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German Pages 100 [104] Year 1904
J. R i c k e r ' s c h e V e r l a g s b u c h h a n d l u n g in G i e ß e n
Gesundheitund Erziehung Eine Vorschule der Ehe von Prof. Dr. med. Georg Sticker 2. v e r m e h r t e Auflage. G e b . 5 M. In dem gediegen ausgestatteten Büchlein lernen wir den bekannten, vielseitigen Kliniker wieder von einer neuen Seite kennen und schätzen, nämlich als einen Popularphilosoph der Medizin oder besser Popularhygieniker, der von Herz zu Herz zu reden versteht. Es ist nicht leicht, für den gebildeten Mann populär zu schreiben. Die meisten oder doch sehr viele populärmedizinische Bücher stoßen durch ihre trockene, plumpe, doktrinäre oder doch nackt dogmatische Darstellung ab; es liegt in ihnen zu große Nüchternheit, keine Eleganz der Form, des Ausdrucks. Wie ganz anders bei Sticker! Hier ist tiefes Denken, überzeugende Kraft der Ausführungen mit edler Sprache und Originalität der Form verknüpft. Der Arzt wird in dem Buche gleichsam auch zum Rhetor, die Hygiene formt sich hier, vielleicht ohne daß der Verfasser es wollte, zu einer Art von Geisteswissenschaft. In d i e s e r F o r m liegt quasi der Reiz des Inhalts, der keinem Arzt etwas Neues bietet und doch jeden bei der Lektüre als neu ansprechen wird. D i e F o r m w i r d h i e r z u m I n h a l t . Stickers Buch zu lesen ist ein QenuQ, den wir allen von Herzen gönnen. Prof. Dr. J. P a g e l - B e r l i n .
J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung in Gießen
Mutter und Kind Wie man heikle G e g e n s t ä n d e mit Kindern behandeln kann Nellie
schrieb's
holländisch
J. G r i m m h a t e s v e r d e u t s c h t Hübsch gebunden 7 5 Pfennige. Prof. Dr. med. Georg Sticker schrieb über das Büchlein an den Verlag: „Mich dünkt, daß das Büchlein wohl wert ist, verbreitet zu werden. Es wird jeden, der für den Gegenstand ein Herz hat, ergreifen und zu innigem Nachdenken und ernster Nutzanwendung anregen. Viele werden wohl beim Lesen hier und da stutzen und sich fragen: Muß man in der Befriedigung der kindlichen Neugier so weit gehen, wie es der Verfasser tut? Und sicher werden die Eltern, denen das moralische Übergewicht über ihre Kinder abgeht, lieber dem Zufall die Aufklärung der Kinder überlassen. Aber die Eltern, die ihre Pflicht als natürliche Beschützer und Berater ernst nehmen, werden einsehen, daß gegenüber der unbarmherzigen Neugier der kleinen Frager kein Mittel ehrlicher und unschädlicher ist als das, welches der Verfasser darlegt."
Nervöse Kinder Medizinische, pädagogische und allgemeine Bemerkungen von
H. BOSMA
A u s d e m Holländischen
übersetzt
J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann) ° Gießen ° 1904
INHALT: Einleitung . Ursachen Kennzeichen Behandlung Prophylaxe
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Einleitung
Einleitung u denjenigen Fragen, welche in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit besonders auf sich gezogen haben, gehört sicherlich auch die Nervosität unserer Zeit, die gegenwärtig ohne Zweifel die allgemeinste Krankheitserscheinung in der Welt der Gebildeten ist. Man kann über die Ursachen unserer modernen Nervosität verschiedener Ansicht sein; man kann z. B. mit dem Berliner Psychiater HELLPACH annehmen, die überwiegenden Faktoren seien in den tiefgehenden Veränderungen der Gesellschaft mit all ihren materiellen und geistigen Folgen zu finden; oder man kann, weniger optimistisch, der Anschauung des Nervenarztes MÖBIUS zuneigen, der alle die Nervenreize, welche aus der eigenartigen Beschaffenheit der Gesellschaft hervorgehen, bloße Gelegenheitsursachen nennt, dagegen das primäre Moment in dem angeborenen Minus an Widerstandskraft unseres Geschlechts sieht, das infolge seines Alters an Kräfteverfall und an seniler Ermüdung leidet und natürlicherweise in den letzten Zügen liegt. Mag dem sein, wie ihm will, viele Erwachsene und selbst viele Kinder unserer Zeit sind nervös, reizbar, zu sensibel, und überall sieht man Ärzte, Pädagogen und selbst Laien nach Mitteln suchen, um das Übel zu bekämpfen und es s o BOSMA, Nervöse Kinder.
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Einleitung
gut wie möglich zu verhüten. Mit Recht überzeugt man sich mehr und mehr, von welcher Wichtigkeit es ist, daß Eltern und Lehrer die ihnen anvertrauten Kinder genau studieren und beobachten, um auf Grund ihrer Wahrnehmungen j e d e s Kind so viel wie möglich nach seiner eigentümlichen körperlichen und geistigen Verfassung zu erziehen und es für einen zweckmäßig gewählten Beruf geschickt heranzubilden, denn dadurch würde ohne Zweifel viel Nervosität und viel Seelenleiden in späterer Zeit verhindert werden. Der Zweck der gegenwärtigen Schrift ist nun der, zum Studium des kindlichen Seelenlebens anzuregen und etwas dazu beizutragen; an zweiter Stelle soll es einiges Wissenswerte mitteilen, das von praktischem Nutzen sein kann. Ich habe viele Fehler in der Familienerziehung besprochen, durch welche Kinder leicht nervös werden können, und sodann ein paar Typen beschrieben, die besonders zu Nervenleiden disponiert sind, ferner einige hygienisch-pädagogische Winke gegeben, die vor allem nervösen Kindern zunutze kommen werden, und endlich im Schlußkapitel die Mittel besprochen, durch deren Anwendung man meines Erachtens es am besten verhindern wird, daß Kinder mit Anlage zur Nervosität g e boren werden. Auch wird man hie und da Bemerkungen finden, welche mit dem Gegenstand unmittelbar nichts zu tun haben und vielleicht bei Verehrern der Systematik keinen Beifall finden; allein man m ö g e bedenken, daß diese Schrift nicht den Anspruch erhebt, ein Handbuch oder ein Leitfaden zu sein, sondern ein bescheidenes Werk, das gerade zum Studium mehr systematischer Bücher über dieses Thema anspornen soll, und an solchen fehlt es ja nicht.
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Die Ursachen n den letzten Jahren hat man durch verschiedene Experimente festzustellen versucht, welchen Einfluß der Schulunterricht auf die G e sundheit des Kindes hat, und dabei hat sich gezeigt, daß der Betrieb des Unterrichts von der Nervenkraft des heranwachsenden Kindes manchmal zuviel verlangt. Man hat deshalb von ärztlicher Seite wiederholt auf kürzere Schulzeit, auf mehr Ruhepausen, auf Erleichterung der Prüfungen und auf Einschränkung der Hausaufgaben gedrungen. Allein so richtig es ist, daß die Schule manchmal zu der Nervosität der Jugend beiträgt, so darf man doch in dieser Richtung nicht zu weit gehen und übersehen, daß außer der Schule noch eine Anzahl anderer Einflüsse einwirken, welche dieselben Folgen hervorrufen können. Professor C R A M E R in Göttingen hat eine ganze Reihe von Ursachen aufgezählt, die außerhalb der Schule liegen und bewirken, daß Kinder bereits nervös zur Schule kommen. Die hauptsächlichsten dieser Ursachen sollen in dieser Schrift besprochen werden. E s ist nicht so leicht zu sagen, w a s man genau unter dem Wort Nervosität versteht. S o viel ist sicher, daß gegenwärtig ein nicht kleiner Teil der gebildeten Menschheit über die Nerven klagt und daß jeder unter 1*
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seiner „Nervosität" wieder etwas anderes versteht. Es wird eine bunte Sammlung von mehr oder weniger krankhaften Erscheinungen in dem Worte „Nervosität" zusammengefaßt, und es ist natürlich die Aufgabe der Medizin, in diese Verschiedenheit Einheit zu bringen und jeder Einheit einen Namen zu geben. So spricht der Arzt von Hysterie, von Neurasthenie und kennt Übergangsformen zwischen diesen Störungen in den Funktionen des Nervensystems. Ferner ist er der Ansicht, daß diese Abweichungen auf einem falschen Stoffwechsel in den Milliarden von Gehirnzellen beruhen, und es ist von Interesse zu wissen, daß unzweckmäßige Gedanken und Gefühle die P r o z e s s e in diesen Zellen ebensosehr stören können, als z. B. unzweckmäßige Nahrung oder eine unvollkommene Verdauung, wodurch Stoffe in das Blut kommen, die auf die Nervenzellen wie Gift wirken. Störungen in den Funktionen des Nervensystems gehen zuweilen vom Magen und vom Darmkanal aus, allein diese beiden Organe sind abhängig von dem Zustand des seelischen Lebens durch Vermittelung von dessen Organen, Gehirn und Nervenzellen, so daß es manchmal sehr schwer ist, zu entscheiden, ob ein schmerzlicher Gedanke den Magen beeinflußt hat oder ob der schlecht funktionierende Magen die Ursache davon gewesen ist, daß sich auf dem Strome des Bewußtseins am liebsten düstere Vorstellungen herumtreiben. Noch immer streitet man darüber, wie man sich den Zusammenhang zwischen Gehirn und Bewußtsein vorzustellen hat; der gesunde Menschenverstand — und einige Gelehrte versichern uns, daß man im Grunde gut tut, von diesem naiven Standpunkt auszugehen — sagt uns,
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daß Verdruß, Enttäuschung, anhaltendes Denken an einen und denselben Gegenstand, kurz, daß etwas Geistiges die Ursache einer zerrütteten Konstitution eines Menschen ist und daß ein sehr tätiger Geist einen kräftigen Körper nötig hat. Weil nun aber die Psyche (die Seele) Störungen in den Nerven und damit im ganzen Körper verursachen kann, ist die Behandlung eines nervösen Kindes Sache sowohl des Lehrers und Erziehers als des Arztes. Professor ZIEHEN in Utrecht legt hierauf den Nachdruck, wenn er sagt: „Es ist gerade für den Pädagogen sehr lehrreich, den Krankheitsverlauf erwachsener Neurastheniker zu verfolgen, wie es deren heutzutage in großer Anzahl gibt, Leute, die, weder für die Arbeit noch für den Genuß geschickt, sich selber und anderen zur Last sind. Bei mindestens einem Drittel von ihnen begann die reizbare Schwäche schon im Kindesalter, d. h. in den ersten fünfzehn Jahren des Lebens. Man lachte über ihre Klagen, nannte die Sache Weichlichkeit und Einbildung, erklärte ihre baldige Ermüdung als Trägheit und Mangel an Energie und strafte sie für alle diese sogenannten Untugenden. An ärztliche Behandlung dachte man nicht." Ehe wir die Erscheinungen besprechen, an welchen man nervöse Kinder erkennt, wollen wir eine Antwort zu geben versuchen auf die Frage: d u r c h w e l c h e Ursachen werden Kinder nervös? An erster Stelle möge nach Professor C R A M E R genannt werden e i n e e r e r b t e A n l a g e . Diese heißt d i r e k t , wenn Vater oder Mutter oder beide Elternteile Zeichen eines nicht normalen Nervenlebens verraten;
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i n d i r e k t wird sie genannt, wenn entferntere Blutsverwandte, wie Großvater oder Großmutter, nervenleidend waren. Meistens ist eine direkte Erblichkeit gefährlicher als eine indirekte, j e d o c h ist auch diese nicht wegzuleugnen, vor allem dann nicht, wenn eine große Anzahl von Blutsverwandten bedeutende Abnormitäten in ihrem Nerven- und Geistesleben gehabt haben. Noch bedeutender wird dieser Faktor, wenn s o w o h l in der Familie der Mutter als in der des Vaters erhebliche Nervenstörungen vorkamen, und er wird noch größer, wenn eine solche indirekte Belastung mit einer direkten zusammenkommt. D i e vererbte Anlage genügt indessen allein nicht, um einen hohen Grad von Nervenschwäche oder G e i s t e s krankheit zu erzeugen. Zwar ist e s richtig, daß man bei 5 0 — 8 0 Prozent der Nervenleidenden eine ungünstige ererbte Anlage antrifft, allein dem steht gegenüber, daß, wie K O L L E R gefunden hat, von 3 7 0 von ihm als normal befundenen Menschen 5 9 Prozent eine angeborene Anlage zu Nervenstörungen hatten. Man darf als sehr wahrscheinlich annehmen, sagt P r o f e s s o r C R A M E R , daß die Hälfte der Menschen, welche sich eines gesunden Nervenlebens erfreuen dürfen, ihrer Abstammung zufolge nervenleidend sein müßten. E s ist möglich, daß solche P e r s o n e n zwar tatsächlich den Keim der Nervosität in sich tragen, allein sie leben unter s o günstigen Umständen, daß er sich nicht entwickeln kann; vielleicht haben wir e s auch mit der Erscheinung zu tun, auf die P r o f e s s o r KÜHN in Amsterdam hingewiesen hat, daß nämlich durch die Bildung eines neuen L e b e n s das neue immer die Eigenschaften anzunehmen bestrebt ist, welche
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das alte hätte besitzen sollen. Dann würde die in ihrer Arbeitsweise noch so unbekannte Lebenskraft das Bestreben zeigen, das gestörte Gleichgewicht herzustellen, ein Trost für diejenigen, welche bei der Prüfung ihres Stammbaums eine Anzahl von verdorbenen Früchten zu finden glauben. Kinder nervöser Eltern brauchen also nicht notwendig nervös zu werden, selbst dann nicht, wenn sie eine bestimmte Disposition zu Nervenstörungen mit auf die Welt bringen. Indessen haben sie alle Aussicht, nervenkrank zu werden, wenn allerlei von außen kommende Einflüsse den schlummernden Keim der Nervosität zur Entwicklung bringen. Die geistige Atmosphäre, in der solche Kinder aufwachsen, kann für diese von großer Gefahr werden. Sie bekommen von ihren nervösen Eltern täglich Dinge zu sehen und zu hören, die einen schädlichen Einfluß auf sie ausüben. Die Kindesseele ist ja wie Wachs, für jeden Eindruck äußerst empfänglich und stets geneigt, nachzuahmen. Mit Recht spricht man daher von einer geistigen Ansteckung, die ohne Zweifel von größerer Bedeutung ist als die Anlage selbst. Ein Kind kann von nicht nervösen Eltern abstammen und doch eine große Empfänglichkeit für Nervenstörungen besitzen, namentlich dann, wenn es im Zustande der Trunkenheit eines oder beider Elternteile erzeugt wird. Einige Arzte behaupten, daß ein Fall von Idiotismus, der in einer Familie vorkommt, in der alle andern Kinder normal sind, manchmal dem Umstand zugeschrieben werden muß, daß die Zeugung unter dem Einflüsse des Alkohols stattgefunden hat. Daß diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist, dafür liegen
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Tatsachen vor. Dr. G. BALLET teilt folgendes mit: Die Familie N. hat fünf Söhne. Die zwei ältesten erfreuen sich einer guten Gesundheit. Nach der Geburt des zweiten Sohnes ergibt sich der Vater dem Trunk und wird bald vollständiger Alkoholiker. Der dritte Sohn ist hysterisch, der vierte ist rückständig. Darauf kommt der Vater vom Trinken ab und wird vollständig nüchtern. Der fünfte Sohn, welcher nach dieser Zeit geboren wird, ist gerade so gesund wie die zwei ersten. (Acad. de Med. Aug. 1894.) — GUISLAIN führt eine Familie von Irrsinnigen an, die von einer Frau stammte, welche jeden Tag betrunken war. — In einem Museum zu Manchester hat man Abgüsse von den Köpfen von sieben Idioten; der Vater dieser Kinder war ein unverbesserlicher Trinker, den man — er war von Beruf Wirt — selten oder nie nüchtern sah. Von der Lebensweise der Frau war nichts bekannt. Sie hatten acht Kinder; die sieben ersten, die Idioten mit ihren kleinen Köpfen, wurden geboren, als der Vater dem Trunk stark ergeben war. Nachdem er alles durchgebracht und kein Geld mehr hatte, um sich zu betrinken, wurde ihm eine Tochter geboren, die ganz normal war und später heiratete. — Ein französischer Arzt erzählt von einem Manne, der infolge von übermäßigem Alkoholgenuß Symptome von Irrsinn zeigte. Dieser Alkoholiker heiratete zweimal: von seiner ersten Frau hatte er 16 Kinder, wovon 15 innerhalb des ersten Jahres an Krämpfen starben; von seiner zweiten Frau hatte er acht Kinder, sieben davon starben an Krämpfen, das achte ist skrofulös. Bloß dann — so lehren uns die Gesetze des Geschlechtslebens — darf ein neues Leben ins Dasein
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gerufen werden, wenn Mann und Frau sich körperlich und geistig frisch und kräftig fühlen, also nicht in Zeiten von Verstimmung, von Gedrücktheit und Aufregung, auch nicht bei großer Müdigkeit oder nach einer üppigen Mahlzeit oder wenn der G e i s t sich intensiv mit dem einen oder andern Gegenstand beschäftigt (Dr. Elisabeth BLACKWELL). „Niemals," sagt ein englischer Arzt, „bin ich Z e u g e einer Hochzeit, bei welcher das glückliche Ehepaar sich an einem unverdaulichen Kuchen gut tut oder viel starken Wein trinkt, ohne daß ich mit Mitleid an den Erstgeborenen denke, falls in einigen Tagen S c h w a n g e r schaft eintritt." E s ist allgemein bekannt, daß auch der körperliche und geistige Zustand der Frau während ihrer S c h w a n g e r schaft von Einfluß auf das Kind ist, das sie trägt. Krankheiten, an welchen sie während dieser Zeit leidet (Syphilis, Zuckerkrankheit, Schwindsucht usw., starke G e m ü t s bewegungen, wie S c h r e c k e n , Traurigkeit), lassen Spuren bei dem zu erwartenden Kind zurück, und zwar um s o mehr, wenn die Mutter eine von Natur nervöse Frau ist. E s braucht kaum g e s a g t zu werden, daß Kinder, welche von Eltern geboren werden, die an allem Mangel leiden, an Nahrung, Licht, Luft und Kleidung, g e g e n Krankheiten im allgemeinen ein geringes Widerstandsvermögen besitzen und daß sie also auch für n e r v ö s e Störungen sehr empfänglich sein werden. Außer diesen in dem Kind liegenden Ursachen gibt e s noch eine R e i h e von anderen, die rein von außen kommen. Dahin gehören vor allem die verschiedenen Kinderkrankheiten (Masern, Scharlach, Halsentzündung)
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und auch Krankheiten wie Influenza, Lungenentzündung, Typhus und die vielfach vorkommenden Eingeweidekrankheiten. In der Regel werden Kinder diese Krankheiten durchmachen, ohne daß ihre Gesundheit dauernd dadurch benachteiligt wird, allein zuweilen werden sie während ihrer Krankheit durch das unverständige Verhalten ihrer Eltern und Freunde geschädigt. W a s hat ein fieberndes, unlustiges Kind an erster Stelle nötig? Ruhe und noch einmal Ruhe. Was tun aber manchmal wohlmeinende Angehörige? Sie schaffen allerlei Dinge und Spielzeug an das Krankenbett und fangen damit so lange zu hantieren an, bis sich endlich auf dem Gesichte des kranken Kindes ein schwaches Lächeln zeigt. Beim Nachlassen des Fiebers, wenn das Kind natürlicherweise mehr Zeichen von Lebhaftigkeit verrät, wird das wiederholt, da man dem Kinde damit ein Vergnügen zu machen glaubt. Man sieht nicht ein, daß das auf Kosten des Bißchens Nervenkraft geschieht, über welche der kleine Patient noch verfügt. D a s Kind wird überreizt und verläßt das Bett zu bald. Die Erschöpfung, welche immer auf eine Krankheit folgt, hält infolgedessen viel zu lange an; anstatt bloß einige Tage, ist ein solches Kind Monate lang reizbar und schlecht gelaunt. Außerdem führt diese Art von Aufmunterung noch dazu, daß das Kind zu früh in die Schule geschickt wird. D a s Hirn, das noch schwach und erschöpft ist, hat keine Zeit, wieder in Ordnung zu kommen, und bleibende Nervenschwäche ist leicht die Folge davon. Die obengenannten Krankheiten können auch durch gewisse Komplikationen das Nervensystem direkt an-
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greifen und dadurch die Entwicklung des Gehirns stark hemmen. Andere äußere Einflüsse, die das Nervensystem des Kindes benachteiligen können, sind z. B. ein Fall, ein Stoß, Brandwunden, oder es sind geistige Ursachen, wie Schrecken, Angst und Zorn. Es hängt aber doch viel von angeborener Empfänglichkeit ab. Ein normales Kind oder besser gesagt, ein solches, dessen Nervenleben das Gleichgewicht schwer verliert, kann, wörtlich und figürlich gesprochen, einen ordentlichen Stoß aushalten, ohne daß es vor Schrecken sogleich die Fassung verliert. Besteht aber eine Anlage zur Ängstlichkeit, so können Erzählungen vom Teufel, von Geistern u. dergl. großes Unheil stiften. Hat ein Kind sich verletzt, s o wird sein Zustand oft noch durch das Verhalten der Erwachsenen verschlimmert, die mit ihm verkehren. Nur zu gerne zeigt man ein zu großes Interesse an den Klagen der Kinder; es ist verkehrt, das Kind immer zu fragen, wie es ihm geht, und Ausdrücke übermäßigen Mitleids für es zu gebrauchen. Körperliche Züchtigung macht das nervöse, sehr oft furchtsame Kind scheu und in sich gekehrt. Wenn die Eltern oder der Lehrer das Kind anrühren, geschieht es oft in einem Zustande, in dem sie ihrer eigenen Nerven nicht mehr Herr sind. Ihre schlimmen Absichten sind dann in der Regel so deutlich in ihrem Gesichte zu lesen, daß dieser dunkle Spiegel der Seele allein schon imstande ist, dem Kinde Furcht einzujagen und es ganz zu verwirren. Körperliche Züchtigung schadet auch dem normalen Kinde mehr, als sie ihm nützt, schwachen, nervösen
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Kindern ist sie immer schädlich. Es gibt Nervenärzte, welche der Ansicht sind, daß manche sog. psychogene Störungen, d. h. Störungen im Körper, welche durch den eigenartigen G a n g von Vorstellungen hervorgebracht werden, durch Züchtigung eines nicht zu zarten Körperteils verschwinden können,* allein e s ist sicher, daß im allgemeinen Eltern und Erzieher nicht entscheiden können, ob sie e s mit derartigen Fällen von Hysterie zu tun haben. Es gibt noch eine Ursache, die eine Veranlagung zu nervösen Störungen und ein Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung herbeiführt. Ich meine damit die Erscheinung, auf welche Frau DE K O L in der Zeitschrift „De Vrouw" (28. Okt. 1899) hingewiesen hat und welche ihr Mann im niederländischen Parlament zur Sprache gebracht hat. Es handelt sich um gewisse Wucherungen in der Nasenhöhle, welche in der Medizin als a d e n o i d e G e w ä c h s e bezeichnet werden. Es scheint eine große Anzahl von Kindern zu geben, bei welchen diese Hemmungen der Atmung gefunden werden, und die unmittelbare Folge ist natürlich das Atmen durch den Mund, was nachteilig für die Lunge und für die Zähne ist. Es ist dies auch von Einfluß auf das Wachstum des Oberkiefers und des Gaumens: die oberen Schneidezähne stehen über die im Unterkiefer hinaus, der Gaumen fällt mehr ein, die Oberlippe verkürzt sich und die Unterlippe schwellt auf, s o daß der Mund mißgestaltet wird. Ein dummer, nichtssagender Ausdruck kommt über das G e sicht, des weiteren treten Störungen der Sprache und des Gehörs auf; die Stimme verliert ihren natürlichen * Vgl. H.BOSMA, On psychogenic disturbances. Paidologist Bd.IINo. 1.
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Klang, wird übelklingend, und w a s die Sprache anlangt, so sind es drei Buchstaben, die nur schlecht oder gar nicht ausgesprochen werden können, nämlich m, n, ng. Einige Ärzte glauben, diese Anwachsungen verursachen Idiotismus, andere nehmen das nicht an und berufen sich auf die Tatsache, daß Kinder Idioten blieben, nachdem diese Wucherungen des adenoiden G e w e b e s ausgeschnitten waren, während andere sich normal entwickelten, obwohl die Anwachsungen nicht entfernt worden waren. E s ist indessen immer schwer, genau zu sagen, wann die Entwicklung normal ist, allein dem sei, wie ihm will, man wird immer gut daran tun, einen Arzt zu Rate zu ziehen, wenn ein Kind regelmäßig durch den Mund atmet. Eine verkehrte Erziehung in der Familie ist eine sehr wichtige Ursache der Nervosität. Diese verkehrte B e handlung fängt manchmal schon direkt nach der Geburt an. Freunde und Bekannte machen Besuch, und das Kleine wird so oft aus der Wiege genommen, daß der Schlaf, eine für den Säugling so wichtige Nahrung, jedesmal gestört wird. Später fängt man an, das Kind zu überreizen durch allerlei Geräusch und dadurch, daß man es in starkes Licht sehen läßt. Dies alles geschieht, wenn nicht ganz gedankenlos, um zu verhindern, daß es schläfrig aussieht. S o früh schon muß das Kind die Eilelkeit seiner Eltern büßen! In andern Fällen begeht man die Torheit, den Säugling der strahlenden Wärme eines Ofens auszusetzen und das Bett einem starken Licht gegenüberzustellen. Kommt es so weit, daß das Kind zu stammeln anfängt, so glauben die Eltern sich ein besonderes Ver-
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dienst zu erwerben, wenn sie ihm allerlei Worte aufdrängen. D a s heißt nichts anderes, als das Kind nutzlos plagen und ermüden. E s wählt schon selbst die geeigneten Laute aus dem Vorrate, den e s hört; von wesentlichem B e l a n g ist e s , stets gebildetes Deutsch zu sprechen und gut zu artikulieren. Noch schlimmer für das Kind wird e s , wenn die Schuljahre anbrechen. Wie oft sagt nicht die Eitelkeit der Eltern: unser Kind muß gescheidt werden, noch g e scheidter als seine kleinen Kameraden. Darum fangen sie möglichst bald mit dem A b c , mit R e c h n e n und Schreiben und noch viel anderer Weisheit an. Wie oft werden solche Eltern später nicht enttäuscht durch die Entdeckung, daß ihr Kind nervös ist, dem Unterricht nur mit Mühe folgen kann und sitzen bleibt. Privatunterricht nach den Schulstunden, viele Hausaufgaben, viele Vergnügungen (Bälle, Gesellschaften usw.) können ebenfalls Anlaß zur Nervosität geben, und von sehr schädlichem Einfluß ist vor allem ungenügender Schlaf, der oft die F o l g e von viel Hausaufgaben oder von Gesellschaften ist. Nervenleiden können leicht auftreten zu dem Zeitpunkte, wo die G e s c h l e c h t s o r g a n e auszuwachsen anfangen (Pubertät). E s finden dann an K ö r p e r und Geist große Veränderungen statt, welche von den Eltern nicht immer verstanden werden. E s entsteht eine neue Energie, welche einen Ausweg in mäßiger geistiger und körperlicher Arbeit finden muß. Dann ist vor allem Müßiggang vom Übel, und man handelt verkehrt, wenn man die Jugend in dieser Periode als Erwachsene ansieht und sie in den Ballsaal und ins Theater gehen
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läßt, wo s o leicht geschlechtliche Vorstellungen erweckt werden. Wir werden hierüber in einem andern Kapitel das Nähere besprechen. Daß Alkohol und Tabak dem Nervensystem des Menschen und vor allem des Kindes großen Nachteil bringen, wird von niemanden mehr bezweifelt. Darum führt man jetzt überall in der gebildeten nervösen Welt Krieg g e g e n diese Narkotica. In einigen Städten von Amerika können Jungen unter einem gewissen L e b e n s alter, welche beim Rauchen einer Zigarette ertappt werden, der Polizei übergeben werden. Auch das Selbstdoktern der Eltern mittels einseitiger übertriebener Anwendung von Mitteln, welche in bestimmten Fällen wohl einmal nützen können, führt bei Kindern manchmal zu nervösen Störungen. E s handelt sich um solche Eltern, welche s a g e n : „Die Natur muß doch alles heilen", und dann mit der einen oder andern Art der Kaltwasserbehandlung beginnen oder für leichte Kleidung und unsinnigen Sport schwärmen. Nun ist e s allerdings richtig, daß bei einer Krankheit die Heilung vom Körper selbst ausgehen muß, g e w i s s e günstige Umstände vorausgesetzt. Allein welches diese notwendigen Bedingungen zur Wiederherstellung sind und daß darunter zum Teil auch die Natur gehört, weiß im allgemeinen der Arzt viel b e s s e r als die Eltern, welche von den Funktionen der Organe gewöhnlich nichts verstehen. Wenn schon der Arzt manchmal auch Mittel aus der Apotheke verwendet, s o sind diese doch nicht von vornherein zu verwerfen, weil man diese Stoffe nicht gerade wie Kieselsteine und G r a b e n w a s s e r am W e g e findet, oder weil darunter solche sind, welche, in zu großer D o s i s
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genommen, den Tod verursachen. Auch im menschlichen Körper werden Gifte gebildet, die da sicher ihre Dienste leisten. S o wird sogar in einem kleinen, aber nicht unwichtigen Organ, der Schilddrüse, außer noch einem andern giftigen Stoff in sehr kleiner Quantität Arsenik bereitet, und wenn diese Drüse zu arbeiten aufhört und keine giftigen Produkte mehr abscheidet, dann wird dadurch das Nervensystem in dem Maße betroffen, daß manchmal sogar Idiotismus die F o l g e davon ist. Man ist in der Tat geneigt, den Begriff Natur in viel zu engem Sinne zu verstehen; es ist sicherer und wissenschaftlicher, alles Natur zu nennen, vor allem den denkenden, fühlenden und Pläne machenden Menschen in sie einzuschließen, selbst den Arzt nicht ausgenommen. D a s tut natürlich der Wahrheit keinen Eintrag, daß Sonnenschein, reine Luft, W a s s e r und körperliche B e w e g u n g eine sehr große Heilkraft besitzen; damit ist aber die Natur noch lange nicht erschöpft. Auch das Geistige im Menschen ist Natur, und derjenige ist der beste Arzt, welcher dem Menschen am schnellsten und sichersten hilft, gleichgültig, ob seine Mittel „natürliche" oder „unnatürliche" genannt werden. D a s ist bloß ein Spielen mit Worten. Medizin ist schließlich alles, von dem die Erfahrung lehrt, daß es guten Erfolg hat. Obwohl die Reihe der zu nervösen Störungen Anlaß gebenden Einflüsse damit nicht abgeschlossen ist, wollen wir als letzte Ursache von Nervosität noch die Onanie oder Selbstbefleckung nennen. Es ist das das Reizen der Geschlechtsteile und der damit in Verbindung stehenden Nervenzentren. Sie geschieht dadurch, daß die
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G e s c h l e c h t s o r g a n e mit der Hand bearbeitet, gerieben usw. werden, aber auch im späteren Lebensalter durch wollüstige Vorstellungen, welche dieselben Folgen haben wie mechanisches Reizen. Die schlimmsten Onanisten sind durchgängig von Haus aus bereits nervenleidend; die Onanie schwächt ihr Nervensystem noch mehr. Ein Kind auf die schlimmen Folgen der Selbstbefleckung hinzuweisen, wäre nicht klug, wenn man nicht sicher ist, daß e s sich derselben schuldig machte. Winke über die Bedeutung und die Hygiene der G e s c h l e c h t s o r g a n e werden am besten jedem Kinde unter vier Augen von jemandem gemacht, der die nötige Kenntnis und sein volles Vertrauen besitzt. Aus dem G e s a g t e n sollte sich zur G e n ü g e ergeben, daß man leicht der Schule etwas zuschieben kann, w a s mancherlei Ursachen zuzuschreiben ist, die mit der Schule nichts zu tun haben. Man muß zur Einsicht kommen, daß die Erziehung des Kindes nicht in der Schule beginnt, sondern, recht betrachtet, schon neun Monate vor der Geburt ihren Anfang nimmt.
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B O S M A , Nervöse Kinder.
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Kennzeichen von nervösen Kindern
Kennzeichen von nervösen Kindern oran erkennen wir, daß ein Kind nervös oder wenigstens für nervöse Störungen im späteren Lebensalter empfänglich ist? Im Anfange des vorigen Kapitels sind zwei medizinische Ausdrücke genannt worden, nämlich Neurasthenie und Hysterie. Es sind Abweichungen in den Funktionen des Nervensystems, welche in unserer Zeit ziemlich häufig vorkommen und beide Ausdrücke werden auch in der nicht-medizinischen Literatur so oft angetroffen, daß davon etwas gesagt werden muß. Neurasthenie ist der allgemeine Name, den die Ärzte einer bunten Reihe verschiedener nervöser Störungen geben, über welche sie sich manchmal selbst nicht klar sind; das Wort wird auch durch „Nervenschwäche" oder durch „reizbare Schwäche der Nerven" übersetzt. Sehr viele Menschen, welche sagen, sie seien nervös, werden von den Ärzten neurasthenisch genannt. Es war ein amerikanischer Arzt, Dr. T. BEARD, welcher eine Anzahl von Erscheinungen unter diesem Namen zusammenfaßte. Die Amerikaner sind ein nervöses Volk: verschiedene Faktoren, ihre Abkunft, das Klima und die unsinnige Jagd nach dem Dollar haben dazu beigetragen. Der Newyorker Arzt bekam s o viele nervöse Menschen in Behandlung, daß er eine bestimmte Gruppe
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von Erscheinungen als zueinandergehörig erkannte und ihnen den einheitlichen Namen Neurasthenie gab. Später haben verschiedene F o r s c h e r in anderen Ländern hierauf weitergebaut, allein die W e r k e des Amerikaners über „amerikanische Nervosität" und Neurasthenie sind immer noch sehr lesenswert und für alle, die mit der Erziehung zu tun haben, eine nützliche Lektüre. E s ist nicht unsere Absicht, hier eine kurze Übersicht von allem zu geben, w a s man in medizinischen Handbüchern über die Erscheinungen der Neurasthenie findet. E s genügt, die stets auftretenden Symptome zu w i s s e n : rasche körperliche und geistige Ermüdung, erhöhte Reizbarkeit, welche aber später verschwinden und in starke Gefühllosigkeit übergehen kann. D a s nervöse Kind wird also durch die Schule viel eher ermüdet als das normale Kind, und diese Ermüdung zeigt sich in baldiger Unaufmerksamkeit und langsamer V e r bindung der Gedanken. Ein s o l c h e s Kind ist nicht imstande, einer einigermaßen langen Gedankenreihe zu folgen und sie auszudenken, e s kommen Lücken, oder b e s s e r gesagt, verkehrte Kettenglieder in die Gedankenreihe. D a s Kind wird leicht verwirrt, verliert den Faden und verstummt, wenn der Lehrer ihm mit Strafe droht oder e s tadelt. Die H y s t e r i e , welche bei Männern und Frauen, bei Knaben und Mädchen vorkommt, wird zuweilen eine vorzugsweise geistige Krankheit genannt, da man glaubt, die Störungen im Körper (Schmerzen, Krämpfe, Lähmungen) haben eine krankhafte Tätigkeit des G e i s t e s zur Ursache. Deshalb bekämpft man diese abnorme Äußerung des Nervenlebens auch zum Teil durch geistige Beeinflussung 2*
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(Suggestion). V o r allem sind es französische Ärzte, welche das meiste und b e s t e über diese Krankheit g e schrieben haben, und namentlich die Werke, in welchen der Geisteszustand von hysterischen Patienten beschrieben wird (JANET, F E R E ) sind sehr interessant und lehrreich auch für Laien, da sie viel Licht auf die G e i s t e s tätigkeit von P e r s o n e n werfen, bei welchen eine Menge von Erscheinungen nicht s o deutlich sind, mit anderen Worten, Menschen, die man normal zu nennen pflegt. E s liegt indessen für nervöse Naturen Gefahr im L e s e n solcher B ü c h e r , da der Geist durch Nachahmung s o leicht in dieselben krankhaften Zustände kommt, welche man s o meisterhaft darin beschrieben findet. Allein gilt das nicht auch von s o vielen Büchern der heutigen Romanliteratur, worin das Seelenleben von hysterischen, aber als normal dargestellten Figuren bis ins kleinste Detail zerlegt wird? Ist selbst die medizinische Literatur des morbiden Seelenlebens nicht als viel gesünder zu erachten, wenn man bedenkt, daß der L e s e r hier im voraus weiß, daß er e s mit etwas Verkehrtem zu tun hat, so daß dieses W i s s e n schon an sich wie eine G e g e n s u g g e s t i o n wirkt? E s ist ein Kennzeichen hysterischer Personen, daß der Geist nicht die Kraft hat, seine Vorstellungen im Gleichgewicht zu erhalten. Ein innerlicher oder äußerer Reiz, zum Beispiel eine Erinnerung, ein g e s p r o c h e n e s oder g e s c h r i e b e n e s Wort, bringt zu große Schwankungen im Bewußtsein hervor; ein G e d a n k e hat die Neigung, sozusagen mit der hysterischen Persönlichkeit durchzugehen, da sich keine andere Idee mit genügender Kraft aufdrängt, um die ausschreitende Vorstellung zum Still-
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stand zu bringen. Die Phantasie ist durchgängig sehr lebhaft: Gefühle, wie Zorn, Freude, Traurigkeit stehen nicht im Verhältnis zu den Einflüssen, durch welche sie ausgelöst werden. So können zuweilen körperliche Störungen entstehen, wie Krämpfe und Lähmungen, welche durch den geistigen Einfluß einer kräftigen Persönlichkeit wieder zum Verschwinden gebracht werden können (Suggestion). Kinder, bei welchen man diese Erscheinungen von Hysterie auch schon antreffen kann, sind durchgängig sehr selbstsüchtig, eigensinnig und reizbar und haben eine Neigung, Dinge zu erzählen, die nicht wahr sind. Dieses Lügen kommt teils von einer Sucht her, sich interessant zu machen, andererseits ist das Kind ein Opfer seiner Phantasie, die so lebhaft sein kann, daß der Knabe oder das Mädchen für Wirklichkeit hält, was bloß ein Bild der Phantasie gewesen ist. Ich erinnere mich an einen Knaben von etwa zehn Jahren, der von einem Pensionat zum anderen geschickt wurde. Dieser Knabe hatte etwas ganz Besonderes und blieb nach der Schulzeit meistens allein. Er suchte oft den Lehrer auf und war gegen ihn sehr lieb und anhänglich; die anderen Schüler aber — es war in England—nannten ihn einen sneak (Duckmäuser). Als er an einem Sonntag Nachmittag mit den anderen Schülern aus der Kirche kam, erzählte er ihnen am Teetisch in vollem Ernst, er habe eine Taube vor der Orgel fliegen sehen, zum großen Vergnügen und zur Entrüstung der anderen Schüler, die auf dem Spielplatz unbedenklich von ihm als einem blooming liar (Lügenbeutel) sprachen. Ein Arzt zu London, Dr. Francis WARNER, welcher im Verlaufe von einigen Jahren 100000 Schulkinder der
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Riesenstadt in der K l a s s e untersuchte und darüber b e richtet hat, weist auf eine Gruppe von Kindern hin, die fast in jeder Schule angetroffen werden und die man mit dem W o r t e nervös bezeichnet. „Ich verstehe darunter," sagt er, „diejenigen, welche oft über Kopfweh klagen, schwer ins Bett zu bekommen sind, schlecht schlafen, bei Nacht sprechen und mit den Zähnen knirschen, am Morgen müde aufstehen und beim Frühstück wenig Appetit zeigen." Manchmal haben diese Kinder eine r a s c h e Auff a s s u n g s g a b e und sind intelligent, lieb und anhänglich, allein sie sind auch reizbar, leidenschaftlich und zu rührselig. E s sind Kinder, die, ohne an einer bestimmten Krankheit zu leiden, zart und schwach sind. S i e müssen aber selten wegen Krankheit das Bett hüten, sie sind bloß nicht kräftig und können nicht weit gehen, ohne müde zu werden. An manchen Tagen sind sie zu müde, um etwas auszuführen, s o daß sie der Ruhe pflegen müssen. Ihr Appetit ist launisch und unregelmäßig; das eine Mal kann die Mutter ihnen nichts beibringen, das andere Mal essen sie wie die Wölfe, dabei verlieren sie aber an Gewicht. Ein typisch nervöses Kind hat im allgemeinen einen gut gebauten Körper mit wohlgebildetem Kopfe, regelmäßige Gesichtszüge, eine feine Haut und eine helle Gesichtsfarbe. Manchmal ist es groß und mager und wiegt zu wenig. Steht ein s o l c h e s Kind, s o bemerkt man, daß der Körper eine unsymmetrische Haltung annimmt, der Kopf neigt sich nach vorn und seitwärts. Manchmal ist das R ü c k g r a t etwas seitlich gekrümmt, sind die Schultern ungleich und werden die Füße nicht
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mit der gleichen Kraft auf den Boden gesetzt. In allem ist Assymmetrie. Die Augen irren umher, anstatt sich fest auf einen Gegenstand zu richten und den Dingen und Geräuschen zu folgen. Auf dem Antlitz kann zu wenig Ausdruck liegen und unter den Augen spürt man manchmal eine Falte, ein Zeichen von Ermüdung. Sagt man zu einem solchen Kind: strecke einmal die Arme aus, so bemerkt man wieder Assymmetrie, eine Ungleichheit in der Haltung der Glieder. Die linke Hand wird dann gewöhnlich niedriger gehalten als die rechte, die Hände selbst nehmen eine eigentümliche Krümmung an. Diese „nervöse Hand", wie der englische Arzt sie nennt, kommt im allgemeinen am linken Arm am stärksten vor. Wenn die Hände ausgestreckt sind, sieht man die Schultern und den obersten Teil des Rückens s o stark zurückweichen, daß die nach vorn gerichtete Krümmung in der Lendengegend (Lordosis) zu groß ist.* Werden bei ausgestreckten Armen die Finger gespreizt, so sieht man dabei auf- und niedergehende * Wenn man ein Kind die Arme ausstrecken läßt und man dann sieht, daß die Finger, die Mitte der Hand, Unter- und Oberarm mit den Schultern in einer Fläche liegen, dann sind das Zeichen eines normal funktionierenden Nervensystems. Das nervöse Kind zeigt dagegen eine ausgestreckte Hand. Im Jahre 1835, schreibt Dr. Warner, besuchte ich Florenz und e s fiel mir auf, daß die Haltung der Hände der Venus von Medici genau derjenigen glich, welche ich s o oft bei nervösen Kindern wahrgenommen hatte. Später hatte ich Gelegenheit, die englische Venus neben der Diana zu sehen, und es frappierte mich, wie weibliche Schüchternheit und Nervosität bei der einen, und Kraft und Energie bei der anderen durch entgegengesetzte Haltung der Hand ausgedrückt wurden.
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oder Seitenbewegungen. Auch die ausgestreckte Zunge ist zu beweglich. Geht dieser Zustand Hand in Hand mit einem monatlichen oder wöchentlichen Verlust von Körpergewicht, dann kann unter gewissen Umständen (Uberanstrengung, S c h r e c k e n ) dieser Zustand in einen anderen übergehen, den man Chorea oder Veitstanz nennt. Wahrscheinlich wird man bei näherer B e o b a c h t u n g solcher Kinder finden, daß das Gesicht der am besten ernährte Körperteil ist, während die Arme und B e i n e dürr sind. Die Kronen einiger Zähne und vor allem die Eckzähne sind gewöhnlich durch das regelmäßige Zähneknirschen im Schlafe abgenützt. D i e s e s Knirschen entsteht durch das Arbeiten der Kaumuskeln, welche durch die Reizung des fünften P a a r s der Gehirnnerven in B e w e g u n g gesetzt werden. Kinder wie diese sind durchgängig gut im Lernen, sie schwatzen und lachen viel. Außerhalb der Schule lieben sie Geselligkeit, und man sieht sie denn auch nie allein. D a in der R e g e l die Kinder von diesem Typus einander anziehen und aufsuchen, s o werden durch Nachahmung die hier genannten Erscheinungen manchmal verstärkt. D a s ist, wie g e s a g t , ein typisch nervöses Kind nach dem englischen Arzt. E s gibt aber wieder andere, welche, ohne daß man sie nervös heißen darf, doch zu Nervenleiden prädisponiert sind. Von dem französischen Arzt F E R E finden wir einen anderen Typus beschrieben. „Einige," s a g t er, „sind träge, schläfrig und indolent, oder sie arbeiten nur ruck- und stoßweise. S i e lieben unter keinen Umständen B e w e g u n g , halten sich denn auch von j e d e m einigermaßen rohen, lauten Spiel fern
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und geben sich keiner körperlichen Erholung hin. Sie sind oft und bald niedergeschlagen und wollen am liebsten allein sein, oft sind sie von einem Gefühle des Elends, des Schmerzes und der Verstimmtheit geplagt. Sie fürchten sich ohne Grund vor der Zukunft: ein Klecks in ihrem Schreibheft, eine tadelnde Bemerkung ihres Lehrers versetzen sie in einen Trübsinn, der Monate lang andauert. Sie sind finster, träumerisch, schweigsam, griesgrämig und argwöhnisch. Zuweilen überkommt sie in diesem Zustand von Gedrücktsein ein heftiges Angstgefühl mit Drang zu Verbrechen oder Selbstmord. Eine solche Handlung entspringt dann nicht wohlberechneter Überlegung, es wird nichts dabei gedacht. Diese Zustände schmerzhaften Gedrücktseins und von Reizbarkeit zeigen sich namentlich beim Eintritt der Pubertät." „Es gibt dann auch wieder ganz andere," fährt unser Schriftsteller fort, und er versteht darunter diejenigen, welche mehr dem Typus des englischen Forschers gleichen, „welche sehr lärmend, aufgeregt und immer in Bewegung sind. Sie können keinen Augenblick an derselben Stelle bleiben oder eine ruhige Haltung annehmen; plötzliche, nicht durch den Willen beherrschte Bewegungen sind ein Kennzeichen für solche Kinder. Ebensogroß ist die Beweglichkeit ihres Geistes. S o oft wie die Haltung ihres Körpers wechseln auch ihre Wünsche, und diese Unbeständigkeit zeigt sich in ihrer Stimmung: wofür sie gestern noch schwärmten, das gefällt ihnen heute nicht mehr. Daher kommt ihre Sucht nach Veränderung und ihre Liebe zu müßigem Herumtreiben. Die Empfindungen und Erregungen sind bei diesen Kindern übertrieben stark."
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Ein sehr allgemeiner Zug bei Kindern, welche zu Nervenleiden prädestiniert sind, ist ihre große Furchtsamkeit. Viele können bis zu ihrem zwölften oder selbst fünfzehnten Jahre nicht allein schlafen oder müssen wenigstens Licht in ihrem Schlafzimmer haben. Der Fortpflanzungsinstinkt erwacht meistens zu früh und nimmt gern einen verkehrten W e g . Die Selbstbefleckung, welcher sich solche Kinder öfters ergeben, verschlimmert ihre erregten Zustände noch, s o daß sie schließlich geradezu an Neurasthenie leiden. D i e s e Niedergeschlagenheit begleitet öfters eine zu große Empfindlichkeit. S o l c h e sensitiven Kinder fangen bei der g e ringsten Veranlassung zu weinen an und kommen ganz aus dem Häuschen. „Ich habe," sagt Dr. C L O U S T O N , der Direktor einer Irrenanstalt in Edinburgh, „ein fünfjähriges Kind gekannt, das so niedergeschlagen und verstimmt war, daß e s stundenlang weinen und stöhnen konnte. Und weshalb? Weil es sich vor der Hölle fürchtete, als einem Ort, an den, wie ihm seine Mutter, eine Frau von demselben Temperament, g e s a g t hatte, diejenigen Mädchen hinkommen, welche ihre Schürze zerreißen und ihrer Mutter nicht folgen." Frühreife, Überempfindlichkeit, übertriebene Pünktlichkeit im Befolgen religiöser und moralischer V o r schriften, eine lebhafte Phantasie, Mangel an Mut, Magerkeit und ein starker Hang nach animalischer Nahrung sind lauter Eigenschaften, an welchen man solche Kinder erkennen kann. W a c h s e n sie in einer dafür günstigen Umgebung auf, s o werden solche Kinder krankhaft religiös, geistig frühreif und übertrieben gewissenhaft in Erfüllung der Vorschriften der Moral und Religion.
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„ S o l c h e Kinder," fährt derselbe Arzt fort, „müssen von Anfang an fett gehalten werden. Die für s i e p a s s e n d e Diät besteht aus Milchspeisen und Mehlkost, dagegen keinem oder nur wenigem Fleisch bis zur Pubertätsentwicklung. S i e dürfen s o wenig als möglich B ü c h e r lesen, welche die Phantasie erregen und dürfen nie rauchen und trinken lernen. Unsere gegenwärtigen Schulen mit ihren Ü b e r g a n g s - und anderen Prüfungen sind für sie sehr nachteilig. D a s Arbeiten für die Prüfungen ist besonders geeignet, das Lebensglück dieser Kinder zu zerstören." E s ist also klar, daß die Kennzeichen nervöser Kinder sehr verschieden sind. D a s war auch von vornherein zu erwarten, da keine zwei Kinder in körperlicher und geistiger Beschaffenheit einander gleich sind. Die Charaktere von Brüdern und Schwestern in derselben Familie weichen oft stark voneinander ab; die schöpferische Natur kennt keine Gleichheit. Die ungarischen Zwillingsschwestern, welche an dem unteren Ende des R ü c k e n s aneinander gewachsen waren, hatten ein sehr ungleiches Naturell, und die letzten Jahre des siamesischen Zwillingspaares waren nicht sehr glücklich, da die Brüder s o verschiedene Neigungen hatten und ihre Ansichten über den amerikanischen B ü r g e r k r i e g sehr auseinander gingen. J e d e s Kind ist immer ein neues Problem und ein anderer Gegenstand des Studiums und der Untersuchung. D a h e r kommt es, daß ein Lehrer an 2 0 Schülern in der K l a s s e mehr als genug hat, wenn e s ihm möglich sein soll, die feineren Unterschiede zwischen seinen Schülern genau kennen zu lernen, was doch für das künftige Glück der Kinder
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von großem Wert sein kann. Der Erzieher sollte j e d e s Kind s o studieren, daß er den Eltern am Ende des Schuljahres einen Bericht erstatten kann, der keine tabellarische Übersicht von s o viel Punkten für diese und s o viel für jene Wissenschaft enthält, sondern in erster Linie eine Beschreibung der körperlichen Konstitution und der Neigungen gibt, welche sich in einem späteren Stadium des Wachstums wahrscheinlich entwickeln werden und danach eine scharfe Analyse der geistigen Beschaffenheit des Kindes enthält. Bloß hierauf kann sich ein Rat bezüglich der Berufswahl gründen, welcher einen Teil des Berichts ausmachen sollte. Daß der Bericht über den körperlichen Zustand von einem Kinderarzt zu geben ist, bedarf keines Beweises. Es gibt indessen bis jetzt in Deutschland wenige Schulärzte und die Bildung mancher Lehrer ist in dieser Beziehung oft noch so mangelhaft, daß nicht alle für eine solch schwierige Arbeit für fähig erachtet werden können. Die Bildung der Lehrer sollte eine umfassendere sein, und es sollte keiner vor dem 23. Jahr als selbständige Lehrkraft in der Schule zugelassen werden. Man gebe dem Klassenlehrer vor allem so viel Gehalt, daß ihm eine gewisse Stellung in der Gesellschaft zuerkannt wird, woraus größere Schätzung und Achtung und ein stärkerer Einfluß auf Eltern und Kinder hervorgeht. Der Erzieher muß zu einem gut Teil durch Suggestion wirken, und solange noch die stärkste S u g g e s tion vom Geld ausgeht, handelt man nicht vernünftig, wenn man ihm dieses Erziehungsmittel vorenthält, es sei denn, man ist der Meinung, es habe keinen Wert, das Volk zu erziehen.
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Nicht zwei Kinder sind einander an K ö r p e r und Geist g l e i t h , s o wenig als zwei E r w a c h s e n e , s o viel steht fest. D i e P s y c h o l o g e n haben indessen geglaubt, in dieser bunten Verschiedenheit zwei Extreme bestimmen zu können, sozusagen zwei Pole, zwischen denen alle möglichen Variationen liegen. S i e glauben so zwei M e n s c h e n - und Kindertypen unterscheiden zu müssen: den sensorischen und den motorischen Typus. Die einen Kinder nähern sich mehr dem sensorischen, die anderen mehr dem motorischen Typus. Ich glaube das hier anführen zu sollen, weil ich meine, daß e s einiges Licht auf die s o sehr auseinander gehenden Kennzeichen von Kindern wirft, wie sie die Doktoren F E R E , C L O U S T O N und W A R N E R beschrieben haben. J e n e r Unterschied im Typus beruht ohne Zweifel auf dem anatomischen B a u des Nervensystems. Die Namen „ s e n s o r i s c h " und „motorisch" sind von der Anatomie des Nervensystems entlehnt. Darüber muß etwas Näheres g e s a g t werden. D a s Nervensystem besteht, wie bekannt, aus den Hauptteilen: Hirn, R ü c k e n m a r k und Nervenfasern, die von da nach allen Teilen des K ö r p e r s ausgehen. D a s Hirn besteht aus Millionen von mikroskopisch kleinen Zellen und aus ihnen hervorkommenden Fäden, welche verschiedene Zellen und Zellengruppen miteinander in Verbindung setzen. Durch die Ernährung kommen die Gehirnzellen in einen gewissen Zustand, den man einigermaßen mit dem Zustand vergleichen kann, in welchen die Zelle einer elektrischen Batterie gerät, wenn man eine Säure auf zwei Metalle einwirken läßt. W a s eigent-
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lieh in einer solchen Nervenzelle vor sich geht, weiß man nicht; man sagt, daß sich eine Art von Energie, die N e r v e n e n e r g i e , entwickelt. Von einigen Nervenzellen gehen Fasern aus, welche durch das R ü c k e n m a r k laufen und von hier nach den Muskeln des K ö r p e r s gehen. Wird nun eine solche „geladene" Nervenzelle — man beachte übrigens wohl, daß der Ausdruck „geladen" nur ein Name für etwas ist, dessen W e s e n man nicht kennt — auf irgend eine W e i s e gereizt, s o strömt die Energie einer solchen Nervenfaser entlang nach einem Muskel, welcher sich darauf zusammenzieht, wodurch B e w e g u n g ausgelöst wird. Nervenfasern nun, welche Nervenenergie zu den Muskeln führen, die darauf in eine B e w e g u n g kommen, nennt man m o t o r i s c h e oder B e w e g u n g s n e r v e n f a s e r n . E s gibt auch andere, welche die Organe (das Auge, das Ohr, die Nase, die Zunge und die Haut) in Kontakt mit bestimmten Zellengruppen des Hirns bringen. D i e s e Fasern sind nach anderer Richtung tätig: sie überbringen die Energie aus der Außenwelt (Licht, Luft, Kälte, Wärme usw.) in veränderter Form auf bestimmte Gehirnteile und heißen s e n s o r i s c h e oder G e f ü h l s n e r v e n f a s e r n . J e d e r Nerv besteht aus einem Bündel von Fasern, wovon einige s e n s o r i s c h , andere motorisch sind. Ein Beispiel: Ein Kind greift nach einem Apfel, der vor ihm auf dem Tisch liegt. W a s geht da vor sich? Lichtstrahlen, in der Physik Ätherzuckungen genannt, gehen von dem Apfel aus, dringen in das Auge hinein und reizen die Netzhaut. Die Netzhaut gerät in einen gewissen Zustand, der sich den Nervenfasern mitteilt, welche in gewissen Zellen hinten im Hirn endigen. D i e s e Zellen kommen dann auch in
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einen gewissen Zustand, wodurch im Bewußtsein des Kindes die Empfindung oder die Vorstellung Apfel geweckt wird, so daß das Kind dann wird sagen können: ich sehe einen Apfel. Diese Zellen hinten im Hirn (Gesichtszentrum) teilen ihren eigenartigen Zustand, sei dieses ein Zittern oder sonst etwas, durch Verbindungsfäden anderen Zellen mit, von welchen Bewegungsfasern ausgehen. Diese Zellen entladen sich sodann und die freigewordene Energie* strömt den Bewegungsfasern entlang nach gewissen Muskeln, welche sich hierauf zusammenziehen, so daß sich die Finger krümmen und den Apfel umfassen. Die von dem Apfel kommenden Lichtzuckungen geben also den Anstoß zu einer ganzen Reihe von Bewegungen, welche mit einer s i c h t b a r e n Bewegung endigen, dem Ergreifen des Apfels. Viele Teile des Hirns können einzeln wirken; bestimmte Muskeln werden von bestimmten Hirnteilen (Zentren) aus in Tätigkeit gesetzt. Jeder willkürlichen Bewegung geht eine „Entladung" von Nervenenergie in einem bestimmten Gebiete des Hirns voraus, und für diese Entladungen sind zwei Dinge nötig: Zufuhr von gesundem Blut nach diesem Teil des Hirns und ein Reiz, der den Anstoß zur Entladung der Zellen gibt. Solche Reize sind unter anderem Licht und Geräusch. Daraus folgt, daß die Bewegungen und Stellungen der Körperteile uns vom Zustande des Gehirns etwas sagen können. So sind Zittern der Finger, ein Hängen des Kopfes, eine runzlige Stirn Nervenzeichen, welche * Jede Nervenzelle ist ein Reservoir von Energie, s o daß ein Reiz, welcher die Zelle auslöst, mit viel größerer Kraft wieder zum Vorschein kommt.
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vom Zustande des Gehirns Kunde geben. Dr. WARNER geht bei der Untersuchung von Schulkindern lediglich von dem aus, was er sieht. Er fragt die Kinder fast nichts, sondern läßt sie in einer Reihe stehen und die Hände ausstrecken, um die Haltung der Körperteile gut beobachten zu können. Auch mißt er manchmal den Schädel, untersucht den Gaumen, die Länge und das Gewicht des Körpers. Findet er etwas Abnormes, s o ersucht er den Lehrer um seinen Bericht über den Geisteszustand. D a s Resultat einer solchen Vergleichung ist oft interessant. Die Untersuchungen von Dr. WARNER haben gezeigt, daß eine Korrelation zwischen dem Zustande des Gehirns und der geistigen Fähigkeit der Kinder besteht* Von den 10000 Schulkindern, welche Dr. WARNER untersuchte, waren 7,8 Prozent der Knaben und 6,8 Prozent der Mädchen von den Lehrern als dumm, rückständig oder mehr als mittelmäßig bezeichnet, dagegen wurden nur 1,4 Prozent solcher Kinder unter denjenigen gefunden, bei denen die sogenannten Nervenzeichen des Arztes fehlten. Von der Gesamtzahl rückständiger Kinder hatten 57 Prozent der Knaben und 52 Prozent der Mädchen, die als dumm und von schwacher Fassungskraft bezeichnet wurden, „Nervenzeichen", von welchen Dr. WARNER glaubt, daß sie durch systematische Leibesübungen gehoben werden können. W a s versteht man nun unter einem motorischen Kind? Ein solches, bei dem die Energie der Außenwelt, * Dr. WARNER, The Study of children and their School training; The children, how to study them; Report on the Scientific Study of the Mental and Physical conditions of childhood.
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die Sinnesorgane reizend, und in anderer, unbekannter Form, die Nervenfäden entlang zum Hirn geführt, eine Neigung hat, direkt den motorischen Nerven entlang nach den Muskeln zu strömen und diese in Bewegung zu setzen. Bei dem sensorischen Kind bleiben viele der Bewegungen aus, oder sie kommen bloß langsam. D a s motorische Kind ist beweglich, aktiv; das sensible ist ruhig, passiv. D a s motorische Kind ist sehr empfänglich für Suggestionen. D a s heißt, es nimmt leicht Einflüsse von außen in sein Bewußtsein auf, und auf diese Eindrücke wird oft und bald durch Bewegung (Handlung) reagiert. D a s Nachdenken und Überlegen nimmt bei ihm einen bescheidenen Platz ein. Gewisse Handlungen haben übrigens die Neigung, sich leicht zu wiederholen, alles wird bei dem motorischen Kind bald eine Gewohnheit. D a s sensorische Kind ist mehr passiv, träge und gleichgültig. Im späteren Leben ist es mehr grübelnd und langsamer in dem Verrichten neuer Handlungen. Es ist weniger suggestibel und scheint, solange es jung ist, dümmer zu sein als der bewegliche Typus. D a s bewegliche Kind äußert seinen Unmut sofort durch lautes Schreien und verschiedene Bewegungen; das sensible behält den Schmerz in seinem Innern und fühlt ihn noch, wenn das andere den Schmerz längst vergessen hat. Das bewegliche Kind stellt viele Fragen, allein es scheint aus den Antworten wenig zu lernen; das sensible fragt wenig, aber es lernt viel aus den Antworten, die das andere auf seine vielen Fragen erhält. Das bewegliche Kind stößt sich wiederholt an demselben Stein, da die Hemmungsvorstellungen stets fehlen BOSMA, Nervöse Kinder.
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K e n n z e i c h e n von n e r v ö s e n
Kindern
oder zu schwach sind, um eine Wiederholung zu hindern. D a s sensible ist vorsichtig, e s fürchtet vor dem Unbekannten und Unsicheren, e s macht eine Lehre schon aus wenigen Erfahrungen und sich zurück, bis es sicher ist, daß die Gefahr schwunden ist.
versich sich hält ge-
D a s bewegliche Kind ist unruhig und unbeständig, mag e s sitzen oder stehen; seine Handlungen sind unerwartet und impulsiv. E s antwortet auf eine Beleidigung sofort mit einem Schimpfwort oder einem Schlag, allein es vergibt und vergißt auch schnell. Der andere Typus zeigt seine Entrüstung nicht sofort äußerlich, er brütet über das ihm angetane Unrecht nach und vergibt nicht s o bald. D a s bewegliche Kind tritt selbstbewußt, aggressiv auf, es zaudert nicht und weiß immer R a t und entschließt sich im kritischen Augenblick. D a s sensible hält sich zurück, zweifelt, kann sich nicht entschließen, tut vielleicht mit, ist aber nicht Führer, sondern Geführter. D a s bewegliche Kind wird eher der Mann der Tat, das sensible der Philosoph, der Gelehrte, der Forscher, aber auch das nützliche Faktotum im Kontor des beweglichen Kaufmanns. D a s mobile Kind begreift leichter als das sensible, gerade weil das erstere sich ausspricht, sozusagen ausbewegt, w a s in ihm vorgeht, während das letztere in sich selbst gekehrt ist und schweigt. Wie schon gesagt, sind die hier beschriebenen Figuren Extreme. In der Schule und im späteren Leben, schleifen und bilden sie einander, so daß die schärfsten Ecken verschwinden, allein die Anlage, der anatomische
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Bau ist doch viel zu stark, als daß nicht auch in der Welt der Erwachsenen immer dieser fundamentale Unterschied wahrzunehmen wäre. Man wird daher immer den großen Unterschied machen können zwischen Aktiven und Passiven, zwischen solchen, bei welchen die Reize der Außenwelt mehr äußerliche, und denjenigen, bei welchen die Einflüsse der Umgebung mehr innerliche Reaktionen haben; mit anderen Worten, zwischen denjenigen, welche mit Vorliebe handeln, und denjenigen, die am liebsten grübeln, überlegen und nicht rasch zur Tat kommen (Hamletnaturen). Wenn diese Gruppierung richtig ist, ist es klar, daß nervöse Kinder sich anders zeigen und benehmen, je nachdem sie sich mehr dem sensiblen oder dem mobilen Typus nähern. Das erste, von Dr. FERE beschriebene Kind gehört offenbar mehr zum ersten, das letztere und auch das von dem englischen Arzte WARNER beschriebene mehr zu dem anderen Typus. Daß auch die Behandlung solcher Kinder nicht die gleiche sein kann, ist selbstverständlich. Wir kommen nachher darauf zu sprechen.
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Die Behandlung a die Kinder einander nicht gleich sind, wird auch das bewußte Einwirken auf die Jugend (Unterricht und Erziehung) für jedes Kind anders sein müssen. Bei aller Verschiedenheit ist aber doch s o viel Gemeinsames vorhanden, daß es leicht möglich ist, im allgemeinen Vorschriften zu geben, die für alle Kinder gelten. Man ist gewöhnt, von Körper und Geist zu sprechen und eine körperliche und eine geistige Erziehung zu unterscheiden. Dagegen ist nichts zu erinnern, wenn man sich die Sache nur nicht s o vorstellt, als bestünden zwei voneinander verschiedene Einheiten: ein Körper und ein darin wohnender Geist, der mit seiner Wohnung nicht mehr zu tun hat, als der Kanarienvogel mit seinem Käfig. Aus dieser Art zu denken sind ohne Zweifel Nervenleiden entstanden, da man, indem man alle Sorgfalt auf den Geist verwandte, den Körper vernachlässigte und krank werden ließ. Wir wissen jetzt nur zu gut, daß der Geist an den Körper gebunden ist, und zwar direkt an die graue Hirnrinde. Wir können uns nicht vorstellen, wie der Geist ohne Hirn wirken kann, allein wir begreifen ebensowenig, wie es kommt, daß der Geist mit dem Hirn wirken kann. Die einfachste Empfindung ist ein großes
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Geheimnis. Es gibt niemand, der unmittelbar an sich wahrnimmt, daß in seinen Hirnzellen und Nervenfasern etwas vorgeht, wenn er denkt, fühlt und wünscht, und doch hat die medizinische Untersuchung des Gehirns an Personen, welche zur Zeit ihres Lebens irrsinnig waren, gezeigt, daß mit gewissen Veränderungen der geistigen Gehirnzellen (psychischen Neuronen) bestimmte geistige Abnormitäten zusammenhängen. Manchmal ist der Irrenarzt zwar in der Lage, aus geistigen Symptomen, die er nicht direkt wahrnimmt, sondern indirekt aus Bewegungen kennt, zu entnehmen, welcher Teil des Gehirns in abnormem Zustand ist. Wenn z. B. eine P e r s o n ganz gut weiß, was sie sagen will, aber doch nicht imstande ist, die Worte, welche sie zwar niederschreiben kann, auszusprechen (Aphasie), ist der Arzt wohl imstande, die Stelle des Gehirns zu zeigen, wo die Ursache des geistigen Defekts liegt, und es ist ihm auch nicht schwer, durch eine Gehirnoperation Heilung herbeizuführen. Es gibt viele andere Tatsachen auf dem Gebiete der Pathologie, welche alle zu demselben Schlüsse führen: kein Bewußtsein ohne Hirnarbeit. Da aber das Gehirn, wie jeder andere Körperteil, durch gesundes Blut und reine Luft gedeiht, so kann man im Interesse des Geistes der Pflege des Körpers nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Wenn ein Kind schlecht lernt, muß man vor allem sich fragen: Ist das Kind auch gesund, funktioniert nicht etwa das eine oder andere wichtige Organ schlecht, so daß das Hirn nicht den nötigen Nahrungsstoff aus dem Blut erhält. S o denkt jeder Arzt, und so muß auch jeder Laie sich fragen. Der Einfluß des Körpers auf den Geist wird recht
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deutlich beleuchtet durch einen Fall, den der Londoner Arzt Dr. WARNER meldet. „Ich wurde unlängst zu einem Mädchen gerufen, bei dem sich plötzlich eine große Neigung zum Stehlen g e zeigt hatte. Das Kind schien an einer Herzkrankheit zu leiden und zeigte Spuren von Rheumatismus. Nach einer sechswöchigen Behandlung war es wieder hergestellt, und die Ursachen ihres sittlichen Vergehens waren gehoben. Sie wurde als ein braves und glückliches Kind wieder zur Schule geschickt, man wird ein Auge auf sie haben, und höchst wahrscheinlich wird sie brav bleiben." Der positive Beweis, daß das Stehlen von dem Herzleiden herkam, ist nicht geliefert, allein die Wahrscheinlichkeit ist groß, und ich glaube, es ist nicht schwer zu begreifen, wie das eine mit dem anderen in Verbindung stehen kann. Alle Kinder, so darf man annehmen, fühlen wohl einmal die Lust in sich aufkommen, sich etwas anzueignen, das ihnen gefällt, allein dieser Gedanke wird meistens nicht zur Tat, da sich sofort eine andere Vorstellung einstellt (wie Furcht vor Strafe, Verachtung usw.), welche die erste hemmt und nicht zur Tat werden läßt. Dieser Kampf der Vorstellungen bedeutet aber den Verbrauch einer gewissen Quantität von Gehirnenergie, welche bei schlecht genährtem Hirn, wie das bei einer Herzkrankheit natürlich der Fall ist, sicherlich nicht sehr groß sein kann. Man kann sich also denken, daß bei diesem Mädchen nicht genug Hirnenergie vorhanden war, um den Trieb, der unmittelbar auf den bösen Gedanken folgte, zu hemmen. Vorstellungen sind etwas Psychisches, allein sie entstehen als das Ergebnis eines materiell-anatomischen
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Substrats, durch dessen Beschaffenheit und Energie die menschlichen Handlungen ebenso bestimmt werden als durch Vorstellungen. Bei Personen mit schlechter Ernährung und geschwächtem Gehirn darf man nicht auf viel Selbstbeherrschung rechnen. Bei der Sorge für den Körper hat man zu achten 1. auf e i n e z w e c k m ä ß i g e N a h r u n g . Nervöse Störungen gehen zuweilen vom Magen und den Eingeweiden aus und stehen in Verbindung mit Störungen im Stoffwechsel, wie bei Bleichsucht usw. Es ist also von großer Wichtigkeit, daß die Nahrung nicht bloß diejenigen Bestandteile besitzt, welche das Gewebe des Körpers nötig hat, sondern daß sie auch in solcher Form genommen wird, daß sie leicht verdaut wird. D a s erste Lebensjahr ist für die weitere Entwicklung des Menschen von sehr großer Bedeutung: kein Haus wird fest und stark sein, wenn das Fundament nicht gut gelegt ist. Es müssen daher Ernährungsstörungen, an welchen so viele Kinder im ersten Lebensjahr dahinsiechen, vermieden werden. Man begegnet diesen am besten dadurch, daß man dem Kinde die Brust einer gesunden Mutter reicht. Jede künstliche Ernährung gibt nur zu leicht Veranlassung zu Störungen in der Verdauung, da jedes Kind diejenige Milch nötig hat, welche für dasselbe passt und welche vielleicht für ein anderes sehr unpassend ist. Die künstliche Ernährung ist stets bloß ein Versuch, und wenn man endlich das richtige Verhältnis der Milchbestandteile oder das betreffende Präparat gefunden hat, s o ist manchmal schon viel Schaden angerichtet. Es ist sehr bedauerlich, daß s o viele Frauen nicht imstande
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sind, ihren Kindern die natürliche Nahrung zu geben. Neuerdings hat der berühmte Physiologe Professor VON BUNGE hierüber eine beachtenswerte Schrift herausgegeben. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß Fleisch für Kinder und besonders für nervöse Kinder keinen großen Wert hat. Milch und Mehlspeisen, Gemüse und Früchte sind für Kinder die beste Nahrung. Ein englischer Arzt, Dr. SHUTTLEWORTH, nennt in einem Buche über Schwachbegabte Kinder die Hafergrütze die beste Hirnnahrung. Nervösen und neurasthenischen Personen wird gegenwärtig von einigen Nervenärzten eine vegetarische Diät empfohlen und es sollen die Resultate gut sein (Dr. ALBU). Man glaubt nämlich, daß die Extraktivstoffe des Fleisches das Nervensystem in dem Maße reizen, daß dadurch Erschlaffung und Entnervung befördert wird. 2. V e r m e i d e n a l l e r G e n u ß m i t t e l , welche direkt oder indirekt für das Nervensystem schädlich sind. Hierher gehören: Alkohol, Kaffee, Tee, Tabak und nach dem Gesagten auch Bouillon. 3. R e i n e L u f t im H a u s e , in d e r S c h u l e und v o r a l l e m im S c h l a f z i m m e r . In den Geweben des Körpers und vor allem im Hirn entstehen fortwährend unbrauchbare Stoffe, welche nicht im Körper bleiben dürfen, der Sauerstoff der Luft muß sie verbrennen, damit sie fähig werden, aus dem Körper entfernt zu werden. Geschieht das nicht vollständig, so vergiften sie das Blut, reizen sie die Nerven und verursachen die Nervosität (Autointoxikation). Wenn jemand am Morgen schläfrig und müde auf-
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steht, s o ist das oft die F o l g e der unreinen Luft, er bei Nacht eingeatmet hat.
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4. K a l t e A b w a s c h u n g e n d e s g a n z e n K ö r p e r s und darauffolgende Abreibung mit einem rauhen Handtuch am Morgen und am Abend. Nervöse Kinder sind sehr empfindlich für die Veränderungen in dem Zustande der Witterung. Wenn sie in dieser Beziehung nicht frühzeitig abgehärtet werden, s o werden sie, wenn sie erwachsen sind, sich nur bei einer bestimmten Temperatur der Luft Wohlbefinden. Ihre Stimmungen werden mit dem Wetter auf- und abgehen. E s ist darum angezeigt, daß man die Kinder an kaltes W a s s e r (Abwaschungen, Baden) und an Spazierengehen im Freien gewöhnt, sei das Wetter wie e s wolle. Man kann j e d o c h hier auch übertreiben; das kalte W a s s e r mag im allgemeinen gut sein, allein erfahrene Ärzte versichern uns, daß sie die sogenannte Abhärtungstheorie s o einseitig und unverständig haben anwenden sehen, daß mancher dadurch seiner Gesundheit geschadet hat. S o werden starke kalte Duschen zarten, sehr nervösen Kindern und auch Erwachsenen schaden und zwar um s o mehr, j e jünger und nervöser das Kind ist (OPPENHEIM). 5. T ä g l i c h e r e g e l m ä ß i g e
Leibesübungen.
Dazu gehört: das Spazierengehen, das Spiel und die Gymnastik. Wir leben gegenwärtig in einer Zeit des Sports, eine S a c h e und ein Wort, die wir von England überkommen haben. Vom Sport läßt sich viel Gutes s a g e n ; er befördert den Stoffwechsel, härtet den K ö r p e r ab, macht flink und geschmeidig und verschafft Mut und S e l b s t -
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vertrauen. Er wird aber auch leicht übertrieben und führt durch Übermaß zu Krankheit und nervöser Erschöpfung, Erscheinungen, die man gerade dadurch verhüten wollte. Von ärztlicher Seite wird gewarnt vor Fußballwettkämpfen und vor übermäßigem Radfahren, namentlich bei jungen Leuten von 14—16 Jahren, da man bei ihnen bisweilen schlimme Folgen konstatiert hat, wie Schlaflosigkeit, Fieber, Herzklopfen, Herzerweiterung (Prof. ROYER, WENCKEBACH). Außerdem leiden Verstand und Gemüt, wo der Sport zur großen Leidenschaft geworden ist. Man kann das in England sehen, wo Männer mit großen Bärten und Familienväter großen Bällen nachrennen. Es scheint das demjenigen sehr lächerlich, der nicht unter diesem Regime aufgewachsen ist; die schlimmste Seite der Überkultur der Muskeln ist aber die, daß das geistige Leben darunter leidet. Selbst KIPLING, der Bewunderer körperlicher Kraft, hat dieses schließlich zugeben müssen. Das Interesse für geistige Dinge nimmt in dem Maße ab, als die Leidenschaft für den Sport zunimmt. Wenn der Sport Mittel zum Zweck bleibt und mäßig betrieben wird und nicht zu entnervendem Wettstreit führt, ist er gesund; wo er aber Selbstzweck wird und die Nervenkraft vergeudet, ist er eine gesellschaftliche Gefahr. Nervöse Kinder dürfen von den Turnstunden nicht abgehalten werden; Dr. WARNER empfiehlt namentlich Freiübungen. Viele schlechte Haltungen und Bewegungen können durch solche Übungen verschwinden. Der englische Arzt ist der Ansicht, daß sehr viele sogenannte Nervenzeichen die Folge von dem sind, was er Nerven-
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Verwirrung (braindisorderness) nennt, und daß sie durch zweckmäßige Hirngymnastik (braindrill) verschwinden können. Von sehr großem Wert erachtet es dieser Arzt, daß d a s Kind einfach g e w i s s e B e w e g u n g e n des Erziehers nachmacht. S o empfiehlt er u. a. Finger- und Augenbewegungen. A stelle den Daumen vor, B den Zeigefinger, C den Mittelfinger, D den Ringfinger und E den kleinen Finger. B e u g e A, darauf A und C, tue e s aber eher langsam als schnell. Wiederhole das dreimal mit der einen Hand, dann mit der anderen und darauf mit beiden Händen. Laß darauf die Hände herabgehen, um auszuruhen. D a der Z w e c k dieser Übungen lediglich der ist, durch Absehen nachzumachen, darfst du während der Übung nichts sprechen. D e m Schüler wird gesagt, w a s er zu tun hat und nun darf er bloß seine Augen auf deine Hände richten; er muß absehen, nicht nach dem G e dächtnis handeln. Gib acht, daß keine Nebenbewegungen vorkommen, daß er nicht die Augen umherirren läßt, die Stirn nicht runzelt, keine Seitenbewegungen mit dem K o p f e macht, und trachte stets die verlangte B e w e g u n g zu bekommen, nicht mehr. Halte bei dem geringsten Anzeichen von Ermüdung ein. Wenn du deine Hände ausstreckst und zu den Schülern sagst, sie sollen das nachmachen, so s o r g e dafür, daß sie diese B e w e g u n g nicht schneller ausführen als du. Manche Kinder bringen ihre Arme mit aller Kraft zu weit nach vorn, es geht mit einem Ruck, als würden sie w e g g e w o r f e n und manchmal tun sie es mit g e s c h l o s s e n e r Faust. D a s ist eine schlechte Manier und zugleich unnütze Kraftverschwendung.
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Kompliziertere Bewegungen sind schwerer nachzumachen, z.B. diese: A B C D — E — A B — A C — A D — AE — A B C — A B D — A B E — A B C D — A B C DE. D a s unruhige Umherirren der Augen, das man bei so vielen nervösen Menschen antrifft, kann in der Jugend durch passende Augenübungen gehoben werden. D a s ist sehr wichtig, da viele Ungenauigkeiten beim Lesen und Rechnen die Folge dieses Mangels an Beherrschen der Augenmuskeln sind. S a g e den Kindern, sie sollen nach einem kleinen Gegenstand sehen, den du in der Hand hältst, und laß sie die Augen auf einen Ball richten, den du durch das Schulzimmer wirfst, oder noch besser auf ein Spiegelbild, das du auf der Wand hin- und herbewegen lässt. Junge Kinder haben ihre Freude daran. D a s Zählen der Gegenstände in der Schule bloß mit den Augen ist für viele Kinder eine nützliche Übung. Bewegungen kleiner Körperteile, wie der Finger, befördern das Koordinationsvermögen durch das Auge; das Hirn wird dadurch für rein geistige P r o z e s s e geschickter. Diese Übungen werden nach einer kurzen Pause ungenau werden; es ist dann Zeit, damit aufzuhören. Die Übungen der Finger und Augen können dann durch Übungen größerer Teile ersetzt werden, wie der Schultern und der Ellenbogen oder durch Handbewegungen mit geschlossener Faust oder durch Armübungen mit ganz freien Fingern. Es wird gut sein, wenn der Lehrer 5—10 Minuten am Tag auf diese Gymnastik des Hirns verwendet, abgesehen von der sonstigen auf dem Lehrplan stehenden Gymnastik. Es gibt nervöse Kinder, die man an verschiedenen
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Nervenzeichen erkennen kann, wie Mangel an Ausdruck auf dem Gesicht, Lächeln, Stirnrunzeln, Zusammenziehen der Augenbrauen, schlechte Kontrolle der Bewegungen, Ausstrecken der Zunge, wenn sie angesprochen werden, die nervöse Hand usw. Es ist die Aufgabe des Erziehers, solche abnorme Nervenzeichen und die Nervenverwirrung, die damit Hand in Hand geht, zum Verschwinden zu bringen, w a s durch ein gutes Beispiel in Haltung und Bewegung geschieht. Es muß beachtet werden, daß, obwohl man bei dem Säugling oft spontane Bewegungen der Finger und Zähne wahrnehmen kann, in den ersten Lebensjahren die größeren Muskeln leichter kontrolliert werden können als die kleinen. Man erwarte bei Kindern von sieben Jahren und darunter kein genaues Nachmachen der Fingerbewegungen, das gleiche Niedersetzen der Füße und das Maßhalten beim Gehen liegen mehr in ihrem Bereiche. Bei den Übungen der Arme lasse man die Hände offen, s o daß sich die Finger spontan bewegen können, während die Bewegungen der größeren Muskeln kontrolliert werden. 6. G u t e r S c h l a f . Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Im Schlafe gehen keine kräftigen Ströme Nervenenergie zu den Muskeln, Gehirn und Nerven ruhen, wertlose Stoffe werden verbrannt und neue Teile aufgebaut. Der Schlaf darf nie zu kurz kommen. Kinder von 6 bis 8 Jahren müssen mindestens um 1 I S 8 Uhr, diejenigen von 10—15 Jahren spätestens um 9 Uhr zu Bett gehen (Prof. ZIEHEN in Utrecht). Andere Autoritäten stimmen damit überein; so finden die Pro-
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fessoren BINSWANGER und OPPENHEIM, daß die Kinder bis zu ihrem 14. oder 15. Lebensjahr 10—11 Stunden Schlaf haben müssen. Ein schottischer Arzt, Dr. DRUMMOND, macht folgende Aufstellung: Alter: Stunden Schlaf: Geburt bis zum Ende der 4. Woche 20—22 2—6 Monate 16—18 7—12 Monate 14—16 (11—12 bei Nacht u. 2 bei Tag) 2—6 Jahre 12 6—10 Jahre 11 10—15 Jahre 9—10 Es gibt nervöse Kinder, welche bei Nacht plötzlich aufwachen und etwas sehen, wodurch sie geängstigt werden, so daß sie laut weinen. Ein solcher Zustand dauert etwa eine Viertelstunde, dann schlafen sie wieder ein, und manchmal erinnern sie sich am andern Morgen daran, daß sie wach gewesen sind. Solche Kinder dürfen vor allem am Abend keine Geschichten erzählt oder Bücher zu lesen bekommen, durch welche sie beängstigt werden. Es ist viel besser, wenn sie vor dem Schlafengehen eine leichte Handarbeit (Holz- oder Kartonarbeiten) verrichten. Da dieser sog. Nachtschreck (pavor nocturnus) durch Störungen in der Verdauung wenn auch nicht verursacht, so doch befördert wird, so gebe man solchen Kindern ein leicht verdauliches Nachtessen. Sie sollen sodann nicht allein oder nicht in einem dunkeln Zimmer schlafen. Auch soll geistige Uberanstrengung vermieden werden. 7. Ein n o r m a l e r V e r l a u f d e r g e s c h l e c h t l i c h e n Entwicklung.
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Die Zeit, da die Geschlechtsorgane zu wachsen b e ginnen und die ganze Periode, in welcher diese Entwicklung zustande kommt, ist für den nervös veranlagten Menschen sehr gefährlich. Sowohl an gewissen Teilen unter der Mittelrippe als im Gehirn und Rückenmark finden wichtige Veränderungen im Wachstum statt, s o daß es nicht zu verwundern ist, wenn sich auch in das Bewußtsein neue Elemente mischen. D e r Jüngling fühlt die neue Energie in seinem Bewußtsein anfangs als ein unbestimmtes Verlangen seines Ichs, das nun immer mehr in den Vordergrund tritt. Neue Empfindungen, welche durch die Veränderungen im Organismus verursacht sind, geben den Anstoß zu neuen Ideen, und so sehen wir ihn großartige und kühne Pläne machen; er will die Welt regieren oder sie verbessern, fürchtet sich vor nichts und vor niemand, hat sehr bestimmte Meinungen, die er energisch verficht, j a die in ihm erwachende Energie kann s o groß sein, daß sein Selbstgefühl manchmal in Selbstanbetung und Pedanterie ausartet. Oder aber, und das kommt mehr bei dem sensiblen Typus vor, der Drang zum Handeln, der verhüllte Fortpflanzungstrieb, kehrt sich mehr nach innen: der Jüngling wird träumerisch, grübelnd, sentimental und ist manchmal geneigt, seinen Geisteszustand zu beobachten und zu zergliedern (Introspektion). Er kommt allmählich zu religiösen oder sozialen Schwärmereien, zum L i e b e s lied, zum sich selbst analysierenden Roman, zum Weltschmerz und manchmal zum Selbstmord. Daß in dieser Sturm- und Drangperiode das psychische Gleichgewicht manchmal verloren geht, ist nicht befremdlich. E s ist daher in der Psychiatrie von G e i s t e s -
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Störungen in dieser Entwicklungsperiode die R e d e , von Pubertätsirrsinn, welcher in seinen Symptomen auch wieder verschieden ist, j e nachdem die betreffende P e r son sensibel oder mobil veranlagt ist.) Gewöhnlich begeht man den Fehler, die Pubertätsentwicklung viel zu kurz zu nehmen. B e i dem Manne dauert sie (nach Dr. C L O U S T O N ) etwa bis zum 25. Jahre, während sie bei der Frau etwas kürzer ist. Ist bei dem Jüngling und dem Manne der geistige Charakter in dieser Periode schöpferisch, aktiv und konstruktiv, so zeigen sich bei den Mädchen dann die zarteren, mehr passiven Eigenschaften des Gemüts. Ihr erwachender Fortpflanzungstrieb zeigt sich im allgemeinen als D r a n g zur Selbstaufopferung und offenbart sich in Mitleid, in religiöser Begeisterung, bisweilen auch in einer Sucht nach Sympathie, Verehrung und Bewunderung. Mehr noch als der Mann muß in dieser Periode die Frau etwas lieben, in erster Linie einen Mann. W o sie nun infolge verschiedener Umstände zuweilen einen Mann nicht lieben kann und darf und es ihr nicht gelingt, die neue aufbrausende geistige und körperliche Energie rechtzeitig in ein passendes Bett zu leiten, bleiben nervöse Störungen zuweilen nicht aus. Auch bringen e s die unfreie Stellung des Mädchens in der Gesellschaft, die strengeren Sittlichkeitsgesetze unter welche sie der gesellschaftliche Verkehr mit Männern als Führern gestellt hat, mit sich, daß an ihre Nervenkraft größere Ansprüche gemacht werden als an die des Mannes. Denn der Zwang, allerlei Gemütsbewegungen und Begierden zu unterdrücken, manchmal auch ganz unschuldige, die Funktion, welche man in der Physiologie
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Inhibition nennt, ist eine erschöpfende Tätigkeit des Gehirns. Wenn daher die Frauen dagegen protestieren und für sich und ihre Töchter eine größere Bewegungsfreiheit verlangen, so haben sie hierin ganz recht. Diese Entwicklungsjahre sind für den Menschen und die Gesellschaft von großer Bedeutung. W a s Gutes und Schlechtes im Menschen schlummert, tritt jetzt vor allem ans Licht; Neigungen, die man beim Kind nicht wahrgenommen hat, kommen da an den Tag und bewirken, daß man zuweilen in dem talentvollen Jüngling den ganz gewöhnlichen Schüler nicht mehr erkennt. Die größten Schöpfungen der Kunst, die genialsten Gedanken entspringen jetzt dem feurigen Gehirn. Es ist sehr interessant und manchmal auch sehr tragisch, junge Kräfte in diesem Zeitraum mit Lebensumständen ringen zu sehen, in welche sie sich nur schwer schicken können, während sie es doch müssen. Diese manchmal sehr fehlerhafte Adaptation ist von ärztlicher Seite erst zuweilen als Schwachheit oder Abnormität des Geistes angesehen worden, ja, man hat als einziges Merkmal geistiger Gesundheit Anpassung an das aufstellen wollen, was SPENCER die „outer relations" genannt hat, das heißt an die Verhältnisse außerhalb der Menschen, an die Lebensumstände also, an das Milieu. So u. a. der gelehrte Irrenarzt Dr. MERCIER. Eine unglücklichere Theorie hat man gewiß nicht erdenken können. Diese Lehre ist darauf zurückzuführen, daß man nicht einsieht, daß die moralische Adaptation etwas ganz anderes ist als die körperlich-materielle Anpassung, und zweitens auf den Mangel an Verständnis dafür, daß die Gesellschaft keine starre, unbewegliche, BOSMA, Nervöse Kinder.
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unveränderliche Masse ist, sondern eine lebendige Erscheinung, welche den Gefahren des Wechsels und des Wachstums unterworfen ist und zwar eines Wachstums durch den Willen der Menschen. Allein diesen Willen stellt man in Abrede; der Mensch soll einfach ein Gummiball ohne Leben sein, ein Faltengewand, das um so edler und schöner ist, je besser man es in Falten legen kann. D a s ist der reinste und roheste Materialismus, den man sich denken kann, dessen Konsequenz es wäre, daß Judas Ischariot weit erhaben über Christus am Kreuz ist. Es ist ganz interessant, daß ein anderer Psychiater, Dr. Friedrich VAN EEDEN sich ganz anders ausläßt als sein englischer Kollege, wenn er schreibt: „Wir verlangen nicht bloß zu existieren, sondern wir verlangen auf eine bestimmte Weise zu existieren und uns in einer bestimmten Richtung zu entwickeln in Übereinstimmung mit der Idee des Guten und Schönen, die uns innewohnt. Können wir das nicht, so ziehen wir den Untergang vor. Die Erfahrung aber lehrt uns, daß, wenn die Kraft dieser moralischen Neigung nachläßt und wir demgemäß nicht aus freier Wahl das gute Leben dem Fortbestehen vorziehen, dann die gänzliche Verweichlichung und Erschlaffung eintritt, welche Demoralisation genannt wird und welche uns gegen unsern Willen ins Verderben führt." Der junge Mensch adaptiert sich sodann oft einfach dem Milieu, das ihm als ein Stück der Gesellschaft angeboten wird, als deren Mitglied gezählt zu werden ihm eine Ehre sein muß, und doch sieht man ihn zappeln und schaukeln, schreien und Grimassen schneiden wie das Kind auf dem Mutterschoße. Es ist in der Tat
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möglich und wohl glaubhaft, daß in manchen Fällen die Ursache hiervon in einer krankhaften Konstitution und in einem schwachen Geist zu suchen ist, allein ebenso oft ist sie die Folge einer guten Erziehung, geistiger Feinheit und Reinheit des Herzens. Es ist das Kindliche, das eigentlich Menschliche im Menschen, welches, noch nicht verdorben durch Erfahrungen, sich äußern will und überall durch rohe Klänge aus heiserer Kehle abgewiesen wird. Es ist das noch kristallhelle, menschliche Gefühl, das aus der Tiefe der Seele aufwallt, das ihn sprechen und handeln läßt, mehr als das nüchterne Betrachten der Tatsachen. Er ist wahr, aufrichtig, begeistert und scheut noch zurück vor dem Kleingeld der Allgemeinheit, vor der Phrase nämlich und der maskierten Lüge. Der Mensch von 45 Jahren ist im gewissen Sinne ein niedrigeres Wesen, als der Mensch von 20 Jahren. Aller Gewinn an Erfahrung wiegt den Verlust des reinen Gefühls nicht auf. Die jugendliche Kraft ist vergoren, und die Schläge des Schicksals haben ihn für vieles gleichgültig und gefühllos gemacht und ihm die Meinung beigebracht, daß schließlich alles am besten ist, wie er e s findet. Als er noch jung war, sah er es anders an, allein es erwies sich als eine Täuschung. Dieser Mensch vergißt, daß er sich nach und nach der Seele der Gesellschaft angepaßt hat, welche viel tiefer steht als die Seele des einzelnen im Anfang des Lebens. Auch ist es nicht angenehm, erkennen zu müssen, daß man eigentlich degeneriert, und das um so mehr, je mehr man sich früher gebeugt hat oder hat beugen müssen vor der öffentlichen Meinung und der Macht der Umstände. Denn 4*
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e s gibt eine Degeneration, von welcher die Ärzte nicht sprechen, nämlich das geistige Altwerden und die Unterwerfung unter den G e i s t der Gesellschaft. W e r diesen fürchtet, sei auf seiner Hut und bemühe sich, nicht alt zu werden und sich aufrecht zu halten. S o kommt e s denn, daß das Streben und Trachten der Jugend nur zu oft von denen nicht begriffen, sondern bekämpft und verdächtigt wird, welche die J a h r e des nicht berechnenden Idealismus und des Sichselbstv e r g e s s e n s entweder nur schwach gefühlt oder nicht eingesehen haben, daß gerade die größeren Erfahrungen, auf welche sie stolz zu sein pflegten, diesen Idealismus erstickt und das S c h ö n s t e an der S e e l e zu einem kalten, gefühllosen Denkmechanismus erniedrigt haben. Das ist die Ursache des Konflikts zwischen den Alten und Jungen, zwischen Vater und Sohn, zwischen Lehrer und Schüler. Ich will mit dem allem nicht sagen, daß diejenigen, welche jung sind, den R a t der Älteren in den Wind schlagen dürfen, sie haben ihn gewiß in vielen Fällen nötig; denn die P r a x i s des S a t z e s im L e b e n : „alles durch Erfahrung", gleicht nur zu sehr den Versuchen im Laboratorium, wo sehr viele R ö h r e n und Kolben zerspringen müssen, ehe es gelingt. Andererseits aber dürfen die R a t s c h l ä g e der Älteren nicht ohne R ü c k s i c h t auf das, w a s in dem Jüngling und dem Mädchen gärt und braust, gegeben werden. D e r Strom der Energie darf nicht gehemmt, sondern muß geleitet werden. Wenn man zuweilen die Schule anklagt, daß die jungen Leute s o bald alten Männern gleichen, s o ist das mindestens zur Hälfte auf Rechnung der Familie zu
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setzen, w o man es manchmal darauf a b g e s e h e n zu haben scheint, das Menschlichste und Persönlichste im Kinde im K e i m e zu ersticken, indem man ihm schon früh mit allerlei verkehrten Lehren sogenannter praktischer Lebensweisheit auf den Leib rückt; mit Lehren wie die, die Menschen seien s o schlecht, daß man niemandem Vertrauen schenken dürfe und diese und j e n e krummen W e g e gehen m ü s s e , wenn man zu etwas kommen wolle, das soll natürlich heißen, zu materiellem Besitze. S e l b s t wenn all das unbestreitbare Tatsachen wären, s o wäre es doch nicht gut, junge Leute mit dieser traurigen Menschenweisheit zu belästigen. W e r jung ist und nicht in dürftigen Verhältnissen aufgewachsen ist, hat eine andere, viel s c h ö n e r e Anschauung von den Dingen um sich; Bilder, welche sich, wenn sie nicht durch diese vielgepriesenen praktischen Lehren verdunkelt und verscheucht werden, in Taten umwandeln und s o eine s c h ö n e r e , greifbare Wirklichkeit hervorbringen werden. Die schönen Dinge der Gesellschaft kommen nämlich von den schönen Gedanken und die häßlichen Dinge von den häßlichen Gedanken. Zwar sind viele Eltern damit nicht einverstanden. Soll ich darum s o viel Geld für die Erziehung meines S o h n e s ausgeben, sagt der weltkluge Vater, damit er später eine Kleinigkeit zum Glücke der noch ungeborenen G e schlechter beitragen kann? W a s geht es uns an, w a s e s auf die Dauer mit der Menschheit und der Gesellschaft für einen Verlauf nimmt? Wir sind nun einmal da und brauchen nur dafür zu sorgen, daß e s uns gut geht, und haben uns um andere nur s o viel zu bekümmern, als es uns selbst zum Vorteil dienen kann. S o betrachtet
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man denn in manchen Familien ein Kind mit ängstlichen Augen, das schon frühzeitig Neigung zur Aufopferung zeigt und in den Entwicklungsjahren Begeisterung für Dinge verrät, bei denen keine Möglichkeit vorliegt, aus ihnen klingende Münze zu schlagen. Dann kommt man mit den weisen, praktischen Lehren und tötet, oder sucht wenigstens zu töten, was zu allen Zeiten als das Beste und Höchste beim Menschen gegolten hat, die Liebe zu einem Ideal, zur Humanität und zur Religion. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Gesellschaft nicht schöner aussieht, als sie ist, wenn man in der Familie stets die Selbstsucht obenanstellt. „Wo in einer Gesellschaft," sagt MAUDSLEY, „der Egoismus bewußt oder unbewußt die Herrschaft führt, da ist es mit dem individuellen und gesellschaftlichen Geist zu Ende, und eine solche Gesellschaft ist dem Tode geweiht, wenn nicht zu guter Stunde Ausbrüche gewaltiger, halb unbewußter, sozialer Kräfte erfolgen, welche die Menschen zu den normalen Gefühlen von Solidarität zurückbringen." „Wenn ich," sagt dieser berühmte P s y chiater, „in dieser Hinsicht meine Erfahrungen preisgeben darf, so kenne ich niemanden, der eine größere Aussicht hat, bei seinen Nachkommen Irrsinn ausbrechen zu sehen, als das beschränkte, in sich selbst gekehrte, argwöhnische, mißtrauische, lügnerische und sich selbst betrügende Individuum, das von Natur und durch Gewohnheit nicht imstande ist, mit sich selbst und mit anderen seiner Art in eine aufrichtige, gesunde Gemeinschaft zu treten." In seiner „Pathology of the Mind" aber sagt er: „Es ist nicht zu verkennen, daß das Ziel, nach dem ein
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Mensch fortwährend strebt, das stets in seinem Geist lebt und zu dessen Erreichung er alle Kräfte anspannt, von Einfluß auf seinen Charakter ist und daß ein Leben, welches lediglich dem Z w e c k e , reich zu werden, gewidmet ist, auf seine Menschenart verderblich einwirkt." Nicht bloß, daß der W e c h s e l des Glücks manchmal das geistige Gleichgewicht des Menschen stört, der sich in große Spekulationen eingelassen hat, oder daß ein Bankrott infolge einer finanziellen Krisis, welcher die Arbeit eines ganzen L e b e n s plötzlich zunichte macht, die Energie eines Menschen völlig lähmt und ihn zur Melancholie führt, sondern vor allem die Beschränktheit seines selbstsüchtigen L e b e n s z w e c k s , die langsam aber sicher das Gefühl und die Verantwortlichkeit einer größeren Gemeinschaft als der des Familienkreises absorbiert, ist e s , welcher die altruistischen Elemente seiner Natur schwächt und vernichtet. E s gibt vielleicht keine tiefere Ursache der geistigen Entartung, als der gewöhnliche beschränkte L e b e n s g a n g eines Kaufmanns, dessen ganze S e e l e in dem Erlangen von kleinen Gewinnen aufgeht, der unter der Sanktion der Gebräuche in seinem Handel systematisch stiehlt und betrügt und der glaubt, er könne das, w a s er während der W o c h e an Ungerechtigkeiten begangen habe, dadurch wieder gut machen, daß er die religiösen Vorschriften über den Sonntag peinlich beobachtet. Ein solcher hat wenig Aussicht, Kinder mit einer gesunden moralischen Konstitution zu b e k o m m e n ; seine Hoffnung, eine Familie zu hinterlassen, die dauern wird, ist e b e n s o eitel als die Hoffnung, auf einem morastigen B o d e n ein Haus bauen zu können, das nicht einstürzen wird. D i e s e
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Verschlimmerung der menschlichen Art wird, wenn nicht der Einfluß einer geistig gesunden Frau das Gleichgewicht herstellt, als ein b ö s e s Erbstück auf seine Kinder übertragen werden und wird sich in der einen oder anderen F o r m sittlicher oder intellektueller Minderwertigkeit äußern, vielleicht in großartiger Falschheit und Heuchelei, vielleicht geradezu in völligem Irrsinn. Um nun nach dieser kleinen Abschweifung wieder zu unserem Thema zurückzukehren, s o muß vor allem darauf geachtet werden, daß die geschlechtliche Entwicklung regelmäßig verläuft. In Verbindung mit der allgemeinen Frühreife nervöser Kinder erwacht auch der Fortpflanzungsinstinkt bereits früh, und im späteren Leben ist er schwer innerhalb der Schranken zu halten, welche die G e b o t e der Gesundheit und der Sitte aufstellen. Die Zahl nervöser Jünglinge der Großstädte, welche in diesen Jahren durch die sexuelle Leidenschaft zugrunde gehen, ist nicht gering anzuschlagen, und es gibt zu denken, daß vor einigen Jahren etliche zwanzig P r o f e s s o r e n sich veranlaßt sahen, ernste Warnungen an die deutschen Studenten zu richten. „Wer vor seinem 25. L e b e n s j a h r sich der sexuellen Leidenschaft ergibt," sagt der schon genannte Vorstand des Irrenhauses zu Edinburgh, „begeht ein Verbrechen an der Natur." Man kann über einen solchen Ausspruch die Achseln zucken und lächeln, allein nicht jeder besitzt die Erfahrung eines Irrenarztes und weiß, daß die Entwicklungslehre des Menschen diesen Ausspruch rechtfertigt. Man ist gegenwärtig darüber einig, daß man junge Leute nicht in vollständiger Unwissenheit von der Bedeutung der Geschlechtsfunktionen aufwachsen
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lassen darf, und es sind in letzter Zeit mehrere Schriften erschienen, welche sowohl die Eltern als die Jugend hierüber unterrichten. „Es gab eine Zeit," schrieb HUFELAND vor mehr als hundert Jahren, „daß der deutsche Jüngling nicht früher an Verkehr mit dem anderen Geschlecht dachte, als in seinem 24. oder 25. Jahre, und dennoch wußte man damals nichts von den schädlichen Folgen, welche diese Enthaltsamkeit haben sollte, nichts von den Krankheiten und s o manchem anderen Ungemach, wovon man jetzt träumt. Dagegen nahm man an Wachstum zu, man wurde stark, und es gab Männer, welche durch ihre Größe die R ö m e r sogar überraschten. Heute hört man auf, wo unsere Vorväter angefangen haben, man glaubt sich der Last der Keuschheit entledigen zu können, man macht sich die lächerlichsten Vorstellungen von dem Nachteil, den die Enthaltung mit sich bringen könnte, und so beginnt ein junger Mann schon lange, ehe sein Körper sich vollständig entwickelt hat, die Kräfte zu vergeuden, welche bestimmt sind, andern das Leben zu schenken. Die Folgen liegen klar zu Tage. Solche Menschen bleiben unvollkommene Menschen, und in dem Alter, wo unsere Vorfahren erst anfingen, diese Kräfte zu gebrauchen, sind sie schon mit ihnen fertig und empfinden nun nichts als Widerwillen und Ekel." Durch welche Mittel lehrt man den jungen Menschen am besten, die geschlechtliche Leidenschaft zu beherrschen? D a s ist eines der schwierigsten Probleme der ganzen Erziehung, und wir glauben nichts B e s s e r e s tun zu können, als nochmals dem berühmten schottischen Arzte Dr. CLOUSTON das Wort zu geben, der, was
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nicht jeden Tag geschieht, bei der katholischen Kirche in die Lehre geht. „Es ist seltsam," sagt dieser Arzt, „daß die physiologischen Folgerungen aus den Vorschriften der katholischen Kirche, welche Bezug haben auf den nisus generativus (den Geschlechtstrieb) mittels Diät und anderer Vorschriften von unseren modernen Ärzten so sehr vernachlässigt worden sind." Die theologischen Ausdrücke in die physiologische Sprache übersetzt, ergeben folgende Regeln: 1. V e r s t ä r k e j e d e g e i s t i g e w i e k ö r p e r l i c h e Inhibition. D a s fußt darauf, daß eine Handlung, welche einer gewissen Vorstellung folgen will, durch das Auftreten einer anderen Vorstellung ausbleiben kann; das Streben muß also auf Selbstbeherrschung durch religiöse, sittliche oder wissenschaftliche Erwägung ausgehen. 2. G e w ö h n e d e i n e n G e i s t d a r a n , s i c h zu k o n z e n t r i e r e n u n d l e i t e ihn v o n g e w i s s e n G e d a n k e n b a h n e n a b , z. B. durch Enthaltung von sinnlicher Lektüre. 3. B e m ü h e d i c h , I d e a l i s m u s u n d E n t h u s i a s m u s zu e r w e c k e n . Mache darum die jungen Leute nicht gar zu praktisch, indem du ihre „Schwärmerei" für Unsinn erklärst und sagst, sie verstehen von der Wirklichkeit noch nichts. L a s s e sie so lange wie möglich Kind sein und zerstöre die schönen Ideen, in welchen junge Leute glücklich sind, nicht absichtlich. 4. T r a c h t e d a n a c h , i d e e l l e W e g e f ü r d i e s e x u e l l e E n e r g i e zu f i n d e n : Gesang, Musik, Dichtkunst, Malerei, Wissenschaft. 5. S c h l a f e s o l a n g e , b i s d i e v e r b r a u c h t e n G e -
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w e b e w i e d e r a u f g e b a u t s i n d und d i e v e r l o r e n e Kraft wieder hergestellt ist, j e d o c h nicht s o l a n g e , d a ß zu v i e l E n e r g i e e n t s t e h t , d i e s i c h a n h ä u f t und s i c h d u r c h d i e s e x u e l l e V e r r i c h t u n g a u s l ö s e n will. 6. G e n i e ß e n u r n i c h t r e i z e n d e und b e s o n d e r s f e t t b i l d e n d e S t o f f e , alle a b e r mit Maß. 7. F a s t e zu b e s t i m m t e n Z e i t e n , s o d a ß d i e ü b e r f l ü s s i g e n N a h r u n g s s t o f f e im K ö r p e r v e r braucht werden können. 8. Iß k e i n F l e i s c h , d e n n e s e r z e u g t i m p u l s i v e , u n b e z w i n g b a r e und s e l b s t s e x u e l l e K r ä f t e . 9. H a l t e d i c h v i e l im F r e i e n a u f und a r b e i t e kräftig. 10. V e r w e n d e a l l e d e i n e Z e i t n a c h b e s t i m m t e r O r d n u n g , s o daß a u c h n i c h t e i n e M i n u t e für sinnliche, kraftverzehrende Träumereien übrig bleibt. *
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Wir wollen nun sehen, wie auf das n e r v ö s e Kind geistig eingewirkt werden muß. D e r Geist steht, wie wir wissen, nicht für sich allein da, sondern hat als seine Organe Gehirn und Nerven nötig, deren Gesundheit von derjenigen des ganzen L e i b e s abhängt. J e d e körperliche Störung von einiger Bedeutung hat Einfluß auf den Geist und j e d e sinnliche Wahrnehmung, j e d e r G e d a n k e und j e d e Empfindung bewirkt in mehr oder weniger hohem Grade eine Veränderung in dem Körper. D a s ist durch die Physiologen experimentell nachgewiesen. W e r auf den G e i s t eines andern einwirken will, darf nicht v e r g e s s e n , auch auf sein Gehirn und seine Nerven einzuwirken, und da diese
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direkt oder indirekt alle körperlichen P r o z e s s e beherrschen, so wird durch geistigen Einfluß auch dem Körper geschadet oder genützt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein Lehrer, der einen unterhaltenden Unterricht gibt, immer wieder neues Interesse zu wecken versteht und von den Kindern geliebt wird, auch die körperliche Gesundheit seiner Schüler befördert. Nichts stärkt die Nerven so sehr, sagt G e o r g e ELIOT mit Recht, als das Gefühl von Glück. Schon vom hygienischen Standpunkte aus betrachtet, muß der Persönlichkeit des Lehrers eine große Bedeutung zuerkannt werden. Wenn einmal die Gesellschaft so weit vorangeschritten ist, daß jeder denjenigen Beruf wählen kann, für den seine Natur am besten g e eignet ist, wird man einen Lehrkörper bekommen, der den höchsten Anforderungen genügt. Gegenwärtig ist von einer Berufswahl keine R e d e ; man fällt in ein Amt oder einen Beruf oder wird in ihn hineingeworfen. Daher kommt überall der große Unterschied in der Fähigkeit und Geschicklichkeit zwischen Leuten desselben Berufs, ein Unterschied, der nicht aus der Welt geschafft wird durch das Erteilen eines und desselben Fähigkeitszeugnisses. Es sind nicht mehr die Gedanken im Kopf, das Gold im Herzen und die Gewandtheit der Hand, welche den Wert des Menschen bestimmen, sondern die Geldstücke in der Börse geben ihm seinen Wert. Die Folgen hiervon sind ja auch überall sichtbar. Wer es sich zur Aufgabe gemacht hat oder in die Lage versetzt ist, ein Kind zu erziehen, muß in erster Linie zur Einsicht kommen, daß drei Viertel der Erziehung auf das Erwecken g u t e r G e w o h n h e i t e n hin-
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auslaufen. Darum muß man von frühester Jugend an die Kinder an gute Handlungen und an eine gute Gesinnung gewöhnen, s o daß sie später ohne Anstrengung und fast unbewußt sehr vieles tun, was für sie ihr ganzes Leben hindurch gut und nützlich sein wird. Man gewöhne also die Kinder schon früh, zur bestimmten Zeit ins Bett zu gehen und aufzustehen, zu bestimmten Stunden zu essen und zu trinken; man gewöhne sie ferner, ihr Essen gut zu kauen, ihr Spielzeug und ihre Kleider in Ordnung zu halten, an Reinlichkeit, an das Sprechen der Wahrheit, an ein freundliches Benehmen gegen jedermann und an gewisse, von der Gesellschaft angenommene Höflichkeitsformen. Um alle diese Gewohnheiten beibringen zu können, muß man das Kind in erster Linie gehorchen lehren. Gewisse Dinge sollen Kinder tun, ohne zu verstehen, warum; sie haben einfach zu gehorchen. Ohne Zweifel hat der Erzieher dafür zu sorgen, daß er nicht unverständig ist und etwas verlangt, was gegen die Kindernatur verstößt. Das, was der Psychologe SULLY „eine sympathische Einsicht" in die Kinderseele nennt, ist darum sehr erwünscht; allein es ist auch sicher, daß eine zu weichliche Erziehung und eine zu schlaffe Zucht aus manchem Kind einen Schwächling macht, der sich jeder Laune überläßt und unfähig ist, in kritischen Augenblicken sich zu beherrschen. D a s Verwöhnen eines Kindes beginnt schon in der Wiege. Die mütterliche Neigung, welche nicht durch den Verstand gehemmt wird, läßt oft, vor allem den Erstgeborenen, Gewohnheiten annehmen, welche später wieder auszurotten sehr schwer ist.
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Ein B e i s p i e l : Kinder im frühesten Lebensalter weinen viel. S i e weinen, wenn sie Hunger haben, S c h m e r z empfinden, krank sind, gereinigt werden müssen; allein auch, wenn sie gewiegt oder getragen sein wollen, Licht im Zimmer zu haben wünschen, an der Mutterbrust trinken wollen u. dgl. Sobald ihrem Verlangen nachgegeben wird, sind sie ruhig. Die Mütter handeln verkehrt, wenn sie das tun. S i e legen damit den Grund zu einem leidenschaftlichen, sich schlecht beherrschenden Temperament und befördern die etwa vorhandene nervöse Anlage. Wenn die Mutter weiß, daß e s sich nicht um Hunger, Unreinlichkeit oder Krankheit handelt, s o soll sie das Kind nur schreien l a s s e n ; e s hört von selbst auf, wenn es merkt, daß sein Wunsch nicht befriedigt wird. W i e lernt nun ein Kind, gute Gewohnheiten annehmen? In erster Linie durch unbewußte Nachahmung des guten Beispiels, in zweiter Linie durch die Ausführung dessen, w a s ihm befohlen wird. Die Nachahmung ist eine allgemeine Eigenschaft junger Menschen und Tiere; man soll daher bei der Erziehung möglichst vom Sehen Vorteil ziehen. Warnungen und Befehle zur rechten Zeit sind gut, allein das Beispiel ist noch viel b e s s e r . Man ist sich der Notwendigkeit des Nachahmens der Kinder bei weitem nicht genug bewußt. W e r viel mit einem Kind umzugehen hat, wie ein Hauslehrer oder eine Erzieherin, wird manchmal auf eigene Unschicklichkeiten aufmerksam gemacht, indem er sie bei seinem Zögling wahrnimmt. D i e s e r wird zum Spiegel, in dem er sich selber sehen kann. D i e s e s Nachahmen der Kinder, eine Handlung, deren sie sich sehr oft selbst
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nicht bewußt sind, erstreckt sich bis auf Kleinigkeiten. D e r Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, die Art zu gehen und zu stehen, das B e n e h m e n bei Tisch usw. werden von dem suggestibeln Kind — und viele nerv ö s e Kinder sind sehr empfänglich für Eindrücke — nachgeahmt. E s ist darum begreiflich, daß vermögende Eltern gerne eine Erzieherin haben, die außer gewissen Eigenschaften des G e i s t e s und des Gemütes auch noch ein angenehmes Außere und einen gutgebildeten K ö r p e r besitzt. Wenn Kinder, und vor allem nervöse Kinder, bei andern manchmal die verschiedenen Ausbrüche von Leidenschaft, Zorn usw. wahrnehmen, werden sie leicht diese Äußerungen unerwünschter G e m ü t s b e w e g u n g nachahmen. Nervöse Kinder sind sehr leicht reizbar, jähzornig und bald verstimmt. S i e können ihre Empfindungen nur schlecht beherrschen, sodaß Zornesausbrüche, launischer Trotz und trübe Stimmungen nicht selten vorkommen. E s ist nun die Frage, w a s man tun soll: soll man s o gut wie möglich die Ursachen v e r m e i d e n , infolge deren bei dem Kinde starke Gefühlsreaktionen (Zorn, trübe Stimmung usw.) folgen, oder soll man diesen Einflüssen nicht s o ängstlich ausweichen und sich bemühen, daß das Kind seine Empfindungen zu b e h e r r s c h e n lernt. Ein französischer Arzt, LEVILLAIN, will alles vermeiden, w a s das Gemüt in Aufregung bringt; P r o f e s s o r ZIEHEN dagegen verwirft das und will selbst in ausgesprochenen Fällen von Nervosität absichtlich methodisch steigende R e i z e einwirken und das Kind systematisch eine R e i h e von Emotionen durchmachen lassen, um zugleich durch Gegenvorstellungen den Nervenapparat in Tätigkeit zu
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setzen und dadurch die Emotionen zu hemmen und zu unterdrücken. Diese Heilmethode, die sog. H e m m u n g s t h e r a p i e , will man auch anwenden, um eine zu große Furchtsamkeit zum Verschwinden zu bringen. Man bewirkt das u. a. durch Hervorbringen unerwarteter Geräusche, die natürlich anfangs sehr schwach sein müssen, und auch dadurch, daß man das Kind bei stärkeren Geräuschen vorher darauf aufmerksam macht, s o daß es auf der Hut sein kann. W a s P r o f e s s o r ZIEHEN will, ist also einfach Übung in der Selbstbeherrschung, ein Rat, der dem des französischen Arztes vorzuziehen sein wird, angesichts dessen, daß sich später im Leben doch eine große Anzahl von Umständen einfinden werden, welche das Gemüt in Aufregung bringen und das Nervensystem stark erschüttern werden, wenn der durch Hemmungsvorstellungen wirkende Nervenapparat nicht durch Übung stark genug geworden ist, um die Empfindungen innerhalb gewisser Grenzen zu halten. Bereits Goethe wandte diese Heilmethode bei sich an, indem er in einem Spitale Operationen beiwohnte, um seine starke Empfindlichkeit zu mäßigen. Man muß also bei der Erziehung nervöser Kinder vor allem auf S e l b s t b e h e r r s c h u n g sehen, doch darf man auch wieder nicht zu weit gehen und jede G e mütsbewegung systematisch zu ersticken trachten, wodurch jene kalten, gefühllosen Wesen gebildet würden, die später für nichts zu begeistern sind, als was ihr eigenes Interesse berührt. Die Menschen müssen für Gemütsbewegungen empfänglich sein, darin liegt nichts Krankhaftes; das Abnorme aber fängt dann an, wenn
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ein ganz geringer Reiz eine sehr starke Gefühlsreaktion hervorruft. Feinfühligkeit ist ein Zeichen von Bildung; starke und grobe Äußerungen dieser Empfindlichkeit sind Beweise von Mangel an Selbstbeherrschung und guter Erziehung. Ein großer Fehler, der manchmal in der Familie gemacht wird, ist der, daß man bei seinen Befehlen und Vorschriften nicht konsequent ist. Dieses Fehlers macht sich vor allem die nervöse Mutter schuldig, die sich selbst nicht zu beherrschen weiß. Das einemal ist sie übertrieben nachsichtig, dann wieder übermäßig hart und streng. Heute verbietet sie dem Kinde, w a s sie morgen wieder zugibt; in dem einen Augenblick ist sie auf das Kind sehr böse, und ein paar Minuten nachher hängt ihr Liebling ihr am Halse. D a s ist durchaus verkehrt. Die Kinder, seien sie nervös oder nicht, müssen unter Gesetzen aufwachsen, an denen nicht gerüttelt werden darf, und bei Kindern mit nervöser Anlage sei man um so mehr darauf bedacht, daß von der Regel nicht abgewichen wird. Hier ist der militärische Geist am Platze. D a s will nicht besagen, daß man hart und unmenschlich sein soll; man zeige einen festen Geist, Stetigkeit des G e müts und wisse immer genau, w a s erlaubt ist und w a s nicht. D a s erfordert viel Takt und Überlegung, denn man darf zwar das Kind nicht von sich abstoßen, hat man aber einmal einen Befehl gegeben, so darf von einem Murren und Widerstand keine Rede sein, vor allem muß gehorcht werden. Gerade in unserer Zeit, wo man von Kinderrechten spricht, läuft man Gefahr, zu vergessen, daß es auch Kinderpflichten gibt. Ein B O S M A , Nervöse Kinder.
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frecher Freiheitsgeist und schlaffe Zucht sind die Folgen einer solchen sentimentalen Anbetung der Kinder, durch welche dem Kinde selbst am meisten geschadet wird. Wenn Festigkeit des Charakters das Ziel ist, nach dem man streben muß, dann ist sicher ein übertriebener Freiheitsgeist in der Erziehung verkehrt. Die Schule Tolstois erzeugt schlechte Tolstoianer, denn wie sich die Gesellschaft auch umbilden mag, das R e c h t auf Freiheit des einen wird stets das R e c h t auf Freiheit des andern beschränken. B e i der Erziehung ist Disziplin nötig, und bei nervösen Kindern ist strenge Disziplin ein dringendes Bedürfnis. Früher beging man den Fehler, nicht mit der Kindernatur zu rechnen, dann trat das Gegenteil ein und man ließ das Kind einfach gehen. E s herrschte das laissezfaire in der P ä d a g o g i k . Die Folgen hiervon waren: Nervosität, Launenhaftigkeit und Verschwendung von Energie auf allerlei W e i s e . Jetzt kehrt man wieder etwas mehr zur alten Schule zurück. In der P ä d a g o g i k ist es nahezu zu einem Axiom geworden, daß die sittliche Seite der Erziehung die hauptsächlichste ist. Eine Gesellschaft von guten Menschen, meint man, wird angenehmer und glücklicher sein als eine Gesellschaft von gescheiten, b ö s e n und gewissenlosen Menschen. Wenn man einen Blick auf die Gesellschaft wirft und wahrnimmt, wie ungesellschaftlich e s da aussieht, wie einzelne in erschlaffendem Überfluß schwelgen, während andere in drückender Armut leben, wie oft das Unrecht über das R e c h t siegt und die Dummheit die Weisheit beherrscht, s o ist man
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geneigt zu glauben, daß es mit der sittlichen Bildung der Menschen noch nicht weit gekommen ist. Es sind gerade solche Tatsachen, die bewirken, daß viele von der ganzen Tugendpredigt am liebsten gar nichts hören wollen. Man mag sich noch s o sehr bemühen, gute Menschen heranzubilden, sagt man, so verdirbt sie doch die Zusammensetzung der Gesellschaft. Man verändere die ökonomische Grundlage des Zusammenlebens, dann werden die Menschen von selber gut. D a s ist nicht ganz richtig, aber angenommen, daß in einer auf Zusammenarbeiten beruhenden Gesellschaft viele Untugenden ohne jegliches Erziehungsmittel verschwinden würden, s o ist doch die Frage: durch welchen Hebel macht man die Gesellschaft anders? Wer soll es tun? Menschen natürlich, Menschen mit erleuchteten Ideen, welche durch ein reines Gefühl geleitet werden; Menschen vor allem, welche, wenn es sein muß, ihr Ich unterdrücken können, aufopfernde Naturen, aber auch disziplinierte Geister. Gute Handlungen gehen aus guten Gedanken hervor, allein niemals, ohne daß zuvor das Gemüt in B e w e g u n g gesetzt wird. D a s G e fühl ist die Grundlage des menschlichen Bewußtseins. Wenn man durch alle Zeiten hindurch Männer und Frauen mit Aufopferung von vielen weltlichen Vergnügungen für eine bessere Gesellschaft kämpfen sieht, dann ist die Kraft, welche ihr Denken zur Tat werden läßt, in der Tat das Gefühl. Es ist das Mitleid oder der Abscheu vor Unrecht oder die Beleidigung des Schönheitssinnes, welche der Antrieb zur Bewegung werden, kurz, es ist immer etwas, das im Gemütsleben wurzelt. Es gibt Leute, die zugeben, daß die ethische Ent5*
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wicklung des Menschen die Ursache des wahren g e sellschaftlichen Fortschrittes ist. Allein sie haben ein B e d e n k e n und zwar dieses, daß der moralisch hochstehende Mensch seinem eigenen Glück im W e g e steht, insofern fest eingewurzelte Sittlichkeitsbegriffe es ihm schwerer machen werden, seine materiellen L e b e n s b e dingungen erfüllt zu bekommen. S i e gehen von der Erfahrungstatsache aus, daß, wenn auch das Glück nicht mit materiellem B e s i t z zusammenfalle, doch ohne ein g e w i s s e s Maß von materiellem Wohlstand von Glück nicht die R e d e sein könne. Alle Menschen, sagen sie weiter, sind sich dessen fast instinktmäßig bewußt, darum geht ihr Kampf gegeneinander in erster Linie um materielle Dinge. In Anbetracht dessen aber, daß jeder einen Teil dieser materiellen Dinge haben muß und daß man um sie mit allerlei Waffen streitet, von denen viele vor keiner Ethik bestehen können, ist e s nicht gut, ein Kind moralisch s o zu erziehen, daß e s ihm später schwer fallen oder selbst unmöglich wird, dieselben Kampfmittel zu gebrauchen. Denn das würde für Menschen, die nicht vom Staat ernährt und gekleidet und pensioniert werden, die Armut mit all ihren Folgen bedeuten. Mit dem denkenden Verstand ist dieses Raisonnement schwer zu widerlegen, und doch gibt es niemand, auch nicht unter denen, die s o sprechen, der sein Kind absichtlich zu einem gescheiten Schurken großziehen will. Wie heftig auch der Kampf ums D a sein sein mag, s o wagt man sich doch in keiner Familie an die volle K o n s e q u e n z einer solchen Lehre und hält man bei der Erziehung immer noch ein Auge auf ein s c h ö n e s Ideal gerichtet, anstatt mit beiden auf die häß-
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liehen Forderungen der Gesellschaft zu sehen. Es ist auch ein Glück, daß es so ist, allein es wäre doch besser, wenn man beide Augen auf das Bild des guten Menschen gerichtet hielte; denn wer sagt, er wolle seinem Kinde eine sittliche Erziehung geben und zugleich die Forderungen der Gesellschaft in Betracht zieht, verfehlt den W e g vollständig. Als die höchsten Dinge müssen daher ohne Zweifel W a h r h e i t , G e r e c h t i g k e i t und P f l i c h t dargestellt werden. Wie muß man es anfangen, daß auch ein Kind nach und nach diese Dinge als die besten Güter ansieht? Gewiß nicht durch Predigen über diese Tugenden, sondern dadurch, daß man sie gewöhnt, sich in ihrem Denken und Handeln nach ihnen zu richten. Das gute Beispiel in der Familie steht hier wieder im Vordergrund; die Schule ist sich dieser Aufgabe recht bewußt. In zweiter Linie kommen Erzählungen, worin handelnde Gestalten auftreten, die hohe Prinzipien verkörpern und nach denen sich das Kind gerne richtet. Gute Erzählungen und gute Lektüre haben einen großen charakterbildenden Einfluß, ein Fluch aber der Lektüre, die schlechte Bilder vor den Geist zaubert! Auch diese werden nachgeahmt werden, und zwar um so mehr, als das Kind suggestibel ist, weniger Selbstbeherrschung besitzt, was gerade beim nervösen Kind der Fall ist. Es ist schon früher die Rede gewesen von dem im Befolgen der Vorschriften der Moral und der Religion übergewissenhaften Kind. Es ist wahr, es gibt solche Kinder. Schon in sehr jugendlichem Alter haben sie Auffassungen von Recht und Pflicht, welche manche älteren beschämen könnten. Es ist die Frage, ob diese
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moralische Frühreife erwünscht ist. Während der Schulzeit haben sie ein schlimmes Leben, denn die Mehrheit begreift sie nicht und hat das nicht gern, was exzeptionell ist. Es ist deshalb angezeigt, das Sündenbewußtsein bei diesen Kindern etwas abzuschwächen. Bei diesem Typus wird man hie und da darauf hinweisen müssen, daß dies und j e n e s nicht so schlimm ist, und namentlich in den Pubertätsjahren sei man auf der Hut; dann haben gerade diese sittlich Frühreifen eine starke Neigung, sich abzusondern, zu onanieren und unter dem Einfluß religiöser Lehren zu schwärmen, drei Faktoren, die vollkommen imstande sind, den jungen Menschen ins Irrenhaus zu bringen. Man schicke daher solche Kinder ins Freie, beschäftige sie auf dem Feld, lehre sie schwimmen, lasse sie turnen, Rad fahren und halte sie von einer Lektüre frei, die sinnliche Vorstellungen vor den Geist bringt oder ihre Gewissenhaftigkeit verstärkt. Eltern, welche bei der sittlichen Erziehung ihrer Kinder in erster Linie von der Bibel Gebrauch machen wollen, seien an die Warnungen von Prof. H. SCHILLER, einem der ersten Pädagogen Deutschlands, erinnert, der erklärt und dafür Beweise hat, daß die Onanie schon aus dem Lesen gewisser Bibelstellen hervorgegangen ist. Ein anderer sehr wichtiger Punkt, auf den man bei der Erziehung, insbesondere nervenschwacher Kinder zu sehen hat, ist die E i n f a c h h e i t . Einfachheit in Kleidung, Nahrung und Genuß. Kinder reicher Eltern haben meistens zu viel Spielzeug, und was bei der erwachsenen menschlichen Gesellschaft gilt, ist auch in der Kinderwelt wahr: großer Besitz
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erschlafft. Schon durch zu viele Genüsse können Kinder bereits in ganz jugendlichem Alter nervös und blasiert werden. Es soll immer etwas übrig bleiben, um danach zu streben, und es ist verkehrt, Bedürfnisse zu schaffen, die später, sei es infolge von Wechselfällen des Schicksals, sei es durch Veränderungen in der Gesellschaft, nicht befriedigt werden können. Ich habe einen Knaben von 7 — 8 Jahren gekannt, der ganze Kasten von Spielzeug sein nennen durfte; es war so kostbares Spielzeug, daß manches junge Paar mit dem dafür ausgegebenen Geld einen Haushalt hätte anfangen können. Der Junge konnte all diesen Besitz unmöglich übersehen und behandelte ihn schlecht. Bald führte er die Rappen über den Gang, fünf Minuten später mußten die Schimmel aus dem Stall, dann zogen ihn auf einmal die Klötze an, oder es machte ihn, wenn er den Turm halb gebaut hatte, das Gellen einer Dampfpfeife auf seine Lokomotive im Kasten aufmerksam, dann mußte diese dampfen. Und doch war er von all den Spielen nicht befriedigt und ließ alles auf dem Gang stehen, sodaß es das Dienstmädchen aufräumen mußte. Als sein Hauslehrer ihn auf dem Spaziergang aus einem Stück Holunderholz einen Pfropfschießer machen lehrte, war der Junge ganz entzückt. Als ihn der Lehrer dann in die Werkstatt eines Küfers brachte und ihm deutlich machte, welch schönes Spielzeug in so einem halbverrosteten Reif von einem wertlosen Fasse steckt, war es, als werde ihm eine höhere Weisheit geoffenbart, und triumphierend kehrte er mit seinem eroberten Schatz in die Villa zurück und legte die rostige Beute in der Freude seines jugendlichen Herzens seiner Mama vor
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die Füße. Einige Marmeln und eine Treibschnur, die er bekam, machten ihn vollends glücklich. Nach seinem reichen Kasten sah er sich kaum mehr um; diese einfachen Sachen machten ihm unendlich mehr Freude und besserten sein reizbares, ungeduldiges, manchmal mürrisches Gemüt nicht wenig. Für nervöse Kinder, wie auch für Erwachsene ist eine g e r e g e l t e A r b e i t s w e i s e von großem Wert. Die Nervosität beruht oft bloß auf schlechten Gewohnheiten des Gehirns und ist oft bloß die Folge von Mangel an Arbeit, namentlich an passender Arbeit. Personen mit nervösem Temperament haben oft ein aktives Hirn und wenn der Arbeitsdrang gutgenährter Gehirnzellen keinen Ausweg in passender Arbeitsamkeit findet, so treten Erscheinungen von Nervosität auf. S o entstehen auch verkehrte Emotionen und Stimmungen, Ausbrüche von Zorn, Haß und Rache (Maurice DE FLEURY). Für manche nervöse Menschen, vor allem für solche von sensorischem Typus, ist das Nichtstun um so nachteiliger, weil sie ohnedies schon sehr empfänglich für Willenslähmung (Abulie) sind. Bei solchen Personen können zu sehr lähmende Vorstellungen auftreten: sie grübeln zu viel und denken zu sehr nach. Auch geschieht es, daß die B e w e g u n g s vorstellung in keine Handlung übergeht infolge eines niederdrückenden Gefühls, das aus schwächlicher G e sundheit oder moralischem Schmerz hervorgeht. Oder aber es sind psychische Kräfte unterhalb der Schwelle des Bewußtseins, die die Willenslosigkeit verursachen. Sei dem wie ihm wolle, nicht bloß bewußte Motive bestimmen eine Handlung; es gibt noch viele andere,
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nicht genau bestimmbare Ursachen, welche das fiat geben und an die Bewegungsvorstellung erinnern können (MAUDSLEY). Indessen lehrt die Erfahrung, daß nichts den Willen so sehr stärkt als geregelte Arbeit. Die Willenlosen erinnern manchmal an Pferde, die an einer gewissen Stelle stehen bleiben und nicht mehr fortzubringen sind. Sie wedeln mit dem Schweif und steigen in die Luft, allein sie kommen keinen Schritt vorwärts; auf einmal, man weiß nicht wie und warum, kommen sie in Zug und traben davon. S o ist es auch bei vielen Menschen; es ist darum angezeigt, daß sie im Trab bleiben, das heißt, sich an regelmäßige Arbeit gewöhnen. Personen, welche für solche Anfälle von Paralyse des Willens empfänglich sind, meistens gefühlvolle, nachdenkliche und begabte Naturen, tun gut daran, zu solchen Zeiten mit irgend etwas anzufangen, wozu sie sich imstande fühlen, wenn auch diese Arbeit noch so wenig mit der Aufgabe zu tun hat, welche sie nicht zur Ausführung bringen können. Wie schon gesagt, hängen diese Erscheinungen zuweilen mit deprimierenden Gemütszuständen zusammen und werden noch durch einseitige Unterrichtsmethoden gefördert, bei welchen das Aufnehmen die Hauptsache ist, während sie das gleich notwendige Sichausdrücken und das Handeln ganz vernachlässigen. Wenn regelmäßige Arbeit gesund ist, s o führt zu viel Arbeit zur Erschöpfung der Nervenzellen und macht nervös. Es ist durchaus wahr, daß viele junge Leute in den Jahren, wo sehr viel Energie für ein kräftiges körperliches Wachstum verbraucht werden muß, den
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Nervenzellen zu viel zumuten, welche die Seele als Organ nötig hat. Der Erzieher muß stets die wichtige Tatsache vor Augen haben, daß die geistige Arbeit auch Gehirnarbeit ist und daß das Gehirn nur über eine bestimmte Quantität Energie zu verfügen hat, die nicht bloß zu psychischen, sondern auch zu allerlei körperlichen Verrichtungen dienen muß. Es gibt allerdings verschiedene G e hirngebiete, von denen jedes seine bestimmte Funktion hat, allein es kann kein einzelner Teil überarbeitet werden, ohne daß alle anderen Teile darunter leiden. D a s Hirn eines Kindes, eines Mannes oder einer Frau besitzt die nötige Energie, aber auch nicht mehr. Wenn ein Kind zur Welt kommt, sind alle Zellenelemente des Gehirns bereits in der Anlage vorhanden; es kommt nichts mehr dazu, sie können bloß durch Nahrung und Sinnesreize sich weiter entwickeln. Die Gehirnenergie ist auf verschiedene Gebiete (Zellengruppen) verteilt: so viel für die geistigen Prozesse, so viel für die Zentren, welche die Reize für die Muskelbewegung liefern, so viel für die Atemholungszentren usw. Wenn nun eine dieser Zellengruppen mehr Energie verbraucht als ihr zukommt, s o geht das auf Kosten der anderen Zentren. Es geht bei dem Gehirn wie bei einem Hause, das verschiedene Zimmer hat, welche durch ein Dynamo elektrisch beleuchtet werden. Schickt man zu viel Licht nach dem Salon, s o läuft die Küche Gefahr, dunkel zu bleiben. Übermäßig geistige Anstrengung schadet insbesondere noch dem Mädchen, insofern es seinen Fortpflanzungsinstinkt schwächt, so daß verschiedene Ärzte die abnehmende Fruchtbarkeit
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der Frauen in hoch gebildeten Städten, z. B. Boston in Amerika, dem übertriebenen Studium der Mädchen zuschreiben. Zum Glück bemerken wir gegenwärtig eine Reaktion gegen die Hausaufgaben und gegen das unruhige Studieren auf fortwährend nahende Prüfungen, Schreckbilder, welche dem Nervensystem auf zweierlei Art schaden: einmal durch erschöpfende Aufregungen, die der bloße Gedanke an das Examen bei vielen erregt, und dann durch die große geistige Anspannung, welche das Studium auf das Examen verlangt. Der erste Faktor wiegt indessen am schwersten: es werden mehr Menschen nervös und irrsinnig durch starke Gemütsbewegungen, als durch rein geistige Arbeit, wie es z.B. das Bearbeiten einer philosophischen Frage oder das Übersetzen eines Lateinstückes ist. Die Examina können jedoch nicht ganz abgeschafft werden; die Gesellschaft hat ein gewisses Interesse daran, daß z. B. Ärzte und Lehrer gewissen Anforderungen genügen, allein es ist auch hier zu wünschen, daß das Examen auf ein Minimum beschränkt wird, und vor allem treffe man eine solche Einrichtung, daß nur die zu diesem Fache Geeignetsten zugelassen werden. Wozu kann es aber gut sein, wenn ein mittelmäßig begabtes Kind auf einen wissenschaftlichen Beruf vorbereitet wird? Die Gesellschaft braucht doch Arzte, die eine gute Diagnose stellen können usw. Oder glaubt man, das alles könne man durch das Examen bekommen? Allein die Eitelkeit unwissender Eltern treibt Kinder, welche nicht zum Studium taugen, vielfach doch dazu, so daß die Kinder die Eitelkeit ihrer Eltern manch-
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mal mit einem ruinierten Nervensystem und wenig Glück und Erfolg in ihrem Fach büßen müssen, zu dem sie einmal nicht taugen. Ich glaube, mit den rein geistigen Fächern stünde es am besten, wenn jedem Menschen Gelegenheit gegeben würde, zu studieren, vorausgesetzt, daß kein besonderer höherer finanzieller Vorteil damit verbunden wäre. Wer aus Begeisterung, aus Neigung, aus Beruf also, zum Studium käme, würde bleiben; viele aber, welche aus anderen Motiven in den Tempel der Wissenschaft treten, würden ihn nach kurzer Zeit wieder verlassen, ganz abgesehen von der großen Säuberung, welche durch das Wegfallen des Geldreizes eintreten würde. W a s man an Quantität verlöre, würde sicher an Qualität wieder hereinkommen. Da nervöse Kinder für alle Eindrücke sehr empfindlich sind, wird e c h t e K u n s t veredelnd auf sie wirken. AHein verschiedene Nervenärzte warnen davor, künstlerische Neigungen frühzeitig zu erwecken. Vor allem halten sie das frühzeitige Beginnen mit Musikstunden und namentlich das Klavier- und Violinspiel für nachteilig. Kinder aber, die nun einmal keine Anlage zur Musik haben, doch zu zwingen, jeden Tag eine Stunde lang am Klavier zu sitzen, heißt nichts anderes, als sie systematisch nervös machen. Es ist fast selbstverständlich, daß für nervöse Kinder das Landleben besser ist als das Stadtleben. Nervöse Stadtkinder müssen ihre Freizeit möglichst außerhalb der Stadt zubringen; es ist sehr nützlich, ihnen Interesse für Tiere und Pflanzen beizubringen, da dieses Interesse ein bleibender Reiz werden kann, viel in Feld und Wald herumzuschweifen.
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Die Nervosität kommt, wie gesagt, in verschiedenen Formen vor. E s sei noch angefügt, daß e s nicht vernünftig ist, alle Kinder mit einem sogenannten nervösen Temperament rundweg krankhaft oder abnorm zu nennen. E s kann nicht verkannt werden, daß gerade unter gewissen Nervösen die gescheitesten K ö p f e gefunden werden; ihr stärkeres Gefühlsvermögen, ihre größere Kombinationsgabe oder automatische Gedankenassoziation, wenn man e s lieber s o nennen will, und eine reichere Phantasie sind e b e n s o viele Ursachen, welche bewirken, daß sie feiner unterscheiden und zwischen Dingen einen Zusammenhang sehen, die für mehr Stabile nichts miteinander zu tun haben, und wenn sie der Wissenschaft dienen, Hypothesen aufwerfen, welche nachherige E x perimente manchmal als G e s e t z e erweisen. Man muß auch bedenken, daß wirkliche Bildung, das heißt harmonische Entwicklung von Verstand und G e müt, den Menschen empfindlicher macht. Ob nun ein g e w i s s e r Grad von Empfindlichkeit Hyperästhesie, ein Krankheitssymptom, genannt werden soll oder ein unverkennbares Zeichen echter Bildung, hängt in unserer Zeit oft von den materiellen Umständen ab unter welchen der T r ä g e r der empfindlichen Nerven verkehrt. Bewohnt er ein s c h ö n e s Herrenhaus, ist eine g e w i s s e Organisation s o human, ihm jährlich einige tausend Taler auszubezahlen und spricht er dafür einige Stunden in der W o c h e über hebräische Altertümer, dann ist ziemlich sicher zu erwarten, daß die D i a g n o s e lauten wird: ein hochbegabter Mensch, ein scharfsinniger Mann, ein Aristokrat des Geistes, der ganz in seine W i s s e n schaft verliebt ist und dessen Herz für alles S c h ö n e
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warm schlägt. Vegetiert aber der Feinfühlige in einem muffigen Keller und beschäftigt er sich an sechs Tagen der Woche mit Schuhflicken, um am siebenten aus erklärlichem Zorn das gute Recht einer allgemeinen Arbeitseinstellung zu beweisen oder die Ermordung eines einzigen Menschen als ein kleineres Verbrechen denn das Hinschlachten ganzer Massen, dann wird dieselbe Wissenschaft nicht zögern, den Hyperästhetischen ein Objekt ihrer Pathologie zu nennen. Es sind noch nicht viele Jahre her, daß die Entartung sozusagen in der Luft lag. Es war, kurz nachdem Nordaus Buch über „Entartung" erschienen war und die Zeitschriften eine Reihe von Namen großer Männer nannten, bei denen die Stigmata der Entartung mit Händen zu greifen seien. Wer nicht genau so aussah wie die große Menge, wer anders dachte, fühlte und vor allem handelte, als der gepriesene „Alltagsmensch" Nordaus, war entartet und hysterisch. Ich erinnere mich, daß in jenen Tagen in einem der P a r k s von London ein magerer, ungeschorener, junger Mann in einer leidenschaftlichen R e d e ausrief: „Education is against us" (die Bildung ist für uns ein Hindernis) und in einer wohlgesetzten Rede die Ansicht äußerte, es sei notwendig, daß die Armen und Unterdrückten einer egoistischen Machtmoral huldigten und sie übten: „Zertritt andere, wenn du nicht selbst zertreten werden willst", war der kurze Inhalt seiner Rede. Gutgekleidete Männer und Frauen blieben stehen und hörten zu. Einige lächelten mitleidig, zuckten die Achseln, machten einen schlechten Witz und gingen mit einem „verrückten Kerl" auf den Lippen weiter. Eine Dame, die hier plötzlich
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alle ihre christlichen Tugenden in Frage gestellt sah, wurde wütend und drohte dem Redner, ihren Hund auf ihn loszulassen, wenn er nicht schweige. War das nicht mehr als eine Schande und sollte so etwas nicht verboten werden? „Sehen Sie es," rief da der junge Mann lakonisch dazwischen, „ d a s ist eine Christin," und fuhr weiter zu sprechen. Ein junger Arzt gab seine Weisheit preis mit den Worten: „Alles faul, Unsinn! Tuberkulöse Entartung!" Der arme Redner hatte einen gutgebildeten Kopf, schöne, regelmäßige Gesichtszüge, sanfte Augen, sah aber sehr bleich aus. Ein anderes Mal saßen in einer Lesehalle in der Nähe des Strandes Herren und Damen, um einem Professor von Oxford zuzuhören: es war ein kleines Männchen, mit einem großen Kopf auf einem kurzen, schmächtigen Leib, nervös, verlegen und überaus schüchtern. Er sprach über die Ethik Spinozas und schien ein Meister zu sein in dem Zerlegen der abstraktesten Begriffe. Als der P r o f e s s o r zu Ende war und er durch den Beifall des Publikums noch verlegener wurde, machte derselbe Arzt, dem der ganze Vortrag unsympathisch war, weil das Metaphysik sei, von der jede Gans sich das ihrige zusammenphantasieren könne, die Bemerkung: „Der höhere Degenerierte Magnans". Ich glaube, daß es dem jungen Arzt in beiden Fällen mit dem, w a s er sagte, Ernst war, und ich bin überzeugt, daß seine oberflächliche Diagnose, welche sich auf einige äußerliche Anzeichen stützte, durchaus nicht ohne Einfluß war auf sein Urteil über die Bedeutung des geistigen Inhalts des Gesprochenen.
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Es war das ein Fehler, der öfter gemacht wird. Einzelne, nicht genau bestimmte medizinische Ausdrücke werden nur zu leicht benutzt, um unsympathische Ideen abzutun, und es ist kein Zweifel, daß ein populär g e wordenes Buch, wie das von Nordau, bei allem Richtigen und Guten, das es enthält, hemmend eingewirkt hat auf eine gerechte Würdigung der Schriftsteller, die er in seinem Buche über „Entartung" behandelt. Die Gedanken haben es unzweifelhaft mit Hirn- und Nerventätigkeit zu tun, allein sie s i n d deshalb noch keine Bewegungen von Gehirn und Nerven und es geht nicht an, sie nach demselben Maßstabe zu beurteilen, mit dem man körperliche Erscheinungen bewertet. Bei den Gedanken gilt bloß die Frage: wahr oder nicht wahr? und es tut nichts zur Sache, woher sie stammen. Ehe man einem Menschen die verächtliche Etikette „entartet" aufdrückt, soll man sich erinnern, daß es auch unter den Menschen eine Variation und vielleicht Mutation gibt und daß in einer Gesellschaft wie der unsrigen inferiore Eigenschaften bei dem Kampf ums Dasein oft von größerem Nutzen sind als superiore. Kein Wunder, daß Nietzsche das Mitleid ein Symptom der Entartung genannt hat und der Amerikaner Redbeard den Machtmenschen mit Raub- und Mordlust in seiner Seele verherrlicht und ihn als Ideal für alle aufstellt. Auch bei nervösen Kindern wird man gut tun, das im Auge zu behalten. D a s Gehirn vieler dieser Kinder, sagt Dr. WARNER, ist besonders gebildet, es hat einen großen Tätigkeitstrieb, allein es funktioniert nicht ordentlich, sodaß es in den meisten Fällen mehr eine pädagogische als medizinische Frage ist, wie hierin Wandel
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zu schaffen sei. „ D a s " nervöse Kind ist eine Abstraktion, ein solches gibt es nicht; es gibt nervöse Kinder, und jedes muß in Übereinstimmung mit individuellen Eigenheiten durch Eltern und Lehrer behandelt werden. Es ist bereits gesagt worden, daß trotz aller Verschiedenheit zwei Kindertypen anzunehmen sind, deren hauptsächlichste Merkmale beschrieben worden sind. Wir wollen hier noch einmal darauf zurückkommen. Bei dem motorischen, sehr beweglichen Kinde, haben wir gesagt, wird alles bald zur Gewohnheit. Nun ist die Annahme von Gewohnheiten zwar in der Erziehung eine wichtige Sache, allein es ist klar, daß nicht alles zur Gewohnheit werden darf, und darum muß man bei diesen Kindern vor allem danach trachten, daß sie das Für und Wider einer Handlung erwägen lernen. Jeder Lehrer hat solche Kinder in seiner Klasse; er muß ihnen immer wieder sagen: „Denke doch einmal nach, ehe du etwas sagst oder tust." Jeder Lehrer weiß auch ganz gut, daß eine solche Mahnung wenigstens bei jungen Kindern nichts nützt. Die bessere Methode ist die, die Bewegungen, die doch nicht ausbleiben, auf ein bestimmtes Ziel zu richten. Wenn ein solches Kind z. B. gerne auf die Bank kratzt, s o ist es angezeigt, ihm Zeichengeräte zur Verfügung zu stellen, oder wenn man bemerkt, daß es gerne mit dem Messer in sie hineinschneidet, dann ist es gut, es an einem Kurse für Holzarbeit teilnehmen zu lassen. D a s Bestreben muß darauf gerichtet sein, den Bewegungsdrang zu verwerten, indem man ihn so gut wie möglich auf zweckmäßige Arbeit richtet. BOSMA, Nervöse Kinder.
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Es gibt indessen immer noch sehr viele Bewegungen, die man nicht unmittelbar verwerten kann, indem man ihnen eine nützliche Bestimmung gibt, und die doch verhindert werden müssen. Wie verhindert man unzweckmäßige Bewegungen bei dem Kinde? Manchmal versucht man es durch Ermahnungen zu bewirken. Man sagt: tue das nicht, oder sitze ruhig, oder zwinkere nicht so mit den Augen u.dgl. Es sind das lauter negative Befehle, die das, was man damit erreichen will, nicht bewirken. Es wird dann g e rade auf das Verkehrte der Nachdruck gelegt; es wird so die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, und bei jungen Kindern kann man immer sicher sein, daß die verkehrte Handlung noch öfter auftritt. E i n e S u g g e s t i o n d e r Negation hat keine n e g a t i v e Kraft, s o n d e r n bewirkt e t w a s P o s i t i v e s , nämlich g e r a d e das, von d e m m a n will, d a ß e s u n t e r l a s s e n w e r d e . Die richtige Methode besteht darin, die verkehrte B e w e g u n g gar nicht zu nennen, sobald sie jedoch auftritt, eine andere zu suggerieren. Die Aufmerksamkeit fällt dann auf diese, der Geist empfängt eine neue Bewegungsvorstellung, und diese geht bei sehr motorischen Kindern bald in B e w e g u n g über. Die Aufmerksamkeit solcher Kinder ist auch sehr beweglich; sie ist bald hierhin, bald dorthin gerichtet, niemals auf denselben Gegenstand. Darpus folgt, daß diese Kinder nur schlecht aufpassen und aus einer beschränkten Anzahl mangelhaft wahrgenommener Tatsachen voreilig allgemeine Regeln ableiten. Sie sehen und hören alles nur halb, was ins eine Ohr hineingeht, geht aus dem andern wieder heraus. Wenn z. B. ein
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Junge von diesem Typus liest, so liest er das Wort nur halb und liest deshalb etwas, was gar nicht dasteht. Es dürfte angezeigt sein, ein solches Kind systematisch Augenübungen machen zu lassen, wie sie Dr. WARNER vorschreibt. Jedenfalls ist es wichtig, daß ein solches Kind den einzelnen Gegenstand und die einzelne Tatsache genau und ruhig wahrnehmen lernt. Dadurch verhütet man auch, daß das Kind so voreilig allgemeine Schlüsse zieht, eine andere Schwäche dieses Typus. Alle Fächer, durch welche ein logischer Faden läuft, haben für diese Kinder großen Wert, also R e c h nen, Geometrie, auch Sprachkunde, wenn so unterrichtet wird, daß das Kind Tatsachen wahrnehmen lernt und die Regel selbst ableitet. Sitzt ein solcher Schüler fest, so helfe ihm der Lehrer auf den Weg, aber nicht mehr. Auf dem Spielplatz soll er immer die zweite Rolle spielen, es sei denn, daß das Spiel einen Führer nötig hat, der Pläne machen und Handlungen verrichten muß, die nicht bloß gewohnheitsmäßig erfolgen können. Endlich ist es gut, ein solches Kind neben ein Kind von dem andern, dem sensorischen, Typus zu setzen. D a s sensorische Kind ist, wie gesagt, nicht s o leicht zu verstehen, weil es sich nicht ausdrückt, und wenn der Lehrer es nicht versteht, es falsch beurteilt und Dinge zu ihm sagt, die es verletzen — dieser Typus aber ist empfindlich und bald beleidigt — so wird es noch stiller und noch mehr in sich gekehrt. Die Hauptaufgabe ist die, das Kind dazu zu bringen, sich auszudrücken; es muß erzählen, Verse hersagen, vor der Klasse Summen ausrechnen, kurz, man mag lehren, was man will, das Kind muß h a n d e l n . Auf dem 6*
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Spielplatz müssen ihm die ersten Rollen übertragen werden, es muß als Führer aufgestellt werden, denn es bleibt von Natur aus zurück, während sein motorischer Gegenfüßler stets vorne ist. Für ein solches Kind ist der Kindergarten nützlich, da es hier lernt, sich zu bewegen, sich auszudrücken und auf sich selbst zu vertrauen. Der Zeichenunterricht und Holzschnitzen sind für diese Kinder besonders geeignete Lehrfächer. Aus Kindern von diesem Typus rekrutieren sich die beschaulichen Seelen, die Hamletnaturen, bei denen „der angeborenen Farbe der Entschließung des Gedankens Blässe angekränkelt wird". Sie besitzen ein starkes, tiefes Gefühlsleben und haben im allgemeinen die Neigung, sich abzusondern und sich allerlei Genüsse vorzuenthalten, ohne welche die beweglichen Charaktere das Leben unerträglich finden würden. Wenn diese Charakterzüge in der gefährlichen Zeit der Geschlechtsentwicklung zu stark in den Vordergrund treten, müssen Eltern und Erzieher auf der Hut sein und diesen Drang nach einem introspektiven Leben in der Einsamkeit dadurch mäßigen, daß sie das Kind viel ins Freie schicken und es an Spiel und Sport teilnehmen lassen. Tun sie das nicht, so haben sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn später die Hilfe eines Nervenarztes nötig wird. Von so großer Bedeutung die angeborene Anlage auch sein mag, so ist doch nicht zu verkennen, daß nervöse Kinder, zu denen viele gehören, die die Deutschen „schwachsinnig", die Engländer „feeble minded" nennen, durch einen guten Unterricht, der ihre Eigen-
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arten berücksichtigt, sehr gebessert werden können. Der Lehrer, welcher ihre psychischen Verrichtungen zu begreifen gelernt hat, wird das bei seinem Unterricht in Rechnung ziehen, und das „Nichtwollen" mancher seiner Schüler wird ihn nicht erzürnen, wenn er einsehen gelernt hat, daß es ein „Nichtkönnen" ist. Der Pädagoge, der Arzt und jeder vernünftige Mensch steht bei der Beurteilung der Kinder und Erwachsenen auf dem Boden des reinen Determinismus. Jede Handlung wird durch eine Anzahl von Faktoren bestimmt, von denen es uns manchmal möglich ist, einen einzelnen zu bestimmen, den wir dann gewöhnlich Ursache heißen. Je besser wir diesen ursächlichen Zusammenhang einsehen, desto größer ist unsere Weisheit, desto geringer ist die Aussicht, daß jenes banale, oberflächliche, unlogische: „So würde ich gehandelt haben" von unseren Lippen kommt. Der P ä d a g o g e muß Determinist sein, aber gleichzeitig darf er es keinen Augenblick versäumen, bei seinen Schülern das Gefühl zu wecken, daß sie für ihre Handlungen verantwortlich sind. Vor allem bei nervösen Naturen muß dieser Gedanke fest eingeprägt werden. Der Erzieher, welcher einem Kind, das verkehrt handelt, manchmal eine schnelle Ermahnung gibt und geben muß, kommt dadurch mit seiner deterministischen Auffassung geistiger P r o z e s s e nicht in Widerspruch, da er weiß, daß ein solcher Verweis hemmend wirkt. Bei sehr vielen Kindern ist zu wenig geistige Energie vorhanden; daraus entspringt schlechte Konzentration der Aufmerksamkeit mit ihren Folgen, nämlich Unvollständigkeit und Ungenauigkeit aller Wahrnehmungen.
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D e r Lehrer darf daher niemals viel Lehrstoff zugleich vornehmen und muß langsam vorgehen. B e i allem soll die größte Anschaulichkeit herrschen: eine materielle, durch das Vorbringen wirklicher Dinge und Zustände (Dramatisieren) und eine ideelle, durch das Zerlegen des Stoffs in elementare Gedanken, die sich leicht a s s o ziieren. Im übrigen soll der Schüler bei allem zur Selbsttätigkeit angeregt werden; e s wird dadurch leichter g e macht, die Aufmerksamkeit anzuhalten, und die zu große Sensibilität wird beschränkt.
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Die Prophylaxe ie Kinder nervöser Eltern brauchen nicht notwendig nervös zu sein, haben wir im ersten Kapitel gesagt, auch daß nach P r o f e s s o r 'Ed C R A M E R die Erziehung, das Wort in sehr weitem Sinn genommen, von größerer Bedeutung sein soll als die Anlage. Ein solcher Ausspruch, mag er richtig sein oder nicht, aus dem Munde eines Mannes mit suggestivem Einfluß, hat therapeutischen Wert, insofern er einem nervösen Menschen das beruhigende Bewußtsein gibt, daß seine Nervosität nicht mit eiserner Notwendigkeit auf ihm liegt, so daß er sich um s o eher nach Mitteln umsieht, die Last von sich abzuschütteln. Wir dürfen indessen nicht übersehen, daß es andere Nervenärzte gibt, die ebenso reich an Wissen und Erfahrung sind, welche die Anlage für einen wichtigeren Faktor bei der Entstehung der Nervosität halten, als äußere Einflüsse. Dieser Ansicht ist u. a. MÖBIUS. Ein gesunder, normal geborener Mensch hat ein enormes Widerstandsvermögen, das bei weitem den meisten schädlichen Einflüssen, den geistigen wie den materiellen, gewachsen ist, so daß Krankheit und Schwäche jeder Art eher die Folgen schwacher Keime, aus welchen der Mensch hervorgegangen ist, genannt werden müssen, als die Folgen schädlicher Einflüsse von
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außen. Ob wir krank werden oder gesund bleiben, hängt an erster Stelle von der angeborenen Widerstandskraft ab. Die Menschen werden nervös, weil sie mit einer schädlichen Abweichung von der Norm zur Welt gekommen, weil sie von der Art abgewichen, entartet sind. Daß nach dieser Anschauung die Mehrzahl der Menschen der gebildeten Welt entartet genannt werden darf, gibt MÖBIUS zu. Er gibt dem Begriff der Entartung eine viel weitere Bedeutung, als die, welche gewöhnlich damit verbunden ist; unter „Entarteten" versteht er also nicht ausschließlich Personen, bei denen man sog. D e generationszeichen findet, wie eine abnorme Schädelbildung, Mißgestaltung der Ohren, der Zähne, des Gaumens, der Geschlechtsteile, Flecken auf der Iris, ein schlechtes Verhältnis der Glieder zum Rumpf usw.; MÖBIUS zählt hieher alle diejenigen mit einer zu geringen Widerstandskraft, mit Mangel an Vitalität und mit einer allgemeinen Schwäche Belasteten. Nehmen wir einmal diese extreme Ansicht als die richtige an, so drängt sich folgende wichtige Frage auf: wie verhindert man, daß Kinder mit einem zu geringen Widerstandsvermögen geboren werden? „Will man den besseren Menschen," sagt MÖBIUS, „so muß man ihn zeugen, nicht nur erziehen," und ein anderer Gelehrter, Professor STICKER*, kommt zu demselben Ergebnis. Können Menschen, die Kinder erzeugen, etwas dazu tun, daß diese mit genügender Lebenskraft und mit genügendem Widerstandsvermögen zur Welt kommen? Oder herrscht hier in allem der blinde Zufall und ist * QEORO STICKER, Gesundheit und Erziehung. Aufl. 1903. Geb. 5 Mk.
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das Leben und Verhalten der Erwachsenen ohne Einfluß auf die zukünftigen Kinder? E s kann mit aller Bestimmtheit g e s a g t werden, daß das Verhalten der Eltern und die Verhältnisse, in denen sie leben und welche dieses Verhalten s o oft bestimmen, von großer Bedeutung für die Kinder sind, denen sie das Leben schenken. D i e s wird deutlich, wenn man einfach bedenkt, daß das Kind durch das Zusammenfließen von zwei Keimen entsteht, der Samenzelle und der Eizelle. Wie der B a u e r wohl weiß, daß nicht aus allen Weizenkörnern üppige, kräftige Halme aufschießen, s o muß j e d e r Mensch einsehen, daß von der Beschaffenheit der menschlichen Keimzellen die Qualität der Frucht abhängt, die aus ihnen hervorgehen soll. Nun wissen wir, daß die K e i m zellen durch verschiedene Einflüsse geschädigt werden können. Die bekannte Lehre WEISMANNs, daß erworbene Eigenschaften nicht auf die Kinder übergehen, darf bloß in dem Sinne aufgefaßt werden, daß Verunstaltungen der groben, äußeren Körperteile nicht auf die Frucht übergehen. Man kann Ratten immer wieder die S c h w ä n z e oder Hunden die Ohren abschneiden, und e s werden doch wieder Ratten mit Schwänzen und Hunde mit Ohren von ihnen geboren. D i e s e Beschädigungen haben offenbar auf die Keimzellen nicht den geringsten Einfluß. Anders aber ist e s mit der Wirkung von Giften auf den Organismus; diese greifen die Keimzellen an. Nun sind die meisten Krankheiten, welche den Menschen befallen, im W e s e n der S a c h e Vergiftungen, sei es, daß die Giftstoffe als solche in den K ö r p e r gebracht werden (Alkohol, Blei), sei es, daß sie im K ö r p e r selbst
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durch Mikroben entstehen, oder aber daß sie durch einen abnormen Stoffwechsel in den Geweben verursacht werden. So steht es fest, daß der Alkohol ein Gift ist, das auf die Keimzelle schwächend wirkt, ebenso wie der Giftstoff der Syphilis auf die Lebenskeime nachteilig wirkt, und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch die Tuberkulose Gifte zur Entstehung bringt, welche die Zellen, aus denen ein neuer Mensch entstehen soll, schädlich beeinflussen. Kinder, welche von alkoholischen, syphilitischen und tuberkulösen Eltern geboren werden, werden darum mit einem schwachen Widerstandsvermögen geboren werden und für Krankheiten jeder Art empfänglich sein, namentlich aber für die Nervosität. Allein nicht bloß stoffliche, sondern auch geistige Einflüsse lassen wahrscheinlich eine Spur in den Keimzellen zurück. Mit absoluter Sicherheit ist das freilich nicht zu behaupten, allein es sind Versuche gemacht worden, deren Ergebnis die Möglichkeit nicht ausschließt. Professor Elmer GATES nahm im Jahre 1879 folgenden Versuch vor. Der Atem eines Patienten wurde durch eine Röhre geleitet, welche durch Eis abgekühlt war, so daß die flüchtigen Bestandteile des Atems zur Flüssigkeit verdichtet wurden. Er fügte diesen kondensierten Bestandteilen etwas Jodrhodopsie bei und sah darauf keinen Niederschlag. Wurde der Patient aber erzürnt, so sah man innerhalb fünf Minuten einen bräunlichen Niederschlag, was auf das Vorhandensein eines chemisch zusammengesetzten Stoffes hinweist, der durch die Erregung verursacht wurde. Dieser Stoff verursachte, Menschen und Tieren beigebracht, Reizbarkeit und Auf-
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regung. Großer Schmerz über den Verlust eines Kindes gab einen braunen Niederschlag, R e u e einen roten usw. „Meine Experimente beweisen," schreibt P r o f e s s o r G A T E S , „daß durch Ärger, Zorn, Wut und auch durch niederdrückende Affekte im Körper schädliche chemische Verbindungen entstehen, von denen einige in hohem Grade giftig sind, sowie daß angenehme, glücklich stimmende Affekte Stoffe hervorbringen, welche Nahrungswert haben, insofern sie die Zellen zur Lieferung von Energie reizen." E s ist nicht einzusehen, warum diese Emotionsgifte, wenn sie während langer Zeit gebildet werden, nicht dieselbe nachteilige Wirkung auf die Keimstoffe haben sollen, wie der Alkohol oder das venerische Gift, und es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß angeborene Schwäche der Kinder in manchen Fällen die Folge von verkehrten Geisteszuständen und Stimmungen der Eltern ist. E s ist noch etwas, dem Rechnung getragen werden muß. Die Erfahrung lehrt, daß auch von gesunden Menschen, welche stets keusch, mäßig und im allgemeinen hygienisch gelebt haben, doch schwache, geistig kranke Kinder geboren werden und sowohl M A U D S L E Y als MÖBIUS versuchen diese Erscheinung zu erklären, indem sie annehmen, daß nicht bloß die Keimstoffe von guter Beschaffenheit sein müssen, sondern daß außerdem noch eine g e w i s s e Affinität zwischen der Samenzelle und der Eizelle vorhanden sein muß, bei deren Fehlen das Produkt der Zusammenschmelzung von schlechter Beschaffenheit sein müsse. Auch das scheint annehmbar zu sein, wenn auch die Sache so liegt, daß
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wir auf einem sehr dunkeln Gebiete herumtasten und daß es leichter ist, zu vermuten und zu glauben, als unwiderleglich zu beweisen. So viel steht indessen fest, daß die nervöse Anlage der Kinder, die also bloß einen Teil des weiteren MÖBIUS sehen Begriffes von Degeneration ausmacht, manchmal ganz dem Verhalten der Eltern während und vor der Ehe zuzuschreiben ist. Alkohol, Syphilis, Exzesse, welche das Nervensystem erschöpfen und vielleicht auch niederdrückende Stimmungen bringen in den Keimstoffen schädliche Änderungen hervor. Bis zu einem gewissen Grade sind die Erwachsenen also für den Gesundheitszustand und das Widerstandsvermögen der Kinder, die von ihnen geboren werden, verantwortlich. Je deutlicher dieser ursächliche Zusammenhang von jedermann eingesehen wird, um s o größer ist die Aussicht auf eine lebenskräftigere, schönere Menschheit. Diese Einsicht entsteht aber nicht von selbst, sie muß durch Erziehung im Unterricht entwickelt werden. Der Staat möge einmal Sachverständige, in erster Linie Ärzte, anstellen, damit sie im ganzen Land in allen Kreisen der Gesellschaft diesbezügliche Kenntnisse verbreiten. Viele Krankheiten und manche Familientragödie würde dadurch für immer verhindert werden und unzählige, kränkliche, ihr Leben lang hinsiechende Kinder würden dann das Licht der Welt nicht erblicken. Hängt also die Vitalität der noch nicht Geborenen zu einem großen Teil von dem Verhalten und dem Gesundheitszustand der Lebenden ab, so werden diese Faktoren wiederum in hohem Maße durch die Verhältnisse bestimmt, in welchen die Menschen verkehren.
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Die mehr oder weniger behagliche materielle L a g e , in der sich jemand befindet, bestimmt in erster Linie das Gedanken- und Gefühlsleben der Menschen; auch sein Verhalten wird dadurch bestimmt. E s kann sich jemand betrinken, oder er kann e s auch unterlassen; allein er wird e s eher unterlassen, wenn er nur mäßig zu arbeiten hat, wenn er Zeit zur Erholung und genug Einkommen hat, um sich ein k o m fortables Heim einzurichten, als wenn er sich den ganzen T a g um einen erbärmlichen Lohn abschinden muß, keine Zeit zur Erholung hat und eine ungesellige, ärmliche Wohnung der Platz für ihn ist, w o er für seinen müden K ö r p e r und seine verstimmte S e e l e bei Nacht R u h e findet. Ein Mann kann sich durch die Lockungen einer Dirne verführen lassen, allein er wird sich nicht s o leicht s o weit verirren, wenn ihn in einem hübschen Hause eine liebe Frau erwartet, als wenn ihm die Einsamkeit eines eintönigen Junggesellenlebens schon von weitem entgegengrinst. D a s Gemütsleben und die Stimmung der Menschen werden am meisten durch die materiellen Verhältnisse bestimmt, unter welchen sie leben. E s gibt kein b e s s e res Tonikum für die Nerven und die ganze Konstitution als das Gefühl von G l ü c k ; Glück aber kann nicht b e stehen, wenn der Mensch keine gesicherte Existenz hat. Ohne Zweifel kennen auch die Reichen schädliche, erschlaffende Emotionen, allein die Armen, die Leute, welche infolge der immer stärker werdenden Konkurrenz von der Hand in den Mund leben müssen, werden überdies noch durch etwas gedrückt, das sehr schwer wiegt, und das diejenigen nicht kennen, die von Renten,
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Dividenden oder Staatsbesoldungen leben, nämlich von der ewigen Unruhe, die aus der Unsicherheit ihrer Existenz folgt. Die Gesellschaft ist namentlich in dem letzten halben Jahrhundert durch Dampf, Elektrizität, den Großbetrieb und die Konzentration des Kapitals in ihrem innersten W e s e n erschüttert worden, und sie ist für Hunderttausende ihrer Mitglieder jetzt ein wogendes Meer, worin jeder zu ertrinken droht und den Kopf über W a s s e r zu halten sucht; jeder greift, wonach er kann, und bekümmert sich nicht um den anderen, sondern bringt den anderen um, wenn er nur selber am Leben bleibt. Hören wir, w a s M Ö B I U S s a g t : „die große Mehrzahl des V o l k e s wird durch die Armut von der rechten Art abgedrängt und verkümmert mehr oder weniger. Man braucht nur die V o l k s m a s s e n am S o n n t a g anzusehen und man wird über ihre Häßlichkeit überrascht sein. E s ist nicht wahr, daß das Äußere täuscht, der Mensch ist so, wie er aussieht. Nur ein s c h ö n e s Volk ist ein g e sundes Volk." Eine genaue Untersuchung aller sozialen Momente, welche zur Degeneration der Menschheit führen, würde ein ganzes Buch füllen; ein französischer Schriftsteller hat bereits ein W e r k veröffentlicht, worin er einige Geisteskrankheiten direkt von der Wirkung von Reizen ableitet, welche durch das Eigenartige unseres gesellschaftlichen L e b e n s entstehen. J e d e s Zeitalter hat seine eigenen Formen von Irrsinn, die durch g e w i s s e R e i z e , die dem gesellschaftlichen Leben dieses Zeitalters eigentümlich sind, bestimmt werden. Pathologische Veränderungen des Gehirns sind
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nach diesem Schriftsteller sekundäre R e i z e , die aus der Oesellschaft als ihrer primären Ursache hervorgehen. E s wird niemand verkennen, daß eine Gesellschaft, in der von dem größeren oder geringeren Erfolg im Kampf um materielle Dinge die Selbsterhaltung und sehr oft auch die gute oder schlechte Meinung der Mitmenschen abhängt, ein reicher Nährboden für allerlei schlechte Neigungen, für die Selbstsucht, die Mißgunst, Neid, Erbitterung, Enttäuschung, Hochmut ist und daß das Predigen über die Sündhaftigkeit dieser L a s t e r wenig nützt, wenn nicht gleichzeitig Mittel angewendet werden, um diesen Nährboden durch soziale R e f o r m e n unfruchtbar zu machen. Damit soll das Predigen einer gesunden Moral, die den Menschen lehrt, welche G e i s t e s zustände für ihre Existenz vorteilhaft und welche nachteilig sind, nicht für wertlos erklärt werden, nein, das W i s s e n der G e s e t z e einer geistigen Hygiene führt zur Selbstkritik, ist der erste Schritt zur Selbstbeherrschung und veranlaßt, nach den äußeren Ursachen zu fragen, wodurch schädliche Gefühle erweckt werden. Und auch das ist wichtig, denn das Wollen des Guten wird nur allzuoft durch das Müssen des Schlechten verdrängt, und es ist vollkommen richtig, w a s der Wiener Hochschullehrer Richard W A H L E schreibt: „Was auf das Verhalten der Menschen und auf die Moral aller K l a s s e n im Staat den größten Einfluß hat, ist ihre materielle L a g e , die Beschaffenheit ihrer äußeren Lebensbedingungen. Wenn j e d e m Menschen die materiellen Bedingungen eines zwar bescheidenen, aber sorgenfreien D a s e i n s gesichert wären, wären damit auch viele ethische Fragen gelöst. Nicht bloß würden die Angriffe g e g e n das Eigentum anderer
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und die Verbrechen, welche die Folge der Verwahrlosung sind, Roheiten, Zornausbrüche usw. vermindert werden, auch der Anlaß zu innerlichem Schmerz, Kampf und Mutlosigkeit würde zum Teil verschwinden." „Wenn wir vor der Wahl stünden, allen Menschen die Bedingungen eines gesunden, nicht zu sehr ermüdenden Lebens und ein genügendes Einkommen zu verschaffen oder ihnen eine problematische, halb zureichende Ethik aufzudrängen, s o würden wir unbedenklich das erstere wählen." Will man dennoch zu einem sorgenfreien Dasein für alle kommen, so müssen sich die Menschen ihrer alles beherrschenden Leidenschaften, der Eigenliebe und des Strebens nach Macht bewußt werden, die, so gesund und normal sie auch L O M B R O S O , N I E T Z S C H E und anderen sein mögen, dem Erlangen eines besseren materiellen Zustandes für a l l e im Wege stehen. Denn es ist auch wahr, was einem scharfsinnigen Manne wie Richard W A H L E nicht entgangen ist: „Der Mensch ist ein vom Größenwahn befallenes Tier", und man sieht zugleich wieder, daß Menschen, die s o sehr von den Nöten und Schmerzen der kleinen Leute gerührt sein wollten, sich als die größten Egoisten entpuppen, sobald sie durch die ihnen blindlings glaubenden Anhänger zur Macht gelangen. Darum muß man die heranwachsende Jugend mit Liebe, j a mit Leidenschaft für Wahrheit und Recht beseelen, ihre Phantasie stärken, ihren Schönheitssinn pflegen und sie lehren, wie es kommt, daß der gesellschaftliche Verlauf falsche Ideale geschaffen hat, vor welchen Tausende und Hunderttausende in kindlicher
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Unbewußtheit knien, wie die rohesten Wilden vor unförmlichen Götzenbildern. Erziehen in diesem Sinne heißt s i t t l i c h e r z i e h e n ; so erziehen aber, daß der Mensch den Druck unnötiger Bande und Ketten sich gefallen läßt und ihn selbst behaglich findet, heißt unsittlich erziehen und kann bloß durch eine unsittliche Politik gutgeheißen werden. Indem wir die Sache zusammenfassen, finden wir, daß die beste Prophylaxe gegen die Erzeugung von Kindern mit mangelndem Widerstandsvermögen — in sehr vielen Fällen auch die Grundlage der Nervosität — die ist: 1. daß die Menschen sich des Alkohols enthalten; 2. daß sie von Tuberkulose und venerischen Krankheiten freibleiben; 3. daß sie ihren Körper nicht durch übermäßige Arbeit, geschlechtliche und andere Ausschreitungen erschöpfen; 4. daß sie ruhig und froh leben; 5. daß sie in einem Alter heiraten, wo die Lebenskraft am größten ist, und daß sie aus Neigung heiraten. Dieser letzte Punkt erfordert noch eine Beleuchtung. Wie schon bemerkt, scheint e s , daß zwischen den männlichen und weiblichen Keimstoffen eine gewisse Affinität bestehen muß, wenn die Frucht gute Eigenschaften besitzen soll. Es scheint auch die meiste Aussicht für eine solche Verwandtschaft vorhanden zu sein, wenn Mann und Frau sich stark zueinander hingezogen fühlen. Daß Liebeskinder die gesündesten und schönsten sind, ist eine allgemein verbreitete Annahme. „Schönheit und Häßlichkeit," sagt der Physiologe BURDACH, „hängen nicht so sehr von der SchönBOSMA, Nervöse Kinder.
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heit und Häßlichkeit der Eltern ab als von ihrer gegenseitigen Liebe oder Abneigung." Die Ehe, so dürfen wir schließen, soll auf Liebe gegründet sein, sie soll hervorgehen aus einem starken Verlangen, eins zu sein, aus einem „Trieb". Im allgemeinen mag das wahr sein; es gibt aber manchmal Fälle, wo dem Instinkt nicht zu trauen ist und der Verstand entscheiden muß, wo das zutrifft. So lehrt die Erfahrung, daß nervöse Männer und Frauen einander suchen, während doch, wenn solche Personen heiraten, alle Aussicht vorhanden ist, daß die verkehrten Eigenschaften der Eltern in noch höherem Grade auf das Kind übergehen (akkumulierende Erblichkeit). Nervöse Personen und solche mit tuberkulöser Veranlagung dürfen also nicht dem blinden sexuellen Instinkt folgen, sondern haben sich dem Urteile ihres Verstandes zu unterwerfen. „Die Natur," sagt MÖBIUS, „hat in die menschliche Seele eine Eigenschaft gelegt, die noch am wenigsten trügerisch ist. Im Grunde sind Gesundheit und Schönheit ein und dasselbe; alles Häßliche ist krankhaft und alles Kranke ist häßlich. Die Natur konnte ihre Kinder nicht erst Medizin studieren lassen, aber sie gab ihnen die Freude am Schönen und machte sie damit zu guten Diagnostikern." In dieser Behauptung liegt ohne Zweifel viel Wahrheit, allein MÖBIUS hätte noch beifügen können, daß das Bild von den schönen Früchten, an denen die Wespen nagen, manchmal auch für die Menschen wahr ist. Daß unzählige Ehen geschlossen werden, wo die gegenseitige Neigung sehr gering ist, weiß jeder. Das
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kommt davon her, daß für viele die Ehe ihre natürlichen Triebfedern verloren hat. Am allerwenigsten wird an die Kinder gedacht, die geboren werden können; man heiratet, um seine L a g e zu v e r b e s s e r n , um in „gute K r e i s e " zu k o m m e n , um nicht sitzen zu bleiben, man heiratet aus allen möglichen Motiven, bei denen von Liebe oder Leidenschaft keine R e d e ist. Oder man will erst das Leben genießen und denkt erst ans Heiraten, wenn die b e s t e Lebenskraft verbraucht ist und die Erwägung entscheidend ist, daß eine Frau in den Tagen des Alters eine b e s s e r e Pflegerin ist als eine Haushälterin. D a ß die Menschen immer aus freier Wahl s o handeln, ist nicht anzunehmen; e s gibt soziale Gründe, welche sie manchmal zwingen, s o zu handeln, und e s ist für die Zukunft unseres G e s c h l e c h t s bedenklich, daß das Heiraten oft für diejenigen am beschwerlichsten ist, von deren Kindern das meiste zu erwarten wäre, nämlich die gut Unterrichteten, die Fleißigen und die Gewissenhaften. Kann der Mensch nicht in der Fülle der Jugend heiraten, dann wird er vielfach zu klug dazu. D e r Eigennutz hält ihn dann überhaupt zurück, oder, w a s das G e wöhnliche ist, er verdirbt seine Motive. D e r junge Mensch will aus Liebe heiraten, das heißt, er folgt der Natur, sucht das, w a s die Natur will: Schönheit, Lieblichkeit, Kraft und zwar in der F o r m , die er instinktiv als die ihm zusagende erkennt. D e r Reifgewordene dagegen handelt nach verständigen Erwägungen, wenn er heiratet, das heißt, er handelt im Sinne der Natur dumm. Ihn bestimmen das Geld, der R a n g des Vaters, Rücksichten aller Art und e s ist sehr begreiflich, daß die Produkte der Vernunftehen zu wünschen übrig lassen. 7*
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Man sagt oft, Ehen aus Vernunft seien glücklicher als Ehen aus Leidenschaft. Aber es kommt gar nicht auf das „ G l ü c k " der Ehe an, sondern auf die Qualität der Kinder kommt es an. (MÖBIUS.) Hier wird von MÖBIUS eine gewichtige Wahrheit ausgesprochen, an die weitaus die meisten Menschen beim Abschlüsse einer Ehe nicht denken. Der Besitz und egoistische Interessen aller Art geben zurzeit bei den Halbgebildeten den Ausschlag, und oft kann das auch nicht anders sein, und es sind, wie auch MÖBIUS bemerkt, wirtschaftliche Ursachen, welche diese ungesunden Zustände hervorrufen. Er nennt es darum eine Forderung der sozialen Hygiene, daß der Staat sich mehr um die Lebensverhältnisse der Menschen kümmert, daß er die Arbeitszeit regelt, und vor allem jedem Untertanen ein Einkommen verbürgt, das groß genug ist, um es jungen Leuten möglich zu machen, in der Blüte des Lebens zu heiraten. Allein s o weit sind wir noch nicht, was aber nicht verhindert, daß man nicht abläßt, die einzelnen mit den Gesetzen einer körperlichen und geistigen Hygiene bekanntzumachen, s o daß überall das Bewußtsein durchdringt, daß wir an vermeidbaren Übeln leiden. S o z i a l e G e s e t z g e b u n g und V o l k s b i l d u n g s i n d d i e e i n z i g e n g e n ü g e n d e n M i t t e l , um e i n e n e r v ö s e , k r a n k e N a c h k o m m e n s c h a f t zu v e r h ü t e n .
Druck von C. G. Röder, Leipzig.