Mimo 21% 47% 58% 64% 66% 68% 72%
Weser 36% 34% 41% 47% 43% 54%
ATG
Heinkel
Arado
52% 59% 58% 62% 63% 71%
62% 67% 64% 66% 68%
52% 53% 51% 55%
Lutz Budrass, Jonas Scherner und Jochen Streb (2010): Fixed-price Contracts, Learning and Outsourcing: Explaining the Continuous Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review 63, S. 133.
Für die Luftrüstungsindustrie lässt sich also festhalten, dass bereits vor der Amtsübernahme Speers eine erhebliche Steigerung der Produktion und auch der Arbeitsproduktivität festzustellen ist. Letztere resultierte vor allem aus lange vor seiner Zeit betriebenen Outsourcing und entsprechender Spezialisierung. Scherner und Streb zeigen auch für Beispiele aus der Sprengstoff- und Munitionserzeugung, dass das Produktionswachstum in der deutschen Kriegswirtschaft zu einem großen Anteil auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität zurückzuführen ist.252 Diese fußte auf mehreren Ursachen, welche je nach Branche in unterschiedlicher Intensität eine Rolle spielten: erstens auf Lerneffekten, deren Umfang von der Komplexität der Rüstungsgüter abhing und die überdies durch Arbeitskräftefluktuation infolge von Auftragsschwankungen massiv beeinflusst werden konnten, zweitens auf der Erhöhung der Kapitalintensität und drittens auf der Senkung der Fertigungstiefe. Zusammenfassend begann der starke Anstieg der Arbeitsproduktivität auf Unternehmensebene nicht wie von Speer und Wagenführ immer wieder während und nach dem Zweiten Weltkrieg suggeriert erst im Jahr 1942, sondern lange vor dem „Rüstungswunder“ und ist daher 252
Vgl. Scherner/Streb (2010).
192
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
nicht exklusiv und auch nicht überwiegend der besonderen Leistungsfähigkeit des neuen Rüstungsministers zuzuschreiben. Vielmehr kam Albert Speer wohl eher der historische Zufall insoweit zu Passe, als der extensive Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie erst und gerade zu seinem Amtsantritt weitgehend abgeschlossen war, so dass es oberflächlich betrachtet so schien, als ob der durch die Kapazitätserweiterung und die in den gerade aufgebauten oder umgestellten Werken anhaltenden Lerneffekte herbeigeführte Produktionsanstieg seinem Organisationsgeschick zu verdanken war.
7.5
Geschäft und Moral im Nationalsozialismus
In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns in erster Linie aus einer funktionalen Perspektive mit der Wirtschaft im Nationalsozialismus auseinandergesetzt, d.h. wir haben bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen daraufhin untersucht, welche wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen sie hatten. Eine Reihe dieser Maßnahmen wäre in einer heutigen demokratischen Marktwirtschaft kaum denkbar, insbesondere der Abbau individueller Freiheitsrechte oder die Zerschlagung der Gewerkschaften. Angesichts der sozioökonomischen Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise und beeinflusst durch die nationalsozialistische Propaganda empfanden dies offenbar viele Menschen damals nicht zwingend als Unrecht – wenn der autoritäre Staat die Menschen in Arbeit und Brot brachte, so mochte man ihm einiges nachsehen. In Bezug auf ihre normative oder, wenn man so will, moralische Qualität kommt jedoch zwei Themenkomplexen eine besondere Rolle zu. Die sogenannte Arisierung jüdischer Unternehmen und Immobilien in den 1930er Jahren und der massenhafte Einsatz von Zwangsarbeitern unter oft kaum erträglichen Bedingungen im Zweiten Weltkrieg hatte einen so offensichtlichen Unrechtscharakter, dass er von vielen Zeitgenossen thematisiert wurde, wenn natürlich auch fast nie offen. Deswegen sind es auch nicht von ungefähr gerade diese beiden Themenkomplexe (aus dem Bereich der Wirtschaft), die nach dem Krieg zu einer entsprechenden Entschädigungsgesetzgebung führten.253 Gemäß den nationalsozialistischen Rassevorstellungen waren Juden254 Fremdkörper in der „Volksgemeinschaft“. Nach der Machtübertragung an Hitler Ende Januar 1933 ging die neue Reichsregierung sofort daran, Juden aus dem Staatsdienst, aber auch aus der Wirtschaft zu entfernen bzw. zu verdrängen. Wie die historische Forschung gezeigt hat, war dies keineswegs ein Prozess, der top down von Berlin aus durchgesetzt wurde. Vielmehr fanden sich auf lokaler Ebene Parteifunktionäre, Verwaltungsbeamte und Geschäftsleute in Interessenkoalitionen zusammen, die oft die jüdischen Inhaber zur Geschäftsaufgabe oder zum Hausverkauf 253
254
Vgl. Constantin Goschler und Philipp Ther (Hg.) (2003): Raub und Restitution. „Arisierung“ und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt a.M.; Constantin Goschler u.a. (Hg.) (2012): Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihre Partnerorganisationen, Bd. 1: Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung?, Göttingen. Vgl. auch Christiane Fritsche (2013): Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt. Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim, Heidelberg u.a. Als jüdisch galt, wer jüdische Vorfahren hatte. Es spielte also keine Rolle, ob man den jüdischen Glauben praktizierte oder ihm auch nur anhing. Die rechtliche Fixierung, wer als Jude zu gelten hatte, fand in den Nürnberger Gesetzen von September 1935 ihre endgültige Form.
7.5 Geschäft und Moral im Nationalsozialismus
193
drängten oder zwangen, noch ehe die gesetzlichen Grundlagen in Berlin geschaffen worden waren. Erst nach dem im November 1937 erfolgten Rücktritt des in dieser Hinsicht gemäßigten Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schachts schuf das Reich klare gesetzliche Grundlagen zur Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsprozess.255 Beim Verkauf eines Geschäfts spielen zwei Hauptkomponenten eine Rolle. Zum einen sind dies die veräußerbaren Gegenstände wie Mobilien (z.B. Warenvorräte) und Immobilien (z.B. Geschäfts- oder Lagerhäuser), deren Marktwert sich normalerweise über die Preise recht zuverlässig eruieren lässt. Zum anderen ist dies der sogenannte „Goodwill“, in dem sich alles zusammenfassen lässt, was den Gesamtwert des Geschäftes abzüglich des bereits eruierten Marktwerts der Immobilien und Mobilien ausmacht. Bei einem gut eingeführten Geschäft mit tadellosem Ruf und großer Stammkundschaft kann der Goodwill sogar höher sein als der Marktwert der Immobilien und Mobilien. Seine Bewertung hängt ganz erheblich davon ab, wie gut die Geschäftsaussichten, also die erwarteten Gewinne sind. Ohne in die Details der Arisierung zu gehen kann man sagen, dass den jüdischen Inhabern bestenfalls der Marktwert der Immobilien und Mobilien gezahlt werden sollte, nicht aber der Goodwill. Das Perfide daran war, dass man den Goodwill durch entsprechende Aktionen nach unten drücken konnte: Durch Beeinflussung oder Bedrängung der Kunden, Streuung von Gerüchten oder Boykott („Kauft nicht bei Juden!“) konnten interessierte Kreise den jüdischen Inhaber zum Aufgeben drängen. Ab 1938 durfte dann der Goodwill auch offiziell nicht mehr gezahlt werden. Kaum ein jüdischer Geschäftsinhaber oder Hausbesitzer dürfte nach 1933 einen Verkaufswert erzielt haben, der dem Wert des Objekts zu normalen Zeiten entsprach. Wollte der ehemalige Inhaber nach dem Verkauf Deutschland verlassen, so musste er die „Reichsfluchtsteuer“ zahlen, die im Zuge der Devisenbewirtschaftung im Dezember 1931 eingeführt und seit Mai 1934 mehrfach von der NS-Regierung drastisch verschärft worden war. Nach Abführung der Reichfluchtsteuer und unter Berücksichtigung anderer devisenrechtlicher Vorschriften verblieb dem ehemaligen Inhaber im Normalfall ein Betrag, der deutlich unter 10 Prozent des ursprünglichen Geschäftswerts gelegen haben dürfte. Die Reichsfluchtsteuer und die anderen devisenrechtlichen Vorschriften musste auch auf andere Vermögensbestandteile abgeführt werden, so dass selbst ehemals wohlhabende Familien fast mittellos im Ausland ankamen.256 Die Arisierung bot nichtjüdischen Deutschen ungeahnte geschäftliche Chancen. Oftmals verdrängten nichtjüdische Teilhaber oder leitende Angestellte ihre jüdischen Mitteilhaber bzw. Chefs und übernahmen das Geschäft komplett selbst. Altgediente Parteimitglieder – eine niedrige Parteimitgliedsnummer war nach dem 30. Januar 1933 geradezu ein geldwerter Vorteil – sahen in einer Arisierung die Möglichkeit, sich ihr langjähriges Engagement honorieren zu lassen. Die größten Profiteure waren jedoch alteingesessene Unternehmen, die in der Arisierung eine einmalige Chance sahen, langjährige Konkurrenzunternehmen preiswert aufzukaufen. 255
256
Vgl. grundlegend Frank Bajohr (1997): „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg. Seine im Prinzip ablehnende Haltung gegenüber der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben hinderte Hjalmar Schacht allerdings nicht, selbst einen erheblichen Teil seines Vermögens in eine arisierte Münchner Kunsthandlung zu investieren, vgl. Kopper (2007), S. 289–293. Vgl. z.B. Britta Bopf (2004): „Arisierung“ in Köln. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933–1945, Köln, S. 166–170.
194
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Nicht jeder „arische“ Unternehmer war allerdings willens, sich an der Arisierung zu bereichern. Vielmehr sahen viele eine Arisierung als nicht vereinbar mit dem (ungeschriebenen) Verhaltenskodex des anständigen Kaufmanns. Im Verlaufe der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erodierten diese Skrupel allerdings. Unternehmer, die anfangs anständig geblieben waren, mussten zusehen, wie sich weniger skrupulöse Konkurrenten an ehemals jüdischem Vermögen bereicherten. Zudem darf man annehmen, dass die auch medial inszenierte Verdrängung und Verfolgung der Juden einen Gewöhnungsprozess in Gang setzte, der die Hemmschwellen senkte.257 In vielen Fällen kam es vor, dass jüdische Unternehmer versuchten, an nichtjüdische Geschäftsfreunde zu verkaufen. Solchen Transaktionen, die aus Sicht des Regimes Scheingeschäfte waren, versuchte es durch entsprechende gesetzliche Maßnahmen einen Riegel vorzuschieben. Neben dem bereits erwähnten Verbot, den Goodwill zu zahlen, war dabei besonders wirksam, dass jede Transaktion von staatlich bestellten Gutachtern oder Treuhändern geprüft werden musste. Dadurch war es schwierig – aber nicht immer unmöglich –, einen fairen Kaufpreis auf legale Art zu erzielen.258 Ein Unternehmer, der sich an die außer Mode geratenen Verhaltensregeln des anständigen Kaufmanns halten wollte, hatte im Prinzip nur drei Möglichkeiten: Er konnte erstens versuchen, den jüdischen Verkäufer durch überhöhte Bewertung des Vermögens für den Verlust des Goodwills und anderer ihm eigentlich zustehender Zahlungen zu kompensieren. Zweitens war es zumindest denkbar, den Differenzbetrag zwischen dem fairen Kaufpreis und dem offiziellen Preis illegal an den jüdischen Verkäufer zu transferieren. Drittens schließlich blieb die Option, einfach nicht an Arisierungen teilzunehmen. Es ist schließlich kein Fall bekannt, in dem einem Unternehmer im Dritten Reich eine Arisierung aufgezwungen wurde. Warum auch – es gab schließlich genug Interessenten, die sich legal an der Ausplünderung der Juden beteiligen und sich dabei bereichern wollten. Mit der territorialen Ausweitung des deutschen Machtbereichs seit 1938 boten sich dafür bald auch noch ganz neue Möglichkeiten im bisherigen Ausland.259 Die Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft hatte nicht zu unterschätzende kurz- und langfristige wirtschaftliche Folgen. Aufgrund der jahrhundertelangen Erfahrung mit Diskriminierung und Verfolgung hatten die Juden eine Tendenz, mehr in Human- als in Sachkapital zu investieren – Wissen, Bildung und Know-how ist weitgehend im eigenen Körper gebunden (mit Ausnahme von Manuskripten, Patentrechten etc.) und somit hochmobil, Sachkapital kann man schnell verlieren. Die Betätigung in der Land257
258 259
Vgl. Dieter Ziegler (2010): Erosion der Kaufmannsmoral. „Arisierung“, Raub und Expansion, in: Norbert Frei und Tim Schanetzky (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen, S. 156–168. Vgl. Bopf (2004), S. 238–243. Dieser Komplex ist erst in den letzten Jahren stärker erforscht worden. V.a. die deutschen Großbanken, die bis dahin nur unterproportional von der guten Unternehmenskonjunktur hatten profitieren können, bereicherten sich nun selbst im Ausland und/oder verdienten an Übernahmen ihrer industriellen Klientel, vgl. z.B. die Beiträge in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.) (2006): Die Dresdner Bank im Dritten Reich, 4 Bde., München, insb. Bd. 3: Harald Wixforth (2006): Die Expansion der Dresdner Bank in Europa, München; ders. (2012): Die Banken in den abhängigen und besetzten Gebieten Europas 1938–1945: Instrumente deutscher Hegemonie?, in: Christoph Buchheim und Marcel Boldorf (Hg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945, München, S. 185–207.
7.5 Geschäft und Moral im Nationalsozialismus
195
wirtschaft und großen Teilen des produzierenden Gewerbes war Juden ohnehin lange Zeit verboten gewesen, so dass sie sich auf Berufe im Dienstleistungsbereich, etwa dem Handel, dem Gesundheitswesen oder dem Bankwesen konzentrieren mussten. Diese Faktoren verstärkten die kulturell und religiös ohnehin bedingte hohe Affinität der Juden zu Bildung.260 Ihre Vertreibung aus Deutschland führte zu einem Ärztemangel (mit entsprechenden Folgen, vgl. oben Kap. 6.3.2) und zu einem Aderlass bedeutender Wissenschaftler, von dem sich das deutsche Universitätssystem nie mehr erholen sollte.261 In manchen Branchen kam es zu einem völligen Kahlschlag, etwa bei den Privatbanken, von denen etwa die Hälfte in jüdischer Hand gewesen war.262 Götz Aly hat darauf verwiesen, dass ein vom Regime durchaus erwünschter Nebeneffekt der Vertreibung und Deportation der Juden darin bestand, ihr häusliches Vermögen (Möbel, sonstiger Hausrat) der nichtjüdischen Bevölkerung billig zur Verfügung zu stellen.263 Zusammenfassend lässt sich klar sagen, dass – ganz abgesehen von der moralischen Bewertung – die Vertreibung der Juden ökonomisch gesehen ein immenser Verlust für die deutsche Volkswirtschaft war. Für den zweiten hier zu diskutierenden Themenkomplex, die Zwangsarbeit, fällt das Urteil aus ökonomischer Sicht nicht so einfach aus, wie schon die kontroverse Beurteilung der Sklaverei in den nordamerikanischen Südstaaten (vgl. oben Kap. 1.2) erahnen lässt. Wie in Kapitel 6.1 geschildert, erreichte Deutschland spätestens 1936 die Vollbeschäftigung. Die Beschäftigung von Frauen, die gerade erst aus vielen Bereichen des Erwerbslebens („Kampf gegen das Doppelverdienertum“) heraus gedrängt worden war, sollte auch aus ideologischen Gründen nicht zu scharf forciert werden. Da in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre immer noch weit verbreitete Arbeitslosigkeit in vielen Teilen Europas herrschte, fand das Deutsche Reich willige Vertragspartner für Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften.264 1938/39 arbeiteten etwa 436.000 Ausländer im Deutschen Reich und stellten damit etwa 2 Prozent der abhängig Beschäftigten. Die meisten von ihnen kamen aus der Tschechoslowakei, Polen, Österreich und den Niederlanden, später auch aus dem befreundeten faschistischen Italien. Nach Kriegsbeginn, und vor allem nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie in den Weiten der Sowjetunion im Herbst 1941, entzogen die Einberufungen der Wehrmacht der Wirtschaft immer mehr Arbeitskräfte. Daher begannen die deutschen Besatzer mit Ausnahme von Norwegen und Tunesien überall Freiwillige für den „Reichseinsatz“ anzuwerben. In Ost(mittel)europa, v.a. Polen und der Sowjetunion, setzten sie jedoch schon früh auf Zwang. Im Gegensatz zu den inoffiziell sogenannten „Westarbeitern“ aus den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich, die im Prinzip normale deutsche Löhne erhielten, unterlagen die 260 261 262 263 264
Vgl. (mit anderer Nuancierung der Argumente) Maristella Botticini und Zvi Eckstein (2012): The Chosen Few. How Education Shaped Jewish History, 70–1492, Princeton. Vgl. Fabian Waldinger (2012): Bombs, Brains, and Science: The Role of Human and Physical Capital for the Creation of Scientific Knowledge, CAGE Online Working paper 78, Warwick. Vgl. Ingo Köhler (2005): Die „Arisierung“ der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung, München, hier insb. S. 14. Vgl. Götz Aly (2005): Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 3. Aufl., Frankfurt a.M., S. 311–318. Vgl. Christoph Rass (2010): Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn; ders. (2012): Staatsverträge und „Gastarbeiter“ im Migrationsregime des „Dritten Reiches“. Motive, Intentionen und Kontinuitäten, in: Jochen Oltmer (Hg.): Nationalsozialistisches Migrationsregime und „Volksgemeinschaft“, Paderborn, S. 159–183.
196
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
meisten Polen und Sowjetbürger – letztere offiziell als „Ostarbeiter“ – einem eigens für sie geschaffenen Sonder(un)recht. Diese Zwangsarbeiter waren sehr jung: beispielsweise waren mehr als die Hälfte der aus Osteuropa deportierten weiblichen Arbeitskräfte Teenager im Alter zwischen 12 und 22 Jahren. Mit der Berufung des Thüringer Gauleiters Fritz Sauckel zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ im März 1942 verschärften sich die Rekrutierungsmethoden auch in den westlichen Gebieten. Neben diesen ganz überwiegend unfreiwilligen Zivilarbeitern setzte das Deutsche Reich wie schon im Ersten Weltkrieg von Anfang an auch auf den Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen. Dies war nur unter bestimmten Bedingungen völkerrechtskonform, doch das Reich fühlte sich insbesondere bei den Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und nach 1943 aus Italien („italienische Militärinternierte“) nicht an dieses gebunden. Wie bei den Zivilarbeitern lässt sich auch bei den Kriegsgefangenen feststellen, dass die Behandlung grosso modo umso schlechter war, je ärmer das Land war, aus dem die Zwangsarbeiter stammten. Eine Ausnahme bildeten die Zivilarbeiter aus befreundeten oder neutralen Ländern, die im Gegensatz zu den anderen notfalls legal nach Hause zurückkehren konnten und aufgrund dieser ExitOption deutlich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorfanden.265 Die dritte große Gruppe der Zwangsarbeiter waren KZ- und andere Häftlinge, insbesondere sogenannte „Arbeitsjuden“ in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion. Mindestens der Einsatz dieser Gruppe fand unter so offensichtlich menschenverachtenden Bedingungen statt, dass die nationalsozialistischen Machthaber bestrebt waren, ihn vor der deutschen Zivilbevölkerung zu verheimlichen. Der Umfang des Zwangsarbeitereinsatzes war ein Vielfaches größer als der im Ersten Weltkrieg, als insgesamt nur etwa 2,5 Millionen Kriegsgefangene und eine halbe Million ziviler Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.266 Dies veranschaulicht Tabelle 7.5.267 265
266
267
Vgl. hierzu ausführlich Mark Spoerer (2005a): Die soziale Differenzierung der ausländischen Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und Häftlinge im Deutschen Reich, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939–1945: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München, S. 485–576, hier insb. S. 569–576. Vgl. Mark Spoerer (2006): The Mortality of Allied Prisoners of War and Belgian Civilian Deportees in German Custody during World War War I: A Reappraisal of the Effects of Forced Labour, in: Population Studies 60, S. 121–136, hier S. 124. In Tab. 7.5 haben wir abweichend von Wagenführ ab 1940 je 0,7 Mio. ethnische polnische Männer und Frauen aus dem Warthegau, die offiziell in der amtlichen Arbeitseinsatzstatistik „vorläufig“ als Inländer gezählt wurden, von diesen abgezogen und zu den ausländischen Zivilarbeitern addiert. Vgl. zu diesen „Schutzangehörige des Deutschen Reichs“: Beauftragter für den Vierjahresplan/Generallbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (Hg.) (1944): Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Berlin, Nr. 10, S. 4, Fn. 9, Nr. 11/12, S. 28, Fn. 10. Der sich aus dieser Korrektur ergebende Rückgang der Zahl beschäftigter deutscher Frauen von 14,6 auf 13,7 Millionen ist nicht unplausibel. Verheiratete Frauen erhielten bis zu 85 Prozent der vormaligen Löhne ihrer eingezogenen Ehemänner und sahen sich deshalb nicht mehr zur Arbeit gezwungen. Der Flugzeugbauer Arado berichtet beispielsweise, dass im Jahr 1940 75 Prozent seiner Arbeiterinnen ihre Stellung kündigten. Vgl. Budrass/Scherner/Streb (2010), S. 119. Vgl. zum Rückgang der Frauenbeschäftigung 1939/40 allgemein Dörte Winkler (1977): Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg, S. 92; Stefan Bajohr (1979): Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914– 1945, Marburg, S. 251–263.
7.5 Geschäft und Moral im Nationalsozialismus Tabelle 7.5:
Jahr
197
Die Arbeitskräfte im Deutschen Reich (einschließlich Österreich, Sudetenland und Memel-Gebiet) in Millionen Zur Wehrmacht Deutsche Arbeitskräfte Ausländ. Einberufene Zivilarbeiter (kumuliert) Männer Frauen
Mai 1939 Mai 1940 Mai 1941 Mai 1942 Mai 1943 Mai 1944 Sep 1944 Quellen:
1,4 5,7 7,4 9,4 11,2 12,4 13,0
24,5 19,7 18,3 16,2 14,8 13,5 12,8
14,6 13,7 13,4 13,7 14,1 14,1 14,2
0,3 2,6 2,9 4,0 6,1 7,0 7,4
Kriegsgefangene
0,0 1,4 1,5 1,6 1,9 1,5
KZ- u. and. Häftlinge
ca. 0,5
Arbeitskräfte insgesamt
39,4 36,0 36,0 35,4 36,6 36,5 ca. 36,4
Rolf Wagenführ (1954): Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin, S. 139. Rubrik „Ausländer und Kriegsgefangene“ aufgeteilt nach Angaben in: Beauftragter für den Vierjahresplan/Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (Hg.) (1940–1944): Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Berlin. Anzahl der Häftlinge geschätzt.
Neben Rohstoffen und Nahrungsmitteln war der Produktionsfaktor Arbeit der wesentliche Engpassfaktor der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Tabelle 7.5 zeigt, dass während des Zweiten Weltkriegs die Einberufung von über 13 Millionen deutschen Männern weder durch die Beschäftigung deutscher Frauen, noch durch den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte kompensiert werden konnte. Oftmals wird in diesem Zusammenhang das Argument vorgebracht, dass während des Zweiten Weltkriegs die noch vorhandenen Reserven ungenutzter weiblicher Arbeitskraft aufgrund der nationalsozialistischen Ideologie, die für die Frauen das Ideal der Hausfrau und Mutter predigte, nicht mobilisiert worden seien. Dabei wird aber übersehen, dass bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein vergleichsweise hoher Anteil deutscher Frauen erwerbstätig war. So stellten die Frauen im Mai 1939 mit 14,6 Millionen Beschäftigten einen Anteil von 37 Prozent an allen deutschen Beschäftigten, während sich der entsprechende Anteil in Großbritannien zum gleichen Zeitpunkt nur auf 26,4 Prozent belief. Während des Krieges erhöhte sich dieser Prozentsatz in Deutschland auf 53 Prozent, während er in Großbritannien nur 38 Prozent und in den Vereinigten Staaten 36 Prozent erreichte.268 In den ersten Kriegsjahren wurden außerdem wie im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangene vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Zivilarbeiter kamen in immer stärkerem Umfang auch in der Rüstungsindustrie zum Einsatz. So erlaubte es der Einsatz von Ausländern, die Gesamtzahl der Beschäftigten in Landwirtschaft und Industrie wieder auf ihr Vorkriegsniveau zu bringen, während Handwerk und Handel, die von den Nationalsozialisten als kriegsunwichtig eingestuft waren, durch Auskämmaktionen dauerhaft Arbeitskräfte verloren.269
268 269
Vgl. Overy (1994), S. 305. Vgl. Ulrich Herbert (1999): Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs, 2. Aufl., Bonn, S. 314.
198
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Exit and Voice Einer der 1933 aus Deutschland vertriebenen Juden war Otto-Albert Hirschmann (1915– 2012), der in Berlin Volkswirtschaftslehre studierte. Nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten wurde er in erster Linie als Soziologe berühmt. In seinem bedeutendsten Werk, „Exit, voice, and loyalty“, beschreibt er die beiden wichtigsten grundsätzlichen Strategieoptionen, über die man bei Konflikten in sozialen Bindungen verfügt. Hat diese Bindung schon lange funktioniert, so hat man gegenseitiges Vertrauenskapital aufgebaut (Loyalty). Bei Problemen artikuliert man zunächst seinen Unmut (Voice). Führt dies nicht zu einer Verbesserung, so löst man die Bindung (Exit). Zwischen den deutschen Unternehmen und den bei ihnen eingesetzten ausländischen Arbeitern konnte kaum Loyalität aufgebaut werden, da beide Seiten davon ausgehen konnten, dass das Verhältnis nach dem Krieg gelöst würde. Kam der Ausländer aus einem neutralen oder mit Deutschland verbündeten Land, so konnte er das Arbeitsverhältnis beenden – er hatte also die Exit-Option und damit automatisch auch Voice. Zwangsarbeiter hatten keine Exit-Option und daher auch wenig oder, wenn sie den besonders stark diskriminierten Gruppen angehörten (sowjetische Kriegsgefangene, Häftlinge), überhaupt kein Voice.270 Der Ausländereinsatz stand stets im Spannungsfeld von Ideologie und Pragmatismus. Das Sonderunrecht für die Polen und die „Ostarbeiter“ ist Ausdruck eines „Herrschaftskompromisses“ (Ulrich Herbert) zwischen den Ideologen und den Rüstungspragmatikern: Man ließ die unerwünschten Slawen ins Reich, unterwarf sie aber diskriminierenden Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die meisten sowjetischen Kriegsgefangenen ließ die Wehrmacht dagegen zunächst in riesigen Lagern einfach verhungern, ehe Hitler und Göring Ende Oktober 1941 beschlossen, sie systematisch zum Arbeitseinsatz, dann aber unter schlechteren Bedingungen als die anderen Zwangsarbeitergruppen, einzusetzen. Angesichts des immer stärker werdenden Arbeitskräftemangels wurden vor allem ab 1942 auch die KZ-Häftlinge zur Arbeit in der Rüstungsindustrie eingesetzt und ab Frühjahr 1944 sogar die (vorwiegend aus Ungarn deportierten) Juden, die doch eigentlich in den Vernichtungslagern ermordet werden sollten. Bei ihnen und den „Arbeitsjuden“ (Juden, die im Generalgouvernement aus Ghettos oder speziellen Judenarbeitslagern zu Zwangsarbeit herangezogen wurden, ehe sie in die Vernichtungslager kamen) spricht man auch von „Vernichtung durch Arbeit“, d.h. sie wurden bewusst so harten Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt, dass der Tod durch Hunger und Erschöpfung einkalkuliert war. Tabelle 7.6 verdeutlicht die Diskriminierung verschiedener Gruppen ausländischer Arbeitskräfte. Zu Vergleichszwecken zeigt die erste Zeile, dass sich die durchschnittliche Sterblichkeit deutscher Männer im Alter zwischen 20 und 39 Jahren im Jahr 1938 auf 4 Promille belief, mithin in dieser Altersgruppe durchschnittlich 4 von 1.000 deutschen Männern jährlich starben. Die Sterblichkeit von Zivilarbeitern aus einem (zunächst) befreundeten Staat wie Italien war sogar noch etwas niedriger – nur gesunde Männer kamen nach Deutschland. Eine deutlich höhere Sterblichkeit als die westeuropäischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen 270
Vgl. Albert O. Hirschman (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge (Mass.); und zur Anwendung auf Zwangsarbeit im Dritten Reich: Mark Spoerer und Jochen Fleischhacker (2002): Forced Laborers in Nazi Germany: Categories, Numbers, and Survivors, in: Journal of Interdisciplinary History 33, S. 169–204.
7.5 Geschäft und Moral im Nationalsozialismus
199
wiesen die italienischen Kriegsgefangenen auf, weil sie nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Westalliierten Anfang September 1943 als vermeintliche „Verräter“ besonders stark schikaniert wurden. Die Sterblichkeit sowjetischer Kriegsgefangener und KZHäftlinge erreichte mit über 100 Prozent pro Jahr eine völlig andere, erschreckende Größenordnung. Diese Zahl bedeutet, dass die Restlebenserwartung dieser Personengruppen infolge von Mangel, insbesondere Unterernährung, und körperlicher Überlastung durch die Zwangsarbeit durchschnittlich weniger als zwölf Monate betrug. Tabelle 7.6:
Schätzung der jährlichen Sterblichkeit deutscher und verschiedener Gruppen ausländischer Arbeitskräfte (in Promille)
Arbeitskräftegruppe Deutsche 20- bis 39-jährige Männer (1938) Ausländische Zivilarbeiter Dänen Italiener 1938–1942 Niederländer Nichtsowjetische Kriegsgefangene Belgier Briten Franzosen Italiener 1943–1945 Sowjetische Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge Quelle:
Sterblichkeit 4‰ 4‰ 3‰ 10‰ 6‰ 8‰ 8‰ 40‰ >100%
Mark Spoerer (2001): Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Dritten Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart u.a., S. 228f.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sahen sich weder der westdeutsche Staat noch die weiter existierenden westdeutschen Unternehmen moralisch dazu verpflichtet, die überlebenden Zwangsarbeiter für das ihnen zugefügte Unrecht zu entschädigen. Erst die in den Vereinigten Staaten Ende der 1990er Jahre eingereichten Sammelklagen gegen auf dem amerikanischen Markt aktive deutsche Unternehmen wie Daimler-Benz oder Siemens führten schließlich nach langen Verhandlungen im Jahr 2000 zur Errichtung eines von Staat und Unternehmen jeweils zur Hälfte aufzubringenden Entschädigungsfonds, aus dem ein Teil der zu diesem Zeitpunkt noch lebenden zwei bis drei Millionen Zwangsarbeiter eine Wiedergutmachung erhalten sollte. Eine Beteiligung der deutschen Unternehmen an der Finanzierung dieses Entschädigungsfonds erschien vor allem deshalb gerechtfertigt, weil die Kombination aus hohen Gewinnen und niedrigen Löhne der ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen bzw. „Mietgebühren“, die je Tag und KZ-Häftling an die SS entrichtet werden mussten, die Vermutung nahe legte, dass die deutschen Unternehmen im Zweiten Weltkrieg von der Zwangsarbeiterbeschäftigung erheblich profitiert hatten. Ist dieser Schluss gerechtfertigt? Bedeuten niedrigere Löhne aus Sicht eines Unternehmens automatisch höhere Gewinne? Aus ökonomischer Sicht ist diese Frage zu verneinen. Die für ein Unternehmen in diesem Zusammenhang relevante Größe sind nicht die Löhne, sondern die Lohnstückkosten, die sich als Quotient aus dem gezahlten Lohn (zuzüglich Lohnnebenkosten) und der Arbeitsproduktivität eines Beschäftigten errechnen und angeben, was ein Unternehmen an Arbeitskosten aufbringen muss, um eine Einheit seines Erzeugnisses zu produzieren. Wenn ein Unternehmen entweder einen deutschen Arbeiter zu einem bestimm-
200
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
ten Stundenlohn und mit einer bestimmten Arbeitsproduktivität von x Einheiten pro Stunde oder einen KZ-Häftling zu einer halb so hohen Mietgebühr und einer ebenfalls nur halb so hohen Arbeitsproduktivität beschäftigen könnte, so wären die Lohnstückkosten in beiden Fällen gleich und das Unternehmen nach ökonomischen Kriterien zwischen beiden Arbeitskräften indifferent. Eine Zwangsarbeiterbeschäftigung war aus Sicht der Unternehmen nur dann die kostengünstigere Alternative, wenn der damit verbundene relative Rückgang des Lohnes größer war als der relative Rückgang der Arbeitsproduktivität. Dies war häufig nicht der Fall, weil die Unternehmen auf der einen Seite einen Mehraufwand durch Bereitstellung von Unterkünften und Ernährung hatten, bei „Westarbeitern“ teils sogar Trennungszulage zahlen mussten, und auf der anderen Seite die Arbeitsproduktivität eher geringer war als bei vergleichbaren deutschen Arbeitskräften.271 Für einige Zwangsarbeitergruppen gibt es sogar konkrete Größenangaben. Die tatsächlichen Mietgebühren von KZ-Häftlingen betrugen im Dritten Reich nur in etwa die Hälfte des Vergleichslohns eines deutschen Arbeiters. Die Arbeitsproduktivität der KZ-Häftlinge erreichte vielleicht wegen geringerer Motivation, sicherlich aber wegen ihres katastrophalen Gesundheitszustandes und ihrer chronischen Unterernährung ebenfalls maximal 50 Prozent des Vergleichswertes eines gesunden und gut genährten deutschen Arbeiters. Aus Sicht der Unternehmen war deshalb mit der Beschäftigung eines KZ-Häftlings kein Gewinn steigernder Kostenvorteil, sondern oftmals sogar ein Kostennachteil verbunden. Ähnliches galt für die sowjetischen Kriegsgefangenen und, wenn auch aus anderen Gründen, für die normal bezahlten Arbeiter aus den westeuropäischen Staaten. Einen Kostenvorteil erbrachten hingegen Zivilarbeiter aus Osteuropa, insbesondere die Frauen und Mädchen aus der Sowjetunion. Ob die deutschen Unternehmen von der Zwangsarbeit unmittelbar profitierten oder nicht, hing also ganz wesentlich davon ab, um welche Gruppe von Arbeitskräften es sich handelte.272 Unbeschadet dieser Differenzierung geht dieser Vergleich der Lohnstückkosten deutlich am eigentlichen Entscheidungsproblem der deutschen Unternehmen vorbei. Angesichts des Mangels an deutschen Arbeitskräften während des Zweiten Weltkriegs standen diese gar nicht vor der Alternative, einen deutschen Lohnarbeiter oder einen ausländischen Zwangsarbeiter zu beschäftigen, sondern vor der grundlegenderen Entscheidung, ihre Produktion mit Hilfe von Zwangsarbeitern aufrechtzuerhalten oder aber zu reduzieren oder ganz aufzugeben. In fast allen Fällen entschieden sie sich für den Einsatz von Ausländern. Bei Selbstkostenpreisen fiel das Problem höherer Lohnstückkosten ohnehin quasi automatisch auf den Staat zurück. Bei Festpreisen konnten die Unternehmen in den Preisverhandlungen mit den Rüstungsdienststellen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität der Zwangsarbeiter argumentieren und taten dies auch. Wenn sie damit Erfolg hatten, spielte es für ihren Gewinn gar keine Rolle mehr, dass Ausländer „teurer“ waren als Deutsche. Ohne dass dies systematisch untersucht worden wäre, wird man davon ausgehen können, dass der NS-Staat in diesem Punkt nachgiebig gewesen sein dürfte. 271
272
Vgl. Cornelia Rauh-Kühne (2002): Hitler’s Hehler? Unternehmerprofite und Zwangsarbeiterlöhne, in: Historische Zeitschrift 275, S. 1–55; Werner Abelshauser (2002): Rüstungsschmiede der Nation? Der Kruppkonzern im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit 1933 bis 1951, in: Lothar Gall (Hg.): Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin, S. 267–472, hier S. 413–431. Vgl. Mark Spoerer (1999): Profitierten Unternehmen von KZ-Arbeit? Eine kritische Analyse der Literatur, in: Historische Zeitschrift 268, S. 61–95.
7.5 Geschäft und Moral im Nationalsozialismus
201
Dass Unternehmen ausländische Arbeitskräfte beim dafür zuständigen Arbeitsamt anforderten, auch als der Zwangscharakter der Arbeit unübersehbar geworden war, ist nachvollziehbar. Hätte ein Unternehmen aus ethischen Gründen den Einsatz von Zwangsarbeitern abgelehnt, so hätten zum einen die Sicherheitsbehörden kritisch nachgefragt und zum anderen die Rüstungsbehörden mindestens die Betriebsstätten beschlagnahmt und an weniger skrupulöse Konkurrenzunternehmen verpachtet. Uns ist kein einziges größeres Unternehmen des produzierenden Gewerbes bekannt, dass nicht 1944/45 ausländische Arbeitskräfte (und das waren zu diesem Zeitpunkt im luftkriegsgefährdeten Deutschland fast nur noch Zwangsarbeiter) eingesetzt hätte. Insofern macht es sich die Kritik an der Tatsache, dass Unternehmen überhaupt Zwangsarbeiter einsetzten, etwas zu leicht. Zu fragen ist vielmehr, ob sie diese aktiv und zur Verfolgung gewinnträchtiger Aufträge anforderten und vor allem, wie sie die Zwangsarbeiter behandelten. Hier gab es große Spielräume, wie die historische Forschung nachgewiesen hat.273 Beim Einsatz von KZ-Häftlingen liegen die Dinge etwas anders. Um festzustellen, wer für ihren Einsatz in deutschen Unternehmen verantwortlich war, sichtete Ende der 1990er Jahre Mark Spoerer alle damals entsprechend dokumentierten Fälle.274 Aus Sicht der Quellenkritik stellt sich hierbei das methodisch interessante Problem, dass die überlieferten Beispiele kaum eine Zufallsauswahl aus der Grundgesamtheit aller Fälle darstellen werden, sondern wahrscheinlich zugunsten der Unternehmen verzerrt sind. Kein deutsches Unternehmen war oder ist verpflichtet, geschäftliche Unterlagen über die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen hinaus zu archivieren oder gar Dritten zugänglich zu machen. Angesichts der grundlegend geänderten politischen Verhältnisse nach 1945 ist daher zu erwarten, dass Unternehmen vor allem dann ihre Archive öffneten, wenn sie belegen konnten, dass sie nicht auf eigene Initiative hin, sondern nur auf staatlichen Druck zur Beschäftigung von KZ-Häftlingen übergingen. Angesichts dieses vermuteten Selection bias überrascht der Befund, dass trotzdem in zwei Dritteln der 33 von Spoerer untersuchten überlieferten Fälle die Initiative zum Einsatz von KZ-Häftlingen von den Unternehmern ausging. In fünf Fällen lehnten die Unternehmen den Einsatz von KZ-Häftlingen sogar mit Erfolg ab – Widerspruch war also möglich. Nur in einem einzigen Fall sah es so aus, als wäre ein Unternehmen gegen seinen Willen der Einsatz von KZ-Häftlingen aufgedrückt worden. Selbst dies wird mittlerweile von der historischen Forschung in Zweifel gezogen.275 Insofern lässt sich für den Einsatz von KZ-Häftlingen sagen, dass er grundsätzlich auf Initiative oder mit Einverständnis des anfordernden Unternehmens erfolgte. Zwangslagen lassen sich hier nicht erkennen, und insofern sind die verantwortlichen Manager auch nicht von moralischer Verantwortung für ihr Tun freizusprechen. Aufschlussreich ist die Aufteilung der beiden wichtigsten Zwangsarbeitergruppen, ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene, nach Herkunftsland. Tabelle 7.7 verdeutlicht, dass am Stichtag Mitte August 1944 die meisten ausländischen Arbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion kamen. Im nationalsozialistischen System der Ausbeutung Europas hatte der Westen die Güter, der Osten den Produktionsfaktor Arbeit zu liefern. 273 274 275
Vgl. v.a. Herbert (1999), S. 266–270, 331–335, 410f. Vgl. Spoerer (1999). Vgl. Marc Buggeln (2009): Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen, S. 71–74; Joachim Scholtyseck (2011): Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München, S. 638–641.
202
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Tabelle 7.7:
Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene im Deutschen Reich nach Herkunftsland (15. August 1944)
Herkunftsland Polen Sowjetbürger („Ostarbeiter“) Franzosen Italiener „Protektoratsangehörige“ (CZ) Niederländer Belgier Andere Insgesamt
Zivilarbeiter 3.041.278 2.126.753 654.782 158.099 280.273 270.304 203.262 338.666 7.073.417
davon weiblich 1.202.475 1.081.090 40.876 21.892 43.949 21.432 29.382 80.709 2.521.805
Kriegsgefangene 28.316 631.559 599.967 427.238 50.386 192.621 1.930.087
Insgesamt 3.069.594 2.758.312 1.254.749 585.337 280.273 270.304 253.648 531.287 9.003.504
Anm.:
Zahlen für polnische Zivilarbeiter einschließlich „Schutzangehörige des Deutschen Reichs“ (inkl. Gauarbeitsamtsbezirk Wartheland), vgl. oben Tab. 7.5; CZ – „Protektorat Böhmen und Mähren“.
Quelle:
Berechnet nach: Beauftragter für den Vierjahresplan/Generallbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (Hg.) (1944): Der Arbeitseinsatz im (Groß-) Deutschen Reich, Berlin, Nr. 10, S. 10–13, 15, 23.
7.6
Wer bezahlte den Krieg?
Der Umstand, dass Deutschland während des Zweiten Weltkriegs mehrere Jahre lang in großem Umfang auf ökonomische Ressourcen der besetzten ausländischen Gebiete zurückgreifen konnte, unterscheidet diesen Weltkrieg grundsätzlich vom Ersten. Der ökonomische Beitrag der besetzten Gebiete zur deutschen Kriegswirtschaft in Form von Rohstoffen, Nahrungsmitteln, Konsum- und Rüstungsgütern sowie Arbeitskräften war erheblich, und nur aufgrund dieser Leistungen war es dem Dritten Reich überhaupt möglich, bis Frühjahr 1945 der militärischen und ökonomischen Übermacht der Alliierten standzuhalten. Trotz der gescheiterten landwirtschaftlichen Erzeugungsschlacht litt die deutsche Bevölkerung anders als im Ersten Weltkrieg bis kurz vor Kriegsende keinen Hunger, da sie mit Nahrungsmittellieferungen aus den besetzten Gebieten versorgt wurde. Nicht zuletzt weil aufgrund der Kriegseinflüsse die Agrarproduktion in den besetzten Gebieten erheblich gesunken war, war dieser Nahrungsmitteltransfer allerdings nur deshalb möglich, weil die Lebensmittelrationen der einheimischen Bevölkerung in den ausgebeuteten Ländern radikal niedrig gehalten wurden. Während in Deutschland die offizielle Nahrungsmittelration von 1941 bis Anfang 1944 auf einem Stand von knapp unter 2.000 Kilokalorien stabilisiert werden konnte, betrug sie in Frankreich nur knapp über 1.000 Kilokalorien und im polnischen Generalgouvernement lag sie zeitweise noch beträchtlich darunter. Unterernährung und Hungertod wurden von den Nationalsozialisten zugunsten der deutschen Bevölkerung in die besetzen Gebiete verlagert.276 Neben Rohstoff- und Nahrungsmittellieferungen spielten die Importe von gewerblich produzierten Konsum- und Rüstungsgütern aus den besetzten Gebieten eine zunehmend wichtige Rolle. Auffallend sind die im Vergleich zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden eher geringen Sachlieferungen der östlichen Besatzungsgebiete. Dieser Unterschied zwischen 276
Vgl. György Ránki (1993): The Economics of the Second World War, Wien u.a., S. 265.
7.6 Wer bezahlte den Krieg?
203
West- und Osteuropa erklärt sich aus dem vergleichsweise niedrigen industriellen Entwicklungsniveau im Osten und aus der „Politik der verbrannten Erde“ der zurückweichenden sowjetischen Armee, insbesondere aber auch aus der grausamen Unterdrückung der als „minderwertig“ erachteten slawischen Bevölkerungsgruppen durch die deutschen Besatzer und aus deren Vernichtungspolitik gegenüber den osteuropäischen Juden. Die Ausplünderung der besetzten westlichen Gebiete erfolgte jedoch in der Regel keineswegs nur durch unmittelbaren Zwang und Gewaltanwendung. Die deutschen Besatzer waren vielmehr darum bemüht, die äußere Fassade eines fairen wirtschaftlichen Austauschs aufrechtzuerhalten, um so die Bevölkerung der besetzten westlichen, später auch anderen Gebieten zur Kollaboration zu ermuntern und Sabotage oder das Anlegen versteckter Vorräte zu verhindern. Auf der makroökonomischen Ebene wurde die Illusion einer „normalen“ wirtschaftlichen Außenhandelsbeziehung durch die Einführung eines bilateralen Clearing-Kontos zwischen Deutschland und dem jeweils besetzten Land geschaffen. Auf diesem Clearing-Konto wurden Deutschland zunächst die ex ante festgesetzten Besatzungskosten als Guthaben gutgeschrieben – die Besetzten zahlten also für die Besatzer. Diese Besatzungskosten dienten zunächst einmal tatsächlich dem Unterhalt der Besatzungsarmee und der Besatzungsverwaltung. Allerdings waren diese Gutschriften auf dem Clearing-Konto im Allgemeinen deutlich höher als die tatsächlichen Kosten der Besatzung und konnten deshalb zusätzlich und zweckentfremdet auch für den deutschen Import von Gütern genutzt werden.277 Überdies beschränkten sich die Nationalsozialisten zur Finanzierung ihrer Einfuhren nicht auf die durch das Guthaben vorgegebenen Einfuhrmöglichkeiten, sondern zwangen ihre Handelspartner darüber hinaus, für die Dauer des Krieges eine beträchtliche Clearing-Verschuldung Deutschlands zu tolerieren, so dass die Besatzungsmacht in den betroffenen Ländern über eine sehr große Nachfragemacht verfügte. Selbst wenn man die (nicht seriös bezifferbare) Kriegsbeute unberücksichtigt lässt, so ergibt sich nach Schätzungen von Jonas Scherner eine Untergrenze des kumulierten deutschen Handelsbilanzdefizits der Jahre von 1940 bis 1944 in Höhe von 42,6 Milliarden RM – knapp die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts von 1937.278 Götz Aly beschreibt am Beispiel Frankreichs, wie der Aufkauf ausländischer Waren und Dienste vor Ort auf der mikroökonomischen Ebene verlief.279 Die in Frankreich stationierten Beschaffungsorgane der deutschen Wehrmacht erhielten finanzielle Mittel ebenso wie die individuellen Soldaten ihren Sold in Form von Reichskreditkassenscheinen. Diese in Deutschland gedruckten Zahlungsmittel durften in ihrem Ursprungsland nicht verwendet werden, wurden aber in Frankreich von einheimischen Anbietern als Gegenwert für ihre Erzeugnisse akzeptiert, da die Reichskreditkassenscheine auf deutsche Anordnung hin von der französischen Zentralbank zu einem festen, für Deutschland günstigen Wechselkurs gegen das gesetzliche Zahlungsmittel französische Francs umgetauscht werden mussten. Die Deutschen druckten sich also faktisch ihre Francs selbst. Der Vorteil dieser Vorgehensweise kann an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden. Ein französischer Bauer besitzt ein Schwein, das die deutsche Wehrmacht zur Verpflegung 277
278 279
Vgl. Marcel Boldorf und Jonas Scherner (2012): France’s Occupation Costs and the War in the East: The Contribution to the German War Economy, 1940–44, in: Journal of Contemporary History 47, S. 291–316. Vgl. Scherner (2012), S. 106. Vgl. Aly (2005), S. 100–113.
204
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
der Besatzungstruppen haben möchte. Falls der französische Bauer befürchten muss, dass die deutschen Soldaten ihm das Schwein ohne Gegenleistung rauben, wird er es nach Möglichkeit vor dem Zugriff der Wehrmacht verbergen. Wenn die Wehrmacht hingegen öffentlich und glaubwürdig proklamiert, dass sie bereit ist, für Schweine einen guten Preis zu zahlen, wird der französische Bauer in Erwartung eines guten Geschäfts das Schwein nicht verstecken, sondern vielleicht sogar freiwillig anliefern. Die von der Wehrmacht erhaltenen Reichskreditkassenscheine kann der Bauer bei seiner Bank (und diese bei der französischen Zentralbank) gegen Francs eintauschen und hält danach vielleicht mehr einheimische Zahlungsmittel in den Händen, als er beim Verkauf an einen anderen Franzosen erhalten hätte. Die Probleme für die französische Volkswirtschaft entstanden durch die Umtauschpflicht der französischen Zentralbank. Wie die Diskussion der deutschen Hyperinflation von 1923 in Kapitel 3.2 zeigt, führt eine Erhöhung der Geldmenge (hier der französischen) bei gleichzeitiger Verringerung der den Inländern zur Verfügung stehenden Warenmenge unweigerlich zur Inflation und damit zur Entwertung des vorhandenen französischen Geldvermögens. Durch den Übergang vom unmittelbaren Raub zur Bezahlung mit Reichskreditkassenscheinen tritt an die Stelle des individuellen spürbaren Verlusts des ausgeraubten Bauern der zunächst noch nicht merkliche kollektive Verlust aller französischen Besitzer von Geldvermögen. Ähnlich wie in ihrem Umgang mit den deutschen Unternehmern setzten die Nationalsozialisten auch bei der Ausplünderung der besetzten westeuropäischen Gebiete nicht immer auf Zwang und Gewalt, sondern nutzten vielfach das Eigeninteresse der einheimischen Anbieter.280 Aly schätzt, dass sich der Beitrag des Auslands zu den Kosten der deutschen Kriegsführung insgesamt auf mindestens 168 Milliarden Reichsmark belief. Aufbauend auf dieser Zahl gelangt Aly überdies zu der Einschätzung, „dass der deutsche Anteil an den laufend zu bezahlenden Kriegslasten höchstens ein Drittel, der ausländische mindestens zwei Drittel ausmachte.“281 Ist diese Schlussfolgerung plausibel? Wurde Hitlers Krieg tatsächlich vorwiegend vom Ausland bezahlt? Alys Abschätzung des finanziellen Beitrags des Auslands mag korrekt kalkuliert und in der Größenordnung richtig sein, den Finanzierungsbeitrag der deutschen Bevölkerung unterschätzt er jedoch erheblich, weil er nur deren Steuerzahlungen, nicht aber ihre aus der „geräuschlosen Kriegsfinanzierung“ letztendlich resultierenden Geldvermögensverluste berücksichtigt: Ende September 1944 hatten die Deutschen Ersparnisse von über 189 Milliarden Reichsmark gebildet,282 die sich in der Währungsreform von 1948 weitestgehend im Nichts auflösten. Die Technik der „geräuschlosen Kriegsfinanzierung“ werden wir sogleich, die Auswirkungen der Währungsreform von 1948 im Kapitel 8.2 erläutern. An dieser Stelle sollte aber bereits klar sein, dass Alys Argumentation inkonsistent ist, wenn er die durch die deutsche Ausplünderung induzierten Inflationen in Frankreich und anderen besetzten Ländern als reale Last berücksichtigt, den gleichen ökonomischen Vorgang in Deutschland jedoch als „virtuelle Kriegsschulden“283 abtut.
280
281 282 283
Diese Form der Ausplünderung der besetzten Gebiete funktioniert natürlich auch, wenn die deutschen Besatzer nicht Reichskreditkassenscheine, sondern von der ausländischen Zentralbank zusätzlich bereit gestellte einheimische Zahlungsmittel verwenden. Aly (2005), S. 325. Vgl. Deutsche Bundesbank (Hg.) (1976), S. 18. Aly (2005), S. 339.
7.6 Wer bezahlte den Krieg?
205
Von den gesamten im Reichshaushalt gebuchten Ausgaben der Jahre von 1939 bis 1945 wurden etwa 55 Prozent durch Verschuldung im Inland finanziert, die von 30,7 Milliarden RM im Jahr 1938/39 auf 379,8 Milliarden RM im Jahr 1944/45 anstieg.284 Dabei wurde im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg auf die Zeichnung langfristiger Anleihen durch das Publikum weitgehend verzichtet, so dass die kurzfristigen Reichsschulden am Ende des Krieges 64 Prozent der gesamten Reichsschuld ausmachten. Die Nationalsozialisten verzichteten bewusst darauf, die Einkommen der Bevölkerung direkt abzuschöpfen, weil bei öffentlich bekannt gemachten Anleihen immer die Gefahr bestand, dass sich sinkendes Vertrauen in den „Endsieg“ in einem schwindenden Publikumsinteresse an den Anleihen niedergeschlagen hätte und somit öffentlich sichtbar geworden wäre. Bevorzugtes Verfahren zur kurzfristigen Verschuldung war die sogenannte „geräuschlose Finanzierung“, die durch die Regulierung der deutschen Konsum- und Kapitalmärkte ermöglicht wurde. Die Rationierung auf den Konsumgütermärkten bewirkte zunächst, dass der deutschen Bevölkerung nichts anderes übrig blieb, als große Teile ihres Einkommens zu sparen, was die Regierung überdies durch sogenannte „Sparfeldzüge“ forcierte. Die Austrocknung des privaten Kapitalmarkts führte dann dazu, dass die Banken und Versicherungen keine andere Möglichkeit besaßen, als diese Spareinlagen für den Kauf kurzfristiger Staatsschuldpapiere zu verwenden. Bereits Ende August 1939 wurde in Deutschland für viele Konsumgüter die Rationierung eingeführt. Fleisch gab es pro Kopf nur noch 500 g pro Woche, Milch erhielten allein die Kinder. Es bestand Anspruch auf lediglich ein Stück Ersatzseife im Monat. Jährlich bekam jeder deutsche Erwachsene eine Kleiderkarte mit insgesamt 100 Punkten, wobei schon für einen einzigen Herrenmantel 60 Punkte zu opfern waren. Das reduzierte den durchschnittlichen Verbrauch an Bekleidung 1940 um die Hälfte und, nach Einführung einer noch strengeren Rationierung im Oktober 1941, auf ein Viertel. Aufgrund der zunehmenden Verwendung von synthetischen Stoffen verschlechterte sich außerdem die Qualität. Die meisten Nahrungsmittel wurden als standardisierte und verdünnte oder versetzte Einheitsprodukte hergestellt, einschließlich Mehl, Marmelade, Margarine und Puddingpulver. Bohnenkaffee war für Frontsoldaten reserviert, für die Zivilbevölkerung gab es nur Ersatzkaffee aus Gerste. Frisches Obst und Gemüse hatten Seltenheitswert.285 Aller über den Grundbedarf hinausgehenden Konsummöglichkeiten beraubt, konnten die Deutschen während des Krieges nur sparen und auf die Zeit nach dem versprochenen Sieg hoffen. In einer Rundfunkansprache zum nationalen Spartag des Jahres 1941 erläuterte Fritz Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, der Bevölkerung die besondere Bedeutung der Ersparnisbildung im Krieg: „Es muss im Krieg Ehrensache eines jeden Volksgenossen sein, seinen privaten Bedarf an Gütern und Leistungen auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken. Was an Anschaffungen irgendwie aufgeschoben werden kann, muß aufgeschoben werden. Der Soldat an der Front erwartet, daß die Heimat nicht an sich, sondern an ihn zuerst denkt, an seinen Bedarf an Kriegsgütern, die er zur Bezwingung des Feindes braucht. [...] Der Verzicht der Heimat muß darin bestehen, dass jeder Einzelne sich im Verbrauch seines Einkommens weit möglichst beschränkt. Es muß jeder bestrebt sein, den größtmöglichen Teil seines Einkommens sich für die Zeit nach Beendigung des Krieges zurückzulegen. Es wird die Zeit kommen, in der die Schranken auf dem 284 285
Vgl. Hansmeyer/Caesar (1976), S. 401. Vgl. Overy (1994), S. 283f.
206
7 Die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegswirtschaft
Warenmarkt fallen werden. Es wird dann jeder die Anschaffungen nachholen können, auf die er während des Krieges verzichtet hat.“286 Ein anschauliches Beispiel für die nationalsozialistischen Sparfeldzüge ist das „Eiserne Sparen“. Ein Arbeitnehmer konnte sich verpflichten, regelmäßig einen bestimmten, gesetzlich vorgeschriebenen Teil seines Lohns auf das sogenannte Eiserne Sparkonto einzuzahlen, dessen Guthaben frühestens nach Beendigung des Krieges mit zwölfmonatiger Kündigungsfrist abgehoben werden konnte. Dafür wurde das Eiserne Sparguthaben mit dem höchstzulässigen Zinssatz verzinst, die Sparbeträge wurden zudem von der Lohnsteuer befreit. Die Einengung sonstiger Anlagemöglichkeiten – Großkredite und Aktienemissionen waren generell untersagt und bedurften einer staatlichen Genehmigung – ließ den Geschäftsbanken und anderen Geldsammelstellen wie zum Beispiel Sparkassen und Versicherungen keine andere Wahl, als die einlaufenden Spargelder dem Staat zur Verfügung zu stellen. Ohne es überhaupt zu merken, wurden die privaten Sparer somit zum Gläubiger des nationalsozialistischen Staates. Der Kreislauf der geräuschlosen Kriegsfinanzierung funktionierte bis 1943. Erst als das Vertrauen in den deutschen Sieg und damit in die Stabilität der Reichsmark langsam zu sinken begann und das Einkommen nicht mehr gespart, sondern zunehmend gehortet und für Schwarzmarktgeschäfte genutzt wurde, war das Reich gezwungen, sich in zunehmendem Umfang direkt bei der Reichsbank zu verschulden. Aufgrund der neuen Reichsbankverfassung vom 15. Juni 1939 war dies nunmehr unmittelbar und ohne den Umweg über die Öffaoder Mefo-Wechsel möglich: Staatswechsel und Schatzanweisungen wurden ins Portefeuille der Reichsbank übernommen, die im Gegenzug dem Staat frisch gedruckte Reichsmarknoten zur Verfügung stellte. Als Folge der gewaltigen Neuverschuldung des Reichs wuchs der gesamte Bargeldumlauf von Kriegsbeginn bis Anfang März 1945 von 11 Milliarden RM auf über 59 Milliarden RM an, das heißt er nahm um über 400 Prozent zu. Für das Kriegsende wird der Geldumlauf auf über 70 Milliarden RM geschätzt, was die hemmungslose Geldschöpfung in der letzten Kriegsphase verdeutlicht.287 Mit Hilfe der staatlichen Preis- und Lohnüberwachung konnte gleichwohl verhindert werden, dass das anwachsende Ungleichgewicht von Geldumlauf und verfügbarer Gütermenge der Bevölkerung durch entsprechend starke inflationäre Entwicklungen in vollem Umfang bewusst gemacht wurde. Es kam zu einer zurückgestauten Inflation, die erst durch die Währungsreform von 1948 aufgelöst wurde. Der hierdurch bewirkte Vermögensverlust der deutschen Sparer beziffert den Anteil der inländischen „Inflationssteuer“ an der Finanzierung der Kriegsausgaben Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Den 168 Milliarden RM, die nach Alys Berechnung das Ausland zur Finanzierung des Kriegs beitrug, sind demzufolge mindestens die 380 Milliarden RM gegenüberzustellen, um die sich das Reich im Inland direkt oder indirekt bei den eigenen Bürgern verschuldete und die in der Währungsreform von 1948 fast ersatzlos gestrichen wurden. Über die Diskussion um Zahlenrelationen darf man natürlich nicht vergessen, dass die Menschen größere Opfer als Vermögensverluste trugen. Der Zweite Weltkrieg kostete auf dem europäischen Kriegsschauplatz über 35 Millionen Menschen das Leben. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es bei der Aufrüstung und dem Krieg primär darum ging, möglichst viel Arbeit und Kapital zu mobilisieren – die Finanzierung war zweitrangig, 286 287
Zitiert nach Hubert Schmitt-Degenhardt und Walter Hankele (um 1942): Ich will eisern sparen, Berlin/Leipzig, S. 5. Vgl. Hansmeyer/Caesar (1976), S. 417.
7.6 Wer bezahlte den Krieg?
207
aber insofern wichtig, als es darum ging, aus den Menschen über Anreize und/oder Zwang ein Maximum an Arbeitsleistung bei gleichzeitigem Konsumverzicht herauszuholen. Im Wesentlichen gelang es tatsächlich, die private Konsumnachfrage zugunsten des Staatsbedarfs zurückzudrängen. Allerdings konnte man mit Geldschöpfung und geräuschloser Finanzierung allein die zunehmenden realen Engpässen bei den vorhandenen Produktionsfaktoren nicht aufheben. Aus diesem Grund war der Rückgriff auf die Ressourcen der besetzten Gebiete für das Dritte Reich von so großer Bedeutung.
D
Kein Wunder: Die Rückkehr der Bundesrepublik auf den langfristigen Wachstumspfad
Im Frühjahr 1945 war die wirtschaftliche Infrastruktur Deutschlands zu großen Teilen zerstört. Neben die enormen Schäden am städtischen Wohnungsbestand und am wirtschaftlichen Produktionspotential, die durch die Demontagen verstärkt wurden, traten infrastrukturelle Probleme, die einen raschen Wiederaufbau auf lange Sicht unerreichbar scheinen ließen. Zum Erstaunen der Deutschen wie auch des Auslands sollte jedoch Westdeutschland binnen weniger Jahre wieder auf einen Pfad anhaltenden und zunächst sehr schnellen Wachstums einschwenken.
8
Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
In Osteuropa hatte die Sowjetunion Teile Polens sowie das nördliche Ostpreußen annektiert und dafür Polen im Rahmen der sogenannten Westverschiebung die deutschen Gebiete östlich der durch die Flüsse Oder und Neiße gebildeten Linie zugesprochen. Formal wurden sie „bis zur endgültigen Regelung in einem Friedensvertrag“ polnischer Verwaltung unterstellt. Die verlorenen deutschen Ostgebiete machten rund 24 Prozent der Fläche des Reichsgebietes in den Grenzen von 1937 aus und umfassten 25 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Aufgrund ihrer relativ dünnen Besiedlung (vgl. Tab. 8.1) waren sie seit jeher agrarisches Überschussgebiet für die Versorgung des dicht besiedelten Westens gewesen.288 Das Saarland, das bereits von 1919 bis 1935 mit Frankreich verbunden gewesen war, wurde 1946 durch eine Zollunion erneut mit Frankreich verknüpft. Im Jahr 1947 wurde durch Wahlen, an denen außer den Kommunisten nur separatistische Parteien teilnehmen durften, eine Saarverfassung gebilligt, welche die Abtrennung von Deutschland, eine Wirtschaftsunion mit Frankreich sowie die außenpolitische Vertretung durch Frankreich vorsah. Der Rest des Deutschlands in den Grenzen von 1937 war in vier Besatzungszonen eingeteilt; entsprechend die ehemalige Reichshauptstadt Berlin in vier Sektoren. Wie Tabelle 8.1 zeigt 288
Berechnet nach Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944 (1949). Hg. v. Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München, S. 8, 74.
210
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
(rechte Spalte), gehörten die Regionen, die an Polen abgegeben werden mussten, zu den wirtschaftlich am wenigsten entwickelten. In Mitteldeutschland lagen schon 1936, also noch bevor der gewaltige Rüstungs- und Kriegsboom aus luftstrategischen Gründen gerade dieser Region zu Gute kam, die Durchschnittseinkommen etwas über denen der späteren westlichen Zonen (insbesondere, wenn man Berlin hinzu rechnet). Tabelle 8.1:
Dt. Reich Sowj. Zone US-Zone Frz. Zone Britische Zone Saargebiet Berlin Verl. Ostgeb. Bizone Trizone
Fläche, Bevölkerung und Pro-Kopf-Einkommen in den deutschen Besatzungszonen Fläche 1937 qkm 470.544 22,8% 22,8% 8,5% 20,8% 0,5% 0,2% 24,4% 43,6% 52,2%
Bevölkerung 1939 Personen Prozent 69.316.526 100,0% 15.157.123 21,9% 14.296.974 20,6% 5.270.241 7,6% 19.785.488 28,5% 908.219 1,3% 4.338.756 6,3% 9.559.725 13,8% 34.082.462 49,2% 39.352.703 56,8%
Bevölkerung 1946 Personen Prozent 65.151.019 100,0% 17.313.734 26,6% 17.254.945 26,5% 5.077.893 7,8% 22.304.509 34,2% 851.615 3.199.938 4,9% 39.559.454 44.637.347
60,7% 68,5%
Pro-Kopf-VE 1936 RM 978 978 919a 983 766 1.555 732 954
a
Anm.:
VE – Volkseinkommen. – nur gemeinsamer Wert für die US- und die französische Zone verfügbar.
Quelle:
Berechnet nach Angaben in Statistisches Handbuch von Deutschland 1928–1944 (1949). Hg. v. Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München, S. 8f., 600f.
Die vier Besatzungsmächte – Vereinigte Staaten, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – verwalteten ihre Besatzungszonen zunächst autonom, so dass der wirtschaftliche Verkehr über die Zonengrenzen erschwert oder unmöglich war. Die deutsche Wirtschaft hing in besonderem Maße vom sekundären Sektor ab (Bergbau, Bau und vor allem Industrie), der in hohem Maße arbeitsteilig und interregional verflochten war. Für die Unternehmen konnte dies bedeuten, dass bestimmte Vorprodukte nicht mehr beschafft werden konnten, da sie in anderen Zonen produziert wurden, und umgekehrt auch der eigene Kundenkreis zunächst auf die eigene Zone beschränkt war. Doch selbst wenn ein Unternehmen in der Lage war, die infrastrukturellen Probleme auf der Beschaffungs- und Absatzseite zu überwinden, war die Aufnahme oder Erweiterung der Produktion nicht zwingend lohnend. Die nationalsozialistischen Planer hatten die Wirtschaft mit einem immer dichteren Netz von Preis- und Lohnrestriktionen überzogen, die von den Besatzungsverwaltungen zunächst beibehalten wurden. Dieses Netz erschwerte es den Unternehmen, sich über das Bieten höherer Preise wichtige Vorprodukte zu beschaffen. Umgekehrt unterbanden die Preisobergrenzen die Möglichkeit, von einer hohen Zahlungsbereitschaft der Kunden zu profitieren. Preise und Löhne hatten also ihre in einer Marktwirtschaft zentrale Funktion, relative Knappheitsverhältnisse widerzuspiegeln, verloren und somit auch ihre Fähigkeit, Angebot und Nachfrage auf den Gütermärkten bzw. dem Arbeitsmarkt zum Ausgleich zu bringen. Hätte man in dieser Situation die Preise und Löhne einfach freigegeben, so hätte dies unweigerlich einen Preisanstieg wie nach dem Ersten Weltkrieg verursacht, der wegen des Umfangs der bereits zurückgestauten Inflation explosionsartig verlaufen wäre. Um die Rüstungs-
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
211
und Kriegsproduktion zu steigern, hatte das Dritte Reich die Rüstungsmaschinerie regelrecht mit Geld geschmiert. Einem riesigen Reichsmarkbestand stand Mitte 1945 ein geringes Angebot an in einer Friedenswirtschaft nachgefragten Produktions- und Konsumgütern gegenüber. Dies hatte schon in der Kriegszeit zur Bildung von Schwarzmärkten geführt, die nach dem Ende des NS-Terrors und seinen zuweilen drakonischen Strafen nicht mehr zurückzudrängen waren.289 Auf den Schwarzmärkten zeigten sich die wahren Güterpreise. Der letzte Währungsschnitt lag gerade einmal gut zwanzig Jahre zurück und war den Akteuren persönlich oder aus Erzählungen der älteren Generation gut bekannt. So, wie die Besitzer von Bargeld durch die Währungsreform vom 15. November 1923 schlagartig enteignet worden waren, so war auch nach dem Zweiten Weltkrieg abzusehen, dass eine Währungsreform bevorstand und sie wiederum vor allem Bargeldbesitzer treffen würde. Bargeld in größeren Mengen vorzuhalten war also nicht ratsam, was die Geldumlaufgeschwindigkeit noch weiter anheizte. Eine wertbeständige Zweitwährung war daher bald gefunden – Zigaretten, die sich lagern, transportieren und im Gegensatz zu Papier- oder Münzgeld eben notfalls auch direkt konsumieren ließen. Die Zusammenlegung der amerikanischen und britischen Zone zur Bizone im Juli 1946 verringerte immerhin die infrastrukturellen Probleme, ließ jedoch die Preis- und Währungsprobleme ungelöst. Der Winter 1947/48 war für viele Deutsche der dritte – für manche sogar der vierte – Hungerwinter in Folge, ohne dass sich eine grundlegende Besserung abzeichnete. Es hat daher die Zeitgenossen in Deutschland, im Ausland und auch nachfolgende Generationen immer wieder erstaunt, wie schnell Westdeutschland nach 1948 quasi wie der Vogel Phönix aus der Asche wiederaufstieg. Das Erstaunen fand seinen Ausdruck in dem Begriff des „Wirtschaftswunders“, als dessen wichtigste Initialzündungen Marshallplanhilfe, Währungsreform und Preisfreigabe gesehen wurden. Insbesondere die in den 1950er und 1960er Jahren wirtschaftlich aktive Bevölkerung schrieb den wirtschaftlichen Wiederaufschwung, der sich natürlich auch in einem entsprechend steigenden Lebensstandard widerspiegelte, Tugenden wie Fleiß und Lohnzurückhaltung zu, eingebettet in das weise Konzept der von deutschen Ordnungspolitikern ersonnenen Sozialen Marktwirtschaft. „Wunder“ sind qua Definition unerklärbar, eben Wunder. Dies ist natürlich eine unbefriedigende Botschaft für Ökonomen oder Historiker, die Wirtschaftsgeschichte verstehen und erklären möchten. Wäre der wirtschaftliche Wiederaufstieg Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wunder, so könnte man sich auf eine rein deskriptive Darstellung beschränken. Wir sind jedoch der Überzeugung, dass sich das „Wunder“ erklären lässt und werden nach einem Abriss der wichtigsten Fakten verschiedene Erklärungskonzepte vorstellen, die das „Wunder“ dekonstruieren. Die Dynamik des Wiederaufschwungs wird dabei nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr als Resultat mehr oder weniger normaler wirtschaftlicher Anpassungsprozesse vorgestellt, die in einer bestimmten historischen Situation besonders günstige wirtschaftliche Startbedingungen vorfanden. Die Darstellung wird sich dabei auf die Situation in den drei Westzonen beschränken, da die Sowjetische Besatzungszone eine ganz andere Entwicklung nehmen sollte.
289
Vgl. Willi A. Boelcke (1986): Der Schwarz-Markt 1945–1948. Vom Überleben nach dem Kriege, Braunschweig; Malte Zierenberg (2008): Stadt der Schieber: der Berliner Schwarzmarkt 1939– 1950, Göttingen.
212
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
8.1
Nachkriegssituation
Über das Ausmaß der kriegsbedingten Schäden gibt es nur wenige verlässliche Schätzungen. Generell lässt sich sagen, dass die Schäden umso bedeutender waren, je weiter eine Stadt im Nordwesten lag (von wo zunächst die westalliierten Bomber kamen) und je wichtiger sie für die Rüstungsproduktion war. Auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik waren 18 Prozent des Wohnungsbestands von 1939 zerstört; rechnet man die schwer beschädigten Wohnungen hinzu, so waren 22 bis 25 Prozent nicht mehr bewohnbar. Unter den Großstädten war Köln am schwersten betroffen, wo 70 Prozent des Wohnungsbestands von 1939 zerstört worden war. Noch stärker betroffen waren einige westdeutsche Mittelstädte wie Hanau, Bocholt, Paderborn und Düren, wo sich der Zerstörungsgrad von 89 Prozent bis über 99 Prozent belief. 290 Zur Verschärfung der akuten Wohnungsnot trug der Zustrom von Zuwanderern und Vertriebenen bei. Zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1950 befanden sich 7,88 Millionen Heimatvertriebene und 1,56 Millionen zugewanderte Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone im Bundesgebiet. Das waren über 20 Prozent der gesamten westdeutschen Bevölkerung. Gegenüber dem Vorkriegsstand hatte die Bevölkerung im Bundesgebiet dadurch um 24 Prozent zugenommen. Die Vertriebenen und Zuwanderer wurden von den Behörden vornehmlich in die gewerblich wenig entwickelten und dünn besiedelten ländlichen Räume verteilt, weil diese von den Kriegszerstörungen weitgehend verschont geblieben waren und vorübergehend Nahrung und Unterkunft boten: nach Schleswig-Holstein, in das östliche Niedersachsen und nach Bayern. In diesen drei Hauptaufnahmeländern hatten die „Flüchtlinge“ noch am 13. September 1950 einen Anteil von 38,2 bzw. 32,7 bzw. 23,6 Prozent der Bevölkerung. Die Länder der französischen Besatzungszone hatten aufgrund entsprechender Zuzugsverbote der Besatzungsmacht die geringsten Anteile. Zerstörung einerseits und Zuzug andererseits schufen ein gigantisches Wohnungsproblem. Das Bundeswohnungsbauministerium schätzte den Fehlbestand für 1950 auf nicht weniger als 4,8 Millionen Wohnungen.291 Noch kritischer als die Wohnungssituation war die Ernährungslage. Vor dem Krieg lag der Wert der täglichen Nahrungsmenge je Kopf der Bevölkerung bei knapp 3.000 Kilokalorien.292 Während des Kriegs hatten die Deutschen allenfalls in den letzten Kriegsmonaten gravierende Mängel verspürt, weil die Nahrungsmittel aus den besetzten Gebieten herangeschafft wurden. Nach der Befreiung kehrte sich dies um. Während die Normalverbraucherration in Großbritannien Ende Oktober 1945 bei 2.800 Kilokalorien und in den Niederlanden und Belgien bei knapp über 2.000 Kilokalorien lagen, betrugen die entsprechenden Werte in Westdeutschland um 1.400 Kilokalorien.293
290
291 292 293
Vgl. Friedrich Kästner (1949): Kriegsschäden (Trümmermengen, Wohnungsverluste, Grundsteuerausfall und Vermögensteuerausfall), in: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 37, S. 361– 391, hier S. 369. Vgl. Günther Schulz (1994): Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von 1945 bis 1957, Düsseldorf, S. 39. Vgl. Justus Rohrbach (1955): Im Schatten des Hungers. Dokumentarisches zur Ernährungspolitik und Ernährungswirtschaft in den Jahren 1945–1949, Hamburg, S. 15, 292. Vgl. Johannes-Dieter Steinert (2006): Food and the Food Crisis in Post-War Germany, 1945– 1948: British Policy and the Role of British NGOs, in: Frank Trentmann und Fleming Just (Hg.):
8.1 Nachkriegssituation
213
Aus eigener landwirtschaftlicher Produktion konnten im Winter 1945/46 in der amerikanischen und französischen Besatzungszone nur 940 Kilokalorien je Kopf und Tag, in der britischen Zone nur 400 Kilokalorien je Kopf und Tag zur Verfügung gestellt werden. Die alliierten Besatzungsmächte mussten daher zusätzliche Nahrungsmittel einführen, um Hungertod und Seuchen zu verhindern. Im Frühjahr 1947 erreichte die Ernährungskrise einen Höhepunkt. Von April bis Juni lagen die tatsächlich ausgegebenen Lebensmittelrationen im Ruhrgebiet und in anderen Städten bei nur noch 800 Kilokalorien täglich. Bei leichter körperlicher Arbeit hat eine Frau einen täglichen Bedarf von etwa 2.200 Kilokalorien, ein Mann von 2.700. Wie Tabelle 8.2 zeigt, erreichte die Nahrungsmittelversorgung erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 wieder akzeptable Werte. Tabelle 8.2:
Tägliche Nahrungsmittelrationen für Normalverbraucher (Kilokalorien)
Deutsches Reich Mai 1945 Juni 1945 Oktober 1945 April 1946 Oktober 1946 Mai 1947 Dezember 1947 März 1948 Juni 1948 Juli 1948 Quelle:
Britische Zone 1.945 1.470 1.476 1.042 1.542
US-Zone 1.460 850 1.384 1.270 1.541
Bizone
1.120 1.400 1.298 1.542 1.990
Johannes-Dieter Steinert (2006): Food and the Food Crisis in Post-War Germany, 1945– 1948: British Policy and the Role of British NGOs, in: Frank Trentmann und Fleming Just (Hg.): Food and conflict in Europe in the age of the two world wars, Basingstoke, S. 275.
Unterernährte Menschen sind weder in der Landwirtschaft noch in der Industrie leistungsfähige Arbeiter. In letzterer hatte man zudem große Kriegsschäden zu bewältigen. Das Ausmaß der durch Kriegseinwirkungen und Demontagen erlittenen Schwächung des westdeutschen Produktionspotentials ist allerdings umstritten. Ausnahmslos alle Berechnungen, die in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der frühen Nachkriegszeit und später der wirtschaftshistorischen Literatur vorgelegt worden sind, beruhen auf einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Jahre 1958. In dieser Studie hängen alle Werte für das Bruttoanlagevermögen seit den 1940er Jahren von Schätzungen über die Kriegsverluste ab, die ziemlich ad hoc sind. 294 Da nach neuen Berechnungen von Jonas Scherner die industriellen Bruttoanlageinvestitionen im Dritten Reich sogar noch unterschätzt worden sind,295 ist davon auszugehen, dass die Zerstörungen am industriellen Anlagevermögen grö-
294 295
Food and conflict in Europe in the age of the two world wars, Basingstoke, S. 266–288, hier S. 274. Vgl. Rolf Krengel (1958): Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der Bundesrepublik von 1924 bis 1956, Berlin, S. 76f. Vgl. Jonas Scherner (2010): Nazi Germany’s Preparation for War: Evidence from Revised Industrial Investment Series, in: European Review of Economic History 14, S. 433–468, hier S. 450f. Aufgrund dieser Ergebnisse halten wir die Schätzungen der Kriegsverluste und des industriellen Anlagevermögens bei Krengel (1958) und, darauf aufbauend, von Abelshauser, für überholt. Vgl. Werner Abelshauser (1983): Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945–1980),
214
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
ßer gewesen sind, als in der einschlägigen Literatur behauptet worden ist. So erstaunlich es klingen mag, über das Ausmaß der Kriegsverluste liegen derzeit keine auch nur halbwegs belastbaren Zahlen vor. Das einzige, was halbwegs gesichert sein dürfte, ist, dass das Ausmaß der Demontagen und Restitutionen in Westdeutschland mit etwa 2,2 Milliarden DM (in Preisen von 1950) etwa 4 Prozent des Bestandes von 1938 ausgemacht hat.296 In der Sowjetischen Besatzungszone dürften die Kriegsschäden prozentual wohl etwas geringer, die Demontageschäden dagegen deutlich höher gewesen sein. Langfristig wurde das Wachstumspotential der zukünftigen DDR durch die Abwanderung innovativer Großunternehmen verringert. Dies galt insbesondere für Berlin, dem wichtigsten Standort der deutschen Elektroindustrie. Aus Berlin wanderten beispielsweise Siemens & Halske nach München und die AEG nach Frankfurt am Main ab. Dass solche Standortverlagerungen auch in langer Perspektive irreversibel sein können, verdeutlicht ein Aufsatz von Stephen Redding, Daniel Sturm und Nikolaus Wolf, der sich mit dem Niedergang des Flughafenkreuzes Berlin beschäftigt.297 Im Jahr 1937 bewältigten die Berliner Flughäfen über 40 Prozent des gesamtdeutschen Passagieraufkommens; Frankfurt am Main spielte mit knapp 13 Prozent nur eine untergeordnete Rolle. Nach der deutschen Teilung war zunächst offen, welcher Flughafen die neue Führungsrolle in Westdeutschland übernehmen würde. Der Frankfurter Flughafen profitierte von der Entscheidung der amerikanischen Besatzungsbehörde, diesen als primäre Anlaufstelle für alle in Europa stationierten Streitkräfte zu nutzen. Der hierdurch initiierte Ausbau der Kapazität erfuhr durch die Berliner Luftbrücke der Jahre 1948 und 1949 eine weitere Beschleunigung. Aufbauend auf diesen Startvorteilen entwickelte sich der Flughafen Frankfurt in den Wirtschaftswunderjahren zum zentralen Drehkreuz der Bundesrepublik. Auch nach der deutschen Wiedervereinigung blieb die Frankfurter Dominanz ungefährdet. Hingegen verzeichneten die Berliner Flughäfen nach 1990 zunächst sogar einen rückläufigen Trend in den Passagierzahlen. Angesichts der hohen „versunkenen“ Investitionen (sunk costs) in Abfertigungsanlagen und etablierte Liniennetze sahen die Fluggesellschaften offensichtlich keinen wirtschaftlichen Anlass, das deutsche Drehkreuz nach Berlin zurück zu verlagern. Diese Fälle von irreversibler Standortverlagerung sind weitere Beispiele für Pfadabhängigkeiten und lassen vermuten, dass die deutsche Teilung die Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer bis heute anhaltend geschwächt hat. In Westdeutschland lag das Hauptproblem 1945 und in den Folgejahren allerdings nicht primär an mangelndem Anlagevermögen, sondern an dessen geringer Auslastung. Aus den im vorherigen Kapitel geschilderten Gründen litt die Produktion unter Beschaffungs- und Absatzproblemen und behördlich festgesetzten Preisen. Der Auslastungsgrad der westdeutschen Industrie lag daher im ersten Halbjahr 1948 gerade einmal bei 36 Prozent, um dann nach Währungsreform und Preisfreigabe im zweiten Halbjahr sprungartig auf 51 Prozent und
296 297
Frankfurt a.M., S. 20; zuletzt ders. (2004): Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München, S. 71, wo allerdings Krengels Zahlen falsch wiedergegeben sind (Bruttoanlageinvestitionen statt -vermögen). Berechnet nach Krengel (1958), S. 94, 104. Vgl. Stephen J. Redding, Daniel M. Sturm und Nikolaus Wolf (2011): History and Industry Location: Evidence from German Airports, in: Review of Economics and Statistics 93, S. 814–831.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
215
1949 auf 61 Prozent zu steigen. Schon 1951 lag die industrielle Auslastung oberhalb der 80 Prozent-Marke.298 Sunk costs Sunk costs (dt.: versunkene oder irreversible Kosten) sind Investitionen, die nach ihrer Durchführung keiner alternativen ökonomischen Verwendung zugeführt und deshalb nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Startbahnen von Flughäfen sind ein gutes Beispiel für Sunk costs. Hingegen stellen Investitionen in Werkzeugmaschinen, Nutzfahrzeuge oder auch Fabrikgebäude in aller Regel keine irreversible Investition dar, da der ursprüngliche Investor diese für andere Zwecke verwenden oder an andere Nutzer verkaufen und somit zumindest einen Teil seiner ursprünglichen Aufwendungen zurückerhalten kann. Für zukünftige rationale Entscheidungen sind Sunk costs oft irrelevant. Ein Investor sollte ein Vorhaben, dessen erwartete Rendite im Projektverlauf gesunken ist, nicht nur deshalb fortführen, weil er schon erhebliche Summen in irreversible Investitionen „versenkt“ hat. Diese Schlussfolgerung ist intuitiv häufig schwer zu akzeptieren.
8.2
Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
Als die beiden entscheidenden Ursachen für das schnelle Wachstum der westdeutschen Wirtschaft werden traditionellerweise zwei wirtschaftspolitische Maßnahmen der Amerikaner genannt, die Marshallplanhilfe und die Währungsreform. Die Funktionsweise des MarshallPlans verdeutlicht Abbildung 8.1. Der amerikanische Außenminister George C. Marshall verkündete im Juni 1947 ein groß angelegtes Wiederaufbauprogramm für das immer noch unter den Folgen des Krieges leidende Europa. Zur Überwindung der europäischen „Dollar-Lücke“ (vgl. auch Kapitel 9.1.1) wurden insgesamt 13 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt (vgl. Pfeil (1) in Abb. 8.1), über deren Aufteilung auf ihre Mitgliedsländer die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC)299 entschied (2).300 Der Bundesrepublik erhielt 1,4 Milliarden Dollar. Der Marshall-Plan trug über zwei Ansatzpunkte zum deutschen Wirtschaftswachstum bei. Kurzfristig übertrug (3) die Bundesrepublik die ihr zugewiesenen Einfuhrmöglichkeiten vorrangig an Importeure von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Rohstoffen (4). Der amerikanische Exporteur dieser Waren erhielt den Rechnungsbetrag in Dollar von der amerikanischen Regierung ausgezahlt (5). Der deutsche Importeur entrichtete den Gegenwert dieser Summe in DM an das ERP-Sondervermögen (6). Diese Mittel wurden dann zunächst 298 299
300
Vgl. Werner Abelshauser (1975): Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart, S. 118. Die Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) wurde im April 1948 gegründet und ging im September 1961 in der weltweit operierenden Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) auf. Vgl. Knut Borchardt und Christoph Buchheim (1987): Die Wirkung der Marshallplan-Hilfe in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35, S. 317– 347; Gerd H. Hardach (1994): Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München.
216
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
zur Finanzierung von Investitionen in den Engpasssektoren Elektrizitätswirtschaft, Bergbau und Verkehr genutzt, wodurch wesentliche Wachstumshemmnisse behoben wurden (7). Da die als zu verzinsende Kredite vergebenen Gegenwertmittel nach Ende ihrer Laufzeit jeweils in das ERP-Sondervermögen zurückflossen (8), konnte die zu diesem Zweck gegründete Kreditanstalt für Wiederaufbau diese bis heute immer wieder neu verwenden, bald (und bis heute) vorrangig zur Förderung des Mittelstands und für Entwicklungshilfeprojekte. Der eigentliche Devisenkredit wurde von der Bundesregierung gemäß den Vereinbarungen des Londoner Schuldenabkommens (vgl. Kapitel 9.1.1) auf Grundlage von Steuereinnahmen teilweise an die USA zurückgezahlt (9).
Devisenkredit (1)
Organisation for European
Verteilung auf die Mitgliedsländer (2)
Economic Co-Operation
US-Regierung Dollar (5)
Teilweise Tilgung aus Steuern (9)
US-Exporteur
Ware (4)
Deutsche Regierung
Franz. Regierung
Zuteilung (3) Deutscher Importeur DM (6) ERP-Sondervermögen
Kreditvergabe (7)
Kredittilgung (8)
Engpasssektoren Abbildung 8.1:
Die Funktionsweise des Marshall-Plans
Anm.:
Eigene Darstellung.
Die Wirkung der Marshallplanhilfe ist umstritten. Psychologisch war ihre Ankündigung sehr wichtig, veranschaulichte sie doch das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zu einem industrialisierten Deutschland, in dem man immer noch den Morgenthau-Plan und die darin geplante Reagrarisierung des Landes fürchtete. Die Marshallplanhilfe ist zudem als Bestandteil eines größeren amerikanischen Konzepts zu sehen, das Europa helfen sollte, sich weitgehend aus eigener Kraft in eine amerikanisch dominierte Weltwirtschaft zu integrieren. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass die Staaten Europas wieder untereinander Handel trieben und somit die Abhängigkeit von Dollar-Beständen reduzierten.301
301
Vgl. Helge Berger und Albrecht Ritschl (1995): Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa. Eine neue Sicht des Marshallplans in Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43, S. 473–519.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
217
Konkreter Startschuss für das starke Wirtschaftswachstum in Westdeutschland, das bis in die frühen 1970er Jahre anhalten sollte, war die Währungsreform und die Freigabe vieler bislang gebundener Preise zum 21. Juni 1948. Die Währungsreform war von den Amerikanern vorbereitet worden und wurde generalstabsmäßig umgesetzt.302 Am Sonntag, dem 20. Juni 1948 erhielt jeder Bürger im Umtausch gegen 40 RM als sogenannte Kopfquote 40 Deutsche Mark (DM), weitere 20 DM wurden innerhalb der folgenden zwei Monate ausgezahlt. Alle über diese Kopfquote hinausgehenden Bargeldbestände und Reichsmarkguthaben wurden auf einem Konto gesammelt und im Verhältnis 10 RM = 1 DM umgestellt. Die Hälfte des Umstellungsbetrags wurde den Bürgern zur unmittelbaren Nutzung frei zur Verfügung gestellt. Die andere Hälfte wurde zunächst auf einem Festkonto blockiert. Diese Vorgehensweise trug der Unsicherheit über den Umfang des notwendigen Geldmengenschnitts Rechnung. Die auf dem Festkonto gutgeschriebenen DM-Guthaben konnten bei Auftreten inflationärer Tendenzen längerfristig gesperrt oder sogar durch einen zusätzlichen Geldschnitt weiter reduziert werden. Durch das Festkontengesetz vom 4. Oktober 1948 wurde schließlich eine Kombination beider Maßnahmen realisiert. 70 Prozent des Festkontoguthabens wurde ersatzlos gestrichen, 20 Prozent wurden auf ein Freikonto gebucht, 10 Prozent auf einem sogenannten Anlagekonto bis 1953 blockiert. Das endgültige Umstellungsverhältnis belief sich somit auf 100 RM = 6,50 DM. Alle Sparer, die im Nationalsozialismus die Illusion gehegt hatten, durch das Ansammeln hoher Sparguthaben eine hohe reale Kaufkraft für die Zeit nach dem Krieg aufgebaut zu haben, mussten spätestens jetzt feststellen, dass ihnen in Nennwerten nur 6,5 Prozent ihres ehemaligen Reichsmarkguthabens verblieben waren. Der Rest hatte faktisch als Inflationssteuer der Finanzierung von Aufrüstung und Krieg gedient. Genauso wichtig wie die Währungsreform war die Freigabe vieler (aber bei weitem nicht aller) Preise.303 In seiner Funktion als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der Bizone war Ludwig Erhard der festen Überzeugung, dass die Währungsreform nur dann zu einem nachhaltigen Erfolg führen würde, wenn parallel zur Einführung der DM freie Preise die primäre Steuerungsfunktion in der Volkswirtschaft übernahmen. Dementsprechend erarbeitete Erhard das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“, das zwei Tage vor der eigentlichen Währungsreform vom Wirtschaftsrat gegen die Stimmen der SPD verabschiedet wurde. Auf dieser Grundlage wurden zum 25. Juni 1948 die Preise fast aller gewerblich erzeugten Produkte freigegeben und zum 30. Juni 1948 auch die Rationierungsmaßnahmen aufgegeben. Die Preise orientierten sich hierdurch nach über einem Jahrzehnt erstmalig wieder vorrangig an Angebot und Nachfrage der privaten Wirtschaftssubjekte und signalisierten damit den Unternehmen, welche Waren besonders begehrt und deshalb zu hohen Preisen abgesetzt werden konnten. Die Zeitgenossen wunderten sich über die vollen Auslagen der Schaufenster unmittelbar nach der Währungsreform. Im Rückblick ist dies weniger verwunderlich: Ganz eindeutig hatten viele Unternehmen bis hin zu kleinen Läden ihre Ware bis zum lange erwarteten Tag X zurückgehalten, an dem sie diese zu angemessenen Preisen gegen eine wertbeständige neue Währung verkaufen konnten.
302 303
Vgl. Christoph Buchheim (1988): Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36, S. 189–231. Vgl. Irmgard Zündorf (2006): Der Preis der Marktwirtschaft: staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963, Stuttgart.
218
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Weiter administrativen Preiskontrollen unterworfen blieben Grundnahrungsmittel, die meisten strategischen Rohstoffe wie Kohle, Eisen, Stahl und Erdöl, Wohnungsmieten sowie die Preise für öffentliche Versorgungsleistungen wie Elektrizität, Gas und Wasser. Die Märkte für diese Produkte sollten in der Bundesrepublik auch in den folgenden Jahrzehnten mehr oder weniger stark reguliert werden.
8.2.1
Empirie
Das sogenannte Wirtschaftswunder lief nicht ohne Probleme an. Die Preise stiegen in den ersten Monaten stark, was die Stabilität der neuen Währung in Frage stellte. Die Bank deutscher Länder, aus der 1957 die Deutsche Bundesbank entstehen sollte, bekämpfte die Inflation mit einer restriktiven Geldpolitik, die Kredite knapp und teuer machte und etliche Unternehmen zur Aufgabe trieb. Erst die kräftig ansteigende Auslandsnachfrage in Folge des Ende Juni 1950 ausgebrochenen Korea-Krieges brachte die deutsche Konjunktur zum Laufen.304
30.000 Ölpreisschocks 1973/74 und 1979/80
25.000
Währungs- und Finanzkrise 2009
20.000 Wachstumskrise 1966/67
15.000
Wiedervereinigung 1990
10.000
5.000
0
Bruoinlandsprodukt pro Kopf in € (Preise von 2000)
304
Vgl. Giersch/Paqué/Schmieding (1992), S. 101–105. Kritisch dazu: Peter Temin (1995): The “Koreaboom” in West Germany: Fact or Fiction?, in: Economic History Review 48, S. 737–753.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
219
100.000
Ölpreisschocks 1973/74 und 1979/80 Wachstumskrise 1966/67
Wiedervereinigung 1990
10.000
Währungs- und Finanzkrise 2009
1.000
Bruoinlandsprodukt pro Kopf in € (Preise von 2000)
Abbildung 8.2:
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland 1946 bis 2010 (in €, lineare und logarithmische Darstellung)
Quellen:
Berechnet nach Albrecht Ritschl und Mark Spoerer (1997): Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 2, S. 51–54; Angaben ab 1991 nach Online-Datenbanken von OECD (GDP expenditure approach, national currency, constant prices, national base year) und Eurostat (Bevölkerung zum 1. Januar des Folgejahres).
Abbildung 8.2 verdeutlicht den starken wirtschaftlichen Aufschwung dieser Jahre. Das Bruttoinlandsprodukt ist dort bis 1990 für Westdeutschland und ab 1991 für die wiedervereinigte Bundesrepublik abgetragen. Verzerrende Effekte durch Preisveränderungen sind durch Zugrundelegen des Preisniveaus des Jahres 2000 ausgeschaltet. In den beiden Schaubildern ist derselbe Sachverhalt dargestellt, oben linear und unten logarithmisch abgetragen. In der logarithmischen Darstellung wird der Trend der wirtschaftlichen Entwicklung gut verdeutlicht (vgl. oben Kap. 2.2). Ausgehend von einem sehr geringen Niveau wuchsen die inländische Wirtschaftsleistung, und damit die Einkommen, zunächst sehr stark. Tabelle 8.3:
Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf (in Prozent)
Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate Quellen:
1948–60 9,3
1961–1973 3,5
1974–1990 2,1
1991–2010 1,4
Wie Abb. 8.2.
Ab 1960, als die Vollbeschäftigung erreicht wurde, flachten die jährlichen Wachstumsraten ab, erreichten jedoch im Zeitraum bis 1973 mit 3,5 Prozent immer noch einen Durchschnittswert, der nach 1991 nur noch in Spitzenjahren erreicht wurde (2006 und 2010). Ein Schrumpfen der jährlichen Wirtschaftsleistung gab es in den „Goldenen Jahren“, wie der Zeitraum von der Währungsreform bis ca. 1973 später genannt werden sollte, überhaupt nur einmal: 1967 schockierte ein realer Rückgang des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf von 0,5 Prozent die an Wachstum gewöhnte deutsche Öffentlichkeit.
220
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Die nächsten Wachstumseinbrüche erfolgten jeweils zwei Jahre nach unerwarteten und drastischen Preiserhöhungen für Erdöl im Oktober 1973 und ab Frühjahr 1979 (1975 –0,8 Pro– zent, 1982 –0,7 Prozent). Zu diesem Zeitpunkt produzierten von den hoch entwickelten Volkswirtschaften nur die Vereinigten Staaten selbst in großem Umfang Erdöl. Die Förderung in der Nordsee, von der vor allem Großbritannien und Norwegen profitieren sollten, wurde erst in Folge der Ölpreiserhöhungen seit 1973 in großem Umfang rentabel. Die Verteuerung der Erdölimporte wurde über Preiserhöhungen an die Kunden weitergegeben, was zu einem ganz neuen Phänomen führte: der Stagflation. Bis zur ersten Ölpreiskrise von 1973 entwickelten sich Konjunktur und Preise ungefähr gleichgerichtet. Seit dem 19. Jahrhundert war man daran gewöhnt, dass die Preise in einer boomenden Wirtschaft stiegen und in einer Phase der Stagnation nachgaben. Ab 1974 zog dagegen das zurückgehende und bald sogar negative Wirtschaftswachstum die Preise nicht mit sich, diese stiegen vielmehr weiter: Das gleichzeitige Auftreten von Stagnation und Inflation – v.a. in den Vereinigten Staaten und Großbritannien schon kurz vor 1973 existent – bereitete den Ökonomen Kopfzerbrechen. Heute erklärt man die Stagflation damit, dass in hoch industrialisierten Volkswirtschaften die Nachfrage nach Rohölprodukten kurzfristig sehr preisunelastisch ist – es dauert Zeit, bis effizientere Heizungssysteme, bessere Dämmmaterialien oder sparsamere Verbrennungsmotoren entwickelt und in großem Umfang eingesetzt werden. Das verteuerte Rohöl schlug auf die Preise durch, was wiederum zu höheren Lohnforderungen führte. Dies schließlich führte zu Entlassungen und nachlassendem Wirtschaftswachstum. Ölpreiskrise Auslöser der ersten Ölpreiskrise war im Herbst 1973 der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel auf der einen Seite und Ägypten und Syrien auf der anderen. Um die westlichen Industrieländer für ihre Unterstützung Israels zu sanktionieren, drosselte die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (OPEC) die Fördermengen. Der Ölpreis stieg im Zuge dieser Angebotsverknappung von rund drei Dollar je Barrel auf bis zu 12 Dollar je Barrel im Jahr 1974 an. Die Bundesrepublik reagierte auf diese Entwicklung mit der Einführung von insgesamt vier Sonntagsfahrverboten und von Geschwindigkeitsbegrenzungen. Längerfristig war die erste Ölkrise, die eine lange Phase real sinkender Erdölpreise beendete, umweltpolitisch durchaus wünschenswert, denn sie bedeutete den Startschuss für ernsthafte Bemühungen um eine Erhöhung der Energieeffizienz in allen entwickelten Ländern.305 In diesen Jahren kam es immer wieder zu Konflikten zwischen der Bundesregierung und der Bundesbank. Letztere, formal unabhängig und in erster Linie der Preisstabilität verpflichtet, verringerte das Geldmengenwachstum, um die Inflation einzudämmen. Die damit einhergehende Erhöhung der Zinsen drosselte die Konjunktur und ging zumindest kurzfristig zu Lasten der Beschäftigung. Der Rückgang des realen Pro-Kopf-BIP 1991 ist lediglich ein statistischer Artefakt. Ab 1991 wird in Abbildung 8.2 die ehemalige DDR mitberücksichtigt, deren Wirtschaftsleistung je Einwohner deutlich geringer war als die im Westen. Berücksichtigt man anders als in Abbil305
Zur langfristigen Entwicklung der Energieeffizienz vgl. Astrid Kander (2002): Economic Growth, Energy Consumption and CO2 Emissions in Sweden 1800–2000, 2. Aufl., Stockholm.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
221
dung 8.2 bereits für 1990 die gemeinsame Wirtschaftsleistung von BRD und DDR, so betrug das Wirtschaftswachstum 1991 im wiedervereinigten Deutschland sogar +5,1 Prozent. Nach dem Abflauen des vor allem von der Bauindustrie getragenen Wiedervereinigungsbooms brach das Wachstum 1992 ein und war 1993 sogar negativ (–1,2 Prozent). Zu weiteren Wachstumseinbrüchen kam es infolge der New Economy-Krise von 2001 (2002 –0,1 Prozent, 2003 –0,2 Prozent) und der Finanzkrise, die im September 2008 mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im Zuge der seit Sommer 2007 schwelenden Subprime-Krise ihren Anfang nahm. Der Wachstumseinbruch von 2009 war mit –4,5 Prozent in Deutschland der mit Abstand stärkste in Friedenszeiten seit der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre. 2007 = 1929? Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und die Finanz- und Schuldenkrise ab 2007 im Vergleich 1929 ff. 2007 ff. Ausgangspunkt
Vereinigte Staaten
Vereinigte Staaten, Europa
Ursachen
Überinvestitionen infolge zu optimistischer Wachstumserwartungen, prozyklische Fiskal- und Geldpolitik
(1) Ausweitung der Geldmenge durch Fed führt zu Kreditgewährung an wenig solvente Schuldner, v.a. im Immobilienbereich (2) Niedrige Zinsen unter dem Schutzschirm des Euro verleiten südeuropäische Staaten zu Schuldenaufnahme statt Strukturreformen
Internationale Kooperation
kaum, da innenpolitisch nicht durchsetzbar, stattdessen Protektionismus und Abwertungswettläufe
sehr weitgehend
Geldpolitischer Spielraum
gering, aufgrund von GoldDevisen-Standard
hoch, aber keine Differenzierung im Euro-Raum möglich
Folgen
Zusammenbruch des Weltwährungssystems und des Welthandels, jahrelange realwirtschaftliche Krise
Von Banken- über Währungs- zur Schuldenkrise, realwirtschaftliche Folgen v.a. in der europäischen Peripherie
222
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Die Schärfe des wirtschaftlichen Einbruchs seit Beginn der Finanzkrise von 2007 hat immer wieder zu Vergleichen mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre (und nebenbei auch zu einer Renaissance der Wirtschaftsgeschichte als Fach) geführt.306 Es ist heute (Mitte 2013) sicherlich zu früh, dies abschließend beurteilen zu können. Zwei wesentliche Unterschiede scheinen sich aber bereits jetzt schon festmachen zu lassen. Zum einen hatte der Zusammenbruch in den Vereinigten Staaten seit 1929 auch erhebliche realwirtschaftliche Ursachen, insbesondere Überinvestitionen, während die seit 2007 virulente Krise sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa ihre Ursache in der Geld- und Finanzpolitik hatten – wenn auch in ganz verschiedener Weise. Zum anderen ist die Einsicht, dass eine internationale Wirtschaftskrise koordiniert bekämpft werden muss, heute bei den Wählern – und damit auch bei den Politikern, die sich in Wahlen vor ihnen verantworten müssen – weitaus größer als in den 1930er Jahren. Nationale Parolen sind zwar auch heute zu hören, doch in deutlich geringerem Umfang als damals. 14
Arbeitslose in Prozent der Erwerbspersonen
12
10
8
6
4
2
20 10
05 20
00 20
5 19 9
0 19 9
5 19 8
0 19 8
19 75
0 19 7
5 19 6
0 19 6
5 19 5
19 5
0
0
Abbildung 8.3:
Arbeitslosenquote in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 2012
Quellen:
Angaben für 1950–1968 nach Deutsche Bundesbank (1998): 50 Jahre Deutsche Mark. Monetäre Statistiken 1948–1987, München, S. 4; Angaben ab 1969 nach Online-Datenbanken der OECD (OECD.Stats, Zugriff am 25.5.2013).
Die Konjunkturen des wirtschaftlichen Wachstums schlugen sich auch in den Beschäftigungsmöglichkeiten nieder. Abbildung 8.3 veranschaulicht mit der Arbeitslosigkeit die seit
306
Vgl. aus der Vielzahl einschlägiger Publikationen: Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff (2009): This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton; Johannes Bähr und Bernd Rudolph (2011): Finanzkrisen 1931, 2008, München; Albrecht Ritschl (2012): War 2008 das neue 1929? Richtige und falsche Vergleiche zwischen der Großen Depression der 1930er Jahre und der Großen Rezession von 2008, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 13, S. 36–57.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
223
mindestens den 1970er Jahren wohl wichtigste Variable in der öffentlichen Wahrnehmung der Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren zunächst spiegelbildlich zum Wirtschaftswachstum. Die boomende Nachkriegswirtschaft benötigte immer mehr Arbeitskräfte, so dass die nach dem Krieg ursprünglich sehr hohe Arbeitslosigkeit schnell abgebaut wurde. 1960 war trotz des nicht abbrechenden Zustroms von Flüchtlingen aus der DDR Vollbeschäftigung erreicht, so dass die Wirtschaft zur Befriedigung ihrer anhaltend großen Nachfrage in verstärktem Maße auf ausländische Arbeitskräfte zurückgriff. Dass man sich ihren Aufenthalt nur temporär vorstellte, kam in dem Begriff „Gastarbeiter“ zum Ausdruck. Zum damaligen Zeitpunkt ging man davon aus, dass die Beschäftigung von temporären Gastarbeitern wie ein Konjunkturpuffer wirkte. In einer wirtschaftlichen Krise und dem damit einhergehenden Arbeitsplatzrückgang würden bereits in Deutschland lebende Gastarbeiter vermehrt in ihre Heimatländer zurückkehren und gleichzeitig weniger neue Gastarbeiter nach Deutschland einreisen. Die hierdurch bewirkte Verringerung des Arbeitsangebots würde sicherstellen, dass Beschäftigungsschwankungen weitgehend von der Gruppe der Gastarbeiter aufgefangen wurden, während die Beschäftigungsverhältnisse der deutschen Arbeitnehmer trotz Krise weitgehend stabil blieben. Solch ein zyklisches Verhalten der Gastarbeiter setzte natürlich voraus, dass sie darauf vertrauen konnten, dass sie während einer wirtschaftlichen Erholung wieder ungehindert in die Bundesrepublik zurückkehren konnten. Dieses Vertrauen wurde durch den allgemeinen Anwerbestopp vom 23. November 1973 erschüttert. Die Gastarbeiter richteten sich nun darauf ein, langfristig in Deutschland zu bleiben und ihre Familien nachzuholen. Der Anteil der Gastarbeiter an allen Beschäftigten wuchs von 1,4 Prozent im Jahr 1960 auf 5,7 Prozent im Jahr 1966, reduzierte sich im Krisenjahr 1967 scharf auf 4,8 Prozent (Konjunkturpuffer) und stieg danach wieder bis 1973 auf einen Höchststand von 10,8 Prozent an. Im Jahr 1973 stammten von den insgesamt etwa 3 Millionen Gastarbeitern aus dem europäischen Ausland 29,5 Prozent aus der Türkei, 22,7 Prozent aus dem damaligen Jugoslawien, 20,4 Prozent aus Italien, 13,2 Prozent aus Griechenland und 9,3 Prozent aus Spanien.307 Giersch, Paqué und Schmieding weisen darauf hin, dass von der Beschäftigung von Gastarbeitern insofern auch negative Auswirkungen ausgingen, als sie den Strukturwandel in der Bundesrepublik verzerrte. Erstens habe der Zustrom billiger ausländischer Arbeitskräfte zu einem Aufbau zusätzlicher Produktionskapazitäten in den Low-Tech Branchen Eisen und Stahl, Metallverarbeitung sowie Textil und Bekleidung geführt, der sich spätestens dann als Fehlinvestition erwies, als in der beschleunigten Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts die Konkurrenz aus Niedriglohnländern stark anwuchs. Zweitens habe das hohe Arbeitsangebot von Gastarbeitern das deutsche Lohnniveau lange Zeit vergleichsweise niedrig gehalten, so dass der schnelle Ausbau des öffentlichen Sektors nicht von finanziellen Restriktionen beschränkt schien. Erst als die Löhne zu Beginn der siebziger Jahre stark anstiegen, wurde offensichtlich, dass angesichts der hohen Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst von nun an ein hoher Anteil der Staatseinnahmen dauerhaft für Personalausgaben aufgewendet werden musste.308 307
308
Vgl. Doris Weber (1997): Die Funktion der ausländischen Arbeitsanbieter aus den ehemaligen europäischen Anwerberstaaten als Beschäftigungspuffer in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 1973 bis 1990: eine qualitative und quantitative Analyse, Frankfurt a.M., S. 1–7. Vgl. Giersch/Paqué/Schmieding (1992), S. 136–138.
224
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Ein wichtiger Unterschied zwischen den „Goldenen Zwanzigern“ der Weimarer Republik und den Boomjahren der Bundesrepublik ist sicherlich, dass sich die Arbeitnehmer in der zuletzt genannten Periode lange Zeit mit moderaten Lohnerhöhungen zufrieden gaben. Dies mag daran gelegen haben, dass die Lage eines westdeutschen Arbeitnehmers in den 1960er Jahren insgesamt recht komfortabel war. In der Phase der Vollbeschäftigung trugen in aller Regel die Unternehmer die Kosten eines Arbeitsplatzwechsels und förderten hierdurch die regionale und sektorale Mobilität. Auch übernahmen die Gastarbeiter die schlecht bezahlten und wenig angesehenen Tätigkeiten, so dass die deutschen Arbeitskräfte Lohnsteigerungen vor allem durch Beförderungen und den Aufstieg in besser bezahlte Berufe realisieren konnten. Zu Beginn der 1970er endete jedoch die lohnpolitische Zurückhaltung der Gewerkschaften. Zwischen 1970 und 1974 wuchsen die Nominallöhne jährlich mit zweistelligen Wachstumsraten und zeitgleich fand auch die lange Phase der Vollbeschäftigung ein Ende. Schon die Wachstumsdelle von 1966/67 hatte sich naturgemäß in einem kurzzeitigen Anstieg der Arbeitslosigkeit, eines typischerweise nachlaufenden Konjunkturindikators, niedergeschlagen. Sie schnellte auch ein bis zwei Jahre nach den Ölpreisschocks von 1973 und 1979 nach oben. Mit dem Wiederanziehen der Konjunktur ging sie jedoch nicht, wie noch 1968/69, wieder auf den ursprünglichen Stand zurück, sondern verblieb auf einem deutlich höheren Niveau als vor der jeweiligen Krise. Die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit war geboren. Ab etwa 1973 veränderte sich also das Entwicklungsmuster am deutschen Arbeitsmarkt: Krisen zerstörten (erwartungsgemäß) Arbeitsplätze, doch der Wiederaufschwung schuf weniger neue. Der noch 1973 erlassene Anwerbestopp für Gastarbeiter sowie die nachfolgenden Rückkehrhilfen entlasteten den Arbeitsmarkt keineswegs. Erst in letzter Zeit scheint sich dieses Muster zu drehen. Seit 2006 ist die Arbeitslosenrate in der Bundesrepublik rückläufig – selbst die Finanzkrise der Jahre ab 2007 mit dem harten Einbruch des Wirtschaftswachstums von 2009 scheint diesen Trend nicht gestoppt zu haben. Ob dies auf die Arbeitsmarktreformen zurückzuführen ist, die 2002 bis 2005 unter der von Gerhard Schröder geführten Bundesregierung eingeführt wurden, oder auf gute Exportchancen durch das Verbleiben im Euro-Raum wird sich erst aus größerem zeitlichen Abstand beurteilen lassen. Insbesondere in der Soziologie und der Sozialgeschichte wird häufig die These vertreten, dass den Menschen in hoch industrialisierten Volkswirtschaften die Arbeit ausgehe, weil sie durch technischen Fortschritt wegrationalisiert oder in Billiglohnländer ausgelagert werde.309 Dass ein hohes Lohn- und Wohlfahrtsniveau mit Vollbeschäftigung vereinbar ist, haben insbesondere Staaten im nördlichen und nordwestlichen Europa in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt (Dänemark, Niederlande) – auch das Deutschland der frühen 2010er Jahre zeigt dies. Der technische Fortschritt steht dem keineswegs entgegen, sondern ermöglicht erst, mit im historischen Vergleich relativ wenig Arbeit einen hohen materiellen Wohlstand erreichen zu können. Dies veranschaulicht Abbildung 8.4.
309
Vgl. etwa symptomatisch: Gerhard Schildt (2006): Das Sinken des Arbeitsvolumens im Industriezeitalter, in: Geschichte und Gesellschaft 32, S. 119–148.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
225
3500
1870 3000
Jahresarbeitszeit (Stunden)
1913 1950
2500
1938 2000
1929
1973 1992
1500
1000
500
0 1
10
100
Arbeitsproduktivität (pro Arbeitsstunde), logarithmisch
Abbildung 8.4:
Steigende Arbeitsproduktivität und sinkende Arbeitszeiten
Quelle:
Mark Spoerer und Jochen Streb (2008): Leben, um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben? Warum uns der Rückgang der Jahresarbeitszeit in den letzten 125 Jahren nicht beunruhigen sollte, in: Geschichte und Gesellschaft 34, S. 124.
Im 19. Jahrhundert verdienten sich die meisten Menschen ihren Unterhalt durch harte körperliche Arbeit. Die Resultate waren – verglichen mit heute – sehr bescheiden. Daher lag der Lohn sehr niedrig und man musste lange arbeiten, um überhaupt an das Existenzminimum zu kommen. Durch den technischen (Maschinen) und organisatorischen (Arbeitsteilung) Fortschritt erhöhte sich die Produktion von Gütern oder Dienstleistungen pro Arbeitsstunde enorm. Die meisten Haushalte verdienen seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts weitaus mehr, als für die Deckung des Existenzminimums und unmittelbar darüber hinausgehende Konsumwünsche nötig wäre. Man muss daher nicht mehr so lange arbeiten, um anständig leben zu können – genau diese Entwicklung steht hinter dem von den Gewerkschaften mit Erfolg vertretenen Wunsch nach Reduktion der Arbeitszeit.
8.2.2
Ursachenforschung
Die Zeitgenossen nahmen das schnelle Wirtschaftswachstum und den rapiden Abbau der Arbeitslosigkeit in den 1950er Jahren und in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zunächst mit Erstaunen zur Kenntnis, steigerten sich aber dann in einen Wachstums- und Fortschrittsoptimismus, der heute befremdlich wirkt. Dem Wachstumseinbruch 1966/67 begegnete man im Juni 1967 mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, das die Politik der öffentlichen Haushalte auf die vier Ziele Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum verpflichtete. Theoretisch war und ist ein solches Programm Illusion, weil man nicht alle vier Ziele simultan verwirklichen kann. Doch das „magische Viereck“ symbolisiert anschaulich den Planungs-
226
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
optimismus, dem die (Wirtschafts-) Politik noch in den 1960er Jahren anhing. „Globalsteuerung“ hieß das sich auf Keynes berufende Paradigma, dem sich Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller verpflichtet sah.310 Als nach 1973 die Wachstumsraten mit der ersten Ölpreiskrise zurückgingen und die Arbeitslosigkeit nach anderthalb Jahrzehnten Vollbeschäftigung zum sozialpolitischen Dauerproblem der Bundesrepublik wurde, suchte man verstärkt nach Ursachen sowohl für die wirtschaftliche Dynamik vor 1974 als auch für ihr Nachlassen danach. Eine nach wie vor populäre Erklärung ist der Rekurs auf die vermeintlichen Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft. Insbesondere der langjährige Bundeswirtschaftsminister (1949– 1963) und spätere Bundeskanzler (1963–1966) Ludwig Erhard habe der Bundesrepublik mit der Sozialen Marktwirtschaft einen ordnungspolitischen institutionellen Rahmen beschert, der Unternehmern wie Angestellten und Arbeitern die richtigen Anreize gegeben habe, um sich mit Fleiß und Lohndisziplin das „Wirtschaftswunder“ zu erarbeiten. In diesem wirtschaftspolitischen Gründungsmythos der Bundesrepublik wird dann der Ausbau des Wohlfahrtsstaats – insbesondere unter der sozialliberalen Koalition mit den Bundeskanzlern Willy Brandt (1969– 1973) und Helmut Schmidt (1973–1982) – als Kardinalfehler gesehen, der die Gründungsdynamik habe erlahmen lassen. Doch auch unter bürgerlich-liberalen Regierungen schwenkte die Wirtschaft der Bundesrepublik nicht wieder auf den Wachstumskurs des ersten Vierteljahrhunderts nach der Währungsreform ein. Manche Kritiker warfen diesen Regierungen vor, ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht angebotsorientiert genug betrieben zu haben.311 Der größte Schwachpunkt dieses Arguments ist die Fixierung auf die deutsche Entwicklung. Insbesondere der Wirtschaftshistoriker Ludger Lindlar hat 1997 in seinem Buch „Das mißverstandene Wirtschaftswunder“ darauf hingewiesen, dass der deutsche Fall keineswegs spezifisch deutsch – und damit spezifisch deutschen Tugenden oder institutionellen Arrangements geschuldet – war, sondern Teil einer westeuropäischen Nachkriegsentwicklung war. Alle europäischen Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein demokratisches Regierungssystem und eine kapitalistische Wirtschaftsordnung gewählt hatten, durchliefen eine sehr ähnliche wirtschaftliche und sozialstaatliche Entwicklung.312 Das vergleichsweise geringe Wachstum der Vereinigten Staaten – unzweifelhaft die maßgebliche Wirtschaftsgroßmacht seit mindestens Ende des Ersten Weltkriegs – gab bereits in den 1960er Jahren Anlass, zwei weitere Hypothesen für das westeuropäische – und damit auch deutsche – Wachstumsmuster nach 1945 zu entwickeln: Catching-up und Rekonstruktion.313 Die Catching-up-Hypothese besagt, dass in der langen und friedlichen Phase nach 1945 die westeuropäischen Staaten die Chance hatten, sich dem Produktivitätsführer USA anzu-
310
311 312 313
Vgl. Alexander Nützenadel (2005): Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen, S. 306–315; Tim Schanetzky (2007): Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin, S. 55–100. Vgl. etwa Michael v. Prollius (2006): Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen, S. 216f. Vgl. Ludger Lindlar (1997): Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen. Vgl. Barry Eichengreen und Albrecht Ritschl (2009): Understanding West German Economic Growth in the 1950s, in: Cliometrica 3, S. 191–219.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
227
Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bis 1960
nähern.314 Für dasjenige Land, das weltweit Produktivitätsführer ist, also v.a. in Hochtechnologiebereichen führt, ist es relativ mühselig, durch Innovationsprozesse an der jeweiligen Forschungsfront weiteres Produktivitätswachstum zu erzielen. Für nachfolgende Länder hingegen, die über gewisse Grundvoraussetzungen („Social capabilities“315) verfügen, insbesondere einen guten Ausbildungsstand der Bevölkerung, ist es durch Imitation möglich, zum Produktivitätsführer aufzuschließen. Dies schlägt sich in höheren Wachstumsraten nieder. Die Produktivitäts- und damit Wohlstandsniveaus von Produktivitätsführer und –nachfolgern konvergieren. 10 A
9 JPN
8
I
D F
7
NL
6 5 4
DK
SF N
CDN
3
B
UK AUS
S
2
CH
US
1 0 0
20
40
60
80
100
120
Reales Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (USA=100)
Abbildung 8.5:
Ausgangsniveau und Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg
Anm.:
Inflationsbereinigte Wachstumsraten der Werte vom jeweiligen Tiefpunkt nach 1945 bis 1960 (geometrisches Mittel). Länderkürzel: A – Österreich, AUS – Australien, B – Belgien, CDN – Kanada, CH – Schweiz, D – Deutschland (West), DK – Dänemark, F – Frankreich, I – Italien, JPN – Japan, N – Norwegen, NL – Niederlande, S – Schweden, SF – Finnland, UK – Großbritannien, US – Vereinigte Staaten.
Quelle:
Mark Spoerer (2007): Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Thomas Hertfelder und Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland: Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen, S. 35, nach Daten in Ludger Lindlar (1997): Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen, S. 31.
Die Rekonstruktionshypothese beansprucht Gültigkeit für den Fall starker exogener Schocks, etwa eines Kriegs oder eines katastrophalen Naturereignisses. Demzufolge erlaubt es das technologische Know-how und der vergleichsweise wenig beeinträchtigte Humankapitalbestand einer derart getroffenen Volkswirtschaft, das ursprüngliche Wohlstandsniveau durch hohe In-
314
315
Zur „Amerikanisierung“ der Bundesrepublik vgl. z.B. Christian Kleinschmidt (2002): Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin. Vgl. Moses Abramovitz (1986): Catching-Up, Forging Ahead, and Falling Behind, in: Journal of Economic History 46, S. 385–406.
228
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
vestitionen in den beschädigten Kapitalstock relativ schnell wieder zu erreichen. Im Rekonstruktionsprozess fallen die Wachstumsraten daher zunächst sehr hoch aus und flachen dann ab. In Abbildung 8.5 ist auf der waagerechten Achse der jeweilige Tiefpunkt des Wohlstandsniveaus nach dem Zweiten Weltkrieg in Relation zu den Vereinigten Staaten (gleich 100 gesetzt, meist das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner von 1945 oder 1946) abgetragen. Auf der vertikalen Achse erscheinen die durchschnittlichen jährlichen realen Wachstumsraten vom Jahr des Tiefpunkts bis 1960. Generell erlebten Länder, die besonders stark vom Krieg betroffen waren, in der Nachkriegszeit ein stürmisches Wachstum von jährlich sieben bis neun Prozent, wie etwa die Kriegsverlierer Deutschland (West), Österreich, Italien und Japan sowie Frankreich und die Niederlande, die erhebliche Kriegsschäden und ein relativ hartes Besatzungsregime erlitten hatten. Vom Krieg weniger stark betroffene bzw. neutrale Länder wiesen dagegen mit drei bis vier Prozent weitaus geringere Wachstumsraten auf, die nur geringfügig über denen der angelsächsischen Staaten und der Schweiz lagen. Das niedrigste Wachstum unter den betrachteten Ländern erzielte der Produktivitätsführer Vereinigte Staaten. Nicht betrachtet sind hier die ost(mittel)europäischen Staaten, denen die von der Sowjetunion aufgezwungene Planwirtschaft keine vergleichbaren Wachstumschancen bescherte, obwohl weit entwickelte Staaten wie etwa die Tschechoslowakei diese sicherlich gut hätten wahrnehmen können. Die Catching-Up- und die Rekonstruktionshypothese schließen sich nicht aus; beide sind mit den in Abbildung 8.5 gezeigten empirischen Daten vereinbar. Welcher Hypothese höhere Erklärungskraft zukommt, hat der Wirtschaftshistoriker Tamás Vonyó in einer ökonometrischen Analyse für 16 Staaten der OECD untersucht. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Frage, welche Faktoren das nach Zeitraum und Land unterschiedliche Pro-KopfWachstum erklären. Neben der Catching-up- und der Rekonstruktionshypothese interessiert er sich auch für den Erklärungsbeitrag einer weiteren Hypothese, nämlich dem Zuwachs der Arbeitskräfte, insbesondere durch Migration (z.B. ethnisch deutsche Vertriebene und Flüchtlinge nach Westdeutschland, französische Flüchtlinge aus Algerien etc.). Als abhängige Variable bestimmt Vonyó das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Wachstum in den vier Dekaden, die 1950, 1960, 1970 und 1980 begannen. Als unabhängige Variable zur Messung des Catching-up-Potentials (CATCH) wählt er den Abstand des Pro-KopfEinkommen am Beginn einer Dekade zum Pro-Kopf-Einkommen der Vereinigten Staaten im Jahre 1970, also der Mitte des Betrachtungszeitraums. Zur Messung des Rekonstruktionspotentials (RECON) wird die kriegsbedingte Output-Lücke herangezogen, die sich im Vergleich zum tatsächlichen Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 1948 ergibt, wenn man das Durchschnittswachstum von 1920 bis 1938 zugrunde legt und bis 1948 extrapoliert. Schließlich berücksichtigt Vonyó das Wachstum der ökonomisch aktiven Bevölkerung in einer Dekade (WORK). Trifft die Catching-up-Hypothese zu, so sollte der Abstand des Einkommens zu den USA (CATCH) einen besonders hohen Beitrag zur Erklärung des beobachteten Wirtschaftswachstum leisten, trifft die Rekonstruktionshypothese zu, so gilt dies für die Variable „RECON“, und ist Arbeitskräftemigration ein wichtiger Punkt, so müsste die Variable „WORK“ einen hohen Anteil aufweisen. Zusätzlich wird über sogenannte fixed effects das zeitinvariante länderspezifische Wachstumstempo (LAND) geschätzt, das unter anderem durch die jeweilige Ausgestaltung der nationalen Bildungs- und Forschungssysteme bestimmt wird. Die Ergebnisse von Vonyós Wachstumsanalyse sind in Tabelle 8.4 zusammengefasst.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
229
Das empirisch beobachtete Wachstum steht in Spalte (1). Würden die gewählten unabhängigen Variablen und die vom Modell berechneten Koeffizienten die (gemessene) Realität vollständig erklären, so müsste die Summe der Werte in den Spalten (2) bis (5), hier addiert in Spalte (6), mit den Werten in Spalte (1) übereinstimmen. Wie bei jeder Regression im sozialwissenschaftlichen Bereich passt das Modell jedoch nicht perfekt, so dass sich Residuen der Schätzung ergeben (Spalte (7) = (1) – (6)). Je höher das Residuum, desto schlechter erklärt das Modell das Zustandekommen der Werte in Spalte (1). Tabelle 8.4:
Geschätzte Quellen des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in fünf OECD-Ländern Periode
Deutschland
Frankreich
Großbritannien
Italien
Schweiz
1950er 1960er 1970er 1980er 1950er 1960er 1970er 1980er 1950er 1960er 1970er 1980er 1950er 1960er 1970er 1980er 1950er 1960er 1970er 1980er
(1) Wachstumsrate 7,05 3,50 2,90 1,97 3,65 4,46 3,02 1,73 2,27 2,24 2,04 2,21 5,39 5,21 3,25 1,99 3,04 3,10 1,06 1,61
(2) CATCH
(3) WORK
(4) RECON
(5) LAND
(6) Erklärt
1,99 1,20 0,54 –0,10 1,81 1,39 0,62 –0,02 1,51 1,18 0,78 0,39 2,15 1,71 1,01 0,33 1,11 0,48 –0,34 –0,69
1,28 0,09 0,35 0,71 0,20 0,78 0,84 0,31 0,29 0,49 0,45 0,48 0,09 0,14 0,57 0,68 1,37 1,25 0,46 1,48
3,15 2,31 1,47 0,64 1,22 0,89 0,57 0,25 0,51 0,38 0,24 0,10 1,48 1,09 0,69 0,30 –0,86 –0,63 –0,40 –0,17
0,45 0,45 0,45 0,45 1,00 1,00 1,00 1,00 0,49 0,49 0,49 0,49 1,40 1,40 1,40 1,40 1,44 1,44 1,44 1,44
6,86 4,05 2,81 1,70 4,23 4,06 3,03 1,53 2,80 2,53 1,96 1,46 5,12 4,33 3,67 2,71 3,07 2,54 1,15 2,05
(7) Residuum 0,19 –0,56 0,09 0,28 –0,58 0,40 –0,01 0,19 –0,53 –0,30 0,08 0,75 0,27 0,87 –0,42 –0,72 –0,02 0,56 –0,10 –0,44
Anm.:
Die im Falle der Schweiz durchgängig negativen Werte für die Variable RECON ergeben sich aus dem Umstand, dass das tatsächliche Pro-Kopf-Einkommen in diesem Land 1948 höher war als jenes, das sich kontrafaktisch durch Extrapolation des Durchschnittswachstums von 1920 bis 1938 ergibt. Die Schweiz realisierte im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit relativ zu ihren Nachbarn überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten.
Quelle:
Tamás Vonyó (2008): Post-War Reconstruction and the Golden Age of Economic Growth, in: European Review of Economic History 12, S. 234.
Zunächst zeigt die Tabelle, dass die deutschen Wachstumsraten in den 1950er Jahren außerordentlich hoch waren – wie der Vergleich mit Abbildung 8.5 zeigt, in die auch die Wachstumsraten der späten 1940er Jahre einfließen, hatten andere Länder ihr stärkstes Wachstum kurz nach 1945, als die Entwicklung in Deutschland noch auf niedrigem Niveau verharrte. Bereits in den 1960er Jahren erreichten andere Länder höhere Wachstumsraten als Westdeutschland – interessanterweise zum Beispiel Frankreich, dass zu diesem Zeitpunkt mit der planification noch eine gemäßigte Form der zentralen Wirtschaftsplanung verfolgte. In allen größeren europäischen Staaten der OECD gingen ebenso wie in Japan und den Vereinigten Staaten die Wachstumsraten in den 1970er und 1980er Jahren stark zurück.
230
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Die Analyse des Einflusses der Wachstumsfaktoren zeigt, dass für die deutschen Wachstumsraten zu Zeiten des sogenannten „Wirtschaftswunders“ in den 1950er Jahren die Variable „RECON“ mit 45 Prozent (=3,15/7,05) den mit Abstand größten Erklärungsbeitrag leistet. Demzufolge sind die hohen Wachstumsraten in den 1950er Jahren einem kriegsbedingten Nachholeffekt zuzuschreiben, wie er für andere Staaten – wenn auch in geringerem Umfang – auch messbar ist (z.B. Italien). Für ein vom Krieg nicht direkt betroffenes Land wie die Schweiz dagegen spielt die Rekonstruktion keine Rolle. In Deutschland bleibt das Rekonstruktionswachstum bis in die 1970er Jahre der wichtigste Wachstumsfaktor. Werner Abelshauser vertritt in seiner Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik die Auffassung, dass das deutsche Produktionsregime, das eher auf Kooperation als auf Konkurrenz der verschiedenen Akteursgruppen ausgelegt ist, die deutsche Wirtschaft in besonderem Maße befähigt hat, auf die Herausforderungen der internationalen Reintegration nach 1945 zu reagieren.316 Deshalb könne heute eine zu schnelle und unüberlegte Übernahme angelsächsischer Institutionen das deutsche Erfolgsmodell erheblich gefährden. Vonyós international vergleichende Wachstumsanalyse stellt dieses Loblied auf die Vorzüge des Rheinischen Kapitalismus bzw. der „Deutschland AG“ in Frage. Vor allem ist auffällig, dass das zeitinvariante länderspezifische Wachstumstempo (LAND) mit nur 0,45 Prozent im Vergleich zu Frankreich, Italien oder der Schweiz sehr niedrig ist. Die relative Wachstumsschwäche der 1960er und 1970er Jahre zeigt überdies, dass sich die Bundesrepublik nach Durchführung der Rekonstruktion schwer tat, mit dem Wachstumstempo ihrer europäischen Nachbarn mitzuhalten. In Frankreich und insbesondere in Großbritannien ist der Einkommensabstand zu den Vereinigten Staaten – also das Catching-up-Argument – die entscheidende Größe. Arbeitskräftemigration ist diesem Modell zufolge vor allem in der Bundesrepublik und der Schweiz in den 1950er und 1960er Jahren ein wichtiger Wachstumsfaktor gewesen. Hier lässt sich allerdings auch modellkritisch fragen, ob die Kausalrichtung nicht umgekehrt war: hohes Wirtschaftswachstum lockte Migranten aus Ostdeutschland bzw. Südeuropa an. Vonyós Analyse, die in einer Traditionslinie zu anderen Autoren steht, die mit ähnlichen Ansätzen vergleichbare Ergebnisse erzielten,317 bringt das ominöse „Wirtschaftswunder“ auf den Boden der Tatsachen zurück. Es war eben kein „Wunder“, sondern ein Aufholprozess, wie er in anderen westeuropäischen Staaten in ähnlicher Form stattfand. Die eigentliche Leistung sind die ordnungspolitischen Weichenstellungen, die 1948 vorgenommen wurden. Westdeutschland wurde nicht kommunistisch, sondern wieder kapitalistisch und demokratisch. Das war keine geringe Leistung, doch sie ist vor allem den amerikanischen Besatzern zu verdanken. Offen bleibt noch die Frage, ob die Wachstumsdynamik durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaats gebremst wurde. Diese Frage werden wir im übernächsten Kapitel noch einmal aufgreifen. Dieses Kapitel abschließend wenden wir uns nun auf einer niedrigeren Aggregationsebene der Wirtschaftsentwicklung der deutschen Bundesländer zu.
316 317
Vgl. Abelshauser (2004), S. 39, 452. Vgl. Rolf H. Dumke (1990): Reassessing the Wirtschaftswunder: Reconstruction and Postwar Growth in West Germany in an International Context, in: Oxford Bulletin of Economics and Statistics 52, S. 451–491; Lindlar (1997), S. 26.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
231
Nicole Waidlein untersucht die wirtschaftliche Entwicklung der westdeutschen Bundesländer einschließlich Westberlins für den Zeitraum zwischen 1950 und 1990.318 Wenn die Annahme der Catching-up-Hypothese richtig ist, dass es die lang anhaltende friedliche Reintegration der Weltwirtschaft nach 1945 rückständigen Ländern erlaubte, durch die Imitation von Technologien und Managementtechniken zum Produktivitätsführer USA aufzuschließen, könnte ein vergleichbarer Prozess auch zwischen den deutschen Bundesländern stattgefunden haben, deren wirtschaftliche Annäherung durch gleiche formale Institutionen, durch eine gemeinsame Sprache und durch die geographische Nähe im Vergleich zur postulierten internationalen Konvergenz sogar noch erheblich erleichtert wurde. In Abbildung 8.6 wird der wirtschaftliche Annäherungsprozess zwischen den westdeutschen Bundesländern mit Hilfe des Konzepts der sogenannten Sigma-Konvergenz dargestellt, die berechnet wird, in dem man die Standardabweichung der jeweiligen jährlichen Pro-KopfEinkommen der Bundesländer durch ihren Mittelwert dividiert. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Bundesländern sind umso geringer, je niedriger der Wert der SigmaKonvergenz ist. Ein Wert von null würde vollständige Gleichheit der Pro-Kopf-Einkommen bedeuten. Eine im Zeitablauf sinkende Sigma-Konvergenz veranschaulicht somit eine zunehmende wirtschaftliche Gleichheit, eine ansteigende Sigma-Konvergenz weist auf zunehmende Ungleichheit hin. 0,35
0,30
0,25
0,20 VarK aller Bundesländer VarK der Flächenstaaten 0,15
0,10
0,05
0,00 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990
Abbildung 8.6:
Die Konvergenz der westdeutschen Bundesländer 1950 bis 1990
Quelle:
Nicole Waidlein (2012): Eine empirische Analyse der Ursachen der persistenten Produktivitätsunterschiede zwischen den westdeutschen Bundesländern im Zeitraum von 1950 bis 1990, Dissertation Hohenheim.
318
Vgl. Waidlein, Nicole (2012): Eine empirische Analyse der Ursachen der persistenten Produktivitätsunterschiede zwischen den westdeutschen Bundesländern im Zeitraum von 1950 bis 1990, Dissertation Hohenheim.
232
8 Wie der Phönix aus der Asche? Das westdeutsche „Wirtschaftswunder“
Betrachtet man nur die Flächenstaaten (die untere Linie), da die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und insbesondere das geographisch isolierte Westberlin speziellen Wachstumsmustern unterworfen waren, stellt man fest, dass sich zwischen 1955 und etwa 1965 ein rasanter Konvergenzprozess vollzog, den Waidlein aber nicht durch technologisches Catching-up, sondern durch die geographische Umverteilung (Migration) der Arbeitskräfte von den ländlichen Bundesländern in die Industriezentren erklärt. Das verblüffendste Ergebnis ist sicherlich, dass nach 1965 keine nachhaltige wirtschaftliche Annäherung der westdeutschen Bundesländer mehr stattgefunden hat, eher ist im Trend sogar eine leichte Divergenz zu beobachten. Länderfinanzausgleich Aufgrund des bereits im Jahr 1950 eingeführten Länderfinanzausgleichs sind Bundesländer mit vergleichsweise hohen Steuereinnahmen pro Kopf der Bevölkerung dazu verpflichtet, finanzschwache Bundesländer durch Ausgleichszahlungen zu unterstützen. Vor der Wiedervereinigung waren Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und NordrheinWestfalen permanente Geberländer. Nur Bayern hat sich im Zeitablauf von einem Nehmerland zu einem Geberland entwickelt; Nordrhein-Westfalen ist auf den Status eines Nehmerlands zurückgefallen. Im Jahr 2012 standen mit Baden-Württemberg, Bayern und Hessen nur noch drei Geberländer insgesamt 13 Nehmerländern gegenüber. Dieser letzte Befund legt drei unbequeme Schlussfolgerungen nahe. Erstens weckt die nicht erfolgte Konvergenz der westlichen Bundesländer Zweifel an der allgemeinen Erklärungskraft der Catching-up-Hypothese. Zweitens bestätigt sich die Vermutung vieler Kritiker, dass der Länderfinanzausgleich wenig dazu beigetragen hat, zu einer Angleichung der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zu führen. Drittens lässt der Umstand, dass es Bundesländern wie dem Saarland oder Schleswig-Holstein über einen langen Zeitraum hinweg nicht gelungen ist, zu Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Bayern wirtschaftlich aufzuschließen, befürchten, dass auch die neuen Bundesländer der ehemaligen DDR geringe Chancen haben, auf absehbare Zeit das gleiche wirtschaftliche Niveau wie die westlichen Bundesländer zu erreichen. Der Ökonom und ehemalige Finanzminister von Sachsen-Anhalt Karl-Heinz Paqué sieht das Ende der Konvergenz auch auf europäischer Ebene gekommen: „Europa bleibt vorerst ein wirtschaftlich gespaltener Kontinent. Die Spaltung verläuft dabei zweifach mitten durch die Europäische Union: zwischen Nord und Süd und zwischen West und Ost, und in dieser Hinsicht mitten durch Deutschland.“319 Um diese pessimistische Einschätzung einordnen zu können, muss man sich fragen, woher die Persistenz der wirtschaftlichen Unterschiede herrührt. Nicole Waidlein identifiziert das anhaltend unterschiedliche Produktivitätsniveau der westlichen Bundesländer als eigentliche Ursache der nicht erfolgenden Konvergenz, was den Befund, dass nachhaltiges technologisches Catching-up unterblieb, präzisiert. Als wesentliche Determinante zur Erklärung der Produktivitätsunterschiede erweist sich das länderspezifische Innovationspotential, gemessen 319
Karl-Heinz Paqué (2012): Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert? Eine Zwischenbilanz 1990–2010, in: Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart, S. 179–203, hier S. 201.
8.2 Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
233
am Patentbestand pro Kopf der Bevölkerung. Dieses Ergebnis bestätigt unsere schon in Kapitel 4.2 diskutierte Hypothese. Das Potential zur Entwicklung erfolgreicher Innovationen und damit zu Wirtschaftswachstum ist in Folge eines pfadabhängigen Prozesses sehr ungleich über Regionen verteilt und kann von rückständigen Regionen nicht ohne weiteres in kurzer Frist aufgeholt werden.
9
Rückkehr zur Normalität
Der Begriff „Rückkehr zur Normalität“ besitzt in diesem Kapitel eine doppelte Bedeutung. Erstens beschreibt er die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft. Diese Entwicklung wird in Kapitel 9.1 beschrieben. Zweitens bedeutet „Rückkehr zur Normalität“ aber auch das Ende der überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten der 1950er und 1960er Jahre (vgl. Abb. 2.1). In den nun folgenden Dekaden gemäßigten Wirtschaftswachstums traten Schwächen der institutionellen Rahmenordnung zu Tage, die in den Wirtschaftswunderjahren noch übersehen werden konnten. Mit dieser Problematik setzen sich die Kapitel 9.2 und 9.3 auseinander.
9.1
Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
9.1.1
Währung und Wechselkursregimes
Die USA hatten während des Zweiten Weltkriegs nicht nur ihre Produktionskapazitäten erheblich vergrößert, sondern vor allem ihren traditionellen Produktivitätsvorsprung gegenüber den europäischen (und asiatischen) Volkswirtschaften weiter ausgebaut. Angesichts dieses wirtschaftlichen Gefälles blieb insbesondere den Westeuropäern in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum eine andere Möglichkeit, als die für die Versorgung der Bevölkerung und den Wiederaufbau dringend benötigten Nahrungsmittel, Rohstoffe und Investitionsgüter aus den USA zu beziehen. Folglich stieg das Handelsdefizit Westeuropas enorm an. Im Jahr 1938 hatten sich die amerikanischen Ausfuhren nach Westeuropa noch auf 250 Prozent der amerikanischen Einfuhren aus Westeuropa belaufen. Im Jahr 1947 war dieser Wert auf 700 Prozent angewachsen.320 Ein derartig hohes Handelsbilanzdefizit war auf Dauer nicht durchzuhalten, da den durch den Zweiten Krieg geschwächten westeuropäischen Volkswirtschaften bald die Dollar- und Goldreserven ausgegangen wären, die zur Finanzierung der ansteigenden Importüberschüsse notwendig waren. Diese „Dollar-Lücke“ besaß auch erhebliche politische Brisanz im aufkommenden Kalten Krieg, da zumindest die Amerikaner befürchteten, dass eine Not leidende westeuropäische Bevölkerung empfänglicher für die Agitation kommunistischer Parteien wäre. Wie bereits in Kapitel 8.2 erläutert, wurde zur kurzfristigen Verminderung der „Dollar-Lücke“ der Marshall-Plan eingesetzt. Mittelfristig sollte die ebenfalls auf amerikanische Initiative hin eingeführte Europäische Zahlungsunion (EZU) den Dollarbedarf zumindest im innereuropäischen Handel verringern.
320
Vgl. Christoph Buchheim (1990): Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945–1958, München, S. 112.
236
9 Rückkehr zur Normalität
Die Europäische Zahlungsunion wurde im September 1950 rückwirkend zum 1. Juli des gleichen Jahres gegründet.321 Unterzeichner des Abkommens waren die Regierungen von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden, der Schweiz und der Türkei. Zum Geltungsbereich der EZU zählten indirekt auch die vielen nicht-europäischen Volkswirtschaften, die zu diesem Zeitpunkt von den westeuropäischen Ländern währungspolitisch abhängig waren, so zum Beispiel die verbliebenen Mitglieder des Sterlingblocks. Insgesamt wurde deshalb ein großer Anteil des damaligen Welthandels primär über die EZU abgerechnet. Das unten beschriebene und weitaus bekanntere System von Bretton Woods erlangte deshalb erst dann seine eigentliche Bedeutung als globales Währungssystem, als im Dezember 1958 die westeuropäischen Währungen auch gegenüber dem Dollar für konvertibel erklärt und die EZU liquidiert wurde. Zweck der EZU war es, einen multilateralen Clearingmechanismus zur Einsparung knapper Dollarreserven im innereuropäischen Außenhandel zu etablieren. Hierzu eröffneten in einem ersten Schritt die Zentralbanken der EZU-Mitgliedsstaaten einander bilaterale Verrechnungskonten, auf denen für die Dauer eines Monats Kredite in der jeweils inländischen Währung in unbegrenzter Höhe zur Finanzierung von Importaktivitäten des jeweiligen Außenhandelspartners zur Verfügung gestellt wurden. Am letzten Werktag eines Kalendermonats wurden alle bilateralen Kontostände an die EZU gemeldet. Diese bestimmte durch Aggregation aller bilateralen Salden eines bestimmten Landes dessen Nettoposition gegenüber der Gesamtheit aller EZU-Mitgliedsländer, und zwar umgerechnet zu der in der EZU verwendeten Rechnungseinheit, die als 0,89 g Feingold definiert war und deren Feingewicht somit der Goldparität des Dollars entsprach. Wenn beispielsweise die Bundesrepublik gegenüber Frankreich ein monatliches Handelsbilanzdefizit von 2 Millionen Dollar aufwies, gleichzeitig aber einen Handelsbilanzüberschuss gegenüber Italien von 1 Million Dollar erwirtschaftet hatte (und gegenüber allen anderen Mitgliedsländern eine ausgeglichene Handelsbilanz aufwies), schuldete sie mit einer negativen Nettoposition von 1 Million Dollar der EZU diesen Betrag als Ausgleichzahlung. Umgekehrt hatten Volkswirtschaften mit einer positiven Nettoposition einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung von der EZU. Zur Verringerung des innereuropäischen Bedarfs an Dollar führte die Bestimmung, dass die monatlich anfallenden Ausgleichszahlungen zunächst nur zum Teil tatsächlich in Dollar (oder Gold) erfolgen musste. Der verbleibende Teil wurde durch Kreditgewährung von oder an die EZU abgedeckt. Das jeweils gültige Verhältnis von Dollarzahlung zu Kredit richtete sich danach, in welchem Ausmaß ein Mitgliedsland durch vorangegangene Überschüsse oder Defizite seine ihm zugeteilte Quote bereits kumulativ in Anspruch genommen hatte. Jedem Mitgliedsland war nämlich bei Inkrafttreten der EZU eine in fünf Tranchen aufgeteilte Quote zugewiesen worden, die in der Regel 15 Prozent seines Umsatzes im Handels- und Dienstleistungsverkehrs mit den Partnerländern im Jahr 1949 entsprach. Um die Nettoschuldner zu Strukturreformen anzuhalten, stieg ihre Verpflichtung zur Ausgleichszahlung in Dollar mit wachsender Ausnutzung der Quote progressiv an. Die ursprüngliche Regelung sah innerhalb der ersten Tranche 0 Prozent Ausgleich in Dollar vor, in der zweiten 20 Prozent, in der drit-
321
Vgl. Jacob J. Kaplan und Günther Schleiminger (1989): The European Payments Union. Financial Diplomacy in the 1950s, Oxford, insb. S. 91–94.
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
237
ten 40 Prozent, in der vierten 60 Prozent und in der fünften 80 Prozent.322 Die Nettogläubiger erhielten im Gegensatz dazu ab der zweiten Tranche nur 50 Prozent ihrer positiven Nettoposition in Dollar ausgezahlt, um anders als im Gold-Devisen-Standard der Zwischenkriegszeit die Anreize zur Ansammlung von Exportüberschüssen zu verringern. In einigen Fällen kehrte sich die Handelsbilanzentwicklung eines Mitgliedslands im Zeitverlauf um, was dank der kumulativen Addition der monatlichen Nettopositionen zu einem Saldenausgleich über die Zeit führte. Zwischen Juli 1950 und Dezember 1958 beliefen sich die bilateralen Überschüsse und Defizite der EZU-Mitgliedsländer insgesamt auf 46,4 Milliarden Dollar. 43 Prozent dieser Salden verschwanden bereits durch die multilaterale Verrechnung im Rahmen der Bildung der Nettopositionen. Weitere 27 Prozent wurden über die Umkehr der Salden über die Zeit kompensiert, so dass nur für 30 Prozent der bilateralen Ungleichgewichte überhaupt eine Ausgleichszahlung notwendig wurde, die ihrerseits zu fast 90 Prozent durch Goldzahlungen erfolgte.323 Wie die Erfahrungen der 1930er Jahre nahelegen, wäre in einer kontrafaktischen Welt anhaltender Devisenbewirtschaftung und bilateraler Handelsabkommen der Ausgleich von bilateralen Handelsbilanzungleichgewichten über den Raum und die Zeit ungleich schwieriger gewesen, so dass davon auszugehen ist, dass die EZU den innereuropäischen Außenhandel in den Zeiten der Dollar-Lücke erheblich gefördert hat und somit zum europäischen Wirtschaftsaufschwung der Boomjahre maßgeblich beigetragen hat. Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass jeder zur Finanzierung des innereuropäischen Außenhandels nicht benötigte Dollar für die Einfuhr amerikanischer Waren genutzt werden konnte. Es war ausgerechnet der spätere „Exportweltmeister“, der die EZU unmittelbar nach Inkrafttreten in eine schwerwiegende Krise stürzte und damit deren längerfristige Erfolgsgeschichte ernsthaft gefährdete.324 Die Bundesrepublik hatte schon Ende September 1950 über 50 Prozent der ihr maximal zugewiesenen Schuldnerquote aufgebraucht. Da die EZU hoffte, dass diese Probleme nur kurzfristiger Natur waren und die Bundesrepublik spätestens im Frühjahr 1951 eine ausgeglichene Handelsbilanz erreichen würde, stellte sie im November 1950 einen zusätzlichen Kredit von 120 Millionen Dollar zur Verfügung, der zur mittelfristigen Deckung der über die eigentliche Quote hinausgehenden Außenhandelsschulden verwendet werden sollte. Der deutsche Importüberschuss war im Winter 1950/51 jedoch so hoch, dass sich die Bundesregierung im Februar 1951 gezwungen sah, alle neuen Importgesuche deutscher Unternehmen generell abzulehnen. Seit April 1951 entschied ein Vermittlungsausschuss der OEEC über Umfang, Struktur und Herkunft der deutschen Importe. Diese ReBilateralisierung der deutschen Außenwirtschaft, die zudem mit dem Verlust der außenhandelspolitischen Souveränität der Bundesregierung einherging, wurde Anfang 1952 wieder aufgehoben, als endgültig absehbar war, dass sich die Bundesrepublik als Exporteur von Investitionsgütern längerfristig zu einem der Hauptgläubiger der EZU entwickeln würde. Die Situation der Bundesrepublik in den frühen 1950er Jahren erinnert nicht nur aufgrund der umfassenden Kontrollbefugnisse der OEEC während der EZU-Krise an jene Griechenlands in der Eurokrise der frühen 2010er Jahre, das als Gegenleistung für gewährte internati322
323 324
Im Zeitablauf erfolgte eine „Härtung“ der EZU: Der Prozentsatz, zu dem die Quote durchschnittlich durch Gold- oder Dollarzahlungen ausgeglichen werden musste, stieg von anfangs 40 Prozent auf schließlich 75 Prozent ab August 1955 an. Vgl. Kaplan/Schleiminger (1989), insb. S. 349. Ebda., insb. S. 97–117.
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9 Rückkehr zur Normalität
onale Unterstützung dem Internationalen Währungsfonds und der Eurogruppe Mitsprache bei der politischen Ausgestaltung adäquater wirtschaftlicher Strukturreformen gewähren muss. Ähnlich wie Griechenland heute musste auch die Bundesrepublik damals befürchten, aufgrund der Überlast aufgelaufener Schulden von zusätzlichen internationalen Krediten abgeschnitten zu werden. Zumindest war es zur Wiedererlangung der internationalen Kreditwürdigkeit der jungen Bundesrepublik unumgänglich, die Verantwortung für Altschulden zu übernehmen, die zum Teil noch in der Weimarer Republik aufgenommen worden waren. Das mit den Gläubigerländern schließlich ausgehandelte Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 beruhte auf drei Grundsätzen: erstens wurde der aufgelaufene Schuldenbetrag erheblich reduziert, zweitens wurde der Rückzahlungszeitraum gestreckt und drittens wurde bei der Festlegung der jährlichen Zahlungen die immer noch eingeschränkte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der westdeutschen Volkswirtschaft angemessen berücksichtigt.325 Die deutschen Vorkriegsschulden beliefen sich im Jahr 1953 auf ungefähr 13,5 Milliarden DM, wovon 7,7 Milliarden DM öffentliche Schulden waren, zu denen auch die DawesAnleihe von 1924 und die Young-Anleihe von 1929 zählten, die in der Weimarer Republik zur Finanzierung der Reparationen aufgenommen worden und im Dritten Reich nicht getilgt worden waren. Hinzu kamen ausstehende Zinsen in Höhe von 2,6 Milliarden DM. Die Nachkriegsschulden Westdeutschlands betrugen 16,2 Milliarden DM, darunter die Verpflichtungen, die aus dem amerikanischen Hilfsprogramm GARIOA (Government and Relief in Occupied Areas) und den nachfolgenden Marshall-Plan-Krediten resultierten. Das Londoner Schuldenabkommen reduzierte die Vorkriegsschulden auf 7,5 Milliarden DM und die Nachkriegsschulden auf 7 Milliarden DM. Die bundesdeutsche Regierung erklärte sich bereit, insgesamt 11 Milliarden DM zurückzuzahlen; die verbleibenden 3,5 Milliarden DM wurden von privaten Schuldnern getragen. Der realisierte Schuldenschnitt belief sich somit auf ungefähr 50 Prozent. Im Zeitraum von 1953 bis 1957 waren von der Bundesrepublik lediglich Zinszahlungen zu leisten. Erst im Jahr 1958, als der deutsche Wirtschaftsaufschwung bereits in vollem Gange war, wurden erstmalig die vereinbarten jährlichen Zahlungen von 765 Millionen DM fällig, die neben den Zinsen nun auch einen Tilgungsbetrag miteinschlossen. Im Jahr 1983 wurde die letzte Annuität bezahlt. Von erheblicher finanzieller Bedeutung war außerdem, dass die Frage der Reparationen für den Zweiten Weltkrieg auf einen kommenden Friedensschluss vertagt wurde. Als dieser wird heute das Zwei-plus-Vier-Abkommen aus dem September 1990 interpretiert, das die völkerrechtliche Grundlage der deutschen Wiedervereinigung bildete. Nach der deutschen Wiedervereinigung lebten zusätzliche Altschulden wieder auf, da die Bundesrepublik in den 1950er Jahren nicht dazu gezwungen worden war, sämtliche Schulden des Reichs, Preußens und der ostdeutschen Kommunen zu übernehmen. Der Marshallplan und insbesondere die Europäische Zahlungsunion ermöglichten erst die Rückkehr zur freien Konvertibilität der europäischen Währungen. Deshalb lässt sich die Ära des Systems von Bretton Woods in zwei große Perioden unterteilen: in eine Periode eingeschränkter Konvertibilität von der Bekanntgabe der Goldparitäten durch 32 Mitgliedsländer am 18. Dezember 1946 bis zur Auflösung der EZU im Dezember 1958, und in eine Periode 325
Vgl. Timothy W. Guinnane (2004): Financial Vergangenheitsbewältigung: The 1953 London Debt Agreement (Economic Growth Center Discussion Paper 880), Yale University; Ursula RombeckJaschinski (2005): Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg, München.
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vollständiger Konvertibilität zwischen dem 27. Dezember 1958 und der Suspendierung der Goldeinlösepflicht des amerikanischen Zentralbankensystems am 15. August 1971. Somit war das System von Bretton Woods letztendlich nur etwa zwölf Jahre lang voll funktionsfähig. Noch unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise stehend, hatten sich die Westalliierten und ihre Verbündeten bereits 1944 im Grundsatz auf eine Rückkehr zu einem System fixer Wechselkurse geeinigt. In Zeiten eines durch den Keynesianismus geprägten Planungsoptimismus erschienen sie flexiblen Wechselkursen überlegen. Der Hauptvorteil fixer Wechselkurse liegt auf der Hand. Wenn eine Währung auf absehbare Zeit in einem konstanten Wechselkursverhältnis zu einer anderen steht – der Wechselkurs der Mark zum Dollar betrug beispielsweise von 1887 bis 1914, 1924 bis 1931 und 1950 bis 1960 4,2 (4,20 M/RM/DM = 1 Dollar) – so besteht für Exporteure und Importeure kein Wechselkursrisiko. Dieses ergibt sich bei flexiblen Wechselkursen aus der zeitlichen Differenz zwischen dem Abschluss des Geschäfts und der Zahlung. Zwar kann man sich gegen das Wechselkursrisiko absichern, doch dies erhöht die Transaktionskosten des Geschäfts. Flexible Wechselkurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie „floaten“, also dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten unterliegen. Flexible Wechselkurse erlauben es einer Volkswirtschaft, sich von den internationalen Konjunkturzusammenhängen abzukoppeln und eine eigenständige Binnenwirtschaftspolitik zu betreiben. Insbesondere ist im Rahmen flexibler Wechselkurse eine autonome Geldpolitik möglich, während die inländische Geldmenge in Festkurssystemen letztendlich immer von außenwirtschaftlichen Anpassungsmechanismen bestimmt wird. In Bretton Woods, einem Urlaubsort in den Bergen von New Hampshire (USA), legten Vertreter der US-Regierung und 43 verbündeter Staaten im Juli 1944 das Fundament für das internationale Währungssystem nach dem Zweiten Weltkrieg. Der US-Dollar wurde in einem festen Verhältnis an das Gold gebunden – 35 Dollar entsprachen einer Feinunze Gold (31,1 Gramm) bzw. ein Dollar 0,89 g Feingold. Die USA versprachen, auf Dollar lautende Banknoten jederzeit zur Goldparität einzutauschen. Die anderen Mitgliedsländer definierten den Wert ihrer einheimischen Währung in Dollar und damit nur indirekt in Gold. Ein Goldeinlöseversprechen existierte außerhalb den Vereinigten Staaten nicht mehr. Stattdessen verpflichteten sich die nicht-amerikanischen Zentralbanken, zur Verteidigung der fixen Wechselkurse auf dem Devisenmarkt durch Dollaran- und -verkäufe zu intervenieren. Hierdurch entstand das Problem der „importierten Inflation“. Eine Erhöhung der Geldmenge in den USA führte über steigende inländische Preise zunächst zu einer Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Erzeugnisse. Durch das hierdurch herbeigeführte amerikanische Handelsbilanzdefizit geriet beispielsweise die DM unter Aufwertungsdruck. Die Deutsche Bundesbank musste nun so lange zusätzliche DM-Bestände auf dem Devisenmarkt verkaufen, bis der Wechselkurs wieder zur vereinbarten Parität zurückkehrte. Diese Intervention erhöhte die Geldmenge in der Bundesrepublik und führte deshalb auch hier zu inflationären Preisanstiegen. Im Gegensatz zum starren Gold-Devisen-Standard der Zwischenkriegszeit war es im System von Bretton Woods den Mitgliedsstaaten prinzipiell möglich, bei Vorliegen eines fundamentalen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichtes ihre Währung um bis zu 10 Prozent kontrolliert gegenüber dem Dollar ab- oder aufzuwerten. Außerdem waren Kapitalverkehrskontrollen erlaubt, was den nationalen Regierungen Spielraum verschaffte, destabilisierende Kapitalströme kurzfristig zu unterbinden und gegebenenfalls eine kontrollierte Neufestlegung des
240
9 Rückkehr zur Normalität
Wechselkurses einzuleiten. Diese Regulierungsmöglichkeit markierte den grundlegenden Unterschied zum System des „reinen“ Gold(devisen)standards vor 1914 bzw. vor 1931/33. Barry Eichengreen, einer der führenden Kenner der Geschichte internationaler Währungssysteme, interpretiert sie als währungspolitischen Ersatz für eine deflatorische Zentralbankpolitik, die als Anpassungsmechanismus nach 1945 in demokratischen Staaten politisch nicht mehr durchsetzbar war.326 Eine dritte Neuerung war die Schaffung des Internationalen Währungsfonds (seit 1947 Sonderorganisation der Vereinten Nationen), der Mittel für sich in Zahlungsbilanzkrisen befindliche Länder bereitstellen sollte. Die durch das System von Bretton Woods institutionalisierte Abhängigkeit des Welthandels vom amerikanischen Dollar führte zu einem währungspolitischen Dilemma. Da die Amerikaner ihr chronisches Zahlungsbilanzdefizit über die Notenpresse finanzierten, verringerten sich die amerikanischen Goldreserven beständig im Vergleich zu den international verfügbaren Dollarbeständen. Hierdurch wurde das Goldeinlöseversprechen der amerikanischen Zentralbank längerfristig in Frage gestellt. Der resultierende Vertrauensverlust konnte letztendlich zu einem Run auf die amerikanischen Goldreserven führen. Wenn die amerikanische Regierung angesichts dieser Gefahren Maßnahmen zum Ausgleich ihres Zahlungsbilanzdefizits ergriff, verringerte sie hierdurch den Zustrom der dringend benötigten internationalen Liquidität in Form von neuen Dollarbeständen, wodurch nun die Gefahr einer weltweiten Deflation und Wirtschaftskrise anstieg. Ein weiteres Problem waren die chronischen Leistungsbilanzungleichgewichte. Ein exportstarkes Land wie die Bundesrepublik hatte starke Dollarzuflüsse zu verkraften, die entweder neutralisiert werden mussten, d.h. die Reserven aufstockten, oder die Geldmenge erhöhten, was den Inflationsdruck gesteigert hätte. Aus stabilitätspolitischen Gründen entschied sich die Bundesbank meistens für ersteres, was die D-Mark unter zunehmenden Aufwertungsdruck brachte. Im Jahr 1970 bewirkte die zur Finanzierung des Vietnamkrieges durchgeführte expansive Geldpolitik der amerikanischen Regierung erhebliche Zinssenkungen, auf die die Anleger mit massiven Kapitalexporten nach Westeuropa antworteten. Diese Dollarflut blähte die Währungsreserven der Empfängerländer weiter auf und erzeugte einen Inflationsdruck, der durch neutralisierende Maßnahmen nicht mehr zu bekämpfen war. Besonders betroffen war die Bundesrepublik, da die Spekulanten auf eine weitere Aufwertung der DM setzten, die bereits am 29. September 1969 um 9,3 Prozent aufgewertet worden war. Die Spekulanten tauschten nun verstärkt ihre Dollarbestände gegen DM um, weil sie hofften, die DM nach erneuter Aufwertung gegen entsprechend mehr Dollar zurücktauschen zu können. Die hierdurch erhöhte Nachfrage nach DM zwang die Bundesbank, zur Verteidigung des fixen Wechselkurses zum Dollar die Geldmenge auszuweiten. Das Wachstum der deutschen Geldmenge verdoppelte sich von 6,4 Prozent im Jahr 1970 auf 12 Prozent im Jahr 1971. Die deutsche Inflationsrate stieg von 1,8 Prozent im Jahr 1969 auf 5,3 Prozent im Jahr 1971 an. Im April 1971 erreichten die Dollarimporte in die Bundesrepublik einen Wert von 3 Milliarden, woraufhin die Deutsche Bundesbank ihre Interventionen auf dem Devisenmarkt einstellte und zu flexiblen Wechselkursen überging. Im August 1971 begannen Briten und Franzosen, ihre Dollarbestände gegen Gold einzutauschen. Daraufhin suspendierte der amerikanische Präsident Nixon die Goldeinlösung am 15. August. Im Februar 1973 wurde das System
326
Vgl. Eichengreen (2000), S. 135, 252f.
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
241
von Bretton Woods endgültig aufgegeben. Die europäischen Zentralbanken erlauben es ihren Währungen seither, frei gegenüber dem Dollar zu „floaten“.327 Innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, vgl. unten Kap. 9.1.2) erschienen flexible Wechselkurse indes nachteilig, insbesondere für den Handel untereinander. Zudem beruhte die nach vielen Mühen 1962 in Gang gebrachte gemeinsame Agrarpolitik der EWG auf fixen Wechselkursen. Man konstruierte daher im April 1972 die Europäische „Währungsschlange“, ein Währungssystem, in dem die Währungen der teilnehmenden Staaten (Deutschland, Benelux; bis 1976 mit einer Unterbrechung 1974/75 auch Frankreich; zeitweise auch Italien, Großbritannien, Irland, Dänemark, und sogar nicht EWG-Länder wie Norwegen, Schweden, Österreich und die Schweiz) quasi-fix miteinander verbunden waren. Die Währungen durften nur in einem vorgegebenen Korridor von 4,5 Prozent untereinander schwanken. Erreichte der Wechselkurs einer Währung die obere oder untere Schranke des Korridors, so waren die Zentralbanken der teilnehmenden Staaten verpflichtet, durch entsprechende An- oder Verkäufe den Wechselkurs der abweichenden Währung im gewünschten Korridor zu halten. Ließ sich der Kurs nicht halten, so wurde die Währung ab- oder aufgewertet oder verließ die „Schlange“. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass ein System fixer Wechselkurse langfristig nur dann ohne Wechselkursanpassungen funktionieren kann, wenn die nationalen Wirtschaftspolitiken freiwillig durch gemeinsame Vereinbarungen oder zwangsweise durch die Dominanz eines Leitwährungslands harmonisiert werden. Insbesondere ist es auf Dauer nicht möglich, einen fixen Wechselkurs zwischen einem auf Preisniveaustabilität ausgerichteten Land und einem Land mit inflationärer Währung zu verteidigen. Dies galt natürlich auch für das Europäische Währungssystem, das durch anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse bzw. -defizite und unterschiedliche Inflationsraten gekennzeichnet war. Die Bundesrepublik Deutschland etwa erzielte ständig Außenhandelsüberschüsse, die durch das Defizit der Dienstleistungsbilanz (wachsender Tourismus und Überweisungen von Gastarbeitern in die Heimat) nicht ausgeglichen wurden. Zudem war (und ist) die Einstellung der deutschen Bevölkerung extrem inflationskritisch, schließlich war sie 1923 und zuletzt 1948 durch Währungsschnitte teilenteignet worden. Dies war die Ursache für eine im europäischen Vergleich überdurchschnittlich restriktive Geld- und Kreditpolitik und in der Folge für Aufwertungen der D-Mark 1961, 1969, 1971, 1973, 1976 und 1978, denen Abwertungen der meisten anderen Währungen gegenüberstanden. Zudem wirkten sich der Anstieg der Erdölpreise 1973 und 1979 sowie der Boom der Rohstoffpreise um 1974 je nach Importbedarf unterschiedlich auf die einzelnen Teilnehmerstaaten aus. Ursprünglich als symmetrisches System gedacht, entwickelte sich die Deutsche Mark als Leitwährung der Schlange. Letztlich bestimmte die formal völlig unabhängige Deutsche Bundesbank die Geld- und Kreditpolitik der Schlange. Die anderen Teilnehmerstaaten konnten entweder ihre Politik anpassen oder mussten die Schlange verlassen, weil ihre Währungen unter Abwertungsdruck gerieten. Es kam daher immer wieder zu Anpassungen des Korridors, Aus- und Wiedereintritten der teilnehmenden Staaten. Schließlich wurde die Währungsschlange reformiert. Das am 1. Januar 1979 an ihre Stelle tretende Europäische Währungssystem (EWS) zeichnete sich vor allem durch enger gefasste Korridore (± 2,25 Prozent) aus. Gleichwohl blieben die struktu327
Vgl. Giersch/Paqué/Schmieding (1992), S. 179.
242
9 Rückkehr zur Normalität
rellen Unterschiede bestehen. Am EWS beteiligten sich alle EG-Mitgliedsstaaten mit Ausnahme Großbritanniens. Italien, das unter starker Inflation litt, wurde für eine Übergangszeit eine größere Bandbreite von ± 6 Prozent eingeräumt. Geriet eine teilnehmende Währung unter zu starken Auf- oder Abwertungsdruck gegenüber dem Ecu (European currency unit, ein Korb der beteiligten Währungen), so kam es zu einer Neufestsetzung (Realignment). Kapitalverkehrskontrollen blieben als temporäre Maßnahme bis zu einem Realignment erlaubt. Im Schnitt kam es vom Beginn des EWS bis zur deutschen Wiedervereinigung etwa einmal im Jahr zu einem Realignment. 1989 vereinbarten die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft (EG) mit der Verabschiedung des Delors-Plan eine gemeinsame Europäische Zentralbank (EZB) zu gründen. Sie sollte zunächst die Währungspolitik überwachen, die Wechselkurse stabil halten und letztlich den Weg für eine gemeinsame Währung ebnen. Im Vertrag von Maastricht (Dezember 1991) wurden v.a. auf Drängen Deutschlands vier Konvergenzkriterien festgelegt, die gewährleisten sollten, dass nur solche Staaten der gemeinsamen Währungszone angehören sollten, die eine stabile Währungspolitik betrieben. Die Konvergenzkriterien im Vertrag von Maastricht (Dezember 1991)328 – Die Währung muss mindestens zwei Jahre in den normalen Bandbreiten (± 15 Prozent) zum Ecu, der europäischen Rechnungseinheit, verbleiben. – Die Inflationsrate der letzten 12 Monate darf nicht höher als 1,5 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen. – Der Zinssatz langfristiger Staatsanleihen der letzten 12 Monate darf nicht höher als zwei Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen. – Die kumulierte Staatsverschuldung darf maximal 60 Prozent des BIP und die Neuverschuldung maximal 3 Prozent des BIP betragen. Der Vertrag von Maastricht sah einen Drei-Stufen-Plan zur Einführung einer gemeinsamen Währung vor. Am Ende der ersten Stufe stand der freie Kapitalverkehr, eine der vier Grundfreiheiten des gemeinsamen Binnenmarktes, der Ende 1993 erreicht wurde. Damit entfiel für die Regierungen ein wichtiges währungspolitisches Element, mit dessen Hilfe man in Zeiten starker Währungsbewegungen zeitweilig die Finanzmärkte ruhig halten konnte. Zusammen mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs, der damit verbundenen Umlenkungen der Außenhandelsströme und der deutschen Wiedervereinigung brachte dies das EWS in starke Schwankungen. Im September 1992 schieden Großbritannien und Italien aus dem EWS aus. Ende Juli 1993 sahen sich die verbliebenen Teilnehmerstaaten in einem spektakulären Schritt gezwungen, die Bandbreiten von 2,25 auf 15 Prozent auszuweiten. Mit Vollendung der dritten Stufe wurde zum 1. Januar 1999 der Euro als Buchgeld eingeführt. Gleichzeitig wurden die Umrechnungskurse unwiderruflich festgelegt (1,95583 DM = 1 Euro). Der Euro ersetzte den Ecu in einem Umrechnungsverhältnis von 1:1. Ihr sichtbares Ende fand die Deutsche Mark zum Jahreswechsel 2001/2002, als der Euro offizielles Zah-
328
Vgl. Wolfgang W. Mickel und Jan M. Bergmann (Hg.) (2005): Handlexikon der Europäischen Union, 3. Aufl., Stuttgart, S. 483.
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
243
lungsmittel in Deutschland sowie Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Spanien wurde. Abbildung 9.1 fasst die Geschichte der deutschen Währung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen und veranschaulicht überdies die Wertentwicklung der wichtigsten anderen europäischen Währungen und des US-Dollars. Vergleichsgrundlage ist die Europäische Verrechnungseinheit Unit of account (UA), die 1950 von der neugegründeten Europäischen Zahlungsunion zur Verrechnung innerhalb der Mitgliedsländer eingeführt wurde. Bis zum Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems betrug der Wechselkurs der UA zum US-Dollar 1:1. Danach wurde sie nach dem Prinzip eines Warenkorbs berechnet, in den die Währungen der Mitgliedsländer nach dem Gewicht der jeweiligen Volkswirtschaft eingingen. Aus ihr entwickelte sich 1979 der Ecu und 1999 der Euro. 5,00
4,50
Währungseinheit pro UA/Ecu/Euro
4,00
3,50
3,00
2,50
2,00
1,50
1,00
0,50
0,00
Schw. Franken
Deutsche Mark
US-Dollar
Brit. Pfund
Abbildung 9.1:
Wechselkurse wichtiger Währungen zu(m) UA/Ecu/Euro 1948 bis 2010
Anm.:
Unit of account (UA), Ecu bzw. Euro ist auf Eins normiert.
Quelle:
Berechnet nach: Lawrence H. Officer (2009): Exchange Rates Between the United States Dollar and Forty-one Currencies, MeasuringWorth, URL: http://www.measuringworth.org/exchangeglobal/, Zugriff am 20. Januar 2011.
Die sich tendenziell leicht nach oben entwickelnde Linie des US-Dollars zeigt an, dass man – mit Ausnahme zweier Perioden Mitte der 1980er und Anfang der 2000er Jahre – im Zeitverlauf mehr Dollar aufbringen musste, um eine Einheit UA/Ecu/Euro zu erwerben. Auch das Pfund wertete über den gesamten Zeitraum ab, gegen 2010 musste man fast ein Pfund aufbringen, um einen Euro zu kaufen. Die umgekehrte Entwicklung zeigen die Deutsche Mark und der Schweizer Franken, zwei traditionell sehr wertstabile Währungen auf. Die Abwärtsknicke der D-Mark 1961 und 1969 veranschaulichen die jeweiligen Aufwertungen. Nach dem Übergang zum Floating des
244
9 Rückkehr zur Normalität
Dollar verringert sich die Distanz der DM- und der Dollarkurve dramatisch: die Deutsche Mark wertete gegenüber dem Dollar erheblich auf. Die DM-Kurve endet 1998, da ab 1999 der DM-Kurs fest gegenüber dem Euro fixiert war und letzterer am 1. Januar 2002 das offizielle Zahlungsmittel in der Eurozone wurde. Interessant ist auch der Vergleich der D-Mark zu den anderen europäischen Währungen, die sich im Abstand zur UA bzw. zum Ecu ausdrückt, die in der Abbildung auf Eins normiert sind. Hierin zeigt sich der zunächst sprungartige (Aufwertungen im Rahmen des Bretton Woods-Systems), dann fast kontinuierliche Aufwertungstrend der D-Mark, der erst kurz vor dem Übergang zum „unwiderruflich“ fixierten Eurokurs (1. Januar 1999) in sein Gegenteil verkehrt wurde. Neben der aus den Währungsreformen 1923 und 1948 herrührenden Inflationsangst der Deutschen waren dafür vor allem die Überschüsse in der Leistungsbilanz verantwortlich: die Deutschen produzierten mehr als sie konsumierten und durften sich zeitweise mit dem medienwirksamen, aber ökonomisch nicht unproblematischen Titel des „Exportweltmeisters“ schmücken.
9.1.2
Außenhandel und Europäische Integration
Die enttäuschende weltwirtschaftliche Entwicklung der Zwischenkriegszeit war nicht zuletzt dem Hochprotektionismus der Industrienationen geschuldet, der die Entfaltung des Außenhandels und der damit einhergehenden Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung entscheidend hemmte. Neben der Wiedereinführung eines gemeinsamen Währungssystems fixer Wechselkurse galt deshalb die Reliberalisierung der außenwirtschaftlichen Beziehungen als zweite notwendige Voraussetzung für einen globalen Wiederaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zur Durchsetzung dieser Zielsetzung ursprünglich vorgesehene International Trade Organisation (ITO) scheiterte jedoch unter anderem am amerikanischen Kongress, der die Ratifizierung des Gründungsvertrages verweigerte. An die Stelle der gescheiterten ITO trat das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), das im Oktober 1947 von 23 Ländern einschließlich der USA unterzeichnet wurde und zum 1. Januar 1948 in Kraft trat. Eigentlich nur als kurzfristige Übergangslösung gedacht, hatte das GATT fast fünfzig Jahre Bestand, bis es schließlich 1995 durch die World Trade Organisation (WTO) abgelöst wurde. Die Vertragspartner des GATT versprachen sich gegenseitige Meistbegünstigung, so dass zu Beginn des GATT jedes Land schlagartig in den Genuss des jeweils günstigsten Zollsatzes kam, den eine Vertragspartei einer anderen Vertragspartei zu diesem Zeitraum eingeräumt hatte. Über diesen einmaligen Liberalisierungseffekt hinaus schuf das GATT eine gemeinsame Plattform für den weiteren Abbau der Importzölle im Rahmen sogenannter Zollrunden. Das grundlegende Prinzip der komplexen Verhandlungen war das der Reziprozität der Zugeständnisse. Jedes Land sollte die Gewissheit haben, für mögliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, die mit dem eigenen Zollabbau der heimischen importsubstituierenden Industrie entstehen würden, durch einen gleichwertigen Zollabbau der Partnerländer und die dadurch ermöglichten Exportsteigerungen entschädigt zu werden. Die Amerikaner setzten durch, dass zur dritten Zollrunde in Torquay (England) 1950/51 auch die Bundesrepublik erstmalig eingeladen und dann auch als Vertragspartei des GATT aufgenommen wurde. Insgesamt vereinbarte die Bundesrepublik während dieser Zollrunde 21 bilaterale Zollabkommen. Als Gegenkonzession für 587 Zollsenkungen und 592 gegen zukünftige Erhöhungen gebundene Zölle zugunsten der Partnerländer erhielt die Bundesrepublik 1.533 Zollsenkungen und 1.037 Zollbindungen eingeräumt. Hinzu kamen die zusätzli-
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
245
chen neuen Exportvorteile, die der Bundesrepublik aus der Anwendung der Meistbegünstigungsklausel entstanden. Nicht nur die weiteren 4.500 Konzessionen, die in Torquay zwischen anderen Ländern ausgehandelt wurden, sondern auch die 16.000 bilateralen Zugeständnisse, die bereits seit den vorangegangenen Zollrunden in Genf und Annecy in Kraft waren, wurden nun auch für die westdeutschen Exporte gültig.329 Die allgemeine Meistbegünstigung des GATT besaß allerdings keine uneingeschränkte Gültigkeit. Zollpräferenzen, die sich die Mitgliedsländer innerhalb von Zollunionen und Freihandelszonen gegenseitig gewährten, mussten nicht an alle Vertragsparteien des GATT weitergegeben werden. Damit schuf das GATT den rechtlichen Spielraum für die Entwicklung regionaler Integrationsprojekte. In Westeuropa setzte diese Entwicklung mit dem Inkrafttreten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 23. Juli 1952 ein. Zu Beginn der fünfziger Jahre zeichnete sich ab, dass der Kalte Krieg die Amerikaner dazu bewegen würde, Westdeutschland politisch und wirtschaftlich eng in das westliche Bündnissystem zu integrieren und auch dessen Wiederbewaffnung nicht mehr auszuschließen. Ziel der französischen Deutschlandpolitik war es zu diesem Zeitpunkt aber immer noch, ein erneutes militärisches Erstarken des östlichen Nachbarn zu verhindern. Dabei verkörperte die Kohle- und Stahlproduktion im Ruhrgebiet aus französischer Sicht das wirtschaftliche Rückgrat und auch Rüstungspotential der Bundesrepublik. Da die Tage der alliierten Oberaufsicht über das Ruhrgebiet gezählt waren, musste Frankreich einen anderen Weg finden, die Produktion dieser Region zu kontrollieren. Deshalb schlug der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 vor, die Produktionskapazitäten der französischen und deutschen Kohle- und Stahlindustrie einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen. Der politische Zweck dieses Vorhaben wird in der Erklärung deutlich zum Ausdruck gebracht: „Die Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“330 Die geplante Montan-Union bot Frankreich aber auch wirtschaftliche Vorteile. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man begonnen, in großem Umfang in die französische Eisen- und Stahlindustrie zu investieren. Zwischen 1947 und 1951 wurden Investitionen in Höhe von 243 Milliarden Francs getätigt, die der Modernisierung und dem Kapazitätsausbau dienten. Die französische Rohstahlproduktion konnte daher zwischen 1946 und 1951 von 4,4 Millionen Tonnen auf 9,8 Millionen Tonnen gesteigert werden. Gleichzeitig zeichnete sich aber vor dem Koreakrieg eine Überproduktionskrise auf dem Stahlmarkt ab, die diese Kapazitätserweiterungen zu einer Fehlinvestition degradiert hätten.331 Einen Ausweg bot der aufnahmefähige deutsche Markt, sofern sich die Bundesrepublik gegen die französischen Stahlexporte nicht durch Zölle oder Mengenkontingente abschotten konnte. Solche protektionistischen Maßnahmen waren auf einem gemeinsamen Markt nicht möglich. 329 330 331
Vgl. Buchheim (1990), S. 133–140. Zitiert nach Ulrich Sahm (1951): Der Schumanplan, Frankfurt a.M., S. 17. Vgl. Karl Horst Hahn (1953): Der Schuman-Plan. Eine Untersuchung in besonderem Hinblick auf die deutsch-französische Stahlindustrie, Bern, S. 13ff.
246
9 Rückkehr zur Normalität
Ein zweites Problem der erhöhten französischen Stahlproduktion war die damit verbundene steigende Abhängigkeit von Kohle- und Koksimporten. Die Bundesrepublik Deutschland und das Saargebiet, dessen politische Zukunft noch ungeklärt war, deckten 1950 zusammen 16,7 Prozent des französischen Steinkohle- und 29,3 Prozent des Koksbedarfs.332 Ziel Frankreichs musste es also sein, sich langfristig den Zugang zur deutschen Kohle zu sichern, und diese vor allem zu den gleichen Bedingungen wie die deutschen Kunden zu erhalten. Bisher hatte Deutschland die Kohle zu einem höheren Preis an ausländische Abnehmer verkauft als an die Inländer. Auch diese regionale Preisdifferenzierung würde auf einem gemeinsamen Markt nicht weiterbestehen können. Für die Bundesrepublik lagen die Vorteile der geplanten Montan-Union eindeutig auf der politischen Ebene. Das Angebot der Siegermacht Frankreich versprach die Wiedererlangung von europäischer Gleichberechtigung und Souveränität. Wirtschaftspolitischer Kern der EGKS, der neben Frankreich und der Bundesrepublik auch Belgien, Italien, Luxemburg und die Niederlande beitraten, war der anvisierte gemeinsame Markt. Zu dessen Verwirklichung wurden alle Mitgliedsländer aufgefordert, die Zölle und Mengenrestriktionen für Kohle und Stahlerzeugnisse im Gültigkeitsbereich der EGKS zu beseitigen. Überdies war die Gleichbehandlung aller Anbieter und Nachfrager ein wichtiges Kennzeichen des gemeinsamen Marktes. Um Preisdiskriminierung zu verhindern, musste jedes Unternehmen seine Preise und Lieferbedingungen veröffentlichen. Hierdurch erhöhte sich die Markttransparenz – was abgestimmtes Verhalten der verschiedenen Anbieter zum Beispiel in Form stillschweigender Preisführerschaft (Tacit collusion) allerdings erheblich erleichterte. Die Preisveränderungen eines Branchenführers waren für die Konkurrenz schnell ersichtlich und konnten deshalb von der ganzen Branche ohne formale Abstimmung zügig nachgeahmt werden. Die wirtschaftspolitischen Bestimmungen des EGKS-Vertrages gingen über die bloße Errichtung des gemeinsamen Marktes weit hinaus und schufen Handlungsspielräume für weitreichende Eingriffe in zahlreichen Politikfeldern. Beispielsweise berechtigte Artikel 61a des EGKS-Vertrages die Hohe Behörde333, Höchstpreise festzusetzen, um zu verhindern, dass der Marktpreis durch die Grenzkosten des am wenigsten effizienten, aber zur Deckung der Nachfrage noch erforderlichen Erzeugers bestimmt würde (wie das auf freien Märkten eigentlich üblich ist). Stattdessen bestand die Möglichkeit, einen Höchstpreis in Höhe der Grenzkosten eines Anbieters mit durchschnittlicher Kostenbelastung festzulegen und Anbieter mit niedrigeren Grenzkosten zur Leistung einer Ausgleichszahlung an Anbieter mit höheren Grenzkosten zu verpflichten. Dieses Vorgehen hätte zu einer völligen Ausschaltung des Preiswettbewerbs geführt. Auf der anderen Seite war es auf Grundlage von Artikel 61b auch möglich, im Falle einer Überproduktionskrise Mindestpreise zu fixieren. Diese Maßnahme sollte verhindern, dass es bei starkem Preisrückgang zu irreversiblen Betriebsschließungen zum Beispiel bei Kohlezechen kam. Die in der EGKS entwickelte Vorstellung, unerwünschte Preisbewegungen durch wirtschaftspolitische Eingriffe zu beschränken, führte konsequent weiterge332
333
Vgl. William Diebold Jr. (1959): The Schuman Plan. A Study in Economic Cooperation, New York, S. 18. Dieses Buch gibt einen umfassenden Überblick über Entstehung und Institutionen der EGKS. Die Hohe Behörde war die Exekutive der EGKS. Sie setzte sich aus neun von den Mitgliedsstaaten entsandten Mitgliedern zusammen, wovon höchstens jeweils zwei die gleiche Nationalität aufweisen durften. Frankreich und Deutschland sollten immer zwei Mitglieder stellen. Die Hohe Behörde entschied mit einfacher Mehrheit.
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
247
dacht in den Agrarmarktordnungen der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Durchsetzung von Richt-, Schwellen- und Interventionspreisen.334 Der Handlungsspielraum der Hohen Behörde blieb bei Überproduktionskrisen nicht auf die Setzung von Mindestpreisen beschränkt. Überdies konnte sie gemäß Artikel 58 Erzeugerquoten einführen, die alle Produzenten zu einer proportionalen Herabsetzung ihrer Produktion zwangen. Als flankierende Maßnahme durften Einfuhrbeschränkungen für Montangüter aus Drittländern erlassen werden. Im Falle einer Mangellage erteilte Artikel 59 dem Ministerrat335 die Befugnis, über die Verwendungsprioritäten und die Verteilung von Kohle und Stahl zu entscheiden. Diese Beispiele sollten verdeutlicht haben, dass das Projekt der Europäischen Integration von Beginn an ein doch sehr widersprüchliches war. Auf der einen Seite wollten die europäischen Staaten mehr Markt und Wettbewerb schaffen. Auf der anderen Seite gaben sie sich aber ein umfangreiches Instrumentarium zur Hand, um regulierend in die Märkte eingreifen zu können, wenn die Marktergebnisse missfielen. Insoweit fügt sich auch die Europäische Integration in die lange europäische Regulierungstradition ein, die schon seit dem 19. Jahrhundert in den Versorgungs- und Infrastruktursektoren nicht auf den freien Markt vertraute, sondern auf staatliche Lenkung setzte (vgl. Kap. 9.2). Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum 1. Januar 1958 war das Ergebnis intensiver europäischer Debatten. Insbesondere wurde diskutiert, ob die weitere wirtschaftliche Integration auf die Gründungsstaaten der EGKS beschränkt bleiben oder eine Beteiligung Großbritanniens und anderer europäischer Länder angestrebt werden sollte. Was sich schließlich als konsensfähig erwies, war die „kleineuropäische“ Lösung, d.h. die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes mit gemeinsamem Außenzoll durch die ursprünglichen Gründungsmitglieder der EGKS. Die außen vor gebliebenen Länder Dänemark, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz und das Vereinigte Königreich (Großbritannien und Nordirland) reagierten am 4. Januar 1960 mit der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), die ebenfalls den Abbau von Handelsbeschränkungen zwischen den Mitgliedsstaaten zum Ziel hatte, im Gegensatz zur EWG aber auf gemeinsame Außenzölle verzichtete. Diese Zweiteilung des westeuropäischen Wirtschaftsraums wurde jedoch als unbefriedigend empfunden. Bereits 1961 erklärte Großbritannien seine Bereitschaft zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EWG. Dieser Vorschlag scheiterte aber am Widerspruch des französischen Präsidenten Charles de Gaulles, der hierdurch die von ihm gewünschte enge deutsch-französische Kooperation auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet gefährdet sah. Im Jahr 1967 wurde ein zweiter Versuch unternommen, die Spaltung zu überwinden. Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen beantragten formell den Beitritt zur EWG, und Schweden wünschte Verhandlungen darüber. Da Frankreich sich erneut der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen widersetzte, verzögerten sich diese bis in das Jahr 1970 und konnten erst 1972 abgeschlossen werden, nachdem de Gaulle durch Georges Pompidou abgelöst worden war. Die Volksabstimmung in Norwegen führte zur Ablehnung des Beitrittsvertrags, so dass die EWG zum 1. Januar 1973 nur um drei Länder – Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich – erweitert wurde. In den Folgejahren wurden die Han334 335
Vgl. Streb (1996), S. 258–283. Jede nationale Regierung der Mitgliedsländer entsandte ein Mitglied, meistens den Wirtschaftsminister, in den Ministerrat. Der Ministerrat musste wichtigen Entscheidungen der Hohen Behörde zustimmen, um diese zu legitimieren.
248
9 Rückkehr zur Normalität
delsschranken zwischen der erweiterten EWG und den verbliebenen EFTA-Mitgliedern schrittweise abgebaut. Im Jahr 1977 herrschte Freihandel zwischen beiden Gruppen.336 Tabelle 9.1:
Die regionale Struktur des Außenhandels der Bundesrepublik Deutschland (in Prozent)
Importe EWG (6) EFTA (7) Nordamerika Osteuropa Entwicklungsländer Asien Exporte EWG (6) EFTA (7) Nordamerika Osteuropa Entwicklungsländer Asien Quelle:
1960
1965
1970
1973
29,7 19,6 16,0 4,0 22,9 9,2
37,8 17,2 14,3 3,7 19,5 6,2
44,2 15,2 12,7 3,7 16,4 5,4
46,7 11,7 9,5 4,2 16,8 7,0
29,5 28,0 9,0 3,9 19,5 8,8
35,2 27,0 9,1 3,3 14,9 7,1
40,3 22,6 10,1 3,8 12,4 5,5
39,9 22,7 9,3 5,5 12,0 5,5
Herbert Giersch, Karl-Heinz Paqué und Holger Schmieding (1992): The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge, S. 166.
Aus ökonomischer Perspektive hat eine regionale Zollunion wie die EWG zugleich positive und negative Effekte auf Handel, Produktion und Wohlstand ihrer Mitgliedsländer. Der positive Effekt beruht auf der sogenannten Handelsvermehrung: Ineffiziente Produzenten eines Mitgliedslandes werden nach Wegfall der Binnenzölle durch produktivere Konkurrenten anderer Mitgliedsländer aus dem Markt gedrängt, so dass die Verbraucher die von ihnen gewünschten Produkte nun zu einem niedrigeren Preis und/oder zu einer besseren Qualität beziehen können. Der negative Effekt ergibt sich durch die so genannte Handelsverzerrung: Durch die Beibehaltung eines gemeinsamen Außenzolls erleiden effiziente Unternehmen aus Drittländern einen Wettbewerbsnachteil. Güter, die ein Mitgliedsland vor Schaffung der Zollunion aus einem Drittland importiert hatte, werden nun von einem vergleichsweise ineffizienten Produzenten eines anderen Mitgliedslandes bezogen, da dessen Angebotspreise im Vergleich zu jenen des Drittlandes im zollfreien Binnenmarkt gesunken sind. Der volkswirtschaftliche Nutzen einer Zollunion kann deshalb immer nur durch eine Nettorechnung bestimmt werden. Welcher der beiden Effekte überwiegt, ergibt sich aus der jeweils konkreten historischen Situation. Grundsätzlich ist aber der Freihandel zwischen allen Ländern der Entstehung regional begrenzter Zollunionen vorzuziehen. Die Auswirkungen der politischen Spaltung des westeuropäischen Wirtschaftsraums durch EWG und EFTA verdeutlicht Tabelle 9.1. In den 1960er Jahren nahm der Außenhandel der Bundesrepublik mit den Mitgliedsländern der EWG deutlich zu, mit der EFTA deutlich ab. Auch der Außenhandel mit den Entwicklungsländern litt offensichtlich deutlich unter der neu geschaffenen Zollunion. Nordamerika verlor im gleichen Zeitraum erhebliche Bedeutung als Lieferant von Einfuhrgütern, behielt aber seine Stellung als wichtiger deutscher Exportmarkt.
336
Vgl. Giersch/Paqué/Schmieding (1992), S. 123, 168.
9.1 Die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft
249
30,0% 25,0% 20,0% 15,0% 10,0%
Exportquote Importquote
5,0%
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
1950
0,0%
Abbildung 9.2:
Export- und Importquoten der Bundesrepublik 1950 bis 1990
Quelle:
Statistisches Bundesamt. Die Export- und Importquoten entsprechen dem Wert der Exporte und Importe dividiert durch das Bruttonationaleinkommen, jeweils in laufenden Preisen.
Abbildung 9.2 verdeutlicht, dass die Bundesrepublik mit Ausnahme der Krisenjahre 1950/51 zu Beginn der Europäischen Zahlungsunion im gesamten Betrachtungszeitraum einen positiven und absolut steigenden Außenhandelsüberschuss verzeichnete. Dieser Überschuss in der Handelsbilanz war mehr als ausreichend, um die Defizite in der Dienstleistungs- und Übertragungsbilanz zu kompensieren, die als Folge der zunehmenden Auslandsreisen der Bundesbürger, der Transferzahlungen der Gastarbeiter in ihre Heimatländer und derjenigen des deutschen Staats an Entwicklungsländer oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entstanden.337 Die Wachstumsraten des Exports waren größer als jene des Bruttonationaleinkommens. Das „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik beruhte somit nicht zuletzt auf einem „Exportwunder“. Das zeigte sich beispielsweise im Krisenjahr 1967, als der weiterhin ansteigende Export der deutschen Volkswirtschaft sehr schnell aus der Rezession verhalf. Bemerkenswert ist schließlich, dass sich auch nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, womit die systematische Unterbewertung der DM ein Ende fand, der Anstieg der Exportquote fortsetzte. Die Ursachen für das „Exportwunder“ sind offensichtlich nicht in den währungspolitischen Rahmenbedingungen zu suchen, sondern liegen eher in nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen im Qualitäts- und Innovationswettbewerb, die sich insbesondere die westdeutsche Investitionsgüterindustrie in einem pfadabhängigen Prozess seit Ende des 19. Jahrhunderts aufgebaut hat. Diese Einschätzung bestätigt auch die Struktur des Außenhandels der Bundesrepublik.
337
Ebda., S. 14.
250
9 Rückkehr zur Normalität
Ist es erstrebenswert, „Exportweltmeister“ zu sein? In den Medien und der Politik werden Exportüberschüsse als Erfolge deutscher Wirtschaftskraft gefeiert. Tatsächlich sind Exportüberschüsse ein zweischneidiges Schwert: Endzweck allen Wirtschaftens ist der Konsum – die Produktion ist nur Mittel zum Zweck. In einer Volkswirtschaft, die anhaltend mehr produziert als konsumiert, verzichten die Bürger dauerhaft auf Konsummöglichkeiten, die sie sich selbst erarbeitet haben. Überdies erfordert bei stabilen Wechselkursen der Zahlungsbilanzausgleich, dass die permanenten Exportüberschüsse durch entsprechende Kapitalexporte kompensiert werden. Diese Kapitalexporte, seien es Kredite an ausländische Staaten und Unternehmen oder Direktinvestitionen von multinationalen Unternehmen gehen der deutschen Volkswirtschaft als Investitionsmittel verloren und erhöhen stattdessen das Wachstumspotential in den Empfängerstaaten. Auf diese Weise fördert ein „Exportweltmeister“ seine zukünftige Konkurrenz. Im Übrigen macht er sich potenziell erpressbar, wenn das Ausland mit einem Schuldenschnitt droht. Schließlich setzt ein permanenter Exportüberschuss auch voraus, dass es Volkswirtschaften mit entsprechenden Importüberschüssen gibt, die beständig mehr konsumieren als produzieren, und dieses „Leben über die eigenen Verhältnisse“ durch Auslandsverschuldung finanzieren. Es ist deshalb ambivalent, sich über die Überschuldung europäischer Partnerländer zu beklagen, die zumindest zum Teil auch aus dem Kauf deutscher Waren beruht. Wichtigste Exportgüter mit einem Anteil von über 50 Prozent am gesamten Exportwert waren im gesamten Betrachtungszeitraum die Erzeugnisse der deutschen Investitionsgüterindustrie, insbesondere Maschinenbauprodukte, Kraftfahrzeuge und elektrotechnische Erzeugnisse. Danach folgten chemische Erzeugnisse und Eisen und Stahl. Hingegen trug die deutsche Konsumgüterindustrie nur wenig zu den deutschen Exportaktivitäten bei. Die Einfuhrstruktur war weit weniger stabil als die Ausfuhrstruktur. Insbesondere wuchs der Anteil der ausländischen Investitionsgüter- und Konsumgüterindustrien zu Lasten der Einfuhren von landwirtschaftlichen Erzeugnissen an, was belegt, dass die innerindustrielle Arbeitsteilung zwischen den hochentwickelten Industriestaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich anstieg.338
9.2
Die Wettbewerbsordnung
Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit einer Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts von 1897, das Kartellverträge prinzipiell für rechtmäßig (und damit einklagbar) erklärte, war Deutschland ein ausgesprochen kartellfreundliches Land (vgl. oben Kap. 4.2). Dass sich Unternehmer und Industrieverbände für Kartelle einsetzten, verwundert nicht. Kartelle erlauben es den angeschlossenen Unternehmen, zu Lasten der Kunden die Preise höher zu halten, als dies bei freiem Wettbewerb der Fall wäre. Darüber hinaus, und dieses Argument wurden Kartellbefürworter nie müde zu betonen, dämpfen Kartelle das Auf
338
Vgl. Werner Glastetter (1977): Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum von 1950 bis 1975, Berlin u.a., S. 208–215.
9.2 Die Wettbewerbsordnung
251
und Ab der Märkte.339 Mit diesem Argument hatten sie nicht nur in der Öffentlichkeit viel Erfolg, sondern auch bei den Gewerkschaften. Eine durch Absprachen und Quoten stabilisierte Geschäftslage führt zu weniger Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten. Auch die Verordnung gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen aus dem Jahre 1923 war nicht geeignet, die hohe Kartellneigung deutscher Unternehmen zu dämpfen. Im Zwangskartellgesetz von 1933 instrumentalisierten die Nationalsozialisten Kartelle sogar noch für ihre Zwecke. Insofern konnte der Kontrast in Hinblick auf die Einstellung zu Kartellen nicht größer sein, als 1945 die Amerikaner die Zuständigkeit für die deutsche Wirtschaft übernahmen. Aufbauend aus Erfahrungen des späten 19. Jahrhunderts, als der Machtmissbrauch großer USKonzerne (Trusts) zum Beginn der Antitrust legislation geführt hatte, begannen die Amerikaner, die deutschen Großkonzerne, denen eine maßgebliche Mitverantwortung an der NSWirtschaftspolitik vorgeworfen wurde, zu zerschlagen. Weniger aus grundsätzlichen wettbewerbspolitischen als vielmehr aus wirtschaftsstrategischen Motiven zogen Großbritannien und Frankreich mit. Ihnen ging es um eine Schwächung des deutschen Rüstungspotentials und wohl auch um eine Schwächung potenzieller deutscher Wettbewerber auf dem Weltmarkt. 1947 erließen die westlichen Besatzungsmächte entsprechende Dekartellierungsgesetze bzw. –verordnungen. Die beiden größten deutschen Industriegiganten, die I.G. Farben und die Vereinigten Stahlwerke, wurden gezwungen, sich in ihre früheren Gründerfirmen aufzulösen. Während dies nachhaltig gelang, war die Zerschlagung der drei Großbanken Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank nur von kurzer Dauer. Ende der 1950er Jahre waren sie alle wieder unter ihren früheren Namen vereint. Große Teile der deutschen Industrie und speziell ihr Ende 1949 wiedergegründeter Dachverband, der seit Anfang 1950 Bundesverband der deutschen Industrie hieß, waren gegen die Übernahme amerikanischer wettbewerbspolitischer Vorbilder. In der Wissenschaft und der Öffentlichkeit war man nun jedoch kritischer gegenüber Kartellen eingestellt. Ordoliberale Ökonomen und Juristen vertraten das Ideal einer im Prinzip freien Marktwirtschaft. Im Gegensatz zum klassischen Nachtwächterstaat befürworteten sie jedoch einen starken Staat, der über eine entsprechende Missbrauchskontrolle (ex post) oder Regulierung (ex ante) darauf achten sollte, dass der wirtschaftliche Wettbewerb gewährleistet bleibt. Im Hinterkopf hatten sie dabei auch den Machtmissbrauch durch starke Kartelle und Unternehmen mit Monopolstellung in der Zwischenkriegszeit. Nach langen Kämpfen verabschiedete der Bundestag 1957 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das die alliierten Dekartellierungsregelungen ersetzte. Das GWB war ein zunächst relativ schwaches Gesetz: Das ursprünglich vorgesehene Kartellverbot mit nur drei Ausnahmen wurde in eines mit elf verändert und ließ damit großen Spielraum für Entscheidungen zugunsten der Unternehmen, insbesondere, weil in Paragraph 8 GWB mit dem Sonderkartell die Möglichkeit geschaffen wurde, dass der Bundeswirtschaftsminister die Erlaubnis für ein Kartell erteilen konnte, wenn „ausnahmsweise die Beschränkung des Wettbewerbs aus überwiegenden Gründen der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls notwen339
Vgl. Steven B. Webb (1982): Cartels and Business Cycles in Germany, 1880 to 1914, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 138, S. 205–224; Harm G. Schröter (1994): Kartellierung und Dekartellierung 1890–1990, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81, S. 457–493, hier insb. S. 462, 466.
252
9 Rückkehr zur Normalität
dig ist.“ Seitdem wurde das GWB mehrfach novelliert, und es wird auch heute immer noch als eine Art Grundgesetz der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung dargestellt.340 Neben der Durchsetzung des Kartellverbots weist das GWB dem darin neu geschaffenen Bundeskartellamt auch die Missbrauchsaufsicht und seit 1973 zudem die Fusionskontrolle zu. Insgesamt stellt das GWB zweifellos eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der deutschen Ordnungs- und Wettbewerbspolitik dar. Es enthielt jedoch zunächst eine stattliche Liste von Ausnahmebereichen, zu deren wichtigsten Landwirtschaft, Verkehrswesen, Kreditgewerbe, Telekommunikation, Versorgungsunternehmen und die Versicherungsbranche gehörten, für die an Stelle des GWB jeweils besondere Vorschriften galten. Maßgeblich für die Auswahl dieser Bereiche war neben Agrarprotektionismus und fiskalischen Erwägungen (Bundesbahn und Bundespost) auch die Vorstellung, dass in einigen von ihnen die Marktstruktur auf ein natürliches Monopol hinauslaufe. Natürliches Monopol Ein natürliches Monopol liegt im Allgemeinen immer dann vor, wenn die Marktnachfrage aufgrund sehr hoher Fixkosten von einem einzelnen Großunternehmen zu insgesamt niedrigeren Kosten bedient werden kann als von mehreren kleineren Unternehmen zusammen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn eine kostspielige Infrastruktur aufgebaut werden muss. Die netzgebundenen Unternehmen in den Versorgungs- und Infrastruktursektoren weisen oftmals klare Merkmale natürlicher Monopole auf. Beispielsweise ist der Stromtransport vom Erzeuger zum Verbraucher ein natürliches Monopol, da der teure Bau von parallelen Hoch-, Mittel- und Niederspannungsleitungen durch einen potentiellen zweiten Anbieter keine wirtschaftlich sinnvolle Alternative darstellt. Auf der Erzeugungsebene ist hingegen ein funktionierender Wettbewerb zwischen den konventionellen Kraftwerken, Windparks und Solaranlagenbetreibern prinzipiell möglich. Seit den 1990er Jahren trennt man in solchen Fällen häufig die Bereitstellung der Infrastruktur von ihrer Nutzung. Nur für erstere liegt tatsächlich ein natürliches Monopol vor, während man die Nutzung konkurrierenden Unternehmen überlassen kann. Der entscheidende Punkt ist dabei die Höhe der Nutzungsentgelte an das Infrastrukturunternehmen. Dafür sind normalerweise Regulierungsbehörden zuständig. Monopole können allerdings nicht nur aufgrund technischer Zusammenhänge quasi „natürlich“ entstehen, sondern auch aus rechtlich vorgegebenen Marktzutrittsbeschränkungen resultieren. So waren bis zum Jahr 1998 die (im Energiewirtschaftsgesetz von 1935 geschaffenen) Gebietsmonopole der deutschen Elektrizitätswirtschaft in erster Linie der Verwendung von Konzessions- und Demarkationsverträgen geschuldet. Konzessionsverträge entstanden, weil die Kommunen über das alleinige Wegerecht in ihren jeweiligen Territorien verfügen und deshalb vom Stromverteilungsunternehmen eine Konzessionsabgabe für die Verlegung von Leitungen zum Endverbraucher einfordern können. Da die Konzessionsverträge überdies eine Ausschließlichkeitsklausel enthielten, wurde das schon vorhandene natürliche Monopol des Verteilers durch ein rechtliches Gebietsmonopol verstärkt. Demarkationsverträge wurden zwischen verschiedenen Elektrizitätsversorgungsunternehmen abgeschlossen. Dabei ver340
Vgl. zur Entstehung des GWB: Ursula Weidenfeld (1992): Wettbewerbstheorie, Wirtschaftspolitik und Mittelstandsförderung 1948–1963. Die Mittelstandspolitik im Spannungsfeld zwischen wettbewerbstheoretischem Anspruch und wirtschaftspolitischem Pragmatismus, Stuttgart.
9.2 Die Wettbewerbsordnung
253
pflichteten horizontale Demarkationsverträge zwischen integrierten Verbundunternehmen jeden Vertragspartner, die Versorgung der Kunden im Gebiet des jeweils anderen Vertragspartners zu unterlassen. Vertikale Demarkationsverträge zwischen den Verbundunternehmen und den lokalen Weiterverteilern stellten sicher, dass letztere ihren Strom nur von ersteren bezogen. Die hieraus resultierende vollständige Ausschaltung des Wettbewerbs erlaubte es den Elektrizitätsunternehmen lange Zeit, überhöhte Preise für ihre Leistungen zu verlangen. Erst durch die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes wurden im Jahr 1998 Demarkationsverträge untersagt und Stromunternehmen das grundsätzliche Recht zur Durchleitung durch die Netze ihrer Konkurrenten gewährt. In den Folgejahren stellte sich jedoch heraus, dass die Netzbetreiber den Marktzutritt von Wettbewerbern durch das Einfordern hoher Netznutzungsentgelte weiterhin wirksam verhindern konnten. Deshalb wurden mit Beginn des Jahres 2009 die natürlichen Monopole der Netzbetreiber in der deutschen Elektrizitätswirtschaft einer Anreizregulierung unterstellt. Der Grundgedanke dieses in den 1980er Jahren entwickelten und mittlerweile international weit verbreiteten Regulierungsmodells besteht darin, einen mehrjährigen Entwicklungspfad für die Netznutzungsentgelte ex ante zu spezifizieren. Hierzu werden von der Bundesnetzagentur die in einem Basisjahr festgestellten Netznutzungsentgelte eines Netzbetreibers schrittweise jährlich um den sogenannten X-Faktor reduziert. Dieser X-Faktor soll die für die Zukunft zu erwartenden Kostensenkungen im Netzsektor widerspiegeln, und ebenso wie dies bei im Wettbewerb stehenden Unternehmen der Fall ist, sollen diese Kostensenkungen durch entsprechende Preissenkungen an die Konsumenten weitergegeben werden. Diese Vorgehensweise bedeutet einen doppelten Bruch mit den wettbewerbspolitischen Traditionen Deutschlands.341 Erstens werden nunmehr allen Unternehmen des regulierten Sektors ex ante konkrete Höchstpreisvorschriften beziehungsweise Erlösobergrenzen vorgegeben, während zuvor ex post nur diejenigen Unternehmen in Kontakt mit den Wettbewerbsbehörden gerieten, die eines Machtmissbrauchs verdächtigt wurden. Zweitens wird jetzt von einer Bundesbehörde erstmalig explizit gefordert, die zukünftigen Produktivitätsfortschritte in einer Branche zu prognostizieren und diese Schätzung zur verbindlichen Grundlage ihrer ex ante Preisregulierung zu machen. Wie schwierig die Vorausschätzung von Produktionsfortschritten ist, verdeutlicht ein Blick in die Regulierungspraxis. Im Vorfeld der ersten Regulierungsperiode (2009–2013) schlug die Bundesnetzagentur zur Senkung der Netznutzungsentgelte in den Übertragungsnetzen der deutschen Stromwirtschaft einen X-Faktor von 2,54 Prozent pro Jahr vor. Berechnungsgrundlage für diese quantitative Vorgabe waren die beobachteten Produktivitätsfortschritte in der deutschen Stromwirtschaft in den historischen Zeiträumen 1977–1991 und 1993–1997. Implizit ging die Bundesnetzagentur dabei von zwei Annahmen aus. Erstens wurde unterstellt, dass sich Produktivitätsfortschritte der Vergangenheit ohne Einschränkung in die Zukunft fortschreiben lassen. Zweitens wurde angenommen, dass die Produktivitätsfortschritte im Bereich der Netze den gleichen Umfang erreichen wie in der gesamten Stromwirtschaft, die neben dem Netzbetrieb aber eben auch den Stromvertrieb und insbesondere die Stromerzeugung umfasst.
341
Vgl. Jochen Streb und Sabine Streb (2012): Der verspätete Aufstieg des „Regulierungsstaats“ in Deutschland. Das Beispiel der Elektrizitätsversorgung, in: Gert Kollmer-von Oheimb-Loup und Jochen Streb (Hg.): Regulierung: Wettbewerbsfördernd oder wettbewerbshemmend?, Ostfildern, S. 13–27.
254
9 Rückkehr zur Normalität
Thorsten Proettel, Jochen Streb und Sabine Streb widerlegten diese Annahmen auf Grundlage einer wirtschaftshistorischen Analyse der Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität in der deutschen Stromwirtschaft für den Zeitraum von 1950 bis 2000.342 Erstens zeigt ihre Untersuchung, dass die Produktivitätsentwicklung in der deutschen Stromwirtschaft ebenso wenig wie diejenige der Gesamtwirtschaft einem langfristig konstanten Trend folgt. Stattdessen lässt sich ein U-förmiger Verlauf der langfristigen Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität mit sehr hohen Wachstumsraten in den 1950er Jahren, einem Tiefstand in den frühen 1980er Jahren und sich wieder beschleunigenden Produktivitätszuwächsen in den 1990er Jahren beobachten. Zweitens belegen die empirischen Zahlen, dass die Produktivitätsfortschritte in der Stromwirtschaft deutlich höher sind als im Teilbereich des Netzbetriebs. Bei isolierter Betrachtung der Produktivitätsentwicklung im Bereich der Netze ergibt sich deshalb für die von der Bundesnetzagentur herangezogenen Zeiträume 1977–1991 und 1993– 1997 nur noch ein X-Faktor von minus 0,36 Prozent, der damit deutlich von dem X-Faktor in Höhe von 2,54 Prozent abweicht, den die Bundesnetzagentur auf Grundlage von Daten für die gesamte Stromwirtschaft ermittelt hat, und statt einer schrittweisen Senkung sogar eine Erhöhung der Netznutzungsentgelte nahelegt. Im politischen Aushandlungsprozess wurde der in der ersten Regulierungsperiode tatsächlich verwendete X-Faktor schließlich auf 1,25 Prozent festgesetzt. Diese Zahl beruhte nicht mehr auf konkreten ökonomischen Analysen, sondern war ein Kompromiss zwischen Politik, Bundesnetzagentur und Unternehmen.
9.3
Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
Eine der zentralen gesellschaftspolitischen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen Demokratien Europas, der Ausbau des Wohlfahrtstaats. Dass Familien in existenzbedrohende Not kamen, dass die Menschen in langen Schlangen vor öffentlichen Suppenküchen anstanden, all dies gehörte seit den späten 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in ihren Nachbarländern – übrigens auch den sozialistischen – der Vergangenheit an. Hatte es in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik zunächst noch einen breiten gesellschaftspolitischen Konsens für den Ausbau des Wohlfahrtsstaats gegeben, so stießen konkrete sozialstaatliche Gesetzesvorhaben zunehmend auf Bedenken. Die Argumente in den Diskussionen um den Aufbau des Wohlfahrtsstaates folgten im Grunde stets demselben Muster. Auch in Zeiten scheinbar immer währenden Wachstums stand seine Finanzierung zunehmend in der Diskussion. Bereits 1957 befürwortete Ludwig Erhard eine Beschränkung des Wohlfahrtsstaats: „Der staatliche Zwangsschutz muss oder sollte dort Halt machen, wo der einzelne und seine Familie in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen.“343 Je weiter sich das durch den Wohlfahrtsstaat zu garantierende Mindestniveau vom Existenzminimum entfernte, desto stärker wurde die Frage der – wie es Ökonomen 342
343
Vgl. Thorsten Proettel, Jochen Streb und Sabine Streb (2009): Die Produktivitätsentwicklung in der deutschen Stromwirtschaft in langfristiger Perspektive, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10, S. 309–332. Ludwig Erhard (1957): Wohlstand für alle, Düsseldorf, S. 254.
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
255
heute ausdrücken – Anreizverträglichkeit diskutiert. Zu großzügig bemessene staatliche Sozialleistungen können den Empfänger dazu verführen, ganz auf eigene Erwerbsarbeit zu verzichten. In extremer Konsequenz führt die Kritik daran zu der Forderung nach einer reinen Leistungsgesellschaft, d.h. ganz auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen zu verzichten. Abgesehen von grundsätzlichen humanitären Erwägungen stehen der Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen das individuelle und das gesellschaftliche Versicherungsmotiv entgegen. Letzteres speist sich aus Jahrhunderte altem Erfahrungswissen. Eine reine Leistungsgesellschaft würde bei denjenigen, die auf der Verliererseite stehen, sozialrevolutionäre Energie freisetzen. Anders gewendet, wird derjenige, der im Prinzip eine Leistungsgesellschaft befürwortet, schon aus Gründen der Systemstabilität ein gewisses Maß an Umverteilung befürworten. Wie die optimale Balance zwischen der Leistungsgesellschaft und dem Wohlfahrtsstaat aussehen soll, bleibt dabei naturgemäß umstritten. Das individuelle Versicherungsprinzip als Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaats wurde erst Ende des 20. Jahrhunderts von Ökonomen formuliert. Es ist in gewissem Sinne der Versuch, die vage Gerechtigkeitsvorstellung, dass eine gewisse Umverteilung sein muss, aus ökonomischer Perspektive zu rationalisieren. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass ein rationales Individuum – hätte es vor seiner Geburt die Wahl – einen Anreiz hätte, eine Versicherung abzuschließen, die ihm einen Mindestlebensstandard sichern würde.344 Damit könnte man sich zum Beispiel gegen das Risiko absichern, aufgrund einer angeborenen Behinderung in der Leistungsgesellschaft nicht selbst für den Lebensunterhalt aufkommen zu können. Einmal geboren, ist es jedoch zu spät zum Abschluss einer solchen Versicherung. Realexistierende Versicherungen gewähren nur denjenigen Menschen die Aufnahme und damit eine Unterstützung im Notfall, die die ökonomische Leistungsfähigkeit besitzen, die Mittel zur Finanzierung der Prämien von etwa Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherungen aufzubringen. Weil also kein privates Versicherungsunternehmen die sozial „Schwachen“ absichern wird, der Markt somit versagt, muss dies der Staat durch den Aufbau von Sozialversicherungssystemen (und direkte Transferzahlungen) übernehmen, so das Argument.345 Der Neuaufbau des Wohlfahrtsstaats begann allerdings unter schlechten Voraussetzungen. Die Sozialversicherungsträger hatten durch den Krieg und die anschließende Währungsreform rund drei Viertel ihres Vermögens verloren, da sie es zu großen Teilen in Staatsanleihen und Immobilien hatten investieren müssen. Erstere waren 1945 wertlos, letztere durch den Krieg zerstört oder beschädigt. Die Aufgaben, mit denen sich die Sozialversicherungen konfrontiert sahen, überstiegen dagegen alles historisch Dagewesene. Vier Millionen Kriegsopfer – Invaliden, Witwen und Waisen –, drei Millionen Sachbeschädigte, elf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene sowie zehn Millionen Displaced persons (Nichtdeutsche auf Flucht oder vor der Rückkehr in ihre Heimat) erwarteten staatliche Unterstützung. Zudem mussten mehrere Millionen deutsche Männer, die aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten, in die Gesellschaft wiedereingegliedert werden.346 Aufgrund der akuten Not mussten die Behörden vor Ort oft improvisieren. Die Leistungen waren bis in die frühen 1950er Jahre geringer als 1938. Vor der Währungsreform hatten mo344 345 346
Nach John Rawls erfolgt diese grundsätzliche Entscheidung hinter einem „Schleier des Nichtwissens“. Vgl. John Rawls (1991): Eine Theorie der Gerechtigkeit, 6. Aufl., Frankfurt a.M., S. 160. Vgl. Hans-Werner Sinn (1997): The Selection Principle and Market Failure in Systems Competition, in: Journal of Public Economics 66, S. 247–274. Vgl. Manfred G. Schmidt (2005): Sozialpolitik in Deutschland, 3. Aufl., Wiesbaden, S. 73f.
256
9 Rückkehr zur Normalität
netäre Sozialleistungen wenig reale Kaufkraft, und auch nach der Reform wurde die Situation für Leistungsempfänger nicht viel besser. Besonders stark betroffen waren Rentner und kinderreiche Familien. Der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat knüpfte eher an 1932 als an 1945 an. Neben dem Staat als hauptsächlichem Träger von Sozialleistungen nahmen nun auch die freien Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie etc.) wieder die Rolle ein, die sie in der Weimarer Republik gespielt hatten. Somit wahrte das für Deutschland typische System der dualen Wohlfahrtspflege Kontinuität. Die staatliche Sozialversicherung baute man auf Grundlage der Reichsversicherungsordnung auf. Wesentliche Elemente blieben bestehen: Versicherungszwang, Beitragsteilung zwischen Arbeitgebern und -nehmern und zunächst auch das Kapitaldeckungsverfahren. Die wichtigsten sozialpolitischen Meilensteine im Überblick 1950 Bundesversorgungsgesetz: Versorgung der Kriegsopfer 1950, 1956 Wohnungsbaugesetze: sozialer Wohnungsbau, Förderung privaten Wohnungsbau 1952 Lastenausgleich: Verteilung der Kriegslasten 1953 Bundesentschädigungsgesetz: Entschädigung für NS-Unrecht 1957 Reform der Rentenversicherung: Leistungserhöhung, Dynamisierung, Umlage- statt Kapitaldeckungsverfahren (Generationenvertrag) 1961 Bundessozialhilfegesetz: Vereinheitlichung der Existenzsicherung, Rechtsanspruch 1972 Reform der Rentenversicherung: weiterer Ausbau der Leistungen 1990 Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR 1995 Einführung der Pflegeversicherung In der ersten Hälfte der 1950er Jahre widmete man sich vor allem der Bewältigung der sozialen Kriegsfolgelasten. Zudem, und dann insbesondere in dem halben Jahrzehnt bis 1961, ging es um den Wiederauf- und Ausbau der Sozialversicherungssysteme. In diesem Zeitraum verfolgte die von der CDU/CSU gestellte Bundesregierung unter Konrad Adenauer das Ziel, ein System des „sozialen Kapitalismus“ zu etablieren, das einerseits das kapitalistische Wirtschaftssystem re-etablierte, es aber andererseits sozial abfederte – dies in Hinblick auf die oppositionelle SPD und der eng mit ihr verbundenen Gewerkschaften, aber auch auf die Systemkonkurrenz zur DDR. Aus der Rückschau wurden in dieser Zeit, zwei, wie es der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt ausdrückt, „Zeitbomben“347 gelegt, die sich einige Jahrzehnte später lähmend auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auswirken sollten. Erstens wurde in der Rentenreform 1957 das Umlageverfahren zur Finanzierung der Alterssicherung gesetzlich verankert. Im Gegensatz zum Kapitaldeckungsverfahren, in dem der Beitragende theoretisch nur seine eigene Rente anspart, werden beim Umlageverfahren die Beiträge der aktuell einzahlenden Generation für die Leistungen an die bereits in Rente befindlichen Generationen verwendet. Zudem erfolgte erstmalig eine automatische „Dynamisierung“ der Renten, die nunmehr jedes Jahr gemäß der allgemeinen Lohnentwicklung ansteigen sollten. Durch diese Regelung stellte man sicher, dass die Rentenempfänger am star-
347
Ebda., S. 85.
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
257
ken Aufschwung der Boomjahre teilhatten.348 Dieses großzügige „Wahlgeschenk“ an die deutschen Rentner leistete sicherlich keinen unbedeutenden Beitrag zum Wahlsieg der CDU/CSU, die im Jahr 1957 mit 50,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zum ersten und bisher letzten Mal in der bundesdeutschen Geschichte die absolute Mehrheit errang. Die mit Umlageverfahren und Dynamisierung in einer alternden Gesellschaft einhergehenden Probleme wurden zunächst nur von wenigen Kritikern angesprochen. Seit dem Jahr 1957 ergibt sich die durchschnittliche relative Beitragsbelastung (RBZ)349 eines erwerbstätigen Mitglieds der Rentenversicherung als Produkt aus dem Rentenempfänger-Beitragszahler-Verhältnis (R/B) und der durchschnittlichen relativen Rentenzahlung (durchschnittliche absolute Rentenzahlung RZ(Y) dividiert durch das Durchschnittseinkommen (Y) der versicherten Beitragszahler): R RZ (Y ) RBZ B Y Diese Formel verdeutlicht zunächst, dass bei konstantem Rentenempfänger-BeitragszahlerVerhältnis (R/B) die relative Beitragsbelastung (RBZ) durch einen Anstieg der Einkommen der Beitragszahler (Y↑) nicht nachhaltig verringert werden kann, weil die dynamisierten absolute Rentenzahlung (RZ(Y↑)↑) im gleichen Verhältnis wie die Einkommen der Beitragszahler angehoben wird. Wirtschaftswachstum bietet also keine Lösung für das Rentenproblem. Insbesondere zeigt die Formel, dass die durchschnittliche relative Beitragsbelastung zwangsläufig ansteigen muss, wenn sich das Rentenempfänger-Beitragszahler-Verhältnis erhöht. Dies wird dann der Fall sein, wenn entweder die durchschnittliche Lebenserwartung der Rentenempfänger bei gegebenem Renteneintrittsalter steigt (R↑) oder durch verminderte Geburtenzahlen die Menge der versicherten Erwerbstätigen schrumpft (B↓). Nach 1957 traten in der Bundesrepublik beide Effekte ein. Die vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellte Abbildung 9.3 veranschaulicht den Altersaufbau der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1910, 1950 und 2001 sowie anhand einer Prognose aus dem Jahr 2003 für das Jahr 2050. Im Jahr 1910 hatte die Bevölkerungspyramide noch die typische, für ihre Namensgebung verantwortliche Form mit einer breiten Basis und einer schmalen Spitze der über 65jährigen. Die Bevölkerungspyramide des Jahres 1950 weist im Vergleich hierzu schon eine deutlich schmalere Basis auf. Die auffallend kleinen Kohorten der 30- bis 35-jährigen sowie der 0- bis 5-jährigen sind das Ergebnis des kurzfristigen Geburtenrückgangs während und nach den beiden Weltkriegen.
348 349
Vgl. Johannes Frerich (1990): Sozialpolitik. Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München/Wien, S. 157–163. Gemessen in Prozent des Einkommens.
258
9 Rückkehr zur Normalität Altersauau der Bevölkerung in Deutschland am 31.12.1910
am 31.12.1950
Alter i n Ja h ren 100
Alter in Ja h ren 100
95
Männer
Frauen
95
Männer
90 85
85
80
80
75
75
70
70
65
65
60
60
55
55
50
50
45
45
40
40
35
35
30
30
25
25
20
20
15
15
10
10
5
5
0 1 000 800 600 400 200 Tausend Personen
0
0 0
200 400 600 800 1 0 0 0 Tausend Personen
1 000 800 600 400 200 Tausend Personen
am 31.12.2001
95
95
Männer
85 Frauenüberschuß
80
80
75
75
70
70
65
65
60
60
55
55
50
50
31.12. 2001
45
0
31.12. 2001
45
40
40
35
35
30
30
25
25
20
20
15
15
10
10
5
5
0 1 000 800 600 400 200 Tausend Personen
200 400 600 800 1 0 0 0 Tausend Personen
Frauen
90
85
Männerüberschuß
0
Alter in Jahren 100
Frauen
90
0
am 31.12.2001 und am 31.12.2050
Alter in Jahren 100
Männer
Frauen
90
0 0
200 400 600 800 1 000 Tausend Personen
1 000 800 600 400 200 Tausend Personen
0
0
200 400 600 800 1 000 Tausend Personen
Stassches Bundesamt 2003 - 15 - 0220
Abbildung 9.3:
Bevölkerungspyramiden
Quelle:
Statistisches Bundesamt.
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
259
Im Jahr 2001 verdeutlichen die vergleichsweise geringen Jahrgangsstärken der unter 30jährigen die Auswirkungen des sogenannten „Pillenknicks“ am Ende der 1960er Jahre. Offensichtlich ermöglichte die Verbreitung des vergleichsweise zuverlässigen Verhütungsmittels Anti-Baby-Pille westdeutschen Frauen, unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden, so dass ihre Kinderzahl im statistischen Durchschnitt dauerhaft unter 1,5 sank. Da im Durchschnitt 2,1 Kinder pro Frau benötigt werden, um die Bevölkerungsmenge stabil zu halten, ist seit den 1970er Jahren Zuwanderung notwendig, um das Schrumpfen der Bevölkerung zumindest abzubremsen.350 An dem zunehmenden Anteil der über 80jährigen, insbesondere Frauen, zeigt sich die permanent steigende Lebenserwartung der Bevölkerung.351 Die Projektion für das Jahr 2050 bestätigt diese beiden Trends einer alternden Gesellschaft, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Rentenempfänger-Beitragszahler-Verhältnis immer mehr steigen lassen.352 Auch wenn diese Entwicklungen schon vorher absehbar waren, begann man erst in den 1980er Jahren in verstärktem Umfang zu realisieren, dass einerseits die durchschnittlichen Beitragsjahre zurückgingen (längere Ausbildung, Phasen längerer Arbeitslosigkeit, Frühverrentung), andererseits jedoch die durchschnittlichen Rentenbezugsjahre drastisch anstiegen (höhere Lebenserwartung, Frühverrentung). Als Antwort auf Zweifler gab der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm noch 1986 die Parole aus, dass die Rente sicher sei. Tatsächlich kann das System einer dynamischen Rente in einer alternden Gesellschaft längerfristig nur dann aufrecht erhalten werden, wenn die individuelle Beitragsdauer und damit die jeweils aktuelle Zahl der Beitragszahler durch eine Senkung des Berufseintrittsalters und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erheblich erhöht werden. So unbeliebt diese Maßnahmen in der Bevölkerung auch sind, waren die Verkürzung der Ausbildungszeiten durch die Einführung einer nur noch achtjährigen Gymnasialzeit und die Etablierung eines dreijährigen Bachelorstudiengangs sowie die stufenweise Erhöhung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre erste Schritte auf dem einzig gangbaren Weg zur Erhaltung dynamisierter Altersrenten. Als Alternative wäre nur denkbar, die Dynamisierung der Renten aufzugeben und stattdessen die staatlich gewährleistete Rente auf ein einheitliches Mindestniveau sinken zu lassen, und es ansonsten der Initiative der Erwerbstätigen zu überlassen, durch private Vorsorge ihr Auskommen im Alter zu sichern. Die zweite „Zeitbombe“ des Ausbaus des Wohlfahrtsstaats manifestierte sich im Bundessozialhilfegesetz von 1961 durch den Anspruch, staatlicherseits nicht nur die reine Existenzsicherung, sondern ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Faktisch wurde damit ein Mindestlohn etabliert. Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme wurde dadurch im Niedriglohnbereich zumindest tendenziell geringer.
350
351
352
Zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung Deutschlands vgl. Timothy W. Guinnane (2003): Population and the Economy in Germany, 1800–1990, in: Sheilagh Ogilvie und Richard Overy (Hg.): Germany. A New Social and Economic History, Bd. 3: Since 1800, London, S. 35–70. Durch die hohen Krankheits- und Pflegekosten der sehr alten Menschen belastet die steigende Lebenserwartung mit der Kranken- und Pflegeversicherung auch andere Zweige des Sozialversicherungssystems. Für die frühen demographischen Probleme der Sozialversicherungsträger der Bergleute vgl. Tobias A. Jopp (2013): Insurance, Fund Size, and Concentration: Prussian Miners’ Knappschaften in the Nineteenth- and Early Twentieth-Centuries and Their Quest for Optimal Scale, Berlin.
260
9 Rückkehr zur Normalität N - Arbeitsnachfrage der Unternehmen
w
S w*
Marktgleichgewicht A - Arbeitsangebot der Haushalte
LS,A L* LS,N
L
Abbildung 9.4:
Arbeitsangebot für ungelernte Tätigkeiten mit und ohne Sozialhilfe
Anm.:
L – Arbeit (labour), w – Lohn (wage).
Abbildung 9.4 veranschaulicht diesen Zusammenhang schematisch. In der Wirtschaftstheorie ist der umgangssprachliche „Arbeitnehmer“ derjenige, der Arbeit anbietet. Der „Arbeitgeber“, in der Regel ein Unternehmen, fragt Arbeitskräfte nach. Das Unternehmen wird potenziellen Arbeitskräften maximal einen Lohn w anbieten, der dem gesamten Wert der Güter und Dienste entspricht, der durch die Nutzung ihrer Arbeitsleistung zusätzlich produziert werden kann. Die fallende Arbeitsnachfragekurve unterstellt, dass dieses „Grenzprodukt“ umso kleiner ist, je mehr Arbeitskräfte bereits beschäftigt werden. Umgekehrt werden umso mehr Menschen ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, je höher der angebotene Lohn ist. Dies verdeutlicht die steigende Arbeitsangebotskurve. Insbesondere überlegt sich ein potenzieller Arbeitnehmer, welche Alternativen er bei gegebenem Lohnangebot zur Arbeitsaufnahme hat (zum Beispiel von Ersparnissen leben oder Sozialhilfe in Anspruch nehmen). Je höher also der Lohn, desto geringer die Arbeitsnachfrage (der Unternehmen) und desto höher das Arbeitsangebot (der privaten Haushalte). Ohne Sozialhilfe liegt das Marktgleichgewicht im Schnittpunkt der Arbeitsangebotskurve A und der Arbeitsnachfragekurve N. Der Gleichgewichtslohnsatz w* ist genau derjenige Lohn, bei dem Arbeit L in gleicher Menge angeboten und nachgefragt wird. Wenn nun der Gesetzgeber mit der Sozialhilfe ein arbeitsloses Grundeinkommen (auf die Stunde umgerechnet) in Höhe von S garantiert, so werden die Arbeitnehmer nur ab Löhnen über S arbeiten wollen. Daher werden Arbeitgeber für einfache Tätigkeiten, für die sich Löhne in Höhe von S oder darüber nicht rechnen, keine Arbeitswilligen mehr finden – die Stellen bleiben frei und werden langfristig durch Maschinen oder Computer ersetzt oder in Niedriglohnländer verlagert. Insgesamt geht Arbeit in Höhe von L* – LS,A verloren. Zudem ist der Arbeitsmarkt nun im Ungleichgewicht, da bei einem Lohn von S (bzw. einem Lohn geringfügig über S) mehr Menschen arbeiten wollen als die Unternehmen einzustellen bereit sind. Bei Lohn S werden sich LS,N – LS,A Menschen arbeitslos melden, weil der höhere Lohn S aus
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
261
der stillen Arbeitsmarktreserve LS,N – L* Menschen mobilisiert hat. Diese unfreiwillig Arbeitslosen können oder müssen nun Sozialhilfe in Höhe von S beziehen. In der Modellwelt der Ökonomen freuen sie sich über das arbeitslose Einkommen – in der realen Welt ist der Bezug von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe für die meisten Menschen ein soziales und psychologisches Problem. Die obige Analyse gilt übrigens auch analog für Mindestlöhne (S wäre dann die Höhe eines staatlich garantierten Mindestlohns). So unbefriedigend es aus sozialer Perspektive sein mag, dass der Markt für bestimmte Tätigkeiten nur sehr geringe Löhne zahlt, so muss man sich über die Folgen von gesetzlich verankerten Mindestlöhnen im Klaren sein: in ihrer einfachen Form – und diese wurde und wird meist in der politischen Diskussion thematisiert – produzieren sie Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten mit geringer Arbeitsproduktivität. Grob vereinfacht lässt sich ein großer Teil der bundesrepublikanischen Diskussionen insbesondere seit den 1970er Jahren um die Sozialhilfe bzw. um Hartz IV und auch die Arbeitslosenunterstützung, die jedoch im Gegensatz zur Sozialhilfe nur temporär gewährt wird, als Streit um die „richtige“ Höhe von S deuten. Die Debatten über eine Begrenzung des Wohlfahrtsstaats nahmen seit dem ersten Ölpreisschock von 1973 zu. Erste Kürzungen der sozialstaatlichen Leistungen beschloss daher Ende 1975 schon die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der Ausbau des Sozialstaats hat sich seitdem deutlich verlangsamt. Im Juli 1990 übernahm mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion die noch existierende DDR das gesamte Sozialsystem der Bundesrepublik. Eine letzte große Erweiterung war 1995 die Einführung der Pflegeversicherung, die seitdem die fünfte Säule der Sozialversicherung darstellt. In Tabelle 9.2 sind die staatlichen Sozialausgaben ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesetzt. Dies lässt sich als derjenige Anteil des BIP interpretieren, der für soziale Zwecke verwendet wird. Die Sozialleistungsquote der frühen Bundesrepublik betrug 1960 14,4 Prozent. Ein auch im internationalen Vergleich starker Anstieg fällt dann in die erste Hälfte der 1970er Jahre, also in die Zeit der sozialreformerischen Aufbruchsstimmung unter Bundeskanzler Willy Brandt. Die Sozialleistungsquote ging interessanterweise unter den Regierungen der Bundeskanzler Helmut Schmidt und selbst Helmut Kohl kaum zurück. Die sozialen Lasten der Wiedervereinigung und die Einführung der Pflegeversicherung ließen sie wieder ansteigen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Sozialleistungsquote 2003 mit 27,7 Prozent. Im internationalen Vergleich lag die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik 1960 sehr hoch. Im Laufe der 1960er, 1970er und 1980er Jahre bauten jedoch einige nord- und westeuropäische Staaten umfassende Sozialsysteme auf, so dass die Quote der (alten) Bundesrepublik 1990 eher auf Höhe der Quoten in Italien oder Spanien lag als auf den deutlich höheren in den skandinavischen Ländern, den Beneluxstaaten und Frankreich. Erst die Wiedervereinigung hat die deutsche Quote wieder über das westeuropäische Mittelfeld katapultiert. Der Staat beeinflusst über die Erhebung von Steuern und Pflichtbeiträgen zur Sozialversicherung sowie durch die Gewährung von Transfers wie Kindergeld, Wohngeld oder Bafög die Einkommensverteilung der Haushalte nicht unerheblich. Deshalb unterscheidet man Primärund Sekundäreinkommen. Ersteres entsteht auf dem Markt aus Lohneinkommen, Zinsen, Mieteinkünften oder Gewinnen, letzteres nach staatlicher Umverteilung im Zuge von Steuern und Transfers, die im politischen Prozess legitimiert werden.
262 Tabelle 9.2:
9 Rückkehr zur Normalität Sozialleistungsquoten in europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten 1960 bis 2005 (in Prozent) 1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Deutschland
14,4
13,5
15,5
20,9
20,4
20,8
20,1
26,8
26,6
2005 27,2
Frankreich
12,4
15,2
15,4
16,9
20,8
26,0
24,9
28,5
27,7
29,0
Großbritannien
10,3
11,7
13,3
15,7
16,5
19,4
16,7
19,9
18,6
20,6
Italien
11,1
13,7
14,3
17,8
18,0
20,8
19,9
19,9
23,3
25,0
Schweden
11,3
13,8
17,5
22,2
27,2
29,5
30,2
32,0
28,4
29,1
Schweiz
4,9
6,8
8,5
13,5
13,8
14,7
13,5
17,5
17,8
20,2
Vereinigte Staaten
7,1
7,7
10,2
14,3
13,2
13,1
13,5
15,4
14,5
15,8
Anm.:
Die Sozialleistungsquote wird berechnet als Quotient aller staatlichen Sozialausgaben (Alters- und Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe etc.) und dem Bruttoinlandsprodukt. Die staatlichen Sozialausgaben umfassen auch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherungsträger, nicht aber die Sozialausgaben von Kirchen und anderen nichtstaatlichen Wohlfahrtseinrichtungen.
Quelle:
OECD.StatExtracts (inkl. öff. Ausgaben für Gesundheit). Dort auch Daten für weitere im Text aufgeführte Staaten.
Steuern werden natürlich nicht nur durch Umverteilungsziele begründet. Vor allem werden Steuereinnahmen zur Finanzierung öffentlicher Güter wie Straßen, Schulen oder Polizei benötigt. Umstritten ist, ob von der staatlichen Bereitstellung öffentlicher Güter auch indirekte Umverteilungseffekte ausgehen. Einerseits könnte man vermuten, dass insbesondere einkommensschwächere Schichten von diesen profitieren, da reiche Haushalte an Stelle des öffentlichen Nahverkehrs das eigene Auto oder an Stelle des öffentlichen Schwimmbads den eigenen privaten Pool benutzen. Andererseits kann man allerdings auch argumentieren, dass es die Reichen sind, deren Eigentum vorrangig von Polizei und Justizsystem beschützt wird; und die staatlichen Universitäten werden immer noch vorrangig von Kindern aus den besser gestellten Schichten besucht. Wie groß sind nun die Unterschiede der privaten Haushaltseinkommen nach Steuern und Transfers? Hierfür werden unterschiedliche Verteilungsmaße bemüht, unter denen der GiniKoeffizient der bekannteste ist. Dieser ist zwar einfach zu berechnen, erfordert aber sehr umfangreiche Daten über die Einkommen der Privathaushalte, die selbst für hoch entwickelte Staaten in der Regel erst ab den 1970er Jahren in international vergleichbarer Form vorliegen. Interessant ist zunächst das Ergebnis, dass die Einkommensverteilung in Deutschland über zwei Jahrzehnte, mehrere Regierungswechsel und sogar die Wiedervereinigung hinweg bemerkenswert stabil geblieben und erst in den letzten Jahren etwas ungleicher geworden ist. Im internationalen Vergleich liegen die skandinavischen Länder recht deutlich, die BeneluxLänder etwas unter den deutschen Werten. Stärker ungleich als in Deutschland sind dagegen die Einkommen in den Mittelmeer-Staaten einschließlich, wenn dort auch eher moderat, Frankreich verteilt. In Großbritannien sind die Auswirkungen der angebotsorientierten Politik von Margaret Thatcher (Amtsantritt 1979) deutlich zu erkennen – dort deutet der kontinuierliche Anstieg des Gini-Koeffizienten darauf hin, dass zumindest relativ gesehen die Armen ärmer und die Reichen reicher geworden sind.
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
263
Gini-Koeffizient und Lorenzkurve Der Gini-Koeffizient ist ein häufig verwendetes Maß für die Einkommens- oder Vermögensverteilung in einer Gesellschaft. Im unten abgebildeten Beispiel hat man vier Haushaltsgruppen gebildet. b1 ist die Gruppe der ärmsten Haushalte (hier 50 Prozent der Bevölkerung), b4 die der reichsten (hier 1 Prozent der Bevölkerung). Gruppe b1 hat einen Anteil am Gesamtvermögen der gesamten Bevölkerung von nur 2,5 Prozent, Gruppe b2 (40 Prozent der Bevölkerung) immerhin schon von 47,5 Prozent usw. Graphisch kann man sich die Ungleichverteilung der Vermögen wie in untenstehender Abbildung veranschaulichen. Man beginnt links unten und trägt die (große) Gruppe b1 mit dem (kleinen) Vermögen v1 ab, das entspricht Punkt x1,y1. Nun addiert man die nächste Gruppe hinzu und erhält den Punkt x2 (=b1+b2), y2 (=v1+v2) usw. Da sich alle Anteile bi und vi zu 100 Prozent addieren, ist beim Punkt x4,y4 das gesamte Vermögen der gesamten Bevölkerung abgetragen. Verbindet man diese Punkte, so erhält man die sogenannte Lorenzkurve der tatsächlichen Verteilung. Je stärker ungleich die Vermögen verteilt sind, desto stärker ist die Lorenzkurve nach rechts unten gebogen. Analog lässt sich die Einkommensverteilung messen und darstellen. Wären die Vermögen gleichverteilt, dann hätte Gruppe b1 50 Prozent des Gesamtvermögens und Gruppe b4 1 Prozent und es ergäbe sich die 45°-Linie der totalen Gleichverteilung. Hätte Gruppe b4 alles Vermögen (v1=v2=v3=0 Prozent, v4=100 Prozent), so entspräche die Lorenzkurve bis zum Punkt x3 der waagerechten Achse und ginge dann fast senkrecht hoch. Der Gini-Koeffizient ist definiert als das Verhältnis zwischen der Fläche zwischen der 45°-Linie und der Lorenz-Kurve (im Beispiel die hellgraue Fläche) und der gesamten Fläche unter der 45°-Linie (im Beispiel die hellgraue und die dunkelgraue Fläche). Bei Gleichverteilung beträgt er Null, bei totaler Ungleichheit ist er auf Eins normiert.
Quelle:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Lorenzkurve_Gini-Koeff.png, Zugriff am 28.07.13
264
9 Rückkehr zur Normalität
Tabelle 9.3:
Verteilung des verfügbaren Einkommens im internationalen Vergleich (Gini-Koeffizient)
Mexiko Vereinigte Staaten Großbritannien Frankreich Polen Deutschland Schweden
um 1975 n.v. 0,32 (1974) 0,27 (1974) 0,29 (1979) n.v. 0,27 (1973) 0,22 (1975)
um 1985 0,43 (1984) 0,33 (1986) 0,30 (1986) 0,32 (1984) 0,27 (1986) 0,27 (1984) 0,21 (1987)
um 1995 0,49 (1994) 0,35 (1994) 0,34 (1994) 0,29 (1994) 0,32 (1995) 0,27 (1994) 0,22 (1995)
um 2005 0,46 (2004) 0,37 (2004) 0,34 (2004) 0,28 (2005) 0,32 (2004) 0,28 (2004) 0,24 (2005)
um 2010 n.v. 0,37 (2010) 0,36 (2010) n.v. n.v. 0,29 (2007) n.v
Anm.
Je höher der Gini-Koeffizient, desto höher die Ungleichverteilung der Einkommen nach Steuern und Transfers. Bis 1990 Westdeutschland.
Quelle:
LIS Inequality and Poverty Key Figures, Zugriff auf http://www.lisdatacenter.org/data-access/keyfigures/inequality-and-poverty/ am 25.04.2013. Dort auch Daten für weitere im Text aufgeführte Staaten.
Dieses auch für die Sozialausgaben erkennbare regionale Muster (vgl. oben Tab. 9.2) hat Gösta Esping-Andersen in einem vielzitierten Buch veranlasst, von den drei Welten des Wohlfahrtsstaats zu sprechen: der liberal-angelsächsischen, der konservativ-mitteleuropäischen und der sozialdemokratisch-skandinavischen. Andere Autoren plädieren dafür, noch ein mediterran-familiengestütztes Muster hinzuzufügen.353 Sowohl die Analyse der Sozialausgaben als auch die der Einkommensverteilung zeigen, dass sich die Entwicklung in Deutschland in ein Muster einfügte, das typisch für die OECDLänder war: einerseits die Wiederbelebung des kapitalistischen Wirtschaftssystems nach den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkriegs, andererseits der Aufbau eines gegen immer mehr Wechselfälle des Lebens absichernden Sozialstaats. Gerechtigkeit Ob eine ungleiche Einkommensverteilung auch ungerecht ist, lässt sich ohne explizite Zugrundelegung einer bestimmten Gerechtigkeitsnorm nicht entscheiden. Wer ungleiche Einkommen als prinzipiell ungerecht bezeichnet, muss logisch zwingend für Einheitseinkommen eintreten, mit denen sicherlich auch negative Anreize verbunden wären. Beispielsweise würde ein Einheitseinkommen die Motivation beträchtlich verringern, durch Investitionen in die eigene Bildung das Humankapital zu erhöhen. Schneller lässt sich wohl Einigkeit dahingehend erzielen, dass man sich gleiche Chancen wünscht, hohe Einkommen erzielen zu können. Zweifellos ist Herkunft Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr so wichtig wie hundert Jahre zuvor, doch echte Chancengleichheit ist in der Bundesrepublik noch lange nicht erreicht. Die in Deutschland vielzitierte Formel von der „Sozialen Marktwirtschaft“ beschreibt also keineswegs eine spezifisch deutsche Entwicklung, sondern einen Weg, wie ihn etliche andere europäische Länder auch beschritten haben. Die Formel von der „Sozialen Marktwirtschaft“ 353
Vgl. Gösta Esping-Andersen (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton (NJ); Colin Hay und Daniel Wincott (2012): The Political Economy of European Welfare Capitalism, Basingstoke, insb. S. 33–65.
9.3 Wohlfahrtsstaat, Umverteilung und „Soziale Marktwirtschaft“
265
diente Ende der 1940er Jahre dazu, einer materiell verarmten und ideologisch zutiefst verunsicherten Bevölkerung die Rückkehr zum kapitalistischen Wirtschaftssystem schmackhaft zu machen, was damals keineswegs selbstverständlich war. Dass es sich dabei weitgehend um eine Leerformel handelt, zeigt alleine schon die Tatsache, dass sich seit den Godesberger Beschlüssen der SPD im Jahre 1959 fast das gesamte politische Spektrum auf sie beruft. Will man die Formel mit Inhalt füllen, so lassen sich drei gängige Konzepte unterscheiden. Erstens lässt sich die soziale Marktwirtschaft als Typ wirtschaftspolitischer Ordnung beschreiben, die durch geeignete ordnungspolitische Institutionen (Missbrauchsaufsicht, Kartellamt) das Funktionieren marktwirtschaftlicher Kräfte gewährleistet. Annahmegemäß generiert eine solche, vor Vermachtungsprozessen geschützte Wirtschaft „Wohlstand für alle“ – so eine von dem Bundeswirtschaftsmister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard 1957 als Buch und auf Wahlplakaten propagierte Formel –, also auch und gerade für die unteren Einkommensschichten. Eine solche freie Marktwirtschaft ist in diesem Verständnis per se sozial; Sozialpolitik ist lediglich als ergänzende Maßnahme für ungewöhnliche Lebensrisiken zu sehen. Diese Interpretation wird vor allem von wirtschaftsliberaler Seite vertreten. Zweitens lässt sich die Rolle der Sozialpolitik stärker akzentuieren. Der Ökonom und spätere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Alfred MüllerArmack, dem der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ zugeschrieben wird, trat für eine aktive staatliche Sozialpolitik ein, die gesellschaftlich unerwünschte Resultate einer freien Marktwirtschaft korrigieren sollte. Dies könnte man heute als christsoziale oder sozialdemokratische Interpretation der „Sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnen. Drittens schließlich wird der Begriff verwendet, um ein (vermeintlich) spezifisch deutsches gesellschaftspolitisches System zu charakterisieren, das sich durch freie Marktwirtschaft, aktive Sozialpolitik und dezidierten Korporatismus beschreiben lässt. Letzterer ist durch institutionalisierte Einbindung von Gruppen mit unterschiedlichen, zum Teil gegenläufigen Interessen in gemeinsamen Entscheidungsprozessen charakterisiert. Dies kanalisiert Konflikte und trägt zu einer konsensualen Entscheidungsfindung bei. Elementarer Bestandteil des Korporatismus sind zudem nichtstaatliche Vereinigungen, oft mit Zwangsmitgliedschaft verbunden, an die hoheitliche Funktionen delegiert werden, z.B. Qualitätskontrollen. Stichworte wie Mitbestimmung, konzertierte Aktion, runder Tisch, Industrie- und Handelskammern, Handwerksinnungen etc. mögen hier genügen. Dies sind jedoch keine deutschen Besonderheiten. Mindestens dieselbe Bedeutung kommt diesen korporativen Elementen auch in anderen europäischen Staaten wie Österreich und Schweden, teilweise auch in der Schweiz zu. Vergleicht man diese drei Interpretationen der „Sozialen Marktwirtschaft“ mit den drei Mustern des Wohlfahrtsstaats, die Esping-Andersen beschreibt, so zeigt sich, wie ähnlich sich diese sind und wie unscharf folglich das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ ist. Für die in kapitalistischen Demokratien fundamentale Frage, wie viel Markt wünschenswert und wie viel Umverteilung finanzierbar ist, liefert die „Soziale Marktwirtschaft“ je nach Interpretation fast beliebig viele Antworten – und damit letztlich keine.354
354
Vgl. Mark Spoerer (2007): Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Thomas Hertfelder und Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland: Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen, S. 28–43.
E
Ausblick
10
Perspektiven der Neuen Deutschen Wirtschaftsgeschichte
Wir möchten dieses Buch mit zwei Betrachtungen beenden. Zum einen versuchen wir aus der Fülle der referierten Fakten einige wesentliche Punkte zu extrahieren, die uns besonders wichtig sind, und zum anderen versuchen wir Perspektiven für die weitere Forschung aufzuzeigen – es geht also, wenn man das so plakativ formulieren möchte, um die Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte und die Lehren für die Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Erstens: Anfang des 21. Jahrhunderts waren die Menschen in Deutschland (und den meisten Teilen Europas) um ein Vielfaches wohlhabender als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie besitzen mehr, sie haben viel mehr Möglichkeiten, sich zu entfalten, sie leben länger und leiden vermutlich weniger an physischen Schmerzen als früher. Ob die Menschen deshalb glücklicher geworden sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Seit den grundlegenden Untersuchungen des Ökonoms Richard Easterlin kann man nicht mehr naiv davon ausgehen, dass das individuelle Wohlbefinden mit dem materiellen Wohlstand (oberhalb einer bestimmten Schwelle) steigt.355 Die ökonomische Glücksforschung steht im Grunde trotz der Fortschritte der vergangenen zwei Jahrzehnte noch ganz am Anfang und ist aus methodischen Gründen für die (Wirtschafts-) Geschichtsschreibung bislang kaum anschlussfähig.356 Zweitens: Für Wirtschaftshistoriker ist es ein Allgemeinplatz, aber für (fast) alle anderen nicht, und daher kann man es nicht oft genug betonen: Das, was so viele Menschen in Deutschland und Europa wohlhabend gemacht hat, ist auf technischen und organisatorischen Fortschritt zurückzuführen. Die Ressourcen sind begrenzt, aber die menschliche Kreativität und Phantasie (bislang) offenbar nicht, und daher wächst die Wirtschaftsleistung weiter und die Menschen werden wohlhabender. Neue Technologien machen zwar menschliche Arbeitskraft überflüssig, sie schaffen aber an anderer Stelle neue Arbeitsmöglichkeiten. Gerade die
355
356
Vgl. Richard A. Easterlin (1974): Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence, in: Paul A. David und Melvin W. Reder (Hg.): Nations and Households in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Abramovitz, New York, S. 89–125. Vgl. Jan-Otmar Hesse und Mark Spoerer (2013): Inequality, Subjective Well-being and Happiness, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, H. 1, S. 9–13; Fabian Wahl (2013): Die Entwicklung des Lebensstandards im Dritten Reich: eine glücksökonomische Perspektive, in: ebda., S. 89–110.
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frühen 2010er Jahre haben gezeigt, dass der Gesellschaft in Deutschland die Arbeit keineswegs ausgeht. Auch hier liegen die Dinge allerdings nicht ganz so einfach. Weder in den Wirtschaftswissenschaften noch in anderen Wissenschaften ist man sich darüber im Klaren, inwieweit die Menschheit von der Substanz lebt. Der Umwelt- und Ressourcenverzehr ist in seinen langfristigen Auswirkungen bislang nicht einmal im Ansatz abzuschätzen. Technischer Fortschritt birgt darüber hinaus immer auch Risiken, deren Langzeitwirkungen schwer abzuschätzen sind. Insofern ist es denkbar, dass spätere Generationen auf Grundlage von Wissen, das wir heute noch nicht haben, die Wachstumsraten des 20. Jahrhunderts nach unten korrigieren werden. Drittens: Die Fähigkeit zur Innovation ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein ganz wesentliches Merkmal der deutschen Wirtschaft gewesen. Welche Wirtschafts- und Gesellschaftsform besonders geeignet ist, diese Fähigkeit zu gewinnen, zu erhalten und auszubauen, ist Gegenstand vieler Diskussionen. Gerade die deutsche Wirtschaftsgeschichte zeigt aber, dass sich diese Kräfte in einem marktwirtschaftlichen Rahmen gut entfalten konnten. Die auf den ersten Blick eindrücklichen Wachstumsraten des Dritten Reichs kamen den Menschen nur unterproportional zu Gute und waren auf Pump finanziert. Die DDR konnte zu keinem Zeitpunkt mit dem Wachstum der westdeutschen Wirtschaft Schritt halten. Ihre verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik vertrieb wie das Dritte Reich viele gut ausgebildete Menschen. Eine wesentliche Rolle im Innovationsprozess spielt das Humankapital. Viele empirische Studien lassen vermuten, dass es gut ausgebildeter Arbeitskräfte und Wissenschaftler bedarf, um überlegene ausländische Technologien zu adaptieren und eigene Innovationen an der jeweiligen Forschungsfront zu entwickeln. Insoweit kommt dem nationalen Bildungs- und Ausbildungssystem sehr große Bedeutung für die Erklärung nachhaltigen Wirtschaftswachstums zu. Viertens: Soziale Ungleichheit durchzieht das ganze 20. Jahrhundert. Auch im frühen 21. Jahrhundert gibt es Arme in Deutschland. Die Definition von Armut ist jedoch eine relative Größe (zurzeit 60 Prozent des Medianeinkommens) und hat daher mit dem wachsenden Wohlstand Schritt gehalten. In den Friedensjahren des späten Kaiserreichs und in der Weimarer Republik waren Arme weitaus näher am Existenzminimum als heute, doch schon damals verhungerte in Friedenszeiten niemand mehr. Obwohl genaue Daten fehlen, kann man vermuten, dass der Abstand zwischen Arm und Reich mindestens gegenüber dem Kaiserreich deutlich geringer geworden ist. Medienwirksame Exzesse von Gehältern des Top Managements können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mittelschicht in Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts zugenommen hat, wofür in der Soziologie Begriffe wie „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ oder „Zweidrittelgesellschaft“ geprägt worden sind. Auch wenn umfassende Chancengleichheit in der deutschen Gesellschaft sicherlich noch nicht realisiert ist, hat die soziale Mobilität, sowohl in Hinsicht auf die Herkunft als auch in Hinsicht auf das Geschlecht, deutlich zugenommen. Fünftens lässt die wechselhafte Geschichte der deutschen Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert vermuten, dass es angesichts immer neuer gesellschaftlicher Lenkungswünsche für Politiker schwierig ist, die Entscheidung über Produktion und Verteilung der knappen Güter gänzlich den freien Märkten zu überlassen. Ordnungspolitische Brüche wie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das die lange Kartelltradition Deutschlands beendete, stehen
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neben ordnungspolitischen Kontinuitäten wie der Duldung von Gebietsmonopolen der Elektrizitätswirtschaft, die erst Ende des 20. Jahrhunderts auf Druck der Europäischen Union beseitigt wurden. War die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft noch als Ausdruck von staatlichem Gestaltungswillen und als bewusste Entscheidung gegen das System totalitärer Wirtschaftssteuerung der Nationalsozialisten verstanden worden, wurden die Bemühungen um die Liberalisierung und Deregulierung von Arbeits-, Kapital- und Produktmärkten in den letzten beiden Jahrzehnten von vielen Menschen doch eher als Zeugnis wirtschaftspolitischer Ohnmacht gegenüber dem zunehmenden Globalisierungsdruck gedeutet. Insgesamt unterlag auch die Wirtschaftspolitik konjunkturellen Wechsellagen, in denen einmal der Wunsch nach „mehr Markt“, ein anderes Mal der Ruf nach „mehr Staat“ dominierte. Insbesondere offenbaren sich die Mängel bestimmter ökonomischer Institutionen oftmals erst in längerfristiger Perspektive, so dass die Richtung des institutionellen Wandels auch von wirtschaftshistorischen Erfahrungen bestimmt wird. Im Rahmen dieser allgemeinen Schlussfolgerungen harren noch viele ungeklärte Fragen einer genaueren wirtschaftshistorischen Untersuchung, deren Beantwortung auch Einsichten für die aktuelle Wirtschaftspolitik versprechen. Für zukünftige Reformen des deutschen Bildungssystems besitzen zum Beispiel folgende wirtschaftshistorische Fragestellungen hohe Relevanz: Wie entwickelten sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Handlungsmöglichkeiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (Facharbeiter und Ungelernte, Männer und Frauen, Migranten) im 20. Jahrhundert? Wie lässt sich die persistent große Ungleichverteilung von Innovationspotential über Länder, Regionen und Unternehmen erklären? Über welche Kanäle führt die Akkumulation von Humankapital zu einem Anstieg der volkswirtschaftlichen Produktivität und damit der Einkommen? Hat Bildung insgesamt zu größerer gesellschaftlicher Gleichheit geführt? Nicht nur aufgrund des drohenden Klimawandels und des aktuellen Ausstiegs aus der Atomenergie lohnt auch der Blick auf folgende Problemfelder: Welche volkswirtschaftlichen Kosten verursachten Umweltschäden? Wie reagierte die Wirtschaft auf relative Preissteigerungen von natürlichen Ressourcen wie z.B. Erdöl? Die Sozialpolitik mag von der Behandlung folgender Fragen profitieren: Führte stärkere Umverteilung zu weniger Effizienz oder spielte dieser oft beschworene Konflikt zwischen Allokations- und Distributionsziel in der deutschen Wirtschaftsentwicklung kaum eine Rolle? Welche Umverteilungseffekte gingen mit der Steuerpolitik einher? Welche (ungewollten) Steuerungswirkungen entfaltete das deutsche Sozialversicherungssystem? Schließlich sollten Wirtschaftshistoriker auch die längerfristigen Auswirkungen staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsprozess sorgfältig analysieren. Beispielsweise ist zu untersuchen, ob die staatliche Regulierung in den Netzindustrien ihre Ansprüche erfüllt. Es gibt viel zu tun. Dabei verspricht der Rückgriff auf moderne wirtschaftstheoretische Modelle, die Entdeckung und Erhebung neuer quantitativer Daten, die Nutzung multivariater Regressionsmodelle sowie die Formulierung expliziter kontrafaktischer Annahmen die Beantwortung dieser und anderer Fragen erheblich zu erleichtern. Von Seiten der Ökonomen ist im letzten Jahrzehnt das Interesse an wirtschaftshistorischen Untersuchungen deutlich gestiegen. So hat die aktuelle Finanz- und Schuldenkrise diejenigen Wirtschaftswissenschaftler gestärkt, die Wirtschaftskrisen nicht als seltenes exogenes Ereignis, sondern als regelmäßig wiederkehrenden systemimmanenten Bestandteil kapitalistischen Wirtschaftens interpretieren. Carlota Perez hat diesen Gedanken in einem kürzlich erschienen
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Aufsatz zu den Ursachen von Spekulationskrisen weiterentwickelt.357 Sie argumentiert, dass die volkswirtschaftliche Implementierung radikal neuer Technologien schwierig ist, da hierzu umfangreiche Anfangsinvestitionen notwendig sind, die erst in längerer Frist positive Renditen erwarten lassen und deshalb aus den etablierten Wirtschaftssektoren heraus selten unternommen werden. Es bedarf somit des Entstehens einer durch überbordenden Optimismus angetriebenen Spekulationsblase und den mit dieser zunächst einhergehenden kurzfristigen Profiten, um Finanzspekulanten dazu anzureizen, investives Kapital von den alten in die neuen Technologien zu verlagern. Diese Spekulationsblase mag platzen, aber oft hat sie bereits dann ihren eigentlichen Zweck, die Finanzierung der breitflächigen Durchsetzung von Basisinnovationen, erfüllt. Carlota Perez deutet unter anderem sowohl die britische Finanzkrise von 1847 (Basisinnovation: Eisenbahn), die Baring-Krise von 1890–93 (Chemie und Elektrotechnik), den Börsenkrach von 1929 (Automobil und Öl) als auch die doppelte Blase von 2000 und 2007/08 (Informationstechnologie) als solche von neuen Technologien getriebenen Spekulationsblasen, die jeweils – bei der letzten prognostiziert sie es voller Zuversicht – eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs eingeleitet haben. Um die strukturellen Grundlagen einer solchen endogenen Krisentheorie besser verstehen zu können, sind offensichtlich nun auch wieder vorrangig theoretisch arbeitende Ökonomen bereit, aus der Geschichte zu lernen. Entsprechenden Zuspruch fanden jüngst zwei große Überblicksdarstellungen über die Wirtschaftsgeschichte von Finanzkrisen.358 Erstaunlich ist auch die Beobachtung, dass empirisch arbeitende Makroökonomen die longue durée als Forschungskonzept wiederentdeckt haben und heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen auf jahrhundertelange Pfadabhängigkeiten zurückführen, die bis in die Frühe Neuzeit oder gar das Mittelalter reichen. Beispielsweise vertreten Daron Acemoglu, Simon Johnson und James A. Robinson in einem viel beachteten und kontrovers diskutierten Aufsatz die Auffassung, dass es von den Sterblichkeitsraten früher europäischer Siedler im 18. und 19. Jahrhundert abhing, ob die ehemaligen Kolonien Ende des 20. Jahrhunderts ein hohes Wohlstandsniveau erreichten oder nicht. Im Einzelnen lautet ihre Argumentation wie folgt: In Kolonien, in denen viele frühe Siedler Krankheiten wie Malaria oder Gelbfieber zum Opfer fielen, unterblieb eine umfassende Besiedelung durch Europäer, die stattdessen „schlechte“ Institutionen zur Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung errichteten. In Kolonien, in denen die Europäer auf ein gesundes Umfeld stießen, ließen sie sich nieder und importierten die „guten“ Institutionen ihrer Heimatländer (oft allerdings unter gewaltsamer Verdrängung indigener Einwohner). Damit wurde eine Zweiteilung implementiert, die als pfadabhängiger Prozess auch nach der Entkolonialisierung Bestand hatte. Die nunmehr unabhängigen Staaten behielten die von den Kolonialherren geerbten Institutionen bei, so dass Staaten mit traditionell „guten“ Institutionen florierten, Staaten mit „schlechten“ Institutionen stagnierten.359 357 358
359
Vgl. Carlota Perez (2009): The Double Bubble at the Turn of the Century: Technological Roots and Structural Implications, in: Cambridge Journal of Economics 33, S. 779–805. Vgl. Charles Kindleberger (2001): Manien – Paniken – Crashs. Eine Geschichte der Finanzkrisen, Kulmbach (die Erstauflage erschien bereits 1978); Reinhart/Rogoff (2009). Vgl. auch Werner Plumpe (2010): Wirtschaftskrisen, München; und Bähr/Rudolph (2011). Vgl. Daron Acemoglu, Simon Johnson und James A. Robinson (2001): The Colonial Origins of Comparative Development: An Empirical Investigation, in: American Economic Review 91, S. 1369–1401. Ähnlich wird argumentiert, wenn unterstellt wird, dass die Besatzung durch napoleonische Truppen das langfristige Wirtschaftswachstum der betroffenen deutschen Staaten förder-
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Solche Studien können maßgeblich von der Beteiligung von Wirtschaftshistorikern profitieren, deren komparativer Vorteil ja gerade darin besteht, große Erfahrungen mit der Beurteilung der Qualität der herangezogenen Daten und der unterstellten historischen Wirkungszusammenhänge zu besitzen. Tabelle 10.1:
Die globale Verteilung der Wirtschaftshistoriker/innen Wirtschaftshistoriker pro 1 Million Einwohner
Wirtschaftshistoriker absolut
Schweden
20,4
183
Uruguay
13,3
40
3
Vereinigtes Königreich
10,7
675
4
Japan
10,5
1.340
5
Norwegen
10,5
53
6
Portugal
10,4
114
Rang
Land
1 2
7
Finnland
8,5
43
8
Bulgarien
8,1
65
9
Niederlande
8,1
138
10
Slowenien
7,5
15
11
Österreich
7,5
60
12
Spanien
7,5
46
13
Argentinien
7,3
300
14
Griechenland
7,3
80
15
Dänemark
7,1
43
16
Ungarn
7,0
70
17
Schweiz
6,5
52
Frankreich
5,3
336
... 21 ... 30
Deutschland
2,6
210
31
USA
2,5
770
... Anm.:
Diese Schätzung umfasst Doktoranden, Professoren und andere wissenschaftliche Mitarbeiter aller methodischen Ansätze (vgl. Abb. 1.1).
Quelle:
Jörg Baten und Julia Muschallik (2011): On the Status and the Future of Economic History in the World, Tübingen, online verfügbar unter http://mpra.ub.uni-muenchen.de/34704/, S. 22–24.
Zieht man den Umfang der anstehenden Aufgaben und die Vielfalt der noch zu bearbeiteten Forschungsfragen als Maßstab heran, sind die Perspektiven der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung hervorragend. Auch zeigen die zunehmende Präsenz deutscher Wirtschaftshistoriker auf internationalen Konferenzen und die wachsende Zahl aus Deutschland stammender Beiträge in den führenden zumeist englischsprachigen Fachzeitschriften, dass te, weil damit eine Zerschlagung der feudalen Institutionen einherging. Vgl. Daron Acemoglu u.a. (2011): The Consequences of Radical Reform: The French Revolution, in: American Economic Review 101, S. 3286–3307.
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10 Perspektiven der Neuen Deutschen Wirtschaftsgeschichte
die deutsche Wirtschaftsgeschichtsschreibung zunehmend an internationaler Sichtbarkeit gewinnt. Bedauerlicherweise wird dieser Aufwärtstrend durch einen institutionellen Schrumpfungsprozess konterkariert. In den letzten beiden Jahrzehnten sind viele Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte Einsparprogrammen und Umwidmungen zum Opfer gefallen. Dies mindert insbesondere das Potential von vorrangig an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelter cliometrisch orientierter Wirtschaftsgeschichte. Die in Tabelle 10.1 dargestellten Relationen verdeutlichen, dass sich Deutschland im internationalen Vergleich tatsächlich eine vergleichsweise geringe Anzahl von Wirtschaftshistorikern leistet. Mit 2,6 Wirtschaftshistorikern pro 1 Million Einwohner liegt man lediglich auf Platz 30 unter 54 dokumentierten Ländern. Insbesondere die skandinavischen Länder, die Niederlande, das Vereinigte Königreich und im außereuropäischen Raum Japan legen Wert auf eine deutlich höhere Intensität der wirtschaftshistorischen Forschung. Die USA bewegt sich hingegen auf einem ähnlichen niedrigen Niveau wie Deutschland, was vor allem deshalb bisher nicht aufgefallen ist, weil amerikanische Wirtschaftshistoriker die New Economic History schufen und die meisten wichtigen Fachdebatten der letzten fünfzig Jahre initiiert und dominiert haben. Wenn Entscheidungsträger in Universitäten und Ministerien nicht umdenken (wozu dieses Buch hoffentlich einen Beitrag leistet), werden viele wirtschaftshistorische Fragen mangels qualifizierten Personals unbeantwortet bleiben. In und mit diesem Buch haben wir versucht zu zeigen, dass die Beschäftigung mit der Wirtschaftsgeschichte keineswegs nur zur Komplettierung des Geschichtsbildes um „die Wirtschaft“ dient. Vielmehr stellt sie – richtig analysiert – Erfahrungswissen bereit, das zur Bewältigung aktueller wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen beitragen kann. Ansonsten läuft die Bundesrepublik Gefahr, vergangene Fehler, die sich später als sehr kostspielig erwiesen, aus Unwissenheit zu wiederholen.
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 3.1: Tabelle 3.2: Tabelle 3.3: Tabelle 4.1: Tabelle 4.2: Tabelle 4.3: Tabelle 4.4: Tabelle 4.5: Tabelle 4.6: Tabelle 4.7: Tabelle 4.8: Tabelle 4.9: Tabelle 4.10: Tabelle 4.11: Tabelle 5.1: Tabelle 5.2: Tabelle 5.3: Tabelle 5.4: Tabelle 6.1: Tabelle 6.2: Tabelle 6.3: Tabelle 6.4: Tabelle 6.5: Tabelle 6.6:
Die Entwicklung der Wochenarbeitszeit in der Industrie 1913 bis 1944 (in Stunden) ............................................................................................... 35 Die Inflation vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg im Überblick.......... 37 Schwankungen der Geldentwertung 1920 und 1923 (1913=1) .................. 40 Wirtschaftliche Indikatoren 1924 bis 1929 ................................................ 49 Gesamtstaatliche öffentliche Ausgaben 1913/14 und 1927/28 (in Prozent) ................................................................................................ 51 Die wichtigsten Herkunftsländer ausländischer Patentnehmer in Deutschland (Zahl der Patente).............................................................. 54 Anteil der kartellierten Unternehmen an der Branchenproduktion (in Prozent) ................................................................................................ 59 Die größten deutschen Unternehmen 1924, 1929 und 1938 nach Bilanzsumme ............................................................................................. 60 Vereinfachte Darstellung des Datensatzes ................................................. 62 Die Bestimmungsgrößen wertvoller Patente deutscher Unternehmen 1877 bis 1932 ............................................................................................. 64 Die Zahlungsbilanz des Deutschen Reichs 1924 bis 1932 (Mrd. RM) ...... 73 Die interalliierte Verschuldung: reparationsberechtigte Staaten und die Vereinigten Staaten .................................................................................... 75 Strategien der Rüstung ............................................................................... 77 Die Veränderung der Auslandsverschuldung des Deutschen Reichs 1924 bis 1932 (Mrd. RM) .......................................................................... 80 Entwicklung der in- und ausländischen Einlagen ausgewählter Banken und Bankgruppen ....................................................................................... 88 Das Geldangebot und seine Determinanten ............................................... 92 Die Verwendung des Bruttonationaleinkommens in Preisen von 1913 (1928=100, ohne Außenbeitrag) ................................................................ 94 Ergebnisse der Reichstagswahlen 1924 bis 1933 (in Prozent der gültigen Stimmen) ............................................................................... 98 Verwendungsbereiche der bis zum 31. Dezember 1934 bewilligten Mittel zur Arbeitsbeschaffung.................................................................. 107 Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 1933 (in Millionen, ausgewählte Monate) ........................................................ 110 Entwicklung des Importwerts ausgewählter deutscher Einfuhrgüter ....... 114 Die Verlagerung des deutschen Außenhandels 1929 bis 1938 ................. 114 Bruttoanlageinvestitionen in Deutschland 1925 bis 1938 ........................ 118 Arbeitsproduktivitäten im Vergleich: Deutschland, Großbritannien und die USA ............................................................................................ 119
274 Tabelle 6.7: Tabelle 6.8: Tabelle 6.9: Tabelle 6.10: Tabelle 6.11: Tabelle 7.1: Tabelle 7.2: Tabelle 7.3: Tabelle 7.4: Tabelle 7.5: Tabelle 7.6: Tabelle 7.7: Tabelle 8.1: Tabelle 8.2: Tabelle 8.3: Tabelle 8.4: Tabelle 9.1: Tabelle 9.2: Tabelle 9.3: Tabelle 10.1:
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Verkaufserlöse, Steuern und Fremdkapitalzinsen der deutschen Landwirtschaft ..........................................................................................125 Wertschöpfung, Faktoreinsatz und Produktivität im Systemvergleich .....133 Veränderung der altersspezifischen Sterblichkeit beider Geschlechter in Deutschland ..........................................................................................144 Veränderungsrate der Todesursachen zwischen 1932 und 1937 in England & Wales und Deutschland (in Prozent) ..................................145 Verfügbares Einkommen und Pro-Kopf-Konsum von Nahrungsmitteln in Deutschland (1927/28=100) .................................................................150 Anteile der Industriegruppen an der industriellen Nettoproduktion in Prozent (Deutsches Reich, jeweiliger Gebietsstand) ............................158 Produkte und Wachstumsfaktoren der betrachteten Luftrüstungsfirmen ..186 Ursachen für die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Luftrüstungsindustrie (in jährlichen Wachstumsraten) .............................190 Outsourcing: Anteil des Vorleistungsaufwands an den Gesamtkosten ....191 Die Arbeitskräfte im Deutschen Reich (einschließlich Österreich, Sudetenland und Memel-Gebiet) in Millionen .........................................197 Schätzung der jährlichen Sterblichkeit deutscher und verschiedener Gruppen ausländischer Arbeitskräfte (in Promille) ..................................199 Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene im Deutschen Reich nach Herkunftsland (15. August 1944) ....................................................202 Fläche, Bevölkerung und Pro-Kopf-Einkommen in den deutschen Besatzungszonen ......................................................................................210 Tägliche Nahrungsmittelrationen für Normalverbraucher (Kilokalorien) 213 Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf (in Prozent) ...........................................219 Geschätzte Quellen des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in fünf OECD-Ländern.........................................................................................229 Die regionale Struktur des Außenhandels der Bundesrepublik Deutschland (in Prozent) ..........................................................................248 Sozialleistungsquoten in europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten 1960 bis 2005 (in Prozent) ...........................................................262 Verteilung des verfügbaren Einkommens im internationalen Vergleich (Gini-Koeffizient) .....................................................................................264 Die globale Verteilung der Wirtschaftshistoriker/innen ............................271
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1: Abbildung 2.1:
275
Methodische Ansätze der Wirtschaftsgeschichtsschreibung ........................ 8 Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland 1901 bis 2012 (€ in Preisen von 2000) .............................................................................. 29 Abbildung 3.1: Binnen- und Außenwert der Mark, Geldumlaufmenge .............................. 41 Abbildung 3.2: Notgeld der Reichsbahndirektion Erfurt vom 12. August 1923 ................. 44 Abbildung 3.3: Die klassischen Funktionen des Geldes ..................................................... 45 Abbildung 4.1: Punktwolke: Linearer Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und wertvollen Patenten............................................................................. 63 Abbildung 4.2: Punktwolke: Zusammenhang zwischen Unternehmensgröße und wertvollen Patenten unter Berücksichtigung der Rechtsform ................... 63 Abbildung 4.3: Der Kreislauf von Reparationen und Auslandsschulden ............................ 80 Abbildung 5.1: Veränderungen in den Bilanzen der deutschen Geschäftsbanken .............. 84 Abbildung 5.2: Bei den Arbeitsämtern gemeldete Arbeitslose ........................................... 85 Abbildung 5.3: Index der Industrieproduktion ohne Nahrungs- und Genussmittel (1928 = 100) .............................................................................................. 86 Abbildung 5.4: Die Investitionsentscheidung der Unternehmen ........................................ 91 Abbildung 6.1: Die Finanzierung öffentlicher Aufträge mit Öffa- und Mefo-Wechseln .. 108 Abbildung 6.2: Das Deutsch-Österreichische Verrechnungsabkommen........................... 112 Abbildung 6.3: Die Verwendung des Bruttonationaleinkommens 1925 bis 1938 ............ 120 Abbildung 6.4: Reales Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen und Konsum, berechnet zu alternativen Lebenshaltungskosten 1925 bis 1938 ............ 122 Abbildung 6.5: Die Entwicklung des „deutschlandspezifischen“ Development Index und des standardisierten realen Bruttonationaleinkommens pro Kopf 1920 bis 1960 ........................................................................................... 137 Abbildung 6.6: Anteil des Vornamens Adolf an allen männlichen Vornamen der Geburtsjahrgänge 1932 bis 1944 der im Jahr 2005 in Frankfurt am Main Gemeldeten (in Quartalen) ............................................................. 141 Abbildung 6.7: Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Verringerung des Konsums der „rationierten“ Güter ................................................................................. 146 Abbildung 6.8: Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Erhöhung des Konsums der „empfohlenen“ Güter ............................................................................... 147 Abbildung 6.9: Die Konsumentscheidung 1935/36 .......................................................... 152 Abbildung 6.10: Die Konsumentscheidung 1937/38 .......................................................... 153 Abbildung 7.1: Das Arbeitsbuch als Quelle ...................................................................... 160 Abbildung 7.2: Beispiel für das Menü eines Gruppenpreisvertrages im Jahr 1942 .......... 167 Abbildung 7.3: Das dreistufige Prinzipal-Agenten-Problem in der nationalsozialistischen Wirtschaft ............................................................ 170 Abbildung 7.4: Trade-off zwischen erwartetem Gewinn und erwartetem Risiko verschiedener Vertragstypen .................................................................... 173 Abbildung 7.5: Vertragspräferenzen der Autarkie- und Rüstungsunternehmen bei unterschiedlichen Investitionsprojekten ................................................... 174 Abbildung 7.6 Die Eigenkapitalrendite der Aktiengesellschaften des Bergbaus und der Produktionsgüterindustrie im Vergleich zur Konsumgüterindustrie 1925 bis 1941 (in Prozent) ................................................................................ 179 Abbildung 7.7: Der deutsche Rüstungsindex 1942 bis 1945 (1940/41=Jan./Feb. 1942=100) ................................................................................................ 181
276 Abbildung 7.8: Abbildung 7.9: Abbildung 8.1: Abbildung 8.2: Abbildung 8.3: Abbildung 8.4: Abbildung 8.5: Abbildung 8.6: Abbildung 9.1: Abbildung 9.2: Abbildung 9.3: Abbildung 9.4:
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Durchschnittliche Arbeitszeit pro Ju 88 (ATG, Junkers, Siebel) in Stunden, August 1939 bis August 1941, log-linear...................................187 Mehr oder bessere Maschinen? ................................................................189 Die Funktionsweise des Marshall-Plans ...................................................216 Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland 1946 bis 2010 (in €, lineare und logarithmische Darstellung) .....................................................................219 Arbeitslosenquote in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 2012.......................................................................222 Steigende Arbeitsproduktivität und sinkende Arbeitszeiten .....................225 Ausgangsniveau und Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg ..................................................................................................227 Die Konvergenz der westdeutschen Bundesländer 1950 bis 1990 ...........231 Wechselkurse wichtiger Währungen zu(m) UA/Ecu/Euro 1948 bis 2010 ...........................................................................................243 Export- und Importquoten der Bundesrepublik 1950 bis 1990.................249 Bevölkerungspyramiden ...........................................................................258 Arbeitsangebot für ungelernte Tätigkeiten mit und ohne Sozialhilfe .......260
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Stichwortverzeichnis Seitenverweise auf Erklärungen oder ausführlichere Information sind fett hervorgehoben. A’Hearn, Brian 20 Abelshauser, Werner 117, 147, 230 abhängig Beschäftigte 120 abkindern 105 Acemoglu, Daron 270 Achtstundentag 34, 35 Adamo, Mark 160 Adenauer, Konrad 256 Adolf-Kurve 140, 141 Adverse selection 164, 166, 167 AEG 60, 214 Age-heaping 20 Agfa 56 Agrarpolitik 125, 128, 134 Gemeinsame der EWG 241, 247 Ägypten 114, 220 Akkord 163, 168 Alchian, Armen A. 10, 190 Algerien 228 Allais, Maurice 5 Allgemeine Gleichgewichtstheorie 6 Allokation 14, 149, 269 Altersaufbau 257 Altersgrenze 259 Aluminium 158 Aly, Götz 140, 142, 195, 203, 204, 206 amerikanischer Bürgerkrieg 6, 16 Amerikanisierung 7, 8 Anerbengericht 126 Annecy 245 Anthropometrie 143 Antitrust legislation 251 Anwerbestopp 223, 224 Arado Flugzeugwerke 186 Arbeiter- und Angestelltenausschüsse 36 Arbeitsamt 201 Arbeitsangebot und -nachfrage 260 Arbeitsbeschaffung 106, 107, 109, 110, 116 Arbeitsbeschaffungswechsel 97, 115 Arbeitsbeziehungen 34, 36 Arbeitsbuch 159 Arbeitsdienstpflicht 122 Arbeitserziehungslager 122
Arbeitsgemeinschaft der Eisen-, Stahl- und Metallverarbeitenden Industrie 177 Arbeitsjuden 196, 198 Arbeitslosenstatistik 109 Arbeitslosenunterstützung 109, 261, 262 Arbeitslosenversicherung 50, 109 Arbeitslosigkeit 30, 44, 49, 50, 79, 84, 85, 89, 93, 103, 104, 110, 137, 195, 222, 223, 259 Arbeitsproduktivität Siehe Produktivität Arbeitsteilung 4, 104, 183, 191, 225, 244 Arbeitsunfälle 144 Arbeitszeit 20, 35, 121, 187, 225 Arbitrage 68 Argentinien 71, 271 Arisierung 101, 192, 193, 194 Arrow, Kenneth 5 ASKI-Mark 112 ATG Allgemeine TransportanlagenGesellschaft 186 Atomenergie 269 Aufrüstung 104, 107, 117, 129, 146, 157 Aufsichtsrat 36 Auftragseingang 86 Aufwertung 241, 243 Auschwitz 57 Ausfallbürgschaften 94 Ausfuhrförderung 111 ausländische Zivilarbeiter 197, 198, 199 Auslandsverschuldung 80 Ausschüsse 183 Außenhandel 4, 18, 68, 71, 73, 74, 78, 111, 113, 114, 119, 173, 174, 203, 236, 241, 244, 248, 249 Außenwirtschaftsgesetz 88 Australien 54, 71, 83, 227 Autarkie 105, 113, 119, 145, 146, 157 Autobahnbau 105 Automobilindustrie 84, 105, 270 Baden 177 Baden-Württemberg 232 Bank deutscher Länder 218 Bank für internationalen Zahlungsausgleich 79 Banken, Ralf 161
296 Bankenkrise in Deutschland 86, 87, 88 in Österreich 86 Bankfeiertage 88 Banking-Theorie 38 Bankwesen 37, 38, 46, 84, 85, 87, 88, 89, 92, 97, 108, 127, 195, 205, 206, 252 Baring-Krise 270 Basel 79 BASF AG 56, 60, 67, 175 Baten, Jörg 20, 53, 143, 151, 154 Bauer, Wilhelm 124 Baumwolle 113, 148, 175 Bauwesen 107, 167, 171, 210, 221 Bayer AG 56, 60, 67 Bayern 212, 232 Beimischungszwang 125, 148, 151 Bekleidungsindustrie 223 Belgien 33, 54, 57, 195, 199, 202, 212, 227, 236, 243, 246 Benelux-Staaten 180, 241, 261, 262 Bergarbeiterstreik 50 Bergbau 56, 59, 60, 179, 210, 216, 246 Berghoff, Hartmut 155 Bergwerksgesellschaft Hibernia AG 60 Berlin 169, 192, 198, 209, 210, 214, 231, 232 Berliner Handelsgesellschaft 89 Bernanke, Ben 83 Berufskrankheiten 144 Besatzungskosten 203 Besatzungszonen 209 Betriebsrätegesetz 36 Betriebswirte 178 Bevölkerungspyramide 257, 258 Bilanzanalyse 84, 179 Bilanzen 84, 178, 185 Bilanzstatistik 178 Bildung 16, 135, 138, 195, 268, 269 Bismarck, Otto v. 50 Bizone 211 Blitzkrieg 180, 181, 183, 184, 195 Blomberg, Werner v. 157 Blüm, Norbert 259 Bocholt 212 Bochumer Verein 56 Bodenintensität 131, 133 Borchardt, Knut 95, 178 Borchardt-Kontroverse 96 Börse 83 Börsencrash 30, 270 Bosch Robert Bosch GmbH 176 Bosch, Carl 175 Boykott 193 Brandt, Willy 226, 261 Braunkohle 157, 158, 175
Stichwortverzeichnis Braunkohle-Benzin AG 60, 162 Brechenmacher, Thomas 140 Bremen 186, 232 Brest-Litowsk 75 Bretton Woods 236, 238, 239, 241, 243, 244, 249 Briand, Aristide 78 Broadberry, Stephen 119 Bronchitis 145 Brot 148, 149, 152 Brüning, Heinrich 87, 89, 93, 94, 96, 106, 125 Bruttoanlagevermögen 213 Bruttoinlandsprodukt 25, 26, 27, 28, 29, 49, 50, 135, 180, 219, 229 Bruttonationaleinkommen 26, 50, 94, 119, 120, 121, 122, 136, 137 Bruttosozialprodukt 26 Buchheim, Christoph 103, 110, 117, 162 Budgetgerade 152, 153 Bulgarien 271 Buna 57, 158 Bundesbahn 252 Bundesentschädigungsgesetz 256 Bundeskartellamt 252, 265 Bundesländer 231, 232 Bundesnetzagentur 253, 254 Bundespost 252 Bundessozialhilfegesetz 256, 259 Bundesverband der deutschen Industrie 251 Bundesversorgungsgesetz 256 Burbach-Kaliwerke AG 60 Butter 125, 150, 151 Caritas 256 Cassella 56 Catching-up-Hypothese 226, 228, 230, 232 CDU/CSU 256, 257 Chancengleichheit 264, 268 Chaostheorie 11 Chemie 52, 56, 59, 60, 158, 177, 250, 270 Chrysler Corporation 57 Clark, Gregory 52 Clearing 203, 236 Cliometrie 6, 7, 9, 14, 15, 272 Cobb-Douglas-Produktionsfunktion 132 Commerzbank 251 Commonwealth 83, 89 Conrad, Alfred H. 6 Corni, Gustavo 130, 134 Crayen, Dorothee 20 Creditanstalt 86 Crowding-out 115 Currency theory Siehe Zahlungsbilanztheorie Daimler-Benz AG 57, 199 Dänemark 54, 180, 199, 224, 227, 236, 247, 271 Danzig 74
Stichwortverzeichnis Darlehenskasse 39 Darlehenskassenscheine 39 Darmstädter und Nationalbank 87, 88, 89 Darré, Walther 126, 128, 129, 131 David, Paul A. 11 Dawes, Charles 75 Dawes-Anleihe 238 Dawes-Plan 46, 75 DDR 2, 3, 29, 33, 101, 102, 121, 140, 155, 214, 220, 223, 232, 256, 261, 268 Debreu, Gérard 5 Deficit spending 115, 117 Deflation 90, 92 deflationieren 28, 122 Degner, Harald 61, 160 Dehen, Peter 124 Dekartellierung 251 Delors-Plan 242 Demarkationsverträge 252, 253 Demobilmachungskommissare 36 Demontagen 209, 213, 214 Dessau 186 Deutsche Arbeitsfront 154, 155, 159 Deutsche Bank 88, 89, 251 Deutsche Bundesbank 96, 218, 220, 239, 240 Deutsche Gesellschaft für öffentliche Arbeiten Siehe Öffa Deutsche Mark 217, 240, 242, 243 Deutsche Rentenbank 45, 46 Deutsche Revisions- und Treuhand AG 184 Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken 176 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 213 Deutschland AG 230 Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten AG 56, 60 Devisenbewirtschaftung 88, 89, 115, 116, 193, 237 Devisenbilanz Siehe Zahlungsbilanz Devisenkurs 37 Diakonie 256 Dienstleistungsbilanz Siehe Zahlungsbilanz Dienstverpflichtung 160 Diphtherie 145 Diskont 38, 97, 108 Diskontsatz 38, 90 Displaced persons 255 Dollar 43, 44, 68, 216, 235, 236, 239, 243, 244 Dollar-Lücke 215, 235, 237 Dresdner Bank 88, 89, 251 Droysen, Johann Gustav 3 Dumke, Rolf H. 7 Dummy-Variable 65 Düren 212 Dynamisierung 256, 259
297 Dynamit Nobel AG 176 Easterlin, Richard 267 Ecu 242, 243 Edelmetalle 161 EFTA 247, 248 EGKS 245, 246, 247 Ehestandsdarlehen 105 Eichengreen, Barry 240 Eichholtz, Dietrich 182, 183 Eier 145, 150 Eigenbedarf 135 Eigentumsordnung 35 Eigentumsrechte 102 Einfuhrbeschränkungen 125, 245, 246, 247 Einkommen, verfügbares 116, 264 Einkommenselastizität 149 Einkommensparität 123, 124, 125 Einkommensverteilung 121, 261, 262, 263, 264 Einlöseverpflichtung 38 Eisen 218 Eisen- und Stahlindustrie 56, 58, 59, 162, 177, 223, 245, 250 Eisen- und Stahlwarenindustrie 59 Eisenbahn 21, 74, 270 Eisenerz 74, 114, 177 Eisernes Sparen 206 Elektrizitätswirtschaft 216, 252, 253, 254, 269 Elektrotechnik 52, 58, 59, 60, 250, 270 Elfert, Friedrich 165 Elsass-Lothringen 74 Endogenitätsproblem 19 Energiewirtschaftsgesetz 252, 253 Engel, Ernst 123 Engerman, Stanley L. 15 Entkolonialisierung 270 Entschädigung 192, 199, 256 Erbe, René 103, 115 Erbhöfe 127 Erdöl 60, 175, 176, 218, 220, 269, 270 Erhard, Ludwig 217, 226, 254, 265 Ernährung 143 ERP-Sondervermögen 215 Ersparnisse 204 Erwartungen 25, 40, 42, 86, 89, 90, 173, 174, 175, 176, 204, 221 Erwerbslosenfürsorge 50 Erzberger, Matthias 42, 51 Erze 113, 114, 157, 158, 162, 177 Erzeugungsschlacht 123, 128, 129, 134 Esping-Andersen, Gösta 264, 265 Euro 242, 243 Eurogruppe 238 Eurokrise 237 Europäische Gemeinschaft 242
298 Europäische Integration 247 Europäische Union 53, 232, 269 Europäische Währungsschlange 241 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 241, 247, 248, 249 Europäische Zahlungsunion 235, 238, 243, 249 Europäische Zentralbank 242 Europäisches Währungssystem 241, 242 Euro-Raum 221, 224, 244 Existenzminimum 225, 254, 268 Exit 198 Exporte 43, 89, 111, 113, 235, 249, 250 Exportförderung 112 Exportweltmeister 250 externe Stabilität 69 Fahrzeugbau 59, 250 Falsifikation 13, 22 Falter, Jürgen 98 Federal Reserve System 83, 221, 239, 240 Feinmechanische Industrie 59 Feinstein, Charles H. 17 Fertigungstiefe 191 Festkontengesetz 217 Festpreise 128, 164, 166, 200 Festpreisverträge 183 Fettplan 125, 148 Finanzkrise 270 2007 31, 269 britische von 1847 270 Finanzpolitik 34, 222 Finanzreform 51 Finanzverfassung 51 Finnland 54, 227, 243, 271 Fisch 148 Fisher’sche Quantitätsgleichung 40 Fiskalpolitik 95 Fixkostendegression 56 Fleisch 145, 148, 149, 150, 151, 205 Flick-Konzern 60 Floating 71, 239, 241, 243 Flucht in Sachwerte 41, 42, 47 Flüchtlinge 212, 223, 228, 255 Flughäfen 214 Fogel, Robert W. 15, 21 Forschung und Entwicklung 52, 61 Fortschritt organisatorischer 267 technischer 267, 268 Fortschrittseffekt 188 Franc, französischer 203, 204 Frankfurt am Main 141, 214 Frankreich 33, 54, 70, 74, 75, 77, 79, 87, 180, 184, 195, 199, 202, 203, 204, 209, 210, 227, 228, 229, 230, 236, 240, 241, 243, 245, 246, 247, 251, 261, 262, 264, 271
Stichwortverzeichnis Frauenarbeit 195, 196, 197, 200 Freihandel 248 Freihandelszonen 245 Frey, Bruno 98 Fried, Milton 148 Friedenswirtschaft im Krieg 180 Friedman, Milton 89 Fristentransformation 84 Frühverrentung 259 Fusionen 59, 85 Fusionskontrolle 252 GARIOA 238 Gastarbeiter 223, 224, 241, 249 GATT 244, 245 Gaulle, Charles de 247 Gebietsmonopole 252, 269 Gefangenendilemma 78 Gelbfieber 270 Geldbasis 90, 93, 97 Geldmenge 34, 37, 40, 69, 90, 97, 239, 240 Geldpolitik 41, 49, 84, 92, 95, 218, 222, 240, 241 Geldschöpfung 38, 71, 108 Geldschöpfungsmultiplikator 92 Geldsurrogat 97 Geldumlauf 206 Gelsenkirchener Bergwerks-AG 56, 60 Gemeinsamer Markt 242, 246 Gemüse 150, 205 Generalgouvernement Siehe Polen Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands 35 Generalmobilmachung 30 Generationenvertrag 256 Genf 245 Gerechtigkeitsnormen 264 Gesamtfaktorproduktivität 131, 132, 133, 134, 188, 189, 254 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen 251, 268 Gesetz zur Regelung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse 126 GESIS 19 Gesundheit 134, 195 Getreide 113, 114 Gewerkschaften 34, 36, 159, 224, 225, 251, 256 Gewinne 49, 50, 121, 178, 179, 193, 199, 270 Gewinnmaximierung 6, 10 Ghettos 198 Giersch, Herbert 223 Gies, Horst 130, 134 Gilbert, Parker 75 Gini-Index 65, 262, 263, 264 Glasindustrie 57, 58, 59 Globalisierung 25, 71, 83, 223, 269
Stichwortverzeichnis Globalsteuerung 226 Gold 161 Golddeckung 38, 69 Goldeinlösepflicht 68, 69, 239, 240 Goldmark 69 Goldparität 69, 88, 111, 112, 238 Goldschmidt, Jacob 87 Goldstandard 34, 44, 68, 75, 83, 88, 89 Goodwill 193, 194 Göring, Hermann 157, 158, 177, 198 Goslar 128 Grenznutzen 136 Griechenland 180, 223, 236, 237, 243, 271 Grippe 145 Gross domestic product Siehe Bruttoinlandsprodukt Gross national product Siehe Bruttonationaleinkommen Großbritannien 34, 54, 70, 71, 74, 75, 89, 114, 119, 175, 180, 197, 199, 210, 212, 220, 227, 229, 230, 236, 240, 241, 242, 247, 251, 262, 264 England 4, 19, 20 England und Wales 145 Großhandelspreise 37, 40, 44, 125 Growth accounting 132, 187 Grundsteuer 125 Gruppenpreisverträge 166, 167 Gürtner, Franz 126 Gutehoffnungshütte 56, 109 Gutsbesitzer, ostelbische 94 Gymnasialzeit 259 Habsburgerreich 70 Hachtmann, Rüdiger 120, 121, 122, 144 Hafner, Kurt 54 Häftlinge 198 Haider, Jörg 99 Halle an der Saale 186 Hamburg 232 Hanau 212 Handel 197 Handelsabkommen 237 Handelsbilanz Siehe Zahlungsbilanz Handelsflotte 74 Handelsvermehrung 248 Handelsverzerrung 248 Handelswechsel 38, 39, 43, 70, 109 Handwerk 197, 265 Hantke, Max 76 Harpe, Paul 167 Hartz IV 261 Harvard 5 Hayes, Peter 161 Heinkel-Werke 186 Herbert, Ulrich 198
299 Hermann-Göring-Werke Siehe Reichswerke Hermann Göring Herrmann, Ludwig 124 Hessen 232 Hicks, John 5, 10 Hilfsdienstgesetz 25, 36 Hindenburg, Paul v. 93, 94 Hirschman, Albert O. 198 Histat-Projekt 19 Historische Schule 4, 5, 6 Historische Sozialwissenschaft 10 Hitler, Adolf 105, 107, 140, 142, 146, 157, 180, 198 Hochdrucksynthese 175 Höchstpreise 39, 246, 253 Hoechst AG 56, 60 Hoesch AG 56, 60 Hoffmann, Walther G. 18 Hohe Behörde 246 Hoover, Herbert 81 Höschle, Gerd 148 Hugenberg, Alfred 125 Human Development Index 135 Humankapital 20, 61, 65, 133, 194, 227, 264, 268, 269 Hunger 34, 94, 198, 202, 211, 213 I.G. Farben 56, 57, 60, 61, 158, 175 Imitation 55, 231 Immigration 84 Immobilien 192, 193, 221, 255 Importe 111, 113, 145, 177, 203, 220, 235, 237, 249 Importkontingente Siehe Einfuhrbeschränkungen Indifferenzkurve 152 Indossament 108 Industrie- und Handelskammern 265 Industrieproduktion 86, 158 Industriestruktur 121 inferiore Güter 149, 151 Inflation 28, 30, 33, 36, 37, 40, 96, 117, 204, 220, 240, 241, 242 importierte 239 offene 37, 39 zurückgestaute 37, 39, 206, 210 Inflationssteuer 206, 217 Informationsrenten 164 Informationstechnologie 270 Infrastruktur 209, 252 Innovationen 51, 55, 121, 179, 227, 232, 268, 269 Integration horizontale 57 vertikale 57 International Trade Organisation 244
300 Internationaler Währungsfonds 238, 240 interne Stabilität 69 Investitionen 49, 50, 84, 89, 93, 106, 118, 119, 121, 185, 213, 245 Investitionsentscheidung 89, 91 Irland 236, 243, 247 Island 236 Isoquante 188 Israel 220 Italien 20, 33, 54, 75, 195, 196, 198, 199, 202, 223, 227, 228, 229, 230, 236, 241, 242, 243, 246, 261, 262 italienische Militärinternierte 196, 199 Japan 53, 54, 227, 228, 229, 271, 272 Johnson, Simon 270 Jom-Kippur-Krieg 220 Juden 104, 138, 145, 192, 194, 198, 203 Judenarbeitslager 198 Jugoslawien 180, 223 Junkers Flugzeug- und Motorenwerke 185 Junkers, Hugo 162 Junkersprogramm 187 Kaffee 205 Kalle 56 Kalter Krieg 235, 245 Kanada 54, 71, 83, 227 Kanäle 21 Kapitalbilanz Siehe Zahlungsbilanz Kapitaldeckungsverfahren 256 Kapitalintensität 131, 133, 188, 189, 191 Kapitalmarkt 121 Kapitalverkehrskontrollen 239, 242 Kapp-Putsch 40 Karstadt 86 Kartelle 57, 58, 78, 94, 250, 251, 268 Kartoffeln 148, 149, 151 Kausalität 11, 19, 22 Kautschuksynthese 157, 158 KdF-Wagen 105 Kershaw, Ian 141 Keuchhusten 145 Keynes, John Maynard 5, 114, 116 keynesianische Verwendungsgleichung 104 Keynesianismus 103, 239 Kirchenaustritte 142 Klassik 4 Kleidung 154, 205 Klein, Burton H. 181 Klimawandel 269 Klöckner-Werke AG 56, 60 Koalitionsrecht 34 Kocka, Jürgen 10 Kohl 151 Kohl, Helmut 261 Kohle 114, 218, 246 Köln 212
Stichwortverzeichnis Kolonien 270 deutsche 74 Konfession 98 Konjunkturpolitik 50 konkav 30 Konkurse 121 Konsum, privater 79, 84, 93, 105, 116, 119, 121, 122, 123, 134, 146, 149, 150, 151, 154, 155, 205, 250 Konsumgüterindustrie 159, 178, 179, 250 Konsumquote 116 Kontingenz 11, 13 kontrafaktische Analyse 13, 20, 23, 76, 99, 171, 177, 269 Konvergenz 231 Konvergenzkriterien 242 Konvertibilität 88, 236, 238 konvex 30, 152 Konzentration 56, 61 Konzentrationslager 57 Konzentrationsmaß 65 konzertierte Aktion 265 Konzessionsverträge 252 Korea-Krise 218 Körperschaftsteuer 178 Korporatismus 265 Korruption 169 Kosten 185, 252 Kraft durch Freude 154 Kraftfahrzeugsteuer 105 Krankheiten 145 Krauch, Carl 158 Krebs 145 Kreditanstalt für Wiederaufbau 216 Kriegsanleihen 39, 44, 205 Kriegsgefangene 170, 196, 197, 198, 199 Kriegsgefangenschaft 255 Kriegsschäden 212, 213, 214 Krise vor der Krise 95 Krupp 56, 60, 109 Kühlschrank 84 kulturalistische Wende 3, 7, 10 Kunstseide 158 Kunststoff 177 Kupfer 174, 176 Kussmaul, Ann 19 KZ-Häftlinge 196, 197, 198, 199, 200, 201 Länderfinanzausgleich 232 Landflucht 133, 134 Landwirtschaft 15, 19, 45, 46, 71, 74, 94, 101, 107, 123, 124, 125, 127, 128, 135, 162, 195, 197, 209, 252 Lastenausgleich 256 Lateinamerika 114 Lausanne 81, 95
Stichwortverzeichnis Lebenserwartung 135, 136, 138, 140, 199, 259 Lebenshaltungskosten 37, 40, 120, 121, 122 Lebensraum 104 Lebensstandard 42, 134, 135, 211 biologischer 140, 143, 154 Leder- und Linoleumindustrie 59 Leeds 144 Lehman Brothers 221 Leipzig 143, 186 Leitwährung 241 Lender of last resort 87 Lerneffekte 191 Leuna 175, 176 Levitt, Steven D. 16 Ley, Robert 155, 159 Lindlar, Ludger 226 lineare Darstellung 30, 219 Logarithmierung 136 logarithmische Darstellung 30, 219 Löhne 35, 36, 37, 42, 69, 94, 95, 102, 105, 159, 171, 199, 210, 223, 224 Lohnstopp 102, 116, 159 Londoner Schuldenabkommen 216, 238 Londoner Ultimatum 40, 42, 75 longue durée 270 Lorenz, Oliver 140 Lorenz, Ottokar 6 Lorenzkurve 263 Lothringen 74 Lovin, Clifford R. 130 Luftangriffe 183 Luftbrücke 214 Luftfahrt 51 Luftrüstungsindustrie 185, 186, 190, 191 Lungenentzündung 145 Lurié, Samuel 148 Luxemburg 195, 236, 243, 246 Machtmissbrauch 253 magisches Viereck 225 Makroökonomik 8 Malaria 270 Malthus, Thomas 104 Malthusianismus 104 Mannesmannröhrenwerke AG 56, 60 Margarine 125, 147, 148, 150, 151, 205 Marine 50 Mark gleich Mark 44 Marktversagen 255 Marmelade 148, 205 Marshall, George C. 215 Marshallplanhilfe 31, 211, 215, 216, 235, 238 Marx, Karl 5 Maschinenbau 56, 59, 177, 250 Masern 145 Massenkonsum 84, 118, 154
301 Mechanisierung 188, 225 Mefo-Wechsel 97, 107, 108, 206 Mehl 205 Meistbegünstigung 43, 72, 244, 245 Mengeneffekt 188 Merkantilismus 14 Metallgesellschaft AG 60 Metallhütten 59 Metallurgische Forschungsanstalt 109 Metallverarbeitung 94, 223 Metallwarenindustrie 59 Mexiko 264 Meyer, John R. 6 Mieten 218 Migration 228, 232, 269 Mikroökonomik 8 Milch 145, 150, 151, 205 Mindestlohn 259, 261 Mindestreserve 92 Ministerrat 247 Missbrauchsaufsicht 252, 265 Missbrauchskontrolle 251 Mitbestimmung 34, 36, 265 Mitteldeutsche Motorenwerke GmbH 186 Mobilität, soziale 268 Modernisierung 117, 134, 171, 177 Monopol 56, 251 Gebietsmonopol 252 natürliches 252, 253 Montanindustrie 59, 60, 245 Montan-Union Siehe EGKS Moral hazard 165, 166, 167 Morgenthau-Plan 216 Moskau 180 Motorisierung 105 Müller, Albert 142 Müller, Rolf-Dieter 181, 182 Multiplikatorwirkung 76, 115, 116 München 214 Munition 180, 181, 185, 191 Musikinstrumenten- und Spielwarenindustrie 59 Nachtwächterstaat 251 NAFTA 53 Nash, John 78 Nash-Gleichgewicht 78 Nathan, Otto 148 Neiße 209 NE-Metall-Industrie 60 Neue Institutionenökonomik 8, 163 Neuer Plan 111 Neuseeland 83 New Economic History 6, 8, 10, 11, 13, 16, 23, 32, 272 New Economy 221 New Hampshire 239
302 New York 83 Niederlande 20, 54, 195, 199, 202, 212, 224, 227, 228, 236, 243, 246, 271, 272 Niedersachsen 212 nivellierte Mittelstandsgesellschaft 268 Nixon, Richard 240 Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 9, 10, 15, 28, 78 Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei 60, 87 Nordrhein-Westfalen 232 Nordstern 86 Norwegen 180, 195, 220, 227, 241, 247, 271 Notgeld 45 Notverordnungen 36, 93, 94 Nullsummendenken 104 Nutzenmaximierung 6 Nutzungsentgelte 252, 253, 254 Oberpfalz 177 Obst 148, 150, 151, 205 Oder 209 OECD 26, 215, 229 OEEC 215, 237 Öffa 97, 109 Öffa-Wechsel 97, 107, 108, 206 öffentliche Güter 262 Ökonometrie 8, 13, 14, 67 ökonomische Glücksforschung 267 Ölpreiskrise 7, 31, 96, 176, 220, 224, 226, 261 OPEC 220 optische Industrie 59 Oranienburg 186 Ordnungspolitik 34, 102, 268 Ordoliberalismus 251 Osmanisches Reich 70 Ostalgie 155 Ostarbeiter 196, 198, 202 Österreich 54, 86, 87, 195, 227, 228, 236, 241, 243, 247, 265, 271 Osthilfegesetz 94 Ostpreußen 209 Outsourcing 191 Overy, Richard 181, 182, 183 Pachtvertrag 172, 173, 174, 176 Paderborn 212 Papen, Franz v. 97, 106 Papierindustrie 59 Papiermark 69 Paqué, Karl-Heinz 223, 232 Patente 52, 53, 61, 194, 233 im Ausland 74 Patentzitationen 53 Perez, Carlota 269 Pfadabhängigkeit 11, 12, 13, 66, 67, 171, 214, 233, 249, 270
Stichwortverzeichnis Pflegeversicherung 256, 261 Pfund, britisches 43, 71, 243 Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb 56, 60 Pillenknick 259 planification 229 Platin 161 Polen 142, 180, 195, 196, 198, 201, 202, 209, 210, 264 Polya-Urne 12 Polykratie 182 Pompidou, Georges 247 Popper, Karl R. 22 Portugal 4, 236, 243, 247, 271 Posen 74 Potsdam 186 Preise 34, 40, 42, 69, 94, 102, 113, 121, 128, 139, 148, 151, 189, 193, 210, 217, 239 für Agrargüter 83, 124 für Gewerbegüter 124 für Rohstoffe 83, 241 Preisfreigabe 31, 211, 214, 217 Preiskontrollen 37 Preisstopp 102, 117, 139 Preisüberwachung 169 Preußen 238 Primäreinkommen 261 Prinzipal-Agenten-Modelle 9, 161, 162, 170, 179 Produktionsfaktoren 13, 127, 129, 186 Produktionsgüterindustrie 121, 159, 179, 249, 250 Produktionsstruktur 158 Produktivität 55, 95, 119, 128, 134, 167, 182, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 199, 225, 232, 253, 254 Messung 131 Proettel, Thorsten 254 Pro-Kopf-Einkommen 49, 122, 135, 138, 148, 150, 210, 228, 231 Propaganda 155, 182, 192 Proteine 145 Protektionismus 71, 83, 111, 221, 244, 252 Prozesspolitik 102 Puddingpulver 205 Punktwolke 63 Quantitätstheorie 43, 44, 90 Quasi-Arbeitslose 110 QWERTY-Tastatur 12 Rassenlehre 104 Rathenau, Walther 42 Rationalisierung 51, 56, 85, 183, 184 Rationierung 37, 39, 102, 146, 147, 149, 205, 217 Rawls, John 255 Reallöhne 2, 42, 99
Stichwortverzeichnis Realzins 89, 90, 93 Redding, Stephen 214 Rediskont 38, 43, 109 Registermark 112 Regressionsanalyse 61, 228 Regulierung 148, 218, 247, 251, 252, 253, 269 Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 50, 107 Reichsarbeitsdienst 122 Reichsarbeitsministerium 36 Reichsautobahn 106, 107 Reichsbahn 45, 50, 60, 79, 106, 107 Reichsbank 38, 39, 43, 46, 49, 79, 85, 87, 88, 89, 97, 109, 117, 206 Reichsbauerntag 128 Reichserbhof 126 Reichserbhofgesetz 123, 126, 134 Reichsfinanzministerium 51 Reichsfluchtsteuer 193 Reichsgericht 250 Reichskreditkassenscheine 203, 204 Reichsluftfahrtministerium 187, 190 Reichsnährstand 123, 128, 134, 139 Reichspost 50, 60, 106, 107 Reichsschatzamt 51 Reichstagswahlen 98 Reichsversicherungsordnung 256 Reichswehr 50 Reichswerke Hermann Göring 177 Reinhardt, Fritz 205 Reinhardt-Programme 106 Rekonstruktionshypothese 226, 227, 228 relative Preise 28 Rentenbriefe 46 Rentenmark 45 Rentenreform 256 Rentenversicherung 256, 257 Rentiers 47 Rentner 256, 257 Reparationen 34, 40, 43, 44, 51, 74, 87, 238 Aufbringung 76 Kommerzialisierung 79 Kreislauf 78, 80 Transfer 74, 78 Reparationsagent 75, 79 Reverse engineering 55 Rheinische Stahlwerke 56, 60 Rheinischer Kapitalismus 230 Rheinmetall AG 60, 109 Rhenania-Ossag Mineralölwerke AG 60 Ricardo, David 4 Richter, Ralf 55 Riel, Arthur van 99 Ringe 183 Risikoteilungsvertrag 172, 173, 174, 175, 176
303 Ritschl, Albrecht 118, 119, 121 Robinson, James A. 270 Rockefeller Foundation 7 Ruhrgebiet 40, 75, 177, 213, 245 Besetzung 1923 30, 42, 45 Run auf Banken 84, 87, 88 Run auf Gold 240 Russenaufträge 94 Russland Siehe Sowjetunion Rüstungsministerium 183 Rüstungsproduktion 180, 181, 182, 184 Rüstungswettlauf 77 Saargebiet 74, 209, 210, 232, 246 Sachsen-Anhalt 232 Sachverständigenrat 96 Salzgitter 177 Samuelson, Paul A. 5, 9 Sauckel, Fritz 196 Schacht, Hjalmar 45, 79, 111, 115, 117, 157, 193 Scharlach 145 Schatzanweisungen 39, 206 Schatzwechsel 39 Scheingewinne 178 Scherner, Jonas 162, 171, 174, 176, 177, 179, 184, 191, 203, 213 Schiller, Karl 226 Schleicher, Kurt v. 97, 106 Schlesien 74 Schleswig-Holstein 212, 232 Schmalz 125 Schmidt, Helmut 226, 261 Schmidt, Manfred G. 256 Schmieding, Holger 223 Schmoller, Gustav 5 Schram, Arthur 99 Schreibmaschine 12 Schröder, Gerhard 224 Schuldenkrise 269 Schuman, Robert 245 Schutzzölle Siehe Zölle Schwartz, Anna 89 Schwarzmärkte 37, 102, 149, 206, 211 Schweden 54, 177, 227, 236, 241, 247, 262, 264, 265, 271 Schweiz 26, 34, 54, 135, 227, 228, 229, 230, 236, 241, 262, 265, 271 Schweizer Franken 243 Scrips 112 Seeblockade 30, 33, 104, 129 Sekundäreinkommen 261 Selbständige 120 Selbstkostenpreise 200 Selbstkostenvertrag 165, 183 Sen, Amartya 28, 135, 139 Sholes, Christopher Latham 12
304 Siebel Flugzeugwerke 186 Siemens-Konzern 60, 109, 199, 214 Sigma-Konvergenz 231 Silber 161 Sinti 104 Skandinavien 262, 272 Sklaverei 6, 15, 195 Slowenien 271 Smith, Adam 3 Smoot-Hawley Tariff Act 85 Social capabilities 227 Sofortabschreibung kurzlebiger Kapitalgüter 106 Solow, Robert 132 Sondererlaubnis 251 Sowjetunion 25, 77, 94, 141, 142, 161, 180, 195, 196, 199, 200, 201, 202, 209, 210, 228 Sozialausgaben 264 Soziale Marktwirtschaft 211, 226, 254, 264 Sozialhilfe 260, 261, 262 Sozialisierung 35 Sozialleistungen 255, 256, 262 Sozialleistungsquote 261 Sozialpolitik 265, 268, 269 Sozialversicherung 255, 261, 269 Spanien 223, 243, 261, 271 Spareinlagen 37, 42 Sparfeldzüge 116, 205, 206 Sparkassen 88, 206 Spartakus-Aufstand 35 Sparverhalten 142 SPD 217, 256, 265 Speer, Albert 180, 182, 183, 184, 187, 191 Spekulation 83, 240, 270 Sperrguthaben 112 Sperrmark 112 Spieltheorie 77 Spitzenausgleich 111 Spoerer, Mark 76, 178, 201 SS 199 Staatsanleihen 255 Staatsbankrott 47, 87 Staatsquote 50, 51 Staatsschuld 34 Staatsverschuldung 242 Staatswechsel 206 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz 225 Stagflation 220 Stahl 218, 246 Stalin, Josef 94 Stalingrad 141, 142 Steiner, André 122 Sterblichkeit 136, 137, 144, 198, 270 Sterilisierung von Goldzuflüssen 87 Sterlingblock 236 Steuerbilanzen 178
Stichwortverzeichnis Steuergutscheine 97, 106 Steuern 50, 269 Steuerpolitik 106, 125 stille Reserve des Arbeitsmarkts 110, 261 Stinnes-Konzern 49 Straßenbau 50, 105, 107 Streb, Jochen 53, 55, 184, 191, 254 Streb, Sabine 254 Stresemann, Gustav 78 Strukturwandel 58, 83, 223 Stückkosten 56 Sturm, Daniel 214 Stuttgart 143 Subprime-Krise 221 Substitutionseffekt 29 Subventionen 125, 149 Südfrüchte 147, 150 Sunk costs 215 superiore Güter 149, 150 Synthesefaser 148, 174, 175 Synthesekautschuk 174 Synthesetreibstoff 174, 175 Syrien 220 Tacit collusion 246 Tarifvertrag 36 technischer Fortschritt 58, 71, 77, 102, 104, 127, 133, 185, 188, 224 Telekommunikation 252 Temin, Peter 161, 179 Terms of trade 72, 83 Textilindustrie 59, 60, 74, 148, 223 Thatcher, Margaret 262 Theorem der komparativen Kostenvorteile 4 Thomas, Mark 17 Thüringen 196 Thyssen-Konzern 56, 60 Todesanzeigen 141, 142 Todesursachen 145 Todesurteile 142 Todt, Fritz 182 Too big to fail 87 Tooze, Adam 180, 182, 184 Torquay 244, 245 Tourismus 241, 249 Transaktionskosten 102, 239 Transferschutz 75, 79 Transportkosten 21 Treibstoffsynthese 57, 61, 157, 175 Treuhänder der Arbeit 159 Trusts 251 Tschechoslowakei 54, 195, 228 Tuberkulose 145 Tunesien 195 Türkei 114, 223, 236 Überhitzung 117, 179 Überschuldung 126
Stichwortverzeichnis Ukraine 94 Umlageverfahren 256 Umlaufgeschwindigkeit 37, 41, 42, 44, 46, 211 Umsatzsteuer 125 Umschuldung 125 Umverteilung 254, 255, 261, 265, 269 Umwelt- und Ressourcenverzehr 268 Umweltschäden 269 Ungarn 54, 198, 271 Ungleichheit, soziale 268 unit of account 243 Universitäten 259, 262, 272 Unternehmensgeschichte 10 Unternehmer 10, 121, 162, 169, 172, 174, 192, 194, 250 Urlaub 154 Uruguay 271 USPD 35 Vereinigte Glanzstoff-Fabriken 60, 175 Vereinigte Staaten 6, 12, 15, 21, 34, 53, 54, 55, 56, 57, 69, 70, 71, 74, 75, 77, 78, 81, 83, 84, 114, 119, 135, 175, 176, 180, 197, 199, 210, 216, 220, 226, 227, 228, 229, 230, 235, 239, 240, 244, 245, 251, 262, 264, 271, 272 Vereinigte Stahlwerke AG 56, 60, 251 Vereinigtes Königreich 247, 271, 272 Vereinte Nationen 240 Verhütung 259 Verkehrswesen 216, 252 Vernichtung durch Arbeit 198 Vernichtungslager 198 Verordnung gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen 251 Verrechnungsabkommen 111, 112 Verrechnungsstelle 111 Versailler Vertrag 22, 34, 50, 72, 74, 76, 78, 104, 155 Versicherungen 205, 252 Versicherungsprinzip, individuelles 255 Versicherungszwang 256 Versorgung 252 Verteilung 14, 28 Verteilungsrechnung 119, 120 Vertrag von Maastricht 242 Vertriebene 212, 228, 255 Verwendungsgleichung, keynesianische 93 Verwendungsrechnung 119, 120, 122 Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH 176 Vierjahresplan 119, 120, 157, 161, 171, 177, 178 Vierjahresplanbehörde 57 Vietnamkrieg 240 Voice 198
305 Völkerbund 74 Volksbegehren 81 Volkseinkommen 26, 28, 121 Volksgemeinschaft 120, 192 Volksgerichtshof 142 Volkswagen 105, 155, 173 volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 25, 26, 27, 102, 135, 139 Volkszählung 18 Vollbeschäftigung 30, 105, 195, 219, 223, 224, 226 Vollstreckungsschutz 125 Vonyó, Tamás 228 Vorleistungsintensität 188, 189 Voth, Hans Joachim 20 Wachstum extensives 185 intensives 185 Wagenführ, Rolf 191 Wagner, Adolph 38 Wagner, Andrea 135, 143, 151, 154 Wahlen 97 Wahlforschung 98 Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 256, 261 Währungskrise 1931 87, 88 Währungspolitik 34 Währungsreform 1923 30, 45, 211, 241, 244 1948 31, 206, 211, 214, 215, 217, 241, 244 Waidlein, Nicole 231, 232 Walfang 148 Walras, Léon 5 Warenkorb 28, 29 Waschmaschine 84 Wasserstraßenbau 50 Wechsel Siehe Handelswechsel Wechselkurse 84 fixe 239, 241, 244 flexible 239, 240 gespaltene 111, 115 Weck, Hannelore 98 Wehler, Hans-Ulrich 10 Weltwirtschaftskrise 83 Werkzeugmaschinenbau 55 Werner, Stefanie 160 Weser Flugzeugbau 186 Wessel, Horst A. 140 Westarbeiter 195, 200 Westpreußen 74 Westwall 122, 160 Wettbewerbsordnung 51, 250 Wiedervereinigung 31, 221, 242, 261, 262 Wintershall 60
306 Wirtschaftlichkeitsgarantievertrag 172, 173, 174, 175, 176 Wirtschaftspolitik 69, 93, 96, 97, 101, 102, 117, 123, 157, 251, 268, 269 keynesianische 103, 114, 117, 120, 226 Wirtschaftsprüfungsberichte 184 Wirtschaftswunder 171, 209, 211, 226, 230 Wissenstransfer 185 Wohlfahrtspflege, duale 256 Wohlfahrtsstaat 50, 226, 230, 254, 261 Wohlstandsmaß 135, 140 Wohnungsbau 50, 84, 107, 129, 256 Wohnungsbestand 212 Wolf, Nikolaus 214 Wolffsohn, Michael 140 WTO 244 Württemberg 161 X-Faktor 253, 254 Young, Owen D. 79 Young-Anleihe 238 Young-Plan 81, 87, 95
Stichwortverzeichnis Zahlungsbilanz 43, 72, 73, 74, 80, 83, 111, 235, 240, 241, 244, 249, 250 Zahlungsbilanztheorie 43 Zellwolle 158, 172 Zementindustrie 58, 59 Zentralbank 68 Zigarettenwährung 211 Zink 158 Zinsen 79, 220, 221, 242, 261 Zinsvergütungsscheine 106 Zölle 43, 68, 94, 244, 246, 248 Schutzzölle 83, 125 Zollunion 209, 245, 248 deutsch-österreichische 1931 87 Zollverein 18 Zucker 148, 150, 151 Zwangsarbeit 15, 123, 170, 179, 192, 195 Zwangskartelle 128 Zwangskartellgesetz 251 Zwangsschlichtung 35 Zweidrittelgesellschaft 268 Zwei-plus-Vier-Abkommen 238